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German Pages XVI+478 [495] Year 2017
Philipp-Alexander Hirsch Freiheit und Staatlichkeit bei Kant
Kantstudien-Ergänzungshefte
Im Auftrag der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Heiner F. Klemme
Band 194
Philipp-Alexander Hirsch
Freiheit und Staatlichkeit bei Kant
Die autonomietheoretische Begründung von Recht und Staat und das Widerstandsproblem
ISBN 978-3-11-052932-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-053007-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-052933-3 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com.
Meinen Eltern Robert Anton† und Irmgard Rosa Hirsch gewidmet.
Inhalt Zitierweise und Siglen Vorwort
XIII
XV
Einführung 3 . Kant als Vordenker von Liberalismus, Rechtsstaat und individuellen Freiheitsrechten? 3 . Der Diskussionsstand in der Kant-Forschung 7 16 . Forschungsansatz und Gang der Untersuchung .. Keine Freiheit ohne Staat! – Kants Liberalismus zwischen dem „Ideal des hobbes“ und der Rousseau’schen Republik 16 21 .. Der Argumentationsgang im Einzelnen . Methodische Vorüberlegungen und Quellenlage 23 .. Systematische Rekonstruktion und genealogische 23 Betrachtung .. Die Rechtslehre und weitere veröffentlichte Schriften Kants 28 .. Heranziehung unveröffentlichter Quellen 31 34 .. Terminologische Anmerkungen
Der moralische Rechtsbegriff im Kontext von Kants praktischer Philosophie 37 38 . Entwicklungsstufen kritischer Moralphilosophie bei Kant .. Transzendentale Freiheit und die Existenz einer moralischen Welt – Die Kritik der reinen Vernunft 38 .. Kategorischer Imperativ und Autonomietheorem – Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 41 .. Die epistemische Wende in der Moralphilosophie – Die Kritik der praktischen Vernunft 46 . Der moralische Begriff des Rechts 49 .. Die systematische Verortung der Rechtslehre in der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ 49 ... Die Unterscheidung zwischen ethischer und juridischer Gesetzgebung 50 ... Die Unterscheidung zwischen Rechts- und Tugendpflichten 53 .. Der Kantische Rechtsbegriff in der „Einleitung in die Rechtslehre“ 54 ... Moralischer Rechtsbegriff 55
VIII
... ... ...
Inhalt
Allgemeines Rechtsprinzip und allgemeines Rechtsgesetz 61 Recht und Zwangsbefugnis Einteilung der Rechtslehre und das angeborene Recht »Freiheit« 64
59
67 Kants Rechtsphilosophie als Teil seiner kritischen Moralphilosophie . Warum überhaupt Recht? 67 . Autonomie und notwendige Selbstzweckhaftigkeit 70 der Person .. Der Zweck im Recht bei Kant 70 .. Die Zweckformel des kategorischen Imperativs als Ordnungsprinzip 77 von Recht und Ethik .. Die vernunftnotwendige Selbstzweckhaftigkeit autonomer Vernunftwesen als oberstes Prinzip aller moralischen 85 Gesetze . Recht und kategorischer Imperativ 90 93 .. Der kategorische Imperativ als Prinzip des Rechts .. Recht als „ein Postulat, welches gar keines Beweises weiter fähig ist“ 101 .. Gibt es nicht-juridische moralische Handlungspflichten und 106 Befugnisse? .. Der kategorische Imperativ: Ein rein ethisches Prinzip? 108 ... Autonomie bei Kant: Der kategorische Imperativ als Prinzip der 111 Pflichtkonstitution ... Pflichtbegriff und moralisch mögliche Zwangsarten: Ein neuer Blick auf Rechts- und Tugendpflichten 117 ... Gesetzgebung als Begründung der Verbindlichkeit nach einem Gesetz: juridische, ethische, innere und äußere Gesetzgebung bei Kant 123 .. Die Zwangsbefugnis beim Recht 133 . Freiheit der Willkür: Die Abhängigkeit des Rechts von Autonomietheorem und transzendentaler Freiheitslehre 139 . Die Alternativlosigkeit einer kritischen Rechtsbegründung bei Kant 147 .. Rechtsbegründung und psychologische Freiheit 147 159 .. Rechtsbegründung und das Problem räumlicher Koexistenz . Darum Recht! – Die kritische Grundlegung der Kantischen Rechtsphilosophie 164
Inhalt
IX
Die kritische Begründung ursprünglicher Rechte und Pflichten 169 170 . Das Recht der Menschheit und die inneren Rechtspflichten .. Was es heißt, ein rechtlicher Mensch zu sein 170 .. Zur Möglichkeit innerer Rechtspflichten 175 .. Die Frage der Verbindlichkeit des Rechts der Menschheit 182 186 .. Der Rechtspflichtcharakter des honeste vive ... Terminologische Schwierigkeiten 187 189 ... Innerlichkeit und Äußerlichkeit von Rechtspflichten ... Honeste vive als Zwangspflicht 192 .... Die überholte Unterscheidung von rechtlichen Pflichten und 193 Rechtspflichten .... Innere Rechtspflichten als Zwangspflichten – eine gebotene immanente Kant-Korrektur? 198 .. Honeste vive und das Recht der Menschheit in der Metaphysik der 203 Sitten . »Freiheit« als angeborenes Recht und die äußeren 204 Rechtspflichten .. Das Recht der Menschheit als Geltungsgrund des angeborenen Rechts »Freiheit« 204 .. Die äußeren Rechtspflichten: neminem laede, suum cuique tribue 207 und das allgemeine Rechtsgesetz
Autonomie trotz rechtlicher Fremdverpflichtung? – Das Naturzustandsproblem und die sittliche Notwendigkeit des Staates 210 . Der Naturzustand als »bloße Idee der Möglichkeit einer Rechtspflege« 211 .. Die fehlende Rechtsgeltung im Naturzustand – ein moralisches Problem? 211 ... Anthropologische Staatsbegründung, oder: Staatlichkeit weil wir Teufel sind? 214 ... Epistemische Staatsbegründung, oder: Staatlichkeit weil wir keine Engel sind? 218 .. Autonome Gesetzgebung und sittliche Unterbestimmtheit des Rechts im Naturzustand 222 . Staatlichkeit als Realisationsbedingung für ein System selbstzweckhafter Wesen 227 .. Das bürgerliche Gemeinwesen als negative Implikation eines Reichs der Zwecke 228
X
.. .. .
Inhalt
E pluribus unum – Der Souverän als einheitsstiftendes Oberhaupt 233 im »Reich des Rechts« Exeundum est e statu naturali – Der Staat als Rechtsgeltungsinstanz 240 Staatlichkeit als moralische Pflicht 246
Freiheit zum und im Staat – Kants autonomietheoretische 248 Staatsbegründung in der Rechtslehre . Bloß ein Staat des äußeren Besitzes? – Zur Textgestalt der Rechtslehre 249 255 . Staatlichkeit und das innere Mein und Dein .. Kant über Staatlichkeit als Realisationsbedingung ursprünglicher Rechte und Rechtspflichten 255 .. Die Ableitung des bürgerlichen Rechtszustands in den praecepta 264 iuris . Staatlichkeit und das äußere Mein und Dein 272 .. Intelligibler Besitz und das rechtliche Postulat der praktischen 272 Vernunft .. Die Notwendigkeit des bürgerlichen Rechtszustands für ein peremptorisches Recht 279 .. Das Verhältnis von eigentums- und autonomietheoretischer 285 Staatsbegründung bei Kant . Das öffentliche Recht und die autonomietheoretische Fundierung 292 staatlicher Herrschaft .. Kants Prinzip einer öffentlichen Gerechtigkeit 293 .. Das Postulat des öffentlichen Rechts 300 ... Das Postulat als Ausdruck der autonomietheoretischen Staatsbegründung Kants 300 ... Die grundlegende Unterscheidung zwischen formellem Recht und materiellem Recht 305 .. Der kritische Liberalismus in Kants Staatsrecht 311 ... Staat in der Idee und Staat in der Erscheinung – Der ursprüngliche Kontrakt und Kants Staatsformenlehre 311 ... Kants Gewaltenteilungslehre – Die trias politica des Staates in der Idee 320 328 ... Volkssouveränität und die staatsbürgerlichen Attribute . Der Staat als vernunftrechtliche Koexistenzordnung 335
Inhalt
XI
Das Problem des Widerstandsrechts 337 339 . Kants Darstellung der Widerstandsproblematik .. Kants Argumentation zur Ablehnung eines Rechts auf gewaltsamen Widerstand 340 .. Widersetzlichkeit unterhalb der Schwelle des 345 Widerstandsverbots ... Freiheit der Feder, negativer Widerstand, passiver Widerstand 345 ... Zulässigkeit aktiven Widerstands jenseits des Widerstandsverbots? 350 352 . Die systematische Rechtfertigung der Kantischen Position .. Positivrechtliche Überformung vernunftrechtlicher Ansprüche 353 .. Materiell-rechtliche Höherrangigkeit unveräußerlicher Rechte und das formell-rechtliche Primat staatlicher 354 Rechtsdurchsetzung . Freiheit oder Staatlichkeit? – Kants Umgang mit dem Problem des 358 Unrechtsregimes .. Despotische Herrschaft und ihre geltungstheoretische Unabhängigkeit von materiellen Gerechtigkeitsstandards 358 .. Widerstand jenseits von Staatlichkeit? – Das Kantische 361 Widerstandsverbot angesichts von Tyrannei und Barbarei ... Zur Staatsqualität von Barbarei und Tyrannei 363 367 ... Das Vorliegen von Staatlichkeit als Rechtsproblem .. Freiheitlicher Widerstand jenseits des Rechts? – Widerstand als favor necessitatis 372 ... Der casus necessitatis als unechte moralische Pflichtenkollision 373 ... Das Widerstandsproblem als Kollision von staatsbürgerlicher Gehorsamspflicht und der Pflicht zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit 380 ... Freiheitlicher Widerstand: nicht unsträflich, aber unstrafbar? 387 .... Der casus necessitatis als Entschuldigungsgrund 388 .... Das Problem tyrannischer Gewaltherrschaft als öffentlicher Notstand 392
XII
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..
.. .. ... ... .
Inhalt
Zwischen Widerstandsverbot und „Enthusiasm der Rechtsbehauptung“ – Das Beispiel der Französischen 399 Revolution Eine Revolution, die keine war, und eine Hinrichtung zum Zweck der Selbsterhaltung – Kants rechtliche Bewertung der Französischen Revolution 400 „Übrigens, wenn eine Revolution einmal gelungen und eine neue Verfassung gegründet ist“ 403 Die Französische Revolution als Ausdruck der moralischen Anlage im Menschen? 406 Verbietet die Moral die Revolution und treibt dennoch dazu 406 an? Die geltungstheoretische Funktion der 413 Geschichtsphilosophie Kants Lehre vom Widerstandsrecht 419
Resümee und Ausblick 422 . Kants kritische Rechtsbegründung, oder: Der kategorische Imperativ als Prinzip des Rechts (Kapitel 3 und 4) 422 . Freiheit zum Staat – Warum autonome Wesen den Staat als 425 Koexistenzordnung benötigen (Kapitel 5 und 6) . „In der größten Tyranney ist doch eine Gerechtigkeit.“ – Warum Widerstand rechtswidrig ist und doch entschuldigt werden kann 428 (Kapitel 7) . Das »Recht auf Rechte« nach Kant. Staatenlose und das Menschenrecht auf Staatszugehörigkeit – Ein Ausblick in systematischer Absicht 432 Literaturverzeichnis 437 Primärliteratur 437 Sekundärliteratur 439 Personenregister Sachregister
461 466
Zitierweise und Siglen Grundsätzlich wird Kant nach der Akademieausgabe zitiert, z. B. MdS, AAVI, S. 312 = Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe, Band VI, S. 312. Bei der Kritik der reinen Vernunft werden die Seitenzahlen der ersten (= A) oder der zweiten OriginalAuflage (= B) angegeben, z. B. A 413 = 1. Auflage, S. 413. Sofern auf andere Editionen Kantischer Texte zurückgegriffen wird, werden diese unter Angabe von Edition und Seitenzahl zitiert. Anderweitige Primärliteratur wird mit Verfassername, Titel und Seitenzahl zitiert. Vollständige bibliographische Angaben hierzu finden sich im Literaturverzeichnis. Auf die im Literaturverzeichnis aufgeführte Sekundärliteratur wird in den Fußnoten durch Verfassername, Erscheinungsjahr und Seitenzahl Bezug genommen. Zur Bezeichnung der Kantischen Werke werden folgende Siglen verwandt, im Übrigen finden sich lediglich allgemein gebräuchliche und verständliche Abkürzungen. Allgemeine Naturgeschichte Anfang Anthropologie Gemeinspruch Grundlegung Idee KdU KpV KrV Logik MAN RL TL MdS-Vigilantius Prolegomena
Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht Kritik der Urteilskraft Kritik der praktischen Vernunft Kritik der reinen Vernunft Immanuel Kants Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft Die Metaphysik der Sitten. Erster Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre Die Metaphysik der Sitten. Zweiter Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre Vorlesung über Moralphilosophie: Metaphysik der Sitten Vigilantius Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik
XIV
Zitierweise und Siglen
Religion Spitzfindigkeit Streit Über ein vermeintes Recht VA Gemeinspruch VA RL VA TL VA Religion VA Streit VA ZeF Verkündigung ZeF Was ist Aufklärung? ZeF
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren Der Streit der Fakultäten Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen Vorarbeiten zum Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten. Erster Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten. Zweiter Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre Vorarbeiten zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Vorarbeiten zum Streit der Fakultäten Vorarbeiten zu Zum ewigen Frieden Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Zum ewigen Frieden
Vorwort Das vorliegende Buch ist aus meiner Dissertation hervorgegangen, welche im Sommersemester 2015 von der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität angenommen wurde. Mein besonderer Dank gilt an erster Stelle meinem Doktorvater, Bernd Ludwig. Er hat die Arbeit angeregt und mit viel Engagement und hilfreicher Kritik begleitet. Mit ihm hatte ich einen hervorragenden Kenner der Kantischen Philosophie zum Gesprächspartner, der mich stets zu einem eigenständigen und kritischen Denken über Kant und seine Philosophie ermutigte. Besonders danken möchte ich außerdem Arthur Ripstein für die argumentative Herausforderung und einen neuen Blick auf Kants Rechtsphilosophie im Rahmen eines Forschungsaufenthaltes an der University of Toronto. Schließlich gilt mein besonderer Dank Martin Brecher für die fachliche Auseinandersetzung und freundschaftliche Verbundenheit während unserer gemeinsamen Promotionszeit. Auch hatte ich vielfach die Gelegenheit, meine Arbeit im Rahmen von Vorträgen und Tagungen zu präsentieren. Dank für anregende Diskussionen und wertvolle Kommentare gilt in diesem Rahmen Christoph Horn, Dieter Hüning, Georgios Pavlakos, Dietmar von der Pfordten, Jens Timmermann und Markus Willaschek. Danken möchte ich ebenso für die vielen kontroversen und stets gewinnbringenden Gespräche am Philosophischen Seminar der Universität Göttingen. Besonders hervorheben möchte ich hierbei Mario Brandhorst, Philipp Gisbertz, Andree Hahmann, Hendrik Klinge, Florian Pahlke, Felicitas Sedlmair, Martin Sticker, Alice Pinheiro Walla und natürlich die Diskussionsteilnehmer des Kant-Oberseminares. Den Herausgebern der Kant-Studien, Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Heiner Klemme, danke ich für die Aufnahme in die Reihe Kant-Studien-Ergänzungshefte. Der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen gebührt mein Dank für die Unterstützung während meines Promotionsstudiums sowie für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Vor allem möchte ich auch der Studienstiftung des deutschen Volkes meinen Dank aussprechen, die meine Dissertation durch ein Promotionsstipendium gefördert hat. Nicht zuletzt danke ich schließlich meiner Mutter für ihre Unterstützung, die ich während meiner Promotionszeit erfahren habe. Göttingen, im November 2016
Philipp-Alexander Hirsch
„[M]an mag den Einflus der moralischen Anlage im Menschen (wie der Politiker pflegt) noch so niedrig anschlagen, doch [ist] der Anspruch desselben auf Achtung für sein angebohrnes Recht so mächtig und unbezwinglich […], daß er nicht ermangeln wird, bey vorkommender, ihm günstigen Gelegenheit Gewalt gegen Gewalt zu versuchen, ob er zwar sonst willig seyn möchte, das äußere bürgerliche (aber nicht ganz willkührliche) Gesetz gehorsam zu befolgen. Diese Wiedersetzlichkeit entspringt selbst aus der moralischen Anlage im Menschen; aber statt den Fortschritt zum Moralisch-Besseren zu befördern, bringt sie (weil sie nur durch Veranlassende Gelegenheit aufgeregt worden) gewöhnlichermaßen den Rückgang ins Schlimmere hervor.“ Immanuel Kant
1 Einführung 1.1 Kant als Vordenker von Liberalismus, Rechtsstaat und individuellen Freiheitsrechten? Kein Staat ohne Freiheit oder keine Freiheit ohne Staat? Freiheit und Staatlichkeit stehen in der politischen Philosophie seit jeher nicht nur in einer gegenseitigen Abhängigkeit, sondern auch in einem Spannungsverhältnis: Begründen individuelle Freiheitsrechte allererst staatliche Herrschaft? Und falls ja, inwieweit wird staatliche Herrschaft daher durch die notwendige Wahrung ebendieser Freiheitsrechte limitiert? Oder verhält es sich umgekehrt: Haben Individualinteressen hinter der notwendigen Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung und dem Gemeinwohl zurückzutreten? Kann angesichts dessen also selbst der despotische Staat, der tyrannisch vorgeht und die grundlegenden Freiheitsrechte der Bürger verletzt, gleichwohl noch legitim sein? Die klassisch liberale Antwort zur Verhältnisbestimmung von Freiheit und Staatlichkeit ist diesbezüglich eindeutig. Das Credo des politischen Liberalismus muss lauten: Kein Staat ohne Freiheit! Die Wahrung individueller Freiheit ist Ziel und vornehmste Aufgabe des Staates, Geltung und Legitimität staatlicher Autorität werden hieran gemessen. Das Individuum und seine Freiheit sind politisch wie rechtlich Maßstab staatlichen Handelns. Volkssouveränität, Demokratieprinzip, Rechtsstaatlichkeit, Menschen- und Bürgerrechte sind Ausdifferenzierungen und Institutionalisierungen dieses obersten Grundsatzes jeder liberalen Staatsauffassung. Immanuel Kant wird nun wie kaum ein anderer (vielleicht John Locke ausgenommen) als Vordenker eines solchen politischen Liberalismus in Anspruch genommen, wenn es um dessen philosophiegeschichtliche und theoretische Rechtfertigung geht. Kant ist einer der Säulenheiligen liberaler Staatsbegründung, finden wir bei ihm doch deren entscheidende Grundbedingungen vorgedacht und theoretisch ausformuliert: Die Anerkennung eines absoluten, unantastbaren Wertes des Menschen im Konzept der Würde; die Zuschreibung von Freiheit als das angeborene Recht des Menschen; die Rückbindung staatlicher Macht an den Gewaltunterworfenen durch den ursprünglichen Vertrag, der staatliche Autorität als Volkssouveränität des vereinigten gesetzgebenden Willens aller begreifen lässt und diese sogleich in der Differenzierung von Legislative, Exekutive und Judikative gewaltenteilig verfasst. Karl Vorländer kann daher stellvertretend für ein gängiges Urteil über Kant
DOI 10.1515/9783110530070-001
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1 Einführung
gelesen werden, wenn er ihn programmatisch als „Anhänger des Rechtsstaats“ und Vertreter eines „entschiedenen Liberalismus“ bezeichnet.¹ Kants politischer Liberalismus scheint jedoch einen ganz entscheidenden Makel zu haben, sobald man nach der Legitimität tyrannischer und despotischer Herrschaft fragt: Besteht gegenüber ungerechter staatlicher Herrschaft ein Widerstandsrecht, d. h. ein Recht zum (gewaltsamen) Umsturz des politischen Systems? Es ist die Frage nach der Existenz eines Widerstandsrechts, in der die Verhältnisbestimmung von Freiheit und Staatlichkeit kulminiert. Sie duldet kein non liquet, bildet sie doch gleichsam den Lackmus-Test für den liberalen Gehalt jeder politischen Theorie. Hier muss jedes Staatsverständnis in letzter Konsequenz Farbe bekennen: Kein Staat ohne Freiheit oder keine Freiheit ohne Staat? Immanuel Kant scheint in der Metaphysik der Sitten von 1797 eine eindeutige Antwort auf diese Frage gefunden zu haben. Programmatisch heißt es dort: „»Gehorcht der Obrigkeit […], die Gewalt über euch hat […].«“² Kant spricht von einer „Pflicht des Volks einen, selbst den für unerträglich ausgegebenen, Missbrauch der obersten Gewalt dennoch zu ertragen“.³ Der Untertan darf der Ungerechtigkeit des Herrschers „zwar Beschwerden […], aber keinen Widerstand entgegensetzen“.⁴ Vielmehr hat er „juridisch-unbedingten“⁵ Gehorsam zu leisten, ein Widerstandsrecht ist laut Kant kategorisch ausgeschlossen. „[D]er Herrscher im Staat hat gegen den Unterthan lauter Rechte und keine (Zwangs‐)Pflichten.“⁶ Im Staatsrecht der Metaphysik der Sitten ist Kants Ablehnung eines Widerstandsrechts pointiert und klar. So eindeutig Kants Position in der Widerstandsfrage ist, so vielfältig sind hierauf die Reaktionen in der Kant-Forschung. Häufig wird Kant vorgeworfen, vor der Staatsautorität Preußens schlichtweg kapituliert zu haben. Seine Haltung zum Widerstandsrecht sei systematisch inkonsistent und vor dem Hintergrund seiner eigenen Theorie nicht zu rechtfertigen. Andere definieren das Problem gleichsam weg, insofern Kant Gewaltregime (wie z. B. das Dritte Reich) unmöglich als Staat aufgefasst haben könne; und wo in Kants Theorie kein Staat bestehe, da bestehe auch kein moralisches Problem freiheitlichen Widerstands. Schließlich fassen einige Kants Haltung als theoretisch widerspruchsfrei auf, sehen sich aber genötigt, hierin einen illiberalen Wesenszug Kantischer Philosophie zu konstatieren. So unterschiedlich diese Bewertungen der Kantischen Position sind, gewinnt man
Vgl. Vorländer 1977, S. 223 – 228. RL, AA VI, S. 371. RL, AA VI, S. 320. RL, AA VI, S. 319. RL, AA VI, S. 371. RL, AA VI, S. 319.
1.1 Kant als Vordenker des Liberalismus?
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bisweilen gleichwohl den Eindruck, dass sie in einem Punkt vereint sind: Allenthalben sieht man in Kants Ablehnung eines Widerstandsrechts eine Gefahr für den liberalen Gehalt der Kantischen Theorie. Hierin ist man vereint, gleichgültig ob man diese Gefahr durch Inkonsistenzvorwürfe zugunsten einer liberalen Rehabilitierung Kants auflösen möchte oder als illiberalen Makel am doch grundständig liberalen Denker Kant hinnimmt. Damit wird man jedoch dem scheinbar inneren Paradox von Kants politischer Philosophie Freiheit: Ja! – freiheitlicher Widerstand: Nein! nicht gerecht. Denn die Frage, ob und wie man das Verbot freiheitlichen Widerstands mit Kant als Ausdruck einer liberalen Staatsauffassung begreifen kann, bleibt häufig unbeantwortet. Dass Kant hierin unsere Aufgabe als politische Denker begreift, sieht man daran, dass er selber mit diesem Paradox gerungen hat. Denn Kants Haltung zum Widerstandsrecht ist keineswegs so klar, wie sie sich in der Metaphysik der Sitten ausnimmt. Dies zeigt folgende, beachtenswerte Passage aus Immanuel Kants Naturrechtsvorlesung Feyerabend aus dem Jahr 1784: Kann ein Volk dann, wenn es durch den Summus Imperans zu Grunde gerichtet wird, gegen ihn Gewalt brauchen? Ein summus Imperans dessen Regierung vorsetzlich zum Untergange des gemeinen Wesens ist, ist ein Tyrann. […] Wie ein Recht auszuüben ist, welches auch das Oberhaupt des Staats zwingt, recht zu handeln, ist unmöglich. Eine vollkommene Gerechtigkeit ist unmöglich.Wenn das Volk einen Tyrannen hat, so ist das ein casus neceßitatis. Ein Recht, das ich habe in Ansehung dessen aber kein öffentliches möglich ist, ist favor neceßitatis. Es ist unmöglich ein Gesetz zu machen, das den Fürsten zwingen kann: das ist contradictio. Aber es ist doch Noth und Pflicht, daß der Unterthan sich selbst erhalte. Es ist auch kein Gesetz dawider möglich, denn dieses Contradizirt sich selbst, denn sie können den Tod bloß drohen. Aber ein Tyrann ist der,wo kein Bürger seines Staats seiner Güter und seines Landes sicher ist. Hier sind von beiden Seiten keine Gesetze möglich.⁷
Kant äußert sich hier zur Problematik von Freiheit und Staatlichkeit überraschend uneindeutig. Denn angenommen ein Untertan fragte Kant, ob er gegen einen Tyrannen, der ihn mit dem Tode bedroht, ein Recht zum Widerstand habe, hätte Kant hiernach keine eindeutige, rechtliche Antwort: Einerseits ist der Untertan zum Gehorsam verpflichtet und darf den Tyrannen rechtlich nicht zwingen, denn dieser ist das souveräne Oberhaupt des Staates. Andererseits darf sich der Untertan auch nicht selbst aufgeben, denn er ist zur Selbsterhaltung verpflichtet. Ein Gesetz, das den Fürsten zu gerechtem Handeln zwingt, ist rechtlich genauso widersprüchlich wie ein Gesetz, das dem Untertan angesichts des Todes die Selbsterhaltung verbietet. In Kants Worten: „Hier sind von beiden Seiten keine Gesetze möglich.“
Naturrecht Feyerabend, AA XXVII, S. 1391 f.
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1 Einführung
Also doch ein Kantisches non liquet in der Widerstandsfrage? Kants Antwort aus dem Jahr 1784 muss keineswegs eine Momentaufnahme innerhalb der Entwicklung seines Rechtsdenkens sein, welche sich mit der 1797 erschienenen Metaphysik der Sitten überlebt hätte. So explizit Kants Ablehnung eines Widerstandsrechts mit dem programmatischen „»Gehorcht der Obrigkeit […], die Gewalt über euch hat […]«“⁸ im Staatsrecht der Rechtslehre auch erscheinen mag, so täuscht dieser Eindruck jedoch, nimmt man die „Einleitung in die Rechtslehre“ hinzu. Dort scheint sich unter einem systematischen Gesichtspunkt wieder dieselbe Ambivalenz in der Widerstandsfrage zu ergeben wie 1784: Unter der Überschrift „Das angeborene Recht ist nur ein einziges“ gesteht Kant zunächst jedem die „Freiheit […], sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann,“ als das einzige angeborene Recht des Menschen zu. Jeder kann sich auf dieses allein „kraft seiner Menschheit“ berufen.⁹ Jedoch begründet die Menschheit in der eigenen Person für jeden nicht nur ein ursprüngliches Freiheitsrecht, sondern gleichzeitig die rechtliche Verbindlichkeit, sich selbst als Rechtsperson zu erhalten. Kant spricht in der „Einteilung der Rechtslehre“ von der inneren Rechtspflicht des honeste vive, die den Einzelnen verpflichtet, „im Verhältnis zu Anderen seinen Wert als den eines Menschen zu behaupten […]: »Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck.«“ Kant nennt dies die „Verbindlichkeit aus dem R e c h t e der Menschheit in unserer eigenen Person“.¹⁰ Legt man dies zugrunde, so scheint das Individuum nach Kants Metaphysik der Sitten von 1797 genauso einer rechtlichen Pflichtenkollision ausgesetzt zu sein wie im genannten Beispiel aus der Naturrechtsvorlesung Feyerabend von 1784: Es ist rechtlich zum Gehorsam gegenüber einem toddrohenden Unrechtsregime verpflichtet, gleichzeitig besteht aber die innere Rechtspflicht zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit. Ist Kants Position damit widersprüchlich, insofern er ja anderenorts eine Kollision moralischer Pflichten für unmöglich hält?¹¹ Löst Kant diese Problematik einseitig auf, indem er letztlich doch ein Widerstandsrecht gegen den Souverän eindeutig ablehnt? Oder ist dieses Problem für Kant rechtlich gar nicht zu fassen, sodass es 1797 beim Kantischen non liquet von 1784 bleibt und „von beiden Seiten keine Gesetze möglich“ sind? Diese Fragen skizzieren die grundlegende Problemstellung, der sich diese Untersuchung widmen will: Besteht bei Kant ein systematischer Konflikt zwischen
RL, AA VI, S. 371. Zum Ganzen: RL, AA VI, S. 237. Zum Ganzen: RL, AA VI, S. 236. RL, AA VI, S. 224: „[…] [S]o ist eine Kollision von Pflichten und Verbindlichkeiten gar nicht denkbar […].“
1.2 Der Diskussionsstand in der Kant-Forschung
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der Ablehnung eines Widerstandsrechts einerseits und der Annahme der inneren Rechtspflicht des honeste vive andererseits? Hiermit ist eigentlich nur als innersystematische Frage ausgewiesen, was oben allgemein als das Paradox der Kantischen Rechts- und politischen Philosophie aufgeworfen wurde. Wie verhalten sich bei Kant Freiheit und Staatlichkeit zueinander, und wie ist mit Kant die eingangs gestellte Frage zu beantworten: Kein Staat ohne Freiheit oder keine Freiheit ohne Staat? Damit verweist uns die fragliche Widersprüchlichkeit von Widerstandsverbot einerseits und innerer Rechtspflicht zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit andererseits auf die grundsätzliche Problematik, wie sich in Kants Rechtsphilosophie ursprüngliche (insbesondere unveräußerliche) Rechte und korrespondierende Rechtspflichten zur Legitimität der einmal etablierten Staatlichkeit verhalten. Denn zum einen steht honeste vive als mutmaßliche Rechtspflicht in einem Begründungszusammenhang mit dem Recht der Menschheit in der eigenen Person sowie auch mit dem angeborenen Recht »Freiheit«. Zum anderen verweist uns das Widerstandsverbot unmittelbar auf den liberalen Gehalt des Kantischen Staatsverständnisses und die Frage, ob und wie Staatlichkeit bei Kant durch ursprüngliche Rechte und Pflichten des Individuums konstituiert und ggf. limitiert wird. Die besondere systematische Problematik von Widerstandsverbot und Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit verlangt daher nach einer umfassenden Betrachtung des Kantischen Rechtsdenkens. Um das anfängliche Diktum nochmals aufzugreifen: Ist bei Kant die Staatlichkeit Möglichkeitsbedingung individueller Freiheit oder ist umgekehrt die Wahrung von Freiheitsrechten der Legitimität des Staates konstitutiv vorgelagert?
1.2 Der Diskussionsstand in der Kant-Forschung Das Verhältnis von Freiheit und Staatlichkeit bei Kant war bereits Gegenstand einer Vielzahl wissenschaftlicher Untersuchungen. Daher besteht sowohl zur Kantischen Widerstandsproblematik allgemein¹² als auch für sich genommen zu den Antipoden
Die Widerstandsproblematik bei Kant war seit jeher Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Daher hat die entsprechende Forschungsliteratur zum einen Ausmaße angenommen, die im Rahmen dieser Einführung nicht erschöpfend dokumentiert werden können, zum anderen in Teilen bereits einen Forschungskonsens erreicht. So herrscht weitestgehend Einigkeit, dass die Ablehnung des Widerstandsrechts nicht nur den gewaltsamen, aktiven Widerstand gegen die Staatlichkeit betreffe, jedoch auch gewisse Beschränkungen der Meinungsfreiheit zur Folge habe. Allerdings erlaube Kant einen negativen Widerstand des Volks über seine Repräsentanten im Parlament sowie passiven Widerstand im Sinne zivilen Ungehorsams. Im
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1 Einführung
der soeben geschilderten Konfliktlage bereits ein äußerst umfangreicher Forschungsstand. Jedoch wurde die hier interessierende Verknüpfung in Form eines möglichen systematischen Konflikts des Widerstandsverbots mit der Pflicht des honeste vive in der Kant-Forschung bisher nicht hinreichend aufgearbeitet. Eine ansatzweise Auseinandersetzung hiermit findet sich nur bei Oberer ¹³ und Brandt¹⁴, welche die Möglichkeit eines systematischen Konflikts thematisieren, jedoch nicht tiefergehend untersuchen. In der übrigen Kant-Forschung scheint die geringe Beachtung der geschilderten Konfliktlage darauf zurückzuführen zu sein, dass Status und Funktion des honeste vive umstritten bzw. unklar sind. Oft wird beklagt, Kant
Hinblick auf äußere Einflüsse auf Kants Position wird ein möglicher Konflikt mit der staatlichen Zensur unterschiedlich bewertet, hingegen die große Bedeutung der Französischen Revolution (gerade auch aus geschichtsphilosophischer Perspektive) allgemein anerkannt. Vgl. zum Ganzen nur die überblicksartigen Darstellungen bei Unruh 1993, S. 194– 212; Winkler 2010, S. 148 – 182 und Wawrzinek 2009, S. 241– 273, jeweils m. w. N. sowie die spätere eingehende Behandlung unten S. 337– 421. Nach Oberer 2004, S. 207– 209 übersieht Kant, dass die „Aufgabe der Rechtssubjektivität […] kategorisch […] verboten ist.“ Es sei ein Mangel der Kantischen Staatslehre, die „fundamentale Rechtsvorbehaltspflicht, d. h. in der Konsequenz: [die] Legitimität eines bürgerlichen Widerstandsrechts“ abgelehnt zu haben, weil dies dort, wo staatliche Verstöße gegen das Recht der Menschheit vorliegen, „dem obersten rechtlichen Pflichtgebot, die eigene Rechtssubjektivität zu sichern, widerspricht. […] Der Staat hat selbst […] nur eine einzige allgemeinste Rechtspflicht: das ursprüngliche Freiheitsrecht der Menschen zu sichern. [… Er ist], wenn er seine eigene Existenzbedingung nicht annullieren will, daran gebunden […]. […] Er ist niemals absolut. Also muss es möglich sein, ihm zu widerstehen.“ Vgl. in diesem Sinne aber auch schon Eppeneder 1980, S. 270 – 273, der in ähnlicher Weise die Pflicht des honeste vive zur Rechtfertigung freiheitlichen Widerstands in Stellung bringt. Brandt 1987, S. 216 fragt: „Wenn das honeste vive eine Rechtspflicht ist und wenn sich diese Pflicht auf öffentlich-rechtliche Verhältnisse beziehen lässt, wenn weiter der Despotismus dazu führt, dass die Bürger ihre Rechtspflicht verletzten – gelangt man dann nicht zu der Konsequenz, dass es ein Revolutionsgebot im Sinn eines gewaltsamen Umsturzes einer machthabenden Regierung geben muss?“ Brandt sieht hierin eine „unkantische Schlussfolgerung“ und lehnt an anderer Stelle (Brandt 1997, S. 29 f.) explizit einen aktiven Widerstand gegen die Staatlichkeit als Ausdruck des honeste vive ab. Nach Brandt 2012, S. 345 – 350 und S. 356 f. weist die Pflicht des honeste vive die Republik als Desiderat aus und wendet sich damit gegen den Despotismus. Daraus folge jedoch kein Recht auf aktiven Umsturz einer bestehenden Despotie, wohl aber die Pflicht im Falle einer dennoch rechtswidrig stattfindenden Revolution, die Gelegenheit zu nutzen und aktiv zur Realisierung der Republik beizutragen. Brandt 1987, S. 216 spricht von einem „Erlaubnisgesetz, das es ermöglicht, an sich verbotene Rechtszustände so lange provisorisch beizubehalten, bis sich eine Gelegenheit ergibt, sie zu ändern und den Forderungen des Naturrechts [sc. der Republik] anzugleichen.“ Hierfür „wählt Kant die Geschichte als Medium der Vermittlung von positivem Unrecht und der Rechtspflicht [sc. des honeste vive] der praktischen Vernunft. Die einmal etablierten Verhältnisse haben so lange einen provisorischen Bestand, bis sich ohne Rechtsverletzung eine Änderung herbeiführen lässt.“ Vgl. ebenso Brandt 2012, S. 351 f.
1.2 Der Diskussionsstand in der Kant-Forschung
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habe in der Metaphysik der Sitten weder das Problem der Begründung dieser inneren Rechtspflicht noch das ihrer Einordnung in die allgemeine Einteilung der Rechtspflichten gelöst.¹⁵ Da Kant bis 1794 honeste vive noch als Prinzip der Ethik ausweist, wird außerdem die Entwicklung dieser Pflicht kontrovers diskutiert.¹⁶ Schließlich werfe Kants Bestimmung des honeste vive als innere Rechtspflicht Probleme auf,weil dies im direkten Widerspruch zu Kants Rechtskonzeption stehe, wonach Rechtspflichten nur äußere Pflichten sein könnten und analytisch mit der Zwangsbefugnis verbunden seien.¹⁷ Einige Autoren erkennen daher honeste vive bereits nicht als Rechtspflicht im engeren Sinne an.¹⁸ Zwar sprechen demgegenüber die meisten
Vgl. Klemme 2001, S. 181; Friedrich 2004, S. 58 – 68, insb. S. 66; Höffe 2001, S. 148 und 157 f. Deutlich Kersting 1984, S. 102, Fn. 218: Man kann „nicht hoffen, mehr als plausible Vermutungen hinsichtlich der Bedeutung der inneren Rechtspflicht […] zu entwickeln.“ Laut Kersting 1984, S. 102– 106 hat es nach 1794 eine Aufspaltung des Rechts der Menschheit in eine juridische (honestas externa) und eine ethische (honestas interna) Hälfte gegeben, infolgedessen das Recht der Menschheit die Ethik verließ und nun als Grund eine Erweiterung der Prinzipienlehre des Rechts darstellte. Die dem Recht der Menschheit korrespondierende Pflicht des honeste vive verweise auf diese rechtliche honestas externa.Vgl. ebenso Höffe 2001, S. 150 f. und Winkler 2010, S. 102 f. Zustimmend äußert sich auch Ju 1990, S. 36 – 78, zusammenfassend S. 60 f. und S. 66 f., der diese Entwicklung damit erklärt, dass der Begriff des inneren Zwangs Kant anfänglich unklar gewesen sei und daher zunächst alle nicht erzwingbaren Pflichten der Ethik zugeordnet worden seien. Kant habe die theoretische Möglichkeit des Selbstzwangs erst 1794 dargelegt und in Folge honeste vive als innere Rechtspflicht anerkannt. Vgl. in diesem Sinne auch Friedrich 2004, S. 62– 66 Gegenteilig dazu vertritt Eppeneder 1980, S. 54– 123, zusammenfassend S. 258 f., dass Kant ursprünglich die verschiedenen Pflichten nach der Vollkommenheit, dann aber nach der äußeren Erzwingbarkeit eingeteilt habe. Dies bedinge „eine wesentlich andere Einordnung der vollkommenen Pflichten gegen sich selbst, sie wechseln ihre Art, die vormaligen Rechtspflichten werden dargestellt als Tugendpflichten gegen sich selbst.“ (S. 259). Geismann 2006, S. 115 f. sieht gar keine Entwicklung i. e. S. und führt das „Schwanken Kants hinsichtlich der systematischen Zuordnung“ auf einen Perspektivwechsel zurück, da sich honeste vive einerseits als vollkommene Pflicht dem Recht, andererseits wegen des zur Erfüllung nötigen Selbstzwangs der Ethik zurechnen lasse. Vgl. statt vieler Kersting 1984, S. 102; Pinzani 2005, S. 74 f.; Höffe 2001, S. 157 f.; Friedrich 2004, S. 60 f.; Pippin 1999, S. 69 f. Pippin 1999, S. 69 hält eine Interpretation des honeste vive als Rechtspflicht für problematisch. Joerden 2009, S. 466 spricht von einer „auf Rechtsverhältnisse bezogene[n] Pflicht […]. Aber die Pflicht wäre strukturell eine Tugendpflicht […].“ Nach Höffe 2001, S. 148 f. und 158 f. ist sie eine kategorische Vor-Leistung, die nicht Teil des Rechts, sondern dem Recht vorgelagert sei. Auch Byrd und Hruschka 2005, S. 496 f., erneut Byrd und Hruschka 2011, S. 62 f. sprechen von einer den äußeren Rechtspflichten vorgelagerte innere Pflicht, den Standpunkt des Rechts einzunehmen. Pinzani 2005, S. 73 f. und 78 f. bezeichnet die Pflicht als „ein Zwitterwesen“, welches „keine der Bedingungen vollständig [erfüllt], die zu einer rein ethischen oder rein rechtlichen Pflicht notwendig sind.“ Sie habe daher eine „vorrechtliche Dimension“. Ähnlich zeitweise Oberer 1991, S. 14; nunmehr Oberer 2004, S. 204 aber für eine Interpretation als Rechtspflicht. Ebbinghaus 1986c-
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1 Einführung
Interpreten wegen Kants systematischer Einordnung und des klaren Wortlauts von einer inneren Rechtspflicht mit dem Inhalt, im äußeren Handeln die eigene Rechtspersönlichkeit gegenüber anderen zu bewahren.¹⁹ Dabei betonen sie, dass die vom honeste vive geforderte Anerkennung als Rechtsperson die Grundlage jeden Rechts sei.²⁰ Jedoch wird dabei fast ausschließlich die privatrechtliche Relevanz dieser inneren Rechtspflicht thematisiert.²¹ Nur vereinzelt finden sich im Hinblick auf die Widerstandsfrage Bezüge zu ihrer öffentlich-rechtlichen Relevanz, ohne aber wie Oberer und Brandt das systematische Problem einer Pflichtenkollision mit der staatsbürgerlichen Gehorsamspflicht anzusprechen.²² Entsprechendes gilt bezüglich der Relevanz des honeste vive für die Staatslegitimation bei Kant, die sich aus der Ableitungsbeziehung mit neminem laede und suum cuique tribue am Ende der „Allgemeinen Einteilung der Rechtspflichten“ ergibt.²³ Sie wird – abgesehen von Friedrich²⁴ – häufig entweder gar nicht thematisiert²⁵ oder nicht tiefergehend interpretiert.²⁶
1994, S. 329 hält honeste vive wegen des zur Erfüllung nötigen Selbstzwangs für eine innere Verpflichtung, die in die Ethik gehöre. Auch für Gregor 1963, S. 47, ausführlich S. 113 – 127 ist der eigentliche Ort innerer Rechtspflichten die Ethik. Laut Friedrich 2004, S. 67 f. ist „jeder Mensch durch seine Rechtspersonalität immer schon sich selbst gegenüber verpflichtet, sich dieser Rechtspersonalität nicht zu begeben.“ Das honeste vive verbiete – so Kersting 1984, S. 103 und 106 – die „Selbstentrechtung und Selbstverdinglichung […], sich der eigenen Rechtspersönlichkeit zu begeben.“ Vgl. mit im Detail unterschiedlicher Begründung ebenso Gerhardt 2006, S. 114 f. und 118 f.; Ju 1990, S. 102, 108 und 179; Kühnemund 2008, S. 55 und 133; Winkler 2010, S. 107; Kaulbach 1982b, S. 33 f.; Baum 2007, S. 223 sowie wohl auch Klemme 2011, S. 45 und Ripstein 2009, S. 37 f. und 133 f. Ju 1990, S. 108: Wenn sich jemand „bloß als Sache betrachtete, bzw. betrachten ließe, so wäre er nicht mehr zurechnungsfähig, d. h. er könnte weder Rechte noch Pflichten haben […].“ Vgl. statt vieler im Ergebnis ebenso Eppeneder 1980, S. 83 f.; Byrd und Hruschka 2011, S. 65 f.; Oberer 2004, S. 204; Pinzani 2005, S. 78 und Kersting 1984, S. 101 f. Vgl. hinsichtlich der privatrechtlichen Relevanz der inneren Rechtspflicht (insb. Verbot, sich selbst in Sklaverei oder Prostitution zu verkaufen) statt aller Geismann 2006, S. 118 f.; Friedrich 2004, S. 67 f. und Höffe 2001, S. 151 f. jeweils m. w. N. Höffe 2001, S. 159 spricht von der Pflicht, die eigene Rechtspersönlichkeit sogar „gegen soziale Widerstände“ zu vollziehen. Geismann 2006, S. 118 geht so weit, dass der Staat, der den Verzicht auf die Rechtspersönlichkeit positiv-rechtlich möglich macht, „den Anspruch auf Gehorsam verliert“. Im Ergebnis ähnlich Byrd und Hruschka 2011, S. 11 und 91 mit Fn. 74 unter Verweis auf Hruschka 2003, S. 208 –212, die im Hinblick auf das honeste vive von einer Notwehrpflicht sprechen. Vgl. RL, AA VI, S. 237. Vgl. Friedrich 2004, S. 165 – 170 Z. B. Ripstein 2009; Ludwig 1988; Unruh 1993; Niebling 2005; Scholz 1972; Gregor 1963; Langer 1986 sowie Riley 1983. Pippin 1999, S. 68 f. bezeichnet die Ableitung lediglich als „puzzling“. Höffe 2001, S. 157 geht nicht wesentlich über die Konstatierung eines logischen Syllogismus hinaus. Im Ergebnis gilt
1.2 Der Diskussionsstand in der Kant-Forschung
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Ähnliches lässt sich hinsichtlich des angeborenen Rechts »Freiheit« feststellen, dessen Geltung sich – insofern ähnlich der inneren Rechtspflicht des honeste vive – auf die Menschheit in der eigenen Person gründe.²⁷ Gleichwohl wird es häufig begrifflich nicht sauber vom Recht der Menschheit unterschieden.²⁸ Es ist zwar allgemein anerkannt, dass das angeborene Recht unmittelbar Ausdruck der unveräußerlichen, allseits zu achtenden Rechtssubjektivität eines jeden Menschen ist.²⁹ Jedoch wird eine hierdurch denkbare Begrenzung staatlicher Herrschaft im Hinblick auf die Widerstandsproblematik weitgehend verneint, da Kant
Gleiches für Kersting 1984, S. 108; Oberer 2004, S. 206 und Baum 2004, S. 36. – Viele Autoren schlagen eine Interpretation nach der Kantischen Kategorientafel vor, wobei eine unmittelbare Relevanz des honeste vive für die Staatskonstitution abgelehnt wird.Vgl. im Anschluss an Reinhard Brandt für eine Deutung nach den Relationskategorien Falcioni 1999, S. 159 und Höffe 2001, S. 154. Vgl. für eine Interpretation nach den Modalitätskategorien Ju 1990, S. 103 f.; Pinzani 2005, S. 81– 92 und Byrd und Hruschka 2011, S. 64. Schließlich spricht sich Winkler 2010, S. 109 f. für eine Interpretation nach den Kategorien der Qualität aus. Hinsichtlich seines grundsätzlichen Inhalts kann von einem Forschungskonsens gesprochen werden: Negativ erschöpfe es sich in der rechtlichen Befugnis, sich unabhängig von der Nötigung anderer eigene Zwecke zu setzen und deren Verwirklichung anzustreben. Positiv besteht es nach wohl überwiegender Auffassung im Recht auf Handlungsfreiheit unter der Bedingung der allgemeingesetzlichen Vereinbarkeit mit dem Willkürgebrauch anderer (vgl. statt vieler Niesen 2008, S. 38 f.; Kiehl 1997, S. 197 f.; Geismann 2006, S. 113; Ripstein 2009, S. 30 f.; Kersting 1984, S. 94 f. – Byrd und Hruschka 2011, S. 10 und 87 f. betonen hingegen, dass der positive Aspekt bereits die Verpflichtung zu einem „juridical state, or state under the rule of law“ enthalte. König, Siegfried 1994, S. 229, 237 f. und 258 f. sieht den positiven Aspekt sogar in der sittlichen Willensbestimmung durch das moralische Gesetz). Eine Begründung des Freiheitsrechts gebe Kant nicht (vgl. Klemme 2001, S. 181; Joerden 2009, S. 455 f.). Es sei bei Kant aber weder geschichtlich, noch anthropologisch, sondern normativ als subjektivrechtliche Ausformung des moralischen Rechtsgesetzes begründet. Daher komme das Freiheitsrecht dem Menschen aufgrund seiner Vernunftnatur und der Stellung als Person zu, seine Verbindlichkeit sei durch praktische Vernunft begründet (Kersting 1984, S. 92 f. und 97; Niebling 2005, S. 57; Höffe 2007, S. 223; Ju 1990, S. 118 und 124). Ob es nur vor dem Hintergrund des transzendentalen Idealismus verstanden werden kann, ist strittig. Vgl. für eine Rückführung auf das Autonomietheorem bzw. den transzendentalen Freiheitsbegriff Joerden 2009, S. 457 f., Klemme 2001, S. 182 f. m .w. N.; Ludwig 1988, S. 104 und Ju 1990, S. 114 f.; dagegen für die Unabhängigkeit hiervon Geismann 2006, S. 113 i. V. m. S. 72– 88 und jüngst auch Ripstein 2009, S. 31– 42 (insb. S. 40) i. V. m. S. 355– 388 Das angeborene Menschenrecht sei jedenfalls unverfügbar und unabhängig von vorherigen Rechtsverhältnissen. (vgl. statt vieler Ju 1990, S. 94; Ripstein 2009, S. 35; Unruh 1993, S. 89; Mulholland 1989, S. 200 sowie Höffe 2007, S. 223). Vgl. hierzu exemplarisch Ripstein 2009, S. 30 31 f., der unterschiedslos vom „innate right of humanity in your own person“ zum „innate right to freedom“ übergeht. Vgl. statt aller Kersting 1984, S. 96; Geismann 2006, S. 113; Ripstein 2009, S. 34 f.; Gregor 1963, S. 47; Eppeneder 1980, S. 82 f. und 263 f. und Ju 1990, S. 118 f. und S. 124 f. m. w. N.
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das angeborene Recht nicht in Form institutionalisierter Schutzrechte³⁰ gegenüber dem Staat ausgestalte. Es fehle an der Justiziabilität des angeborenen Rechts und auch sonst bestünden keine eingriffsdogmatischen Schranken hoheitlicher Machtausübung.³¹ Der Staat sei zwar durch das Vernunftgesetz eingeschränkt, aber ohne die Möglichkeit von dessen Durchsetzung.³² Viele Autoren kritisieren es daher als Schwäche Kants, das angeborene Recht nur in der „Einleitung in die Rechtslehre“ abgehandelt und nicht als gegenüber dem Staat durchsetzbares Abwehrrecht konzipiert zu haben. Insbesondere habe Kant kein elementares Recht auf Leib und Leben bestimmt.³³ Demgegenüber problematisieren vor allem Haensel und Oberer einen systematischen Konflikt mit dem Widerstandsverbot und gründen ein vernunftrechtliches Widerstandsrecht ausdrücklich auf das angeborene Recht.³⁴ Im Übrigen gibt es nur wenige Ansätze, die versuchen, im Rekurs auf den Menschenrechtsgedanken eine Bindung des Herrschers zu begründen.³⁵ Auch eine mögliche Bedeutung des angeborenen Rechts für die Kon-
Kant formuliere keinen Katalog angeborener Rechte, da dies zu einer mit dem transzendentalen Status des einzigen Menschenrechts unvereinbaren Berücksichtigung materialer Elemente führen würde (vgl. statt vieler Kersting 1984, S. 97; König, Siegfried 1994, S. 234f. und S. 285; Friedrich 2004, S. 81; kritisch Luf 1999). König, Siegfried 1994, S. 272 f. und S. 285 f. hält aber eine Ausdifferenzierung von Rechten, die erst als Ansprüche aus dem angeborenen Recht gesetzlich positiviert werden müssten, für möglich.Vgl. beipflichtend Luf 1999, S. 35 f. und Niebling 2005, S. 59 f.; kritisch aber Horn 2014, S. 121f. Jedenfalls müsse das einzige Menschenrecht stets oberster kritischer Maßstab bleiben (vgl. Höffe 2007, S. 223; König, Siegfried 1994, S. 146 f. und Luf 1999, S. 33). Klemme 2011, S. 51: „Aber es gibt bei Kant […] kein durch den Herrscher angeordnetes oder geduldetes Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das irgendeine Person oder Institution rechtlich legitimieren würde, ihn hierfür zur Verantwortung zu ziehen.“ Vgl. hierzu auch Luf 1978, S. 134 f.; Rosen 1996, S. 146 f.; Henrich 1976, S. 359 f. und Westphal 1993, S. 272 f. Vgl. statt vieler Winkler 2010, S. 126 f.; Höffe 2007, S. 237 f.; Kersting 1984, S. 239 f.; Zotta 2000, S. 78 f. und 223 f. sowie Luf 1999, S. 35. Vgl. Horn 2014, S. 71 f.; Zotta 2000, S. 77 f.; Ludwig 1993, S. 226 f. mit Fn. 19; Ludwig und Herb 1993, S. 304 mit Fn. 48 und S. 309 mit Fn. 55; Brandt 1974, S. 180 f.; Kühl 1984, S. 127, Fn. 2 und Höffe 1999c, S. 289. Jedoch vertreten Ritter 1976, S. 517 f.; König, Siegfried 1994, S. 272 und 285 f. sowie Mulholland 1989, S. 384 f., dass bei Kant ein Recht auf Leben als natürliche Bedingung der Person implizit vorhanden sei. Vgl. Haensel 1926, S. 54 f. unter Verweis auf seine Interpretation des angeborenen Rechts (ebd., S. 27): „Dieses Widerstandsrecht würde unmittelbar auf die ‚heiligen Rechte der Menschheit‘, die wir als Rechte gegen andere kennen gelernt haben (S. 27), zu gründen sein […].“ (S. 56).Vgl. Oberer 2004, S. 207– 210 und oben Kap. 1, Fn. 13. Hasanbegovic 1997, S. 95 schließt aus Kants Identifikation von Gesetzgebung mit Herrschergewalt, dass dieser einen Gesetzes-Souverän in Form der Menschenrechte schaffen wollte,welcher über dem personalen Herrscher stehe. Ebbinghaus 1953, S. 19 – 22 und Ebbinghaus 1986e-1994, S. 244 f. möchte einer menschenrechtswidrigen Behandlung von Untertanen den Rechtscharakter aberkennen. Ähnlich Kühnemund 2008, S. 146 f.: „Nach der Konstituierung der Republik bleibt
1.2 Der Diskussionsstand in der Kant-Forschung
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stitution staatlicher Herrschaft wird nur von einigen angenommen,³⁶ im Übrigen entweder nicht angesprochen³⁷ oder abgelehnt.³⁸ Gleichwohl wird die unbedingte staatsbürgerliche Gehorsamspflicht in der Kant-Forschung vielfach als problematisch empfunden. Vertreter einer »Inkonsistenz-These« halten Kants Position schon für in sich widersprüchlich. Daher sei Kants Widerstandsverbot schlechthin als unhaltbar abzulehnen.³⁹ Umgekehrt wird von anderen Stimmen das Kantische Widerstandsverbot im Grundsatz gerechtfertigt.⁴⁰ Vertreter einer solchen »Konsistenz-These« diskutieren jedoch darüber hinausgehend, ob die staatsbürgerliche Gehorsamspflicht auch im Falle
das Menschenrecht als normative Forderung erhalten, an der die Verbindlichkeit der positiven Gesetzgebung zu messen ist.“ Dies betreffe insb. die „leibliche Existenz“ (S. 179). Klemme 2011, S. 46: „Weil wir von unserem angeborenen Recht nur unter Bedingungen des status civilis Gebrauch machen können, sind wir vernunftrechtlich verpflichtet, in diesen gemeinsam mit allen anderen einzutreten.“ Vgl. – freilich im Detail unterschiedlich – ebenso Byrd und Hruschka 2011, S. 77– 90 und insb. 88 f.; Ripstein 2009, S. 176 – 181; Friedrich 2004, S. 174– 181; Kersting 2004, S. 51– 54; Geismann 2012, S. 47– 53; König, Siegfried 1994, S. 244 f. und im Ergebnis auch Kühl 1999, S. 128, 162– 165. So z. B. Riley 1983; Deggau 1983; Haensel 1926; Lisser 1922; Luf 1978; Zotta 2000; Shell 1980; Rosen 1996; Langer 1986; Gregor 1963 und zeitweise Kersting 1984, die nur die Möglichkeit einer anthropologischen, eigentumstheoretischen oder vertragstheoretischen Staatsbegründung Kants problematisieren. Vgl. Horn 2009, S. 404– 408; Höffe 2007, S. 231 f. und Brandt 2012, S. 338 f.; indirekt auch Ludwig 1988, S. 105 f. und Ludwig und Herb 1993, S. 284– 293. Dulckeit 1973, S. 56 f.; Wenturis 1991, S. 340 f.; Höffe 2007, S. 238 f. und wie gezeigt Haensel 1926, S. 54 f. und Oberer 2004, S. 207– 210, erneut Oberer 2006, S. 266 halten Kants Position für unvereinbar mit seiner Vernunftrechtskonzeption, da das Widerstandsverbot die vom Kantischen System geforderte Höherrangigkeit des Vernunftrechts gegenüber dem positiven Recht wirkungslos mache. Laut van der Linden 1988, S. 180 – 182 und Sandermann 1989, S. 322 f. müsste durch obrigkeitliche Vertragsverletzung nach Kants Grundsätzen eigentlich wieder ein Naturzustand herbeigeführt werden, der Gewalt zur Wiedereinrichtung eines bürgerlichen Zustands erlaubt.Vgl. mit weiteren Begründungsansätzen für die Inkonsistenz der Kantischen Position Mandt 1974, S. 145 – 151; Simmons 1999, S. 755 – 769; Beck 1971, S. 419 f.; Rosen 1996, S. 171 f.; Wit 1999, S. 285 – 297 und ähnlich Riley 1983, S. 106. Nach Kersting 1984, S. 340 f. ist die Kantische Position konsistent, da es zwischen den Staatsbürgern ein wechselseitig geschuldetes Recht auf Staat gebe. Dies schließe ein Recht zum gewaltsamen Umsturz aus. Vgl. im Ergebnis ebenso Winkler 2010, S. 168 f.; Wawrzinek 2009, S. 267 f. sowie wohl auch Unruh 1993, S. 211 f. und Geismann 1974, S. 58. Ripstein 2009, S. 328 f.; Ebbinghaus 1986e-1994, S. 238 und Andrieu 1995, S. 140 verweisen auf die unbedingte Souveränitätsübertragung durch Gründung eines status civilis. Laut Deggau 1983, S. 273 f. und 280 ist Zwang rechtlich nur durch den Staat möglich, sodass Zwangsrechte gegen den Staat ausgeschlossen seien. Losurdo 1987 hält Kants Position inhaltlich für konsistent, da Kant mit dem Widerstandsverbot die in Frankreich gerade etablierte revolutionäre Herrschaft vor einer Gegenrevolution schützen wolle. Vgl. teilweise ähnlich Henrich 1976, S. 360 f.
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staatsverderbender Regime gefordert ist. Damit sind politische Extremsituationen gemeint (wie z. B. die NS-Diktatur), in denen der Regent zum hostis populi wird und die Staatlichkeit durch Gewalt und Terror pervertiert. Vielfach wird hier eine Gehorsamspflicht verneint, meistens durch Hinweis auf das Fehlen eines rechtlichen Zustands im Kantischen Sinne,⁴¹ im Übrigen aus anderen Gründen.⁴² Gegenüber diesen Stimmen verteidigen andere Autoren auch noch im Falle staatsverderbender Regime die Kategorizität des Widerstandsverbots, da es unabhängig von der Frage der Gerechtigkeit der Regierung gelte.⁴³ Schließlich wird noch eine weitere Argumentationslinie in die Debatte eingeführt, der zufolge das Problem des Unrechtsregimes in historischer Perspektive über Kants Geschichtsphilosophie und die Reformpflicht des Souveräns aufzulösen sei.⁴⁴
Nach Kersting 1984, S. 336 f. liegt bei staatsverderbenden Regimen nur noch ein „gewaltunterworfene[r] Naturzustand“ vor. Daher werde das Widerstandsverbot gegenstandslos. Nach einer Passage zur Staatstypologie in Kants Anthropologie handelt es sich laut Klemme 2011, S. 52 f.; Ripstein 2009, S. 337 f. und wohl auch Joerden 1995, S. 256 – 263 bei einem extrem ungerechten Staat um Barbarei, die für Kant keinen rechtlichen Zustand mehr darstelle, gegenüber der Widerstand verboten wäre. Auch Byrd und Hruschka 2011, S. 90 f. und S. 181– 184 beziehen Kants Widerstandsverbot von vornherein nur auf einen rechtlichen Zustand: „If I am not in a juridical state, then I am in the state of nature. In the state of nature, resistance is permitted.“ (S. 91). Ähnlich Westphal 1998, S. 189 – 202, insb. S. 197 f. und wohl auch schon Seebohm 1981, S. 579.Vgl. unter besonderer Betonung eines Rechts auf Publizität im Ergebnis ebenso Scheffel 1982, S. 203 f. und Sassenbach 1992, S. 62 f. Reiss 1956, S. 190 f.verweist schlicht auf die Unvorhersehbarkeit moderner Diktaturen für Kant. Nach Maus 1992, S. 98 – 101 ist ausschließlich Widerstand gegen den Gesetzgeber verboten, Widerstand gegen die Exekutive hingegen sei unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Vgl. ähnlich Pfordten 2009d. Außerdem – so Maus 1992, S. 107– 114 – sei bei Kant „jede postdemokratische Regierung absolut ins Unrecht gesetzt“ und dürfe gewaltsam bekämpft werden. Überdies räume Kant für Widerstand den Vorwand des Notrechts ein. Gerhardt 1995, S. 179 mit Fn. 39 hält ein begrenztes konstitutionelles Widerstandsrecht für möglich, da Kants Widerstandsverbot nur den revolutionären Umsturz der Verfassung als Ganze betreffe. Williams Holtman 2002 rechtfertigt Widerstand gegen staatsverderbende Regime im Hinblick auf Kants Verständnis von Staatsbürgerschaft. Wawrzinek 2009, S. 269 f. bestreitet bereits das Problem, da durch die allseitige „Pflicht zum passiven Widerstand aus Gewissensgründen […] nach Kants Prinzipien die Entstehung eines absoluten Unrechtsstaates verhindert“ werde (S. 271). Schließlich folgt nach Klemme 2001, S. 187 f. aus dem inneren Mein und Dein das Recht eines jeden, einen Platz in der Welt einzunehmen. Werde dieses willkürlich verletzt, bestehe ein Recht zum Widerstand. Vgl. Kalscheuer 2014, S. 123 – 126; Zotta 2000, S. 225; Winkler 2010, S. 176 f.; Williams 1983, S. 198 – 208; Matthews 2005, S. 248 f.; Shell 1980, S. 167 f. und Schmidt 1985, S. 315 f. Vgl. plakativ Unruh 1993, S. 212: „[…] [D]ie geschichtsphilosophische Dimension der praktischen Philosophie Kants [trägt] den Gedanken des Widerstandsverbotes bei gleichzeitiger Reformpflicht des Monarchen […].“ Ähnlich äußern sich Zotta 2000, S. 149 f. und S. 216 – 239; Städtler 2015, S. 151– 158; König, Siegfried 1994, S. 289; Williams 1983, S. 214 f.; Sandermann 1989, S. 331; Kleingeld 1995, S. 524 f. und Langer 1986, insb. S. 68 – 75. Dabei wird problematisiert, ob Kant den
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Mithin bleibt festzuhalten, dass zwar zum Teil weitreichende Untersuchungen zum Widerstandsverbot bei Kant wie auch zu seiner Theorie ursprünglicher Rechte und Pflichten vorliegen. Gleichwohl ist in der Kant-Forschung ein möglicher systematischer Konflikt des Kantischen Widerstandsverbots mit der Pflicht des honeste vive zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit bisher nicht hinreichend erforscht worden. Die geringe Beachtung dieser Konfliktlage ist meiner Ansicht nach auch darauf zurückzuführen, dass innerhalb der Kantischen Rechtsphilosophie Status und Funktion des honeste vive in vielen Teilen noch unklar sind. Überdies wird fast ausschließlich die Relevanz des honeste vive für die privatrechtliche Rechtsausübung untersucht. Eine grundlegende Aufarbeitung der öffentlich-rechtlichen Relevanz des honeste vive für die Widerstandsproblematik steht noch aus.⁴⁵ Gleichzeitig muss die besondere Problematik von Widerstandsverbot und Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit noch grundlegender im Gesamtzusammenhang von Kants praktischer Philosophie betrachtet werden. So lässt die innere Rechtspflicht des honeste vive allein schon durch ihren Rekurs auf die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen an eine Verwandtschaft zur Zweckformel des kategorischen Imperativs denken und wirft damit sogleich Fragen zum grundsätzlichen Verhältnis von Kants Rechtslehre zu seiner übrigen kritischen Moralphilosophie auf. Stünde hiernach das Recht im unmittelbaren Begründungszusammenhang zur sittlichen Autonomie des Einzelnen, kann dies auch für das richtige Verständnis von Kants Staatsbegründung und seiner Lehre vom Widerstandsrecht von Bedeutung sein. Die besondere Problematik von Widerstandsverbot und honeste vive verweist uns auf Kants grundsätzliche Rechtsbegründung und deren Verhältnis zur sittlichen Autonomie des Einzelnen. Der hierdurch angesprochenen Möglichkeit der Rückführung der Widerstandsproblematik auf die Grundlagen des Kantischen Rechtsdenkens wird angesichts des gegenwärtigen Diskussionsstands in der Kant-Forschung jedoch kaum nachgegangen. Schließlich verbleibt auch noch die Frage des liberalen Status von Kants politischer Philosophie. Wie deutlich wurde, besteht in Teilen der Kant-Forschung eine gewisse Tendenz, das Widerstandsverbot bei Kant angesichts des liberalen Grundtenors seiner politischen Philosophie zumindest als problematisch zu empfinden. Die Lösungsvorschläge gehen in der Mehrheit dahin, entweder das kategorische Wider-
Gattungsfortschritt über die Individualrechte stelle. Klemme 2011, S. 50 f. beklagt, Kant ordne das schutzwürdige Menschenrecht seiner Souveränitätsidee unter und verweise auf die Hoffnung des Rechtsfortschritts im weiteren Fortgang der Geschichte. Vgl. ähnlich Recki 2006, S. 87 f.; Brandt 2007, S. 217 f. und Zotta 2000, S. 237. Bei den oben genannten Oberer und Brandt (vgl. Kap. 1, Fn. 13 und 14) findet sich eine solche Aufarbeitung nur in Ansätzen.
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standsverbot zu marginalisieren bzw. als inkonsistent zu verwerfen oder aber angesichts des Widerstandsverbots den liberalen Gehalt der Kantischen Philosophie in Frage zu stellen. Jedoch könnte Kants gleichzeitige Anerkennung des Widerstandsverbots und der Pflicht zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit ein Hinweis darauf sein, dass sich die Widerstandsproblematik innerhalb von Kants Rechts- und Moralphilosophie nicht in eine Richtung auflösen lässt. Dies wirft sodann die Frage auf, warum Kants Philosophie das Spannungsverhältnis von absoluten Freiheitsrechten einerseits und absoluter Staatsautorität andererseits inhärent ist und wie man das Widerstandsverbot als konsequente Ausgestaltung des politischen Liberalismus Kantischer Prägung begreifen kann.
1.3 Forschungsansatz und Gang der Untersuchung So sehr die besondere Konfliktlage von Widerstandsverbot und honeste vive eine präzise formulierbare, systematische Fragestellung umreißt, so sehr verweist uns diese Problematik gleichzeitig auf die Grundlagen der Kantischen Rechts- und Staatsbegründung, auf das Verhältnis der Rechtslehre zu Kants übriger kritischer Moralphilosophie sowie auf die allgemeine Bewertung des liberalen Gehalts seiner politischen Philosophie. Die vorliegende Problemstellung verlangt mithin nach einer grundsätzlichen Verhältnisbestimmung von Freiheit und Staatlichkeit im Rahmen der Kantischen Rechtsphilosophie. Diese Abhandlung hat den Anspruch, eine solche Verhältnisbestimmung zu leisten und vor deren Hintergrund Kants komplizierte Sicht auf das Widerstandsverbot und die Rechtspflicht zur Erhaltung der eigenen Persönlichkeit zu verteidigen sowie als systematisch konsistent auszuweisen.
1.3.1 Keine Freiheit ohne Staat! – Kants Liberalismus zwischen dem „Ideal des hobbes“ und der Rousseau’schen Republik Der Schlüssel hierfür – so wird die folgende Argumentation zeigen – liegt darin, Staatlichkeit als Realisationsbedingung individueller Freiheitsrechte zu begreifen. Diesem Forschungsansatz liegt die Arbeitshypothese zugrunde, dass sich bei Kant der moralische Rechtsbegriff im Allgemeinen sowie die Pflicht zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit, die Staatsbegründung und das Widerstandsverbot im Besonderen aus der sittlichen Autonomie des Einzelnen entwickeln lassen. Ausgehend von dieser Hypothese wird sich zeigen, dass bei Kant ein Recht auf freiheitlichen Widerstand von vornherein ausgeschlossen ist und bereits erwähnte Interpretationsansätze (wie z. B., dass Kants Rechtsphilosophie in der Wider-
1.3 Forschungsansatz und Gang der Untersuchung
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standsfrage systematisch inkonsistent sei oder dass Kant Unrechtsregime nicht mehr als Staat qualifiziert hätte) an der Pointe des Kantischen Staatsverständnisses vorbeigehen: Jede Form von Staatlichkeit, selbst »ungerechte« staatliche Herrschaft, muss als Realisationsbedingung und damit als Ausdruck individueller Autonomie begriffen werden. Kommen dem Einzelnen aufgrund seiner sittlichen Autonomie Freiheitsrechte zu, sind diese für Kant stets nur als Freiheit zum und Freiheit im Staat denkbar. Angesichts dessen ein Widerstandsrecht einzufordern, stellt demnach nicht nur die Autonomie des anderen, sondern sogar die eigene in Frage. Das oben genannte Paradox Freiheit: Ja! – freiheitlicher Widerstand: Nein! ist Kants Theorie inhärent. Das Widerstandsverbot ist Kants konsequente Ausgestaltung seines eigenen liberalen Selbstverständnisses. Mit einem Wort, der politische Liberalismus Kants ist staatlich gebunden: Keine Freiheit ohne Staat! ⁴⁶ Letztlich ist Kants Haltung darauf zurückzuführen, dass er die Frage der Legitimität und die Frage der Liberalität staatlicher Herrschaft strikt getrennt verhandelt. Zwar ist für Kant ein Staat genau dann liberal (oder weiter gefasst: gerecht), wenn er die Freiheitsrechte seiner Bürger wahrt. Jedoch hängt die Legitimität des Staates nicht von der Wahrung ebendieser Freiheitsrechte ab.Vielmehr fallen bei Kant die Kriterien für die Legitimität und für die Gerechtigkeit politischer Herrschaft auseinander. Dies ist, philosophiegeschichtlich betrachtet, ein Novum und letztlich der Kantischen Staatsbegründung geschuldet. Zwar folgt Kant methodisch dem politischen Kontraktualismus seiner Zeit und leitet die Notwendigkeit des Staates – ebenso wie Hobbes und Rousseau, auf die sich Kant selbst wiederholt bezieht – aus den Defekten der Rechtsgemeinschaft im Naturzustand ab. Jedoch wird von ihm das klassische Theorem von Naturzustand und Gesellschaftsvertrag vor dem Hintergrund seiner kritischen Moralphilosophie gänzlich neu interpretiert. Die Staatsnotwendigkeit bekommt hierdurch im Sinne Kants eine kritische Wendung: Kants Ausgangspunkt ist die Grunderkenntnis seiner kritischen praktischen Philosophie, dass wir Menschen moralische Rechte und Pflichten nur in unserer Eigenschaft als Person, d. h. als autonomes Vernunftwesen haben, deren Anspruch es ist, „keinen anderen Gesetzen, als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst giebt, unterworfen“ zu sein.⁴⁷ Gleichzeitig haben wir als Person bereits im Naturzustand Rechte, namentlich „F r e i h e i t (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür)“ als das „einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht“.⁴⁸ Unter Naturzustandsbedingungen treten nun der
Vgl. hierzu auch meinen Beitrag Hirsch 2016, in welchem ich Kants politischen Liberalismus erläutere und seine Relevanz für gegenwärtige Debatten aufzeige. Die folgende Auseinandersetzung mit Kants Liberalismusverständnis beruht in überarbeiteter Form hierauf. RL, AA VI, S. 223. RL, AA VI, S. 237 f.
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Anspruch autonomer Selbstverpflichtung einerseits und der Anspruch auf Wahrung angeborener Rechte andererseits in Konflikt zueinander, weil Kant unter Recht „das Vermögen, andere zu verpflichten“⁴⁹ versteht. Denn mache ich mein Recht gegenüber anderen geltend, können diese die darin liegende rechtliche Fremdverpflichtung nicht als autonome Selbstverpflichtung begreifen. Im Naturzustand ist Rechtsverpflichtung somit immer heteronom und damit moralisch defizitär. Die Lösung dieses Problems hält der bürgerliche Rechtszustand, namentlich der Staat als „die Vereinigung […] von Menschen unter Rechtsgesetzen“⁵⁰ bereit. Denn Kant fasst die Staatsgewalt als den Inbegriff des „vereinigten, a priori aus der Vernunft abstammenden Volkswillens“⁵¹ auf. Der Idee nach liegt daher immer dann, wenn der Staat Rechte gegenüber dem Einzelnen geltend macht, ein Akt autonomer Selbstverpflichtung vor, weil das Rechtssubjekt stets Teil dieses vereinigten Willens aller ist. Hierdurch findet das Rechtssubjekt seine Freiheit „in einer gesetzlichen Abhängigkeit […] unvermindert wieder […], weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt“.⁵² Dabei stellt der „u r s p r ü n g l i c h e C o n t r a k t , nach welchem alle […] im Vo l k ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens […] sofort wieder aufzunehmen“,⁵³ ein Vernunftideal dar, welches ausschließlich als regulatives Prinzip politischer Herrschaft fungiert. Danach ist politische Herrschaft so auszuüben, dass sie Ausdruck des vereinigten Volkswillens sein könnte. Aus dem ursprünglichen Vertrag folgen daher weder institutionelle Vorgaben für die politische Herrschaftsorganisation noch Vorgaben für eine faktische Rückführung der Herrschaft (etwa von Gesetzen, rechtlichen Urteilen und politischen Entscheidungen) auf einen tatsächlichen Zustimmungsakt des Individuums (etwa mittelbar durch eine Parlamentswahl). Vielmehr ist Repräsentant des vereinigten Volkswillens stets der faktische Herrscher, der über das Gewaltmonopol verfügt, Recht zu setzen und durchzusetzen. Wenn aber der faktische Herrscher vernunftnotwendig als Repräsentant des vereinigten Volkswillens anzusehen ist (weil nur so das autonomietheoretische Defizit der Rechtsgemeinschaft im Naturzustand überwunden werden kann), dann ist der Staat bereits in dem Moment legitim, sobald er angesichts seines Gewaltmonopols effektiv diese Funktion der Rechtssetzung und -durchsetzung wahrnimmt. Gerecht ist der Staat jedoch erst dann, wenn die staatliche Regierungsführung hierbei tatsächlich auch den Vorgaben des ursprünglichen Vertrages, d. h. dem Ideal des vereinigten Volkswillens, folgt. Diese Trennung von
RL, AA VI, S. 239. RL, AA VI, S. 313. RL, AA VI, S. 338. RL, AA VI, S. 316. RL, AA VI, S. 315.
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Legitimität und Gerechtigkeit politischer Herrschaft liegt nun auch dem Kantischen Widerstandsverbot zugrunde, da es lediglich die Kehrseite des Legitimitätskriteriums politischer Herrschaft ist: Lässt sich Recht aus den vorgenannten Gründen stets nur im und durch den Staat behaupten, dann kann es keine legitime Rechtsdurchsetzung gegen den Staat geben. „[E]in öffentliches R e c h t “ erfordert daher laut Kant stets zunächst die „[u]nbedingte Unterwerfung des Volkswillens (der an sich unvereinigt, mithin gesetzlos ist) unter einen s o u v e r ä n e n (alle durch Ein Gesetz vereinigenden) Willen,“ welche wiederum allein „durch Bemächtigung der obersten Gewalt anheben kann“.⁵⁴ Oder anders gesagt: Wer Recht durchzusetzen vermag, beweist damit, dass er legitimer Repräsentant des vereinigten Volkswillens ist. Es wäre allerdings vorschnell, Kant angesichts dessen eine positivistischmachtstaatliche Haltung zuzuschreiben und – was insoweit nahe läge – auf eine Stufe zu Hobbes zu stellen. Richtigerweise ist Kants Position auf der Landkarte der politischen Philosophie seiner Zeit als dritter Weg gegenüber Hobbes und Rousseau zu beschreiben. In der Legitimitätsfrage staatlicher Herrschaft fällt Kant nicht hinter Hobbes zurück: Dass der Naturzustand zu verlassen ist (exeundum est ex statu naturali), folgt nach beiden Denkern daraus, dass Recht nur im und durch den Staat bestimmt und durchgesetzt werden kann und es hierfür zuallererst der vertraglichen Vereinigung des Volkswillens unter einem machtvollen Herrscher bedarf. Kant geht jedoch in zwei entscheidenden Punkten über Hobbes hinaus: Zum einen ist die Staatsbegründung im Unterschied zu Hobbes nicht lediglich ein rein pragmatisches Klugheitsgebot des rationalisierten Selbsterhaltungswillens, um den konfliktträchtigen Naturzustand zu überwinden. Vielmehr besteht eine unbedingte Rechtspflicht zur Errichtung der bürgerlichen Gesellschaft, die aus dem autonomietheoretischen Defizit vorstaatlicher Rechtsgeltung folgt. Zum anderen führt der Hobbes’sche Gesellschaftsvertrag zur einseitigen Unterordnung unter den Willen des souveränen Herrschers und damit zur staatsrechtlichen Identität von Herrscher und Volk. Der Hobbes’sche Leviathan kann dem Volk mithin kein Unrecht tun, weil allein er inhaltlich festlegt, was recht und unrecht ist. Demgegenüber ist bei Kant der vereinigte Volkswille selbst der rechtliche Souverän; der Herrscher repräsentiert ihn bloß. Damit kommt es zu einer Trennung von Legitimität und Gerechtigkeit politischer Herrschaft, sodass der ursprüngliche Vertrag normativ-kritisches Potential entfalten kann: Empirische Herrschaft hat sich an das Vernunftideal gerechter Herrschaft nach Maßgabe des vereinigten Volkswillens anzunähern. Geschieht dies nicht, tut sie den Bürgern nach vernunftrechtlichem Maßstab Unrecht.
RL, AA VI, S. 372.
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Hiermit ist nun die Gerechtigkeitsfrage politischer Herrschaft angesprochen. Was diese anbelangt, folgt Kant eindeutig Rousseau, insofern beide den vereinigten Volkswillen selbst zum Souverän machen. Beide sind dabei von der Einsicht getragen, dass nur der Volkssouverän qua Selbstbestimmung notwendig richtige und damit gerechte Gesetze für das Volk machen kann. Allerdings weist die Roussau’sche Souveränitätskonzeption aus Kantischer Sicht das Defizit auf, dass hiermit nicht die politische Wirklichkeit abgebildet werden kann. Da es für Rousseau durchgehend der unmittelbaren politischen Partizipation des Volks zur Konstitution identitär-demokratischer Souveränität bedarf, lassen sich keine stabilen politischen Verhältnisse aufbauen. Politische Herrschaft, die nicht unmittelbar den Allgemeinwillen (volonté générale) realisiert, ist eo ipso illegitim und eröffnet individuellem Widerstand Tür und Tor. Kant will genau dies durch die Trennung von Legitimität und Gerechtigkeit politischer Herrschaft vermeiden und konstituiert den Souverän des vereinigten Volkswillens als rein regulatives Vernunftideal, das nicht für den Ursprung des Staates steht, sondern für sein Entwicklungsziel. Dieses kann von der politischen Wirklichkeit nie vollends eingeholt werden. Vielmehr wird hierdurch einerseits eine immerwährende Reformpflicht des Herrschers begründet, real existierende politische Herrschaft diesem Ideal anzugleichen. Andererseits korrespondiert dem die staatsbürgerliche Gehorsamspflicht des Untertanen, den faktischen Herrscher als Repräsentanten des vereinigten Volkswillens zu akzeptieren. Entspricht nun Kants »dritter Weg« dem, was wir politischen Liberalismus nennen? Dies hängt davon ab, was wir unter Liberalismus verstehen wollen. Klarerweise weicht der liberale Gehalt von Kants politischer Philosophie dezidiert von einem Liberalismusverständnis ab, wie wir es bei Locke oder Rousseau finden. Danach bestimmt sich Liberalismus allein über die faktische Wahrung individueller Freiheitsrechte, sodass Herrschaft illegitim wird, sobald sie unantastbare Freiheitsrechte der Bürger verletzt, weil sie hierdurch ihre treuhänderische Pflicht verletzt (Locke) bzw. nicht mehr Ausdruck der volonté générale ist (Rousseau). Kant hingegen möchte Legitimität und Gerechtigkeit staatlicher Herrschaft nicht auf das jeweils andere reduzieren, um so die Skylla einer von Gerechtigkeitsprinzipien entbundenen Herrschaft einerseits und die Charybdis direkt-revolutionärer Einforderung gerechter Herrschaft andererseits gleichermaßen zu umschiffen. Im Grundsatz ist dies unmittelbar einleuchtend: Auch wenn der freiheitliche Staat auf die Wahrung individueller Freiheitsrechte verpflichtet ist, so soll doch nicht jede obrigkeitliche Rechtsverletzung – mag sie im Einzelfall auch gravierend sein – zur Illegitimität der staatlichen Ordnung führen und dem Individuum gewalttätigen Widerstand erlauben. Sicherlich mögen wir etwas anderes im Falle eines systematisch gewalttätigen Unrechtsregimes sagen. Kant kann hier aber vor dem Hintergrund seiner Konzeption keine Nuancierungen einführen; er nimmt durch die Trennung von Legitimität und Gerechtigkeit
1.3 Forschungsansatz und Gang der Untersuchung
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staatlicher Herrschaft die Gefahr ihres Missbrauchs in Kauf. Gleichwohl zielt seine politische Philosophie programmatisch auf das Ideal einer liberalen, republikanischen Verfassung ab, deren Leitprinzip in formeller Hinsicht der vereinigte Volkswille und in materieller Hinsicht die Wahrung unveräußerlicher Freiheitsrechte ist. Mit Kant können wir Liberalismus daher in einem schwächeren, prozeduralen Sinne verstehen, wonach der liberale Gehalt einer politischen Ordnung durch ihre Verpflichtung auf Freiheit als Regierungsprinzip bestimmt wird. Adressat dieser Verpflichtung kann jedoch nur sein, wer auf Grund seines Gewaltmonopols bereits legitimer Staat ist. Dies ist, was hier und im Folgenden Kants staatlich gebundener politischer Liberalismus meint: „Um ein pactum sociale zu einer Republik (im Rousseau’schen Sinne zu einem Staate ohne Rücksicht auf die Form der Verfassung) zu stiften, muss schon eine Republik da seyn: folglich kann sie nicht anders, wie durch Gewalt, nicht durch Einsicht gestiftet werden.“⁵⁵
1.3.2 Der Argumentationsgang im Einzelnen Sowohl Kants kategorisches Widerstandsverbot und als auch sein politischer Liberalismus erschließen sich daraus, dass man bei Kant – wie soeben erläutert – Staatlichkeit als Realisationsbedingung individueller Freiheitsrechte begreift. Angesichts des autonomietheoretischen Forschungsansatzes ist es dabei unumgänglich, die Untersuchung breit anzulegen. Wir würden dem systematischen Charakter und Anspruch der Kantischen Philosophie nicht gerecht, konzentrierten wir uns allein auf seine politische Philosophie (oder gar nur die Widerstandsproblematik), ohne im gleichen Maße nach deren Wechselbezügen zu anderen Teilen innerhalb des Kantischen Gedankengebäudes zu forschen. Auch können bei Kant interpretatorische (Schein‐)Probleme allzu schnell erst dadurch entstehen, dass man bedenkenlos von tradierten Vorannahmen oder vermeintlich gesicherten Lesarten ausgeht.Wollen wir ein angemessenes Verständnis von Kants politischer Philosophie entwickeln, kommen wir also nicht umhin, auch die Grundlagen seiner Rechts- und Moralphilosophie und deren fragliche Bedeutung für Kants politisches Denken genau zu untersuchen. Daher nimmt die Untersuchung ihren Ausgang in einer Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Kantischen Rechtsphilosophie. Nach einer ersten Verortung des Kantischen Rechtsbegriffs im Kontext seiner praktischen Philosophie (Kapitel 2) wird der Nachweis erbracht, dass Kant die Rechtslehre als gleichberechtigten Teil einer umfassenden kritischen Moralphilosophie versteht. Als sol-
Nachtrag zu Gemeinspruch aus Schubert 1842, S. 145 (vgl. Stark 1993, S. 245).
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che ist sie abhängig vom Autonomietheorem und dem kategorischen Imperativ. Mehr noch: Der Moralphilosophie als Ganzer – in ihren beiden Teilen Rechts- und Tugendlehre – liegt in materieller Hinsicht als oberstes Prinzip die notwendige Selbstzweckhaftigkeit autonomer Vernunftwesen zugrunde (Kapitel 3). Hiervon ausgehend kommen dem Einzelnen ursprüngliche Rechte und Pflichten zu, die durch Kant eine genuin kritische Begründung erfahren: das Recht der Menschheit und die inneren Rechtspflichten sowie Freiheit als das angeborene Recht der Menschen und die äußeren Rechtspflichten. Diese formulieren die inhaltlichen Bedingungen für die Erhaltung der eigenen Rechtsperson sowie für die Koexistenz mit anderen Personen, die jeweils unmittelbar aus der sittlichen Autonomie des Menschen resultieren (Kapitel 4). Hieran schließt sich der Nachweis an, dass nach Kant für die Koexistenz autonomer Vernunftwesen darüber hinausgehend Staatlichkeit als Realisationsbedingung erforderlich ist: Trotz Anerkennung ursprünglicher Freiheitsrechte ist äußere Gesetzgebung im vorstaatlichen Zustand immer noch sittlich defizitär, insofern die Geltendmachung von Rechten der Autonomie der verpflichteten Rechtssubjekte widerspricht. Rechtsverpflichtung als Fremdverpflichtung ist im Naturzustand notwendig unilateral und heteronom. Daher ist die Autonomie der Rechtssubjekte nur im rechtlichen Zustand des Staates gewährleistet, in welchem äußere Gesetzgebung (d. h. Fremdverpflichtung) der Idee nach auf den jeweils eigenen gesetzgebenden Willen zurückführbar ist. Denn Staatlichkeit, insofern sie von Kant als Vereinigung des gesetzgebenden Willens aller konzipiert wird, löst die systematische Verknüpfung autonomer Vernunftwesen ein und gewährleistet erst hierdurch deren Koexistenz nach moralischen Rechtsgesetzen (Kapitel 5). Vor diesem Hintergrund lässt sich nun der kritische Gehalt der Kantischen Staatsbegründung ausweisen. Vernunftrechtlich begründete Freiheitsrechte sind im Hinblick auf ihre Geltendmachung stets nur als Freiheit im und zum Staat denkbar. Staatlichkeit als Realisationsbedingung jeglichen Rechts folgt daher bereits aus angeborenen Rechten. Und auch die Erfüllung des honeste vive, d. h. die Behauptung der eigenen Rechtspersönlichkeit gegenüber anderen, ist in letzter Konsequenz nur unter Bedingungen von Staatlichkeit möglich. Kants Staatsphilosophie als Ganze lässt sich damit im Kern autonomietheoretisch erklären (Kapitel 6). Schließlich wird vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse die Problematik von Widerstandsverbot und Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit eingehend untersucht. Da Staatlichkeit – gerade unter der Maßgabe der sittlichen Autonomie des Einzelnen – vorrangige Bedingung für die Geltung von peremptorischem Recht überhaupt ist, ist es Kant möglich, die legitimatorische Ebene äußerer staatlicher Gesetzgebung von ihrer inhaltlichen Ausgestaltung abzukoppeln. Kants Ablehnung des Widerstandsrechts ist damit auch angesichts des honeste vive konsistent, da ein etwaiger inhaltlicher Widerspruch staatlicher Maßnahmen zur Rechtspflicht des
1.4 Methodische Vorüberlegungen und Quellenlage
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honeste vive (sowie zu vernunftrechtlichen Vorgaben überhaupt) für die Verbindlichkeit dieser Maßnahmen und die Legitimität des Staates als solchen geltungstheoretisch irrelevant ist. Doch obwohl Kant Widerstand nach strengem Recht kategorisch ablehnen muss, hat freiheitlicher Widerstand immer noch als außerrechtliches Phänomen in Form des ius in casu necessitatis (im Falle einer Pflichtenkollision zwischen der unbedingten staatsbürgerlichen Gehorsamspflicht und der bedingten Pflicht zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit) einen systematischen Platz in Kants Philosophie. Dies alles lässt sich – abschließend – an Kants Behandlung der Französischen Revolution veranschaulichen (Kapitel 7). Die Untersuchung der systematischen Problematik von Widerstandsverbot und Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit im Besonderen sowie die hierfür erforderliche Verhältnisbestimmung von Freiheit und Staatlichkeit bei Kant im Allgemeinen sind gleichzeitig Ausgangspunkt und Erklärungsziel der vorliegenden Arbeit. Insofern können innerhalb der Rechtslehre spezielle Problembereiche des Privatrechts und des Öffentlichen Rechts, die sich jenseits der hier einschlägigen Fragen der Herrschaftskonstitution und -limitation durch ursprüngliche Freiheitsrechte bewegen, außer Acht gelassen werden. Außerdem kann angesichts des Umfangs des geschilderten Argumentationsganges der Vielschichtigkeit der damit angesprochenen Problemkreise des Kantischen Denkens im Einzelnen nicht immer vollumfänglich Rechnung getragen werden. Dies gilt insbesondere für die Verhältnisbestimmung der Rechtsphilosophie zur übrigen Moralphilosophie Kants. Daher legt die vorliegende Untersuchung das Hauptaugenmerk darauf, eine plausible Rekonstruktion des Kantischen Rechtsdenkens anzubieten sowie mögliche anderslautende Interpretationen als problematisch auszuweisen. Im Übrigen wird versucht, auf theoretische Vorannahmen, die der Argumentation zu Grunde liegen, sowie weiterführende Diskurse in der Sekundärliteratur größtmöglich in den Fußnoten einzugehen. Gleichwohl werden auch hier Fragen rechts und links des Argumentationsgangs nur angerissen werden können, auf deren ausführliche Behandlung anderenorts verwiesen werden muss.
1.4 Methodische Vorüberlegungen und Quellenlage 1.4.1 Systematische Rekonstruktion und genealogische Betrachtung Methodisch versucht die Arbeit die systematische Fragestellung mit einer historischen Betrachtungsweise zu verbinden: Das Ziel besteht darin, Kants Behandlung der Widerstandsproblematik vor dem Hintergrund seiner übrigen Rechtsphilosophie systematisch zu rekonstruieren und als konsistent auszuweisen. Im Vordergrund steht daher eine systematisch orientierte Textinterpretation. Un-
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klarheiten im Text sind aufzudecken und zu beseitigen, um so die Kantische Argumentation präzise und klar darzulegen sowie für gegenwärtige Debatten zu erschließen. Gleichzeitig soll zu diesem Zweck die Genealogie der Kantischen Position betrachtet werden. Dies ermöglicht es, Kontinuitäten und zentrale Systemelemente in Kants Rechtsdenken zu identifizieren sowie seine Haltung zum Widerstandsrecht historisch angemessen zu bewerten. Hierfür wird der mit den frühen 1780er Jahren beginnende Zeitraum untersucht, da Kant 1785 mit der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten den Kritizismus aus der Kritik der reinen Vernunft (1781) auf die praktische Philosophie überträgt und Nachweise für eine – in der Arbeit zunächst hypothetisch angenommene – kritische Rechtsphilosophie erst ab dieser Zeit zu erwarten sind.⁵⁶ Mit Blick auf die erst Ende der 1790er Jahre erschienene Metaphysik der Sitten ergibt sich daher ein Untersuchungszeitraum von nahezu 20 Jahren. Gleichzeitig ist der erste Teil der Metaphysik der Sitten, die Rechtslehre von 1797, Kants einzige systematische und dezidiert dem Recht gewidmete Veröffentlichung. Dies wirft die Frage auf, wie sich eine genealogische Betrachtung des Kantischen Rechtsdenkens anstellen lässt und wie hierbei Kontinuitäten und Brüche zu identifizieren und zu bewerten sind. Wir wissen von Kant, dass sein Rechtsdenken einen langen Reifungsprozess durchlaufen hat.⁵⁷ Dieser Reifungsprozess und die Entwicklung des Kantischen Rechtsdenkens bis zur Veröffentlichung der Rechtslehre von 1797 lassen sich nun inhaltlich anhand eines Vergleichs mit Kants vorhergehenden rechtsphilosophischen Veröffentlichungen, mit Vorlesungsmitschriften sowie mit seinem handschriftlichen Nachlass nachzeichnen.⁵⁸ Insoweit steht es meiner Ansicht nach außer Frage, dass eine genealogische Betrachtung von Kants Rechtsphilosophie möglich und angezeigt ist. Dabei ist es auch angebracht, im Zuge der kritischen Neubegründung von Kants Moralphilosophie Anfang der 1780er Jahre ebenso eine Zäsur in seinem Rechtsdenken anzusetzen. Denn es ist erwiesen, dass die Kernelemente von Kants Rechtsphilosophie, die er 1797 in der „Einleitung in die Rechtslehre“ abhandelt, zu Beginn der 1780 Jahre nicht nur bereits im Wesentlichen theoretisch
Vgl. dazu von meiner Seite schon Hirsch 2012a. Vgl. zu Kants Rechtsdenken in früheren Perioden die einschlägigen Werke von Ritter 1971 und Busch 1979. Bereits als Student hörte Kant Vorlesungen über Naturrecht und beschäftigte sich hiermit auch in der Folge. Vgl. hierzu Ritter 1971, S. 28 – 36 m. w. N. Ferner ist von 1766 – 1788 eine gründliche Auseinandersetzung mit der Rechtsphilosophie im Rahmen seiner Vorlesungstätigkeit über das Naturrecht sicher belegt.Vgl. Ritter 1971, S. 14 und S. 25 sowie Höffe 1999b, S. 2.Vgl. für detaillierte Nachweise auch Arnoldt 1909, S. 177– 331 und S. 336 f. Vgl. zu Kants veröffentlichten und unveröffentlichten rechtsphilosophischen Schriften sogleich unten S. 28 – 34.
1.4 Methodische Vorüberlegungen und Quellenlage
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entwickelt waren, sondern von ihm auch als integraler Bestandteil seiner neuen, kritischen Moralphilosophie konzipiert wurden.⁵⁹ Damit stellt sich nur noch die Frage, wie Kontinuitäten und Brüche innerhalb des hier veranschlagten Untersuchungszeitraumes festzustellen und zu bewerten sind. Hier gilt grundsätzlich: Meinungsänderungen Kants sind nur dort anzunehmen, wo er von ehemals vertretenen Positionen erwiesenermaßen abrückt. Lässt sich jedoch Kant zu einer Sachfrage im Laufe der Zeit nicht unterschiedlich ein, so ist davon auszugehen, dass Kant bis zuletzt bei seiner ursprünglichen Meinung geblieben ist. Damit soll vorliegend nicht behauptet werden, dass Kants Rechtsdenken über Jahrzehnte hinweg unverändert geblieben sei. Im Gegenteil, Kant hat seit den 1780er Jahren seine Rechtsphilosophie (wie seine praktische Philosophie überhaupt) an vielen Stellen verändert, weiterentwickelt sowie begrifflich präzisiert.⁶⁰ Diese Veränderungen dürfen jedoch nicht dazu verleiten, Kants Rechtsphilosophie gleichsam unter einen grundsätzlichen »Veränderungsverdacht« zu stellen. Daraus, dass Kants Denken zwischen 1785 und 1798 zum Teil einem radikalen Wandel unterlegen war,⁶¹ folgt nicht, dass durchgehend von einem Wandel bzw. einer Weiterentwicklung auszugehen ist. Dies bedeutet zum einen, dass Äußerungen, die Kant 1797 in der Rechtslehre ohne nähere Erläuterung trifft, richtigerweise im Lichte inhaltsgleicher früherer Äußerungen auszulegen sind. Die Grenze dieser Auslegung wird erst dann erreicht, wenn es hierdurch zu systematischen Widersprüchen innerhalb der Rechtslehre käme. Zum anderen folgt hieraus, dass allein die Tatsache, dass Kant bestimmte Theoriestücke in der Rechtslehre nicht mehr (oder nur rudimentär) erwähnt, nicht zur Annahme berechtigt, er habe hierdurch eine früher vertretene Meinung aufgegeben. Solange nicht neue Elemente frühere Theoriestücke in einen inhaltlichen oder systematischen Widerspruch setzen,⁶² wäre es rein spekulativ, aus einem Schweigen Kants auf eine Meinungsänderung zu schließen. Naheliegender ist vielmehr, dass Kant in der Rechtslehre auf vorhergehende, dem damaligen Pu-
Hierzu verweise ich auf meine Untersuchung Hirsch 2012a, die sich umfassend dieser Frage widmet. Überall dort, wo dies geschieht, wird die vorliegende Untersuchung dies auch explizit offenlegen. Vgl. bspw. die unterschiedlichen Deduktionsversuche in GMS und KpV (S. 46 f.), die begriffliche Unterscheidung zwischen Wille und Willkür (S. 139 f.), Kants Abkehr vom Begriff der praktischen Freiheit nach 1785 (S. 152– 155), der Wandel in Kants Systematisierung innerer Rechtspflichten bzw. vollkommener Pflichten gegen sich selbst (S. 193 – 197 mit Fn. 139) oder aber Veränderungen in der Staatsformenlehre zwischen Zum ewigen Frieden und der Rechtslehre (Kap. 6, Fn. 267). Man denke nur an die Abkehr vom Deduktionsversuch der Grundlegung und den Übergang zur Lehre vom Faktum der Vernunft in der KpV. Vgl. dazu eingehend unten S. 46 f. m. w. N. Paradebeispiel hierfür ist der vorgenannte (Fn. 61) Übergang von Grundlegung zur KpV.
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1 Einführung
blikum wohlbekannte Einsichten seiner politischen Schriften (Gemeinspruch und Zum ewigen Frieden) sowie seiner moralphilosophischen Grundlegungsschriften (Grundlegung und Kritik der praktischen Vernunft) aufsattelt, statt diese durch eine simple Nicht-Erwähnung stillschweigend zu widerrufen. Wie sich angesichts dessen bei der Kant-Interpretation genealogische Betrachtung und systematische Analyse verbinden lassen, lässt sich gut am Beispiel des bereits erwähnten Notrechts (ius in casu necessitatis) – welches später Gegenstand eingehender Untersuchung sein wird –⁶³ erläutern. In der Rechtslehre findet das Notrecht im Kontext des Widerstandsverbotes an prominenter Stelle Erwähnung, wenn sich Kant mit der Französischen Revolution auseinandersetzt. In einer ausführlichen Fußnote hierzu konstatiert Kant, bevor er die Revolution rechtlich als schlechthin unzulässig ausweist, dass die Entthronung des Monarchen doch „wenigstens den Vorwand des N o t h r e c h t s (casus necessitatis) für sich“ gehabt habe.⁶⁴ Es wäre verfehlt, an dieser Passage schlichtweg mit dem Hinweis vorbeizugehen, dass Kant das Notrecht in eine Fußnote verbannt habe und sich hierzu auch nicht näher einlasse. Angesichts der im Übrigen strikt ablehnenden Haltung Kants gegenüber Widerstand, ist eine Auseinandersetzung hiermit vielmehr unbedingt geboten. Doch erfahren wir in der besagten Fußnote ebenso wenig etwas über den allgemeinen Inhalt eines Notrechts, über seine Voraussetzungen und über seine Rechtsfolgen wie über die Frage, was ein Notrecht im öffentlich-rechtlichen Kontext besonders ausmacht. Auch ein Blick in die übrige Rechtslehre hilft nur bedingt weiter. Im Anhang zur „Einleitung in die Rechtslehre“ erfahren wir lediglich, dass das Notrecht zur Unsträflichkeit rechtswidriger Handlungen führe, die man bei Todesgefahr zur Rettung der eigenen Person vornehme, weil das Strafgesetz in diesem Fall nicht abschreckend wirke.⁶⁵ Eine sinnvolle Interpretation von Kants Äußerung zum Notrecht angesichts der Französischen Revolution wird erst möglich, wenn wir frühere Äußerungen Kants hinzuziehen: So erfahren wir aus dem Gemeinspruch, dass einem Notrecht stets eine Kollision zwischen unbedingten und bedingten Pflichten zugrundeliegt.⁶⁶ Was eine solche Pflichtenkollision (genauer: einer Kollision von Verpflichtungsgründen) eigentlich ausmacht, versteht man erst, wenn man die kryptischen Ausführungen hierzu in der Rechtslehre ⁶⁷ im Lichte der eindeutigen Auseinandersetzung in der Vorlesungsmitschrift Metaphysik der Sitten-Vigilantius
Vgl. unten S. 372– 399. Vgl. RL, AA VI, S. 321, Fn. *. Vgl. RL, AA VI, S. 235 f. Vgl. Gemeinspruch, AA VIII, S. 300, Fn. *. Vgl. RL, AA VI, S. 224.
1.4 Methodische Vorüberlegungen und Quellenlage
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interpretiert.⁶⁸ Eine ausführliche Illustration dieser Problematik für das besondere öffentlich-rechtliche Verhältnis zwischen Herrscher und Untertan – um das es in der oben genannten Fußnote zur Französischen Revolution geht – finden wir sodann in der bereits erwähnten Passage aus Naturrecht-Feyerabend sowie einigen insoweit inhaltsgleichen Reflexionen. ⁶⁹ Wie gezeigt spricht Kant dort vom casus necessitatis im Verhältnis zwischen Herrscher und Untertan im Falle eines Konflikts von staatsbürgerlicher Gehorsamspflicht und der Pflicht zur Erhaltung seiner selbst. Bedenken, all diese zeitlich vor 1797 datierenden Äußerungen Kants zur Interpretation heranzuziehen, bestehen nicht. Denn zum einen finden sich in der Rechtslehre keine hierzu inhaltlich oder systematisch widersprüchlichen Äußerungen Kants, die auf einen Meinungswechsel im Laufe der Zeit hindeuten würden. Zum anderen lässt sich die 1784 in der Feyerabendnachschrift benannte Konfliktsituation in der Rechtslehre von 1797 systematisch rekonstruieren, wenn man dem Kantischen Widerstandsverbot bzw. der staatsbürgerlichen Gehorsamspflicht die innere Rechtspflicht des honeste vive zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit gegenüberstellt. Kants Äußerung zum Notrecht im Kontext der Französischen Revolution ist somit ein gutes Beispiel dafür, wie eine scheinbar marginale Äußerung Kants durch Rekurs auf frühere Quellen gesichert einer inhaltlich und systematisch gehaltvollen Interpretation zugeführt werden kann. Doch auch der andere Weg ist gangbar: Ausgehend von bekannten Theorieelementen und Äußerungen Kants kann eine Interpretationshypothese für nachfolgende Quellen aufgestellt werden, die diese Theorieelemente und Äußerungen nicht erneut oder nicht umfassend aufgreifen. Bedingung ist lediglich, dass hierdurch keine inhaltlichen oder systematischen Widersprüche innerhalb der späteren Quelle entstehen. Beispielsweise lässt sich aus Äußerungen Kants in der Grundlegung, der Naturrechtsvorlesung Feyerabend sowie einigen Vorarbeiten die Hypothese ableiten, dass das Recht auf die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen rekurriert, indem es die Behandlung als bloßes Mittel verbietet. Auch wenn Kant in der Rechtslehre die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen nur punktuell erwähnt, lässt sich diese Interpretationshypothese gleichwohl durchgehend auf die Rechtslehre übertragen, weil Kant den Selbstzweckgedanken in dem für die Rechtsphilosophie maßgeblichen Begriff der Person aufgehen lässt.⁷⁰ Die vorliegende Untersuchung wird wiederholt auf diese Weise vorgehen, dabei aber die Rückkopplung an die Rechtslehre als zeitlich letzten Referenzpunkt nicht aus den Augen verlieren. So Vgl. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 508 und S. 537 f. Vgl. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1387 und S. 1391 f.; Refl. 7810, AA XIX, S. 523; Refl. 7812, AA XIX, S. 523 f.; Refl. 7808, AA XIX, S. 522 sowie Refl. 7813, AA XIX, S. 524. Vgl. dazu ausführlich unten S. 70 – 77.
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1 Einführung
wird etwa Kapitel 5 ausgehend von Kants theoretischen Vorannahmen der moralphilosophischen Grundlegungsschriften die Interpretationshypothese entwickeln, dass sich die Notwendigkeit zur Staatsbegründung aus einem autonomietheoretischen Defizit der Rechtsgemeinschaft im Naturzustand herleiten lässt. Kapitel 6 wird sodann im Wege einer Analyse der relevanten Passagen der Rechtslehre aufzeigen, dass sich diese zuvor entwickelte Interpretationshypothese auch für das Jahr 1797 textlich und systematisch rechtfertigen lässt.
1.4.2 Die Rechtslehre und weitere veröffentlichte Schriften Kants Inhaltlich stützt sich die Untersuchung mithin auf das gesamte Kant-Korpus, doch steht unter Kants Druckschriften im Hinblick auf die rechtsphilosophische Fragestellung die Metaphysik der Sitten von 1797 im Mittelpunkt.⁷¹ Diese ist die zentrale und einzige von Kant systematisch ausgearbeitete Veröffentlichung zur Rechtsphilosophie und muss daher – sowohl was die Gliederung als auch was die Argumentation anbelangt – den maßgeblichen Referenzpunkt der folgenden Untersuchung bilden. Gleichwohl sind darüber hinaus auch Kants rechtsphilosophische Nebenwerke, insbesondere die Schriften Über den Gemeinspruch (1793), Zum ewigen Frieden (1795) sowie Der Streit der Fakultäten (1798), in den Blick zu nehmen.⁷² Mit Blick auf die Einbettung der Rechtsphilosophie in den Gesamtkontext von Kants praktischer Philosophie werden außerdem die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) und die Kritik der praktischen Vernunft (1788) herangezogen.⁷³
Im Vordergrund steht deren erster Teil, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Die erste Auflage dieses Werkes erschien 1797, ein Jahr später folgte die zweite Auflage mit erläuternden Bemerkungen und Zusätzen. Obgleich eng mit der Entstehungsgeschichte der Rechtslehre verwoben, erschien die Tugendlehre, der zweite Teil der Metaphysik der Sitten, nicht zeitgleich, sondern 1797 erst nach Erscheinen der Rechtslehre. Ein Rückgriff auf Kants rechtsphilosophische Nebenwerke ist vor allem aus zwei Gründen geboten. Zum einen ist die Argumentationsführung, wie sie Kant in der Rechtslehre von 1797 vorträgt, inhaltlich problematisch und Gegenstand intensiver Quellenkritik (vgl. dazu die Nachweise in Fn. 74 f.). Allein aus heuristischen Gründen ist daher der Rückgriff auf weitere rechtsphilosophische Veröffentlichungen Kants geboten. Zum anderen lässt sich nur so eine Genealogie des Kantischen Rechtsdenkens rekonstruieren, welche erlaubt, zentrale Systemelemente von flüchtigen Gedanken zu unterscheiden. Die Relevanz der beiden moralphilosophischen Grundlegungsschriften für eine sinnvolle Auseinandersetzung mit der Kantischen Rechtslehre von 1797 erscheint mir evident. Denn obgleich die Rechtslehre ein eigenes Problemfeld erschließt, beruht auch sie auf theoretischen Vorannahmen (exemplarisch erwähnt seien hier nur stark theoretisch aufgeladene Begriffe wie Vernunft, Freiheit, Wille oder Gesetz), welche nur im Rückgriff auf diese Schriften hinreichend geklärt werden können. Das theoretische Grundgerüst der Metaphysik der Sitten lässt sich nur schwer aus
1.4 Methodische Vorüberlegungen und Quellenlage
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Innerhalb dieses Quellenbestands sind insbesondere die Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre (der erste Teil der Metaphysik der Sitten) seit langem Gegenstand quellenkritischer Auseinandersetzung. Der Text der Erstveröffentlichung weist in Teilen eine irritierende Abfolge auf und offenbart bisweilen inhaltliche Inkohärenzen.⁷⁴ Bernd Ludwig hat durch eine Neuedition diese in Kantischen Texten ungewohnten Unzulänglichkeiten auszuräumen versucht.⁷⁵ Die von Ludwig vorgenommenen Texteingriffe überzeugen nach meiner Auffassung in weiten Teilen. Gerade im Staatsrecht, welches in Ludwigs Edition relativ stark von textlichen Änderungen betroffen ist, wird durch die Texteingriffe erstmals ein kohärenter Argumentationsgang für die §§ 41– 52 der Rechtslehre hergestellt. Gleichwohl hat die Frage der inhaltlichen Richtigkeit der Texteingriffe für den vorliegend angestrebten Argumentationsgang nur eine geringe Relevanz. Denn grundsätzlich ergeben sich hierfür keine gravierenden inhaltlichen oder interpretatorischen Differenzen. Daher wird der Einheitlichkeit und der in der Sekundärliteratur üblichen Zitation halber auch hinsichtlich der Rechtslehre auf die Akademie-Ausgabe zurückgegriffen. Sollten sich jedoch im Einzelfall mit veränderter Textgrundlage auch andere inhaltliche Resultate oder Interpretationen ergeben, so wird hierauf gesondert eingegangen werden. Schließlich wird davon ausgegangen, dass Kant bei der Abfassung der Rechtslehre nicht derart von äußeren Umständen beeinflusst wurde, dass hierdurch die Authentizität oder der systematische Anspruch der Rechtslehre in Frage gestellt würde. Damit wird zunächst der seit Schopenhauer⁷⁶ in der Kant-Forschung ab und an anzutreffenden Senilitätsthese, nach der Kant die Rechtslehre in einem Zustand geistigen Verfalls verfasst habe, eine Absage erteilt.⁷⁷ Dies gilt aber
der Schrift selbst entwickeln, da Kant diesbezüglich nur eine verhältnismäßig kurze und dichte Einleitung voranschickt. Diese lässt sich erst vor dem Hintergrund der Grundlegungsschriften angemessen interpretieren. Da prima facie von einer Konsistenz der praktischen Philosophie Kants ausgegangen werden kann, bestehen gegen ein solches Vorgehen zunächst auch keine Bedenken. Beispielhaft sei nur erwähnt, dass „Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten“ erst nach der „Einteilung einer Metaphysik der Sitten“ abgehandelt werden und dass die „Einteilung der Metaphysik der Sitten überhaupt“ nicht am Ende der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“, sondern überraschenderweise erst am Ende der „Einleitung in die Rechtslehre“ steht. Vgl. zur Entstehungsgeschichte und zu den Aspekten, die für eine Korruption des Textes sprechen, ausführlich Ludwig 1988, S. 7– 43 und dies kritisch reflektierend Unruh 1993, S. 21– 27. Vgl. Ludwig 1988, S. 44– 81 und dazu kritisch Kersting 1989 und Unruh 1993, S. 26 f. Vgl. nur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 473 und S. 726 sowie ders., Preisschrift über die Grundlage der Moral, S. 159. Dies steht im Einklang mit der mittlerweile wohl überwiegenden Literaturauffassung, die die Senilitätsthese für unplausibel bzw. bedeutungslos erklärt. Vgl. diesbezüglich zutreffend Unruh 1993, S. 42 m. w. N. sowie von meiner Seite ausführlich Hirsch 2012a, S. 118 – 123.
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auch für eine mögliche inhaltliche Selbstbeschränkung Kants im Hinblick auf die preußische Zensur, gerade im Kontext der Französischen Revolution. Kant ist beim Wort zu nehmen, wenn er zur Kabinettsorder Friedrich Wilhelms II. ausführt: Wiederruf und Verläugnung seiner inneren Uberzeugung ist niederträchtig und kann niemanden zugemuthet werden; aber Schweigen in einem Falle wie der Gegenwärtige ist Unterthanspflicht und wenn alles was man sagt wahr seyn muß so ist darum nicht auch Pflicht alle Wahrheit öffentlich zu sagen.⁷⁸
Es ist daher allenfalls denkbar, dass Passagen der Rechtslehre, gerade im Hinblick auf das Staatsrecht, von Kant mit Vorsicht formuliert sind oder stillschweigend Implikationen enthalten, die er nur schwer öffentlich hätte äußern können.⁷⁹ Es ist jedoch unplausibel, anzunehmen, Kant habe in vorauseilendem Gehorsam eigene Überzeugungen verleugnet.⁸⁰ Kants theoretisches Denken verfolgte keineswegs die Intention, mit dem preußischen Obrigkeitsstaat konform zu gehen.⁸¹ Hiergegen spricht auch, dass Kant an der Entwicklung der Französischen Revolution regen Anteil genommen hat und teilweise mit dieser ausdrücklich sympathisierte.⁸² Jedoch ist umgekehrt ebenso wenig damit zu rechnen, dass Kant auf Grund
Brief zur Cabinetsordre König Friedrich Wilhelms II., AA XII, S. 380. Unruh 1993, S. 36 spricht insofern zutreffend allenfalls von einer „Praxis der Vorsicht“. Vgl. hierzu Kants Bekenntnis im Brief an Mendelssohn, AA X, S. 69: „Zwar dencke ich vieles mit der allerkläresten Überzeugung und zu meiner großen Zufriedenheit was ich niemals den Muth haben werde zu sagen; niemals aber werde ich etwas sagen was ich nicht dencke.“ Häufig liest man die Einschätzung, Kant sei in seinem Denken der Loyalität zum preußischen Staat verpflichtet gewesen. Deutlich drückt dies Batscha 1976a, S. 12 so aus, „daß er [sc. Kant] die von seinem Liberalismus und auch preußischen Patriotismus gesetzten Schranken nicht überschritt“. Vgl. mit ähnlichen Einschätzungen Kants Denker 1968, S. 10 f. und implizit Saage 1973, S. 131 f. Insofern hiermit gemeint ist, dass Kants Theorie nur aus obrigkeitsstaatlicher Loyalität zu verstehen sei, stellt dies eine ungerechtfertigte Verkürzung dar. Auch wenn richtig ist, dass Kant einen starken und autarken Staat postuliert, kann dies gleichwohl Ausdruck einer als liberal zu qualifizierenden Theorie sein. Dass Kant aber eigene liberale Überzeugungen aus Loyalität gegenüber Preußen öffentlich verleugnet, ist nicht anzunehmen. Im Übrigen bestand im Hinblick auf das Widerstandsrecht geistesgeschichtlich gesehen keine Notwendigkeit zur Selbstbeschränkung, da vor Kant ein Widerstandsrecht in der Naturrechtslehre unter gewissen Umständen allgemein anerkannt war. Vgl. hierzu nur Kants Auseinandersetzung mit Achenwall im Gemeinspruch, AA VIII, S. 301 f. sowie die späteren Ausführungen unten S. 366 mit Fn. 144 und S. 382 f. Man denke nur an Kants konsequentes Festhalten an eigenen Überzeugungen im Zensurstreit bzgl. der Religionsschrift. Vgl. hierzu nur Unruh 1993, S. 34– 36 m. w. N. Vgl. Streit, AA VII, S. 85 f. sowie ausführlich zu dieser Thematik unten S. 399 – 419. Vgl. im Übrigen zum Verhältnis von Kant zur Französischen Revolution statt vieler nur die umfangreiche Monographie von Burg 1974 sowie den Beitrag von Fetscher 1976. S. für eine jüngere Behandlung der Thematik Langan 2012. Hinzuweisen ist außerdem auf die Arbeit von Losurdo 1987, der im
1.4 Methodische Vorüberlegungen und Quellenlage
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dieser Sympathie eigene theoretische Überzeugungen kaschierte oder aufgab.⁸³ Kants Staatsrechtslehre lässt sich im Hinblick auf Zensur und äußere politische Umstände nicht einfach mit Konservatismus oder gar Obrigkeitshörigkeit erklären. Auch wenn Kant angesichts der Zensur sprachlich zurückhaltend arbeiten musste, ging dies nicht mit einer inhaltlichen Preisgabe theoretisch-systematischer Positionen einher.⁸⁴ Daher sieht sich die Untersuchung in ihrem Anspruch gerechtfertigt, äußere Einflüsse allenfalls erläuternd heranzuziehen und Kants Rechtsphilosophie primär systematisch zu rekonstruieren.
1.4.3 Heranziehung unveröffentlichter Quellen Angesichts der genealogischen Betrachtung der Kantischen Rechtsphilosophie ist es geboten, auch auf unveröffentlichte Quellen Kants zurückzugreifen. Allerdings scheiden sich in der Frage, ob und inwieweit bei der Kant-Interpretation auf nicht veröffentlichte Quellen (Vorlesungen, Vorarbeiten, Reflexionen) Bezug genommen werden kann, bekanntermaßen die Geister. Klar erscheint mir zumindest, dass die hierunter fallenden Quellenarten im Hinblick auf ihre Verlässlichkeit nicht alle gleich bewertet werden können, sondern eine Abstufung vorgenommen werden muss. Im Hinblick auf ihre Verlässlichkeit und Authentizität scheinen die Vorlesungsnachschriften,⁸⁵ d. h. Aufzeichnungen von Studenten, die an Vorlesungen und Kollegien Kants teilnahmen, relativ sicher zu sein. Die Gründe hierfür können
Kontext der Französischen Revolution äußerst detailreich die Zusammenhänge von Kants Rechtsphilosophie zum politischen Diskurs und zur Zensurpraxis in Preußen aufarbeitet. Dies ist insb. gegen die Überlegungen von Losurdo 1987 zu richten, der bei Kant im Hinblick auf das Widerstandsrecht eine bewusste Zweideutigkeit sieht und im Widerstandsverbot die verkappte, politische Absicht Kants erblickt, die junge französische Republik vor einer Gegenrevolution bzw. Restauration zu bewahren. Vgl. Losurdo 1987, S. 35 zu Kants Verneinung des Widerstandsrechts: „Wenn man sich die konkrete politisch-historische Situation vor Augen hält, in der diese Verneinung ausgesprochen wird, dann ergibt sich eindeutig, daß sie es, auch wenn sie die deutschen Höfe beruhigte, gleichzeitig ermöglichte, die Unwiderruflichkeit der französischen Revolution zu unterstreichen und damit die Restaurationsversuche zu verurteilen.“ Wie noch zu zeigen ist (vgl. ausführlich unten S. 337– 421), ist Kants Haltung zum Widerstandsrecht politischweltanschaulich neutral und schützt einmal etablierte, staatliche Herrschaft unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung. Dies mag zum Effekt gehabt haben, dass die Herrschaft im absolutistischen Preußen und im revolutionären Frankreich gleichermaßen davon profitierte. Jedoch ist das allenfalls Folge von Kants Theorie, nicht aber deren Entstehungsmotiv. Vgl. ausführlich zum gesamten Problemkomplex die ausgewogene und wohlinformierte Auseinandersetzung bei Unruh 1993, S. 27– 40 m. w. N., dessen Analyse vorliegend gefolgt wird. Von Interesse sind vorliegend vor allem Naturrecht-Feyerabend (1784), MoralphilosophieMrongovius II (1784) sowie Metaphysik der Sitten-Vigilantius (1793/94).
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1 Einführung
an dieser Stelle nicht erschöpfend ausgeführt werden, gleichwohl seien hier einige Aspekte angemerkt, die für die Verlässlichkeit der Nachschriften sprechen:⁸⁶ Zunächst bestand im 18. Jahrhundert an Universitäten eine ausgeprägte Kultur, mündliche Vorträge aufzuzeichnen, wobei die Mitschrift nicht auf eigene gedankliche Auseinandersetzung, sondern auf authentische Wiedergabe des Gesprochenen abzielte. Zweitens lassen sich auf Grund der in der Regel zusammenhängenden, teils systematischen Argumentation besser Parallelen zu veröffentlichten Werken ziehen, sodass hierüber eine sichere Validierung der Vorlesungsinhalte möglich ist. Dies wird – gerade im Bereich der Rechtslehre –⁸⁷ auch dadurch bestätigt, dass Inhalte aus studentischen Skripten später Eingang in Kantische Veröffentlichungen gefunden haben. Und schließlich handelt es sich bei Inhalten aus Vorlesungsmitschriften um Gedanken, die Kant in universitärer Öffentlichkeit vorgetragen hat. Dies gewährt eine gewisse Plausibilität dafür, dass diese Gedanken von Kant nicht einfach unreflektiert geäußert wurden, sondern einen Reifungsprozess durchlaufen haben, der für ihre Verlässlichkeit bürgt. Angesichts dessen sind die Vorlesungsnachschriften grundsätzlich als verlässliche Quellenart einzustufen, obgleich stets eine quellenkritische Rückkopplung an veröffentlichte Schriften Kants geboten ist. Gänzlich anders verhält es sich bei der problematischsten Quellenart, den sogenannten Reflexionen, d. h. handschriftlichen Notizen Kants, die teils Randbemerkungen zu eigenen oder fremden Texten sind, teils auch nur kurze Gedanken auf zufälligem Papiermaterial (bis hin zu eingetroffenen Briefen und Kaufmannsrechnungen).⁸⁸ Wer wissenschaftlich arbeitet, weiß, wie flüchtig die eigenen Gedanken sein können, und es besteht kein Grund zur Annahme, dass es sich bei Kant anders verhielt. Da diese Quellen zudem teilweise äußerst schwer zu datieren sind, ist ihre Verlässlichkeit für eine authentische Kant-Interpretation mehr als fraglich.⁸⁹ Gleiches gilt für die handschriftlichen Notizen Kants, die als Vorarbeiten zu später veröffentlichten Werken klassifiziert werden. Hier bürgt zwar der systematische Zusammenhang für eine höhere Verlässlichkeit gegenüber eher aphoristischen Reflexionen. Dennoch können diese Vorarbeiten nur bei Inhalten herangezogen werden, die (zumindest teilweise) selber Eingang in die Veröffentlichung gefunden haben. Denn von der späteren Veröffentlichung gänzlich
Darüber hinaus verweise ich auf die allgemeinen Ausführungen von Brandt und Stark 1997, insb. S. LIV–XCV und Stark 2004 zur quellenkritischen Bewertung von Vorlesungsnachschriften und möchte mich ihnen anschließen. Vgl. für eine beispielhafte Vorprägung von Kerngedanken der Rechtslehre in Vorlesungsmitschriften der 1780er Jahre meine Untersuchung Hirsch 2012a. Vgl. Gulyga 1981, S. 82. Vgl. so auch Busch 1979, S. 1– 3 und Ludwig 1988, S. 2 f. und S. 45.
1.4 Methodische Vorüberlegungen und Quellenlage
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abweichende Äußerungen hat Kant nachweislich und mutmaßlich mit gutem Grund nicht übernommen. Aus diesen Gründen nun vollständig auf die Heranziehung von Reflexionen und Vorarbeiten zu verzichten, ist gleichwohl unangebracht. Denn häufig sind sie genau dort, wo Kants veröffentlichte Schriften interpretatorische Fragen offen lassen, die einzigen Quellen, die Licht ins Dunkel solcher Passagen bringen können. Obgleich also eine jede Kant-Interpretation letztlich am veröffentlichten Text ausgewiesen werden muss, können Reflexionen und Vorarbeiten den Weg hin zu einer solchen Interpretation ebnen oder diese zusätzlich plausibilisieren und ergänzen. Daher soll vorliegend nicht gänzlich auf sie verzichtet werden, sondern Reflexionen und Vorarbeiten sollen vielmehr heuristisch zur Interpretation der veröffentlichten Schriften herangezogen werden.⁹⁰ Übereinstimmend mit der anfänglich erläuterten, allgemeinen Methodik dieser Arbeit meint heuristische Heranziehung von Reflexionen und Vorarbeiten (aber auch von Vorlesungsmitschriften) zweierlei: Zum einen können Äußerungen Kants in veröffentlichten Schriften im Lichte inhaltsgleicher Äußerungen aus unveröffentlichten Quellen ausgelegt werden und so einer gehaltvolleren Interpretation zugeführt werden. Wie bereits am Beispiel von Kants Äußerung zum Notrecht im Kontext der Französischen Revolution deutlich wurde,⁹¹ ist dieses Vorgehen nicht nur geboten, sondern im Einzelfall alternativlos, wenn man bestimmte Passagen der Rechtslehre sinnvoll interpretieren möchte. Denn ohne Rekurs auf unveröffentlichte Quellen kann bisweilen über Inhalt und Bedeutung solcher Passagen bloß spekuliert werden. Zum anderen lassen sich ausgehend von unveröffentlichten Quellen Interpretationshypothesen und tentative Lesarten entwickeln, die sodann anhand der veröffentlichten Schriften zu überprüfen sind. Von dieser Vorgehensweise wird die vorliegende Untersuchung überall dort Gebrauch machen, wo Kants veröffentlichte Schriften Fragen aufwerfen, ohne sie zu beantworten. Dies betrifft die Rechtslehre insbesondere mit Blick auf die Bedeutung angeborener Freiheitsrechte für die Begründung bzw. Begrenzung staatlicher Herrschaft. Da die Rechtslehre insoweit einen blinden Fleck aufweist,⁹² versucht die vorliegende Arbeit in den Kapiteln 5 und 6 Kants Position unter anderem auch durch Rückgriff auf unveröffentlichte Quellen kleinschrittig und systematisch zu
Vgl. wohl ähnlich Unruh 1993, S. 19 f. Vgl. oben S. 26 f. Da Kant das angeborene Recht in der „Einleitung in die Rechtslehre“ abschließend behandelt, fehlt eine Verhältnisbestimmung zur Staatsbegründung und Ausgestaltung des öffentlichen Rechts, die Kant im Hauptteil lediglich unter Bezugnahme auf erworbene Rechte thematisiert.Vgl. hierzu eingehend unten S. 249 – 254.
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rekonstruieren und die so gewonnene Lesart sodann anhand des Textes der Rechtslehre zu rechtfertigen.
1.4.4 Terminologische Anmerkungen Schließlich sind an dieser Stelle noch einige Anmerkungen mit Blick auf Kants Terminologie angebracht. Erstens: Bei der Kant-Interpretation ist stets zu beachten, dass sich Kant mit seiner Rechtsphilosophie innerhalb des bekannten Diskurses seiner Zeit positionierte. Kant und seine Leserschaft waren daher nicht nur inhaltlich mit den Debatten der damaligen Rechts- und politischen Philosophie (insbesondere der Schulphilosophie) vertraut. Gleichermaßen kannten und verwandten sie auch die jeweils einschlägige Terminologie. Viele der Begriffe, die Kant nicht näher erläutert (bspw. innere und äußere Handlung),⁹³ lassen sich daher über den damaligen Diskurs erschließen. Verwendet Kant hingegen Begriffe in neuer, eigener Bedeutung, so wird dies in der Regel durch eigene Definitionen von ihm kenntlich gemacht (bspw. Gesetzgeber bei moralischen Gesetzen).⁹⁴ Zweitens: Kant verwendet im Hinblick auf seine Rechtsphilosophie die Begriffe Recht, Ius, Rechtslehre weitestgehend synonym und in Gegensetzung zu Ethik⁹⁵ und Tugendlehre. Den ihnen gemeinsamen Oberbegriff bildet bei Kant die Sittenlehre oder Moral. Entsprechend sind rechtliche und ethische Gesetze gleichermaßen moralische Gesetze. Davon zu unterscheiden sind jedoch die Begriffe Moralität und Legalität, welche sich nicht auf Gesetze beziehen, sondern das Verhältnis von Handlungen zu moralischen Gesetzen beschreiben.⁹⁶ Verwirrungen können entstehen, wenn die Begriffe Moral bzw. Moralphilosophie im Unterschied zu Kants eigener Terminologie von Teilen der Sekundärliteratur als Gegenbegriffe zu Recht bzw. Rechtsphilosophie verwandt, teilweise sogar mit Ethik gleichgesetzt werden.⁹⁷ Demgegenüber wird im Folgenden im Wesentlichen der Terminologie
Vgl. dazu unten S. 52 mit Fn. 74. Vgl. dazu unten S. 125 – 127 m. w. N. Gleichwohl ist beim Begriff Ethik je nach Kontext zu differenzieren, ob Kant hiermit Tugendlehre als Inbegriff der Lehre von den moralischen Pflichtzwecken oder Tugend, d. h. die formelle Tugendverbindlichkeit bzw. allgemeine ethische Verpflichtung, meint.Vgl. nur TL, AAVI, S. 379; VA TL, AA XXIII, S. 384 und Metaphysik der Sitten-Vigilantius, AA XXVII, S. 577 sowie hierzu Mosayebi 2013, S. 115 – 118 m. w. N. Vgl. Höffe 1982, S. 343 und Ludwig 1988, S. 85 mit Fn. 6, erneut Ludwig 2013a, S. 61– 63. Vgl. so etwa die Nachweise bei Prechtl und Burkard 2008, S. 163 f. und Pfordten 2010, S. 5 f. sowie die Verwendung bei Höffe 2007, S. 174 f. und S. 213 – 222 und Kersting 1984, S. 16 f. und S. 24 f.
1.4 Methodische Vorüberlegungen und Quellenlage
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Kants von 1797 gefolgt. Sollte hiervon abgewichen werden, wird dies kenntlich gemacht werden. Drittens: Kant definiert den Staat als „die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“.⁹⁸ Im Vordergrund steht bei ihm jedoch – in Abgrenzung zum vorstaatlichen Naturzustand – der Begriff des rechtlichen Zustands. Laut Kant bedarf ein „Volk, d.i. eine Menge von Menschen,“ eines solchen […] rechtlichen Zustandes unter einem sie vereinigenden Willen, einer Ve r f a s s u n g (constitutio), […] um dessen, was Rechtens ist, theilhaftig zu werden. Dieser Zustand der Einzelnen im Volke in Verhältniß untereinander heißt der b ü r g e r l i c h e (status civilis) und das Ganze derselben in Beziehung auf seine eigene Glieder der S t a a t (civitas) […].⁹⁹
Das Problem, diese Begriffsbestimmungen Kants der Untersuchung von vornherein voranzustellen, besteht darin, dass wir allzu schnell versucht sein können, unser heutiges, rechtlich geprägtes Vorverständnis an sie heranzutragen. Aus heutiger Sicht scheint es naheliegend, dass Kant hier von Rechtsstaatlichkeit („Vereinigung […] unter Rechtsgesetzen“), Konstitutionalismus (Zustand „unter einem […] vereinigenden Willen, ein[e] Verfassung“) und Rechtsschutzgarantie („dessen, was Rechtens ist, theilhaftig zu werden“) spricht. Jedoch haben wir hier gleichsam den Endpunkt der Kantischen Staatsbegründung im ausgehenden 18. Jahrhundert vor Augen. Will man sich dem möglichst unvoreingenommen nähern und einen unverstellten Blick darauf haben, wie Kant selbst diese Begrifflichkeiten inhaltlich auflädt, gilt es mithin, ein angemessenes Vorverständnis zu entwickeln. Hierzu schlage ich vor, im Folgenden bis zur eigentlichen Analyse des Kantischen Staatsrechts¹⁰⁰ unter Staat bzw. Staatlichkeit (das Vorhandensein einer staatlichen Ordnung) zunächst nur eine politische Ordnung zu verstehen, die innerhalb eines bestimmten Gebietes erfolgreich ein Gewaltmonopol beansprucht, kraft dessen ein (rechtlich verfasstes) Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen begründet wird.¹⁰¹ Entsprechend sind Widerstandshandlungen gegen den Staat bzw. die Staatlichkeit alle Handlungen, die sich gegen die politische Ordnung und deren Repräsentanten richten bzw. auf Schwächung oder Aufhebung dieses Herrschaftsverhältnisses gerichtet sind. Dies ist – wohlgemerkt – nicht die Terminologie Kants. Jedoch ist die hier vorgeschlagene Terminologie so weit gefasst, dass sie inhaltlich keine gewichtigen Vorfestlegungen trifft
RL, AA VI, S. 313. RL, AA VI, S. 311. Vgl. unten vor allem S. 292– 334. Dieses Verständnis orientiert sich an Max Webers soziologischem Staatsbegriff, vgl. Weber 1980, S. 822.
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und es so erlaubt, Kants eigene Redeweise zu integrieren. Hierdurch lässt sich Kants eigene Begrifflichkeit im Laufe der Untersuchung sukzessive entwickeln und verständlich machen.
2 Der moralische Rechtsbegriff im Kontext von Kants praktischer Philosophie „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“¹ – so lautet in der Metaphysik der Sitten Kants berühmte Antwort auf die Frage: Was ist Recht? Dieser moralische Begriff des Rechts liegt auch dem zugrunde,was Kant als das einzige, ursprüngliche Recht des Menschen ausweist: Das angeborne Recht ist nur ein einziges. F r e i h e i t (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.²
Das angeborene Recht »Freiheit« ist die subjektiv-rechtliche Ausformung des moralischen Rechtsbegriffs: Jeder Mensch kann auf Grund seiner Menschheit gegenüber anderen beanspruchen, frei zu sein. Diese rechtliche Freiheit ist nicht absolut, sondern darauf eingeschränkt, dass der eigene Willkürgebrauch mit der Willkür eines jeden anderen nach einem allgemeinen Gesetze vereinbar ist. Bei Kant ist es diese Freiheit, auf welche unsere Ausgangsfrage Kein Staat ohne Freiheit oder keine Freiheit ohne Staat? verweist. Die angestrebte Verhältnisbestimmung von Freiheit und Staatlichkeit bei Kant wird daher beim angeborenen Recht und dem ihm zugrundeliegenden moralischen Begriff des Rechts ihren Anfang nehmen. Allerdings befindet sich die Metaphysik der Sitten, in welcher Kant den moralischen Rechtsbegriff entwickelt, nicht im luftleeren Raum. Sowohl Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) als auch die Kritik der praktischen Vernunft (1788) sind in der Absicht verfasst, „eine Metaphysik der Sitten dereinst zu liefern,“ in welcher das von ihm entwickelte „o b e r s t e n P r i n c i p s d e r M o r a l i t ä t […] auf das ganze System“ der praktischen Philosophie Anwendung finden wird.³ Die Metaphysik der Sitten ist also erklärtermaßen der systematische Abschluss, welcher auf den Ergebnissen der moralphilosophischen Grundlegungsschriften der 1780er Jahre aufbaut und diese in eine umfassende Sittenlehre zu überführen versucht. Um bei Kant den moralischen Begriff des Rechts sowie in Folge das angeborene Recht »Freiheit« angemessen bestimmen zu können, muss
RL, AA VI, S. 230. RL, AA VI, S. 237. GMS, AA IV, S. 392. DOI 10.1515/9783110530070-002
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2 Der moralische Rechtsbegriff im Kontext von Kants praktischer Philosophie
daher zunächst ein (der weiteren Untersuchung zugrundeliegendes) Vorverständnis der kritischen Moralphilosophie Kants entwickelt werden (2.1). Erst im Anschluss hieran lässt sich eine vorläufige Bestimmung des Kantischen Rechtsbegriffs in der Metaphysik der Sitten vornehmen (2.2).
2.1 Entwicklungsstufen kritischer Moralphilosophie bei Kant Die folgende Darstellung der Grundlagen sittlicher Gesetzgebung bei Kant orientiert sich an drei seiner vier Hauptschriften der 1780er Jahre. Dabei wird nicht beansprucht, eine den besonderen Problemen des jeweiligen Werkes en détail angemessene Aufarbeitung zu liefern. Die Absicht ist vielmehr, die hier vertretene Lesart zentraler Elemente von Kants kritischer Philosophie zu präsentieren und dabei grundsätzliche Begrifflichkeiten, die im Weiteren für die Interpretation der Kantischen Rechtsphilosophie von Bedeutung sind, im Vorhinein zu erläutern.⁴
2.1.1 Transzendentale Freiheit und die Existenz einer moralischen Welt – Die Kritik der reinen Vernunft Noch bis in die 1760er Jahre kann man Kant dem Rationalismus in der Nachfolge von Leibniz und Wolff zurechnen.⁵ In der Folge mehren sich bei ihm kritische Elemente, bis 1781 die Kritik der reinen Vernunft Kants kritische Philosophie einläutet. Obwohl sie Kants erkenntnistheoretisches und metaphysisches Hauptwerk ist,⁶ wird mit ihr in vielfacher Hinsicht auch der Grundstein für die spätere kritische praktische Philosophie gelegt.⁷ Hervorzuheben sind – gerade auch mit Blick auf die Rechtsphilosophie – Kants Bestimmungen der Freiheit und des Sittengesetzes, die er im „Kanon der reinen Vernunft“ trifft.⁸
Die folgende Darstellung der Grundlagen sittlicher Gesetzgebung bei Kant ist zum Teil eine Zusammenfassung von Ergebnissen, die ich bereits in Hirsch 2012a, S. 13 – 20 zusammengetragen habe. Vgl. für einen kurzen Überblick dieser Periode Höffe 2007, S. 21– 36. Vgl. zur allgemeinen Bedeutung der Kritik der reinen Vernunft den Überblick bei Baumgartner 2006, S. 11– 22. So widmet sich Kant im „Kanon der reinen Vernunft“ auch dem praktischen Gebrauch der reinen Vernunft, welcher sich namentlich auf „drei Gegenstände [sc. richtet]: die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele, und das Dasein Gottes“ (KrV, A 798/B 826). – S. hierzu Baumgartner 2006, S. 128 f. Auch im Übrigen enthält der Kanon bereits wesentliche Grundgedanken der kritischen Moralphilosophie. Hier sind vor allem das höchste Gut, Gott und Unsterblichkeit als praktische
2.1 Entwicklungsstufen kritischer Moralphilosophie bei Kant
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Die Freiheit des Willens verortet Kant in der Kritik der reinen Vernunft auf transzendentaler Ebene, hingegen Handlungen als Äußerungen eines freien Willens auf empirischer Ebene.⁹ Dieser transzendentalen Freiheit stellt Kant die praktische Freiheit gegenüber. Praktische Freiheit ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Entscheidung nicht direkt durch „sinnliche Antriebe“, sondern durch „Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden“, bestimmt wird: Denn nicht bloß das, was reizt, d. i. die Sinne unmittelbar afficirt, bestimmt die menschliche Willkür, sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden; diese Überlegungen aber von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswerth, d. i. gut und nützlich ist, beruhen auf der Vernunft.¹⁰
Praktische Freiheit ist mit kausaler Determiniertheit vereinbar und lässt sich empirisch nachweisen, wohingegen Kant die transzendentale Freiheit als „eine Unabhängigkeit dieser Vernunft selbst (in Ansehung ihrer Causalität, eine Reihe von Erscheinungen anzufangen) von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt“ definiert.¹¹ Übertragen auf Entscheidungen, lässt sich eine Entscheidung als praktisch frei qualifizieren, wenn sie auf vernünftige Überlegungen zurückzuführen ist; sie ist transzendental frei, wenn diese Überlegungen selbst frei sind.¹²
Postulate sowie die Vorstellung eines Reichs der Zwecke zu nennen. Vgl. KrV, A 804– 819/B 832– 847 und hierzu Baumgartner 2006, S. 128 – 132 sowie Recki 1998, S. 607– 609. Vgl. KrV, A 798/B 826: „Der Wille mag auch frei sein, so kann dieses nur die intelligibele Ursache unseres Wollens angehen. Denn was die Phänomene der Äußerungen desselben, d. i. die Handlungen, betrifft, so müssen wir […] sie niemals anders als alle übrige Erscheinungen der Natur, nämlich nach unwandelbaren Gesetzen derselben, erklären.“ Diese Unterscheidung fußt auf dem Lehrbegriff des transzendentalen Idealismus. Nach diesem kommt allen Dingen empirische Realität als Erscheinungen zu, insofern ihr Dasein und ihre Verbindungen einer für alle erkennenden Subjekte gültigen Notwendigkeit und Gesetzlichkeit unterliegen. Der transzendentale Idealismus besagt darüber hinaus, dass sinnlicher Erfahrung ein vom Erkennen unabhängiges und nicht erfahrbares Ding an sich als transzendentaler Grund des Gegebenseins zugrundeliege. In der Folge unterscheidet Kant stets zwischen der transzendentalen Ebene der Dinge an sich und der empirischen Ebene der Erscheinungen. Die Gegenstände der äußeren und inneren Wahrnehmung sind hiernach keine Dinge an sich, sondern ausschließlich als Erscheinungen bestimmt. Als solche existieren sie nur als Glieder eines möglichen Erfahrungszusammenhanges und sind durch die Formen der anschaulich-verstandesmäßigen Erkenntnis bedingt. – Vgl. dazu KrV, A 490 – 497/B 518 – 525 sowie die ausführlichen Beiträge von Guyer 1987, S. 332– 415; Watkins 2005, S. 301– 361; Baumgartner 2006, S. 58 – 98 und Strawson 1992, S. 204– 237. KrV, A 802/B 830. KrV, A 803/B 831. So Baumann 2000, S. 141 f. Vgl. außerdem zur Bestimmung von praktischer und transzendentaler Freiheit statt vieler Geismann 2006, S. 7– 10 sowie Kersting 1984, S. 20 – 26.
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2 Der moralische Rechtsbegriff im Kontext von Kants praktischer Philosophie
Allerdings hält Kant das Problem transzendentaler Freiheit im Eigentlichen nicht für eine praktische Frage, sondern behandelt es als spekulative Frage, die er daher im Kanon schon „als oben [sc. in der Auflösung der dritten Antinomie] abgethan, bei Seite setz[t]“.¹³ Bedeutsam ist im Kanon der Kritik der reinen Vernunft auch Kants Unterscheidung zwischen zwei praktischen Vernunftgesetzen: Das praktische Gesetz aus dem Bewegungsgrunde der G l ü c k s e l i g k e i t nenne ich pragmatisch (Klugheitsregel); dasjenige aber, wofern ein solches ist, das zum Bewegungsgrunde nichts anderes hat, als die W ü r d i g k e i t g l ü c k l i c h z u s e i n , moralisch (Sittengesetz). […] Das erstere gründet sich auf empirische Principien […]. Das zweite abstrahirt von Neigungen […] und betrachtet nur die Freiheit eines vernünftigen Wesens überhaupt […] und k a n n also wenigstens auf bloßen Ideen der reinen Vernunft beruhen und a priori erkannt werden.¹⁴
KrV, A 802/B 830 – Dies liegt zum einen daran, dass sich Kant im „Kanon der reinen Vernunft“ – ausgehend von der Gewissheit des Sittengesetzes und der praktischen Freiheit – ausschließlich den Fragen nach Gott und Unsterblichkeit widmen will. Vgl. KrV, A 803/B 831: „Allein für die Vernunft im praktischen Gebrauche gehört dieses Problem [sc. der transzendentalen Freiheit] nicht, also haben wir es in einem Kanon der reinen Vernunft nur mit zwei Fragen zu thun, die das praktische Interesse der reinen Vernunft angehen, […] nämlich: ist ein Gott? ist ein künftiges Leben?“ Vgl. dazu auch Baumgartner 2006, S. 129 und Recki 1998, S. 602 f. – Zum anderen beansprucht Kant 1781, das Problem der Willensfreiheit als rein theoretische Frage hinreichend beantwortet zu haben, indem er ausgehend vom Lehrbegriff des transzendentalen Idealismus (vgl. Kap. 2, Fn. 9) in der Auflösung zur dritten Antinomie der reinen Vernunft (vgl. KrV, A 532– 541/B 560 – 569) die Möglichkeit transzendentaler Freiheit nachweist und damit übertragen auf den Menschen auch die Möglichkeit von Willensfreiheit darlegt. Denn als transzendentaler Gegenstand betrachtet steht der Mensch außerhalb möglicher Naturerfahrung und kausaler Determiniertheit. Insofern ist es auch in Bezug auf ihn denkmöglich, dass er transzendental frei ist (vgl. dazu ausf. Watkins 2005, S. 315; Allison 1998, S. 477– 483). Der Mensch ist in seinem empirischen Charakter Erscheinung und in seinem intelligiblen Charakter der der Erscheinung zu Grunde liegende transzendentale Gegenstand. Menschliche Handlungen ordnet Kant nun hinsichtlich der Wirkungen dem empirischen Charakter in der Sinnenwelt zu, hinsichtlich der Ursache aber dem transzendentalen Charakter in der intelligiblen Welt (vgl. Allison 1998, S. 478 f.; Heimsoeth 1967, S. 351). Folglich lässt sich menschliches Handeln im empirischen Charakter auf den intelligiblen zurückführen. Da letzterer transzendental frei sein kann, kann insofern auch menschliches Handeln im empirischen Charakter frei sein. Dass der Mensch nun sich selbst intelligibler Gegenstand ist und dadurch Teil an seinem intelligiblen Charakter hat, ist nach Kant dadurch gesichert, dass der Mensch über reine Apperzeption verfügt (vgl. KrV, A 546 – 557/B 574– 585 sowie unten Kap. 2, Fn. 50). Da dies eine theoretische Erkenntnis ist, ist das Problem der Willensfreiheit für Kant in der Kritik der reinen Vernunft auch keine praktische Frage, die im Kanon abzuhandeln wäre. Vgl. dazu grundlegend Ludwig 2010, S. 604– 609. KrV, A 806/B 834.
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Dass das Sittengesetz als reines moralisches Gesetz existiert, nimmt Kant als nicht weiter begründungsbedürftig an¹⁵ und leitet daraus als Postulat die Existenz einer moralischen Welt ab: Wenn ich sittlich handeln soll, darf ich annehmen, dass sich die Wirklichkeit auch so verhält, dass sittliches Handeln möglich ist: Denn, da sie [sc. die reine Vernunft] gebietet, daß solche [sc. Handlungen] geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können, und es muß also eine besondere Art von systematischer Einheit, nämlich die moralische, möglich sein […]. Ich nenne die Welt, sofern sie allen sittlichen Gesetzen gemäß wäre […], eine m o r a l i s c h e We l t . Diese wird so fern bloß als intelligibele gedacht […].¹⁶
Die Idee einer (intelligiblen) moralischen Welt hat in Bezug auf die (empirische) Sinnenwelt Realität als „ein corpus mysticum der vernünftigen Wesen in ihr, so fern deren freie Willkür unter moralischen Gesetzen sowohl mit sich selbst, als mit jedes anderen Freiheit durchgängige systematische Einheit an sich hat“.¹⁷ Hierin könnten bereits rechtsphilosophische Gedanken Kants anklingen, insofern er zuvor von einem alten Wunsch gesprochen hat, […] der, wer weiß wie spät, vielleicht einmal in Erfüllung gehen wird: daß man doch einmal statt der endlosen Mannigfaltigkeit bürgerlicher Gesetze ihre Principien aufsuchen möge; denn darin kann allein das Geheimniß bestehen, die Gesetzgebung, wie man sagt, zu simplificiren. Aber die Gesetze sind hier auch nur Einschränkungen unsrer Freiheit auf Bedingungen, unter denen sie durchgängig mit sich selbst zusammenstimmt; mithin gehen sie auf etwas, was gänzlich unser eigen Werk ist, und wovon wir durch jene Begriffe selbst die Ursache sein können.¹⁸
2.1.2 Kategorischer Imperativ und Autonomietheorem – Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 1785 kommt mit der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten die kritische Methode in Kants praktischer Philosophie erstmals vollständig zum Tragen.¹⁹ In der Grund-
KrV, A 807/B 835: „Ich nehme an, daß es wirklich reine moralische Gesetze gebe, die völlig a priori (ohne Rücksicht auf empirische Bewegungsgründe, d. i. Glückseligkeit) das Thun und Lassen […] bestimmen […]. Diesen Satz kann ich mit Recht voraussetzen“. – Vgl. hierzu auch Ludwig 2010, S. 607 f. KrV, A 807 f./B 835 f. KrV, A 808/B 836. KrV, A 301/B 358. Vgl. zum kritischen Wandel in Kants Moralphilosophie Kersting 1984, S. 24 f. Ferner bieten einen Überblick über die Grundlegung die Kommentare von Horn, Schönecker und Mieth 2006 und Höffe 2000. Vgl. zur Frage, ob die kritische Moralphilosophie wirklich als Teil der Transzenden-
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legung begründet Kant seine kritische Moralphilosophie, jedoch ohne nennenswerte Ausführungen zum Recht.²⁰ Gleichwohl werden hier wichtige Theorieelemente wie Pflicht, kategorischer Imperativ oder das Prinzip der sittlichen Autonomie entwickelt, welche für die Statusbestimmung der Rechtslehre innerhalb von Kants praktischer Philosophie zentral sind. Der gute Wille ist nach der Grundlegung das einzige, was angesichts des Sittengesetzes als moralisch gut qualifiziert werden kann.²¹ Begrifflich ist Wille für Kant das Vermögen, nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln.²² Dabei unterscheidet er zwischen dem durch Neigungen empirisch bedingten Willen einerseits und dem von sinnlichen Bestimmungsgründen unabhängigen Willen andererseits. Ausschließlich letzterer wird unabhängig allein durch moralische Gesetze bestimmt und ist für Kant ein moralisch guter Wille.²³ Zu dieser Bestimmung gelangt Kant mittels des Pflichtbegriffs, der den des guten Willens beinhaltet.²⁴ „P f l i c h t i s t d i e N o t h w e n d i g k e i t e i n e r H a n d l u n g a u s A c h t u n g f ü r s [sc. moralische] G e s e t z . “²⁵ Die Rede von Pflicht impliziert, dass der Mensch als sinnlich affiziertes Vernunftwesen²⁶ zur Beachtung des morali-
talphilosophie begriffen werden kann, stellvertretend die konträren Positionen von Höffe 1981, erneut Höffe 1990, S. 112 f. und Röd 1981. Noch früher zeigt sich die kritische Methode in Kants praktischer Philosophie 1784 in den Vorlesungsnachschriften Moralphilosophie Mrongovius II und Naturrecht Feyerabend. Diese belegen, dass Kant bereits hier den Rechtsbegriff entwickelt und in einem Guss mit seiner übrigen kritischen Moralphilosophie entwirft. Vgl. hierzu ausführlich Hirsch 2012a. GMS, AA IV, S. 393: „Es ist überall nichts in der Welt, […] was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein g u t e r W i l l e .“ Während Begabung, Charakter oder günstige Umstände auch zu schlechten Zwecken verwandt werden können, ist der gute Wille „allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut“ (GMS, AA IV, S. 394).Vgl. hierzu stellvertretend für viele Wood 2006, S. 26 f. und Timmermann 2007, S. 15 – 24. GMS, AA IV, S. 412. Vgl. GMS, AA IV, S. 412– 414. Vgl. hierzu Köhl 2006, S. 100 – 103. GMS, AA IV, S. 397: „[Wir] wollen […] den Begriff der P f l i c h t vor uns nehmen, der den eines guten Willens, obzwar unter gewissen subjectiven Einschränkungen und Hindernissen, enthält […].“ Vgl. hierzu nur Timmermann 2007, S. 25 f. sowie kritisch zur Ableitung des Begriffs des guten Willens aus dem Pflichtbegriff Cramer 1996, S. 289 – 293 und Laschet 2011, S. 39 – 46. GMS, AA IV, S. 400. Achtung ist nach Kant das moralische Gefühl, dass sich als Auswirkung sittlicher Selbstbestimmung entgegen sinnlicher Affektion einstellt.Vgl. auch KpV, AA V, S. 73 und hierzu stellvertretend Paton 1962, S. 63 – 69 und Timmermann 2007, S. 39 – 44. Hierdurch bezieht Kant gleichzeitig in abgewandelter Form die englische Gefühlsethik in seine Theorie ein, vgl. Düsing 2000, S. 204 und Brandt 2007, S. 360. Es sei bereits an dieser Stelle auf eine zentrale begriffliche Unterscheidung hingewiesen: Vernunftwesen sind bei Kant Wesen, die mit reiner praktischer Vernunft begabt sind. Solche Wesen sind autonom und in einem anspruchsvollen Sinne frei. Sie sind damit von vernünftigen Wesen unterschieden, d. h. bloß zweckrationalen Wesen, die nur über technisch-praktische Vernunft verfügen.
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schen Gesetzes genötigt wird. Allein genügt für die Bejahung eines guten Willens die Pflichterfüllung auf Grund beliebiger Bestimmungsgründe (z. B. aus Selbstsucht oder Neigung zur pflichtgemäßen Handlung) nicht.²⁷ Erforderlich ist vielmehr ein Handeln aus Pflicht (d. h. pflichtgemäßes Handeln ohne sinnliches Handlungsmotiv), bei dem der Handelnde allein durch das moralische Gesetz zur Handlung bestimmt wird.²⁸ Hierin liegt für Kant die Moralität einer Handlung. Die Nötigung durch die Pflicht bzw. das moralische Sollen äußert sich gegenüber sinnlich affizierten Vernunftwesen in Form eines kategorischen Imperativs.²⁹ Davon unterscheidet Kant hypothetische Imperative, welche lediglich ein bedingtes Sollen ausdrücken, das unter dem Vorbehalt subjektiver Absichten und Zwecksetzungen steht.³⁰ Moralische Gesetze gebieten jedoch völlig a priori und damit unabhängig von jeglichen empirischen Zwecken.³¹ Der kategorische Imperativ unterwirft daher das Handeln (genauer die Maximensetzung) ohne Rücksicht auf einen bestimmten empirischen Zweck formal einem allgemein gültigen Gesetz. Er lautet in seiner allgemeinsten Fassung: „[ H ] a n d l e n u r nach derjenigen Maxime, du rch die du zugleich wollen kannst , d a ß s i e e i n a l l g e m e i n e s G e s e t z w e r d e . “³²
Der Mensch als sinnlich affiziertes Vernunftwesen ist Person, d. h. mögliches Subjekt moralischer Rechte und Pflichten sowie zurechenbarer Handlungen.Vgl. hierzu TL, AAVI, S. 418; Religion, AAVI, S. 26 mit Fn. *; KdU, AAV, S. 468; KrV, A 681/B 709 sowie opus posthumum, AA XXII, S. 113.Vgl. auch unten Kap. 3, Fn. 264 und S. 154– 158 mit Fn. 320. Vgl. ferner Wood 2006, S. 291– 294. Damit möchte sich Kant von der philosophia practica universlis Wolff’scher Prägung abgrenzen, vgl. Laschet 2011, S. 37 f. sowie kritisch Bittner 2000, S. 20 f. Vgl. GMS, AA IV, S. 400 f. und hierzu stellvertretend ausführlich Timmermann 2007, S. 25 – 44 und Horn, Mieth und Scarano 2007, S. 174– 183. Vgl. GMS, AA IV, S. 412 f. Hingegen wäre ein göttlicher oder heiliger Wille an sich ein „vollkommen guter Wille“, welcher zwar „unter objectiven Gesetzen (des Guten) stehen [würde], aber nicht dadurch als zu gesetzmäßigen Handlungen genöthigt [würde] vorgestellt werden können, weil er von selbst nach seiner subjectiven Beschaffenheit nur durch die Vorstellung des Guten bestimmt werden kann“. Das Sittengesetz ist für einen solchen Willen nur deskriptiv, da bei ihm „das Wo l l e n schon von selbst mit dem Gesetz nothwendig einstimmig ist“. (GMS, AA IV, S. 414) Allein für sinnlich affizierte Wesen, ist es zugleich präskriptiv.Vgl. so auch Laschet 2011, S. 75, und Horn 2004, S. 199. Vgl. GMS, AA IV, S. 414. Innerhalb dessen unterscheidet Kant hypothetische Imperative, die die notwendigen Handlungen zu einem beliebigen Zweck (technische Imperative) oder zum gemeinsamen Zweck der Glückseligkeit (pragmatische Imperative) gebieten. Vgl. zum Ganzen statt vieler Ludwig 2006. Vgl. GMS, AA IV, S. 409 – 414. Vgl. hierzu Timmermann 2007, S. 56 – 65. GMS, AA IV, S. 421. Vgl. zum äußerst kontrovers diskutieren Verhältnis dieser sogenannten Allgemeingesetz-Formel zu den anderen Varianten des kategorischen Imperativs in der Grundlegung vorerst nur Wimmer 1982, S. 293 – 300; Schnoor 1989, S. 46 – 83 und Brinkmann 2003, S. 279 – 328.
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Unmittelbarer Bezugspunkt des kategorischen Imperativs sind Maximen, d. h. die subjektiven Grundsätze des Handelns, die eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten.³³ Eine Maxime genügt dem kategorischen Imperativ, wenn sie als objektives Handlungsprinzip für alle Vernunftwesen gelten könnte.³⁴ Ist dem nicht der Fall, und lässt sich eine Maxime nicht logisch widerspruchsfrei als allgemeines Gesetz denken, liegt eine entgegengesetzte vollkommene Pflicht vor. Ist die Maxime als allgemeines Gesetz zwar denkbar, kann aber nicht widerspruchslos gewollt werden, spricht Kant in der Grundlegung von einer unvollkommenen (dem Grad nach nicht bestimmten) Pflicht.³⁵ Jedoch gibt der kategorische Imperativ nur den „Maßstab allen sittlichen Handelns“³⁶ an. Möglich wird ein Handeln nach moralischen Gesetzen erst durch die Autonomie, denn nur unter der Voraussetzung der Selbstgesetzgebung des Willens kann ein Vernunftwesen als freies „die Forderungen des kategorischen Imperativs […] erfüllen“ und „sich nach selbstgesetzten Grundsätzen […] bestimmen“.³⁷ Die Herleitung des Autonomietheorems beruht letztlich auf Kants Einsicht, dass materiale, empirische Bestimmungsgründe keine moralischen Gesetze abgeben können.³⁸ Ansonsten wäre die „Regel nichts als Heteronomie; der
GMS, AA IV, S. 420, Fn. **: „M a x i m e ist das subjective Princip zu handeln und muß vom o b j e c t i v e n P r i n c i p , nämlich dem praktischen Gesetze, unterschieden werden. Jene […] ist also der Grundsatz, nach welchem das Subject h a n d e l t ; das Gesetz aber ist das objective Princip […] und der Grundsatz, nach dem es h a n d e l n s o l l , d. i. ein Imperativ.“ Vgl. zum Maximenbegriff bei Kant Höffe 2007, S. 191 f. und ausführlich Schwartz 2006. Vgl. zum Prüfverfahren nach dem kategorischen Imperativ Scholz 1972, S. 151– 160; Ebert 1976, S. 574– 580; Timmons 2006, S. 161– 167 und Horn, Mieth und Scarano 2007, S. 227– 231. Vgl. GMS, AA IV, S. 421– 424 und dazu Höffe 2007, S. 195 f. Während diese allgemeine Klassifikation derjenigen aus anderen Schriften der Sache nach entspricht (vgl. z. B. TL, AA VI, S. 390 und dazu unten S. 53 f.), ist die Formulierung eines Widerspruchs im Denken bzw. Widerspruchs im Wollen explizit nur in der Grundlegung erwähnt. Teilweise (z. B. Scholz 1972, S. 77– 80; Kersting 1983a und Laschet 2011, S. 86 f. mit Fn. 20) wird daher angenommen, Kant habe diese Ansicht nach Erscheinen der Grundlegung aufgegeben, vgl. dem jedoch widersprechend unten Kap. 3, Fn. 118. Hingegen ist Kants Bestimmung auf S. 421, Fn. *, er verstehe „unter einer vollkommenen Pflicht diejenige, die keine Ausnahme zum Vortheil der Neigung verstattet“, singulär. – Auch äußert er sich jenseits der Dichotomie von Geboten und Verboten noch nicht zur Möglichkeit von Maximen, nach denen zu handeln bloß erlaubt ist. Vgl. dazu Scholz 1972, S. 184– 189 sowie Laschet 2011, S. 57 f. Höffe 2007, S. 201. Höffe 2007, S. 201. Vgl. GMS, AA IV, S. 442: „Denn die Allgemeinheit, mit der sie [sc. moralische Gesetze] für alle vernünftige Wesen ohne Unterschied gelten sollen, die unbedingte praktische Nothwendigkeit, die ihnen dadurch auferlegt wird, fällt weg, wenn der Grund derselben von der b e s o n d e r e n E i n r i c h t u n g d e r m e n s c h l i c h e n N a t u r , oder den zufälligen Umständen hergenommen wird, darin sie gesetzt ist.“
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Imperativ ist bedingt, nämlich: w e n n oder w e i l man dieses Object will, soll man so oder so handeln; mithin kann er niemals moralisch, d. i. kategorisch, gebieten“.³⁹ In diesem Fall unterläge der Handelnde – angesichts der sinnlichen Affektion – letztlich den Gesetzen der Natur bzw. der Naturkausalität. Fordern also moralische Gesetze eine unbedingte Maximenbestimmung nach Maßgabe des kategorischen Imperativs, so darf der Wille seine Bestimmungsgründe nicht von außen (aus der Natur) empfangen, sondern muss selbst gesetzgebend sein. Ein solcher autonomer, selbstgesetzgebender Wille muss gänzlich unabhängig von der Naturkausalität gedacht werden. Diese Unabhängigkeit von aller Kausalität der Natur hat Kant, wie eben ausgeführt, in der Kritik der reinen Vernunft als transzendentale Freiheit ausgewiesen. Und auch die Begründung für die Möglichkeit transzendentaler Freiheit entspricht in der Grundlegung der Sache nach derjenigen der ersten Kritik. ⁴⁰ Mithin erfährt Kants transzendentale Freiheitslehre in der Grundlegung eine positive Bestimmung durch das Autonomietheorem: [S]o ist die Freiheit, ob sie zwar nicht eine Eigenschaft des Willens nach Naturgesetzen ist, darum doch nicht gar gesetzlos, sondern muß vielmehr eine Causalität nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art sein; denn sonst wäre ein freier Wille ein Unding. […] [W]as kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein als Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein? Der Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen sich selbst ein Gesetz, bezeichnet nur das Princip, nach keiner anderen Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als ein allgemeines Gesetz zum Gegenstande haben kann. Dies ist aber gerade die Formel des kategorischen Imperativs und das Princip der Sittlichkeit: also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei.⁴¹
Gleichzeitig leitet Kant aus dem Autonomietheorem die Konzepte der Würde des Vernunftwesens und des Reichs der Zwecke ab.⁴² Alle materialen Zwecke sind letztlich empirisch bedingt und haben daher nur einen relativen Wert. „[W]enn aber aller Werth bedingt, mithin zufällig wäre, so könnte für die Vernunft überall kein oberstes praktisches Princip angetroffen werden.“ Das autonome Vernunftwesen muss daher Zweck an sich selbst sein, „[w]enn es denn also ein oberstes praktisches Princip und in Ansehung des menschlichen Willens einen kategorischen Imperativ geben soll“.⁴³ Es hat „eben darum eine Würde, d. i. unbedingten, GMS, AA IV, S. 444. Vgl. GMS, AA IV, S. 448 – 453 und oben Kap. 2, Fn. 13 m. w. N.Vgl. auch Laschet 2011, S. 64 f. mit Fn. 75 sowie detailliert zu Kants Argumentation im dritten Abschnitt der Grundlegung Ludwig 2010, S. 600 – 604. GMS, AA IV, S. 446 f. Vgl. dazu statt vieler nur Schönecker und Wood 2002, S. 140 – 161; Timmermann 2007, S. 102– 109 und Pfordten 2009e, S. 19 – 21. Zum Ganzen: GMS, AA IV, S. 428.
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unvergleichbaren Werth […]. A u t o n o m i e ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“⁴⁴ Die Pluralität selbstzweckhafter, autonomer Vernunftwesen bewirkt nun eine systematische Verbindung in der idealen Willensgemeinschaft des Reichs der Zwecke: Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem G e s e t z , daß jedes derselben sich selbst und alle andere n i e m a l s b l o ß a l s M i t t e l , sondern jederzeit z u g l e i c h a l s Z w e c k a n s i c h s e l b s t behandeln solle. Hiedurch aber entspringt eine systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objective Gesetze, d. i. ein Reich, welches, weil diese Gesetze eben die Beziehung dieser Wesen auf einander als Zwecke und Mittel zur Absicht haben, ein Reich der Zwecke (freilich nur ein Ideal) heißen kann.⁴⁵
2.1.3 Die epistemische Wende in der Moralphilosophie – Die Kritik der praktischen Vernunft Die 1788 erschienene Kritik der praktischen Vernunft ist Kants zweite Schrift zur kritischen Moralphilosophie. Obwohl sie die zentralen Gedanken der Grundlegung wieder aufgreift,⁴⁶ präzisiert sie diese und geht vielfach über sie hinaus.⁴⁷ Für die Positionierung der Rechtsphilosophie innerhalb von Kants Moralphilosophie sind vor allem zwei Bestimmungen essentiell: die Lehre vom Faktum der Vernunft sowie die Unterscheidung von Moralität und Legalität einer Handlung. Noch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten nimmt Kant (im Anschluss an die Auflösung der dritten Antinomie in der ersten Kritik) einen spekulativen Nachweis transzendentaler Freiheit an und schließt hiervon ausgehend auf Sittengesetz und Autonomietheorem.⁴⁸ Diese Ableitungsbeziehung kehrt sich jedoch mit der Kritik der praktischen Vernunft um. Nunmehr geht Kant vom (Bewusstsein des) Sittengesetz(es) aus:
GMS, AA IV, S. 436. GMS, AA IV, S. 433. Nach Kants eigener Aussage (KpV, AA V, S. 8) setzt die KpV die Grundlegung insoweit voraus, als dass letztere „mit dem Princip der Pflicht vorläufige Bekanntschaft macht und eine bestimmte Formel derselben angiebt und rechtfertigt“. In der Tat entspricht der Anfang der Analytik (vgl. AA V, S. 19 – 37) im Wesentlichen dem Stand der Abschnitte 1 und 2 der Grundlegung: Unterscheidung von praktischen Gesetzen und Maximen (§ 1), Zurückweisung materialer Prinzipien für sittliches Handeln (§ 2, 3), notwendige Formalität praktischer Gesetze (§ 4), analytische Verknüpfung von transzendentaler Freiheit und Sittlichkeit (§ 5, 6) sowie Bestimmung des kategorischen Imperativs (§ 7) und des Autonomietheorems (§ 8) in inhaltlicher Hinsicht. Vgl. für einen kurzen Überblick über die Unterschiede der KpV zur Grundlegung Höffe 2002 sowie für eine Verhältnisbestimmung zur Kritik der reinen Vernunft Brandt 2007, S. 351– 384. Vgl. oben Kap. 2, Fn. 13 sowie S. 45 mit Fn. 40.
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Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes [sc. der Verbindlichkeit nach dem kategorischen Imperativ] ein Factum der Vernunft nennen,weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben), herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori, der auf keiner, weder reinen noch empirischen, Anschauung gegründet ist, ob er gleich analytisch sein würde, wenn man die Freiheit des Willens voraussetzte, wozu aber, als positivem Begriffe, eine intellectuelle Anschauung erfordert werden würde, die man hier gar nicht annehmen darf. Doch muß man, um dieses Gesetz ohne Mißdeutung als g e g e b e n anzusehen, wohl bemerken: daß es kein empirisches, sondern das einzige Factum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic jubeo) ankündigt.⁴⁹
Mit der Faktumlehre revidiert Kant die Konzeption der Grundlegung und lehnt nunmehr eine primäre Erkenntnis der Freiheit ab, da eine solche eine intellektuelle Anschauung erforderte, die wir gerade nicht haben.⁵⁰ Vielmehr geht Kant vom Bewusstsein sittlicher Verpflichtung durch das Sittengesetz aus und leitet daraus transzendentale Freiheit ab.⁵¹ Die Unterworfenheit unter das Sittengesetz KpV, AA V, S. 31. In der Grundlegung schließt Kant noch aus der Freiheit auf das Sittengesetz, weil er meint, durch die reine Apperzeption eine theoretische Erkenntnis seiner selbst als transzendental freies Wesen zu haben (vgl. Nachweise in Kap. 2, Fn. 48). In der KpV korrigiert Kant diese Auffassung in Folge einer Rezension von Hermann Andreas Pistorius zur Moralepistemologie des Dritten Abschnitts der Grundlegung, da wir nicht über eine hierfür erforderliche intellektuelle Anschauung verfügen. Der spekulativen Vernunft wird „[ü]ber die Erfahrungsgegenstände hinaus, also von Dingen als Noumenen […] alles Positive einer E r k e n n t n i ß mit völligem Rechte abgesprochen“ (KpV, AA V, S. 42). Allein das Bewusstsein der Verpflichtung durch das Sittengesetz – so das Credo der KpV – verschafft „einem übersinnlichen Gegenstande der Kategorie der Causalität, nämlich der F r e i h e i t , Realität […] (obgleich als praktischem Begriffe auch nur zum praktischen Gebrauche)“ und wird „durch ein Factum bestätigt“ (KpV, AA V, S. 6). Vgl. zum Ganzen grundlegend Ludwig 2010, insb. S. 609 – 623; in Teilen aber auch Düsing 2002, S. 222; Ameriks 2002, S. 106 – 113 und Laschet 2011, S. 55 f. und S. 64– 69 m. w. N. Vgl. ferner zur Pistorius-Rezension Gesang 2007. Vgl. KpV, AA V, S. 28 – 30. Ebd., S. 29 f.: „Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz weisen also wechselsweise auf einander zurück. Ich frage […] wovon unsere E r k e n n t n i ß des unbedingt Praktischen a n h e b e , ob von der Freiheit, oder dem praktischen Gesetze.Von der Freiheit kann es nicht anheben; […] [a]lso ist es das m o r a l i s c h e G e s e t z , dessen wir uns unmittelbar bewußt werden (so bald wir uns Maximen des Willens entwerfen),welches sich uns z u e r s t darbietet und, indem die Vernunft jenes als einen durch keine sinnliche Bedingungen zu überwiegenden, ja davon gänzlich unabhängigen Bestimmungsgrund darstellt, gerade auf den Begriff der Freiheit führt.“ Das Bewusstsein des moralischen Gesetzes, von dem ausgehend wir auf unsere Freiheit schließen, ist – entgegen Wolff 2009, S. 526 – nichts anderes als die Verpflichtung nach dem kategorischen Imperativ. Vgl. ebenso Henrich 1973, S. 234 f. und S. 247 f.; Brandt 2007, S. 355 f.; Ludwig 2010, S. 625 sowie deutlich Kants Bestimmung in RL, AA VI, S. 239: „Wir kennen unsere eigene Freiheit (von der alle moralische Gesetze, mithin auch alle Rechte sowohl als Pflichten ausgehen) nur durch den m o r a l i s c h e n I m p e r a t i v, welcher ein pflichtgebietender Satz ist
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ist die ratio cognoscendi der transzendentalen Freiheit; umgekehrt bleibt die transzendentale Freiheit weiterhin ratio essendi des Sittengesetzes: [I]ch [will] nur erinnern, daß die Freiheit allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei. Denn wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft eher deutlich gedacht, so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas, als Freiheit ist (ob diese gleich sich nicht widerspricht), a n z u n e h m e n . Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar n i c h t a n z u t r e f f e n sein.⁵²
Mithin übernimmt Kant aus der ersten Kritik lediglich den Nachweis der Möglichkeit transzendentaler Freiheit.⁵³ Erst das Faktum der Vernunft, d. h. das Bewusstsein der Verbindlichkeit nach dem Sittengesetz, verleiht ihr jedoch praktische Realität. ⁵⁴ Neben der Faktumlehre ist eine weitere, für die Rechtsphilosophie bedeutsame Neuerung der Kritik der praktischen Vernunft – zumindest was Kants veröffentliche Schriften angeht –⁵⁵ die begriffliche Unterscheidung von Moralität und Legalität: Das Wesentliche alles sittlichen Werths der Handlungen kommt darauf an, d a ß d a s m o r a l i s c h e G e s e t z u n m i t t e l b a r d e n W i l l e n b e s t i m m e . Geschieht die Willensbestimmung zwar g e m ä ß dem moralischen Gesetze, aber nur vermittelst eines Gefühls, […] mithin nicht u m d e s G e s e t z e s w i l l e n : so wird die Handlung zwar L e g a l i t ä t , aber nicht M o r a l i t ä t enthalten.⁵⁶
Moralität und Legalität sind mithin Prädikate zur Beurteilung von Handlungen in Ansehung der Pflicht nach einem moralischen Gesetz. Sie sind also nicht Prädikate der Gesetzgebung bzw. Pflichtkonstitution selbst, sondern werden gewis-
[…].“ Gleichwohl kann es letztlich für die Frage, womit unsere Erkenntnis im Praktischen anhebt, dahingestellt bleiben, ob dieses Faktum der Vernunft m. E. mit der wohl herrschenden Meinung als Tatsache (d. h. als bewusste Evidenz bzw. Faktizität) oder als Tat (d. h. als eine Synthesisleistung der Vernunft; so etwa Willaschek 1991, erneut Willaschek 1992, S. 174– 193; i. E. ebenso Wolff 2009, S. 531– 534 und Buttermann 2011, S. 179 – 187) zu verstehen ist. KpV, AA V, S. 4, Fn. *.Vgl. auch KpV, AA V, S. 30 sowie hierzu Brandt 2007, S. 367; Düsing 2002, S. 231 und Beck 1995, S. 77 f. Vgl. so Kant selbst ausdrücklich in KpV, AA V, S. 42 f. Vgl. KpV, AA V, S. 47 sowie hierzu auch Paton 1962, S. 251 f. und Laschet 2011, S. 66 – 69. Die Unterscheidung von Legalität und Moralität kann bereits in den Vorlesungsmitschriften der Jahre 1784/85 festgestellt werden und ist mithin ein Theoriestück, das – entgegen Laschet 2011, S. 163 f. – deutlich älter als die zweite Kritik ist.Vgl. hierzu ausführlich Hirsch 2012a, S. 69 – 75 und S. 114. KpV, AA V, S. 71.
2.2 Der moralische Begriff des Rechts
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sermaßen ex post zur Beurteilung an die Pflichterfüllung herangetragen. Eine Handlung ist erst dann sittlich wertvoll, wenn der subjektive Bestimmungsgrund zur geschuldeten Handlung das Gesetz selbst ist. Im Falle bloßer Pflichtgemäßheit hat die Handlung bloß einen rechtlichen, einen legalen Wert.⁵⁷
2.2 Der moralische Begriff des Rechts Vor diesem Hintergrund ist die 1797 erschienene Metaphysik der Sitten diejenige Schrift, in der Kant die theoretische Fundierung seiner praktischen Philosophie in eine umfassende Sittenlehre übersetzt.⁵⁸ In deren erstem Teil, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, widmet sich Kant erstmals systematisch und umfassend der Rechtsphilosophie.⁵⁹ Für eine erste Bestimmung des moralischen Rechtsbegriffs sind dabei zunächst die beiden Einleitungen („Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ und „Einleitung in die Rechtslehre“) maßgeblich, da Kant hier eine Inhalts- und Gegenstandsbestimmung der Rechtslehre vornimmt.⁶⁰
2.2.1 Die systematische Verortung der Rechtslehre in der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ In der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“, welche Kant beiden Teilen der Metaphysik der Sitten allgemein voranstellt, bestimmt er als deren übergreifendes
Was hier als »legaler Wert« bezeichnet wird, nennt Kant selbst „moralische[n] U n w e r t h = 0“ im Gegensatz zu „Ve r d i e n s t (meritum) = +a“ und „Ve r s c h u l d u n g (demeritum) = –a“ (TL, AA VI, S. 390). Dabei handelt es sich nicht um eine sittlich gleichgültige Handlung (adiaphoron), sondern um eine pflichtgemäße Handlung, die nicht mit einer »moralisch guten« Triebfeder ausgeführt wird. Vgl. deutlich VA RL, AA XXIII, S. 247: „Der Tugend geziemt eine Belohnung, dem Laster eine Strafe. Die beobachtende Rechtspflicht ist a-a = 0.“ Vgl. ähnlich klassifizierend auch schon Moralphilosophie-Mrongovius II, AA XXIX, S. 615; Religion, AA VI, S. 22, Fn. * und MdS-Vigil, AA XXVII, S. 561. Vgl. hierzu schon oben S. 37. Paton 1962, S. 154 f. spricht daher von einem „moralischen Gesetzbuch“, welches zum Ziel hat, „ein System der Moralität auszuarbeiten oder zu zeigen, wie das oberste Prinzip sich im einzelnen […] darstellt“. Vgl. ebenso Laschet 2011, S. 80 und ferner mit Ausführungen zum zugrundeliegenden Metaphysikverständnis der Metaphysik der Sitten Gregor 1963, S. 1– 17. Vgl. zu weiteren für die Rechtsphilosophie einschlägigen Schriften oben S. 28. Da sich diese vorwiegend dem Öffentlichen Recht widmen, wird Kants Rechtsbegriff zunächst ausgehend von der Rechtslehre entwickelt. Eine detaillierte Untersuchung der beiden Einleitungen wurde von mir bereits in Hirsch 2012a, insb. S. 25 – 65 geleistet. Die folgende Darstellung entspricht dem im Wesentlichen.
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2 Der moralische Rechtsbegriff im Kontext von Kants praktischer Philosophie
Ziel die Darstellung eines Systems praktischer Prinzipien a priori, welche „die Freiheit der Willkür zum Objekte“⁶¹ haben.⁶² Es bedarf ihrer, da moralische Gesetze erfordern, dass „sie als a priori gegründet und notwendig e i n g e s e h e n werden können“.⁶³ Empirisch lassen sie sich nicht herleiten, da induktiv aus Erfahrung gewonnenen Regeln weder Notwendigkeit noch strenge Allgemeinheit zukommt.⁶⁴ Innerhalb der so bestimmten Metaphysik der Sitten unterscheidet Kant nun Rechts- und Tugendlehre und stellt dabei das Verhältnis von Recht und Ethik heraus.
2.2.1.1 Die Unterscheidung zwischen ethischer und juridischer Gesetzgebung Kant unterscheidet zu diesem Zwecke zwei Formen der Gesetzgebung, ethische und juridische Gesetzgebung: Zu aller Gesetzgebung […] gehören zwei Stücke: erstlich ein G e s e t z , welches die Handlung, die geschehen soll, o b j e c t i v als nothwendig vorstellt, d.i. welches die Handlung zur Pflicht macht, zweitens eine Triebfeder […]. Durch das erstere wird die Handlung als Pflicht vorgestellt, […] durch das zweite wird die Verbindlichkeit so zu handeln mit einem Bestimmungsgrunde der Willkür überhaupt im Subjecte verbunden. […] Diejenige [sc. Gesetzgebung], welche eine Handlung zur Pflicht und diese Pflicht zugleich zur Triebfeder macht, ist e t h i s c h . Diejenige aber, welche das Letztere nicht im Gesetze mit einschließt, mithin auch eine andere Triebfeder als die Idee der Pflicht selbst zuläßt, ist j u r i d i s c h .⁶⁵
Jede Gesetzgebung enthält zwei Elemente: Das erste ist das Gesetz, welches objektiv eine Handlungspflicht konstituiert. Das zweite ist die Triebfeder, welche den subjektiven Bestimmungsgrund der Willkür, gemäß dem Gesetz zu handeln, ausmacht (modern ausgedrückt, das Handlungsmotiv).⁶⁶ Willkür ist dabei bestimmt als das Begehrungsvermögen nach Begriffen, „[s]ofern es mit dem Bewußtsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objects ver RL, AA VI, S. 216. Vgl. zur grundlegenden Gegenstandsbestimmung der Metaphysik der Sitten AA VI, S. 214– 218 und hierzu Hirsch 2012a, S. 26 f. RL, AA VI, S. 215. Diese Begriffsbestimmung einer Metaphysik der Sitten erreicht Kant spätestens mit der Grundlegung (1785) und der Kritik der reinen Vernunft (1781). Vgl. zur vorherigen Begriffsverwendung bei Kant Wood 2002, S. 2– 4 und Siep 2000. Hierdurch wendet sich Kant gleichzeitig gegen ein Verständnis der Sittenlehre als Glückseligkeitslehre, da letztere notwendig empirisch ist (vgl. RL, AA VI, S. 215). Ebenso ist hierdurch die moralische Anthropologie als empirisches Gegenstück zur apriorischen Metaphysik der Sitten ausgewiesen. Vgl. auch Wood 1999, S. 22– 25. RL, AA VI, S. 218. Vgl. dazu Schwartz 2006, S. 16; ausführlich Köhl 1990, S. 62– 114 sowie zuletzt Schadow 2013b, S. 94– 96.
2.2 Der moralische Begriff des Rechts
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bunden ist“.⁶⁷ Willkür ist damit die Fähigkeit, eine Handlung zu tun oder zu lassen, bzw. die Fähigkeit, „das Handeln nach Maximen zu bestimmen“.⁶⁸ Rechtliche und ethische Gesetzgebung unterscheiden sich nun in Ansehung der Triebfeder, denn beide Gesetzgebungen konstituieren gleichermaßen eine Pflicht, d. h.verbinden objektiv zu einer Handlung. Jedoch konkretisiert allein die ethische Gesetzgebung die Triebfeder und erfordert ein Handeln aus Pflicht.⁶⁹ Die juridische Gesetzgebung hingegen lässt die Triebfeder unbestimmt und erklärt neben der Idee der Pflicht auch andere Triebfedern für zulässig.⁷⁰ Gleichzeitig geht mit dieser Unterscheidung die Differenzierung zwischen Legalität und Moralität hinsichtlich der Beurteilung von Handlungen einher. Denn Legalität ist „die bloße Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze, ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben“. Moralität erfordert überdies, dass „die Idee der Pflicht aus dem Gesetze zugleich die Triebfeder der Handlung ist“.⁷¹ Beide Gesetzgebungen unterscheiden sich außerdem im Hinblick auf das Verhältnis des Gesetzgebers (d. h. desjenigen, der Urheber der Verbindlichkeit ist)⁷² zum Verpflichteten. Lediglich die juridische Gesetzgebung kann eine äußere sein, bei der Gesetzgeber und Verpflichteter nicht identisch sein müssen, d. h. ein
RL, AA VI, S. 213. Geismann 2006, S. 11. Vgl. zum Handeln aus Pflicht auch oben S. 43 und S. 48 f. Damit kommen für die juridische Gesetzgebung zwei mögliche Triebfedern in Betracht. Dies sind zum einen die Idee der Pflicht selbst, zum anderen pathologische Bestimmungsgründe der Willkür. „Diejenige [sc. Gesetzgebung] aber, welche das Letztere nicht im Gesetze mit einschließt, mithin auch eine andere Triebfeder als die Idee der Pflicht selbst, zuläßt ist j u r i d i s c h . Man sieht in Ansehung der letzteren leicht ein, daß diese von der Idee der Pflicht unterschiedene Triebfeder von den p a t h o l o g i s c h e n Bestimmungsgründen der Willkür, den Neigungen und Abneigungen, und unter diesen von denen der letzteren Art hergenommen sein müsse, weil es eine Gesetzgebung, welche nötigend […] sein soll.“ (RL, AA VI, S. 219, kursive Hervorhebung P.-A. H.). Deutlich hat Kant bei der juridischen Gesetzgebung Furcht vor Strafe bzw. Gewalt durch andere vor Augen. Denn die rechtliche Gesetzgebung „[kann] nur äußere [sc. Triebfedern] mit dem Gesetze verbinden“ (ebd., S. 219). Der Begriff einer äußeren Triebfeder bzw. eines äußeren Bestimmungsgrundes scheint eine contradictio in adiecto zu sein, da die freie Willkür als die Fähigkeit, eine Handlung nach Belieben zu tun oder zu lassen, eigentlich nur innere Bestimmungsgründe zulässt. Mit äußeren Triebfedern meint Kant daher, freiwillig auf eine erwogene Handlung zu verzichten, um negative Nebenfolgen, die andere (insofern äußerlich) im Falle der Handlung in Aussicht gestellt haben, zu vermeiden. Vgl. ebenso Scholz 1972, S. 57 mit Fn. 1). RL, AA VI, S. 219. Ludwig 1988, S. 90 bestimmt daher die moralischen Handlungen als eine „Teilklasse der legalen Handlungen“. „Legal ist jede Befolgung der moralischen Gesetze, moralisch ihre Befolgung, sofern sie darüber hinaus aus Pflicht geschieht.“ Vgl. hierzu schon oben S. 48 f. Vgl. RL, AA VI, S. 227: „Der Gebietende (imperans) durch ein Gesetz ist der G e s e t z g e b e r (legislator). Er ist Urheber (autor) der Verbindlichkeit nach dem Gesetze, aber nicht immer Urheber des Gesetzes.“ Vgl. dazu ausführlich unten S. 125 – 129.
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2 Der moralische Rechtsbegriff im Kontext von Kants praktischer Philosophie
äußerer bzw. anderer Gesetzgeber in Betracht kommen kann. Umgekehrt verlangt die ethische Gesetzgebung stets eine Bestimmung zur Pflicht durch das verpflichtete Subjekt selbst und ist daher nur als innere denkbar.⁷³ Ferner kann die juridische Gesetzgebung auch nur äußere Handlungen⁷⁴ zur Pflicht machen, da innere Handlungen äußerlich nicht abgenötigt werden können.⁷⁵ Während also rechtliche Gesetzgebung ausschließlich „äußere Pflichten (Verbindlichkeiten zu äußeren Handlungen)“⁷⁶ zum Gegenstand hat,⁷⁷ bezieht sich ethische Gesetzgebung umgekehrt „auf alles, was Pflicht ist, überhaupt“⁷⁸ und damit gleichermaßen auf innere und äußere Pflichten. Hieran knüpft sich auch Kants weitere Unterscheidung zwischen direktethischen und indirekt-ethischen Pflichten an. Letztere sind „Pflichten, die auf einer anderen, nämlich äußeren Gesetzgebung beruhen,“ welche aber die ethische Gesetzgebung „als P f l i c h t e n in ihre Gesetzgebung zu Triebfedern auf-
Vgl. RL, AAVI, S. 220: „Die ethische Gesetzgebung (die Pflichten mögen allenfalls auch äußere sein) ist diejenige, welche nicht äußerlich sein kann; die juridische ist, welche auch äußerlich sein kann. […] Also […] weil die Gesetzgebung […] eine innere ist und keinen äußeren Gesetzgeber haben kann, wird die Verbindlichkeit zur Ethik gezählt.“ Vgl. im Grundsatz ähnlich Schadow 2013b, S. 99 und von meiner Seite eingehend unten S. 125 – 132. Äußere Handlungen sind Gegenstand der äußeren Wahrnehmung (z. B. körperliche Bewegungen). Diese können in Raum und Zeit angeschaut werden, während innere Handlungen (z. B. Zwecksetzungen) nur in der Zeit angeschaut werden können. Denn Handlungen wie „B e g e h r e n“ und „D e n k e n“ gehören als „innere Thätigkeit[en] […] gar nicht zu den Vorstellungen äußerer Sinne“ (MAN, AA IV, S. 544), sondern sind nur durch den inneren Sinn erkennbar. Daher können „äußere Handlungen […] äußerlich bekannt werden,“ wohingegen „die inneren Handlungen […] nur vom Handelnden selbst beurtheilt werden können“ (MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 572 f.). Vgl. ähnlich statt vieler Allgemeine Naturgeschichte, AA I, S. 355; Spitzfindigkeit, AA II, S. 602, Fn. *; Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg. von Werner Stark, S. 101 f.; KpV, AA V, S. 96 und S. 99; RL, AA VI, S. 232– 235. Dies entspricht dem damals gängigen Verständnis, wie aus gleichlautenden Bestimmungen Wolffs, Baumgartens und Achenwalls hervorgeht (vgl. dazu die Nachweise bei Scholz 1972, S. 31 mit Fn. 1) und 2)). Auch die ersten Kommentatoren der Rechtslehre sprechen von „äußeren, in die Sinne fallenden, Handlungen“ (Tieftrunk 1797, S. 44) und grenzen äußere „Handlungen, welche unter der Form des Raums erscheinen“ von inneren Handlungen ab, die nur „unter der Form der Zeit erscheinen“ (Stephani 1797, S. 10 f.). Vgl. dazu auch Scholz 1972, S. 31– 35 und Ludwig 1988, S. 36 f.; jedoch kritisch demgegenüber Pfordten 2009b und Kalscheuer 2014, S. 67– 73. z. B. sind subjektive Triebfederbestimmungen und Zwecksetzungen als innere Handlungen äußerlich nicht erzwingbar. Vgl. TL, AA VI, S. 381 und auch Scholz 1972, S. 12– 14. RL, AA VI, S. 220. RL, AA VI, S. 219: „Die Pflichten nach der rechtlichen Gesetzgebung können nur äußere Pflichten sein, weil diese Gesetzgebung nicht verlangt, daß die Idee dieser Pflicht, welche innerlich ist, für sich selbst Bestimmungsgrund der Willkür des Handelnden sei […].“ RL, AA VI, S. 219.
2.2 Der moralische Begriff des Rechts
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nimmt. […] So giebt es also zwar viele d i r e c t - e t h i s c h e Pflichten, aber die innere Gesetzgebung macht auch die übrigen alle und insgesammt zu indirectethischen.“⁷⁹
2.2.1.2 Die Unterscheidung zwischen Rechts- und Tugendpflichten Neben der Differenzierung zwischen ethischer und juridischer Gesetzgebung nimmt Kant eine Einteilung der Pflichten in Rechts- und Tugendpflichten vor:⁸⁰ Alle Pflichten sind entweder R e c h t s p f l i c h t e n (officia iuris), d.i. solche, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist, oder T u g e n d p f l i c h t e n (officia virtutis s. ethica), für welche eine solche nicht möglich ist; – die letztern können aber darum nur keiner äußeren Gesetzgebung unterworfen werden, weil sie auf einen Z w e c k gehen, der (oder welchen zu haben) zugleich Pflicht ist; sich aber einen Zweck vorzusetzen, das kann durch keine äußerliche Gesetzgebung bewirkt werden (weil es ein innerer Act des Gemüths ist) […].⁸¹
Tugendpflichten sind nicht Gegenstand äußerer Gesetzgebung, da es an der Möglichkeit äußeren Zwangs fehlt. Der Grund hierfür ist, dass Tugendpflichten eine vernunftbestimmte Zwecksetzung verlangen, man jedoch „nie […] e i n e n Z w e c k z u h a b e n von anderen gezwungen werden [kann]“.⁸² „Die Tugendpflicht ist von der Rechtspflicht wesentlich darin unterschieden: daß zu dieser ein äußerer Zwang moralisch-möglich ist, jene aber auf dem freien Selbstzwange allein beruht.“⁸³ Der Sache nach⁸⁴ hat Kant mit dieser Unterscheidung gleichzeitig Rechtspflichten als vollkommene Pflichten im Gegensatz zu Tugendpflichten als
RL, AA VI, S. 219 – 221.Vgl. auch Wood 1999, S. 37 und Ludwig 1988, S. 88 f. sowie zum Ganzen Hirsch 2012a, S. 30 f. Vgl. den Abschnitt „Einteilung der Metaphysik der Sitten überhaupt“, RL, AA VI, S. 239 – 241. Dieser Abschnitt findet sich in der Original-Ausgabe nach der „Einleitung in die Rechtslehre“, wird aber von Ludwig 1988, S. 49 – 59 im Anschluss an die „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ gesetzt. Da der Abschnitt eine grundsätzliche Verhältnisbestimmung von Rechts- und Tugendlehre enthält, wird er vorliegend schon hier behandelt. Vgl. aber kritisch unten Kap. 4, Fn. 88. RL, AA VI, S. 239. TL, AA VI, S. 381. TL, AA VI, S. 383. Insofern sind die beiden Einteilungen (Rechts-/Tugendpflicht bzw. rechtliche/ethische Gesetzgebung) zu einem gewissen Grad extensional deckungsgleich, insofern sie jeweils über die Möglichkeit äußeren Zwangs erfolgen: Bei der ethischen Gesetzgebung kann die subjektive Triebfederbestimmung nicht erzwungen werden. Ebenso können bei Tugendpflichten die Zwecksetzungen äußerlich nicht abgenötigt werden, da sie „auf dem freien Selbstzwange allein“ beruhen. Vgl. zu dieser Thematik eingehend unten S. 117– 133. Wörtlich taucht die begriffliche Unterscheidung erst im Schaubild unter der Überschrift „E i n t h e i l u n g nach dem objectiven Verhältnis des Gesetzes zur Pflicht“ auf. Vgl. RL, AA VI, S. 240 und dazu unten Kap. 3, Fn. 82.
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2 Der moralische Rechtsbegriff im Kontext von Kants praktischer Philosophie
unvollkommenen Pflichten ausgewiesen. Denn insofern Tugendpflichten primär eine bestimmte Zwecksetzung fordern, kann nicht a priori und mit Bestimmtheit angegeben werden, welche Handlung zur Umsetzung des vernunftbestimmten Zweckes erforderlich ist.⁸⁵ Rechtspflichten hingegen enthalten eine unmittelbare, gesetzliche Bestimmung der geschuldeten Handlung, die daher a priori feststeht. Folglich sind Tugendpflichten im Gegensatz zu Rechtspflichten von weiter Verbindlichkeit, d. h. unvollkommene Pflichten.⁸⁶ Bereits aus diesem Grund können sie nicht äußerlich erzwungen werden.⁸⁷ Neben der Unterscheidung zwischen Rechts- und Tugendpflichten differenziert Kant sodann zwischen Pflichten gegen sich selbst und gegen andere. Rechtspflichten gegen andere korrespondiert das „Recht der Menschen“, Rechtspflichten gegen sich selbst „das Recht der Menschheit in unserer Person“. Umgekehrt beziehen sich Tugendpflichten gegen andere auf den „Zweck der Menschen“, Tugendpflichten gegen sich selbst auf den „Zweck der Menschheit in unserer Person“.⁸⁸
2.2.2 Der Kantische Rechtsbegriff in der „Einleitung in die Rechtslehre“ Ausgehend von der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ entwickelt Kant in der anschließenden „Einleitung in die Rechtslehre“ den moralischen Begriff des Rechts, welcher den Kern seiner Rechtsphilosophie bildet. Den Ausgangspunkt
Letzteres ist für Kant keine moralische, sondern eine bloße Klugheitsfrage. Vgl. TL, AA VI, S. 433 und VA TL, AA XXIII, S. 394 sowie hierzu Schadow 2013b, S. 106. Vgl. zum Ganzen TL, AAVI, S. 388 – 390 und ebd., S. 390: „D i e e t h i s c h e n P f l i c h t e n s i n d v o n w e i t e r , d a g e g e n d i e R e c h t s p f l i c h t e n v o n e n g e r Ve r b i n d l i c h k e i t . Dieser Satz ist eine Folge aus dem vorigen; denn wenn das Gesetz nur die Maxime der Handlungen, nicht die Handlungen selbst gebieten kann, so ists ein Zeichen, daß es der Befolgung (Observanz) einen Spielraum (latitudo) für die freie Willkür überlasse, d.i. nicht bestimmt angeben könne, wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden solle. […] Die unvollkommenen Pflichten sind also allein T u g e n d p f l i c h t e n .“ Vgl. ebenso VA TL, AA XXIII, S. 391. Unabhängig von der Frage, ob äußerer Zwang zur Pflichterfüllung praktisch zulässig ist, ist die theoretische Möglichkeit äußerer Zwangshandlungen von der apriorischen Bestimmbarkeit der geschuldeten Handlung abhängig.Vgl. ebenso Ludwig 1988, S. 91; Kersting 1984, S. 84 f. und Nance 2013, S. 881 f.; kritisch jedoch O’Neill 2016, S. 117– 119. Vgl. RL, AA VI, S. 239 f. Dort betrachtet Kant den Menschen zum einen „nach seiner M e n s c h h e i t , als von physischen Bestimmungen unabhängiger Persönlichkeit, (homo noumenon)“ und zum anderen „als mit jenen Bestimmungen behafteten Subject, dem M e n s c h e n (homo phaenomenon)“. Dies ermöglicht ihm eine zweifache Betrachtung der Tugend- und Rechtspflichten, einmal gegen sich selbst und einmal gegen andere. Vgl. dazu auch unten S. 175 – 182.
2.2 Der moralische Begriff des Rechts
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bildet in § A die Unterscheidung zwischen natürlichem und positivem Recht. „Der Inbegriff der Gesetze, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist, heißt die R e c h t s l e h r e (Ius). Ist eine solche Gesetzgebung wirklich, so ist sie Lehre des p o s i t i v e n R e c h t s […].“ Die natürliche Rechtslehre liegt nun der positiven zugrunde, insofern sie „zu aller positiven Gesetzgebung die unwandelbaren Principien hergeben muß.“⁸⁹
2.2.2.1 Moralischer Rechtsbegriff In § B wird nun der moralische Rechtsbegriff als apriorisches Kriterium zur Beurteilung des positiven Rechts eingeführt.⁹⁰ Er ist damit Ausdruck der natürlichen Rechtslehre, welche daher nach Kant einer jeden positiven Gesetzgebung vorhergehen muss.⁹¹ Kant bestimmt den moralischen Rechtsbegriff nun anhand dreier Eigenschaften⁹² des Rechts, welche die Intension des Rechtsbegriffs ausmachen. Recht betrifft danach: – das äußere praktische Verhältnis einer Mehrzahl von Personen, sofern sich ihre Handlungen wechselseitig beeinflussen. – das Verhältnis der eigenen Willkür zur Willkür (und nicht zum bloßen Wunsch) des anderen. – nur die Form im beiderseitigen Verhältnis der Willkür. Der Begriff des Rechts, sofern er sich auf eine ihm correspondirende Verbindlichkeit bezieht, (d.i. der moralische Begriff desselben) betrifft e r s t l i c h nur das äußere und zwar praktische Verhältniß einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluß haben können.⁹³
RL, AA VI, S. 229. Rechtslehre bedeutet dabei nicht Rechtswissenschaft, sondern das Recht selbst, vgl. Scholz 1972, S. 4 und Höffe 1999a, S. 41 f. Der moralische Begriff des Rechts ist „das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen“ kann (RL, AA VI, S. 229). Positives Recht hat nach Kant nur dadurch moralische Verbindlichkeit, dass das natürliche Recht den Gesetzgeber autorisiert. Vgl. RL, AA VI, S. 224: „[D]iejenigen [sc. Gesetze] dagegen, die ohne wirkliche äußere Gesetzgebung gar nicht verbinden (also ohne die letztere nicht Gesetze sein würden), heißen p o s i t i v e Gesetze. Es kann also eine äußere Gesetzgebung gedacht werden, die lauter positive Gesetze enthielte; alsdann aber müßte doch ein natürliches Gesetz vorausgehen, welches die Autorität des Gesetzgebers (d.i. die Befugniß, durch seine bloße Willkür andere zu verbinden) begründete.“ Kersting 2004, S. 14 und Höffe 1999a, S. 46 – 52 sprechen vom „Anwendungsbereich“ bzw. von den „Anwendungsbedingungen“. RL, AA VI, S. 230. Im Original steht bei Kant „der moralische Begriff derselben“. Wie jedoch Natorp zutreffend mit einer Konjunktur anmerkt, muss es „der moralische Begriff desselben“ heißen, denn ein moralischer Begriff einer Verbindlichkeit (worauf sich „derselben“ allenfalls
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2 Der moralische Rechtsbegriff im Kontext von Kants praktischer Philosophie
Nach dieser ersten Bestimmung bezieht sich Recht auf das reziproke Verhältnis mehrerer Personen, die durch ihre Handlungen interagieren. Das Recht regelt somit die Koexistenz in der empirischen Welt, stellt also auf potentielle Handlungskonflikte in Raum und Zeit ab. Denn bei Verhältnissen, die nur in der Zeit oder gar in einer intelligiblen Welt sind, fehlt von vornherein die Möglichkeit einer wechselseitigen Beeinflussung durch Handlungen.⁹⁴ Interpretatorisch bedeutsam ist an dieser Stelle vor allem aber Kants Rede von facta und Personen. Ein factum ist laut Kant […] eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht, folglich auch sofern das Subject in derselben nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird. Der Handelnde wird durch einen solchen Act als U r h e b e r der Wirkung betrachtet, und diese zusammt der Handlung selbst können ihm z u g e r e c h n e t werden […].⁹⁵
Entsprechend bestimmt Kant Personen als Wesen, deren „Handlungen einer Z u r e c h n u n g fähig sind. Die m o r a l i s c h e Persönlichkeit ist also nichts anderes, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen“.⁹⁶ Bereits durch diese Definitionen von factum und Person bringt Kant zum Ausdruck, dass es beim Recht um freiverantwortliche Handlungen der Rechtssubjekte
beziehen könnte) ist tautologisch. Es kann bei Kant (anders als etwa Baum 2004, S. 29 behauptet) keine nicht-moralischen Verbindlichkeiten geben. Vgl. so auch Ludwig 1988, S. 86 f. In Teilen der Sekundärliteratur wird darüber hinausgehend diskutiert, ob dem Recht das Problem des Zusammenlebens in räumlich begrenzter Außenwelt zugrundeliegt (so etwa Brandt 1982, S. 270; Kersting 2004, S. 14 und 17 sowie Höffe 1982, S. 346 f. und insb. Höffe 1999a, S. 50) oder ob der Rechtsbegriff eher vor dem Hintergrund der intelligiblen Welt und des Reichs der Zwecke zu interpretieren ist (so Malibabo 2000, S. 124– 126 und Deggau 1983, S. 28 f. und 59). Allerdings taucht die Problematik der räumlich begrenzten Außenwelt bei Kant erstmals in § 13 (und später in §§ 43, 62) der Rechtslehre auf, sodass die Frage der räumlichen Begrenzung in § B noch nicht konstitutiv ist. Auch auf die Frage, ob das Recht bei Kant von der Idee des Reichs der Zwecke her begründet ist, findet sich in § B noch kein textlicher Hinweis. Mit Sicherheit kann hier nur gesagt werden, dass es Kant beim Recht um Verhältnisse in Raum und Zeit geht. Dies steht auch im Einklang mit Kants vorheriger Bestimmung in der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“, dass die juridische Gesetzgebung nur äußere, in Raum und Zeit anschaubare Handlungen zum Gegenstand hat.Vgl. auch oben S. 52 mit Fn. 74.Vgl. zum Ganzen von meiner Seite bereits Hirsch 2012a, S. 36 f. sowie zu dieser Thematik eingehend unten S. 159 – 164 sowie S. 227– 233. RL, AA VI, S. 223. RL, AA VI, S. 223. Nur Vernunftwesen, d. h. autonome Wesen mit reiner praktischer Vernunft, sind Personen im Kantischen Sinne und als solche Subjekte moralischer Gesetze (Rechte und Pflichten). Vgl. zum Begriff des Vernunftwesens bereits oben Kap. 2, Fn. 26. Vgl. außerdem ausführlich zur Bedeutung der Personalität der Rechtssubjekte für das richtige Verständnis der Kantischen Rechtsphilosophie unten S. 75 – 77 sowie S. 154– 158 mit Fn. 320.
2.2 Der moralische Begriff des Rechts
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geht, welche diesen zugerechnet werden können.⁹⁷ Ohne Freiheit ist – wie Kant an anderer Stelle ausführt – „kein moralisch[es] Gesetz, keine Zurechnung nach demselben möglich“.⁹⁸ Insofern Recht also zurechnungsfähige Akteure bzw. zurechenbare Handlungen präsupponiert, folgt bei genauer Betrachtung bereits hieraus, dass „Gegenstand rechtlicher Beurteilung […] nur freiheitskausale Auswirkungen auf andere sein [können]“.⁹⁹ Mit der zweiten Bestimmung des Rechtsbegriffs schränkt Kant das Recht ausschließlich auf das wechselseitige Willkürverhältnis ein: Aber z w e i t e n s bedeutet er nicht das Verhältniß der Willkür auf den Wu n s c h (folglich auch auf das bloße Bedürfniß) des Anderen, wie etwa in den Handlungen der Wohlthätigkeit oder Hartherzigkeit, sondern lediglich auf die W i l l k ü r des Anderen.¹⁰⁰
Willkür ist die Fähigkeit, eine Handlung zu tun oder zu unterlassen.¹⁰¹ Ist das Begehrungsvermögen jedoch nicht „zur Hervorbringung des [sc. begehrten] Objects“ in der Lage, „so heißt der Actus desselben ein Wu n s c h“ .¹⁰² Indem Kant Wünsche ausklammert und den Rechtsbegriff auf das wechselseitige Willkürverhältnis beschränkt, präzisiert er zum einen die erste Eigenschaft des moralischen Rechtsbegriffs: Recht bezieht sich nur auf facta und damit auf potentiell konfligierende Handlungen im Raum.¹⁰³ Zum anderen zieht Kant hierdurch eine erste Trennlinie zwischen Rechts- und Tugendpflichten:Weil bloße Wünsche rechtlich irrelevant sind, schließt Kant Handlungen der Wohltätigkeit aus dem Recht aus, welche eben auf die
Vgl. zum Begriff der Zurechnung RL, AA VI, S. 227: „Z u r e c h n u n g (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das U r t h e i l , wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann That (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird […].“ Vgl. eingehend zur Zurechnung später S. 388 f. KpV, AA V, S. 97. Kersting 2004, S. 14. Vgl. ebenso Scholz 1972, S. 18 19 f. Dies sei hier nur im Vorgriff auf die spätere, eingehende Behandlung dieser zentralen Problematik gesagt. Vgl. unten S. 139 – 147. RL, AA VI, S. 230. Vgl. zum Willkürbegriff bereits oben S. 50 f. und eingehend unten S. 139 – 142. In den Willkürbegriff als solchen spielt dabei noch nicht hinein, was der bestimmende Grund der Willkür ist. RL, AA VI, S. 213. Vgl. auch Anthropologie, AA VII, S. 251: „Das Begehren ohne Kraftanwendung zu Hervorbringung des Objects ist der Wu n s c h .“ Vgl. auch Schwartz 2006, S. 13. Interessen und Bedürfnisse anderer Personen schränken nicht das äußerliche Handlungsvermögen ein.Wünsche verbleiben im Inneren, sodass die Rechtsproblematik der wechselseitigen Beeinflussung von Personen durch ihre Handlungen gar nicht aufgeworfen wird. Vgl. auch Kersting 2004, S. 14 15 f. und Ludwig 1988, S. 93.
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Wünsche und Bedürfnisse anderer Rücksicht nehmen. Diese werden dadurch ausschließlicher Gegenstand der Tugendpflichten gegen andere.¹⁰⁴ Durch die dritte Eigenschaft des Rechtsbegriffs begrenzt Kant das Recht schließlich auf die allgemeingesetzliche Form im beiderseitigen Willkürverhältnis: D r i t t e n s , in diesem wechselseitigen Verhältniß der Willkür kommt auch gar nicht die M a t e r i e der Willkür, d.i. der Zweck, den ein jeder mit dem Object, was er will, zur Absicht hat, in Betrachtung, z. B. es wird nicht gefragt, ob jemand bei der Waare, die er zu seinem eigenen Handel von mir kauft, auch seinen Vortheil finden möge, oder nicht, sondern nur nach der F o r m im Verhältniß der beiderseitigen Willkür, sofern sie bloß als f r e i betrachtet wird, und ob durch die Handlung eines von beiden sich mit der Freiheit des andern nach einem allgemeinen Gesetze zusammen vereinigen lasse.¹⁰⁵
Bei genauer Betrachtung nimmt Kant hier mehrere Bestimmungen vor: Zunächst kommt es beim Recht auf die Allgemeingesetzlichkeit des wechselseitigen Willkürverhältnisses an, also nicht auf die Wahrung der Willkürfreiheit des anderen absolut betrachtet.¹⁰⁶ Außerdem wird erstmals in der „Einleitung in die Rechtslehre“ deutlich, dass es Kant beim Recht nur um die freie Willkür geht.¹⁰⁷ Schließlich bezieht Kant das Recht allein auf die formelle Vereinbarkeit der beiderseitigen Willkür und abstrahiert somit von allen Handlungszwecken. Der Handlungszweck, als die Materie bzw. der
Vgl. TL, AAVI, S. 393 f. und S. 448 – 468 sowie hierzu eingehend unten S. 83 – 85 mit Fn. 72 und S. 88 mit Fn. 80. Möglicher Grund für den Ausschluss von Wohltätigkeit und bloßer Bedürfniserfüllung aus dem Recht könnte Kants Versuch sein, sich hiermit gegenüber anderen Rechtsbegründungsversuchen seiner Zeit, wie utilitaristischen Rechtstheorien und klassischen Naturrechtslehren, abzugrenzen. Gleichzeitig lehnt er somit implizit einen Sozial- und Wohlfahrtsstaat größtenteils ab. Vgl. zum Ganzen m. w. N. Hirsch 2012a, S. 45 f. RL, AA VI, S. 230. Käme es auf die Wahrung der absoluten Willkürfreiheit an, wäre jede Handlung, die gegenüber anderen freiheitseinschränkend wirkt, per se unrechtmäßig. Vgl. so schon auch Hirsch 2012a, S. 47; Kersting 1984, S. 5 und Scholz 1972, S. 25 f. Vgl. Kants Bestimmung in RL, AA VI, S. 230: „sofern sie bloß als f r e i betrachtet wird“. Die Freiheit der Willkür ist in Erweiterung des allgemeinen Willkürbegriffs (vgl. oben S. 50 f. m. w. N.) das Vermögen, eine Handlung nach Belieben tun und lassen zu können. Recht bezieht sich also nach Kant ausschließlich auf die freie Willkür. Daher werden von mir im Folgenden die Begriffe Willkür, (äußere) Freiheit, Willkürfreiheit im rechtlichen Kontext in diesem Sinne und weitgehend synonym verwandt. Welchen Freiheitsbegriff Kant im Einzelnen bei der Freiheit der Willkür zugrunde legt, kann vorläufig für die gegenwärtige Erläuterung des Kantischen Rechtsbegriffs dahingestellt bleiben. Vgl. dazu die spätere, ausführliche Behandlung, unten S. 139 – 147.
2.2 Der moralische Begriff des Rechts
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Gegenstand der Willkür,¹⁰⁸ ist rechtlich irrelevant.¹⁰⁹ Hierdurch grenzt Kant Rechtsgegenüber den Tugendpflichten ab: Während das Recht bloß auf die „f o r m a l e Bedingung der äußeren Freiheit (durch die Zusammenstimmung mit sich selbst,wenn ihre Maxime zum allgemeinen Gesetz gemacht wurde)“ abstellt, richten sich Tugendpflichten auf „eine M a t e r i e (einen Gegenstand der freien Willkür), einen Z w e c k der reinen Vernunft, der zugleich als objectiv-nothwendiger Zweck, d. i. für den Menschen als Pflicht, vorgestellt wird“.¹¹⁰ Diese Unterscheidung ist vor allem deswegen relevant, weil beim Recht erst durch die Abstraktion von den Handlungszwecken die Möglichkeit äußerer Gesetzgebung und Erzwingbarkeit von Rechtspflichten eröffnet wird.¹¹¹ Die drei genannten Eigenschaften des moralischen Rechtsbegriffs bringt Kant dann abschließend in § B auf eine Formel: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“¹¹²
2.2.2.2 Allgemeines Rechtsprinzip und allgemeines Rechtsgesetz In § C entwickelt Kant hieraus das allgemeine Rechtsprinzip,welches letztlich einen dem moralischen Rechtsbegriff entsprechenden subjektiven Handlungsmaßstab einführt:¹¹³ „»Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.«“¹¹⁴ Unrecht handelt folglich derjenige, „der mich daran [sc. an einem allgemeingesetzlich vertretbaren Freiheitsgebrauch] hindert; denn dieses Hinderniß (dieser Widerstand) kann mit der Freiheit nach Nach TL, AA VI, S. 381 ist ein „Z w e c k […] ein Gegenstand der Willkür (eines vernünftigen Wesens), durch dessen Vorstellung diese zu einer Handlung diesen Gegenstand hervorzubringen bestimmt wird.“ In Gemeinspruch, AA VIII, S. 289 führt Kant hinsichtlich des Rechts weitergehend aus, dass der allen Menschen von Natur aus gemeinsame Handlungszweck die eigene Glückseligkeit ist: „Der Begriff aber eines äußeren Rechts überhaupt geht gänzlich aus dem Begriffe der F r e i h e i t im äußeren Verhältnisse der Menschen zu einander hervor und hat gar nichts mit dem Zwecke, den alle Menschen natürlicher Weise haben (der Absicht auf Glückseligkeit), und der Vorschrift der Mittel dazu zu gelangen zu thun: so daß auch daher dieser letztere sich in jenes Gesetze schlechterdings nicht als Bestimmungsgrund derselben mischen muß.“ Vgl. ebenso stellvertretend für viele Höffe 1999a, S. 51 f. und Kersting 2004, S. 15. TL, AA VI, S. 380. Vgl. erneut TL, AA VI, S. 380 sowie Ludwig 1988, S. 93 und oben S. 52– 54 m. w. N. RL, AA VI, S. 230. Vgl. auch Höffe 1999a, S. 54: „Das Rechtsprinzip gibt den moralischen Maßstab für subjektive Ansprüche ab: für die Gesamtheit der Handlungen, zu denen man nach dem objektiven Recht berechtigt ist.“ RL, AA VI, S. 230.
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allgemeinen Gesetzen nicht bestehen.“¹¹⁵ Damit beschränkt Kant das Recht allein auf die rein tatsächliche Wahrung eines allgemeingesetzlich vertretbaren Freiheitsgebrauchs.¹¹⁶ Dieses verlangt gerade nicht, dass […] [sc. das Rechtshandeln] selbst wiederum meine Maxime sei […]; denn ein jeder kann frei sein, obgleich seine Freiheit mir gänzlich indifferent wäre, oder ich im Herzen derselben gerne Abbruch thun möchte, wenn ich nur durch meine ä u ß e r e H a n d l u n g ihr nicht Eintrag thue.¹¹⁷
Rechtsgebote verzichten – im Gegensatz zur Ethik – auf jede vernunftbestimmte, besondere Zwecksetzung bzw. Triebfederbestimmung durch reine Vernunft.¹¹⁸ Sie stellen nur Anforderungen an die Kompatibilität des äußeren Freiheitsgebrauchs, weil Recht als Inbegriff der Gesetze einer möglichen äußeren Gesetzgebung¹¹⁹ notwendigerweise gegenüber der subjektiven Zwecksetzung des Einzelnen bzw. seinem Handlungsmotiv indifferent sein muss.¹²⁰ Nur deswegen kann Recht grundsätzlich erzwingbar sein.¹²¹ Mit dem anschließenden allgemeinen Rechtsgesetz stellt Kant in § C sodann das allgemeine Prinzip des Rechts in imperativischer Form vor: Also ist das allgemeine Rechtsgesetz: handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne, zwar ein Gesetz, welches mir eine Verbindlichkeit auferlegt, aber ganz und gar nicht
RL, AA VI, S. 230. Vgl. hierzu Scholz 1972, S. 30 – 36 und Hirsch 2012a, S. 48 f. Kant spricht sich damit gleichzeitig gegen eine Gesinnungsjurisprudenz aus. RL, AA VI, S. 231. „Das Rechthandeln mir zur Maxime zu machen, ist eine Forderung, die die Ethik an mich thut.“ (RL, AA VI, S. 231). Vgl. oben S. 54 f. Vernunftbestimmte Zwecksetzung und Triebfederbestimmung durch reine Vernunft sind jedoch keineswegs gleichbedeutend. Während die Triebfeder der subjektive Bestimmungsgrund der Willkür ist, ist der Zweck der Gegenstand der Willkür, als dass „sein Vorgestelltsein Ursache seiner Wirklichkeit“ ist (Scholz 1972, S. 22, s. auch KdU, AA V, S. 180). Vgl. auch die dies wiedergebende Differenzierung Kants zwischen ethischen Pflichten und Tugendpflichten in TL, AA VI, S. 383. Lediglich in Anbetracht des allgemeinen Rechtsprinzips ist diese Unterscheidung irrelevant, weil das Recht als Gegenstand äußerer Gesetzgebung von vernunftbestimmter Zwecksetzung bzw. Triebfederbestimmung durch reine Vernunft gleichermaßen abstrahiert. – Vgl. zur weiteren Unterscheidung von Zweck als Gegenstand der Willkür, Zweck als objektivem Bestimmungsgrund der Willkür und Triebfeder als subjektivem Bestimmungsgrund der Willkür VA TL, AA XXIII, S. 389 sowie auch Ricken 2000, S. 236 f.; Köhl 1990, S. 80 – 82 und Hirsch 2012a, S. 49 mit Fn. 263 m. w. N. Vgl. zum Ganzen auch oben S. 51 f.
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erwartet, noch weniger fordert, daß ich ganz um dieser Verbindlichkeit willen meine Freiheit auf jene Bedingungen s e l b s t einschränken s o l l e sondern die Vernunft sagt nur, daß sie in ihrer Idee darauf eingeschränkt s e i und von andern auch thätlich eingeschränkt werden dürfe […].¹²²
Das allgemeine Rechtsgesetz ist demzufolge ein kategorischer Imperativ,¹²³ welcher das Gebot aufstellt, im Sinne des allgemeinen Rechtsprinzips recht zu handeln. Bei genauer Betrachtung birgt es darüber hinaus in nuce bereits die Zwangsbefugnis beim Recht, insofern die Freiheit laut Kant „in ihrer Idee darauf [sc. die allgemeingesetzliche Vereinbarkeit] eingeschränkt s e i und von andern auch thätlich eingeschränkt werden dürfe“. Hiernach sind Handlungen, die dem allgemeinen Gesetz der Freiheit widerstreiten, rechtlich nicht mehr geschützt (d. h. unrecht). Sie dürfen daher von anderen tätlich verhindert werden, insoweit dies die Vereinbarkeit mit einem allgemeinen Gesetz der Freiheit wiederherstellt.¹²⁴
2.2.2.3 Recht und Zwangsbefugnis Angesichts dessen erscheint Kants ausführliche Begründung der Zwangsbefugnis über den Satz vom Widerspruch in § D der „Einleitung in die Rechtslehre“ im Grunde genommen überflüssig:¹²⁵
RL, AA VI, S. 231. Diese Interpretation ist in der Kant-Forschung bisweilen noch umstritten. Teilweise wird dem Rechtsgesetz der imperativische Charakter aberkannt, da es keine Handlungsaufforderung enthalte, sondern lediglich den Rechtsgrund einer Zwangsbefugnis darstelle. Vgl. in diesem Sinne Scholz 1972, S. 37– 46; Ralf Ludwig 1992, S. 206 f.; Müller 2006, S. 61 f.; jüngst Horn 2014, S. 172 f.; Kalscheuer 2014, S. 100 – 102 sowie zunächst Kersting 1984, S. 7– 10, welcher aber später diese Position ausdrücklich aufgab, vgl. Kersting 1990, S. 64 mit Fn. 5 und S. 67. Diese häufig kritisierte Auslegung (vgl. z. B. Oberer 1986, S. 118 f.; Ludwig 1988, S. 95 f. mit Fn. 26; Geismann 2006, S. 78 f.) beruht m. E. auf einer fehlerhaften Interpretation von Kants Bestimmung in § C, das Recht verlange nicht, dass ich „ganz um dieser Verbindlichkeit willen meine Freiheit auf jene Bedingungen s e l b s t einschränken s o l l e “ . Hierin kommt nicht zum Ausdruck, dass das Rechtsgesetz gänzlich auf eine imperativische Handlungsaufforderung in Form eines bestimmten Sollens an mich verzichte, sondern lediglich – wie schon Haensel 1926, S. 33 betont –, dass dies nicht um der Verbindlichkeit willen geschehen müsse. Insofern gibt das allgemeine Rechtsgesetz lediglich erneut den bekannten Grundsatz wieder, dass das Recht vom Handlungsmotiv gänzlich abstrahiert. Der Charakter eines kategorischen Imperativs wird hierdurch nicht in Frage gestellt. Vgl. hierzu auch meine ausführliche Auseinandersetzung mit dieser Thematik in Hirsch 2012a, S. 49 – 52 m. w. N. Vgl. dazu ausführlich unten S. 133 – 139. Vgl. ebenso Höffe 1982, S. 354 und Ludwig 1988, S. 97. Kants Argumentation hat hier daher weniger eine Begründungs- als eine Klarstellungsfunktion. Grund für die separate Begründung der Zwangsbefugnis in § D ist vermutlich Kants Bemühen, sich deutlich gegenüber der naturrecht-
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[W]enn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hinderniß der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d.i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Ve r h i n d e r u n g eines H i n d e r n i s s e s d e r F r e i h e i t mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammen stimmend, d.i. recht: mithin ist mit dem Rechte zugleich eine Befugniß, den, der ihm Abbruch thut, zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft.¹²⁶
Im Wege einer doppelten Negation leitet Kant die Zwangsbefugnis analytisch aus den Begriffen von recht und unrecht her. Die Einschränkbarkeit der Freiheit anderer ist bereits begrifflich im Recht enthalten, insofern nach letzterem der rechtlich geschützte, äußere Willkürgebrauch bereits in seiner Idee allgemeingesetzlich eingeschränkt ist. Zwang ist dabei nur als Gegenzwang zulässig und auch nur insofern, als er zur Wiederherstellung eines rechtmäßigen bzw. Verhinderung eines unrechtmäßigen Zustandes erforderlich ist.¹²⁷ Insofern es um den tatsächlichen Abbruch einer Unrechtshandlung geht, meint Zwang in § D allein den physischen Zwang i. S. v. vis absoluta. ¹²⁸ Hiervon zu unterscheiden ist psychischer Zwang i. S. v. vis compulsiva durch die Inaussichtstellung physischer Zwangsmaßnahmen für potentielle Unrechtshandlungen. Dieser psychische Zwang ist bereits Inbegriff einer äußeren, rechtlichen Gesetzgebung.¹²⁹ Über die Herleitung der Zwangsbefugnis in § D hinaus setzt Kant in § E Recht und Zwang im emphatischen Sinne gleich:
lichen Tradition abzugrenzen, welche striktes Recht und Zwangsrecht bloß definitorisch gleichsetzte.Vgl. in diesem Sinne Kants Kritik in Moralphilosophie-Mrongovius II, AA XIX, S. 618 f.: „Alle Lehrer der Moral und des Rechts haben dem Begriff des Rechts immer was zugefügt, was erst bewiesen werden muß. Denn sie sagen, eine Handlung ist Recht, wenn sie so bestimmt ist, daß es erlaubt ist, die, die sich dazu obligiren, zur Ausübung derselben zu zwingen. Die Befugniß aber einen Menschen zu einer Handlung zu zwingen, darf garnicht in der Definition vorkommen sondern muß erst aus derselben bewiesen werden […].“ Vgl. ebenso MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 526 und Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1335.Vgl. zum Ganzen m. w. N. Hirsch 2012a, S. 53 f. und 101 f. RL, AA VI, S. 231. Laut § D ist Zwang nur gegenüber dem, „der ihm [sc. dem Recht] Abbruch tut“, erlaubt und auch nur, insoweit er „Ve r h i n d e r u n g eines H i n d e r n i s s e s d e r F r e i h e i t “ ist. Vgl. hierzu auch Kersting 1984, S. 10 und Höffe 1999a, S. 56 f. Häufig wird dies übergangen und entweder vorschnell vom physischen zum psychischen Zwang übergegangen (etwa Kersting 1984, S. 10 f.) oder bewusst offen gelassen (z. B. Höffe 1999a, S. 56). Deutlich wird das an Kants Bestimmung in RL, AA VI, S. 219, dass sich das Recht bei der juridischen (zwangsbewehrten) Gesetzgebung „p a t h o l o g i s c h e [ r ] Bestimmungsgründe der Willkür“ bedient, „weil es eine Gesetzgebung, welche nöthigend […] ist, sein soll“.Vgl. schon oben Kap. 2, Fn. 70 sowie ebenso MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 520, wo Kant diesen pathologischen Zwang vom rein mechanischen abgrenzt. Vgl. hierzu eingehend auch unten S. 117– 119, S. 133 und S. 323 – 325.
2.2 Der moralische Begriff des Rechts
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[D]as Recht darf nicht als aus zwei Stücken, nämlich der Verbindlichkeit nach einem Gesetze und der Befugniß dessen, der durch seine Willkür den andern verbindet, diesen dazu zu zwingen, zusammengesetzt gedacht werden, sondern man kann den Begriff des Rechts in der Möglichkeit der Verknüpfung des allgemeinen wechselseitigen Zwanges mit jedermanns Freiheit unmittelbar setzen.¹³⁰
Recht kann auch als Inbegriff der moralisch möglichen Zwangshandlungen definiert werden.¹³¹ Dies folgt notwendig daraus, dass Recht allein auf die Kompatibilität des äußeren Freiheitsgebrauchs abstellt. Ist daher Recht gegenüber dem Handlungsmotiv indifferent, „darf und kann es, wenn es rein sein soll, sich auf dieses Bewußtsein [sc. der Verbindlichkeit nach dem Rechtsgesetz] als Triebfeder nicht berufen, sondern fußt sich deshalb auf dem Princip der Möglichkeit eines äußeren Zwanges“. Rechtspflichten sind also nur als mögliche Zwangspflichten denkbar, weil „das strikte Recht […] keine anderen Bestimmungsgründe der Willkür als bloß die äußeren fordert“.¹³² Hiervon ausgehend führt Kant in Analogie zum dritten Axiom Newtons aus, dass sich eine Rechtsgemeinschaft nur als allgemeingesetzliche Zwangsordnung begreifen lässt. Das Gesetz eines allgemeinen und wechselseitigen Zwangs ist laut Kant […] die K o n s t r u k t i o n jenes Begriffs [sc. des Rechtsbegriffs], d. i. Darstellung desselben in einer reinen Anschauung a priori, nach der Analogie der Möglichkeit freier Bewegungen der Körper unter dem Gesetze der G l e i c h h e i t der W i r k u n g und G e g e n w i r k u n g .¹³³
Erst der wechselseitige und gleiche Zwang macht die Verwirklichung des Rechts als Wechselwirkungsgemeinschaft von Rechtssubjekten gleicher Freiheit möglich. Ohne Zwangsordnung gibt es auch keine Rechtsordnung.¹³⁴ Die durchgängige Gleichsetzung von Recht und Zwang dient zum einen erneut der Abgrenzung von Rechts- und Tugendlehre.¹³⁵ Zum anderen gliedert Kant hierdurch die Billigkeit und das Notrecht aus der eigentlichen Rechtslehre aus,
RL, AA VI, S. 232. Vgl. Ludwig 1988, S. 98: „Ob ich also die Handlungen angebe, die ich rechtmäßig ausführen darf, oder aber die Zwangshandlungen bezeichne, die gegen mich moralisch möglich sind, in beiden Fällen habe ich dasselbe Recht beschrieben.“ Zum Ganzen: RL, AA VI, S. 232. Vgl. hierzu auch Hirsch 2012a, S. 54 f. RL, AA VI, S. 232. Vgl. Kant auch so bereits in Prolegomena, AA IV, S. 357 f., Fn. *. Vgl. dazu auch unten S. 241 f.Vgl. ferner Kersting 1984, S. 14,von dem hier die Begriffsprägung der Wechselwirkungsgemeinschaft stammt, sowie von meiner Seite ausführlich Hirsch 2012a, S. 55 – 57 m. w. N. Das Recht als ius strictum verstattet im Unterschied zur Tugendlehre keine Ausnahmen, „welche [sc. letztere] einen gewissen Raum zu Ausnahmen (latitudinem) nicht verweigern kann“ (RL, AA VI, S. 233).
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„damit ihre schwankenden Prinzipien nicht auf die festen Grundsätze der ersteren Einfluß bekommen“.¹³⁶ Im „Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre“ bezeichnet Kant beide daher als „ein Recht im w e i t e r e n Sinne (ius latum), wo die Befugnis zu zwingen durch kein Gesetz bestimmt werden kann“. Die Billigkeit ist lediglich „ein Recht ohne Zwang“, das Notrecht ein „Zwang ohne Recht“.¹³⁷ Da es ihnen jeweils an einer allgemeingesetzlich bestimmbaren Zwangsbefugnis fehlt, verneint Kant deren Zugehörigkeit zum strengen Recht.¹³⁸
2.2.2.4 Einteilung der Rechtslehre und das angeborene Recht »Freiheit« Zuletzt¹³⁹ entwickelt Kant in der „Einleitung in die Rechtslehre“ das angeborene Recht »Freiheit« als subjektiv-rechtliche Ausprägung des moralischen Rechtsbegriffs. Diesem einzigen angeborenen Recht gehen jedoch eine rechts- und eine pflichtentheoretische Einteilung der Rechtslehre voraus. In der „Allgemeine[n] Einteilung der Rechtspflichten“ nimmt Kant im Wege einer eigenen Interpretation der berühmten praecepta iuris des Ulpian¹⁴⁰ eine Einteilung der Rechtspflichten in innere Rechtspflichten (honeste vive), äußere Rechtspflichten im Naturzustand (neminem laede) sowie äußere Rechtspflichten unter Bedingungen des bürgerlichen Rechtszustands (suum cuique tribue) vor.¹⁴¹ Hieran schließt sich die „Allgemeine Einteilung der Rechte“ an, die zum einen die grundlegende systematische Einteilung des Rechts in Naturrecht und positives Statutarrecht, zum anderen die Unterscheidung zwischen angeborenen und erworbenen Rechten behandelt.¹⁴² Während sich die Rechtslehre in ihren Hauptstücken (Privatrecht und
RL, AA VI, S. 233. RL, AA VI, S. 233 f. Vgl. hierzu stellvertretend nur Höffe 1999a, S. 58 – 61 sowie insbesondere zu Kants Kritik am Notrecht Küper 1999, S. 3 – 13 m. w. N. Auf das Notrecht wird später nochmals ausführlich einzugehen sein, vgl. unten S. 372– 399. Vgl. zu RL, AA VI, S. 239 – 241 bereits oben S. 53 mit Fn. 80 sowie Kap. 4, Fn. 88. „Iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere.“ (Die Gebote des Rechts sind diese: Ehrenhaft leben, niemanden verletzen, jedem das Seine gewähren). Vgl. Iustinian I., Corpus Iuris Civilis, Dig. 1, 1, 10. Vgl. hierzu auch Manthe 1997 und Hespe 2013, S. 812. Vgl. dazu Hirsch 2012a, S. 58 – 62 sowie ausführlich unten S. 169 – 209 und S. 253 – 271. Kant unterteilt in RL, AA VI, S. 237 zunächst die Rechte „als systematische L e h r e n , in das N a t u r r e c h t , das auf lauter Prinzipien a priori beruht, und das p o s i t i v e (statutarische) Recht, was aus dem Willen eines Gesetzgebers hervorgeht“, und greift damit die bereits in § A gemachte Differenzierung auf, vgl. S. 54 f. Sodann werden Rechte „als (moralische) Ve r m ö g e n Andere zu verpflichten […] in das a n g e b o r e n e und e r w o r b e n e Recht“ unterschieden. Hiermit deckungsgleich ist die Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Mein und Dein, da „[d]as angeborene Mein und Dein […] auch das innere (meum vel tuum internum) genannt werden
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Öffentliches Recht) im Wesentlichen den erworbenen Rechten widmet, kennt Kant bei angeborenen Rechten bzw. dem inneren Mein und Dein „keine R e c h t e , sondern nur Ein Recht“. Daher zieht er dessen Behandlung „in die Prolegomenen“ vor¹⁴³ und behandelt es als letzten Punkt der „Einleitung in die Rechtslehre“: Das angeborne Recht ist nur ein einziges. F r e i h e i t (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.¹⁴⁴
Im angeborenen Recht finden wir den moralischen Begriff des Rechts als subjektives Recht, welches der äußeren Rechtspflicht nach dem allgemeinen Rechtsgesetz korrespondiert:¹⁴⁵ Genauso wie das allgemeine Rechtsgesetz mich darauf verpflichtet, dass mein Willkürgebrauch mit der Freiheit anderer nach einem allgemeinen Gesetz vereinbar ist,¹⁴⁶ kann ich gegenüber anderen den Anspruch erheben, meine Freiheit in einer allgemeingesetzlich vertretbaren Weise zu gebrauchen, ohne von ihnen anderweitig genötigt zu werden. Das angeborene Recht ist ursprünglich, d. h. es besteht unabhängig von vorherigen rechtsbegründenden Akten.¹⁴⁷ Obwohl es sich laut Kant um ein einziges Recht handelt, beinhaltet die Freiheit als angeborenes Recht der Menschen eine Vielzahl von Befugnissen, die Kant allerdings nicht als distinkte Rechte betrachtet.¹⁴⁸ [kann]“, wohingegen „das äußere […] jederzeit erworben werden [muß]“. Vgl. zum Ganzen auch Hirsch 2012a, S. 58 – 65. Vgl. RL, AA VI, S. 238. RL, AA VI, S. 237. Vgl. auch MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 588: „jus connatum […] beruh[t] auf dem obersten Princip aller äußeren Rechtspflichten: handle so, daß deine Freiheit mit der Freiheit von Jedermann nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmen könne […]. Die Benennung nun: a n g e b o r e n e s R e c h t , kann also nichts anderes anzeigen, als den Gebrauch meiner Willkür oder die Freiheit, der Willkür des anderen zu widerstehen, insoweit die maxime meiner Handlung mit der Freiheit anderer nach einem allgemeinen Gesetz übereinstimmt.“ Vgl. zum allgemeinen Rechtsgesetz oben S. 60 f. Vgl. illustrativ Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1338: „Status originalis ist der, der vor allem facto juridico vorhergeht. […] Hat der Mensch originarie Rechte? Ja. […] [A]m andern habe ich kein Recht ohne durch ein factum juridicum. Meine Rechte gegen andre sind negativ; die nemlich original sind, das sind jura connata.“ Vgl. RL, AA VI, S. 237 f. Die unselbstständigen Ausprägungen des angeborenen Rechts sind die Rechte der angeborenen Gleichheit, der Qualität des Menschen, sein eigener Herr zu sein, der Qualität eines unbescholtenen Mannes, der Befugnis das gegen andere zu tun, was an sich ihnen das Ihre nicht schmälert, sowie der Befugnis, die eigenen Gedanken mitzuteilen, egal ob sie wahr oder unwahr sind. Ursprünglich hatte Kant diese Rechte als selbstständige, distinkte Rechte aufgefasst. Vgl. Naturrecht-Feyeraben, AA XXVII, S. 1339, wo Kant 1784 noch sechs verschiedene
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Zusammenfassend lässt sich nunmehr eine vorläufige Bestimmung des Kantischen Rechtsverständnisses vornehmen: Nach der Bestimmung des Rechts in den §§ B und C der „Einleitung in die Rechtslehre“ ist jeder Willkürgebrauch nur insoweit zulässig, als dass hierbei die Zusammenstimmung mit der Freiheit anderer nach allgemeinen Gesetzen gewährleistet ist. Recht formuliert die Bedingungen für einen solchen allgemeingesetzlich vertretbaren Freiheitsgebrauch. Subjektiv-rechtlich findet dies seinen Ausdruck im angeborenen Recht »Freiheit«, welches jedem Menschen kraft seiner Menschheit die Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür nach einem allgemeinen Gesetz zusichert. Gleichzeitig besteht für den Fall unrechtmäßigen Verhaltens anderer – wie in den §§ C bis E ausgewiesen – die Möglichkeit, die Vereinbarkeit mit einem allgemeinen Gesetz der Freiheit äußerlich zu erzwingen.
iura connata ausweist, und hierzu Hirsch 2012a, S. 112. Doch schon 1794 in MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 588 bestimmt Kant das angeborene Recht unmittelbar über das allgemeine Rechtsgesetz und weist damit ein einzelnes Prinzip aus, auf das „auch alle angenommenen sogenannten einzelnen jura connata hinaus[laufen] – Freiheit, Gleichheit, Ehre.“ Vgl. i. Ü. zum angeoberenen Recht und den daraus fließenden Befugnissen Ludwig 1988, S. 103 f.; Kersting 2004, S. 48 – 54; Friedrich 2004, S. 73 – 87 und Höffe 2010, S. 84– 92, jeweils m. w. N. sowie die Nachweise in Kap. 1, Fn. 27.
3 Kants Rechtsphilosophie als Teil seiner kritischen Moralphilosophie Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die freie Willkür aller nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann. – Doch auch wenn wir nunmehr einen Begriff davon haben, was Kant unter Recht und in specie dem angeborenen Recht »Freiheit« versteht, bleibt eine Frage offen: Warum überhaupt Recht? Diese Frage so allgemein aufzuwerfen, mag verwundern. Gleichwohl ist sie im Rahmen einer Untersuchung zur Kantischen Rechts- und Staatsphilosophie keineswegs trivial, weist sie doch auf mindestens drei grundsätzliche Probleme hin, denen sich jede Rechtsbegründung – und damit auch diejenige Immanuel Kants – stellen muss: – Die Normativität und Geltung des Rechts: Warum sind rechtliche Regeln überhaupt Gebote? D. h., was generiert die moralische Verbindlichkeit (der Begriff ist hier in einem weiten Sinne gemeint) rechtlicher Vorschriften? – Die Abgrenzung des Rechts von anderen Verhaltensregeln: Aus welchem Grund ist das, was wir Recht nennen, überhaupt Recht? D. h., gibt es ein spezifisch rechtliches Prinzip, durch das sich Recht von anderen sittlichen Vorschriften, wie z. B. der Ethik, unterscheidet? – Der Erkenntnisgrund des Rechts: Woher wissen wir überhaupt, dass wir einer spezifisch rechtlichen Verbindlichkeit unterliegen?
3.1 Warum überhaupt Recht? Diese grundlegenden Probleme der Rechtsbegründung lassen sich auch subjektivrechtlich formulieren und auf das angeborene Recht bei Kant übertragen: 1) Was generiert die Verbindlichkeit des angeborenen Rechts? Warum müssen andere meine Freiheit respektieren? 2) Was unterscheidet dieses Recht von weiteren moralischen Ansprüchen gegenüber anderen, z. B. von diesen respektiert oder unterstützt zu werden? 3) Woher weiß ich, dass ich frei bin und dieses Recht anderen gegenüber habe? Die Klärung dieser Fragen ist im Rahmen der vorliegenden Untersuchung von eminenter Bedeutung. Denn bevor bei Kant nicht über die Frage Warum überhaupt Recht? Klarheit erlangt worden ist, lässt sich nicht sinnvoll eruieren, was für Kant erstens die Notwendigkeit eines rechtlichen Zustands, d. h. des Staates, begründet und was zweitens in der Widerstandsfrage die einmal etablierte Staatlichkeit im Verhältnis zu individuellen Freiheitsrechten dem Augenschein nach sakrosankt macht.
DOI 10.1515/9783110530070-003
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3 Kants Rechtsphilosophie als Teil seiner kritischen Moralphilosophie
Nach wie vor sind die soeben aufgeworfenen Fragen im Hinblick auf Kants Rechtslehre umstritten. Dabei geht es in letzter Konsequenz um die Frage, ob Kants Rechtsphilosophie als Teil seiner kritischen Moralphilosophie begriffen werden kann oder nicht. Zwar herrscht – wie gerade gesehen – ein gewisser Grundkonsens darüber, was in Kants kritischer Moralphilosophie die Verbindlichkeit moralischer Gebote generiert, was deren tragendes Prinzip ist und was Erkenntnisgrund sittlicher Verpflichtung bei Kant ist.¹ Kontrovers wird jedoch diskutiert, ob sich dementsprechend auch die Rechtsphilosophie erklären und begründen lässt. Bedenken bestehen dahingehend, dass Kants Rechtsphilosophie irgendwie von der übrigen kritischen Moralphilosophie unabhängig zu sein scheint. Um nur einige der hierfür angeführten Gründe zu nennen: Kant verzichte auf eine Herleitung des allgemeinen Rechtsgesetzes aus dem kategorischen Imperativ. Kant weise das Rechtsgesetz vielmehr als „ein Postulat, welches gar keines Beweises weiter fähig ist“,² aus. Schließlich zeige die Unterscheidung zwischen juridischer Gesetzgebung und ethischer Gesetzgebung, dass bei Kant Recht und Ethik unterschiedliche Pflichtprinzipien zugrundelägen. Ohne die Auseinandersetzung mit den in der Debatte vertretenen Ansichten vorwegzunehmen, lässt sich die Kontroverse vereinfacht wie folgt darstellen:³ Nach klassischer Lesart⁴ lassen sich bei Kant Rechtsbegriff und Rechtsgesetz aus dem kategorischen Imperativ herleiten. Recht rekurriere daher – ebenso wie die Kantische Ethik – auf das Autonomietheorem,⁵ Rechtslehre und Tugendlehre bildeten die Teile einer einheitlichen, kritischen praktischen Philosophie Kants. Umstritten ist dabei nur, ob dem Recht gegenüber der Ethik bloß eine dienende Funktion zukommt (d. h., ob Recht lediglich die sittliche Entfaltung im Rahmen der Ethik ermöglichen soll)⁶ oder ob Recht und Ethik nebeneinander bestehen und nur in verbindlichkeitstheoretischer Hinsicht gemeinsam auf die sittliche Autonomie rekurrieren.⁷ Kritiker einer solchen klassischen Lesart sehen Kants
Vgl. dazu oben S. 38 – 49 m. w. N. RL, AA VI, S. 231. Einen guten Überblick über die verschiedenen, in der Debatte vertretenen Positionen liefern auch Willaschek 2009, S. 49 – 54; Seel 2009, S. 72 f. sowie zuletzt Baiasu 2016, S. 2– 8 und PauerStuder 2016, S. 129 – 136. Hieran orientiert sich auch die vorliegende Klassifikation. Hiermit lehne ich mich an die Formulierung „traditionelle Interpretation“ bei Willaschek 2009 an. Vgl. zum Autonomietheorem oben S. 44 f. So die „moralteleologische Rechtsauffassung“ (Kersting 1984, S. 42, die Begriffsprägung wird von ihm übernommen), vertreten von Theoretikern wie Haensel, Larenz, Dulckeit oder Schreiber. Vertreter einer geltungstheoretischen Abhängigkeit des Rechts von der kritischen Moralphilosophie Kants sind z. B. Kersting, Kühl, Oberer, R. Ludwig, Gregor, Scholz sowie im Ergebnis auch B. Ludwig und Kaulbach, dergleichen in eigener Prägung Guyer.
3.1 Warum überhaupt Recht?
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Rechtsphilosophie unabhängig von der kritischen Moralphilosophie konzipiert.⁸ Innerhalb dieser Gruppe lassen sich eine schwache und eine starke Unabhängigkeitsthese unterscheiden. Erstere gesteht zwar zu, dass eine wie auch immer geartete Ableitung des Rechts von der übrigen kritischen Moralphilosophie möglich sei (teilweise sogar, dass Kant hiervon ausginge). Jedoch betonen sie, dass sich Kants Rechtsphilosophie gleichwohl auch unabhängig von der sonstigen Moralphilosophie erklären und begründen lasse.⁹ Demgegenüber steht die starke Unabhängigkeitsthese dafür ein, dass Kants Rechtsphilosophie nicht nur unabhängig von der kritischen Moralphilosophie konzipiert werden könne, sondern in vollständiger Unabhängigkeit gedacht werden müsse.¹⁰ Angesichts dieser Kontroverse wird im Folgenden dafür argumentiert, dass die klassische Lesart der Kantischen Rechtsphilosophie nicht nur vorzugswürdig, sondern alternativlos ist. Kants Rechtslehre lässt sich ausschließlich als gleichberechtigter Teil einer einheitlichen kritischen Moralphilosophie unter dem kategorischen Imperativ als oberstem praktischem Prinzip sinnvoll interpretieren. Der Nachweis dieser These soll in drei Schritten erfolgen: Zunächst ist darzulegen, dass Kant selbst von einer kritischen Rechtsbegründung ausging, und zu untersuchen, wie sich diese zur übrigen Moralphilosophie verhält (3.2). In einem zweiten Schritt soll die Konsistenz einer solchen kritischen Rechtsbegründung verteidigt werden. Es gilt (entgegen der starken Unabhängigkeitsthese), bei Kant die Abhängigkeit des Rechts von Autonomietheorem und transzendentaler Freiheitslehre herauszustellen und Einwände gegen eine Ableitung des Rechts aus der kritischen Moralphilosophie als unbegründet aufzudecken (3.3 und 3.4). Schließlich ist in einem dritten Schritt (entgegen der schwachen Unabhängigkeitsthese) zu zeigen, warum eine Rechtsbegründung ohne Rekurs auf Kants kritische Moralphilosophie unmöglich ist (3.5). Dabei wird sich zeigen, dass Vertreter einer Unabhängigkeitsthese (gleich welcher Spielart) die eingangs aufgeworfenen Begründungsprobleme im Kontext der Frage Warum überhaupt Recht? nicht sinnvoll im Rahmen der Kantischen Philosophie lösen können.
Auch diesbezüglich hat Kersting 1984, S. 37 den Begriff der „Unabhängigkeitsthese“ geprägt. Als schwache Unabhängigkeitstheoretiker sind in diesem Sinne etwa Pogge, Ripstein, wahrscheinlich auch Ebbinghaus und mit Einschränkungen Geismann und Baum zu qualifizieren. Als starke Unabhängigkeitstheoretiker lassen sich vor allem Willaschek und Wood einordnen. Unter Vorbehalt ist hierzu auch Horn zu zählen, insofern auch er zwischen Ethik und Recht jeglichen Ableitungszusammenhang bzw. ein Inklusionsverhältnis bestreitet.
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3 Kants Rechtsphilosophie als Teil seiner kritischen Moralphilosophie
3.2 Autonomie und notwendige Selbstzweckhaftigkeit der Person Will man das Verhältnis von Kants Rechtsdenken zu seiner kritischen Moralphilosophie verstehen, ist es zunächst hilfreich, sich gewissermaßen die Blaupause zu vergegenwärtigen, vor deren Hintergrund Kant die kritische Moralphilosophie konzipiert. Deren verbindlichkeitstheoretischer Nukleus ist das Autonomietheorem und die ihm zugrundeliegende transzendentale Freiheitslehre. Weil der Mensch als autonomes Vernunftwesen in einem anspruchsvollen Sinne sittlich frei ist, ist er nicht nur Subjekt des kategorischen Imperativs. Auch kommt ihm deswegen eine besondere moralische Dignität in Form von notwendiger Selbstzweckhaftigkeit bzw. Würde zu.¹¹ Interessanterweise scheint Kant auf ebendiese Selbstzweckhaftigkeit auch bei der Rechtsbegründung zu rekurrieren.
3.2.1 Der Zweck im Recht bei Kant In der Welt als System der Zwecke muß doch zuletzt ein Zweck seyn, und das ist das vernünftige Wesen. Wäre kein Zweck, so wären auch die Mittel umsonst und hätten keinen Werth. – Der Mensch ist Zweck, daher widerspricht es sich, daß er bloß Mittel seyn sollte. – Wenn ich mit einem Bedienten einen Kontrakt mache, so muß er auch Zweck seyn, als ich, und nicht bloß Mittel. Er muß auch wollen. – Der menschliche Wille ist also eingeschränckt auf die Bedingung der allgemeinen Einstimmung des Willens andrer. – Soll ein System der Zwecke seyn, so muß der Zweck und Wille eines vernünftigen Wesens mit dem eines andern übereinstimmen. […] Denn jeder Mensch ist selber Zweck, und daher kann er nicht bloß Mittel seyn. Ich kann nicht dem Acker eines andren etwas entnehmen, um meinen damit zu düngen; denn da wäre der andre bloß Mittel. Diese Einschränkung beruht auf den Bedingungen der möglichsten allgemeinen Einstimmung des Willens andrer. Es ist außer dem Menschen nichts achtungswerthes gesetzt worden als das Recht der Menschen. – […] Die Freyheit des Menschen ist die Bedingung, unter der der Mensch selbst Zweck seyn kann. Die andern Dinge haben keinen Willen, sondern sie müssen sich nach andern Willen richten, und sich als Mittel gebrauchen lassen. Soll der Mensch also Zweck seyn; so muß er einen eignen Willen haben, denn darf er sich nicht als Mittel gebrauchen lassen. Recht ist die Einschränkung der Freiheit, nach welcher sie mit jeder andrer Freiheit nach einer allgemeinen Regel bestehen kann.¹²
Zu Beginn der Vorlesungsnachschrift Naturrecht-Feyerabend ¹³ von 1784 macht Kant diese einleitenden Bemerkungen zum Recht. Die Brisanz dieser Ausfüh-
Vgl. dazu ausführlich oben S. 44– 46 m. w. N. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1319 f., kursive Hervorhebung P.-A. H. Vgl. zu Daten und Gegenstand der Vorlesung Lehmann 1979, S. 1053 f. und Hirsch 2012a, S. 11 f., jeweils m. w. N.
3.2 Autonomie und notwendige Selbstzweckhaftigkeit der Person
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rungen liegt darin, dass Kant das Recht im Kontext einer idealen Willensgemeinschaft selbstzweckhafter Vernunftwesen schildert.¹⁴ Rechte kommen dem Einzelnen nur zu, weil und insofern er ein notwendig selbstzweckhaftes Wesen ist. Ihn als bloßes Mittel zu gebrauchen, kommt einer Rechtsverletzung gleich: Ein rechtsgültiger Vertrag verlangt, dass der Vertragspartner nicht bloß ein Mittel ist. Deliktisch handelt, wer fremdes Eigentum zur eigenen Bereicherung antastet, weil hierdurch der andere nur als Mittel behandelt wird. Rechtlich zulässig sind stets nur solche Handlungen, die „der möglichsten allgemeinen Einstimmung des Willens andrer“ fähig sind. Dieser Gedanke ist keineswegs eine Singularität der Feyerabend-Nachschrift, sondern findet auch Eingang in die etwa gleichzeitig verfasste¹⁵ Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In Kants Behandlung der vollkommenen Pflichten gegen andere wird deutlich, dass Rechtsverletzungen darin bestehen, den anderen bloß als Mittel zu gebrauchen. Kant erläutert dies an typischen Rechtsverletzungen wie Betrug oder Übergriffen auf Freiheit und Eigentum anderer:¹⁶ Zweitens, was die nothwendige oder schuldige Pflicht gegen andere betrifft, so wird der, so ein lügenhaftes Versprechen gegen andere zu thun im Sinne hat, sofort einsehen, daß er sich eines andern Menschen bloß als Mittels bedienen will, ohne daß dieser zugleich den Zweck in sich enthalte. Denn der, den ich durch ein solches Versprechen zu meinen Absichten brauchen will, kann unmöglich in meine Art, gegen ihn zu verfahren, einstimmen und also selbst den Zweck dieser Handlung enthalten. Deutlicher fällt dieser Widerstreit gegen das Princip anderer Menschen in die Augen, wenn man Beispiele von Angriffen auf Freiheit und Eigenthum anderer herbeizieht. Denn da leuchtet klar ein, daß der Übertreter der Rechte der Menschen, sich der Person anderer bloß als Mittel zu bedienen, gesonnen sei, ohne in Betracht zu ziehen, daß sie als vernünftige Wesen jederzeit zugleich als Zwecke, d.i. nur als solche, die von eben derselben Handlung auch in sich den Zweck müssen enthalten können, geschätzt werden sollen.¹⁷
Vgl. hierzu sowie zu den Implikationen für eine kritische Rechtsbegründung Kants in den Jahren 1784/85 ausführlich Hirsch 2012a, S. 81– 82 und insb. S. 87– 95 m. w. N. 1784 hatte Kants Schreibgehilfe, Reinhold Bernhard Jachmann, die Grundlegung für Kants Verleger, Johann Friedrich Hartknoch, abgeschrieben. 1785 erhielt Kant von diesem die ersten Vorexemplare. Vgl. Lehmann 1980, S. 651 und Delfosse, Hinske und Sadun Bordoni 2010, S. IX f. Die Bedeutung der Anwendungsbeispiele des kategorischen Imperativs in der Grundlegung für die spätere Metaphysik der Sitten wird von Paton 1962, S. 155 und Gregor 1963, S. 20 – 22 unterschätzt.Vgl. kritisch dazu Schnoor 1989, S. 122; Laschet 2011, S. 82 f. sowie auch Höffe 1990, S. 181: „[S]o anspruchslos ihre Beispiele zunächst aussehen, bedeuten sie mehr als eine bloße Illustrierung; sie enthalten schon den Vor- und Grundriß der künftigen Metaphysik der Sitten.“ Mehr noch, so Oberer 2006, S. 260: „[D]ie Grundlegung beweist […] durch die Wahl ihrer Beispiele, daß sie […] Rechtsbegründung und Ethikbegründung a priori ist.“ GMS, AA IV, S. 429 f.
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3 Kants Rechtsphilosophie als Teil seiner kritischen Moralphilosophie
Eine Rechtsverletzung stellt eo ipso eine Behandlung des anderen als bloßes Mittel dar. Evident ist das bei tätlichen „Angriffe[n] auf Freiheit und Eigenthum anderer“. Und auch bei einem Betrug (hier dem lügenhaften Versprechen)¹⁸ wird der Getäuschte zu einem bloßen Mittel für den Täuschenden degradiert. Er dient ausschließlich seinen Zwecken, da dem Getäuschten keine eigenständige Zwecksetzung ermöglicht wird.¹⁹ E contrario zeigen die genannten Beispiele, dass die Forderung des Rechts – denn hier handelt es sich ausnahmslos um vollkommene Rechtspflichten – im Wesentlichen darin besteht, den anderen nicht als bloßes Mittel zu benutzen. Kant selbst hat dies in den Vorarbeiten zur Rechtslehre explizit herausgestellt: Die äußere F r e y h e i t ist die Unabhängigkeit des Menschen von der Willkühr Anderer nicht nach ihren sondern dadurch zugleich nach seinen eigenen Zwecken handeln zu dürfen d.i. nicht b l o s als Mittel zu irgend einem Zweck des Andern dienen zu d ü r f e n (genöthigt werden zu können).²⁰
Die äußere Freiheit, die Kant hier beschreibt, ist offensichtlich nichts anderes als das angeborene Recht der Metaphysik der Sitten: „F r e i h e i t “ als die „Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür“.²¹ Noch deutlicher zeigt sich dies an einer Bestimmung Kants aus den Vorarbeiten zum Gemeinspruch, wonach „F r e y h e i t als M e n s c h nach dem angebohrnen Recht“ darin besteht, „nicht der Willkühr Anderer blos als Mittel unterworfen zu seyn“.²² Hiermit geht eine für das Verständnis des Rechts zentrale Präzisierung des Freiheitsbegriffs einher: Mit Blick auf das angeborene Recht ist äußere Freiheit das Schutzgut bzw. der Schutzbereich des Rechts, namentlich: Unabhängigkeit von der nötigenden Willkür anderer. Geltungsgrund des Rechts, d. h. Grund für die Ge-
Vorliegend ist nicht das allgemeine Lügenverbot gemeint, bei welchem es um eine Verletzung der Menschheit, nicht jedoch der Rechte anderer Menschen geht (vgl. Über ein vermeintes Recht, AAVIII, S. 426 und S. 429). Hier geht es um schuldige Pflichten gegen andere. Diese haben jedoch – wie Kant selbst in RL, AA VI, S. 238 mit Fn. * betont – nur im Falle eines entsprechenden Vertrages ein Recht auf Wahrheit. Ein allgemeines Lügenverbot besteht ihnen gegenüber also nicht. Vgl. ähnlich Laschet 2011, S. 145: „Indem der Lügner ihm [sc. dem Getäuschten] die Wahrhaftigkeit seiner Behauptung suggeriert, verfälscht er die für dessen Entscheidungsfreiheit relevanten Handlungs- bzw. Situationsinformationen und schränkt damit die selbstständige Handlungsfähigkeit des Belogenen ein.“ VA RL, AA XXIII, S. 341. RL, AA VI, S. 237, vgl. oben S. 65. Vgl. ebenso Kühl 1990, S. 78: „In der Rechtslehre wird als das ‚einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht‘ die äußere Freiheit herausgestellt […]; diese […] wäre sicher dann verletzt, wenn ein anderer mich als bloßes Mittel für seine Zwecke gebraucht, d. h. mir, mich nötigend, seinen Willen aufzwingt.“ VA Gemeinspruch, AA XXIII, S. 136.
3.2 Autonomie und notwendige Selbstzweckhaftigkeit der Person
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währung dieses Schutzbereichs, ist jedoch die aus der sittlichen Autonomie folgende notwendige Selbstzweckhaftigkeit des Einzelnen.²³ Äußere Freiheit als Schutzgut bzw. Schutzbereich stellt also kein besonderes menschliches Vermögen dar (z. B. äußere Handlungsfreiheit oder psychologische Freiheit als die Fähigkeit, sich nach Zwecken zu bestimmen),²⁴ sondern ist nichts anderes als „die Freiheit im äußeren Gebrauche […] der Willkür […], sofern sie [sc. die Willkür] durch Vernunftgesetze bestimmt wird“.²⁵ Äußere Freiheit verweist also auf die menschliche Willkür in äußeren Handlungen,²⁶ insofern diese unter autonomen Vernunftge-
Vgl. zum Zusammenhang zwischen sittlicher Autonomie und notwendiger Selbstzweckhaftigkeit oben S. 45 f. sowie sogleich ausführlich S. 77– 85. Es wäre verfehlt, Kants Redeweise von äußerer Freiheit im Gegensatz zu innerer Freiheit im Sinne zweier verschiedener Vermögen zu begreifen; etwa als Handlungsfreiheit bzw. psychologische Freiheit im Unterschied zu transzendentaler Freiheit. Diese Lesart scheint jedoch in weiten Teilen der Kant-Forschung vorzuherrschen, vgl. statt vieler Gregor 1963, S. 26 – 29 mit Fn. 20; Höffe 2007, S. 218; Höffe 1999a, S. 50; Pasini 1974, S. 678 – 683; Pfordten 2009c, S. 46 f.; Pfordten 2009a, S. 64; Pfordten 2001, S. 364– 378, insb. S. 370 f. sowie Geismann 2006, S. 14 f. und wohl auch Willaschek 2009, S. 55; Hodgson 2010b, S. 793; Flikschuh 2010, S. 60; Maliks 2013, S. 31, erneut Maliks 2014, S. 66; Horn 2014, S. 303 und Pauer-Studer 2016, S. 130. Vgl. kritisch hierzu schon Hirsch 2012a, S. 88 – 90 und zutreffend Tretter 1997, S. 228 – 232 und S. 275 f. mit Fn. 59. – Vgl. für eine spezifisch transzendental-idealistische Interpretation im Rekurs auf die Bestimmung von innen und außen in der „Amphibolie der Reflexionsbegriffe“ (KrV, A 256 f./B 321 f.) Kaulbach 1982a, S. 78 – 80 oder auch Byrd und Hruschka 2005, S. 491– 495. – Ein möglicher Grund für solche m. E. unzutreffenden Lesarten scheint eine Fehlinterpretation einer Passage in RL, AAVI, S. 214 zu sein: „Die Freiheit, auf die sich die erstern [sc. juridischen] Gesetze beziehen, kann nur die Freiheit im äußeren Gebrauche, diejenige aber, auf die sich die letztere [sc. die ethischen Gesetze] beziehen, die Freiheit sowohl im äußern als innern Gebrauche der Willkür sein, sofern sie durch Vernunftgesetze bestimmt wird. […] [D]ie Freiheit [mag] im äußeren oder inneren Gebrauche der Willkür betrachtet werden, so müssen doch ihre Gesetze, als reine praktische Vernunftgesetze für die freie Willkür überhaupt, zugleich innere Bestimmungsgründe derselben sein: obgleich sie nicht immer in dieser Beziehung betrachtet werden dürfen.“ In dieser Passage erläutert Kant jedoch nicht die Begriffe äußere und innere Freiheit, sondern den äußeren und inneren Gebrauch der Freiheit sowie die juridische und ethische Gesetzgebung. Und ausschließlich auf letztere ist Kants Aussage bezogen, dass die moralischen Gesetze stets auch als mögliche Bestimmungsgründe betrachtet werden. Dies ist die Eigenart der ethischen Gesetzgebung, vgl. dazu unten S. 123 – 125 m. w. N. Gleichwohl wird diese Differenzierung von einem Teil der genannten Autoren übersehen, mit der Folge, dass fälschlicherweise das Spezifikum der ethischen Gesetzgebung in der inneren Freiheit, das der juridischen Gesetzgebung in der äußeren Freiheit gesehen wird. RL, AA VI, S. 214, kursive Hervorhebung P.A.H, vollständig zitiert oben Kap. 3, Fn. 24. Äußere Freiheit bezieht sich auf äußere Handlungen, d. h. Handlungen in Raum und Zeit. Innere Freiheit bezieht sich auf innere Handlungen, d. h. Handlungen die nur in der Zeit sind (vgl. dazu oben Kap. 2, Fn. 74). Dies sind die vernunftbestimmten Zwecksetzungen, die Gegenstand der Tugendpflichten als direkt-ethische Pflichten (vgl. dazu unten S. 120 – 122) sind. Daher kann Kant in TL, AA VI, S. 406 hieran auch die Obereinteilung der Sittenlehre festmachen: „Diese Abson-
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3 Kants Rechtsphilosophie als Teil seiner kritischen Moralphilosophie
setzen steht. Anders gesagt: Die Willkür bzw. der Willkürgebrauch eines Wesens ist solange sittlich indifferent, solange die Willkür keiner moralgesetzlichen Bestimmung unterworfen ist und deswegen einem gesetzlich bestimmten Handlungsspielraum unterliegt. Die menschliche Willkür ist also nur dadurch eine freie Willkür, dass sie durch Vernunftgesetze bestimmbar ist, und ebendiese Bestimmbarkeit durch Vernunftgesetze ist Ausdruck der sittlichen Autonomie.²⁷ Äußere Freiheit (die Unabhängigkeit des Menschen von der nötigenden Willkür anderer) als rechtliches Schutzgut bzw. rechtlicher Schutzbereich ist demzufolge die normative Vorgabe, die die Rechtsgesetze für den äußeren Willkürgebrauch bereithalten, weil der Mensch sittlich autonom und damit notwendig Zweck an sich ist.²⁸ Die Person existiert „a l s Z w e c [ k ] a n s i c h s e l b s t , (welche die oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der Handlungen eines jeden Menschen ist)“,²⁹ und „so fern alle Willkür einschränkt“.³⁰ Nur dieser Zusammenhang erlaubt es Kant, die Nötigung durch andere zu sanktionieren, weil hierdurch der Einzelne „b l o s als Mittel zu irgend einem Zweck des Andern dienen“ würde.³¹ Dementsprechend ist die notwendige Selbstzweckhaftigkeit der
derung, auf welcher auch die Obereintheilung der S i t t e n l e h r e überhaupt beruht, gründet sich darauf: daß der Begriff der Freiheit, der jenen beiden gemein ist, die Eintheilung in die Pflichten der ä u ß e r e n und i n n e r e n F r e i h e i t nothwendig macht; von denen die letztern allein ethisch sind.“ Innere Freiheit besteht also darin, dass unser innerer Willkürgebrauch in Bezug auf Zwecksetzungen unter den sittlichen Gesetzen der Tugendlehre steht, äußere Freiheit bezieht sich auf den äußeren Willkürgebrauch unter Rechtsgesetzen. Vgl. ebenso Oberer 2010, S. 380. Vgl. dazu zutreffend Tretter 1997, S. 232– 234 sowie eingehend unten S. 143, insb. mit Fn. 275. Insofern zutreffend auch Eisfeld 2015, S. 251: Es ist die „Aufgabe des Rechts, die Person als selbstbestimmtes Vernunftwesen zu schützen […]. Dem Menschen kommt daher ein Freiheitsrecht auf ‚Unabhängigkeit von eines Anderen nötigender Willkür‘ zu, das Kant als das einzige Recht bezeichnet, das jedem Menschen kraft seiner Menschheit (Persönlichkeit) zusteht, also kraft seiner Fähigkeit zur praktischen Selbstgesetzgebung.“ Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Kersting 1990, S. 70, jedoch ohne den m. E. entscheidenden Zusammenhang zur Selbstzweckhaftigkeit zu thematisieren. Diesen letztgenannten Zusammenhang übergeht auch Horn 2014, S. 123 f., wenn er behauptet, dass „Kants Rechtsidee […] keiner Gütertheorie [entspringt], weder in dem Sinn, dass durch Rechte Güter geschützt werden, noch in dem Sinn das Rechte selbst Güter sind“. Zwar ist das angeborene Recht »Freiheit« kein intrinsisch wertvolles Gut, wohl ist dies aber die qua Autonomie bestehende vernunftnotwendige Selbstzweckhaftigkeit der Rechtssubjekte, die hierdurch gewahrt wird. GMS, AA IV, S. 430 f. GMS, AA IV, S. 428. VA RL, AA XXIII, S. 341, vollständig zitiert oben S. 72.
3.2 Autonomie und notwendige Selbstzweckhaftigkeit der Person
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autonomen Vernunftnatur Geltungsgrund ihrer äußeren, d. h. rechtlichen,³² Freiheit als Rechtssubjekt.³³ Dieser Begründungszusammenhang wird auch nicht etwa dadurch aufgegeben, dass das Recht von den Handlungszwecken der Rechtssubjekte abstrahiert. Denn vorliegend geht es nicht um die Zwecksetzungen der Rechtssubjekte – von denen das Recht in der Tat absieht –, sondern um die Rechtssubjekte selbst als notwendige Zwecke an sich.³⁴ Insofern weist das Recht zwar keine zu verfolgenden Zwecke positiv aus. Gleichwohl stehen die Zwecksetzungen stets unter dem – gewissermaßen negativ einschränkenden – rechtlichen proviso der notwendigen Wahrung der Selbstzweckhaftigkeit aller betroffenen Rechtssubjekte. In der Rechtslehre wird dies ein wenig dadurch verschleiert, dass die Betrachtung der Rechtssubjekte als Selbstzweck im Begriff der Person aufgeht. Kant rekurriert hier nur deswegen punktuell auf die notwendige Selbstzweckhaftigkeit des Einzelnen, weil die Selbstzweckhaftigkeit – und wohlgemerkt damit auch die Würde –³⁵ stets implizit im Begriff der Rechtsperson mitgedacht ist. Deutlich zeigt dies Kants Behandlung des Strafrechts, wenn er ausführt, dass „der Mensch […] nie bloß als Mittel zu den Absichten eines Anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden [kann], wowider ihn seine angeborne Persönlich Wenn sich äußere Freiheit als Schutzgut notwendig auf äußere Handlungen in Raum und Zeit bezieht, ist sie eo ipso eine spezifisch rechtliche, da sich die innere Freiheit in den allein in der Zeit stattfindenden Zwecksetzungen der Tugendlehre erschöpft, vgl. dazu oben Kap. 2, Fn. 74 und Kap. 3, Fn. 26. Ähnlich Laschet 2011, S. 230: „Im Zentrum der verbindlichkeitstheoretischen Fundierung des ‚angeborenen Rechts‘ […] steht die These, dass das ‚Prinzip der Menschheit […], als Zwe[ck] an sich selbst […] die oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der Handlungen eines jeden Menschen ist‘.“ Vgl. mit teilweise ähnlichen Gedanken Gregor 1963, S. 38; Kersting 1984, S. 92 f.; Kühl 1984, S. 104 f.; Maiwald 1988, S. 153; Kaulbach 1982a, S. 84 f. und Nance 2012, S. 547 f. – Vorliegend geht es zunächst nur um die Rückführung des angeborenen Rechts auf die notwendige Selbstzweckhaftigkeit des Menschen. Welche Relevanz in diesem Zusammenhang die innere Rechtspflicht des honeste vive hat, wird noch im Folgenden eingehend untersucht.Vgl. dazu unten S. 182– 186 und S. 204– 207. Teilweise wird dies nicht deutlich genug auseinandergehalten, vgl. beispielhaft die Problematisierung bei Brandt 2012, S. 334– 337; teilweise auch Horn 2014, S. 57 sowie Wood 2014, S. 81 f. und mit zutreffender Kritik hieran Guyer 2016, S. 45, Fn. 32. Auf den ersten Blick scheint der Begriff Würde in Kants Rechtsphilosophie keine Rolle zu spielen (vgl. konzis zu den Fundstellen Pfordten 2009e, S. 9 – 13). Gleichwohl besteht bei Kant ein durchgehender Verweisungszusammenhang zwischen Personalität, notwendiger Selbstzweckhaftigkeit und Würde, vgl. die Nachweise in Kap. 3, Fn. 38. Ist man daher Rechtssubjekt nur als Person, dann ist man es nur weil und insofern man Zweck an sich ist bzw. Würde hat. Dass sich Selbstzweckhaftigkeit und damit Würde nicht nur in den Gewährleistungen des Rechts, sondern auch in den Geboten der Tugendlehre ausdrücken, bleibt unbenommen. Vgl. zu diesen beiden Aspekten der Selbstzweckhaftigkeit (und Würde) sogleich ausführlich S. 77– 90.
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keit schützt“.³⁶ Eine Person ist keine Sache und kann daher nicht beliebig gebraucht werden. Hierwider schützt die Persönlichkeit, „dadurch allein sie [sc. vernünftige Wesen] Zwecke an sich selbst sind“:³⁷ Die Wesen […] haben dennoch, wenn sie vernunftlose Wesen sind, nur einen relativen Werth, als Mittel, und heißen daher S a c h e n , dagegen vernünftige Wesen P e r s o n e n genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d.i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin so fern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist).³⁸
Wenn Kant also in der Rechtslehre den moralischen Begriff des Rechts auf das „praktische Verhältniß einer Person gegen eine andere“ bezieht,³⁹ so führt er die rechtliche Freiheit implizit auf die notwendige Selbstzweckhaftigkeit der Rechtssubjekte zurück. Hierauf gründet sich ersichtlich auch Kants Vorstellung vom Staat als vernunftrechtliche Koexistenzordnung. Der Mensch als Person ist „in einem solchen Ganzen nicht bloß Mittel, sondern zugleich auch Zweck“.⁴⁰ Man darf ihn nicht wie beliebige Eigentumsgegenstände (z. B. Sachen oder Tiere) „gebrauchen, verbrauchen und verzehren (tödten lassen) […]. Dieser Rechtsgrund […] will sich […] schlechterdings nicht auf den Menschen, vornehmlich als Staatsbürger, anwenden lassen, der im Staat immer als mitgesetzgebendes Glied betrachtet werden muß (nicht bloß als Mittel, sondern auch zugleich als Zweck an sich selbst)“.⁴¹ Diese Notwendigkeit zur Wahrung der Selbstzweckhaftigkeit rührt allein aus der „m o r a l i s c h e [ n ] Persönlichkeit“ her, aus der „folgt, daß eine
RL, AAVI, S. 331.Vgl. auch TL, AAVI, S. 462 „[D]er Mensch kann von keinem Menschen […] bloß als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle andere Weltwesen, die nicht Menschen sind, und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt.“ KpV, AA V, S. 87. Vgl. ähnlich auch KpV, AA V, S. 131 f. GMS, AA IV, S. 428. Vgl. zu entsprechenden Verknüpfungen von Persönlichkeit und Selbstzweckhaftigkeit in der Metaphysik der Sitten nur RL, AA VI, S. 359; 423 und insb. 434 f.: „Allein der Mensch, als P e r s o n betrachtet, d.i. als Subject einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht blos als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen […].“ Vgl. i. Ü. zum begrifflichen Verweisungszusammenhang von Personalität, notwendiger Selbstzweckhaftigkeit und Würde Hirsch 2012a, S. 93 – 95 und in diesem Sinne auch Hruschka 2015, S. 188 f.; Ludwig 2002, S. 146 f.; Kaulbach 1982d, S. 182 f. und Kersting 1984, S. 93, Fn. 199. Vgl. oben S. 55 f. KdU, AA V, S. 375, Fn. *. RL, AA VI, S. 345.
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Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst giebt, unterworfen ist“.⁴² Die Begriffe von Selbstzweckhaftigkeit und Autonomie, so wie sie in der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft entwickelt werden,⁴³ gehen folglich in der Metaphysik der Sitten in Kants Begriff von Personalität auf, welche dem Menschen als Rechtssubjekt (und in der Folge auch als Staatsbürger) notwendig zukommt. Mithin ist der Zusammenhang von Recht und Selbstzweckhaftigkeit in Kants Denken dauerhaft präsent und lässt sich von der Grundlegung bis zur Metaphysik der Sitten nachzeichnen. Gleichwohl bleibt die Frage offen, in welcher Weise das Recht konkret auf diesen Gedanken rekurriert und wie sich davon ausgehend das Verhältnis zur Ethik bestimmt. Eine Erklärung hierfür lässt sich aus der Zweckformel des kategorischen Imperativs in der Grundlegung entwickeln.
3.2.2 Die Zweckformel des kategorischen Imperativs als Ordnungsprinzip von Recht und Ethik Die oben zitierten Beispiele⁴⁴ aus der Grundlegung, die das Recht in Bezug zur Selbstzweckhaftigkeit setzen, dienen dort der Erläuterung des kategorischen Imperativs in der Zweckformel „H a n d l e s o , d a ß d u d i e M e n s c h h e i t s o w o h l i n deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit z u g l e i c h a l s Z w e c k , n i e m a l s b l o ß a l s M i t t e l b r a u c h s t .“⁴⁵ Dieser Imperativ drückt aus, dass „der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen […] RL, AA VI, S. 223. Es ist hervorzuheben, dass diese Bestimmung des Begriffs der moralischen Persönlichkeit in der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ erfolgt und damit von Kant der Rechts- und Tugendlehre gemeinsam vorangestellt wird. Personalität ist also Vorbedingung jeglicher moralischen Pflicht, sei es eine Rechts- oder eine Tugendpflicht. Bei Kant demgegenüber die „Person der Tugendlehre“ von der „Person in der Rechtslehre (Rechtsperson)“ zu unterscheiden – so etwa Herbst 2015, S. 146 – 162 – und dem sogar unterschiedliche Autonomiekonzeptionen zugrundezulegen (erneut Herbst 2015, S. 168 – 172), hieße jedoch, die Einheitlichkeit der Kantischen Moralphilosophie künstlich aufzuspalten. Zwar werden Personalität und Selbstzweckhaftigkeit in Rechts- und Tugendlehre von Kant unter verschiedenen Aspekten betrachtet (vgl. hierzu sogleich eingehend S. 77– 90), sodass ich mit Blick auf das Recht durchaus von Rechtspersönlichkeit als dem rechtlich relevanten Aspekt von Personalität bzw. Persönlichkeit sprechen möchte. Gleichwohl bleibt hierbei – und dies sei nochmals betont – der zugrundeliegende moralische Status des Menschen als autonome Person stets derselbe. Vgl. beispielhaft GMS, AA IV, S. 433 und KpV, AA V, S. 87. Vgl. oben S. 71 f. Die Beispiele dienen zur Veranschaulichung der vollkommenen Pflichten gegen andere. Vgl. dazu ausführlich m. w. N. Laschet 2011, S. 144– 146. GMS, AA IV, S. 429.
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als Zweck an sich selbst [existirt], nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern […] in allen seinen sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden [muß]“.⁴⁶ Der Grund hierfür liegt, wie bereits gezeigt, in der Persönlichkeit des Menschen.⁴⁷ Kant erhebt daher mit der Zweckformel den Anspruch, das „Princip der Menschheit und jeder vernünftigen Natur überhaupt“ und „die oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der Handlungen eines jeden Menschen“ ausgewiesen zu haben.⁴⁸ Um nun den kategorischen Imperativ der Zweckformel – vor dem Hintergrund der eingangs zitierten Passagen zum »Zweck im Recht« – als moralisches Ordnungsprinzip von Recht und Ethik zu etablieren, ist zunächst zu klären, was die Bedingungen dafür sind, die Menschheit in der eigenen Person und der Person des anderen nicht nur als bloßes Mittel, sondern auch als Zweck zu gebrauchen. Kants Antwort in der Grundlegung (bereits mit Blick auf das Reich der Zwecke)⁴⁹ lautet, dass im „Verhältnisse vernünftiger Wesen zu einander“ bei jeder Handlung der Wille eines jeden „jederzeit zugleich als gesetzgebend betrachtet werden muß, weil es [sc. das handelnde vernünftige Wesen] sie [sc. die anderen vernünftigen Wesen] sonst nicht als Zweck an sich selbst denken könnte“.⁵⁰ In der Kritik der praktischen Vernunft präzisiert Kant dies dahingehend, dass jede moralische Handlung unter der Bedingung der „Einstimmung mit der Autonomie des vernünftigen Wesens“ steht: In der ganzen Schöpfung kann alles […] auch b l o s a l s M i t t e l gebraucht werden; nur der Mensch und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf ist Z w e c k a n s i c h s e l b s t . Er ist nämlich das Subject des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit. Eben um dieser willen ist jeder Wille, selbst jeder Person ihr eigener, auf sie selbst gerichteter Wille auf die Bedingung der Einstimmung mit der Autonomie des vernünftigen Wesens eingeschränkt, es nämlich keiner Absicht zu unterwerfen, die nicht nach einem Gesetze, welches aus dem Willen des leidenden Subjects selbst entspringen könnte, möglich ist; also dieses niemals blos als Mittel, sondern zugleich selbst als Zweck zu gebrauchen.⁵¹
GMS, AA IV, S. 428. Vgl. oben S. 75 f. GMS, AA IV, S. 430 f. Von der Zweckformel ausgehend entwickelt Kant in GMS, AA IV, S. 438 die sog. Reich-derZwecke-Formel. „Demnach muß ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre.“ Die hiermit verbundenen Besonderheiten mit Blick auf die Selbstgesetzgebung innerhalb einer idealen Willensgemeinschaft selbstzweckhafter Wesen werden im Folgenden noch eingehend erörtert. Vgl. dazu unten S. 228 – 233. GMS, AA IV, S. 434. KpV, AA V, S. 87, kursive Hervorhebung P.-A. H.
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Nur wenn eine Nötigung als Ausdruck der eigenen, gesetzgebenden reinen praktischen Vernunft begriffen werden kann, ist die eigene Selbstzweckhaftigkeit gewahrt. Autonomie zieht Selbstzweckhaftigkeit nach sich, sodass alle „Maximen jederzeit aus dem Gesichtspunkte seiner selbst [sc. des handelnden Vernunftwesens], zugleich aber auch jedes andern vernünftigen als gesetzgebenden Wesens (die darum auch Personen heißen)“ genommen werden müssen.⁵² Genau dieser Zusammenhang ist in der eingangs zitierten Passage aus der Naturrechtsvorlesung Feyerabend auch beim Recht ausschlaggebend. Denn die rechtliche Handlungseinschränkung zur Wahrung der Selbstzweckhaftigkeit des anderen „beruht auf den Bedingungen der möglichsten allgemeinen Einstimmung des Willens andrer“.⁵³ Jedoch geht es hier nicht um die tatsächliche Einwilligung, die ggf. auch auf kontingenten, auf sinnliche Affektion zurückgehenden Gründen beruhen kann. Entscheidend ist die sittliche Möglichkeit der Einwilligung als Vernunftwesen.⁵⁴ Angesichts der Pluralität autonomer Vernunftwesen verlangt die Zweckformel also nichts anderes, als dass moralisches Handeln wechselseitig stets unter der Bedingung der möglichen Einstimmung jeder autonomen Vernunftnatur steht.⁵⁵ Gleichwohl stellt sich die Frage, wie diese Bedingung der möglichen Einstimmung der autonomen Vernunftnatur gleichzeitig konstitutives Prinzip der Ethik und des Rechts sein kann. Hierauf ist Kants Antwort, dass die Bedingungen für die Einstimmung jeweils verschieden sind: Die notwendige Bedingung ist, dass der eigene Willkürgebrauch der notwendigen Selbstzweckhaftigkeit anderer Vernunftwesen bloß nicht widerstreitet; die hinreichende Bedingung ist, dass er diese befördert. Deutlich zeigt dies Kants Begründung der unvollkommenen Pflichten gegen andere nach der Zweckformel in der Grundlegung:
GMS, AA IV, S. 438. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1319, vollständig zitiert oben S. 70. Vgl. insoweit zutreffend auch Willaschek 2009, S. 60 mit Bezug auf die Zweckformel: „What this formula requires is not that others in fact do consent to the way we treat them, but that they could possibly consent. […] [W]hat Kant seems to have in mind is that people cannot possibly consent to treatment that undermines their standing as rational beings and moral persons.“ Pfordten 2009e, S. 18 f. weist zutreffend darauf hin, dass die sittliche Autonomie als Grund für die vernunftnotwendige Selbstzweckhaftigkeit in der Grundlegung erst in der dritten Formel des kategorischen Imperativs eingeführt wird. Gleichwohl besteht für Kant zwischen der Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs und der Autonomie- bzw. Reich-der-Zwecke-Formel kein sachlicher Unterschied: Die notwendige Selbstzweckhaftigkeit besteht nur, weil und insofern sich das leidende Subjekt selbst als gesetzgebend begreifen kann, was bei einer Pluralität autonomer Vernunftwesen in systematischer Hinsicht nur in der idealen Willensgemeinschaft des Reichs der Zwecke möglich ist.Vgl. auch GMS, AA IV, S. 437 f. sowie zu den verschiedenen Formeln des kategorischen Imperativs sogleich unten S. 90 – 100 mit Fn. 118. Vgl. zum Reich der Zwecke ferner unten S. 228 – 233.
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Nun würde zwar die Menschheit bestehen können, wenn niemand zu des andern Glückseligkeit was beitrüge, dabei aber ihr nichts vorsetzlich entzöge; allein es ist dieses doch nur eine negative und nicht positive Übereinstimmung zur M e n s c h h e i t als Z w e c k a n s i c h s e l b s t , wenn jedermann auch nicht die Zwecke anderer, so viel an ihm ist, zu befördern trachtete. Denn das Subject, welches Zweck an sich selbst ist, dessen Zwecke müssen, wenn jene Vorstellung bei mir a l l e Wirkung thun soll, auch, so viel möglich, meine Zwecke sein.⁵⁶
Entsprechend lassen sich auch in der Zweckformel mit Blick auf Pflichten gegen andere (Handle so, daß du die Menschheit in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst!) eine negative sowie eine positive Bedingung für die Übereinstimmung einer Handlung mit der notwendigen Selbstzweckhaftigkeit des anderen unterscheiden,⁵⁷ insofern sie zwei Maßgaben enthält: Erstens, den anderen nicht als bloßes Mittel zu gebrauchen. Zweitens, den anderen stets auch als Zweck zu gebrauchen.⁵⁸ Die erste Maßgabe entfaltet sich in den Geboten der Rechtslehre, die zweite in denen der Tugendlehre. Somit kann die Zweckformel als Ordnungsprinzip von Recht und Ethik fungieren: Solange ich die rechtliche Freiheit des anderen unangetastet lasse, d. h. meine Willkür mit der des anderen nach allgemeinen Gesetzen vereinbar ist, tangiere ich die Selbstzweckhaftigkeit des anderen nicht. Ich behandele den anderen nicht als bloßes Mittel und lasse ihn sich nach seinen eigenen Zwecken bestimmen. Hierin besteht – wie bereits gezeigt – Kants Verständnis vom angeborenen Recht als „Unabhängigkeit des Menschen von der Willkühr Anderer nicht nach ihren sondern dadurch zu-
GMS, AA IV, S. 430. Vgl. in diesem Sinne auch die Unterscheidung zwischen positivem und negativem Verständnis der Zweckformel bei Mulholland 1989, S. 135; Ricken 1987/1988, S. 8 f. und Willaschek 2009, S. 60. Wildt 1997, S. 167 versucht, dasselbe Ergebnis durch eine Kombination von Gesetzes- und Selbstzweckformel zu erreichen, übersieht jedoch, dass die Unterscheidung bereits in der Selbstzweckformel selbst angelegt ist. Demgegenüber hat bereits Gregor 1963, S. 39 den hier interessierenden Punkt deutlich herausgestellt: „But Kant explains that within this formula [sc. the formula of humanity as an end-in-itself] we can distinguish two commands: the negative command not to use persons merely as means to our subjective ends and the positive command to promote the essential ends of humanity, more specifically, our own perfection and the happiness of others. It is the positive command that has to do with what we would normally call ‚ends‘, i. e. objects or states of affairs which we intend to bring into being through our actions. This command will be the concern of ethics exclusively. But the negative command is of the utmost importance for Law.“ Jemanden nicht bloß als Mittel zu gebrauchen, heißt nicht automatisch, ihn auch als Zweck zu gebrauchen. Die erste Maßgabe der Zweckformel erschöpft sich in einer negativen Unterlassenpflicht. Der Pflicht, den anderen nicht als bloßes Mittel zu behandeln, wird also bereits dadurch Genüge getan, dass man sich gar nicht zu ihm verhält. Erst wenn es überhaupt zur Interaktion mit anderen kommt, tritt die positive Handlungspflicht, diese stets auch als Zweck zu gebrauchen, notwendig hinzu. Vgl. in diesem Sinne auch Kants Beispiel in GMS, AA IV, S. 430.
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gleich nach seinen eigenen Zwecken handeln zu dürfen d.i. nicht b l o s als Mittel zu irgend einem Zweck des Andern dienen zu d ü r f e n (genöthigt werden zu können)“.⁵⁹ Recht formuliert mithin die notwendige Bedingung für die Übereinstimmung einer Handlung mit der Selbstzweckhaftigkeit des anderen. Die hinreichende Bedingung besteht jedoch in der „positive[n] Übereinstimmung zur M e n s c h h e i t als Z w e c k a n s i c h s e l b s t “.⁶⁰ Dies erfordert „einen Willen Andere auch für uns zu Zwecken zu machen“, sodass „fremde Glückseligkeit ein Zweck sei, der zugleich Pflicht ist“.⁶¹ Tugendpflichten gegen andere erfordern daher im Verhältnis zu anderen, „ihre Zwecke (so fern diese nur nicht unsittlich sind) zu den meinen zu machen“.⁶² Um diesen Zusammenhang noch einmal zu präzisieren: Die Zweckformel formuliert mit Blick auf Pflichten gegen andere in negativer Hinsicht lediglich Koexistenzbedingungen, welche allein garantieren, dass der andere nicht als bloßes Mittel gebraucht wird.⁶³ Die Gebote des Rechts stützen sich ausdrücklich auf diesen negativen Aspekt der Zweckformel und enthalten die notwendigen Bedingungen für die Beachtung der Selbstzweckhaftigkeit autonomer Vernunftwesen.⁶⁴ Erst unter Bedingungen des Rechts ist es möglich, dass die Einstimmung anderer autonomer Vernunftwesen in meinen Willkürgebrauch überhaupt denkbar ist. Entsprechend möchte Kant in Zum ewigen Frieden „meine äußere
VA RL, AA XXIII, S. 341, vgl. oben S. 72. Vgl. GMS, AA IV, S. 430. TL, AA VI, S. 391. TL, AA VI, S. 450. Diesen Zusammenhang stellt im Grunde auch Steigleder 2002, S. 146 f. heraus: „[E]in Handeln kann recht sein, und gleichwohl moralisch falsch sein, da der Handelnde der unbedingt notwendigen Zweckhaftigkeit der Betroffenen nicht angemessen Rechnung trägt. […] Die Rechtheit des Handelns […] ist deshalb eine zwar notwendige, nicht aber schon eine zureichende Bedingung für die moralische Richtigkeit einer Handlung.“ Allerdings ist die Rede von der „moralischen Richtigkeit einer Handlung“ irreführend, insofern suggeriert wird, die Rechtslehre sei gegenüber der Tugendlehre sittlich defizient. Insofern Rechts- und Tugendlehre gleichermaßen moralische Gesetze enthalten, ist die Erfüllung von Rechtspflichten – auch wenn sie nur Legalität und nicht Moralität impliziert – selbstverständlich moralisch richtig, da die moralische Rechtspflicht auch nicht mehr als Rechtshandeln verlangt. Erst im Hinblick auf die Frage, welches Verhalten (eines nach Rechts- oder eines nach Tugendgesetzen) mehr zur Selbstzweckhaftigkeit des Einzelnen beitrage, kann man – vereinfachend – von einem quantitativen Unterschied sprechen. Vgl. im Ergebnis ähnlich Gregor 1963, S. 40 und – obgleich schon auf die politische Gemeinschaft bezogen – Dreier 1979, S. 28. Diesen negativen Aspekt der Zweckformel hat besonders deutlich schon Langthaler 1991, S. 34– 54 herausgearbeitet, der zutreffend von der „negativ-einschränkende[n] Version der Menschheitsformel“ (ebd., S. 36) spricht, welche „nicht mehr als gewissermaßen eine bloße Minimalbedingung [formuliert]“ (ebd., S. 40).Vgl. im Ergebnis ähnlich auch Ricken 1987/1988, S. 8.
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(rechtliche) F r e i h e i t so […] erklären: sie ist die Befugniß, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können.“⁶⁵ In einem System autonomer Vernunftwesen muss deren Freiheitsgebrauch allgemeingesetzlich verträglich sein, damit er der allgemeinen Einstimmung fähig ist.⁶⁶ Ein Willkürgebrauch, der die äußere Freiheit des anderen unilateral einschränkt, d. h. nicht mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz verträglich ist, hebt die Selbstzweckhaftigkeit des anderen auf und ist daher unrecht.⁶⁷ Dabei vernachlässigt die Rückführung des Rechts auf die notwendige Selbstzweckhaftigkeit der Person keineswegs die empirischen Anwendungsbedingungen des Rechts. Sicherlich begründen Körperlichkeit und räumliche Begrenztheit der Außenwelt Probleme eigener Art für die Koexistenz von Menschen unter Rechtsgesetzen. Ohne Rekurs auf die notwendige Selbstzweckhaftigkeit autonomer Vernunftwesen sind dies jedoch zunächst nur rein pragmatische Probleme der Koordination äußerer Handlungsbereiche ohne jegliche moralische Verbindlichkeit bzw. kategorische Geltung. Erst wenn man der (räumlichen) Koexistenz-Problematik die Vorstellung der notwendigen Selbstzweckhaftigkeit des Menschen zugrundelegt, wird hieraus ein moralisches Problem.⁶⁸ Die kategorische Geltung rechtlicher Gebote resultiert daher allein aus der notwendigen Selbstzweckhaftigkeit der Person und dem entsprechenden Verbot im Verhältnis zu anderen, diese zum bloßen Mittel zu degradieren. Die Tatsache, dass diese Vorschrift für den Menschen als sinnlich-affiziertes Vernunftwesen unter der Anwendungsbedingung von Raum und Zeit steht, ist hierfür nicht konstitutiv.⁶⁹
ZeF, AA VIII, S. 350, Fn. *, kursive Hervorhebung P.-A. H. Hiermit ist nur die Möglichkeit der Einstimmung angesprochen. Denn ich kann einer gesetzlichen Einschränkung meiner Freiheit nach Prinzipien des Rechts zustimmen, obgleich hierdurch meinen besonderen Zwecken noch gar nicht Rechnung getragen wird. Vgl. ähnlich Gregor 1963, S. 40 und auch Dreier 1979, S. 28. Recht lässt sich also unmittelbar als normative Implikation der Pluralität autonomer Vernunftwesen begreifen: Wenn jede autonome Vernunftnatur notwendig Selbstzweck ist, hat jeder nur unter den Bedingungen allgemeingesetzlicher Gleichheit Anspruch auf die Wahrung seiner Selbstzweckhaftigkeit, d. h. auf rechtliche Freiheit (vgl. oben S. 70 – 75). Vgl. im Ergebnis ähnlich Ricken 1987/1988, S. 9. Wie seit Pufendorf (vgl. Pufendorf, De jure naturae et gentium, I, 1, §§ 1– 3) in der klassischen Naturrechtslehre anerkannt, setzt moralische Verpflichtung den Status des Menschen als entium moralium voraus. Denn jede Handlungsbeschränkung, die sich Menschen lediglich in ihrer Eigenschaft als bloß-sinnliche Weltwesen auferlegen, unterliegt allenfalls einem Klugheitskalkül. Rechte und Pflichten hat man nach Kant jedoch ausschließlich als entium moralium, d. h. als am Intelligiblen teilhabendes und daher der moralischer Verpflichtung fähiges Wesen. Vgl. dazu ausführlich unten S. 156 – 158. Rechtsgebote beziehen sich als Gebote, d. h. als Pflicht, notwendig auf den Mensch als sinnlich-affizierten Adressaten unter den empirischen Bedingungen von Raum und Zeit. Darüber
3.2 Autonomie und notwendige Selbstzweckhaftigkeit der Person
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Jedoch wird der Selbstzweckhaftigkeit des anderen durch die Koexistenzbedingungen, die das Recht formuliert, noch nicht hinreichend Rechnung getragen. Wie gezeigt, erfordert dies nach der Zweckformel „positive Übereinstimmung zur M e n s c h h e i t als Z w e c k a n s i c h s e l b s t “.⁷⁰ Diesem Erfordernis trägt in ausdrücklicher Abgrenzung zum Recht „[d]as oberste Princip der Tugendlehre“ Rechnung: [H]andle nach einer Maxime der Z w e c k e , die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann. – Nach diesem Princip ist der Mensch sowohl sich selbst als Andern Zweck, und es ist nicht genug, daß er weder sich selbst noch andere blos als Mittel zu brauchen befugt ist (dabei er doch gegen sie auch indifferent sein kann), sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an sich selbst des Menschen Pflicht.⁷¹
Dieses Handlungsprinzip berücksichtigt – wie in der Grundlegung vom positiven Gebot der Zweckformel gefordert – die Selbstzweckhaftigkeit des anderen in
hinaus kann den Anwendungsbedingungen im Hinblick auf das Recht nur bedingt ein apriorischer Status zugeschrieben werden. So spricht etwa Brandt 1982, S. 270 davon, „es [gäbe] keine Problematik der Rechtsrealisierung“, „[h]ätte die Erde als der Wohnplatz der Menschen keine Kugelgestalt“. Die „Kugelform der Erde“ sei daher „für die ‚Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre‘ […] ein empirisches Faktum apriori“. Vgl. ähnlich Kersting 2004, S. 14 und 17; Höffe 1982, S. 346 347 f., insb. erneut Höffe 1999a, S. 50 und Laschet 2011, S. 175 – 182. Jedoch ergibt sich das für das Recht maßgebliche Verbot der Instrumentalisierung anderer schon a priori durch die Annahme einer Pluralität selbstzweckhafter Vernunftwesen im Reich der Zwecke, ohne dass dabei empirische Prämissen über deren etwaige raum-zeitliche Verfasstheit mit einfließen. Dass eine solche Instrumentalisierung beim Menschen als besonderem Vernunftwesen intersubjektiven Kontakt unter den Bedingungen von Räumlichkeit, Körperlichkeit und Begrenztheit der Erdoberfläche erfordern mag, ist allenfalls eine anthropologisch notwendige Anwendungsbedingung. Als solches hat dies jedoch keine selbstständige normative Kraft und ist daher in moralischer Hinsicht nicht konstitutiv für Rechtskonflikte.Vgl. hierzu kritisch bereits oben S. 56 mit Fn. 94 und eingehend unten S. 159 – 164 sowie zu den anthropologischen Prämissen von Kants Rechts- und Staatslehre zuletzt Täschner 2012 und Höffe 2012. – Gänzlich verfehlt ist es jedoch, wie Baumanns 1979, S. 98 aus Kants Ausführungen über menschliche Harmonie und Antagonismus in der Naturgarantie in Zum ewigen Frieden zu folgern, dass die Rechtslehre letztlich doch ein „empirischanthropologische[s] Prinzip“ enthalte und Kant gegen seine eigene Forderung nach „Apriorität der reinen Vernunft und ihrer Begriffe verstoße“. Vgl. GMS, AA IV, S. 430 und dazu oben S. 79 – 81. TL, AA VI, S. 395. Zu Recht betonen Schnoor 1989, S. 45, Fn. 17; Wildt 1997, S. 166 sowie Laschet 2011, S. 168, Fn. 6 die Ähnlichkeit der Selbstzweckformel mit dem obersten Prinzip der Tugendlehre, verkennen dabei jedoch grundlegend deren Relevanz für das Recht. Erst insofern die Selbstzweckformel eine positive Maximenbestimmung nach Maßgabe der Selbstzweckhaftigkeit verlangt, enthält sie einen Verweis auf die Beförderung fremder Glückseligkeit und eigener Vollkommenheit. Vgl. ähnlich Langthaler 1991, S. 44, erneut Langthaler 2014, S. 197– 199 sowie ausführlich unten S. 90 – 101 mit Fn. 97 und 118.
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hinreichender Weise, indem es über das rein negative Prinzip des Rechts hinausgeht, welches lediglich verbietet, „andere blos als Mittel zu brauchen“. Insofern der andere autonomes Vernunftwesen (d. h. Zweck an sich selbst) ist, ist er auch für mich notwendig Zweck, der mir von der reinen praktischen Vernunft a priori zur Verfolgung aufgegeben ist.⁷² Andere stets auch als Zweck zu behandeln,
Vgl. dazu TL, AA VI, S. 395: „Was im Verhältniß der Menschen zu sich selbst und anderen Zweck sein k a n n , das i s t Zweck vor der reinen praktischen Vernunft; denn sie ist ein Vermögen der Zwecke überhaupt, in Ansehung derselben indifferent sein, d.i. kein Interesse daran zu nehmen, ist also ein Widerspruch: weil sie alsdann auch nicht die Maximen zu Handlungen (als welche letztere jederzeit einen Zweck enthalten) bestimmen, mithin keine praktische Vernunft sein würde. Die reine Vernunft aber kann a priori keine Zwecke gebieten, als nur so fern sie solche zugleich als Pflicht ankündigt; welche Pflicht alsdann Tugendpflicht heißt.“ Die Ableitung der Pflichtzwecke in der Tugendlehre ist damit – entgegen Laschet 2011, S. 165 f. mit Fn. 6 – die konsequente Weiterführung des Begriffsverständnisses der Grundlegung. Dort (GMS, AA IV, S. 437) bestimmt Kant den „s e l b s t ä n d i g e [ n ] Zweck, […] [sc. welcher] jederzeit zugleich als Zweck in jedem Wollen geschätzt werden muß“ als „nichts anderes als das Subject aller möglichen Zwecke selbst“. Dies ist jedoch die autonome Vernunftnatur, welche als „Z w e c k a n s i c h s e l b s t […] die oberste einschränkende Bedingung aller subjektiven Zwecke“ ist (GMS, AA IV, S. 431). Was jedoch Möglichkeitsbedingung aller Zwecksetzung überhaupt ist, das ist für die reine praktische Vernunft – als „Vermögen der Zwecke überhaupt“ (TL, AA VI, S. 395) – notwendiger Gegenstand der Achtung. Soll es mithin reine praktische Vernunft geben, muss die autonome Vernunftnatur als „Z w e c k […], nicht den wir haben, sondern haben sollen“ (TL, AA VI, S. 396) angenommen werden. Daher ist obige Bestimmung so zu lesen: „Was im Verhältniß der Menschen zu sich selbst und anderen Zweck [sc. an sich, P.-A. H.] sein k a n n , das i s t Zweck vor der reinen praktischen Vernunft“. Im Hinblick auf die eigene Person ist der Mensch nur in Ansehung der Menschheit in seiner Person Zweck an sich selbst. Innere Tugendpflicht ist daher der Zweck eigener Vollkommenheit, „sich aus der Rohigkeit seiner Natur, aus der Thierheit (quoad actum), immer mehr zur Menschheit, durch die er allein fähig ist sich Zwecke zu setzen, empor zu arbeiten“ und „[d]ie Cultur seines Willens bis zur reinsten Tugendgesinnung, da nämlich das Gesetz zugleich die Triebfeder seiner pflichtmäßigen Handlungen wird, zu erheben“ (TL, AA VI, S. 387). In Bezug auf andere besteht die Tugendpflicht im Zweck fremder Glückseligkeit. Diese Bestimmung rekurriert nunmehr auf die Menschheit in der Person des anderen, denn „das Subject, welches Zweck an sich selbst ist, dessen Zwecke müssen […] auch, so viel möglich, meine Zwecke sein“.Vgl. GMS, AA IV, S. 430 und dazu schon oben S. 79 f. Vgl. dazu auch die aufschlussreichen Ausführungen von Steigleder 2002, S. 246– 254 und ähnlich Dreier 1979, S. 22– 25. S. auch Gregor 1963, S. 76 – 94, erneut Gregor 2008, S. LI f.; Baum 2007, S. 221 f. sowie Laschet 2011, S. 165 – 168 mit Fn. 6, welche jedoch die Bedeutung der notwendigen Selbstzweckhaftigkeit der autonomen Vernunftnatur für die Ableitung der Tugendpflichten nicht hinreichend thematisieren. – Allerdings ist an dieser Stelle einschränkend zu sagen, dass eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit lediglich in der Grundlegung sowie in der „Einleitung zur Tugendlehre“ der Metaphysik der Sitten als alleinige Pflichtzwecke ausgewiesen werden. Im Hauptteil der Tugendlehre stellt Kant jedoch ein komplexeres, teilweise anderes System von Tugendpflichten vor.Vgl. dazu eingehend unten Kap. 3, Fn. 80 und 81.
3.2 Autonomie und notwendige Selbstzweckhaftigkeit der Person
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erfordert nun, an ihren empirischen Zwecken Interesse zu nehmen.⁷³ In der Tugendlehre mache ich mir also gerade die Zwecke zu eigen, von denen das Recht abstrahiert. Demgegenüber lassen sich Rechtsgebote analytisch aus dem Begriff der Willkürfreiheit entwickeln. Ihre Befolgung ist möglich, ohne auf die besonderen Interessen anderer Rücksicht zu nehmen und sie erst dadurch – wie es Tugendpflichten fordern – positiv als Zweck zu behandeln. Anschaulich führt Kant hierzu in der Naturrechtsvorlesung Feyerabend aus: „Wenn ich eines andern Glückseeligkeit nicht befördere; so thue ich seiner Freiheit keinen Abbruch, sondern ich lasse ihn thun, was er will.“⁷⁴ Damit hat das Recht in gewisser Weise einen prioritären Status: Die Tugendlehre verlangt Übereinstimmung des Freiheitsgebrauchs mit den besonderen Zwecken anderer. Conditio sine qua non hierfür ist jedoch stets, dass der Freiheitsgebrauch überhaupt erst einmal mit der Freiheit anderer vereinbar ist: Die Grundsätze des freyen Willens, durch durchgängige Einstimmung nach Gesetzen, sind entweder mit uns selbst oder andern. […] Die letztern sind Grundsätze der Uebereinstimmung mit der Freiheit und dem Interesse des Willens andrer. Das erste ist das strikte Recht. Zum letzten gehört Wohlwollen und Gütigkeit, denn Interesse ist Glückseligkeit. Das gehört auch zur Ethik. Ich kann ohne diese letztern Grundsätze die erstern befolgen. Jus enthält also bloß die Angabe der Freiheit, wodurch eine die andre einschränkt, also Wirkung und Gegenwirkung. Das Recht beruht bloß auf Freiheit.⁷⁵
3.2.3 Die vernunftnotwendige Selbstzweckhaftigkeit autonomer Vernunftwesen als oberstes Prinzip aller moralischen Gesetze Damit ist die sprichwörtliche Blaupause offengelegt, nach der Kant seine kritische Moralphilosophie als Ganze konstruiert und das Verhältnis von Recht und Ethik bestimmt. Die Pluralität autonomer und somit objektiv selbstzweckhafter Ver-
Vgl. zutreffend Ricken 1987/1988, S. 9: „Ich kann mir die Menschheit in der Person des anderen nur in der Weise zum Zweck machen, daß ich Interesse nehme an den empirischen Zwecken des anderen, denn nur als Vermögen der Zwecke kann die reine praktische Vernunft sich bestätigen.“ Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1329. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1336, kursive Hervorhebung P.-A. H. Deutlich wird dies auch, wenn Kant in MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 669 ausführt, dass „die officia debiti die nothwendige Bedingung enthalten, daß nur derselben Erfüllung erst die Freiheit giebt, andere Pflichten [sc. Liebespflichten] zu erfüllen, und seine Pflichtmäßigkeit zu erweitern“. Somit setzt tugendhaftes Handeln schon immer Rechtshandeln voraus, denn jemanden als Zweck zu behandeln, heißt a fortiori, ihn nicht als bloßes Mittel zu behandeln. Insofern ist die Erfüllung von Rechtspflichten als strikten Unterlassungspflichten gegenüber den Tugendpflichten als positiven Handlungspflichten prioritär. Vgl. dazu auch eingehend unten S. 373 – 376.
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nunftwesen konstituiert die normative Forderung, dass jede Handlung unter der Bedingung der Einstimmung der autonomen Vernunftnatur steht. Rechts- und Tugendlehre formulieren nun die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für eine solche Einstimmung. Eine Antwort auf die eingangs aufgeworfene Frage Warum überhaupt Recht? kann hinter diesen Punkt nicht zurückgehen: Die von der reinen praktischen Vernunft geforderte Wahrung der Selbstzweckhaftigkeit autonomer Vernunftwesen ist der letzte Grund für die Notwendigkeit und Verbindlichkeit des Rechts. Hiermit ist jedoch nicht gemeint, das Recht – im Sinne der zu Anfang des Kapitels erwähnten moralteleologischen Interpretation – in den „Dienst der Sittlichkeit“⁷⁶ zu stellen. Dies hieße, die Ethik zum Erklärungsprinzip des Rechts zu machen.⁷⁷ Im Gegenteil, Recht schafft nach der hier vorgeschlagenen Lesart lediglich einen moralischen Schutzbereich, ohne zu bestimmen, wie dieser Schutzbereich durch die Rechtssubjekte genutzt wird.⁷⁸ Gleichwohl lässt sich die
So kritisch gegenüber einer moralteleologischen Argumentation Kühl 1984, S. 51. Nach der moralteleologischen Rechtsauffassung ist das Recht nur Mittel zum Zweck der moralischen Pflichterfüllung, insofern es letztlich dem Schutz der Auswirkungen transzendentaler Freiheit in der empirischen Welt dienen soll. Hiernach kommen Rechte den Menschen nur zu, damit sie allererst sittlich gut (i. S. v. Moralität, d. h. sittlich wertvollem Handeln aus Pflicht) handeln können. Erster Vertreter einer solchen Lesart des Kantischen Rechtsbegriffs war Haensel 1926. Nach ihm steht die transzendentale Freiheit „als moralischer Grund hinter dem Recht“. Die äußere, vom Recht geschützte Freiheit ist nur „Freiheit in dem Sinne, daß die Erscheinung der transzendentalen Freiheit an uns von anderen nicht behindert werden darf“ (Haensel 1926, S. 16). In der Folge fand die These Haensels vor allem bei Rechtsphilosophen juristischer Provenienz viel Anklang, z. B. Larenz 1943, S. 282: „Das Recht schränkt die Willkür ein um der (transzendentalen) Freiheit willen. Kants ‚allgemeines Rechtsgesetz‘ […] verlangt von jedem, seine Willkür einzuschränken, nicht, wie man oft angenommen hat, damit die W i l l k ü r aller anderen in möglichst großem Umfange bestehen könne, sondern damit die t r a n s z e n d e n t a l e F r e i h e i t eines jeden, genauer: ihre Auswirkung durch Handlungen in der Sinnenwelt, nicht behindert werde“.Vgl. ebenso Dulckeit 1973, S. 5; Schreiber 1966, S. 42 sowie zuletzt mit einem Rehabilitationsversuch dieser Lesart Kalscheuer 2014, S. 160 – 171; 206 – 213 und S. 225.Vgl. näher zur moralteleologischen Rechtsauffassung und zu weiteren Vertretern dieser These stellvertretend nur Kersting 1984, S. 42– 50; Kühl 1984, S. 51– 62 und Müller 1996, S. 17– 68. Daher ist die moralteleologische Rechtsauffassung (vgl. oben Kap. 3, Fn. 77) entschieden abzulehnen, auch wenn die hier vorgeschlagene Interpretation eine ihrer Grundintuitionen teilt, namentlich die Überzeugung, Kants Moralphilosophie sei „einheitlich entworfen und daher auch in seinen einzelnen Teilen nur aus dem Geiste heraus auszulegen, der dem Gesamtsysteme zugrunde liegt, dem Geiste der Autonomie“ (Haensel 1926, S. 55). Auch nach meiner Lesart geht es darum, Recht und Ethik aus dem kategorischen Imperativ abzuleiten und auf das Autonomietheorem zurückzuführen. Jedoch liegt die zentrale Differenz zu einer moralteleologischen Rechtsauffassung darin, dass nach letzterer jede Handlung (= Akt empirisch-psychologischer Freiheit) als Erscheinung ursprünglich auf einen Akt transzendentaler Freiheit zurückgeführt
3.2 Autonomie und notwendige Selbstzweckhaftigkeit der Person
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notwendige Selbstzweckhaftigkeit autonomer Vernunftwesen als gemeinsames, übergeordnetes Erklärungsprinzip von Recht und Ethik verstehen: Hiernach konzipiert Kant die Moral als ein Normen-System selbstzweckhafter Vernunftwesen unter Gesetzen der Freiheit, wobei Recht und Ethik die beiden Ordnungsprinzipien dieses Systems sind. Materiell ist daher das oberste Prinzip aller moralischen Gesetze – und damit aller Rechts- und Tugendpflichten – die autonome Vernunftnatur als objektiv notwendiger Zweck an sich selbst: Wenn es denn also ein oberstes praktisches Princip und in Ansehung des menschlichen Willens einen kategorischen Imperativ geben soll, so muß es ein solches sein, das aus der Vorstellung dessen, was nothwendig für jedermann Zweck ist, weil es Z w e c k a n s i c h s e l b s t ist, ein o b j e c t i v e s Princip des Willens ausmacht, mithin zum allgemeinen praktischen Gesetz dienen kann. Der Grund dieses Princips ist: d i e v e r n ü n f t i g e N a t u r e x i s t i r t a l s Z w e c k a n s i c h s e l b s t . […] [A]lso ist es zugleich ein o b j e c t i v e s Princip, woraus als einem obersten praktischen Grunde alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können.⁷⁹
Obgleich die autonome und damit selbstzweckhafte Vernunftnatur materiell einziges und oberstes Prinzip aller moralischen Gesetze ist, resultieren formell aus diesem einen obersten Prinzip unterschiedliche praktische Gesetze. Denn die vernunftnotwendige Selbstzweckhaftigkeit konstituiert zum einen die Pflicht, die Persönlichkeit in eigener Person sowie in der Person des anderen zu wahren werden muss. Kurz: Das Recht des Einzelnen wird als Befugnis zur sittlichen Pflichterfüllung verstanden. Damit schießt dieser Ansatz jedoch gewissermaßen über das Ziel hinaus, indem er das Recht zur Schutzfunktion für die Entfaltung individueller Sittlichkeit und Moralität degradiert. Hiervon grenzt sich die hier vorgeschlagene Lesart deutlich ab. Das Recht vor dem Hintergrund der vernunftnotwendigen Selbstzweckhaftigkeit der Rechtssubjekte zu betrachten, bedeutet lediglich, die notwendigen Bedingungen für die Koexistenz autonomer Vernunftwesen zu formulieren. Recht schafft hiernach einen moralischen Schutzbereich, ohne zu bestimmen, wie dieser Schutzbereich durch das Rechtssubjekt genutzt wird. Insofern bei Kant das Recht allein die Wahrung der Selbstzweckhaftigkeit des anderen fordert, verlangt es bloß, den anderen nicht als Mittel zu gebrauchen und dadurch zu gewährleisten, dass sich dieser nach seinen eigenen (ggf. kontingenten) Zwecken bestimmen kann. Jedoch wird damit weder ein Handeln aus Pflicht (d. h. Moralität), noch die Setzung vernunftbestimmter Zwecke gefordert. Die Vertreter einer moralteleologischen Rechtsinterpretation scheinen diesen Punkt nicht zu erkennen, weil sie das subjektive Recht als äußere Freiheit zur eigenen sittlichen Pflichterfüllung verstehen und damit gezwungen sind, das Recht einseitig von der Ethik abhängig zu machen. Damit übersehen sie jedoch die Pluralität autonomer Vernunftwesen und die Perspektive des anderen. So entgeht ihnen, dass die Rechtsbegründung bei Kant nicht von der Möglichkeit zur eigenen Pflichterfüllung her erfolgt, sondern von der Pflicht, den andern nicht in seiner Selbstzweckhaftigkeit in Frage zu stellen, d. h. ihn nicht bloß als Mittel zu gebrauchen. GMS, AA IV, S. 428 f.
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3 Kants Rechtsphilosophie als Teil seiner kritischen Moralphilosophie
(negative Schutzpflichten der Rechtslehre), und zum anderen die Pflicht, dieselbe Persönlichkeit jeweils zu befördern (positive Beförderungspflichten der Tugendlehre). Hieraus lassen sich nun sämtliche moralischen Pflichten herleiten: –
Rechtspflichten gegen andere gebieten einen Freiheitsgebrauch, der mit dem Recht der Menschen verträglich ist. Dies erfordert, andere nicht bloß als Mittel zu behandeln. D. h., ihre Persönlichkeit nicht zu verletzen.
–
Tugendpflichten gegen andere gebieten einen Freiheitsgebrauch, der mit dem Zweck der Menschen zusammenstimmt. Dies erfordert, der Selbstzweckhaftigkeit anderer positiv Rechnung zu tragen. D. h. insbesondere, sich die Beförderung fremder Glückseligkeit zum eigenen Zweck zu machen.⁸⁰
Die Tugendpflicht zur Beförderung fremder Glückseligkeit ist sicherlich paradigmatisch dafür, die Selbstzweckhaftigkeit des anderen positiv anzuerkennen und sich dessen Zwecke zu den eigenen zu machen. Doch während sich Kants Ausführungen in der Grundlegung hierauf beschränken (vgl. GMS, AA IV, S. 430), entwickelt Kant in der Tugendlehre ein komplexeres, teilweise divergierendes System von Tugendpflichten gegen andere. Allerdings lässt sich – angesichts der vielfältigen Spannungen innerhalb der Tugendlehre zwischen den Einleitungen und dem Hauptteil (s. dazu auch unten S. 193 – 197 mit Fn. 139) – nicht mit Sicherheit sagen, ob die Tugendlehre eine konsistente, gefestigte Konzeption Kants wiedergibt. In der „Einleitung zur Tugendlehre“ kennt Kant lediglich die Tugendpflicht zur Beförderung fremder Glückseligkeit und unterscheidet in TL, AA VI, S. 393 f. zwischen der „[ p ] h y s i s c h e [ n ] Wo h l f a h r t “, die Glückseligkeit anderer positiv zu befördern, und dem „[ m ] o r a l i s c h e [ n ] Wo h l s e i n Anderer“, welches „auch zu der Glückseligkeit Anderer [gehört], die zu befördern für uns Pflicht, aber nur negative Pflicht ist. […] [N]ichts zu thun, was nach der Natur des Menschen Verleitung sein könnte zu dem, worüber ihn sein Gewissen nachher peinigen kann, welches man Skandal nennt.“ Dies entspricht im Ergebnis der Konzeption der Grundlegung, vgl. dazu bereits oben Kap. 3, Fn. 72. Jedoch weicht hiervon die Konzeption im Haupteil teilweise deutlich ab. Zum einen kennt Kant hier verschiedene Liebespflichten gegen andere, von denen die der Wohltätigkeit (i. E. der Beförderung fremder Glückseligkeit) nur eine besondere ist (vgl. TL, AA VI, S. 450 – 461). Zum anderen stellt er den Liebespflichten die Achtungspflichten gegenüber (vgl. TL, AA VI, S. 462– 468). Letztere sind zwar Tugendpflichten, haben jedoch – und dies ist vorliegend von Interesse – auch eine gewisse Ähnlichkeit zu Rechtspflichten: „Auch wird die Pflicht der freien Achtung gegen Andere, weil sie eigentlich nur negativ ist (sich nicht über Andere zu erheben) und so der Rechtspflicht, niemanden das Seine zu schmälern, analog, obgleich als bloße Tugendpflicht, verhältnißweise gegen die Liebespflicht für e n g e , die letztere also als w e i t e Pflicht angesehn. Die Pflicht der Nächstenliebe […] ist die Pflicht Anderer ihre Z w e c k e […] zu den meinen zu machen; die Pflicht der Achtung meines Nächsten […], keinen anderen Menschen blos als Mittel zu meinen Zwecken abzuwürdigen (nicht zu verlangen, der Andere solle sich selbst wegwerfen, um meinem Zwecke zu fröhnen).“ (TL, AA VI, S. 449 f.) Diese eigentümliche Stellung der Achtungspflichten scheint daraus zu resultieren, dass es für Kant im intersubjektiven Verhältnis drei mögliche Relata von Freiheit und Zweck gibt. Vgl. VA TL, AA XXIII, S. 406 f.: „Die Pflichten gegen Andere sind entweder die der Annäherung der Menschen zu einander (Liebespflichten) oder des Abstandes von einander (Achtungspflichten) – die erstern gehen auf die Zusammenstimmung des
3.2 Autonomie und notwendige Selbstzweckhaftigkeit der Person
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–
Rechtspflichten gegen sich selbst gebieten einen Freiheitsgebrauch, der mit dem Recht der Menschheit in mir verträglich ist. Dies erfordert, sich selbst nicht bloß als Mittel zu behandeln oder behandeln zu lassen, sondern sich in seiner Persönlichkeit zu erhalten.
–
Tugendpflichten gegen sich selbst gebieten einen Freiheitsgebrauch, der mit dem besonderen Zweck der Menschheit in mir zusammenstimmt. Dies erfordert, sich die eigene Selbstvervollkommnung zum Zweck zu machen.⁸¹
Zwecks der Menschen zu den Zwecken aller Anderen die zweyte zu der Freyheit jedes Anderen. – Nun ist der Grundsatz der Zusammenstimmung der Freyheit des Menschen mit der Freyheit von jedermann ein Princip des Rechts[;] der Grundsatz aber der Zusammenstimmung des Zwecks der Menschen mit jedermanns Freyheit […] ein Princip der Achtung.“ Rechtspflichten betreffen hiernach ausschließlich das wechselseitige Willkürverhältnis, d. h. ein Verhältnis der Freiheit des einen zur Freiheit des anderen nach allgemeinen Gesetzen. Es ist diesbezüglich gleichgültig, ob den Zwecken des anderen in irgendeiner Weise Rechnung getragen wird. Anders bei Tugendpflichten: Hier geht es bei Liebespflichten darum, dass mein Zweck mit dem Zweck des anderen zusammenstimmt (Pflicht, sich die Zwecke anderer zu den eigenen zu machen). Und Achtungspflichten verlangen doch zumindest, dass mein Zweck mit der Freiheit des anderen zusammenstimmt (Pflicht, sich die „Anerkennung einer W ü r d e (dignitas)“ (TL, AA VI, S. 462) des anderen zum Zweck zu machen). Insofern wird bei Tugendpflichten beide Male eine besondere Zwecksetzung zur Pflicht gemacht, es geht nicht um eine konkrete Handlungsbestimmung. Auch bei Achtungspflichten ist – im Gegensatz zu Rechtspflichten – folglich nicht das wechselseitige Willkürverhältnis betroffen. Es geht vielmehr um eine freiwillige Selbstbeschränkung in gegenüber anderen nicht-freiheitseinschränkenden (d. h. nicht-rechtlichen) Handlungen. Anders ausgedrückt: Durch die Verletzung einer Achtungspflicht wird der andere sensu strictu nicht als Mittel gebraucht: Ich wahre seine Selbstzweckhaftigkeit, doch ich achte sie nicht, indem ich sie nicht (noch nicht einmal negativ, geschweige denn positiv) zum Leitprinzip meines i. Ü. rechtlich erlaubten Verhaltens mache. „Negative Tugendpflicht: sich nicht seines ganzen Rechts zu bedienen, positive den Mangel des Besitzes der Glückseeligkeit zu ergänzen […].“ (VA TL, AA XXIII, S. 408, vgl. ähnlich ebd., S. 410) – Vorliegend kann und soll nicht die Frage beantwortet werden, ob und inwiefern Kants Ausführungen in der Tugendlehre eine konsistente, gefestige Konzeption darstellen. Vgl. hierzu Gregor 1963, S. 181– 202; Forkl 2001, S. 201– 232; Baron 2002; Schönecker 2013 sowie Sensen 2013. Vorliegend ist allein maßgeblich – und dies gilt wie gezeigt für Kants Darstellung in Einleitung und Haupteil der Tugendlehre gleichermaßen –, dass ausschließlich die Rechtspflichten bei Kant die Minimalbedingungen für die Koexistenz selbtzweckhafter Vernunftwesen im wechselseitigen Gebrauch der Freiheit ausformulieren. Was es heißt, jemanden als Mittel zu gebrauchen, ist mithin eine allein rechtliche Fragestellung. Hiervon weicht jedoch (wie auch bei den äußeren Tugendpflichten, vgl. oben Kap. 3, Fn. 80) Kants Systematisierung in der Tugendlehre in Teilen ab, insofern er neben der unvollkommenen inneren Tugendpflicht zur Selbstvervollkommnung (vgl. dazu bereits oben Kap. 3, Fn. 72) auch vollkommene Tugendpflichten gegen sich selbst kennt.Vgl. grundlegend zu dieser Thematik (insb. zur Konsistenz dieser Systematisierung) ausführlich unten S. 193 – 197 mit Fn. 139.
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3 Kants Rechtsphilosophie als Teil seiner kritischen Moralphilosophie
Abschließend soll jedoch nochmals Kant selbst zu Wort kommen, der all dies prägnant in einer Reflexion der 1780er Jahre wie folgt auf den Punkt bringt: Heilig ist nichts auf der Welt als die Rechte der Menschheit in unserer Person und das Recht der Menschen. Die Heiligkeit besteht darin, daß wir sie niemals blos als Mittel brauchen, und das Verbot eines solchen Gebrauchs liegt in der freyheit und Persönlichkeit. […] Diese Pflichten sind officia necessitatis. Die officia humanitatis sind die, da beyde Gegenstände (nicht blos nicht als Mittel,) sondern auch als Zweke für uns gelten, und da ist eigene Vollkommenheit und andrer Glükseeligkeit der Zwek. Die Zwey letztere: Das Interesse der Menschheit in unserer Person und das Interesse der Menschen.⁸²
3.3 Recht und kategorischer Imperativ Mithin lassen sich sämtliche Rechtspflichten mit der Zweckformel des kategorischen Imperativs ausdrücken: Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern niemals bloß als Mittel brauchst. Gleichwohl hat die Zweckformel des kategorischen Imperativs in der Metaphysik der Sitten von 1797 nicht mehr den prominenten Status, den sie 1785 in der Grundlegung hat. Vielmehr führt Kant den kategorischen Imperativ in der Metaphysik der Sitten als „oberste[n] Grundsatz der Sittenlehre“ ausschließlich in der
Refl. 7308, AA XIX, S. 308. Dass diese Einteilung nicht nur ein flüchtiger Gedanke Kants ist, sondern eine grundlegende Systematisierung seiner kritischen Moralphilosophie wiedergibt, belegt RL, AA VI, S. 240. Die dortige „Eintheilung der Metaphysik der Sitten überhaupt“ bedient sich nämlich genau derselben Einteilungskriterien:
3.3 Recht und kategorischer Imperativ
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Allgemeingesetz-Formel ein: „[H]andle nach einer Maxime, die zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann. – Jede Maxime, die sich hiezu nicht qualificirt, ist der Moral zuwider.“⁸³ Daraus jedoch zu schließen, Kant habe 1797 die Herleitung und Darstellung des Rechts vor dem Hintergrund der vernunftnotwendigen Selbstzweckhaftigkeit der Rechtssubjekte aufgegeben,⁸⁴ erscheint unplausibel. Dagegen sprechen zum einen die vielfachen, bereits oben zitierten Textbelege, in denen Kant das Recht auf das Verbot, andere bloß als Mittel zu behandeln, zurückführt. Ganz zu schweigen davon, dass die Selbstzweckhaftigkeit der Rechtssubjekte stets im Begriff der Rechtsperson mitgedacht ist.⁸⁵ Zum anderen muss man sich vor Augen führen, dass der kategorische Imperativ nur deswegen eine sittliche Bedeutsamkeit hat, weil durch ihn reine praktische Vernunft ihr unbedingtes Sollen ausdrückt. Dies kommt jedoch nur dadurch zustande, dass reine praktische Vernunft „für sich notwendig einen unbedingten oder absoluten Wert dar[stellt] und […] das Vermögen [ist], diesem Wert […] vollkommen aus sich heraus Rechnung zu tragen“.⁸⁶ Anders ausgedrückt: Damit die praktische Vernunft kategorisch gebieten und man sich selbst nach „d e r Vo r s t e l l u n g g e w i s s e r [ s c . m o r a l i s c h e r ] G e s e t z e g e m ä ß […] zum Handeln […] bestimmen“ kann, bedarf es als objektiven Grund der Selbstbestimmung eines nicht-kontingenten „Z w e c k [ s ] , und dieser, wenn er durch bloße Vernunft gegeben wird, muß für alle vernünftige Wesen gleich gelten“.⁸⁷ Nachdem Kant materiale Zwecke als hierfür untauglich ausgeschlossen hat,⁸⁸ muss also „d i e v e r n ü n f t i g e N a t u r [ … ] a l s
RL, AA VI, S. 226. Diese Formulierung ist vergleichbar mit denen aus GMS, AA IV, S. 436 und KpV, AA V, S. 30. Vgl. jedoch zu etwaigen Unterschieden ausführlich unten Kap. 3, Fn. 118. Ganz grundsätzlich spricht etwa Willaschek 1997, S. 225, erneut Willaschek 2009, S. 52 von einer solchen Abkehr Kants von einer kritischen Rechtsbegründung im Laufe der 1790er Jahre. Vgl. oben S. 70 – 77. Steigleder 2002, S. 64. Vgl. ebd.: „Unbedingte praktische Notwendigkeit existiert für uns nur, wenn für uns ein unbedingt notwendiger Zweck existiert. Ein solcher Zweck kann für uns aber nur existieren, wenn wir selbst für uns aufgrund des Vermögens reiner praktischer Vernunft als notwendiger Zweck existieren und aufgrund dieses Vermögens in der Lage sind, diesem Zweck […] Rechnung zu tragen.“ Vorliegend wird dieser Lesart Steigleders gefolgt, welcher zutreffend rekonstruiert hat, dass sich die unbedingte Verbindlichkeit moralischer Gebote nur vor dem Hintergrund der Selbstbezüglichkeit reiner praktischer Vernunft und der Annahme eines Zwecks an sich erklären lässt. Vgl. dazu insb. Steigleder 2002, S. 57– 67. GMS, AA IV, S. 427. Es besteht also eine notwendige Verbindung zwischen dem unbedingten Gebotscharakter moralischer Gesetze und der Annahme eines Zwecks an sich: Wenn es einen kategorischen Imperativ nach der Allgemeingesetzformel gibt, dann muss es auch mindestens einen nicht kontingenten Zweck geben, welchen sich das Subjekt setzt, um in Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz zu handeln. Vgl. zutreffend dazu Flikschuh 2009, S. 129 – 131. Vgl. GMS, AA IV, S. 427 f.
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3 Kants Rechtsphilosophie als Teil seiner kritischen Moralphilosophie
Z w e c k a n s i c h s e l b s t “ das objektive Prinzip in Ansehung eines kategorischen Imperativs sein.⁸⁹ Auch der kategorische Imperativ in der Formulierung der Metaphysik der Sitten hat nur deswegen unbedingte sittliche Verbindlichkeit, weil und insofern sich reine praktische Vernunft selbst als notwendigen Gegenstand konstituiert. Man könnte dies auch den autopoietischen Charakter reiner praktischer Vernunft nennen, da sich reine praktische Vernunft selbst als unbedingten sittlichen Wert setzt und durch ihre eigenen moralischen Gesetze erhält. Gleichzeitig wird hierdurch das autonome Vernunftwesen (gewissermaßen als Instantiierung reiner praktischer Vernunft) als notwendiger Zweck an sich ausgewiesen. Die autonome Vernunftnatur als Zweck an sich selbst ist daher auch in der Metaphysik der Sitten weiterhin der Grund aller praktischen Gesetze. Kurz: Ohne die Annahme eines Zwecks an sich (auf welchen die Zweckformel abhebt), lässt sich die kategoriale Verbindlichkeit des Imperativs auch in der Allgemeingesetzformel nicht denken.⁹⁰ Die Dualität von Rechts- und Tugendlehre
GMS, AA IV, S. 428 f. Vgl. dazu ausführlich Timmermann 2006, S. 71– 76 und 85 f. Vgl. ähnlich Steigleder 2002, S. 66 f. Eine mögliche Erklärung dafür, dass sich Kant in der Metaphysik der Sitten auf die Allgemeingesetz-Formel des kategorischen Imperativs beschränkt, könnte in der Zielsetzung der Schrift liegen. Im Gegensatz zur Grundlegung und zur Kritik der praktischen Vernunft geht es Kant in der Metaphysik der Sitten nicht mehr um die Fundierung seiner kritischen, praktischen Philosophie, sondern um deren Anwendung bzw. Entfaltung anhand konkreter sittlicher Pflichten. Für letztere Zielsetzung empfiehlt Kant in GMS, AA IV, S. 436 jedoch, dass „man in der sittlichen Beurtheilung immer nach der strengen Methode verfährt und die allgemeine Formel des kategorischen Imperativs zum Grunde legt“. Dass der kategorische Imperativ in der Metaphysik der Sitten – gleichsam aus methodischen Gründen – lediglich als formales Prinzip vorgestellt wird, widerspricht also keineswegs einer Rückführung auf die notwendige Selbstzweckhaftigkeit des autonomen Vernunftwesens als oberstes praktisches Prinzip. Außerdem ist Kant in der Grundlegung selbst der Auffassung, dass alle Formeln des kategorischen Imperativs äquivalent sind.Vgl. GMS, AA IV, S. 436 – 438: „Die angeführten drei Arten, das Princip der Sittlichkeit vorzustellen, sind aber im Grunde nur so viele Formeln eben desselben Gesetzes […]. Das Princip: handle in Beziehung auf ein jedes vernünftige Wesen (auf dich selbst und andere) so, daß es in deiner Maxime zugleich als Zweck an sich selbst gelte, ist demnach mit dem Grundsatze: handle nach einer Maxime, die ihre eigene allgemeine Gültigkeit für jedes vernünftige Wesen zugleich in sich enthält, im Grunde einerlei.“ Der Ansicht, Kant wollte eine Hauptformel des kategorischen Imperativs von mehreren Unterformen unterscheiden (vgl. z. B. Höffe 2007, S. 190), vermag nicht nur angesichts Kants expliziter Gleichsetzung in der Grundlegung nicht zu überzeugen.Vor allem vernachlässigt eine solche Lesart, dass sich die sittliche Notwendigkeit des formalen Universalisierungsprinzip nach der Allgemeingesetzformel bzw. Naturgesetzformel nicht ohne gleichzeitige Anerkennung der materialiter notwendigen Selbstzweckhaftigkeit des Vernunftwesens erklären lässt. Nur Handlungen, die die notwendige Selbstzweckhaftigkeit nicht antasten, können überhaupt als allgemeingesetzlich gedacht werden. Insofern sind beide Formen des kategorischen Imperativs nach Kant zumindest extensional äquivalent (so auch O’Neill 1989, S. 141 f.). Allgemeingesetzliche Bestimmbarkeit der Maximen und Wahrung der Selbstzweckhaf-
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in der Metaphysik der Sitten widerspricht dem nicht, sondern führt diesen „obersten praktischen Grund“⁹¹ konsequent aus. Die normativen Anforderungen, die negativ (Recht) sowie positiv (Tugend) aus der notwendigen Selbstzweckhaftigkeit autonomer Vernunftwesen resultieren,⁹² finden Ausdruck in den kategorischen Imperativen der Rechtslehre und der Tugendlehre, insofern diese eine Maximenbestimmung in Anbetracht der Handlungen bzw. in Ansehung der Zwecke enthalten.
3.3.1 Der kategorische Imperativ als Prinzip des Rechts Die Abhängigkeit des Rechts vom kategorischen Imperativ zeigt sich deutlich, wenn man sich in der Metaphysik der Sitten noch einmal die grundlegende Fassung desselben bewusst vor Augen führt: „[H]andle nach einer Maxime, die zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann. – Jede Maxime, die sich hiezu nicht qualificirt, ist der Moral zuwider.“⁹³ Bei genauer Betrachtung können aus diesem
tigkeit sind die beiden Seiten einer Medaille, namentlich der sittlichen Autonomie. Deswegen kann Kant die sogenannte Autonomieformel des kategorischen Imperativs als Vereinigungspunkt konzipieren, d. h. „e i n e v o l l s t ä n d i g e B e s t i m m u n g aller Maximen durch jene Formel, nämlich: daß alle Maximen aus eigener Gesetzgebung zu einem möglichen Reiche der Zwecke […] zusammenstimmen sollen.“ (GMS, AA IV, S. 436) Vgl. mit teilweise ähnlichen Gedanken für eine Gleichwertigkeit der Formeln nach dem kategorischen Imperativ Gregor 1963, S. 39 – 41; Ebbinghaus zitiert nach Geismann 2002a; Horn, Mieth und Scarano 2007, S. 258 – 260; Laschet 2011, S. 143 f. und S. 147 f.; Sensen 2011, S. 123; Reath 2012 sowie zum Verhältnis der verschiedenen Formeln in der GMS ausführlich Bambauer 2011, S. 214– 238 und jüngst Porcheddu 2016, S. 44– 86, jeweils m. w. N. GMS, AA IV, S. 429, vollständig zitiert oben S. 87. Vgl. dazu ausführlich oben S. 77– 90. RL, AA VI, S. 226, kursive Hervorhebung P.-A. H. Ähnlich lautet auch die unmittelbar vorhergehende Bestimmung in RL, AA VI, S. 225. Vgl. zur Frage, inwiefern die Formulierung des kategorischen Imperativs in der Metaphysik der Sitten mit denjenigen aus Grundlegung und KpV vergleichbar ist, ausführlich unten Kap. 3, Fn. 118. Bereits jetzt lässt sich aber feststellen, dass die grundsätzliche Funktion des kategorischen Imperativs gleich bleibt. Der kategorische Imperativ ist, „indem er eine Verbindlichkeit in Ansehung gewisser Handlungen aussagt, […] ein moralischpraktisches Gesetz“ und ist gegenüber sinnlich affizierten Vernunftwesen „entweder ein Gebotoder Verbot-Gesetz, nachdem die Begehung oder Unterlassung [sc. der Handlung] als Pflicht vorgestellt wird.“ (RL, AA VI, S. 222 f.) Hier wie dort (vgl. KpV, AA V, S. 19 f. und zur Grundlegung oben S. 43 f.) ist der kategorische Imperativ nicht nur oberstes Prinzip aller moralischen Gesetze (mithin Richtmaß für moralische Urteile), sondern Kant erhebt hiermit überdies „den Anspruch, anhand des Verallgemeinerungsverfahrens des Kategorischen Imperativs konkrete moralische Verpflichtungen ableiten zu können“. (Laschet 2011, S. 79). Vgl. hierzu auch Höffe 1990, S. 100 f.
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„oberste[n] Grundsatz der Sittenlehre“ nur vollkommene Pflichten resultieren, weil lediglich die Qualifikation bzw. Tauglichkeit der Maximen zu einer allgemeinen Gesetzgebung verlangt wird. Insofern es dabei um die vollkommenen Pflichten gegenüber anderen geht, ist der kategorische Imperativ in dieser Form folglich das Prinzip der Rechtspflichten. Nach Kant ist eine Maxime „[d]ie Regel des Handelnden, die er sich selbst aus subjectiven Gründen zum Princip macht“.⁹⁴ Sie ist damit der subjektive Grundsatz des eigenen Willkürgebrauchs.⁹⁵ Der kategorische Imperativ verlangt folglich in der oben genannten Form nichts anderes, als den eigenen Willkürgebrauch einer Regel folgen zu lassen, welche auch ein allgemeines Gesetz sein könnte. Diese Forderung ist jedoch eine rein formale Bestimmung der Willkür, denn der kategorische Imperativ gebietet eine Handlung „nicht etwa mittelbar, durch die Vorstellung eines Z w e c k s , der durch die Handlung erreicht werden könne, sondern […] durch die bloße Vorstellung dieser Handlung selbst (ihrer Form)“ nach.⁹⁶ Indem also der kategorische Imperativ – nach Kants Bestimmung in der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ – von allem Zweck abstrahiert, enthält er eine gesetzliche Handlungsbestimmung. Denn unangesehen des Zwecks werden die Maximen nur noch in Anbetracht der Handlungen auf ihre allgemeingesetzliche Verallgemeinerbarkeit hin überprüft.⁹⁷ Diese Konsistenzforderung im Hinblick auf
und Forschner 1983, S. 26 f. sowie Kants Bestimmung einer Metaphysik der Sitten in GMS, AA IV, S. 410. RL, AA VI, S. 225. Vgl. zu Abweichungen in der Definition des Maximenbegriffs in der MdS gegenüber GMS und KpV Schwartz 2006, S. 39 – 43 m. w. N. Vgl. RL, AA VI, S. 226: „Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen.“ Vgl. zur Unterscheidung zwischen dem Willen als gesetzgebendem und der Willkür als exekutivem Vermögen unten S. 139 f. RL, AA VI, S. 222. Zwar kann vorliegend keine grundsätzliche Aufarbeitung des Maximenbegriffs bei Kant vorgenommen werden, da dieser einerseits zu schillernd ist, andererseits für sich schon kontrovers diskutiert wird. Vgl. hierfür stellvertretend die Behandlung bei Köhl 1990, insb. S. 45 – 61; Thurnherr 1994 sowie jüngst Schwartz 2006 und mit Blick auf das Rechtsprinzip Mosayebi 2013, S. 150 – 206, jeweils m. w. N. Jedoch sind einige Anmerkungen geboten, die für das Verständnis des kategorischen Imperativs sowie die Abgrenzung von Rechts- und Tugendlehre zentral sind. Denn Kant differenziert in der Metaphysik der Sitten zwischen „Maximen der Handlungen“ und „Maximen in Ansehung der Zwecke“ (TL, AA VI, S. 382) und unterscheidet hiernach Rechts- und Tugendlehre, vgl. ebd. sowie auch S. 389. Diese Unterscheidung von Maximen in Anbetracht der Handlungen und Maximen in Anbetracht der Zwecke scheint nun Ausdruck einer unterschiedlichen gesetzlichen Bestimmung nach dem kategorischen Imperativ zu sein. Wie soeben gesagt, abstrahiert der kategorische Imperativ in seiner allgemeinsten Form von allen Zwecken als Materie der Willkür. Obgleich hierdurch noch nichts zur Triebfeder der gebotenen Handlung gesagt ist (vgl. dazu sogleich S. 108 – 133), wird hiermit zumindest auf den Zweck als relevanten Faktor der
3.3 Recht und kategorischer Imperativ
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den Willkürgebrauch besteht im Verhältnis zu anderen Subjekten wiederum in nichts anderem, als dass – wie es der moralische Rechtsbegriff in § B der „Einleitung in die Rechtslehre“ ausdrückt – „nach der F o r m im Verhältniß der beiderseitigen Willkür, sofern sie bloß als f r e i betrachtet wird, […] die Handlung eines von beiden sich mit der Freiheit des andern nach einem allgemeinen Gesetze zusammen vereinigen lasse“.⁹⁸ Entsprechend hat Kant schon in der Friedensschrift ausgeführt, dass das Recht vom „Zweck (als Gegenstand der Willkür)“ abstrahiert und allein auf das „formale [Princip], d.i. d[as]jenige (bloß auf Freiheit im äußern Verhältniß gestellte) ab[stellt], darnach es heißt: handle so, daß du
Maximenbestimmung verzichtet (vgl. zur Unterscheidung von Zweck und Triebfeder oben Kap. 2, Fn. 120). Die gesetzliche Bestimmung nach diesem kategorischen Imperativ kann sich daher unmöglich auf die Maxime als finale Handlungsbestimmung beziehen, d. h. der Form: „Um den Zweck Z zu erreichen, nehme ich Handlung H vor!“,wobei dieser Zweck selber gesetzlich bestimmt ist (vgl. z. B. Korsgaard 1996a, S. 57 f.). Die Funktionsweise von Maximen ist vielmehr – im Anschluss an Schwartz 2006, S. 98 – 110 – als situationsbedingt zu begreifen: Unter dem Sachverhalt S werde ich die Handlung H vornehmen (S → H), so ähnlich vertreten von Köhl 1990, S. 49 – 51, Allison 1990, S. 89 f. oder mit Einschränkungen Thurnherr 1994, S. 43 – 50 und S. 66 f. Freilich haben nach Kant auch hier alle Maximen eine Materie bzw. alle Handlungen einen Zweck (vgl. nur GMS, AA IV, S. 436 und TL, AA VI, S. 385) und drücken „unter einer Zweckvorstellung geplante, konkrete Handlungsweisen“ aus (Schwartz 2006, S. 131). Jedoch kann und darf – angesichts der geschilderten Abstraktion dieses kategorischen Imperativs von bestimmten Zwecken – nur die Handlung und nicht der Zweck selbst Gegenstand der gesetzlichen Bestimmung innerhalb der Maxime sein. Es ist daher eine Maxime in Anbetracht der Handlung. Hiervon unterscheidet Kant in der Tugendlehre „Maximen in Ansehung der Zwecke“ (TL, AA VI, S. 382, vorliegend Maximen in Anbetracht der Zwecke genannt). Erst diese beziehen den Zweck als Gegenstand der Willkür in die gesetzliche Bestimmung nach dem kategorischen Imperativ ein, sodass dieser – von der ursprünglichen Form abweichend – modifiziert werden muss: „Das oberste Princip der Tugendlehre ist: handle nach einer Maxime der Z w e c k e , die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann.“ (TL, AA VI, S. 395, vollständig zitiert oben S. 83 und vgl. dazu sogleich S. 97– 101 mit Fn. 118). Weil es um Maximen in Anbetracht der Zwecke geht, geht es nunmehr um eine finale Handlungsbestimmung. Da innerhalb der Maxime der Zweck selber zum Gegenstand der gesetzlichen Bestimmung gemacht wird, erwachsen dem Akteur primär keine Handlungspflichten, sondern Zwecksetzungspflichten (vgl. zu den Pflichtzwecken nach der Tugendlehre oben S. 84 mit Fn. 72 und S. 88 f. mit Fn. 80 f.). Und unter diesen ist es wiederum allein die Pflicht, sich die eigene moralische Vollkommenheit zum Zweck zu setzen, welche gebietet, die Triebfeder in die Maxime mit aufzunehmen. Denn erst sie verlangt, es mir zur Maxime zu machen, den Grund der Verpflichtung „ganz und gar im Gesetz zu suchen“ (MdS, AA 392). Hierdurch wird mir aufgetragen, eine „sittliche Ordnung der Triebfedern“ in meinen Maximen zu etablieren, welche verbietet, „die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes“ zu machen (Religion, AA VI, S. 36). Vgl. hierzu aufschlussreich Schwartz 2006, S. 131– 144, die diese Maximen richtig als „Stellungnahme zum Sittengesetz“ (Schwartz 2006, S. 131) charakterisiert. Vgl. dazu auch unten Kap. 3, Fn. 169. RL, AA VI, S. 230. Vgl. zu § B der „Einleitung in die Rechtslehre“ bereits oben S. 55 – 59.
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3 Kants Rechtsphilosophie als Teil seiner kritischen Moralphilosophie
wollen kannst, deine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden (der Zweck mag sein, welcher er wolle).“ Dieses Prinzip „hat als Rechtsprincip unbedingte Nothwendigkeit“.⁹⁹ Man sieht leicht, dass die Forderung des kategorischen Imperativs, wie sie in Handle nach einer Maxime, die zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann! zum Ausdruck kommt,¹⁰⁰ damit letztlich – im Hinblick auf intersubjektive Verhältnisse – auf die Forderung des allgemeinen Rechtsgesetzes in § C hinausläuft:¹⁰¹ „[H]andle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne […].“¹⁰² Dies bestätigt sich deutlich in der Metaphysik der Sitten-Vigilantius, wo Kant explizit ausführt, dass […] die Zwangsfreiheit, die dem Zwangsrecht entgegen steht, […] sich dahin [bestimmt]: handle so, daß deine Freiheit mit der Freiheit von Jedermann nach den allgemeinen Gesetzen zusammen bestehen kann. NB. Dies heißt: die maxime, die bey dem Gebrauch deiner moralischen Zwangshandlung zum Grunde liegt, muß so beschaffen seyn, daß sie zum allgemeinen Gesetz qualificirt ist. ¹⁰³
Insofern der kategorische Imperativ auch 1797 in der Metaphysik der Sitten als oberstes Prinzip der Sittlichkeit lediglich die Qualifikation bzw. Tauglichkeit der Maximen zu einem allgemeinen Gesetz verlangt, ist er folglich ein genuin rechtliches Prinzip. „[D]enn das formale Princip der Pflicht im kategorischen Imperativ: »Handle so, daß die Maxime deiner Handlung ein allgemeines G e s e t z werden könne«“ wird (sofern das Gesetz dabei als Gesetz „des Willens überhaupt“ gedacht wird)
ZeF, AA VIII, S. 376 f., vgl. dazu auch Scholz 1972, S. 140. Vgl. RL, AA VI, S. 226. Das allgemeine Rechtsgesetz unterscheidet sich vom kategorischen Imperativ in seiner allgemeinsten Form lediglich durch die Beschränkung auf intersubjektive Verhältnisse. Sieht man davon ab, sind beide gleichermaßen Prinzip äußerer Rechtspflichten. Vgl. mit im Ergebnis teilweise ähnlicher Beobachtung Scholz 1972, S. 140; Dreier 1979, S. 15 und Kersting 1983a, S. 414 f.; kritisch dazu jedoch Mosayebi 2013, S. 196 f. RL, AA VI, S. 230 f., vgl. dazu auch oben S. 60 f. Deutlich zeigt dies auch das dort formulierte allgemeine Rechtsprinzip, wonach „[e]ine jede Handlung […] r e c h t [ist], die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann“ (kursive Hervorhebung P.-A. H.). Wenn Kant hier von der Maxime der Handlung spricht, ist dies – entgegen Ludwig 1988, S. 95 (jedoch relativierend Ludwig 2013b, S. 299 mit Fn. 40) – entsprechend dem zuvor Gesagten (vgl. Kap. 3, Fn. 97) als Maxime des Handelnden in Anbetracht der Handlung zu lesen. Da eine Maxime der subjektive Handlungsgrundsatz ist, ist jede Maxime (solche in Anbetracht der Handlung und der Zwecke gleichermaßen) nur sinnvoll denkbar als Maxime des Handelnden. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 524– 525, kursive Hervorhebung P.-A. H.Vgl. ebenso erneut ZeF, AA VIII, S. 377, vollständig zitiert oben S. 95 f.
3.3 Recht und kategorischer Imperativ
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[…] eine Rechtspflicht abgeben […], die nicht in das Feld der Ethik gehört. – Die Maximen werden hier [sc. im Recht] als solche subjective Grundsätze angesehen, die sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung blos q u a l i f i c i r e n ; welches nur ein negatives Princip (einem Gesetz überhaupt nicht zu widerstreiten) ist. […] Denn Maximen der Handlungen können w i l l k ü r l i c h sein und stehen nur unter der einschränkenden Bedingung der Habilität zu einer allgemeinen Gesetzgebung, als formalem Princip der Handlungen.¹⁰⁴
Zu fordern, dass sich die Maxime der Handlung zur allgemeinen Gesetzgebung qualifiziert, ist gleichbedeutend mit der Forderung, das Handeln selbst nach einer allgemeingesetzlichen Regel einzuschränken.¹⁰⁵ Anschaulich zeigt dies auch eine Notiz Kants aus den Vorarbeiten zur Rechtslehre: „Pflicht hat also die Nothwendigkeit solcher Maximen die zur allgemeinen Gesetzgebung taugen zur Bedingung der Willensbestimmung zu machen zum Grunde – die Einschränkung der Handlungen die wir wollen auf die Bedingung solcher Maximen giebt die Rechtslehre […].“¹⁰⁶ Wenn Kant also in der Tugendlehre Recht und Ethik so abgrenzt, dass „[d]i e E t h i k [ … ] n i c h t G e s e t z e f ü r d i e H a n d l u n g e n (denn das thut das Ius), sondern nur für die Maximen der H a n d l u n g e n [ g i e b t ] , “ ¹⁰⁷ so heißt das nicht, dass das Recht keinerlei Regelungen bezüglich der Maximen enthält.¹⁰⁸ Recht schreibt lediglich nicht vor, eine bestimmte Maxime zu haben, weil es keine bestimmten Zwecke vorschreibt.¹⁰⁹ Es stellt damit kein Gesetz für Maximen in Ansehung der Zwecke dar, d. h. nach bestimmten Maximen zu verfahren. Vielmehr ist es rechtlich in das subjektive Belieben des Einzelnen gestellt, welche Zwecke er verfolgt. Unangesehen des Zwecks und des Motivs verlangt Recht jedoch stets, dass die Maxime, die der Einzelne dabei zugrundelegt, allgemeingesetzlich vertretbar ist. Ein Geschäftsmann z. B. hat stets so zu verfahren, dass nach seiner Handlungsmaxime seine Freiheit mit der Freiheit anderer allgemeingesetzlich vereinbar ist, obgleich sein
TL, AAVI, S. 388 f.Vgl. zu Kants Unterscheidung zwischen dem Gesetz als Gesetz des eigenen Willens und dem des Willens überhaupt sogleich unten S. 129 f. Vgl. ähnlich Seel 2009, S. 81 f., ebd. S. 81: „[I]f everything we do is done on a maxim, by prohibiting acting on a certain kind of maxim the Categorical Imperative prohibits the same class of actions as does the Principle of Right.“ Vgl. dazu eingehend unten S. 159 f. VA TL, AA XXIII, S. 382. Vgl. ähnlich ebd., AA XXIII, S. 376 und S. 379. TL, AA VI, S. 388. Hierin wird jedoch regelmäßig der spezifische Unterschied zwischen Recht und Ethik gesehen, vgl. exemplarisch Fulda 2006, S. 167 f.; Ripstein 2009, S. 366 – 375; Flikschuh 2010, S. 60 – 62; Schadow 2013b, S. 104 f. und S. 108 f. und Nance 2013, S. 878 f. Vgl. zu dieser m. E. verfehlten Lesart auch eingehend unten S. 159 f. Hierin liegt gerade der Unterschied zwischen Maximen in Anbetracht der Handlungen und Maximen in Anbetracht der Zwecke. Vgl. dazu die Erläuterungen in Kap. 3, Fn. 97.
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3 Kants Rechtsphilosophie als Teil seiner kritischen Moralphilosophie
damit verfolgter Zweck (z. B. Profit oder Kredit bei Geschäftspartnern) rechtlich irrelevant ist: Es wird [sc. in der Rechtslehre] jedermanns freier Willkür überlassen, welchen Zweck er sich für seine Handlung setzen wolle. Die Maxime derselben aber ist a priori bestimmt: daß nämlich die Freiheit des Handelnden mit Jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne.¹¹⁰
Alle Rechtspflichten sind damit strukturell Unterlassungspflichten, da lediglich negativ ausgewiesen wird, nach welchen Maximen nicht gehandelt werden kann (d. h. solchen, die nicht als allgemeines Gesetz denkbar sind).¹¹¹ Die Ethik hingegen, wie sie in der Tugendlehre ausgeführt wird, macht bestimmte Zwecke zur Pflicht, welches eine positive (oder besser: finale) Bestimmung der Handlungsmaximen bedeutet.¹¹² Welche Zwecke dem Menschen a priori zur Verfolgung aufgegeben sein können (mithin taugliche Pflichtzwecke i. S. d. Tugendlehre sind), ergibt sich wie gezeigt daraus, was notwendig Zweck an sich selbst ist, mithin aus der autonomen Vernunftnatur.¹¹³ Folglich wird – entgegen landläufiger Auffassung – erst für die Tugendpflichten (Beförderung eigener Vollkommenheit und fremder Glückseligkeit) der kategorische Imperativ modifiziert.¹¹⁴ Er wird syn-
TL, AA VI, S. 382. Rechtspflichten haben immer eine Unrechtsunterlassung zum Gegenstand. Vgl. Moralphilosophie-Mrongovius II, AA XXIX, S. 632; Refl. 7295, AA XIX, S. 305 f.; VA RL, AA XXIII, S. 246, 268 und S. 306 f. sowie MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 512 und S. 526 sowie hierzu statt vieler Kersting 1984, S. 75 – 80. Dies bedeutet, dass selbst scheinbare Leistungspflichten, z. B. beim Kaufvertrag die Pflicht zur Lieferung einer Sache, rechtlich gesehen Unterlassungspflichten sind. Im gewählten Beispiel besteht die Rechtspflicht also darin, alle Handlungen zu unterlassen, die die versprochene Lieferung der Sache unterbinden würden. Vgl. erneut oben Kap. 3, Fn. 97 sowie TL, AA VI, S. 389: „Der Begriff eines Z w e c k s , der zugleich Pflicht ist, welcher der Ethik eigenthümlich zugehört, ist es allein, der ein Gesetz für die Maximen der Handlungen begründet, indem der subjective Zweck (den jedermann hat) dem objectiven (den sich jedermann dazu machen soll) untergeordnet wird.“ Hierzu führt Scholz 1972, S. 141 zutreffend aus: „Das Gesetz, das die Maximen nur ‚der einschränkenden Bedingung der Habilität zu einer allgemeinen Gesetzgebung‘ […] unterwirft, ist insofern kein Gesetz für die Maxime der Handlungen, als es nur die Möglichkeit ausschließt, nach Maximen zu handeln, die jene Bedingung nicht erfüllen […]. Ein Gesetz für die Maxime der Handlungen […] wäre ein Prinzip, nach welchem die Pflicht darin bestehen würde, eine gewisse, die formale Bedingung erfüllende Maxime zum Grundsatz des eigenen Handelns zu machen.“ Vgl. mit ähnlichen Gedanken Kersting 1984, S. 75 f. und S. 82 sowie Baum 2007, S. 219 f. Vgl. TL, AA VI, S. 395 und zur Herleitung der Tugendpflichten ausführlich oben Kap. 3, Fn. 72 m. w. N. Entsprechend spricht Kant in ZeF, AAVIII, S. 377 davon, dass das Rechtsprinzip „vorangehen [muß]; denn es hat als Rechtsprincip unbedingte Nothwendigkeit“. Und selbst wenn der Zweck des
3.3 Recht und kategorischer Imperativ
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thetisch a priori um vernunftbestimmte materiale Zwecke, die man haben soll, erweitert.¹¹⁵ „Das oberste Princip der Tugendlehre ist: handle nach einer Maxime der Z w e c k e , die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann.“¹¹⁶ Mithin lässt sich das Recht in der Metaphysik der Sitten auf den – eingangs zitierten – kategorischen Imperativ in seiner ursprünglichsten Form, d. h. als oberstes Prinzip der Sittenlehre, zurückführen. Diese Formel beschränkt sich auf die Forderung des Rechts nach Habilität der Maximen zum allgemeinen Gesetz, welche ausschließlich dem Recht eigentümlich ist. Erst in der Tugendlehre wird dieser formale oberste Grundsatz der Rechtslehre, welcher lediglich eine Konsistenz des eigenen Willkürgebrauchs (und damit allgemeingesetzliche Vereinbarkeit der Freiheit) fordert, um eine materiale Bestimmung erweitert und fordert – über die Konsistenz hinaus –¹¹⁷ die Kohärenz des eigenen Willkürgebrauchs (d. h. allgemeingesetzliche Vereinbarkeit der Freiheit mit den notwendigen Zwecken).¹¹⁸ Handelnden „auch Pflicht wäre, so müßte doch diese selbst aus dem formalen Princip der Maximen, äußerlich zu handeln, abgeleitet worden sein“. Vgl. VA TL, AA XXIII, S. 392: „Daß die Maxime meiner Handlungen (subjectives Princip) zur allgemeinen Gesetzgebung (als objectives Princip) tauglich sey ist nicht mit dem Princip einerley daß diese Maxime zu haben selbst Pflicht sey. Jenes Princip ist blos die Willkühr einschränkend dieses ist erweiternd.“ Vgl. ähnlich ebd., S. 379 und MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 542 f. Entsprechend betont Kant in der Tugendlehre (TL, AA VI, S. 396), das Prinzip der Tugendlehre sei synthetisch: „[D]as oberste R e c h t s p r i n c i p [ist] ein analytischer Satz“, da die Zwangsbefugnis beim Recht analytisch aus dem Begriff einer allgemeingesetzlichen Freiheit folge und man hierfür „nicht über den Begriff der Freiheit hinausgehen“ müsse. Hingegen „geht das Princip der Tugendlehre über den Begriff der äußern Freiheit hinaus und verknüpft nach allgemeinen Gesetzen mit demselben noch einen Zweck, den es zur P f l i c h t macht. Dieses Princip ist also synthetisch. – Die Möglichkeit desselben ist in der Deduction (§ IX) enthalten.“ Die Möglichkeit eines Zwecks, der zugleich Pflicht ist, hatte Kant zuvor in TL, AA VI, S. 395 damit begründet, dass die autonome Vernunftnatur als notwendiger, vernunftgebotener Zweck angenommen werden muss, da ohne diese – als Möglichkeitsbedingung aller Zwecksetzung überhaupt – reine praktische Vernunft als „Vermögen der Zwecke überhaupt“ nicht möglich wäre (vgl. ausführlich oben Kap. 3, Fn. 72). TL, AA VI, S. 395, kursive Hervorhebung P.-A. H.; vollständig zitiert oben S. 83. Erneut sei darauf hingewiesen, dass mit dem obersten Prinzip der Tugendlehre lediglich insofern ein eigenständiges Prinzip eingeführt wird, als dass sich nunmehr die gesetzliche Bestimmung nach dem kategorischen Imperativ auf die Maxime in Anbetracht der Zwecke erstreckt und damit über die Grundform des kategorischen Imperativs hinausgeht. Gleichwohl ändert sich damit nicht der oberste praktische Grund, der allen Formen des kategorischen Imperativs materialiter zugrunde liegt. Dieser ist die notwendige Selbstzweckhaftigkeit der autonomen Vernunftnatur. Vgl. oben S. 85 – 93. Hierin zeigt sich auch die bereits erwähnte Vorrangstellung des Rechts, insofern Rechtshandeln (Konsistenz) gegenüber Tugendhandeln (Kohärenz) basalere Anforderungen an den Willkürgebrauch stellt. Vgl. dazu oben S. 85 mit Fn. 75. Fraglich ist, ob und wie sich die Formeln des kategorischen Imperativs in der Metaphysik der Sitten von 1797 von denen aus den moralphilosophischen Grundlegungsschriften der 1780er Jahre
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unterscheiden. Zwar weicht die Formulierung des obersten Prinzips der Sittenlehre in der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ nicht wesentlich von der Bestimmung des Grundgesetzes in der Kritik der praktischen Vernunft ab: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (KpV, AAV, S. 30) Problematisch erscheint jedoch das Verhältnis zur Allgemeingesetz-Formel der Grundlegung. Schwierigkeiten bereitet zunächst, dass es nicht die Allgemeingesetz-Formel des kategorischen Imperativs in der Grundlegung gibt, sondern eine zweistellige Zahl von Formulierungen, die im Detail variieren.Vgl. dazu nur die Übersicht bei Schnoor 1989, S. 83 – 90. Stein des Anstoßes im Hinblick auf die Formulierung des kategorischen Imperativs in der Metaphysik der Sitten ist jedoch allein die Formulierungsweise, die auf das Wollen der Allgemeingesetzlichkeit der Maxime abstellt, vgl. prominent GMS, AA IV, S. 421: „[ H ] a n d l e n u r n a c h d e r j e n i g e n M a x i m e , d u r c h d i e d u z u g l e i c h w o l l e n k a n n s t , d a ß s i e e i n a l l g e m e i n e s G e s e t z w e r d e .“ Nur insofern stellt sich die Frage: „Daß eine Maxime zugleich als allgemeines Gesetz solle g e l t e n können, daß sie zu einem allgemeine Gesetz sich q u a l i f i z i e r e n solle, ist diese Forderung gleichbedeutend mit dem Gebot, man müsse durch die Maxime zugleich w o l l e n können, sie solle ein allgemeines Gesetz werden?“ (Scholz 1972, S. 72). Allerdings erscheint diese Frage vorliegend aus zwei Gründen unbeachtlich. Zum einen würde es hinsichtlich der Relevanz für das Recht schon ausreichen, sich auf die inhaltlich nicht wesentlich unterschiedlichen Bestimmungen aus KpV und MdS zu konzentrieren, auch da allein in letzterer Kants Rechtsphilosophie entfaltet wird. Zum anderen lässt sich die Frage – vor dem Hintergrund der bisherigen Ergebnisse – unschwer mit dem Hinweis verneinen, dass Kant die Frage des Wollen-Könnens aus der Grundlegung ab 1797 in der Metaphysik der Sitten im obersten Prinzip der Tugendlehre aufgehen lässt. Diese Lesart drängt sich auf, insofern Kant in der Grundlegung mit der Unterscheidung von Wollen-Können und Denken-Können zwischen unvollkommenen und vollkommenen Pflichten zu differenzieren versucht. Vgl. GMS, AA IV, S. 421– 424 und hierzu statt vieler nur Scholz 1972, S. 73 – 77 und Höffe 2007, S. 195 – 201. So heißt es in GMS, AA IV, S. 424: „Einige Handlungen sind so beschaffen, daß ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als allgemeines Naturgesetz g e d a c h t werden kann […]. Bei andern ist zwar jene innere Unmöglichkeit nicht anzutreffen, aber es ist doch unmöglich, [sc. dies, P.-A. H.] zu w o l l e n […]. Man sieht leicht: daß die erstere der strengen oder engeren (unnachlaßlichen) Pflicht, die zweite nur der weiteren (verdienstlichen) Pflicht widerstreite […].“ Nun betrifft das Wollen-Können einer Maxime als allgemeines Gesetz bereits die Frage einer vernunftbestimmten Zwecksetzung, welche über die bloß formale Qualifikation zu einer allgemeinen Gesetzgebung (Denken-Können) hinausgeht. Daher erfolgt in der Tugendlehre von 1797 die Unterscheidung von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten über die Erweiterung des „formale[n] Princip[s] der Pflicht im kategorischen Imperativ […]; welches nur ein negatives Princip (einem Gesetz überhaupt nicht zu widerstreiten) ist“, durch einen objektiv-notwendigen (d. h. vernunftbestimmten) materiellen Zweck.Vgl. TL, AAVI, S. 389 f. Mithin nimmt Kant erst in der Metaphysik der Sitten die Unterscheidung zwischen vollkommenen Rechts- und unvollkommenen Tugendpflichten anhand zweier systematisch selbstständiger Pflichtprinzipien vor, obgleich dies der Sache nach bereits in der Grundlegung im Unterschied zwischen Wollen-Können und DenkenKönnen angelegt ist. Deutlich bezeugt uns dies eine Aussage Kants in VA RL, AA XXIII, S. 257: „Der categorische Imperativ: handle nach der Maxime der Übereinstimmung deiner Freyheit mit der von jedermann nach allgemeinem Gesetze, läßt es unbestimmt welchen Zweck der Mensch habe – der aber handle so daß du wollen kanst Deine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden ist ein Imperativ der sich auf einen Zweck bezieht den wir haben oder uns setzen s o l l e n .“ Damit lässt sich die Kontroverse, ob die in der Grundlegung vorgenommene Differenzierung zwischen Wollen-
3.3 Recht und kategorischer Imperativ
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3.3.2 Recht als „ein Postulat, welches gar keines Beweises weiter fähig ist“ Gleichwohl gibt es seit jeher Vorbehalte dagegen, das Recht als Teil von Kants kritischer Moralphilosophie zu verstehen. Dabei halten Vertreter einer starken Unabhängigkeitsthese eine kritische Rechtsbegründung, insbesondere eine Rückführung des Rechts auf den kategorischen Imperativ, für schlechthin unbegründbar: Kants Rechtsphilosophie müsse in vollständiger Unabhängigkeit von der kritischen Moralphilosophie konzipiert werden.¹¹⁹ Ein gängiger Einwand stellt darauf ab, dass Kant das allgemeine Rechtgesetz als „ein Postulat, welches gar keines Beweises weiter fähig ist“, einführt.¹²⁰ Dies zeige deutlich, dass Kant selbst
Können und Denken-Können überhaupt haltbar ist und inwiefern sie von Kant nach 1785 aufgegeben wurde (vgl. stellvertretend Scholz 1972, S. 77– 124; Kersting 1983a und Schönecker und Wood 2002, S. 130 – 140), eindeutig beantworten: Die differenzierte und systematisch präzise Ausarbeitung dieser Unterscheidung findet sich erst in der Metaphysik der Sitten, indem Kant dort das oberste Prinzip der Sittlichkeit (RL, AA VI, S. 226; ≈ Denken-Können) im obersten Prinzip der Tugendlehre (TL, AA VI, S. 395; ≈ Wollen-Können) erweitert. Daher ist es offenkundig falsch, wie. z. B. Wood 1999, S. 35 oder Steigleder 2002, S. 159 f., die Ableitung des Rechts vom kategorischen Imperativ schon aus dem Grund in Frage zu stellen, dass uns das Recht nichts über das WollenKönnen einer Maxime als allgemeines Gesetz sage. Allenfalls besteht zwischen 1785 und 1797 ein architektonischer Unterschied dahingehend, dass Kant jeweils unterschiedliche Versionen des kategorischen Imperativs als Grundform bzw. »argumentative Ausgangsposition« ausweist. In der Grundlegung scheint dies die bereits um die Kohärenzforderung erweiterte bzw. Pflichtzwecke umfassende Formel des kategorischen Imperativs zu sein. Spätestens in der Metaphysik der Sitten ist es jedoch das (für das Recht maßgebliche) oberste Prinzip der Sittenlehre, das sich auf die Konsistenzforderung beschränkt und erst im Prinzip der Tugendlehre um vernunftbestimmte Zwecke erweitert wird. Gleichwohl geht damit im Hinblick auf den kategorischen Imperativ – und das ist für die Ausgangsfrage maßgeblich – zwischen 1785 und 1797 im Ergebnis kein inhaltlicher Unterschied einher. – Schließlich sei an dieser Stelle noch erwähnt, dass Kant in der Metaphysik der Sitten nicht mehr die Naturgesetz-Formel aus der Grundlegung (vgl. GMS, AA IV, S. 421) übernimmt. Ob und inwiefern hierin eine Abkehr Kants von der Naturgesetzformel liegt, kann vorliegend dahingestellt bleiben, da sich gegenüber der Allgemeingesetz-Formal keine wesentlichen Unterschiede ergeben.Vgl. zutreffend Scholz 1972, S. 97– 102 und ausführlich Schnoor 1989, S. 61– 81, insb. S. 81 f., jeweils m. w. N. Vgl. jedoch für eine teleologische Lesart der NaturgesetzFormel Paton 1962, S. 176 – 181 und Geismann 2002b, S. 389 sowie kritisch hierzu Schnoor 1989, S. 72– 81. Bedenkenswert ist die Vermutung von Scholz 1972, S. 101, ein Unterschied bestehe allenfalls darin, dass allein die Allgemeingesetz-Formel Erlaubnisgesetze im Kantischen Sinne zulasse. Vgl. dazu bereits die anfängliche Problematisierung anhand der sogenannten Unabhängigkeitsthese oben S. 68 f. RL, AA VI, S. 231. Vgl. zu § C der „Einleitung in die Rechtslehre“ bereits oben S. 59 – 61.
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3 Kants Rechtsphilosophie als Teil seiner kritischen Moralphilosophie
nicht von einer Ableitung bzw. Deduktion des Rechts aus dem kategorischen Imperativ ausgehe.¹²¹ Richtig ist, dass sich textlich bei Kant keine Ableitung bzw. Deduktion des Rechtsprinzips aus dem kategorischen Imperativ findet. Hieraus jedoch zu schließen, dies zeige in irgendeiner Weise die Unabhängigkeit des Rechts vom kategorischen Imperativ oder der kritischen Moralphilosophie, wäre von Grund auf verfehlt. Denn angesichts der grundlegenden epistemischen Wende, die Kant mit der Kritik der praktischen Vernunft in der praktischen Philosophie vollzieht,¹²² ist eine Deduktion von Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft generell unmöglich. So heißt es dort: Auch ist das moralische Gesetz gleichsam als ein Factum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewußt sind und welches apodiktisch gewiß ist, gegeben […]. Also kann die objective Realität des moralischen Gesetzes durch keine Deduction, durch alle Anstrengung der theoretischen, speculativen oder empirisch unterstützten Vernunft, bewiesen und also […] durch Erfahrung bestätigt und so a posteriori bewiesen werden, und steht dennoch für sich selbst fest.¹²³
Alle Erkenntnis im Praktischen hebt für Kant mit dem Faktum der reinen Vernunft an, d. h. der Selbstevidenz reiner praktischer Vernunft, die sich uns gegenüber in kategorischen Imperativen äußert. Reine praktische Vernunft kann „ohne Tadel und muß […] von reinen praktischen Gesetzen und deren Wirklichkeit anfangen […],weil jene Gesetze als praktische Postulate nothwendig sind“.¹²⁴ „Ein P o s t u l a t ist ein praktischer, unmittelbar gewisser Satz oder ein Grundsatz, der eine mögliche Handlung bestimmt“.¹²⁵ Folglich lassen sich moralische Gesetze nicht deduzieren, ableiten oder beweisen, weil sie gerade in ihrer Eigenschaft als prak-
Vgl. Wood 2002, S. 6 f. und Willaschek 1997, S. 220, erneut Willaschek 2009, S. 52 sowie in eigener Prägung (s. dazu unten S. 159 – 164) Ripstein 2009, S. 359. Vgl. ferner kritisch hierzu Mosayebi 2013, S. 228 – 232. Vgl. dazu ausführlich oben S. 46 – 48. KpV, AA V, S. 47. Die Überschrift dieses Abschnitts „ Vo n d e r D e d u c t i o n d e r G r u n d s ä t z e d e r r e i n e n p r a k t i s c h e n Ve r n u n f t “ täuscht, denn Kant bringt hier keine Deduktion des Sittengesetzes. Vielmehr stellt er ebd. fest, dass anstelle der „vergeblich gesuchten Deduction des moralischen Princips, […] es umgekehrt selbst zum Princip der Deduction eines unerforschlichen Vermögens dient, […] nämlich das der Freiheit, von der das moralische Gesetz, welches selbst keiner rechtfertigenden Gründe bedarf, nicht blos die Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit […] beweise“. KpV, AA V, S. 46, kursive Hervorhebung P.-A. H. Logik, AA IX, S. 112. Hiervon unterscheidet Kant Probleme: „P r o b l e m e (problemata) sind demonstrable, einer Anweisung bedürftige Sätze, oder solche, die eine Handlung aussagen, deren Art der Ausführung nicht unmittelbar gewiß ist.“
3.3 Recht und kategorischer Imperativ
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tische Postulate selbstevident sind.¹²⁶ Das Faktum sittlicher Verpflichtung ist uns als primäres Datum gegeben und dient vielmehr selbst als Deduktionsprinzip der Freiheit.¹²⁷ Nun konnte gezeigt werden, dass Kant das Recht unmittelbar auf den kategorischen Imperativ in seiner ursprünglichsten Form, d. h. als oberstes Prinzip der Sittenlehre, zurückführt.¹²⁸ Folglich drängt sich uns das Rechtsgesetz als praktischer Satz a priori auf.¹²⁹ Es darf uns also nicht wundern, dass gerade das Rechtsgesetz als Postulat eingeführt und (anders als das oberste Prinzip der Tu Kant spricht auch anderenorts vom kategorischen Imperativ bzw. von moralischen Gesetzen als praktischen Postulaten. Vgl. z. B. KdU, AA V, S. 470; VA RL, AA XXIII, S. 256 f. und S. 262 sowie Refl. 6109, AA XVIII, S. 457. Diesbezüglich darf es nicht verwundern, dass er auch Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als Postulate der reinen praktischen Vernunft bezeichnet und vom moralischen Gesetz unterscheidet, vgl. KpV, AA V, S. 32. Zum einen käme das Postulat der Freiheit – auf Grund der wechselseitigen Ableitbarkeit – dem moralischen Gesetz als Postulat gleich (vgl. so auch Kant in Verkündigung ZeF, AA VIII, S. 418 und implizit auch in KpV, AA V, S. 46). Zum anderen scheint Kant zwischen dem moralischen Gesetz als Postulat erster Ordnung und dessen Möglichkeitsbedingunen als Postulaten zweiter Ordnung (Gott, Freiheit und Unsterblichkeit) zu unterscheiden. Vgl. erneut Verkündigung ZeF, AA VIII, S. 418; KdU, AA V, S. 470 und Refl. 6109, AA XVIII, S. 457 sowie im Folgenden unten S. 300 f. mit Fn. 185. Praktisches Postulat kann bei Kant mithin unterschiedliche Dinge bezeichnen. Zwei unterschiedliche Verwendungen – allerdings mit einer anderen, hier nicht geteilten Begründung – unterscheidet auch Wolff 2009, S. 522– 526 mit Fn. 24. Vgl. KpV, AAV, S. 45 – 50 und RL, AAVI, S. 225, wo Kant ausführt, „daß eben diese praktischen Gesetze (die moralischen) eine Eigenschaft der Willkür zuerst kund machen […], nämlich die Freiheit, unwidersprechlich darthun: so wird es weniger befremden, diese Gesetze gleich mathematischen Postulaten u n e r w e i s l i c h und doch a p o d i k t i s c h zu finden, zugleich aber ein ganzes Feld von praktischen Erkenntnissen vor sich eröffnet zu sehen, wo die Vernunft mit derselben Idee der Freiheit, ja jeder anderen ihrer Ideen des Übersinnlichen im Theoretischen alles schlechterdings vor ihr verschlossen finden muß.“ Wie mathematische Postulate sind auch moralische Gesetze als Postulate nicht deduzierbar. Nur hierauf beschränkt sich die Vergleichbarkeit, wie RL, AA VI, S. 273 sowie KpV, AA V, S. 10 f., Fn. * und S. 31 zeigen (vgl. anders jedoch Wolff 2009, der eine weitergehende Analogie annimmt). Für Kant sind mathematische Postulate lediglich technisch-praktische Sätze. D. h. sie postulieren nur hypothetisch die Möglichkeit der Handlung zur Bewirkung eines theoretisch a priori möglichen Gegenstands. Hingegen sind moralische Gesetze moralisch-praktische Sätze (vgl. zur Begrifflichkeit KpV, AA V, S. 26, Fn. *; KdU, AA V, S. 172 f.), indem sie kategorisch verpflichten. Damit sind sie selbst Postulate, und die Vernunft postuliert gleichzeitig die zur Pflichterfüllung notwendigen Möglichkeitsbedingungen. Kurz: Bei ersteren wird die Möglichkeit einer Handlung postuliert, bei letzteren die Notwendigkeit einer Handlung und deren Möglichkeitsbedingungen. Vgl. nur Kants Bestimmung zum Verhältnis von Sittengesetz und Freiheit in KpV, AAV, S. 46: „[J]ene Gesetze sind nur in Beziehung auf Freiheit des Willens möglich, unter Voraussetzung derselben aber nothwendig, oder umgekehrt, diese ist nothwendig, weil jene Gesetze als praktische Postulate nothwendig sind.“ Vgl. oben S. 93 – 101. So auch Kant in RL, AA VI, S. 232: „Dieses [sc. das strikte Recht] gründet sich […] auf dem Bewußtsein der Verbindlichkeit eines jeden nach dem Gesetze“.Vgl. dazu auch ausführlich unten S. 142– 145.
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gendlehre)¹³⁰ eben nicht deduziert wird, weil alle Erkenntnis im Praktischen hiermit anhebt.¹³¹ Im Gegenteil: Die Frage war: w a r u m s o l l ich mein Versprechen halten? Denn d a ß i c h e s s o l l , begreift ein jeder von selbst. Es ist aber schlechterdings unmöglich, von diesem kategorischen Imperativ noch einen Beweis zu führen […]. Es ist ein Postulat der reinen (von allen sinnlichen Bedingungen des Raumes und der Zeit, was den Rechtsbegriff betrifft, abstrahirenden) Vernunft […].¹³²
Dieses kann laut Kant in TL, AA VI, S. 395 deduziert werden. Das oberste Prinzip der Tugendlehre „verstattet, als ein kategorischer Imperativ, keinen Beweis, aber wohl eine Deduction aus der reinen praktischen Vernunft“. Es ist jedoch kein Widerspruch, dass Kant dieses Prinzip deduzieren möchte. Denn eine Deduktion ist bei Kant die Ableitung des Besonderen aus einem Allgemeinen und das oberste Tugendprinzip erweist sich in diesem Sinne als eine Besonderung des allgemeinen Prinzips der Sittlichkeit: Während das Rechtsgesetz auf den kategorischen Imperativ in seiner ursprünglichen Form zurückzuführen ist, stellt das oberste Prinzip der Tugendlehre demgegenüber eine Erweiterung durch vernunftbestimmte Pflichtzwecke dar.Vgl. dazu oben S. 98 f. sowie zur Herleitung der Pflichtzwecke Kap. 3, Fn. 72, jeweils m. w. N. Folglich leitet Kant aus dem obersten Prinzip der Sittenlehre (als unmittelbares Vernunftfaktum) das Prinzip der Tugendlehre als besonderes Prinzip ab: Unsere sittliche Erkenntnis hebt mit dem Faktum kategorischer Handlungsverpflichtung an. Gleichzeitig werden wir hierdurch unserer sittlichen Freiheit und damit notwendigen Selbstzweckhaftigkeit vergewissert. Dadurch ist das autonome Vernunftwesen für uns ein notwendiger Vernunftzweck, woraus sich dann das Prinzip der Tugendlehre deduzieren lässt (vgl. so schon oben S. 83 – 85 mit Fn. 72). Vor diesem Hintergrund ist auch der Auffassung von Guyer entgegenzutreten. Dieser ist zwar nicht als Unabhängigkeitstheoretiker zu qualifizieren (vgl. jedoch mit anderer Einschätzung und Guyers Argumentation zusammenfassend Willaschek 2009, S. 54 f.), gleichwohl betont er in Guyer 2002, S. 26: „Thus the universal principle of right may not be derived from the Categorical Imperative, but it certainly is derived from the conception of freedom and its value that is the fundamental principle of Kantian morality. […] So, by calling a principle of right a postulate, Kant may mean to suggest something about how such a proposition must be proved, but not that it cannot be proved.“ Obgleich Guyers Ausführungen zu Postulaten in Teilen richtig sind (vgl. ebd., S. 32– 41), stellt er hiermit dennoch die Ableitungsbeziehungen bei Kant auf den Kopf. Das Rechtsgesetz ist, insofern es sich als Postulat unmittelbar auf den kategorischen Imperativ der Sittlichkeit zurückführen lässt, allenfalls selbst Deduktionsprinzip der Freiheit. Mit seiner Auffassung, einen praktischen Beweis für ein Postulat aufzeigen zu können, fällt Guyer folglich hinter die zentrale Einsicht der zweiten Kritik zurück: Alle praktische Erkenntnis hebt mit der sittlichen Verpflichtung an. Daher ist das Rechtsgesetz als ein Postulat keines Beweises (theoretisch oder praktisch) fähig.Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen von Pippin 2006, S. 424– 428 und vor allem die zutreffende, ausführliche Kritik an Guyer von Flikschuh 2007. RL, AA VI, S. 273, kursive Hervorhebung P.-A. H.
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Was Kant hier zum vertraglichen Versprechen sagt, gilt für das Recht schlechthin: Das Rechtsgesetz ist ein Postulat, gerade weil es ein kategorischer Imperativ ist.¹³³ Der oben genannte Einwand der Unabhängigkeitsthese ist – gemessen hieran – schlichtweg verfehlt, weil er die epistemische Wende der zweiten Kritik übersieht und daher auf eine „vergeblich gesuchte Deduction des moralischen Princips“ hinausläuft.¹³⁴ Vor diesem Hintergrund lässt sich auch noch ein weiterer Einwand der Unabhängigkeitsthese zurückweisen, wonach die Analytizität des Rechts die Unabhängigkeit vom kategorischen Imperativ als synthetischem Prinzip a priori beweise.¹³⁵ Jedoch werden hier unzulässigerweise zwei distinkte Redeweisen von Analytizität bzw. Synthetizität miteinander vermischt. Wenn Kant in der Tugendlehre das oberste Rechtsprinzip als analytisch ausweist und gegenüber dem synthetischen obersten Prinzip der Tugendlehre abgrenzt, so bezieht sich dies auf die Begründung der Zwangsbefugnis beim Recht, welche sich analytisch aus dem Begriff einer allgemeingesetzlichen äußeren Freiheit ergibt. Demgegenüber findet in der Tugendlehre eine Verknüpfung des Freiheitsbegriffs mit vernunftbestimmten Pflichtzwecken statt, sodass das Prinzip der Tugendlehre synthetisch ist.¹³⁶ Diese Unterscheidung darf man jedoch nicht mit der moralepistemologischen Synthetizität des kategorischen Imperativs verwechseln, die Kant allenthalben betont: „Ein synthetischer unerweislich gewisser Satz der moralisch-
Vgl. so auch VA RL, AA XXIII, S. 262, wo Kant mit Blick auf das Recht ausführt: „Das Postulat der practischen Vernunft in Ansehung des äußern Gebrauchs der Willkühr ist ein categorischer Imperativ des Willens […].“ KpV, AA V, S. 47. Vgl.Wood 1999, S. 35: „Kant does seem explicitly to discredit the whole idea that the principle of right is derived from the fundamental principle of morality when he declares that the principle of right is analytic […]. The analyticity of the principle of right would render redundant any derivation of the principle from the Formula of Universal Law, since Kant clearly regards the Formula of Universal Law, like all formulations of the supreme principle of morality, as synthetic […]. For it makes no sense to derive an analytic proposition from a synthetic one.“ Vgl. erneut Wood 2008, S. 7 und wohl beipflichtend Willaschek 2009, S. 52 sowie kritisch hierzu Ludwig 2013b, S. 303, Fn. 49 und Mosayebi 2013, S. 225 – 228. Vgl. TL, AA VI, S. 396: „Daß der äußere Zwang […] mit Zwecken überhaupt zusammen bestehen könne, ist nach dem Satz des Widerspruchs klar, und ich darf nicht über den Begriff der Freiheit hinausgehen, um ihn einzusehen […]. – Also ist das oberste R e c h t s p r i n c i p ein analytischer Satz. Dagegen geht das Princip der Tugendlehre über den Begriff der äußern Freiheit hinaus und verknüpft nach allgemeinen Gesetzen mit demselben noch einen Zweck, den es zur P f l i c h t macht. Dieses Princip ist also synthetisch.“ Vgl. zur Synthetizität des obersten Prinzips der Tugendlehre bereits oben S. 98 f. mit Fn. 115.Vgl. außerdem zur analytischen Verknüpfung von Freiheit und Rechtszwang oben S. 59 – 64 sowie mit Bezug zum kategorischen Imperativ unten S. 133 – 139.
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practischen Vernunft ist ein moralisches Postulat d.i. ein categorischer Imperativ der reinen Vernunft der eine gewisse Art zu handeln unbedingt (nicht als Mittel zu[r] Erreichung einer gewissen Absicht) gebietet.“¹³⁷ Wie bereits gezeigt, ist für Kants praktische Philosophie seit 1787 die Unterscheidung zwischen ratio essendi des Sittengesetzes und ratio cognoscendi der sittlichen Freiheit zentral.¹³⁸ Daher nennt Kant das „Bewußtsein dieses Grundgesetzes [sc. des kategorischen Imperativ] ein Factum der Vernunft“, welches sich […] für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori, der auf keiner, weder reinen noch empirischen, Anschauung gegründet ist, ob er gleich analytisch sein würde, wenn man die Freiheit des Willens voraussetzte, wozu aber, als positivem Begriffe, eine intellectuelle Anschauung erfordert werden würde, die man hier gar nicht annehmen darf.¹³⁹
Der kategorische Imperativ wäre ein analytischer Satz, wenn man vom Begriff der Freiheit ausgehen könnte, da Freiheit und Sittengesetz unmittelbar aufeinander verweisen.¹⁴⁰ Insofern ist die Freiheit notwendig ratio essendi des Sittengesetzes. Allerdings haben wir, die wir nicht über intellektuelle Anschauung verfügen, keine unmittelbare Kenntnis der sittlichen Freiheit. Vielmehr ist das Sittengesetz die ratio cognoscendi derselben. Aus diesem Grunde ist der kategorische Imperativ stets das primäre Datum, das sich uns, als Wesen mit einem nicht-reinen Willen, als ein synthetischer Satz a priori aufdrängt. Zuvörderst gilt dies – wie soeben gezeigt – folglich auch für das Rechtsgesetz als „ein Postulat, welches gar keines Beweises weiter fähig ist“.¹⁴¹
3.3.3 Gibt es nicht-juridische moralische Handlungspflichten und Befugnisse? Gegen eine kritische Rechtsbegründung Kants wird obendrein ins Feld geführt, dass die Klasse moralischer Handlungspflichten und Befugnisse nach dem kategorischen Imperativ größer sei als diejenige nach dem allgemeinen Rechtsgesetz. Letzteres könne daher unmöglich auf den kategorischen Imperativ zurückgeführt werden. Begründet wird dies zunächst damit, dass es äußere moralische
VA RL, AA XXIII, S. 256.Vgl. im Übrigen stellvertretend statt vieler GMS, AA IV, S. 420 mit Fn. * oder KpV, AA V, S. 31. Vgl. dazu ausführlich oben S. 46 – 48 sowie unten S. 142– 145. KpV, AA V, S. 31, kursive Hervorhebung P.-A. H. Vgl. KpV, AA V, S. 29 f. RL, AA VI, S. 231.
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Pflichten zu konkreten Handlungen gebe, welche nicht zugleich auch Rechtspflichten seien. Beispiele hierfür seien Nachbarschaftshilfe oder freundschaftliche Gefälligkeiten. Wenn z. B. ein Freund dem anderen verspricht, ihm beim Streichen zu helfen, dann aber nicht wie vereinbart erscheint, weil er es sich anders überlegt hat, so sei dies zwar moralisch, aber nicht rechtlich verwerflich: Eine solche Maxime lasse sich nicht als allgemeines Gesetz denken und verstoße daher gegen den kategorischen Imperativ. Dennoch begründe eine rein freundschaftliche Gefälligkeit keine erzwingbare Rechtspflicht.¹⁴² Dies ist jedoch zu modern gedacht, denn reine Gefälligkeitsverhältnisse sind zumindest für Kant stets Verträge und somit rechtlich bindend. Auch eine Gefälligkeit beinhaltet den Konsens über die Übertragung der Willkür an einen anderen und begründet – ausgehend von Kantischen Prinzipien – insofern ein persönliches Recht.¹⁴³ Gefälligkeiten (etwa Streichen als Freundschaftsdienst) sind daher mitnichten rechtlich unverbindlich, sondern vertraglich bindend und nötigenfalls erzwingbar.¹⁴⁴ Möchte man dies vermeiden und soll unter bestimmten Umständen die rechtliche Bindung entfallen (z. B. bei einem familiären Notfall oder auch nur wenn einen das getane Versprechen plötzlich reut), so ist dies – wie Kant selbst betont – als Vorbehalt bzw. auflösende Bedingung in die vertragliche Abrede mit aufzunehmen.¹⁴⁵ Ferner wird unabhängig davon behauptet, dass zumindest moralische Befugnisse und Rechte extensional verschieden seien. Während nach dem katego-
Vgl.Willaschek 2009, S. 61: „If a friend promises to help me paint my office, but later changes his mind and does not show up at the appointed time, his behaviour is morally wrong; still, I am not authorized to coerce him into fulfilling his promise unless we made a legally binding contract.“ Vgl. hierzu nur RL, AA VI, S. 271– 276. Vgl. so auch Seel 2009, S. 78 f.; zweifelnd jedoch Guyer 2016, S. 62 f. Ganz allgemein beschwert sich Kant schon in ZeF, AA VIII, S. 348, Fn. * darüber, dass im positiven Recht „das Verbotgesetz für sich allein dasteht, die Erlaubniß aber nicht als einschränkende Bedingung (wie es sollte) in jenes Gesetz mit hinein gebracht, sondern unter die Ausnahmen geworfen wird.“ Soll unter bestimmten Umständen keine rechtliche Bindungswirkung entstehen, müssen „die Bedingungen i n d i e F o r m e l d e s Ve r b o t s g e s e t z e s mit hineingebracht werden“. Diesen Gedanken führt Kant konsequent auch für privatrechtliche Abreden aus. Beim einseitig begünstigenden Schenkungsvertrag kommt es also darauf an, ob der Schenker „die Freiheit, von seinem Versprechen abzugehen, hat vorbehalten wollen, oder nicht“ (RL, AA VI, S. 298; dies wird nach dem Naturrecht vermutet, muss aber vor einem Gerichtshof nachgewiesen werden). Ähnlich trifft – vor einem Gerichtshof – beim unvollkommen zweiseitigen Leihvertrag die Gefahr des zufälligen Untergangs der Sache den Eigentümer, „weil ein öffentlicher Richter sich nicht auf Präsumtionen von dem, was der eine oder andere Theil gedacht haben mag, einlassen kann, sondern der, welcher sich nicht die Freiheit von allem Schaden an der geliehenen Sache durch einen besonderen angehängten Vertrag ausbedungen hat, diesen selbst tragen muß“ (RL, AA VI, S. 300).
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rischen Imperativ die Möglichkeit bestehe, dass moralisch erlaubte Handlungen in Konflikt geraten, sei die Möglichkeit konfligierender Rechte ausgeschlossen. Beispielsweise sei es moralisch erlaubt, dass zwei Personen ein und denselben äußeren Gegenstand begehren und widerspruchsfrei entsprechende Handlungsmaximen formulieren. Habe hingegen einer ein Recht an diesem Gegenstand, dann schließe dies automatisch ein etwaiges Recht des anderen hieran aus.¹⁴⁶ Jedoch ist nicht ersichtlich, inwiefern hier ein Unterschied zwischen Rechten und moralischen Befugnissen bestehen soll. Solange ein Gegenstand herrenlos ist, gibt es noch keine Eigentumsrechte, und jeder hat die rechtliche Befugnis zur Aneignung.¹⁴⁷ Auch entsprechende Handlungsmaximen sind nicht widersprüchlich und nach dem kategorischen Imperativ moralisch zulässig. Es besteht also rechtlich und moralisch eine Befugnis, aber kein Konflikt. Sobald ein solcher Gegenstand aber angeeignet wurde, besteht hieran ein einseitiges Recht, das andere vom Gebrauch ausschließt. Nun ist aber auch die Handlungsmaxime eines anderen, über den Gegenstand gleichwohl zu verfügen, nach dem kategorischen Imperativ nicht mehr verallgemeinerbar, mithin moralisch unzulässig. Hier nun besteht rechtlich wie moralisch ein Konflikt, aber keine Befugnis. Kurz: Es gibt nicht, wie behauptet, die Möglichkeit konfligierender moralischer Befugnisse, woraus sich ein Unterschied zum Recht ergeben könnte.¹⁴⁸ Was rechtlich erlaubt bzw. verboten ist, das ist auch moralisch (d. h. nach dem kategorischen Imperativ) erlaubt bzw. verboten.¹⁴⁹
3.3.4 Der kategorische Imperativ: Ein rein ethisches Prinzip? Als Hauptargument für eine unabhängigkeitstheoretische Lesart der Kantischen Rechtsphilosophie wird jedoch vorgebracht, dass sich der kategorische Imperativ
Willaschek 2009, S. 63 f. führt als Beispiel den Verzehr eines Apfels an: „For instance, it may be morally permissible for each of two people to eat a particular apple; but still only one of them can eat it. Contrast the case of rights: if I have a right to eat that apple, then no one else can have a right to eat it. Although, according to Kant, duties (moral obligations) cannot conflict […], this does not hold for moral permissions. Since the Categorical Imperative, as such, is a test for what is morally permissible, it cannot exclude conflict in the way required for the juridical sphere.“ Vgl. zur rechtlichen Erlaubnis, äußere Gegenstände anzueignen, ausführlich unten S. 272– 279. Vgl. so auch Seel 2009, S. 82– 84. Dieser konstatiert (ebd., S. 83): „One could continue to imagine maxims ad infinitum, but no maxime that passes the test of the Categorical Imperativ would ever establish conflicting moral permissions, or so I believe. Willaschek has the ‚onus probandi‘ of the contrary […].“ Dies gilt nicht nur für die hier diskutierten erworbenen Rechte, sondern bereits für angeborene Rechte. Vgl. dazu Seel 2009, S. 83 f. mit zutreffender Kritik an Willaschek 2009, S. 64.
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notwendig auf die Motivation bei der Pflichtbefolgung beziehe, d. h. stets ein Handeln um der Pflicht willen bzw. aus Pflicht verlange.¹⁵⁰ Das Recht sei jedoch gegenüber der Handlungsmotivation indifferent und fordere gerade keine Triebfederbestimmung durch reine Vernunft.¹⁵¹ Folglich scheide der kategorische Imperativ als Prinzip des zwangsbewehrten Rechts aus.¹⁵² Eine solche Interpretation scheint durch Äußerungen Kants gestützt zu werden, wonach der kategorische Imperativ das ¹⁵³ Prinzip der Sittlichkeit bzw. das „o b e r s t e P r i n c i p d e r M o r a l i t ä t “¹⁵⁴ darstelle und insofern Moralität einzufordern scheint, als die Maxime nicht „dem Princip einer r e i n e n praktischen Vernunft, hiemit also auch der sittlichen Gesinnung entgegen“ sei.¹⁵⁵ Entsprechend lesen sich einige Passagen zum Pflichtbegriff, z. B. wenn Kant in der Grundlegung „P f l i c h t “ als „d i e N o t h w e n d i g k e i t e i n e r H a n d l u n g a u s
Dies ist eine jenseits der vorliegenden Problematik häufig geteilte Überzeugung. Vgl. in diesem Sinne statt vieler Gregor 1963, S. 18 – 22; Paton 1962, S. 52 f.; Dreier 1979, S. 17– 19; Kersting 1984, S. 26 – 35; Beck 1995, S. 120 f.; Willaschek 1997, S. 211– 224, erneut Willaschek 2005, S. 198 f. und Steigleder 2002, S. 132 f. Vgl. dazu oben S. 59 – 61. So führt Horn 2009, S. 410 aus: „Rechtsregeln können unmöglich vom kategorischen Imperativ aus gebildet sein, sonst müsste man entweder diesen von seinem zentralen Moment, dem Motivationsaspekt, loslösen, oder aber das Rechtssystem müsste moralisiert werden. Beides ist für Kant aber sicherlich inakzeptabel.“ Vgl. auch Horn 2014, S. 42 f. Einschlägig ist hier auch die Auffassung von Willaschek 1997, S. 211– 224,Willaschek 2005, S. 198 f. und erneut Willaschek 2009, S. 53: „[R]ight is motivationally independent from morals, that is, that according to Kant compliance with […] right and […] laws does not require moral motivation […]. […] [N]ormative validity […] of juridical norms is independent of a Kantian moral theory with moral autonomy as its central notion and the Categorical Imperative as its fundamental norm.“ Vgl. ähnlich Wood 2002, S. 8 f.; erneut Wood 2014, S. 34– 37 und S. 75 – 83 sowie Ripstein 2009, S. 355 und S. 382. Doch auch Autoren, die nicht als Unabhängigkeitstheoretiker zu qualifizieren sind, sehen hierin zumindest ein erklärungsbedürftiges Problem: Kersting 1984, S. 27 f. ist der Auffassung, dass „[d]ie rechtseigentümliche Gleichgültigkeit gegenüber dem Verfolgungsmotiv […] dagegen[steht], daß das Rechtsgesetz ‚sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori‘.“ Es stelle sich die Frage, „wie die im Faktum der reinen Vernunft sich als ursprünglich gesetzgebend ankündigende reine praktische Vernunft ein Gesetz enthalten kann, dessen Besonderheit darin besteht, auf das wesentliche Moment praktischer Vernunftgesetzgebung zu verzichten, eben den sie von aller Gesetzgebung unterscheidenden Anspruch, auch hinsichtlich ihrer Verwirklichung nur sich selbst vorauszusetzen.“ Vgl. auch Kersting 1983c, S. 290 sowie mit ähnlichen – freilich im Detail unterschiedlichen – Aussagen und Problembeschreibungen Gregor 1963, S. 19 und S. 22 f.; Scholz 1972, S. 15; Höffe 1979a, S. 21; Dreier 1979, S. 19 f.; Steigleder 2002, S. 148 sowie Baum 2013a, S. 88 – 92. Vgl. GMS, AA IV, S. 432, 436, 447 sowie KpV, AA V, S. 63. GMS, AA IV, S. 392. KpV, AA V, S. 33.Vgl. für weitere gleichlautende sowie hierzu konträre Passagen die Verweise bei Schnoor 1989, S. 15 – 23.
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A c h t u n g f ü r s G e s e t z “ definiert,¹⁵⁶ oder noch deutlicher die folgende Passage aus der Kritik der praktischen Vernunft: Der Begriff der Pflicht fordert also an der Handlung o b j e c t i v Übereinstimmung mit dem Gesetze, an der Maxime derselben aber subjectiv Achtung fürs Gesetz, als die alleinige Bestimmungsart des Willens durch dasselbe. Und darauf beruht der Unterschied zwischen dem Bewußtsein, p f l i c h t m ä ß i g und a u s P f l i c h t , d.i. aus Achtung fürs Gesetz, gehandelt zu haben, davon das erstere (die Legalität) auch möglich ist, wenn Neigungen blos die Bestimmungsgründe des Willens gewesen wären, das zweite aber (die M o r a l i t ä t ), der moralische Werth, lediglich darin gesetzt werden muß, daß die Handlung aus Pflicht, d.i. blos um des Gesetzes willen, geschehe.¹⁵⁷
Fordert der kategorische Imperativ also notwendig ein Handeln aus Pflicht und macht damit eine kritische Rechtsbegründung unmöglich? Hier soll nicht in Frage gestellt werden, dass nach dem kategorischen Imperativ in bestimmten Fällen ein Handeln aus Pflicht gefordert sein kann. Jedoch ist die Behauptung unzutreffend, der kategorische Imperativ bzw. der ihm korrespondierende Pflichtbegriff seien analytisch äquivalent zu einer Moralitätsforderung.¹⁵⁸ Es erscheint vielmehr richtiger, zu sagen, der kategorische Imperativ fordere Pflichtbefolgung unangesehen des Handlungsmotivs. Dies kann ein Handeln aus Pflicht bzw. Moralität implizieren, muss es aber nicht.
GMS, AA IV, S. 400. KpV, AAV, S. 81. Beweiskräftig ist diese Passage jedoch kaum, bedenkt man, dass sie aus dem Abschnitt „Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft“ stammt. Hier geht es Kant gerade darum, zu zeigen, dass das moralische Gesetz den Willen als Triebfeder unmittelbar bestimmen kann. Der Begriff der Pflicht wird also von vornherein nur insoweit thematisiert, als dass er ein objektives Handlungsgebot enthält und gleichzeitig subjektive Triebfeder zur pflichtgemäßen Handlung sein kann. Er legt also nur dar, dass eine Triebfederbestimmung durch reine praktische Vernunft möglich, nicht jedoch, dass sie auch notwendig ist. Vgl. dazu erneut unten Kap. 3, Fn. 195. Eigentlich spricht hiergegen schon die Tatsache, dass die Unterscheidung Moralität vs. Legalität die Beurteilung von Handlungen bzw. Gesinnungen aus einer rein innerethischen Perspektive thematisiert und damit schon begrifflich nicht zur Beschreibung von Handlungsvorschriften nach dem kategorischen Imperativ herangezogen werden kann. Vgl. dazu bereits oben S. 48 – 51 und sogleich S. 111– 117. Obgleich diese Unterscheidung erstmals in der Metaphysik der Sitten ausgearbeitet wird, ist sie bereits konzeptionell mit der Grundlegung ausgearbeitet, wie sich deutlich an den Vorlesungsnachschriften dieser Zeit ausweisen lässt. Bereits hier unterscheidet Kant erkennbar der Sache nach zwischen einer Gesetzgebungsperspektive und einer Beurteilungsperspektive, vgl. dazu ausführlich Hirsch 2012a, S. 71– 73 und S. 114.
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3.3.4.1 Autonomie bei Kant: Der kategorische Imperativ als Prinzip der Pflichtkonstitution Eine solche Lesart ist notwendig, will man nicht den Unterschied zwischen Autonomie und Autokratie der reinen praktischen Vernunft verwischen. Moralische Gesetze (d. h. für sinnliche Vernunftwesen: kategorische Imperative) und die durch sie konstituierten Pflichten sind bei Kant durch das Autonomietheorem bestimmt: „Die A u t o n o m i e des Willens ist das alleinige Princip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten“.¹⁵⁹ Für das richtige Verständnis des Autonomietheorems ist nun entscheidend, dass autonom bei Kant kein Handlungsprädikat, sondern ein Prädikat von Gesetzgebungen ist.¹⁶⁰ Kant definiert Autonomie als „die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein“.¹⁶¹ Das ist – unter Zugrundelegung der ausgereiften Differenzierung von Wille und Willkür nach der Metaphysik der Sitten – die Tatsache, dass die freie Willkür in sittlicher Hinsicht nur der eigenen, allgemeinen Gesetzgebung des Willens als reine praktische Vernunft unterworfen ist.¹⁶² Eine Handlung (= Akt der freien
KpV, AA V, S. 33. Im gesamten Werk Kants wird Autonomie nie als Handlungsprädikat verwandt, so auch Ludwig 2013a, S. 61, Fn. 6. Es ist allenfalls davon die Rede, dass „Handlungen dem Princip der Autonomie […] gemäß“ seien (GMS, AA IV, S. 453) oder dass eine „Handlung […] mit der Autonomie des Willens zusammen bestehen kann“ (GMS, AA IV, S. 439). Häufig wird dies jedoch übersehen und Autonomie – oftmals ohne nähere Präzisierung – als Prädikat von Entscheidungen oder Handlungen behandelt. Vgl. nur Höffe 1979a, S. 221; ihm beipflichtend Langthaler 1991, S. 21; Willaschek 1992, S. 234– 239, Hruschka 2000, S. 193; Guyer 2000, S. 202 f.; O’Neill 2002a, S. 90 – 94; Steigleder 2002, S. 109 – 115, in Kontrastierung zum Recht S. 147; Kain 2004, S. 300 – 303; Flikschuh 2010, S. 54 sowie jüngst Schadow 2013a, S. 156 – 187 und Baum 2013a, S. 83 f. Dabei wird wiederholt behauptet, autonomes Handeln stelle sich als Handeln aus Pflicht bzw. Moralität dar. Jedoch definiert Kant Moralität als „das Verhältniß der Handlungen zur Autonomie des Willens, das ist zur möglichen allgemeinen Gesetzgebung durch die Maximen desselben. Die Handlung, die mit der Autonomie des Willens zusammen bestehen kann, ist e r l a u b t ; die nicht damit stimmt, ist u n e r l a u b t .“ (GMS, AA IV, S. 439) Nur Gesetzgebungen können hiernach autonom sein. Diese konstituieren bestimmte Pflichten, nach deren Maßgabe Handlungen erlaubt bzw. unerlaubt sind. Erlaubte Handlungen wiederum entsprechen den autonom bestimmten, moralgesetzlichen Anforderungen, wobei diese Entsprechung prima facie Legalität wie Moralität gleichermaßen implizieren kann.Vgl. dazu auch Kap. 3, Fn. 163 sowie zu Legalität und Moralität bereits oben S. 48 f. GMS, AA IV, S. 447. Vgl. ebenso GMS, AA IV, S. 440; KpV, AA V, S. 33, 42 f., 87. Mit der Metaphysik der Sitten unterscheidet Kant trennscharf zwischen dem Willen als legislativem und der Willkür als exekutivem Vermögen.Während Willkür lediglich die Fähigkeit, eine Handlung zu tun oder zu lassen, beschreibt, definiert Kant Wille als die Fähigkeit, die Willkür durch reine praktische Vernunft zu bestimmen. Vgl. RL, AA VI, S. 213 und S. 226. Vgl. ausführlich hierzu unten S. 139 – 143. Kants Differenzierung zwischen Wille und Willkür bestätigt, nebenbei bemerkt, den o. g. Befund (Kap. 3, Fn. 160), dass Autonomie kein Handlungsprädikat ist, insofern
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Willkür) kann daher der autonomen Gesetzgebung (= Akt des Willens als reine praktische Vernunft) entsprechen, insofern sie den jeweiligen Vorgaben der Moralgesetze genügt.¹⁶³ Bezieht sich autonom folglich allein auf Gesetzgebungen, kann Autonomie nicht darin bestehen, ohne Rücksicht auf materiale Zwecke oder Neigungen rein aus der Gesetzlichkeit des Willens selbst zu handeln bzw. seine Maximen zu bestimmen. Es gibt keine »autonomen Handlungen« und es wäre verfehlt, eine Rückführung des Rechts auf das Autonomietheorem mit dem Argument in Frage zu stellen, der kategorische Imperativ gebiete »autonomes Handeln aus Pflicht«. Autonomie erschöpft sich in der Pflichtenkonstitution durch reine praktische Vernunft, ohne schon dadurch Handeln aus Pflicht (d. h. reine praktische Vernunft zur Pflichtexekution) zu implizieren. Letzteres bezeichnet Kant daher konsequent als Autokratie, welche für die der Ethik eigentümliche Moralität erforderlich ist. Denn „Tugend“ als „die menschliche Moralität in ihrer höchsten Stufe“ erfordert laut Kants Bestimmung in der Tugendlehre „A u t o k r a t i e “, d. h. das „Ve r m ö g e [ n ] […], über seine dem Gesetz widerspenstige Neigungen Meister zu werden“.¹⁶⁴ Reine praktische Vernunft hat demnach Autokratie, insofern sie die Kraft einer Triebfeder hat, d. h. als Handlungsmotiv die gesetzmäßige Handlung bestimmt. Reine Vernunft, insofern sie gesetzgebend ist, hat Autonomie. Diese Differenzierung zwischen der pflichtbegründenden und der pflichtausführenden Funktion der reinen praktischen Vernunft macht deutlich, dass sich Autonomie bei Kant als konstitutives Prinzip moralischer Pflichten erschöpft. Erst die Autokratie der reinen praktischen Vernunft ist alleiniger Gegenstand der Tugend, wie anschaulich MoralphilosophieMrongovius II zeigt: Wenn die Vernunft durch das Moral Gesetz den Willen bestimmt, so hat sie die Kraft einer Triebfeder, sie hat alsdenn nicht bloß Avtonomie sondern auch Avtocratie. Sie hat denn gesetzgebende und auch executive Gewalt. Die avtocratie der Vernunft den Moral Gesetzen gemäß den Willen zu bestimmen, wäre dann das moralische Gefühl.¹⁶⁵
Kant Wille als gesetzgebende reine praktische Vernunft bestimmt und von Willkür als bloßem Exekutivvermögen unterscheidet. Dies gilt auch für das Rechtsgesetz als moralisches Gesetz, welches kein Handeln um der Pflicht willen fordert. Bspw. ist die Rechtspflicht vertragliche Versprechen einzuhalten autonom begründet. Ein gegebenes Versprechen aus Eigennutz einzuhalten, entspricht dieser autonomen, moralgesetzlichen Forderung, insofern ein legales Verhalten zur Pflichterfüllung hinreicht. TL, AA VI, S. 383. Moralphilosophie-Mrongovius II, AA XXIX, S. 626, kursive Hervorhebung P.-A. H. Ebenso unterscheidet Kant in der Tugendlehre (TL, AA VI, S. 383) zwischen der „Autonomie der praktischen Vernunft“ als Prinzip moralischer Gesetze und der darüber hinausgehenden „A u t o k r a t i e derselben“ als Prinzip der Tugend, d. h. dem „Ve r m ö g e [ n ] […], über seine dem Gesetz widerspenstige Neigungen Meister zu werden“. Vgl. auch VA TL, AA XXIII, S. 396, wo Kant von „einer
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Diese Unterscheidung zwischen Autonomie und Autokratie ist nun entscheidend für das richtige Verständnis des kategorischen Imperativs, welchen Kant als das Prinzip der Autonomie bestimmt.¹⁶⁶ Indem uns durch den kategorischen Imperativ – als Prinzip der Autonomie – eine unbedingte Verbindlichkeit auferlegt wird, vergewissert er uns zwar gleichzeitig, dass wir grundsätzlich zur tugendhaften Erfüllung dieser Pflicht (d. h. Autokratie) in der Lage sind. Denn Autokratie enthält „ein, wenn gleich nicht unmittelbar wahrgenommenes, doch aus dem sittlichen kategorischen Imperativ richtig geschlossenes Bewußtsein des Ve r m ö g e n s […], über seine dem Gesetz widerspenstige Neigungen Meister zu werden“.¹⁶⁷ Jedoch betont Kant ausdrücklich, dass Tugend „selbst, oder sie zu besitzen […] nicht Pflicht [ist] (denn sonst würde es eine Verpflichtung zur Pflicht geben müssen)“.¹⁶⁸ Wenn in den Worten Kants der kategorische Imperativ als Prinzip der Autonomie keine „Verpflichtung zur Pflicht“ beinhaltet, fordert er also keineswegs die Moralität der Pflichtunterworfenen ein.¹⁶⁹
Autocratie (nicht blos Autonomie) des moralischen Gesetzes gegen alle entgegenstehende Antriebe der Sinnlichkeit (Neigungen)“ spricht. Vgl. ferner zum Begriff der Autokratie bei Kant die grundlegende Arbeit von König, Peter 1994, insb. S. 228 – 230. Vgl. nur GMS, AA IV, S. 440 und KpV, AA V, S. 33 – 39. TL, AA VI, S. 383. Vgl. im Ergebnis ebenso KpV, AA V, S. 30. TL, AA VI, S. 405, kursive Hervorhebung P.-A. H. Vgl. ähnlich TL, AA VI, S. 402. Dies zeigt auch ein Vergleich mit der Tugendpflicht zur eigenen moralischen Vollkommenheit (vgl. zu deren Herleitung oben Kap. 3, Fn. 72). Diese verlangt, es mir zur Maxime zu machen, den Grund der Verpflichtung „ganz und gar im Gesetz zu suchen“. Dabei betont Kant, dass das Gesetz „jedoch nicht diese innere Handlung im menschlichen Gemüth [sc. Moralität bzw. Handeln aus Pflicht] selbst [gebietet], sondern blos die Maxime der Handlung, darauf nach allem Vermögen auszugehen: daß zu allen pflichtmäßigen Handlungen der Gedanke der Pflicht für sich selbst hinreichende Triebfeder sei.“ (TL, AA VI, S. 392 f.) Diese Forderung ist jedoch gegenüber der Forderung, absolut und in jedem Fall aus Pflicht zu handeln, ein Minus.Wenn also selbst nach der Tugendpflicht der moralischen Vollkommenheit nur dieses Minus geboten ist, folgt daraus e contrario, dass Moralität bzw. Handeln aus Pflicht nicht selbstständiger Gegenstand eines sittlichen Gebots, d. h. Pflicht, sein kann. Bestätigt wird dieser Befund durch Kants Ausführungen in Religion, AA VI, S. 36. Hiernach enthält das Sittengesetz in letzter Konsequenz nicht die absolute Forderung nach einem Handeln aus Pflicht in jedem Fall, sondern nur die Forderung nach einer „sittliche[n] Ordnung der Triebfedern“, welche lediglich verbietet, „die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes“ zu machen. In Entsprechung zur Pflicht zur moralischen Vollkommenheit der Tugendlehre besteht die sittliche Pflicht also allenfalls darin, es sich zum Vorsatz zu machen (Maxime zweiter Ordnung), in seinen Handlungen (Maxime 1. Ordnung) das moralische Gesetz zur bestimmenden Triebfeder zu machen (vgl. dazu auch oben Kap. 3, Fn. 97). Sittlich geschuldet ist als besondere Tugendpflicht nur das redliche Bemühen, die reine praktische Vernunft auch als Exekutionsprinzip zu etablieren, nicht jedoch Moralität in jedem Fall.
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Vielmehr ist „[d]er kategorische Imperativ, indem er eine Verbindlichkeit in Ansehung gewisser Handlungen aussagt, […] ein moralisch-praktisches G e s e t z “,¹⁷⁰ welcher „überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit sei“.¹⁷¹ Nach Kants Definition in der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ erschöpft sich der kategorische Imperativ also darin, dem sinnlich-affizierten Vernunftwesen eine Verbindlichkeit aufzuzeigen. Die Verbindlichkeit nach dem kategorischen Imperativ konstatiert allerdings nicht nur die praktische Notwendigkeit einer Handlung, sondern enthält – da der Mensch nicht heilig ist, sondern gegenläufig sinnlich affiziert wird – gleichzeitig die Nötigung zu dieser Handlung,¹⁷² die allein darum Pflicht heißt. „Pflicht ist eine Handlung die schlechthin geboten d.i. durch die Vernunft unbedingt nothwendig gemacht wird.“¹⁷³ Im Hinblick auf die moralisch notwendige Handlung X besteht der kategorische Imperativ also im Wesentlichen in einem unbedingten Handlungsgebot: Tue X und zwar unabhängig davon, was deine Handlungsmotivation ist! ¹⁷⁴ Dies ist wahrlich kein Novum der Metaphysik der Sitten, sondern folgt aus Kants gleichbleibender Bestimmung von Gesetz, Verbindlichkeit und Pflicht ebenso zwanglos bereits für die Grundlegung und die Kritik der praktischen Vernunft. ¹⁷⁵
RL, AAVI, S. 222 f. Entsprechend bestimmt Kant (ebd, S. 227) ein moralisch praktisches Gesetz als „ein[en] Satz, der einen kategorischen Imperativ (Gebot) enthält“. RL, AA VI, S. 225. Vgl. RL, AA VI, S. 223: „Weil aber Verbindlichkeit nicht bloß praktische Nothwendigkeit (dergleichen ein Gesetz überhaupt aussagt), sondern auch N ö t h i g u n g enthält, so ist der gedachte Imperativ entweder ein Gebot- oder Verbot-Gesetz […].“ Vgl. so auch bereits Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg. von Werner Stark, S. 29. VA TL, AA XXIII, S. 382. Vgl. ähnlich RL, AA VI, S. 222. Vgl. im Ergebnis ebenso Seel 2009, S. 75: „The Categorical Imperative as defined in VI, 225 cannot count as expressing an ethical obligation. It does not say that we should be motivated in our intending by the moral law and its validity. It simply says: ‚Act upon a maxim that can also hold as a universal law.‘ […] [B]ut it is not a juridical law either. For it does not explicitly restrict our obligation to maxims concerning external actions […]. The Categorical Imperative is rather a law that is indifferent to the distinctions between juridical and ethical obligations.“ Vgl. implizit ähnlich auch Ludwig 2013b, S. 299 f. und Ludwig 2013a, S. 67. Zum Rechtsgesetz als kategorischem Imperativ finden sich teils vergleichbare Überlegungen bei Guyer 2016, S. 39 f. und S. 52– 55 sowie Baiasu 2016, S. 22– 27. Vgl. nur die inhaltsgleichen Begriffsbestimmungen Kants in GMS, AA IV, S. 420 f., 425 und S. 439; KpV, AA V, S. 19 – 21 und S. 32 sowie RL, AA VI, S. 222 f. Angesichts dessen wäre es verfehlt, zwischen Grundlegung und Metaphysik der Sitten eine Weiterentwicklung bzw. Anspruchsreduzierung in Kants Verständnis des kategorischen Imperativs anzunehmen. Vgl. so etwa Höffe 1987, S. 97. Dieser führt zwar richtig aus: „Der gesuchte, gegen Tugend und Recht vollständig indifferente kategorische Imperativ lautete also: ‚Handle pflichtmäßig.‘ Dabei kann man hinzusetzen: ‚… aus welchen Motiven auch immer‘“. Jedoch geht er zu weit, wenn er anfügt „weshalb es auch heißen kann: ‚Handle äußerlich pflichtmäßig‘“ und hiervon den kategorischen Imperativ als ethisches
3.3 Recht und kategorischer Imperativ
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Hierin liegt nun der Schlüssel für die Interpretation der eingangs zitierten Passagen, in denen der kategorische Imperativ ein Handeln aus Pflicht zu fordern scheint.¹⁷⁶ Der kategorische Imperativ fordert Pflichtbefolgung unabhängig davon, ob ich die Pflicht gerne befolge und somit die Pflichterfüllung mit meinen subjektiven, empirisch bedingten Zwecken koinzidiert. Darin liegt ja gerade die Kategorizität des Imperativs.¹⁷⁷ Dies impliziert zwar für den Fall, dass ich ausschließlich Abneigung gegenüber der geforderten Handlung habe, ein Handeln aus Pflicht (d. h. bei dem in Ermangelung sinnlicher Triebfedern zur Pflichtbefolgung allein die Idee der Pflicht als Triebfeder hinreichend ist). Unter diesen Umständen (aber auch nur unter diesen) geht also aus der kategorischen Verpflichtung bereits die Notwendigkeit, aus Pflicht zu handeln, hervor. Jedoch ist diese Implikation nicht gleichbedeutend damit, dass immer und unter allen Umständen aus Pflicht gehandelt werden muss, um dem kategorischen Imperativ zu genügen.¹⁷⁸ Unbedingt geboten ist Pflichtbefolgung, nicht jedoch eine sittliche Gesinnung.¹⁷⁹
Prinzip „‚Handle pflichtmäßig, aus Pflicht‘“ unterscheiden möchte.Vgl. hierzu erneut Höffe 1999a, S. 15 – 18. Hierdurch kommt es zu einer unnötigen Doppelung bzw. Verdreifachung kategorischer Imperative bei Höffe, die vermeidbar ist, wenn man den kategorischen Imperativ richtigerweise als Prinzip begreift, welches sich nicht auf einen bestimmten Modus der Pflichtbefolgung festlegt. Vgl. die Nachweise in Kap. 3, Fn. 153 – 157. Vgl. dazu auch unten Kap. 3, Fn. 195. Vgl. RL, AA VI, S. 222: „Der kategorische (unbedingte) Imperativ ist derjenige, welcher nicht etwa mittelbar, durch die Vorstellung eines Z w e c k s , der durch die Handlung erreicht werden könne, sondern der sie durch die bloße Vorstellung dieser Handlung selbst (ihrer Form), also unmittelbar, als objectiv-nothwendig denkt und nothwendig macht […].“ Ein Handeln aus Pflicht ist dann geboten, wenn andere sinnliche Triebfedern zu Handlung ausfallen; aber eben auch nur dann. Der kategorische Imperativ verlangt nicht, dass die Idee der Pflicht das alleinige Handlungsmotiv ist, sondern nur, dass er im Konfliktfall das ausschlaggebende Motiv ist. Daher kann Kant die Freiheit als „ein Vermögen, mit überwiegender Gesinnung das moralische Gesetz zu befolgen,“ bestimmen, die in der „U n a b h ä n g i g k e i t v o n N e i g u n g e n , wenigstens als bestimmenden (wenn gleich nicht als a f f i c i r e n d e n ) Bewegursachen unseres Begehrens,“ besteht. (KpV, AAV, S. 117, kursive Hervorhebung P.-A. H.). Erneut korrespondiert dies mit der Forderung der Religionsschrift nach einer „sittliche[n] Ordnung der Triebfedern“ (Religion, AA VI, S. 36 und dazu Kap. 3, Fn. 97 und 169).Vgl. i.Ü. zum Verhältnis von Pflicht und Neigung als handlungs(mit)bestimmende Motive Paton 1962, S. 42– 45; Baron 1995, S. 146 – 187; Geismann 2004; Höffe 2006 sowie Horn, Mieth und Scarano 2007, S. 181 f. Dies stellt keinen Widerspruch zu Kants Aussage dar, dass nur „M o r a l i t ä t […] de[n] moralische[n] Werth“ einer Handlung ausmacht. (KpV, AA V, S. 81). Moralische Gesetze, insofern sie Pflichten konstituieren, fordern Handlungen ein. Die geschuldete Handlung (gleichgültig ob äußere Handlungen (Rechtslehre) oder Zwecksetzungen als innere Handlungen (Tugendlehre)) ist jedoch nicht mit der moralischen Bewertung derselben gleichzusetzen. Moralität oder Tugend ist nicht Pflicht (vgl. TL, AA VI, S. 405 und dazu oben S. 113 m. w. N.). Sonst wäre sittlich gutes Verhalten auch gar keine verdienstvolle Leistung.Vgl. aufschlussreich hierzu Guyer 2016, S. 52– 55.
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Dies lässt sich besonders gut anhand des allgemeinen Rechtsgesetzes veranschaulichen, welches gebietet, äußerlich so zu handeln, „daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne“. So wie es Kant präsentiert, ist das allgemeine Rechtsgesetz, „indem e[s] eine Verbindlichkeit in Ansehung gewisser Handlungen aussagt“,¹⁸⁰ ein kategorischer Imperativ:¹⁸¹ Es fordert, die Handlungen so einzurichten, dass der eigene Willkürgebrauch mit der Freiheit von jedermann allgemeingesetzlich vereinbar ist, und zwar unabhängig von der jeweiligen Handlungsmotivation. Es fordert aber nicht „daß ich ganz um dieser Verbindlichkeit willen meine Freiheit auf jene Bedingungen s e l b s t einschränken s o l l e “ .¹⁸² Um dem kategorischen Imperativ zu genügen, muss nicht aus Pflicht gehandelt werden. Nichtsdestoweniger ist aber auch nach dem allgemeinen Rechtsgesetz ein Handeln aus Pflicht erforderlich, wenn alle denkbaren sinnlichen Triebfedern zur Pflichtbefolgung¹⁸³ ausfallen, z. B. wenn die angedrohte Strafe nicht hinreichend ist, um vor einer möglichen Straftat abzuschrecken. In diesem Fall ist es weiterhin Pflicht, die Straftat zu unterlassen, sodass als einziger Be-
Es ist daher verfehlt zu sagen, dass „erst mit der Moralität die eigentliche Dimension der Moral erreicht [wird]“ und dass sie die „Steigerung [sc. der Legalität] [ist]; und die bloße Legalität […] für Kant nur ein Gegenbegriff [ist], um durch Kontrast das Wesen der eigentlichen Moral, die Moralität, zu erläutern“ (Rapic 2007, S. 260 – 262; vgl. ähnlich Kersting 1984, S. 72).Vielmehr besteht die eigentliche Dimension der Moral in der Konstitution und Befolgung von Pflichten. Die sittliche Bewertung dieser Befolgung ist im Verhältnis dazu ein aliud, das von außen herangetragen wird. Es wäre komisch (oder besser: undifferenziert) zu sagen, einen Vertrag aus Pflicht zu erfüllen, sei besser, als ihn aus Furcht vor Strafe zu erfüllen. Betrachten wir hierbei nur die Rechtspflicht, ist allein die faktische Vertragserfüllung gefordert. Das Handlungsmotiv ist sittlich gleichgültig (also weder moralisch besser noch schlechter). Bedenken wir gleichzeitig die Tugendpflicht eigener moralischer Vollkommenheit, ist ein Handeln aus Pflicht geboten. Andere Handlungsmotive wären aber nicht schlechter, sondern zur Pflichterfüllung schlechthin unzureichend. Moralität und Legalität sagen also etwas über das Motiv des Handelnden aus, ohne schon dadurch absoluter Gradmesser für die »sittliche Güte« bzw. »moralische Angemessenheit« einer Handlung zu sein, da sich diese erst immer relativ zur in Frage stehenden Pflicht bestimmen lässt. Kurz: Einen Vertrag aus Pflicht zu erfüllen (Moralität), ist nicht schlechthin moralisch besser, sondern nur innerhalb einer moralischen Gesamtkalkulation, die neben der Rechtspflicht etwa auch die Tugendpflicht eigener moralischer Vollkommenheit in Rechnung stellt. RL, AA VI, S. 222. Vgl. zur Frage des kategorischen Gebotscharakters des allgemeinen Rechtsgesetzes ausführlich oben Kap. 2, Fn. 123. Zum Ganzen: RL, AA VI, S. 231, kursive Hervorhebungen P.-A. H. Vgl. zum allgemeinen Rechtsgesetz auch oben S. 60 f. Dies sind sinnliche Affektionen, welche entweder zur geschuldeten Handlung antreiben (z. B. Hoffnung auf Belohnung) oder von deren Unterlassung abschrecken (z. B. Furcht vor Strafe). Vgl. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 521 f.
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stimmungsgrund meiner Handlung die Idee der Pflicht selbst übrig bleibt, d. h. ein Handeln aus Pflicht erforderlich ist.¹⁸⁴ Der kategorische Imperativ gebietet also Pflichtbefolgung unangesehen des Handlungsmotivs, damit jedoch nicht notwendig auch ein Handeln aus Pflicht.
3.3.4.2 Pflichtbegriff und moralisch mögliche Zwangsarten: Ein neuer Blick auf Rechts- und Tugendpflichten Wie lässt sich diese Differenzierung präzisieren? Kant führt in einem anderen Zusammenhang aus: „Wer den Zweck will, will (so fern die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat) auch das dazu unentbehrlich nothwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist. Dieser Satz ist, was das Wollen betrifft, analytisch […].“¹⁸⁵ In Analogie zu dieser Aussage Kants – die sich freilich auf Imperative der Geschicklichkeit bezieht – lässt sich veranschaulichen, wie das Verhältnis von Pflicht und Handlungsmotivation zu denken ist. Zwar geht es beim kategorischen Imperativ nicht um kontingente Zwecke, die ich bloß subjektiv will.¹⁸⁶ Vielmehr drückt der kategorische Imperativ eine objektive Nötigung aus, d. h. er sagt, dass eine moralisch notwendige Handlung unbedingt geschehen soll. Nichtsdestotrotz impliziert analog dieses Sollen auch hier, dass die notwendigen Mittel zu der gebotenen Handlung geschehen sollen. D. h., durch die Pflicht geboten ist auch all das,was zur Pflichterfüllung trotz entgegenstehender Neigungen erforderlich ist. Insofern drückt bereits der Pflichtbegriff einen Zwang aus: Der P f l i c h t b e g r i f f ist an sich schon der Begriff von einer N ö t h i g u n g (Zwang) der freien Willkür durchs Gesetz; dieser Zwang mag nun ein ä u ß e r e r oder ein S e l b s t z w a n g sein. Der moralische I m p e r a t i v verkündigt durch seinen kategorischen Ausspruch (das unbedingte Sollen) diesen Zwang, der […] auf M e n s c h e n als vernünftige N a t u r w e s e n geht, die […] unheilig genug sind, daß sie die Lust wohl anwandeln kann das moralische Gesetz, ob sie gleich dessen Ansehen selbst anerkennen, doch zu übertreten und, selbst wenn sie es befolgen, es dennoch u n g e r n (mit Widerstand ihrer Neigung) zu thun, als worin der Z w a n g eigentlich besteht.¹⁸⁷
Zutreffend stellt Oberer 2010, S. 382 fest: Auch Rechtsgesetze „müssen aus Achtung vor dem Sittengesetz – ‚aus Pflicht‘ – erfüllt (befolgt) werden können.“ Gleichwohl enthalte dieses „Könnenmüssen“, dieser „Satz von der notwendigen Erfüllbarkeit apriorischer Rechtsgesetze aus Pflicht […] nicht die Behauptung, Rechtsgesetze schrieben eine moralische Triebfeder vor.“ Vgl. ähnlich Beyrau 2012, S. 65 – 71; Mosayebi 2013, S. 66 f. und S. 94 f. sowie Baiasu 2016, S. 26 f. GMS, AA IV, S. 417. Dies ist Gegenstand hypothetischer Imperative der Geschicklichkeit, vgl. dazu Ludwig 2006. TL, AA VI, S. 379.
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Der kategorische Imperativ stellt eine Handlung nicht nur als moralisch notwendig vor, sondern enthält gleichzeitig den Zwang, die moralisch notwendige Handlung vorzunehmen.¹⁸⁸ Hiermit ist aber noch nicht gesagt, um welchen Zwang es geht,¹⁸⁹ weil der moralisch mögliche Zwang „ein ä u ß e r e r oder ein S e l b s t z w a n g sein“ kann. Da Kant Zwang zunächst nur so bestimmt, dass es um eine Nötigung entgegen widerstrebender Neigungen geht, kommen Selbstzwang und äußerer Zwang auch prima facie in beiden denkbaren Formen in Betracht, d. h. sowohl als moralischer wie auch als pathologischer Zwang. Beim moralischen Zwang erfolgt die Nötigung durch die Idee der Pflicht. Es geht also darum, dass man durch reine praktische Vernunft zur Pflichterfüllung entgegen zuwiderlaufender Neigungen bestimmt wird. Beim pathologischen (oder auch pragmatischen) Zwang erfolgt die Nötigung durch konkurrierende Neigungen. Hier werden die der Pflichterfüllung entgegenstehenden Neigungen auf Grund anderer, stärkerer Neigungen (z. B. Furcht vor Strafe) überwunden.¹⁹⁰ Hingegen geht es bei der Unterscheidung Selbstzwang versus äußerer Zwang um die Art und Weise, wie die Nötigung nach dem Gesetz vorgestellt wird: Selbstzwang liegt vor, wenn ich mir die Verbindlichkeit nach dem Gesetz selbst vorstelle (ich nötige mich), äußerer Zwang hingegen, wenn dies durch andere geschieht (ich werde von anderen genötigt).¹⁹¹ Folglich sind Selbstzwang und moralischer Zwang bei Kant keineswegs Dies ist nichts anderes als der bereits erwähnte Unterschied zwischen der Notwendigkeit der Handlung und der Nötigung zur Handlung, die beide durch den kategorischen Imperativ vorgestellt werden, vgl. oben S. 114 mit Fn. 172. Dies verkennt jedoch Schadow 2013b, S. 96 f. Die begriffliche Unterscheidung moralischer vs. pragmatischer/pathologischer Zwang knüpft an Vorlesungsnachschriften an, in denen Kant den Zwangsbegriff in diesem Sinne präzisiert. Vgl. nur MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 519 – 522 und S. 623; Praktische Philosophie-Powalski, AA XXVII, S. 132 und Moralphilosophie-Mrongovius II, AA XXIX, S. 617, vollständig zitiert unten Kap. 3, Fn. 191 sowie hierzu Hirsch 2012a, S. 102 und Mosayebi 2013, S. 41 f. Kant hält an dieser Unterscheidung auch in der Metaphysik der Sitten fest, obgleich dies nur implizit zum Ausdruck kommt.Vgl. hierzu die Nachweise in Kap. 3, Fn. 192. Auch ist zu betonen, dass es hier nicht um physischen Zwang i. S. v. vis absoluta geht.Vgl. dazu bereits oben S. 62 und sogleich unten S. 133 sowie mit Bezug auf das Öffentliche Recht S. 323 – 325. Gemeint ist vorliegend lediglich die Nötigung zur pflichtgemäßen Handlung (i. S. v. vis compulsiva), die prima facie sowohl durch die Idee der Pflicht (moralischer Zwang) als auch durch konkurriende Neigungen (pathologischer Zwang, häufig angesichts einer Sanktionsandrohung) geschehen kann. Vgl. Moralphilosophie-Mrongovius II, AA XXIX, S. 617: „Der moralische Zwang kann äußerlich und innerlich sein. Der Zwang ist innerlich wenn die Pflicht nicht durch den Willen eines andern, sondern durch den eigenen Willen die Handlung nothwendig macht wieder alle Neigungen des Menschen. […]. Der äußere und innere Zwang kann pragmatisch oder auch moralisch sein. Der Landesherr nöthigt mich pragmatisch seine Gesetze zu befolgen.“ Vgl. ebenso Praktische Philosophie-Powalski, AA XXVII, S. 132 sowie MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 523 und S. 527 (zitiert unten Kap. 3, Fn. 193) und im Folgenden S. 131.
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deckungsgleich.¹⁹² Äußeren Zwang scheint Kant jedoch begrifflich engzuführen und stellt hiermit – zumindest in der Metaphysik der Sitten – auf pathologischen äußeren Zwang ab.¹⁹³ Legt man dies zugrunde, ist es falsch zu sagen: Der kategorische Imperativ fordert stets ein Handeln aus Pflicht. Diese Aussage ist nur richtig, wenn moralischer Selbstzwang der einzig moralisch mögliche Zwang ist, um die gebotene Handlung zu tun. Dann ist das einzige moralisch mögliche Mittel zur Pflichtbefolgung ein Handeln aus Pflicht. Ist dies nicht der Fall, und sind neben dem moralischen Selbstzwang weitere Zwangsarten möglich, so fordert der kategorische Imperativ eben nur, einer der moralisch möglichen Zwangsarten nachzukommen. In diesem Fall kann man nicht davon sprechen, der Imperativ fordere ein Handeln aus Pflicht.¹⁹⁴ Vielmehr fordert er nur Pflichtbefolgung, d. h. die Pflicht
Vgl. Moralphilosophie-Mrongovius II, AA XXIX, S. 617, vollständig zitiert oben Kap. 3, Fn. 191 sowie Praktische Philosophie-Powalski, AA XXVII, S. 132 und Refl. 6998, AA XIX, S. 223 f. Auch in der Tugendlehre unterscheidet Kant deutlich zwischen dem moralischen Selbstzwang (durch die Vorstellung des moralischen Gesetzes allein) und dem pathologischen bzw. pragmatischen Selbstzwang (durch konkurrierende Naturneigungen). Vgl. TL, AA VI, S. 394: „[S]o ist die Tugend nicht blos ein Selbstzwang (denn da könnte eine Naturneigung die andere zu bezwingen trachten), sondern auch ein Zwang nach einem Princip der innern Freiheit, mithin durch die bloße Vorstellung seiner Pflicht nach dem formalen Gesetz derselben.“ Vgl. ebenso TL, AA VI, S. 380 und 383. Im Übrigen ist auf König, Peter 1994, S. 192– 198 und S. 228 – 230 zu verweisen, der unter dem Begriff der Autarkie der Vernunft ausführlich darlegt, wie Kant Selbstbestimmung durch empirisch bedingte praktische Vernunft von einer solchen durch reine praktische Vernunft unterscheidet. Gleichwohl kennt Kant grundsätzlich den moralischen äußeren Zwang.Vgl. hierzu nur MdSVigilantius, AA XXVII, S. 521, vollständig zitiert unten S. 132: „Es kann Jemand von anderen zur Pflicht gezwungen werden, und er handelt auch alsdann frei“, wenn sich der Handelnde „durch seine Vernunft diejenige Vorstellung von seiner Pflicht [macht], die in ihm schon vorher lag und durch den andern nur rege gemacht ist“. Hierbei handelt es sich um einen Unterfall des äußeren Zwangs, denn Kant bestimmt allgemein: „A e u ß e r e r Zwang ist nämlich, wenn die Nöthigung zur Pflicht von einem äußeren Object herrührt […].“ (ebd., S. 523). Vgl. ähnlich schon Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg. von Werner Stark, S. 48 (zitiert unten Kap. 3, Fn. 233). Vermutlich liegt die begriffliche Engführung im Ergebnis daran, dass äußerer moralischer Zwang letztlich auf einen moralischen Selbstzwang hinausläuft, insofern ich die Pflicht für mich selbst als verbindlich anerkenne und mir somit die Verbindlichkeit wieder selbst vorstelle. Vgl. dazu auch Moralphilosophie-Mrongovius II, AA XXIX, S. 617 sowie die Ausführungen unten S. 131 f. Diese Einsicht ist zentral für das richtige Verständnis der Kantischen Rechtsphilosophie. Denn erst wenn man – wie z. B. Kersting 1990, S. 65 f. – Handeln aus Pflicht als „normativ ausgezeichnete[s] Befolgungsmotiv“ annimmt, entsteht das Bedürfnis, Recht, und Ethik zwei verschiedenen Pflichtprinzipien zuzuordnen. Nur weil Kersting davon ausgeht, dass „die innere Triebfeder der Pflicht und die äußere Triebfeder des Zwangs nicht alternative und gleichberechtigte Exekutionsprinzipien der Vernunftgesetzgebung sind“, entsteht für ihn die Notwendigkeit, dass sich „Zwang […] als Erfüllungsbedingung des Rechtsgesetzes legitimieren [muß]“. Die interpretatorische Schieflage, die ein richtiges Verständnis von Rechts- und Tugendlehre als
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entweder aus Pflicht oder aus pragmatischer Motivation zu erfüllen, gleichgültig ob die Pflicht dabei durch mich selbst oder durch andere vorgestellt wird. Um in der Terminologie des anfänglichen Zitats zu bleiben: Er fordert die notwendigen Mittel zur unbedingt gebotenen Handlung, ohne eines der moralisch möglichen Mittel festzulegen.¹⁹⁵ In diesem Sinne ist nun Kants Unterscheidung zwischen Rechtspflichten und Tugendpflichten sowie die damit zusammenhängende Differenzierung zwischen direkt-ethischen und indirekt-ethischen Pflichten zu interpretieren.¹⁹⁶ Laut Kant gilt für Tugendpflichten (d. h. die Pflichtzwecke eigener Vollkommenheit und fremder Glückseligkeit),¹⁹⁷ dass ich „zwar zu Handlungen, die als Mittel auf einen Zweck gerichtet sind, nie aber e i n e n Z w e c k z u h a b e n von anderen gezwungen werden [kann], sondern ich kann nur selbst mir etwas zum Zweck m a c h e n“ .¹⁹⁸ Hinzu kommt, dass hierfür eine pragmatische Zwecksetzung empirisch bedingter praktischer Vernunft (letztlich pathologischer Selbstzwang) nicht ausreichend ist.¹⁹⁹ Vielmehr erfolgt der „S e l b s t z w a n g (durch die Vorstellung des Gesetzes allein) […], wenn es auf die innere Willensbestimmung (die Triebfeder) angesehen ist, […] wobei aber alsdann der Pflichtbegriff ein ethischer ist“.²⁰⁰ Jede Tugendpflicht ist daher gleichzeitig eine direkt-ethische Pflicht, weil
Teile einer einheitlichen, kritischen Moralphilosophie verhindert, beginnt also mit einem verfehlten Verständnis von Pflicht und kategorischem Imperativ. Vgl. dazu auch die nachfolgenden Abschnitte sowie mit Bezug auf Kersting unten Kap. 3, Fn. 208. Vgl. auch VA TL, AA XXIII, S. 390: „Die allgemeine Sittenlehre aber geht überhaupt auf pflichtmäßige Handlungen[.] [D]ie Triebfeder[,] dadurch das Subject dazu bestimmt wird[,] mag in demselben seyn welche sie wolle.“ In diesem Sinne ist es selbstverständlich, dass der Pflichtbegriff – wie etwa in der oben besprochenen Passage aus KpV, AA V, S. 81 – als solcher schon Achtung für das Gesetz fordert. Denn Achtung für das Gesetz (letztlich Triebfederbestimmung durch reine praktische Vernunft) ist immer eine der moralisch möglichen Zwangsarten. Dies berechtigt jedoch nicht zur Annahme, dass ausschließlich ein Handeln aus Pflicht gefordert und damit stets kategorisch geboten sei. Kommen andere moralisch mögliche Zwangsarten in Betracht, so ist der Pflichtbegriff indifferent gegenüber der konkreten Art und Weise der Triebfederbestimmung. Vgl. dazu bereits oben S. 49 – 54. Vgl. dazu oben Kap. 3, Fn. 72. TL, AA VI, S. 381. Laut Kant ist zur „Erweiterung des Pflichtbegriffs […] das Vermögen des Selbstzwanges und zwar nicht vermittelst anderer Neigungen, sondern durch reine praktische Vernunft (welche alle diese Vermittelung verschmäht),“ erforderlich (TL, AA VI, S. 396, kursive Hervorhebung P.-A. H.). Vgl. ähnlich TL, AA VI, S. 394, vollständig zitiert oben Kap. 3, Fn. 192. TL, AA VI, S. 380.
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die Pflichterfüllung (Setzung des vernunftbestimmten Zwecks) notwendig moralischen Selbstzwang beinhaltet.²⁰¹ Anders verhält es sich bei Rechtspflichten: Hier ist äußerer Zwang durch pathologische Bestimmungsgründe der Willkür moralisch möglich, da es sich um vollkommene Pflichten handelt, bei denen eine äußere Handlung geschuldet und
Obgleich Triebfederbestimmung durch reine praktische Vernunft und rein vernunftbestimmte Zwecksetzung nicht gleichzusetzen sind, koinzidieren beide im Begriff der Tugendpflicht. Die Unterscheidung von direkt-ethischen und indirekt-ethischen Pflichten ist daher zwar nicht begrifflich, wohl aber, was den Gegenstandsbereich anbelangt, mit der Unterscheidung zwischen Tugendpflichten und Rechtspflichten deckungsgleich.Vgl. dazu auch oben Kap. 2, Fn. 83 und 221. Dass die Setzung der Pflichtzwecke mit moralischem Selbstzwang (i. E. Handeln aus Pflicht) einhergeht, ist letztlich darauf zurückzuführen, dass das oberste Prinzip der Tugendlehre (vgl. TL, AA VI, S. 395: „[H]andle nach einer Maxime der Z w e c k e , die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann.“) innerhalb der Maxime den Zweck selbst zum Gegenstand der gesetzlichen Bestimmung macht.Vgl. dazu oben Kap. 3, Fn. 97 und S. 93 – 101 m. w. N. Geschuldet ist also eine bestimmte Zwecksetzung. Jedoch ist eine Maxime der Art Ich mache mir die Beförderung fremder Glückseligkeit zum Zweck, weil ich mir davon Vorteile erhoffe, Angst vor gesellschaftlicher Ächtung habe, weil es mir Freude bereitet etc. dem Pflichtzweck fremder Glückseligkeit noch nicht einmal gemäß (Legalität), weil nicht die Glückseligkeit des anderen, sondern die eigene Glückseligkeit letzter Zweck der Handlung bleibt. Da Kant ferner annimmt, dass alle Neigungen auf eigene Glückseligkeit ausgehen (vgl. nur GMS, AA IV, S. 399 und TL, AA VI, S. 481), kann der Pflichtzweck fremder Glückseligkeit nicht anders gesetzt werden, als durch Abbruch all meiner Neigungen, mithin aus Pflicht. Ebensosehr ist es ein Selbstwiderspruch, sich aus selbstsüchtigen, sinnlich bedingten Motiven den Zweck eigener moralischer Vollkommenheit zu setzen, der gerade darin besteht, sinnlich bedingte Triebfedern dem moralischen Gesetz als Triebfeder unterzuordnen. Mithin fallen bei Tugendpflichten Legalität und Moralität der Pflichterfüllung notwendig zusammen. Deutlich zeigt dies Kants Unterscheidung von Rechts- und Tugendpflichten in VA TL, AA XXIII, S. 379, fette Hervorhebung P.-A. H.: „Bey der erstern Art von Pflicht [sc. Rechtspflicht] sieht man nicht darauf ob das princip der Gesetzgebung selbst die Triebfeder im Subject abgebe oder nicht wenn nur die Handlung ihm gemäs geschieht. Bey der zweyten [sc. Tugendpflicht] aber wird hierauf als Bedingung der Pflichtbefolgung gesehen. – In jenem ist es die Legalität in diesem die Moralität der Handlung welche in dem Pflichtgesetze gefordert wird. (Pflichtbeobachtung als factum oder diese aus der Achtung vor der Pflicht als principium.)“ Bei Tugendpflichten ist Handeln aus Pflicht „Bedingung der Pflichtbefolgung“, weil die Zwecksetzung nicht anders als durch „Achtung vor der Pflicht“ als Prinzip erfolgen kann. Dementsprechend ist Kants gelegentliche Redeweise von ethischer Legalität, also bloßer Pflichtgemäßheit ethischer Pflichten (z. B. Refl. 6764, AA XIX, S. 154 oder Moral Mrongovius II, AA XXIX, S. 630), zu präzisieren. Sie hat bei Tugendpflichten nur Sinn, wenn sie auf die mittelbaren äußeren Handlungen bezogen wird, die äußerlich den Handlungen infolge einer vernunftbestimmten Zwecksetzung entsprechen, dabei aber in Umsetzung einer pragmatischen Zwecksetzung erfolgen. Jedoch kann die pragmatische Zwecksetzung selbst (als innere Handlung) – entgegen anderslautender Interpretationen, vgl. z. B. Kersting 1984, S. 73 f.; Langthaler 1991, S. 31 f. und Höffe 1979b, S. 23, dies aber teilweise korrigierend Rapic 2007, S. 262– 266 – niemals ethisch legal sein. Vgl. ähnlich auch Guyer 2016, S. 55, Fn. 67.
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a priori bestimmbar ist. Alle Rechtspflichten gehen daher stets auf äußerlich erzwingbare Handlungen.²⁰² Gleichwohl kommt neben dem pathologischen Fremdzwang immer auch noch ein moralischer Selbstzwang und damit als Triebfeder die Idee der Pflicht selbst in Betracht. Insofern sind auch Rechtspflichten ethische Pflichten, allerdings im Vergleich zu den Tugendpflichten lediglich indirekt-ethische Pflichten. Mithin gibt die Unterscheidung von direkt- bzw. indirekt-ethischen Pflichten wieder, welche Zwangsarten im Falle von Tugendpflichten (nur moralischer Selbstzwang) bzw. Rechtspflichten (moralischer Selbstzwang oder pathologischer Fremdzwang) potentiell zum Tragen kommen können. Hiernach sind alle Pflichten ethische Pflichten, insoweit moralischer Zwang stets möglich ist. In der Tugendlehre benennt Kant diesen Zusammenhang mit dem Begriff der Tugendverpflichtung: [S]o ist zu merken: daß nicht jede T u g e n d v e r p f l i c h t u n g (obligatio ethica) eine Tugendpflicht (officium ethicum s. virtutis) sei […]. – Daher giebt es nur E i n e Tugendverpflichtung, aber viel Tugendpflichten: weil es zwar viel Objecte giebt, die für uns Zwecke sind, welche zu haben zugleich Pflicht ist, aber nur eine tugendhafte Gesinnung als subjectiver Bestimmungsgrund seine Pflicht zu erfüllen, welche sich auch über Rechtspflichten erstreckt, die aber darum nicht den Namen der Tugendpflichten führen können.²⁰³
Sowohl Rechts- als auch Tugendpflichten werden unter dem Aspekt der Tugendverpflichtung betrachtet und sind insofern indirekt-ethische bzw. direktethische Pflichten: „[F]ormale Tugendverbindlichkeit (die nur eine einzige ist) geht auf alles was Pflicht heißt[,] sie mag sich auf eigene innere Gesetzgebung oder auf äußerlich-mögliche beziehen (obligatio ethica respectu officiorum iusti).“²⁰⁴ Mithin ist Tugendverpflichtung (wenn man so will: Handeln aus Pflicht) nicht selbst als Pflicht geboten, sondern bezieht sich als möglicher bzw. notwendiger Befolgungsmodus von Pflichten gleichermaßen auf Rechts- bzw. Tugendpflichten.²⁰⁵ Vor allem aber – und dies ist mit Blick auf den kategorischen Imperativ entscheidend – unterscheiden sich die Befolgungsmodi von Rechts- und Tugendpflichten lediglich deswegen, weil diese Pflichten einen unterschiedlichen Gegenstand haben (einmal Handlung, einmal rein vernunftbestimmte Zwecksetzung). Handeln aus Pflicht ist daher allenfalls auf Grund der besonderen
Vgl. oben S. 53 f. TL, AA VI, S. 410. VA TL, AA XXIII, S. 396. Dreier 1979, S. 19 ist daher zu kritisieren, wenn er mit Blick auf den kategorischen Imperativ als Pflichtprinzip ausführt, dass „der Kategorische Imperativ die allgemein-ethische Tugendverpflichtung begründet, die auch die Rechtspflichten umfaßt und besagt: ‚handle pflichtmäßig, aus Pflicht‘.“
3.3 Recht und kategorischer Imperativ
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Pflichtstruktur von Tugendpflichten notwendig gefordert. Es ist jedoch nicht als solches notwendiger Bestandteil des kategorischen Imperativs.
3.3.4.3 Gesetzgebung als Begründung der Verbindlichkeit nach einem Gesetz: juridische, ethische, innere und äußere Gesetzgebung bei Kant Vor diesem Hintergrund erschließt sich auch Kants Unterscheidung zwischen juridischer und ethischer Gesetzgebung. Laut Kant unterscheiden sich Rechts- und Tugendlehre „nicht sowohl durch ihre verschiedene[n] Pflichten, als vielmehr durch die Verschiedenheit der Gesetzgebung, welche die eine oder die andere Triebfeder mit dem Gesetze verbindet“. Dabei ist eine juridische Gesetzgebung nur für Rechtspflichten als „äußere Pflichten“ möglich, weil „diese Gesetzgebung nicht verlangt, daß die Idee dieser Pflicht […] für sich selbst Bestimmungsgrund der Willkür des Handelnden sei“. Hingegen bezieht sich ethische Gesetzgebung „auf alles, was Pflicht ist, überhaupt“ und damit auf Rechts- und Tugendpflichten.²⁰⁶ Mithin bringt Kants Unterscheidung von juridischer und ethischer Gesetzgebung nur zum Ausdruck, dass für Rechtspflichten mehrere moralisch mögliche Zwangsarten bestehen, wohingegen für Tugendpflichten nur der moralische Selbstzwang in Betracht kommt. Eine Rechtspflicht ist also nicht etwa eine andere Pflicht als eine indirekt-ethische Pflicht. Als indirekt-ethische Pflicht bzw. als Pflicht ethischer Gesetzgebung wird die Rechtspflicht lediglich unter der Maßgabe betrachtet, dass sie grundsätzlich auch aus Pflicht erfüllbar ist: „Die Ethik lehrt hernach nur, daß, wenn die Triebfeder, welche die juridische Gesetzgebung mit jener Pflicht verbindet, nämlich der äußere Zwang, auch weggelassen wird, die Idee der Pflicht allein schon zur Triebfeder hinreichend sei“.²⁰⁷ Man darf also nicht den Fehler begehen, die Kantische Unterscheidung von ethischer versus juridischer Gesetzgebung im Sinne einer jeweils anderen
Zum Ganzen: RL, AA VI, S. 218 – 221 und vgl. dazu bereits oben S. 50 – 53. Kant spricht in RL, AAVI, S. 220 f. davon, dass der juridischen Gesetzgebung die „eigentliche[n] Rechtspflichten (zum Unterschiede von de[n] Tugendpflicht[en])“ entspringen. Hingegen zählt er die „Pflichten des Wohlwollens“ und die inneren Pflichten zu den besonderen Pflichten der Ethik. Hiermit bringt er jedoch nur zum Ausdruck, dass ausschließlich Rechtspflichten durch pathologischen Fremdzwang bzw. durch juridische Gesetzgebung gegeben werden können. Bei Tugendpflichten ist das nicht der Fall, sodass sie die eigentlichen Pflichten der Ethik sind, d. h. direkt-ethische Pflichten. Gleichwohl macht die ethische, „innere Gesetzgebung […] auch die übrigen [sc. Rechtspflichten] alle und insgesammt zu indirect-ethischen“ Pflichten. RL, AA VI, S. 220. Der kategorische Imperativ fordert immer nur die rechtlich gebotene Handlung: Insofern dies durch pathologischen Zwang möglich ist, fordert er die Pflichterfüllung als Pflicht juridischer Gesetzgebung; insofern dies durch moralischen Selbstzwang möglich ist, fordert er Pflichterfüllung als Pflicht ethischer Gesetzgebung bzw. als indirekt-ethische Pflicht.
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Pflichtenkonstitution (d. h. einer unterschiedlichen gesetzlichen Bestimmung dessen,was Pflichtinhalt ist)²⁰⁸ durch unterschiedliche kategorische Imperative zu interpretieren. Vielmehr werden mit dieser Unterscheidung – entsprechend der moralisch möglichen Zwangsarten – unterschiedliche Perspektiven auf bzw. Betrachtungsweisen von ein und derselben Pflicht aufgezeigt.²⁰⁹ Kant selbst hat im Hinblick auf die Unterscheidung von ethischer und rechtlicher Gesetzgebung betont, dass – gleichgültig ob man „die Freiheit im äußeren oder inneren Gebrauche der Willkür betrachtet“ – „doch ihre Gesetze, als reine praktische Vernunftgesetze für die freie Willkür überhaupt, zugleich innere Bestimmungsgründe derselben sein [müssen]: obgleich sie nicht immer in dieser Beziehung betrachtet
Dagegen spricht bereits Kants anfängliche Begriffsdefinition von Gesetzgebung, wonach das Gesetz bereits eine Handlung als Pflicht aufstellt, vgl. oben S. 50. Dieses Element ist jedoch bei juridischer und ethischer Gesetzgebung gleich, sodass eine unterschiedliche Pflichtenkonstitution nicht das entscheidende Differenzierungskriterium sein kann.Vgl. in diesem Sinne auch RL, AAVI, S. 220: „Die Ethik hat […] mit dem Rechte Pflichten, aber nur nicht die Art der Ve r p f l i c h t u n g gemein. Denn Handlungen blos darum, weil es Pflichten sind, ausüben und den Grundsatz der Pflicht selbst, woher sie auch komme, zur hinreichenden Triebfeder der Willkür zu machen, ist das Eigenthümliche der ethischen Gesetzgebung.“ Entsprechend betont Kant auch, dass bei ethischer und juridischer Gesetzgebung die Pflicht „[a]lso nicht als besondere Art von Pflicht (eine besondere Art Handlungen, zu denen man verbunden ist)“ betrachtet wird (RL, AA VI, S. 220). Angesichts dieser Passagen lässt sich eine wie immer geartete Moralitätsforderung nicht als Teil der Pflicht bzw. des kategorischen Gebots selbst begreifen, ohne in Widersprüche zu geraten. Denn versteht man – wie bspw. Gregor 1963, S. 29 f. oder Kersting 1984, S. 31 f. – Handeln aus Pflicht als Teil des Gebots bzw. der Pflicht selbst, lässt sich Kants Redeweise von der Identität der Pflicht im Falle juridischer und ethischer Gesetzgebung nicht aufrechterhalten. Dies hat im Hinblick auf das moralische Rechtsgesetz zutreffend schon Beck 1798, S. 32 bemerkt: „[S]o ist ein juridisches Gesetz darum ein moralisches, weil die äußere Handlung, die es gebietet, wenn auch von allem äußeren Zwange, welcher sie physisch-nothwendig macht, abgesehen wird, noch als moralisch-nothwendig zu denken ist, d. i.: der Mensch, kraft seiner moralischen Natur, in der bloßen Vorstellung der Gesetzmäßigkeit der Handlung sich auch der Bestimmbarkeit seines Begehrens durch diese bloße Vorstellung bewußt ist, (welches originelle Bewußtseyn seine sittliche Natur ausmacht,) und die Handlung auch alle Mahl unausbleiblich erfolgen würde, wenn der Mensch nicht von Neigungen afficirt würde.“ Diese Auffassung zeitgenössischer Kantinterpreten kommt nicht von ungefähr, denn Kants Gesetzgebungsbegriff ist ein – freilich von ihm fortentwickeltes – Traditionsgut der klassischen Schulphilosophie. So findet sich schon bei Wolff, Vernünftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, § 18 die Feststellung, dass eine unterschiedliche Gesetzgebung nicht verschiedene Verbindlichkeiten anzeigt, sondern nur unterschiedliche Gegebenheitsweisen ein und derselben Pflicht: „Also entstehet der Unterscheid der Gesetze hauptsächlich aus der Verbindlichkeit, nachdem sie daher, oder dort her kommet. Derowegen wenn wir mehr als eine Verbindlichkeit haben, unsere freye Handlungen nach einer gewissen Regel einzurichten, z. E. Wenn uns die Natur, Gott und Menschen dazu zugleich verbinden; so ist diese einige Regel zugleich ein natürliches, göttliches und menschliches Gesetz.“
3.3 Recht und kategorischer Imperativ
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werden dürfen“.²¹⁰ Die reinen praktischen Vernunftgesetze, von denen Kant hier spricht, sind die moralischen Gesetze der Tugend- und der Rechtslehre, und für beide gilt gleichermaßen, dass das Gesetz selbst innerer Bestimmungsgrund der Handlung sein kann. D. h., die Idee der Pflicht ist in jedem Vernunftgesetz immer schon als mögliche Triebfeder impliziert, obwohl das Gesetz nicht immer in dieser Eigenschaft betrachtet werden braucht. Eine Rechtspflicht kann nämlich sowohl als Zwangspflicht (juridische Gesetzgebung) als auch als ethische Pflicht (ethische Gesetzgebung) betrachtet werden.²¹¹ Ethische und juridische Gesetzgebung sind daher als verschiedene Betrachtungsweisen ein und derselben Pflicht aufzufassen und nicht als unterschiedliche pflichtkonstituierende Prinzipien, bei denen ein Handeln aus Pflicht einmal als Teil der Pflicht »mitgeboten« ist und ein anderes Mal nicht. Ähnlich verhält es sich mit der Unterscheidung von innerer versus äußerer Gesetzgebung, welche jedoch keineswegs deckungsgleich mit derjenigen zwischen ethischer versus juridischer Gesetzgebung ist:²¹² Die ethische Gesetzgebung […] ist diejenige, welche nicht äußerlich sein kann; die juridische ist, welche auch äußerlich sein kann. So ist es eine äußerliche Pflicht, sein vertragsmäßiges Versprechen zu halten; aber das Gebot, dieses blos darum zu thun,weil es Pflicht ist, ohne auf eine andere Triebfeder Rücksicht zu nehmen, ist bloß zur innern Gesetzgebung gehörig. Also nicht als besondere Art von Pflicht […] sondern weil die Gesetzgebung im angeführten Falle eine innere ist und keinen äußeren Gesetzgeber haben kann, wird die Verbindlichkeit zur Ethik gezählt.²¹³
Ethische Gesetzgebung ist notwendig innere Gesetzgebung, weil für die ethische Gesetzgebung kein äußerer Gesetzgeber in Betracht kommt. Dabei geht es nicht um die Gesetzesbegründung (d. h. wer Urheber des Gesetzes ist bzw. das Gesetz
RL, AA VI, S. 214. Vgl. deutlich so auch MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 690: „Indeß bestimmt man das Verhältniß unserer Willkür zur Pflicht überhaupt und abstrahirt ganz von der Ausübung eines möglichen äußern Zwangsrechts, so bleibt noch das formale unserer Pflichtverbindlichkeit übrig, das die Norm unserer Handlungen a priori gibt. Die Bestimmung unserer Gesinnung, den Pflichten gemäß zu handeln ohne Rücksicht, ob das vorhandene äußere Gesetz uns zwingt, sondern nur, weil wir aus eigener Ueberzeugung es als Pflicht erkannt, und diese zur Triebfeder unseres Verhaltens machen, ist es, was zur Ethic gehört […]. Insofern gehören also auch Uebertretungen zur Ethic, nur insoweit, als die Rechtspflichten selbst aus Tugendpflicht, der Form nach, ausgeübt werden müssen.“ So aber bspw. Gregor 1963, S. 24; Kersting 1984, S. 31– 35 und S. 70 – 74; Wildt 1997, S. 163 und im Ergebnis auch Byrd und Hruschka 2011, S. 52 f. sowie jüngst Mosayebi 2013, S. 110; Schadow 2013b, S. 102– 105. RL, AA VI, S. 220.
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erlässt), sondern Gesetzgeber bezeichnet bei moralischen Gesetzen ausschließlich denjenigen, der „Urheber (autor) der Verbindlichkeit nach dem Gesetze“ ist. „Der Gebietende (imperans) durch ein Gesetz ist der G e s e t z g e b e r (legislator).“²¹⁴ Hiermit grenzt sich Kant gegenüber der Schulphilosophie, insbesondere Wolff und Baumgarten, ab, welche unter dem Gesetzgeber stets auch den Urheber des Gesetzes versteht. So führt Baumgarten zum Gesetzgebungsbegriff aus: „Auctor obligationis, quam lex enuntiat, eam LEGEM FERRE dicitur, et qui ius habet leges ferendi, LEGISLATOR LATE DICTUS, eiusque legis, quam tulit, legislator est.“²¹⁵ Hierauf erwidert Kant in der Metaphysik der Sitten-Vigilantius: Der Baumgarten erklärt § 100 einen legislator als auctorem obligationis quam lex enunciat; welche definition Herr Kant dahin berichtigt, ein auctor legis kann nur von einem Gesetz verstanden werden, das an sich selbst keine verbindende Kraft, sondern solche nur ex voluntate vel arbitrio alterius habe. […] Würde man unter dem Legislator einen autorem legis verstehen, so würde dieses blos statutarische Gesetze betreffen. Gesetzen aber, die aus der Natur der Sache durch die Vernunft erkannt werden, wenn man denen einen auctorem beylegt, so kann er nur autor der Verbindlichkeit seyn, die im Gesetz enthalten ist.²¹⁶
Kants Kritik macht deutlich, dass der Gesetzgebungs- bzw. der Gesetzgeberbegriff differenziert zu betrachten ist. Bei statutarischen, d. h. positiven Gesetzen ist der Urheber der Verbindlichkeit auch Urheber des Gesetzes. Natürliche Gesetze hingegen haben als moralische Gesetze keinen Urheber im technischen Sinne, sondern liegen gewissermaßen in der »Natur der Dinge«, d. h. sind unmittelbar Ausdruck reiner praktischer Vernunft.²¹⁷ Spricht man also von einer Gesetzgebung
RL, AA VI, S. 227. Baumgarten, Initia philosophiae practicae primae, § 100: „Von dem Urheber der Verbindlichkeit, welche das Gesetz verkündet, sagen wir, dass er das Gesetz macht. Und derjenige, welcher [sc. allgemein, P.AH.] die Befugnis Gesetze zu machen hat (Gesetzgeber im weiteren Sinne), ist Gesetzgeber seiner [sc. besonderen, P.-A. H.] Gesetze, die er gemacht hat.“ (Übersetzung, P.-A. H.) Auch Wolff, Vernünftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, §§ 16 – 18 und § 36 sowie Vernünftige Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben, § 405, macht keine begriffliche Unterscheidung zwischen der Begründung einer Verbindlichkeit und der Konstitution eines Gesetzes, da nach ihm der Begründer des Gesetzes mit demjenigen identisch ist, der die geforderte Handlung mit Bewegungsgründen verknüpft. Vgl. im Ergebnis ähnlich auch Achenwall/Pütter, Elementa iuris naturae, §§ 80 – 108. Dabei betrachten Baumgarten (vgl. ebd., § 100) und Wolff (vgl. Vernünftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, §§ 29 f.) Gott auch als Urheber der natürlichen Gesetze, weil er Urheber der gesamten Natur und aller darin vorkommenden Begebenheiten sei. Vgl. hierzu Schröer 1988, S. 142– 144. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 544. Vgl. ähnlich Refl. 7272, AA XIX, S. 300. Vgl. hierzu Schmucker 1961, S. 288 – 290 und ausführlich Kain 2004, S. 271– 285 m. w. N. Lediglich in einer Passage aus der Grundlegung drückt sich Kant in der Bestimmung des Autonomietheorems abweichend so aus, dass der Wille „als selbstgesetzgebend und eben um
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bzw. von einem Gesetzgeber im Hinblick auf moralische Gesetze, so meint Kant damit stets nur die Begründung der Verbindlichkeit nach dem Gesetz bzw. den Urheber der Verbindlichkeit nach dem Gesetz. Was es aber genau bedeutet, durch ein Gesetz zu gebieten bzw. Urheber der Verbindlichkeit zu sein, wird in der Metaphysik der Sitten nicht auf den ersten Blick deutlich. Trägt man – heuristisch – in Kants Gesamtwerk die Aussagen zum legistlator bzw. Gesetzgeber im rechtlichen Kontext²¹⁸ zusammen, so changieren Kants Bestimmungen leicht. Gesetzgeber ist hiernach, wer den Willen zur Geset-
deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen angesehen werden muß“ (GMS, AA IV, S. 431, kursive Hervorhebung P.-A. H.). Diese (i. Ü. singuläre) Passage darf jedoch nicht zu einer konstruktivistischen Lesart des Autonomietheorems verleiten, wonach wir moralische Werte – nach Maßgabe des kategorischen Imperativs – allererst schaffen bzw. konstruieren würden. Vgl. für eine solche Interpretation Rawls 1980; Rawls 1993, S. 99 f.; Korsgaard 1989, S. 331; Korsgaard 1996b, S. 112 sowie Reath 1994; Reath 2006, S. 92– 195.Vgl. hierzu jedoch die überzeugende Kritik von Kain 2004 und ihm beipflichtend Timmermann 2007, S. 107; Kalscheuer 2014, S. 56). Eine solche Moralbegründung ist für Kant unmöglich, weil moralische Gesetze hierdurch den Status positiver Gesetze erhielten. Vgl. nur die oben zitierte Passage aus MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 544 sowie Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg. von Werner Stark, S. 37 und S. 79. Dementsprechend schließt Kant auch eine theologisch-voluntaristische Gesetzesbegründung in Moralphilosophie-Mrongovius II, AA XXIX, S. 633 f. aus: Moralische Gesetze „liegen in der Natur der Dinge […]. Gott ist nicht Autor der Moral, denn sonst käme sie durch seinen Willen und wir würden sie [sc. nicht, P.-A. H.,vgl. auch Kain 2004, S. 284, Fn. 74] auch aus der Natur erkennen. Es liegt in dem Wesen der Dinge. So ist Gott nicht Autor durch seinen Willen von dem Verhältniß der mathematischen Figuren.“ Wollen wir gleichwohl Kants Redeweise aus der Grundlegung einen Sinn abgewinnen, so darf sich der Wille bzw. die reine praktische Vernunft deswegen als Urheber des Gesetzes betrachten, weil das moralische Gesetz „(völlig a priori) schon mit dem Begriffe des Willens eines vernünftigen Wesens überhaupt verbunden“ ist bzw. weil es „unserem Willen als Intelligenz, mithin aus unserem eigentlichen Selbst entsprungen ist“ (GMS, AA IV, S. 426/461). Wie Kant in RL, AA VI, S. 221 ausführt, haben in „eine[m] reinen Willen […] die sittlichen Begriffe und Gesetze ihren Ursprung“. Der Wille als reine praktische Vernunft ist in einem emphatischen Sinne ein moralischer Wert und konstruiert nicht erst moralische Werte. Wir sind also niemals Urheber der moralischen Gesetze in einem strikten, technischen Sinne. Insofern ist ein natürliches moralisches Gesetz stets ein solches, „was uns a priori und unbedingt durch unsere eigene Vernunft verbindet“ (RL, AAVI, S. 227).Vgl. ähnlich Kain 2004, S. 285, der in diesem Zusammenhang von einem „looser sense of authorship“ spricht. Es findet sich eine Vielzahl von Bestimmungen zu Gott als oberstem Gesetzgeber, die sich in Teilen – was die Bestimmung des Gesetzgebers anbelangt – auch in den rechtlichen Kontext einfügen.Vgl. exemplarisch Moralphilosophie-Mrongovius II, AA XXIX, S. 633: „Legem ferre dicitur, qui dat obligationem; quam lex pronunciat et qui potestatem habet legem ferre est legislator. Der ist nicht Gesetzgeber, der Autor des Gesetzes ist; sondern der ein Autor der Obligation des Gesetzes ist. Beyde können verschieden sein. Als moralischer Gesetzgeber ist Gott zu betrachten; aber er ist nicht Urheber der Gesetze, denn diese liegen in der Natur der Dinge und es kommt nur eine neue Obligation hinzu die von Gott herkömmt.“ Vgl. ferner MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 544 f.
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zesbefolgung bestimmt bzw. nötigt²¹⁹ respektive wer die Pflicht nach dem Gesetz verkündet bzw. deklariert.²²⁰ Vor diesem Hintergrund kann man in der der Metaphysik der Sitten den Urheber der Verbindlichkeit, der durch ein Gesetz gebietet, als denjenigen ausweisen, welcher die Pflicht gegenüber dem Verpflichteten vorstellt und ihn zur Erfüllung der geschuldeten Pflicht bestimmt.²²¹ Dies lässt sich an Kants Bestimmung,²²² wonach jede Gesetzgebung notwendig zwei Elemente (Gesetz und Triebfeder) hat, auch wie folgt ausdrücken: Der Urheber des Gesetzes ist derjenige, welcher das Gesetz begründet bzw. erlässt. Hingegen ist derjenige der Gesetzgeber, welcher durch Aufstellung einer Triebfeder zur Befolgung des Gesetzes nötigt. Stelle ich mir also die Pflicht selber vor, bin ich Gesetzgeber und Verpflichteter in einer Person und es liegt innere Gesetzgebung vor.²²³ Nötigt mich ein anderer und deklariert mir gegenüber die Pflicht, liegt äußere Gesetzgebung vor.²²⁴ Man sieht hieran deutlich, dass Kant mit der Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Gesetzgebung letztlich wieder auf die oben erläuterte Differenzierung zwischen Selbstzwang und Fremdzwang rekurriert.²²⁵ Insofern „[d]er P f l i c h t b e g r i f f […] an sich schon der Begriff von einer N ö t h i g u n g (Zwang)
Vgl. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 546: „Gesetzgeber soll nach Herrn Kant nur denjenigen Menschen anzeigen, der necessitator ist, um den Willen zur Befolgung eines Gesetzes zu bestimmen, was der andere zwar erkannt, aber ohne diese Nöthigung nicht befolgt haben würde; also der zum Zwange bringt.“ Vgl. ebenso Refl. 7272, AA XIX, S. 300 und schwächer Pädagogik, AA IX, S. 494. Vgl. Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg. von Werner Stark, S. 79: „Der Gesetzgeber ist nicht zugleich immer ein Urheber des Gesetzes, sondern nur denn, wenn die Gesetze zufällig sind.Wenn aber die Gesetze nothwendig practisch sind, und er sie nur deklariret, daß sie seinem Willen gemäß sind, der ist ein Gesetzgeber.“ Vgl. ähnlich VA RL, AA XXIII, S. 347, wonach Gesetze „durch einen machthabenden Gesetzgeber allen denen eine Pflicht obliegt verkündigt werden“. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Kain 2004, S. 280: „[T]he essence of legislation is the giving or ‚declaration‘ of a principle or law with which someone shall or is obliged to comply, a declaration that the principle expresses the legislator’s will, a declaration typically backed up with sanctions and/or rewards.“ Vgl. auch Wood 2008, S. 113. Vgl. oben S. 50. Entgegen Kaulbach 1982c, S. 141 ist festzuhalten, dass mit dem inneren Gesetzgeber nicht „die praktische Vernunft selbst“ gemeint ist. Alle moralischen Gesetze sind eo ipso autonome Gesetze der reinen praktischen Vernunft, die Frage innerer und äußerer Gesetzgebung betrifft lediglich das Nötigungs- bzw. Verpflichtungsverhältnis, das dabei vorgestellt wird. Anderenfalls könnte Kant nicht in VA TL, AA XXIII, S. 388 differenzierend ausführen, wenn „das Gesetz nicht blos als aus Deiner Vernunft sondern auch als aus Deinem Willen entsprungen betrachtet wird so ist die Gesetzgebung immer innerlich“. Vgl. im Ergebnis ähnlich VA TL, AA XXIII, S. 376. Vgl. in diesem Sinne schon oben S. 51 f. mit Fn. 73. Vgl. oben S. 118 f. Wichtig ist, dass diese Differenzierung noch nichts über das subjektive Motiv der Pflichtbefolgung (juridische vs. ethische Gesetzgebung) aussagt, sondern lediglich etwas über die Nötigungsrelation (innere vs. äußere Gesetzgebung).
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der freien Willkür durchs Gesetz [ist]; dieser Zwang mag nun ein ä u ß e r e r oder ein S e l b s t z w a n g sein“,²²⁶ kann jede Gesetzgebung für das Subjekt innerlich oder äußerlich nötigend sein, je nachdem, wer das Subjekt zur Pflichterfüllung bestimmt. Erneut werden hiermit keine unterschiedlichen Pflichten bzw. eine unterschiedliche Pflichtenkonstitution ausgewiesen, sondern vielmehr entsprechend der beiden Zwangsarten unterschiedliche Gegebenheitsweisen ein und derselben Pflicht aufgezeigt.²²⁷ In der Tugendlehre wird dies besonders deutlich, wenn Kant sagt: Der Pflichtbegriff steht unmittelbar in Beziehung auf ein G e s e t z […]; wie denn das formale Princip der Pflicht im kategorischen Imperativ: »Handle so, daß die Maxime deiner Handlung ein allgemeines G e s e t z werden könne« es schon anzeigt; nur daß in der Ethik dieses als das Gesetz d e i n e s eigenen W i l l e n s gedacht wird, nicht des Willens überhaupt, der auch der Wille Anderer sein könnte: wo es alsdann eine Rechtspflicht abgeben würde, die nicht in das Feld der Ethik gehört.²²⁸
Denke ich das Gesetz als Gesetz des Willens überhaupt, so kann der zur Befolgung des Gesetzes nötigende Wille mein eigener wie auch der eines anderen sein. Letzteres macht den Begriff des Rechts als „das Vermögen, andere zu verpflichten“, aus.²²⁹ Und dies ist es auch, was beim Recht allererst die Möglichkeit einer äußeren Gesetzgebung eröffnet. Tugendpflichten erfordern jedoch, das Gesetz als das Gesetz des eigenen Willens (innere Gesetzgebung) zu denken, da eine vernunftbestimmte Zwecksetzung stets ein Akt moralischen Selbstzwangs ist.²³⁰ Wie
TL, AA VI, S. 379. Auch hier befindet sich Kant gewissermaßen im Einklang mit der Schulphilosophie, da z. B. auch Wolff, Vernünftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, § 8 Verbindlichkeit zunächst so definiert, dass „[e]inen verbinden etwas zu thun, oder zu lassen, […] nichts anders ist als einen Bewegungsgrund des Wollens oder Nicht-Wollens damit verknüpffen“. Sodann (§ 18) unterscheiden sich die verschiedenen „Gesetze hauptsächlich aus der Verbindlichkeit, nachdem sie daher, oder dort her kommet. […] [Z]. E. wenn uns die Natur, Gott und Menschen dazu [sc. einer freien Handlung] verbinden; so ist diese Regel zugleich ein natürliches, göttliches und menschliches Gesetze.“ Vgl. hierzu auch Schröer 1988, S. 143 und bereits oben Kap. 3, Fn. 209. Auch bei Kant betrifft die Frage, wer die Triebfeder mit der Vorstellung des Gesetzes verknüpft, die Gegebenheitsweise der Pflicht, nicht jedoch die Pflichtenkonstitution bzw. gesetzliche Bestimmung der geschuldeten Handlung als solche. Ebenso ist sie gegenüber der Problematik der Pflichtenexekution und der damit verbundenen Unterscheidung von ethischer und juridischer Gesetzgebung vorgelagert. TL, AA VI, S. 388 f. RL, AA VI, S. 239. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang in VA TL, AA XXIII, S. 388 (wobei Ethik hier im Sinne von Tugendlehre verwandt wird): „Ethic ist das System der Zwecke die zugleich Pflichten sind. – Alle Gesetzgebung ist also i n n e r e . – Also System der Pflichten aus innerer Gesetzge-
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bei der Unterscheidung Selbstzwang/Fremdzwang geht es folglich auch bei der Differenz von innerer und äußerer Gesetzgebung noch nicht um den Modus der Pflichtexekution (d. h., ob die Handlung aus Pflicht oder aus Neigung erfolgt). Diese Frage, wie das Subjekt zur Pflichterfüllung bestimmt wird, betrifft erst die Unterscheidung von ethischer versus juridischer Gesetzgebung und die Frage des Vorliegens einer (indirekt‐)ethischen Pflicht:²³¹ Alle Pflichten enthalten einen Begriff der N ö t h i g u n g durch das Gesetz; die e t h i s c h e [ n ] eine solche, wozu nur eine innere, die Rechtspflichten dagegen eine solche Nöthigung, wozu auch eine äußere Gesetzgebung möglich ist; beide also eines Zwanges, er mag nun Selbstzwang oder Zwang durch einen Andern sein: da dann das moralische Vermögen des ersteren Tugend und die aus einer solchen Gesinnung (der Achtung fürs Gesetz) entspringende Handlung Tugendhandlung (ethisch) genannt werden kann, obgleich das Gesetz eine Rechtspflicht aussagt.²³²
bung. – Der ethische Imperativ ist: handle so daß Du wollen kannst die Maxime Deiner Handlung solle ein allgemeines Gesetz werden. Da also das Gesetz nicht blos als aus Deiner Vernunft sondern auch als aus Deinem Willen entsprungen betrachtet wird so ist die Gesetzgebung immer innerlich.“ Vgl. zur Notwendigkeit moralischen Selbstzwangs bei Tugendpflichten oben S. 120 f. mit Fn. 201. Ohne Bezug zum hier thematisierten Gesetzgebungsbegriff führt auch Scholz 1972, S. 143 gleichwohl im Ergebnis zutreffend aus: „Weil aber jeder nur die Zwecke hat, die er sich selbst setzt, so kann das Gesetz, das nach dem Prinzip der Tugendlehre meine Maxime soll sein können, nur als Gesetz meines eigenen Willens gedacht werden, d. h. als ein Gesetz, das ich mir selbst auferlege […].“ – Allerdings darf innere Gesetzgebung nicht einfach mit Autonomie oder gar mit Autokratie (vgl. dazu oben S. 111– 113) gleichgesetzt werden.Vgl. so aber teilweise Kersting 1984, S. 76 f.; Guyer 2000, S. 202 f.; Kain 2004, S. 301 f.; Timmermann 2007, S. 107 und Baum 2013a, S. 91. Denn zum einen ist es denkbar, dass auch äußere Gesetzgebung als autonom begriffen werden kann. Vgl. dazu ausführlich unten S. 210 – 247. Zum anderen wird die Frage der Triebfederbestimmung (mithin der Autokratie) erst in der Unterscheidung ethische versus juridische Gesetzgebung thematisiert. Vgl. dazu auch sogleich S. 130 f. Wenn Kant verschiedentlich davon spricht, dass „[d]ie Freiheit in Beziehung auf die innere Gesetzgebung der Vernunft […] eigentlich allein ein Vermögen [ist]; die Möglichkeit von dieser abzuweichen ein Unvermögen“ (RL, AA VI, S. 227; vgl. mit ähnlicher Aussage TL, AA VI, S. 378), so heißt dies nur, dass Freiheit in Bezug auf innere Gesetzgebung notwendig ein Handeln aus Pflicht impliziert, da nur ein moralischer Selbstzwang im transzendentalen Sinne frei ist. Gleichwohl impliziert innere Gesetzgebung damit nicht notwendig ein Handeln aus Pflicht. Vielmehr macht Kant diesbezüglich einen begrifflichen Unterschied, wie etwa Kants Differenzierung zwischen formaler Tugendverbindlichkeit und innerer/ äußerer Gesetzgebung zeigt. Vgl. VA TL, AA XXIII, S. 396 und dazu oben S. 122. Diese Differenzierung Kants wird aber bei den oben genannten Autoren (vgl. Kap. 3, Fn. 212) dadurch verschleiert, dass äußere Gesetzgebung über die Gesinnungsindifferenz bestimmt wird. Vgl. exemplarisch Byrd und Hruschka 2011, S. 52 f.: „External legislation, which Kant also calls ‚juristic‘ […] or ‚juridical‘ […] legistlation, gets ist name from the fact that it contains a law which makes an act a duty, and ‚allows a motivation other than the idea oft he duty itself‘ to be combined with this law.“ TL, AA VI, S. 394.
3.3 Recht und kategorischer Imperativ
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Eigentlich müsste sich aus den Differenzierungen ethische/juridische bzw. innere/ äußere Gesetzgebung ein Geviert ergeben. Danach müsste ethische Gesetzgebung als innere und äußere denkbar sein, gleiches müsste für juridische Gesetzgebung gelten:
Der Grund, warum Kant ethische Gesetzgebung jedoch als ausschließlich innerlich ausweist, dürfte darin liegen, dass eine äußere ethische Gesetzgebung mittelbar auf eine innere ethische Gesetzgebung hinausliefe. Denn stellt mir die Pflicht jemand anderes (äußere Gesetzgebung) unter der Maßgabe, aus Pflicht zu handeln (ethische Gesetzgebung), vor,²³³ so bewirkt dies – ausweislich einer Passage in der Metaphysik der Sitten-Vigilantius – allenfalls, dass ich die Pflicht für mich selbst als verbindlich anerkenne und mir somit die Verbindlichkeit wieder selbst vorstelle:
Vgl. Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg. von Werner Stark, S. 48: „Es kann aber auch einer äusserlich moralisch vom andern gezwungen werden, wenn ein anderer uns eine Handlung, die wir ungern thun, aber nach moralischen Motiven abnöthigt.Wenn ich zE. Jemanden was schuldig bin, und der andere sagt, willst du ein ehrlicher Mann seyn, so must du mir bezahlen, ich will dich nicht verklagen, allein ich kann es dir nicht erlassen, weil ich es brauche; so ist dieses ein äusserlicher moralischer Zwang durch die Willkür eines andern.“ Hieran hält Kant auch noch 1794 fest,vgl. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 521, distanziert sich hiervon jedoch 1797 durch die Betonung der Innerlichkeit ethischer Gesetzgebung (RL, AA VI, S. 220) und der Irrelevanz äußeren moralischen Zwangs für das Recht (ebd., S. 232) deutlich.
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3 Kants Rechtsphilosophie als Teil seiner kritischen Moralphilosophie
Dies geschieht dadurch, daß der andere, vermöge seines Rechts, dem Subject seine Pflicht, d.i. das moralische Gesetz nach welchem er handeln soll, vorstellt. Macht diese Vorstellung Eindruck in ihm, so bestimmt er seinen Willen nach einer Idee der Vernunft, er macht sich durch seine Vernunft diejenige Vorstellung von seiner Pflicht, die in ihm schon vorher lag und durch den andern nur rege gemacht ist, und bestimmt sich nach dem moralischen Gesetz.²³⁴
Jede ethische Gesetzgebung ist damit eine innere Gesetzgebung. Umgekehrt ist aber nicht jede innere Gesetzgebung eine ethische Gesetzgebung, denn die juridische Gesetzgebung kann äußerlich wie innerlich sein.²³⁵ Zusammenfassend lässt sich festhalten: Der kategorische Imperativ ist kein rein ethisches Prinzip, das stets ein Handeln aus Pflicht geböte. Vielmehr fordert der kategorische Imperativ Pflichtbefolgung unangesehen des Handlungsmotivs. Angesichts ihrer besonderen Pflichtstruktur impliziert dies lediglich bei Tugendpflichten ein Handeln aus Pflicht, da eine rein vernunftbestimmte Zwecksetzung stets moralischen Selbstzwang erfordert. Demgegenüber verhält sich der kategorische Imperativ bei Rechtspflichten gegenüber dem Befolgungsmotiv indifferent, da die geschuldete Handlung sowohl durch pathologischen Fremdzwang, als auch durch moralischen Selbstzwang abgenötigt werden kann. Hier kann die Rechtspflicht gleichermaßen als Zwangspflicht (juridische Gesetzgebung) und als indirekt-ethische Pflicht (ethische Gesetzgebung) vorgestellt werden. Gleichzeitig geht hiermit bei Kant eine Präzisierung des Begriffes Gesetzgebung einher: Gesetzgebung betrifft bei natürlichen moralischen Gesetzen, die anders als positive Gesetze a priori vernunftnotwendig sind, nie das Gesetz selbst, sondern stets nur die Begründung der Verbindlichkeit nach dem Gesetz.
MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 521. Zwar weist Kant dies weiterhin als moralischen Fremdzwang aus: „Es ist hier kein sinnlicher Antrieb, der angewandt wird, um ihn zu zwingen, und daher freier eigener Wille; er ist also auch insofern frei in seiner Handlung.“ Allerdings stellt er sodann klar, dass dieser Fremdzwang letztlich wieder einen moralischen Selbstzwang erfordert: „Nur dieser moralische Zwang eines anderen ist 1. nicht eher möglich, als bis das Subject völlig gut und wohlgesinnt ist, d.i. uneingeschränkte Hochachtung für das moralische Gesetz und Erfüllung seiner Pflichten hat, und seine Ueberzeugung von der Würde desselben so fest gestellt ist, daß die sinnlichen Antriebe und alle dadurch geformte maximen auf die Bestimmung der Vernunft keinen Einfluß haben müssen.“ Vgl. dazu auch oben S. 118 f. sowie mit ähnlicher Beobachtung Kersting 1984, S. 78 f. mit Fn. 164). Dies belegt der Wortlaut in TL, AA VI, S. 394, wo Kant ausführt, dass bei „Rechtspflichten dagegen eine solche Nöthigung [sc. vorliegt], wozu auch eine äußere Gesetzgebung möglich ist“ (kursive Hervorhebung P.-A. H.). Aus der Wendung „auch“ folgt e contrario, dass bei Rechtspflichten ebenso eine innere Gesetzgebung in Betracht kommt. Vgl. ähnlich RL, AA VI, S. 220, kursive Hervorhebung P.-A. H.: „Die ethische Gesetzgebung (die Pflichten mögen allenfalls auch äußere sein) ist diejenige, welche nicht äußerlich sein k a n n ; die juridische ist, welche auch äußerlich sein kann.“ Vgl. auch ebd., S. 239.
3.3 Recht und kategorischer Imperativ
133
Dementsprechend gibt Kants Unterscheidung verschiedener Gesetzgebungen bei natürlichen moralischen Gesetzen lediglich eine unterschiedliche Gegebenheitsweise ein und derselben Pflicht wieder, namentlich bezüglich der Nötigungsrelation (innere/äußere Gesetzgebung) bzw. dem Modus der Pflichtexekution (ethische/juridische Gesetzgebung).
3.3.5 Die Zwangsbefugnis beim Recht Doch selbst wenn sich die Gebote des Rechts als Ausdruck des kategorischen Imperativs verstehen lassen, so scheint ein zentraler Einwand noch nicht berücksichtigt worden zu sein: Der kategorische Imperativ als Prinzip des Rechts scheide deswegen aus, weil sich aus ihm nicht die Befugnis zu zwingen ableiten lasse.²³⁶ Jedoch ist dieser Einwand angesichts der bisherigen Ergebnisse in zweifacher Hinsicht zurückzuweisen: Zunächst ist der Einwand undifferenziert, insofern hierbei nicht zwischen physischem Zwang i. S. v. vis absoluta (d. h. der faktischen Handlungsbeschränkung) und psychischem Zwang i. S. v. vis compulsiva (d. h. der pathologischen Nötigung durch widerstrebende, sinnliche Neigungen) unterschieden wird.²³⁷ Letzterer Zwang ist – wie soeben gezeigt – ja gerade der Inbegriff rechtlicher Gesetzgebung und damit eine Form moralisch möglichen Zwanges,wie er bei Rechtspflichten durch den kategorischen Imperativ ausgedrückt wird. Hier nach einer Ableitung vom kategorischen Imperativ zu fragen, erscheint daher zumindest bezüglich dieser Zwangsform von Grund auf verfehlt. Anders mag es sich allein beim physischen Zwang verhalten.
Dieser Einwand wird insbesondere von Willaschek 2009, S. 59 – 65, erneut Willaschek 2012 erhoben. Nach ihm ist die Zwangsbefugnis weder aus dem Autonomietheorem noch aus dem kategorischen Imperativ (aus der Zweckformel ebenso wenig wie aus der Allgemeingesetzformel) ableitbar. Entsprechende Zweifel äußert auch Ripstein 2009, S. 355, 359 und S. 388. Im Übrigen klingt dieser Einwand bei den meisten Unabhängigkeitstheoretikern zumindest implizit an, vgl. z. B. Wood 2002, S. 5 – 10 oder Pogge 2002, S. 141 f. Aber auch Gegner einer Unabhängigkeitsthese sehen hierin ein Problem. So betont Kersting 1984, S. 29 f., dass die Zwangsproblematik „von außen an die Lehre von der gesetzgebenden praktischen Vernunft herangetragen“ werde. In Kersting 1990, S. 66 f. führt er daher aus: „[I]n der Tat kann zwischen der Autonomie, dem Geltungsgrund aller moralischen Gesetze, und dem Zwang, der Heteronomie katexochen, keinerlei Ableitungsbeziehung bestehen.“ Vgl. ferner die Ableitung des Rechts aus dem kategorischen Imperativ angesichts der Zwangsbefugnis in Frage stellend oder zumindest problematisierend Cohen 1910, S. 400 – 408; Schreckenberger 1959, S. 54; Guyer 2002, S. 46 – 54 und Horn 2014, S. 46 – 50. Vgl. dazu bereits oben S. 62 mit Fn. 129.
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3 Kants Rechtsphilosophie als Teil seiner kritischen Moralphilosophie
Vor allem aber – und dies gilt ungeachtet der Differenzierung zwischen vis absoluta und vis compulsiva – geht der o. g. Einwand von vornherein ins Leere,weil die Zwangsbefugnis beim Recht weniger ein Problem, als vielmehr ein Beweis für eine kritische Rechtsbegründung bei Kant ist. Anders gesagt: Die Zwangsbefugnis bedarf gar keiner Herleitung aus dem kategorischen Imperativ, wenn man das Recht als Teil der kritischen Moralphilosophie Kants begreift. Dies wird allerdings erst deutlich, wenn man bedenkt, dass das eigentliche Problem darin besteht, die Unzulässigkeit von Zwang auszuweisen. Die für Kant zentrale Frage ist also nicht Warum darf ich im Einzelfall zwingen?, sondern vielmehr Warum darf ich im Einzelfall nicht zwingen?. Zwang wird erst dann zum (moralischen) Rechtsproblem, wenn jemand berechtigterweise beanspruchen kann, nicht gezwungen zu werden. Daher ist gegenüber Steinen, Pflanzen oder Tieren Gewalt oder Zwang in jeglicher Form (sei es vis absoluta oder, zumindest bei Tieren denkbar, vis compulsiva) kein moralisches Problem. Denn Steine, Pflanzen und Tiere entbehren – zumindest für Kant – der moralischen Persönlichkeit, d. h. sie sind kein taugliches Subjekt moralischer Rechte und Pflichten.²³⁸ Erst gegenüber Personen wird Zwang zum moralischen Problem. Dies impliziert bereits die Bestimmung des moralischen Rechtsbegriffs in § B der „Einleitung in die Rechtslehre“, wonach Recht das intersubjektive Verhältnis von Personen betrifft und sich allein für diese die Frage einer Zwangsbefugnis, welche in §§ C–E aufgeworfen wird, stellt.²³⁹ Deutlich formuliert es Kant schon 1784 in der Naturrechtsvorlesung Feyerabend: Res ist, in Ansehung dessen die Freiheit andrer auf keine Weise eingeschränkt werden kann, wenn mans gebraucht. Die Sache hat keine Freiheit, also kann ihr auch nicht unrecht geschehen, also schränkt sie meine Freiheit nicht ein. Aber Persona, ein freies Wesen, schränkt meine Freiheit ein. […] Eine Freiheit wird durch sich selbst eingeschränkt. Dinge die keine Freiheit haben, können daher nicht in ihrer Freiheit eingeschränkt werden. Im Verhältnis mit Wesen die selbst Freiheit haben, ist jede andre Freiheit eingeschränkt. Das ist eine Person, jenes eine Sache.²⁴⁰
Belebte und unbelebte Materie ohne reine praktische Vernunft ist allenfalls Gegenstand von Rechten und Pflichten, jedoch niemals Subjekt derselben. So führt Kant in RL, AA VI, S. 241 aus, dass es kein „rechtliche[s] Verhältniß des Menschen zu Wesen [sc. gibt], die weder Recht noch Pflicht haben“, „[d]enn das sind vernunftlose Wesen, die weder uns verbinden, noch von welchen wir können verbunden werden.“ Vgl. dazu ausführlich unten S. 154– 158. Auch Tiere fallen hierunter. Sie werden nur reflexartig geschützt, insofern Tierquälerei gegen eine Pflicht des Menschen gegen sich selbst verstößt. Vgl. TL, AA VI, S. 443. Vgl. dazu oben S. 55 – 64. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1335. Die Einschränkung der Freiheit, von der Kant hier spricht, weist er in der Vorlesung in der Folge als Selbstgesetzlichkeit der Freiheit aus, womit er auf
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Personen genießen im Vergleich zu Sachen den Status, Träger von Rechten und Pflichten zu sein und als solche nicht ohne weiteres von anderen gezwungen bzw. gebraucht werden zu dürfen.²⁴¹ Mithin generiert erst die Pluralität von Personen das Zwangsproblem. Dies lässt sich jedoch nur verstehen, wenn man das Recht als Teil der kritischen Moralphilosophie und – wie hier vorgeschlagen – als notwendige Bedingung zur Wahrung der Selbstzweckhaftigkeit autonomer Vernunftwesen begreift.²⁴² Rufen wir uns dies in Erinnerung, so wird zunächst deutlich, warum Zwang gegenüber Personen (d. h. selbstzweckhaften Vernunftwesen) prima facie unzulässig ist: Die äußere F r e y h e i t ist die Unabhängigkeit des Menschen von der Willkühr Anderer nicht nach ihren sondern dadurch zugleich nach seinen eigenen Zwecken handeln zu dürfen d.i. nicht b l o s als Mittel zu irgend einem Zweck des Andern dienen zu d ü r f e n (genöthigt werden zu können).²⁴³
Das Recht schützt die Unabhängigkeit von der nötigenden Willkür des anderen, gerade weil das Rechtssubjekt als Person Selbstzweck ist und nicht nur als bloßes Mittel benutzt werden darf.²⁴⁴ Zwang gegenüber Personen ist im Grundsatz rechtlich unzulässig, da er paradigmatisch für den Gebrauch als bloßes Mittel ist. Recht sanktioniert daher zunächst jeglichen Zwang, da er dem Anspruch autonomer Vernunftwesen auf Wahrung ihrer Selbstzweckhaftigkeit widerspricht.²⁴⁵ das Autonomietheorem und die transzendentale Freiheitslehre rekurriert. Vgl. dazu ausführlich Hirsch 2012a, S. 90 – 92. Dies zeigt sich am deutlichsten in TL, AA VI, S. 462, wonach der Mensch „zugleich als Zweck gebraucht werden [muß], und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle andere Weltwesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt“. Vgl. dazu ausführlich oben S. 70 – 90. VA RL, AA XXIII, S. 341, vgl. dazu schon oben S. 72. Vgl. hierzu ausführlich oben S. 70 – 85. Dies gilt für psychischen Zwang (vis compulsiva) und physischen Zwang (vis absoluta) gleichermaßen. Beide widersprechen insofern der Autonomie bzw. Selbstzweckhaftigkeit, als dass es der Person nicht mehr möglich ist, sich frei nach eigenen, selbstgesetzten Zwecken zu bestimmen. Man fungiert nur noch als Mittel eines anderen, was den aus der Autonomie resultierenden Anspruch auf Wahrung der Selbstzweckhaftigkeit verletzt. Hinzu kommt, dass Körper und Person für Kant eine absolute Einheit bilden, sodass Personalität und Wahrung der physischen Integrität aufs Engste zusammenhängen: „Es ist aber der Erwerb eines Gliedmaßes am Menschen zugleich Erwerbung der ganzen Person, – weil diese eine absolute Einheit ist […].“ (RL, AA VI, S. 278). Vgl. ähnlich Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg. von Werner Stark, S. 216. Die Personalität des Menschen als Vernunftwesen unter sinnlichen Bedingungen ist laut Kant also stets verkörpert. Angesichts dessen erscheint es als etwas vorschnell, wenn Willaschek 2009, S. 60
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Als Kontrast lässt sich hier Kants Bild eines Volks von Teufeln (d. h. von Wesen, die zwar technisch-praktisch vernünftig, sittlich jedoch weder autonom noch frei sind) bemühen: Genauso wie es in einem Volk von Teufeln in Ermangelung der Persönlichkeit keine Rechtsverbindlichkeit geben kann, gibt es unter Teufeln auch kein rechtliches Zwangsproblem. Der Teufel ist keine Person und ist daher in moralischer Hinsicht als Sache zu behandeln. Ihn zu zwingen, zu verletzen oder gar zu töten, ist rechtlich schlichtweg gegenstandslos.²⁴⁶ Gleichwohl setzt die Personalität das autonome Vernunftwesen nicht sakrosankt und macht Zwang gegenüber Personen nicht schlechthin unzulässig. Denn die moralischen Gesetze, die die Person schützen, schränken sie auch ein. Auf Grund der sittlichen Autonomie ist „jeder Wille […] auf die Bedingung der Einstimmung mit der Autonomie des vernünftigen Wesens eingeschränkt“.²⁴⁷ Mit Blick auf den intersubjektiven Willkürgebrauch ergibt sich diese gesetzliche Einschränkung notwendig aus der Pluralität autonomer und damit selbstzweckhafter Vernunftwesen. Eine Gemeinschaft autonomer Vernunftwesen erfordert nämlich, dass „[d]er menschliche Wille […] also eingeschränckt ist auf die Bedingung der allgemeinen Einstimmung des Willens andrer. – Soll ein System der Zwecke seyn, so muß der Zweck und Wille eines vernünftigen Wesens mit dem eines andern übereinstimmen.“²⁴⁸ Gerade weil der Mensch in einer Gemeinschaft zu anderen autonomen Vernunftwesen steht, unterliegt sein eigener Willkürgebrauch der moralgesetzlichen Bestimmung, dass er mit der notwendigen Selbstzweckhaftigkeit anderer allgemeingesetzlich zu vereinbaren ist. Die Minimalbedingungen hierfür – d. h. die Bedingungen, unter denen die notwendige
ausführt: „It [sc. the value of autonomy] resides entirely in its self-legislation and thus in its not being conditioned by anything empirical and contingent. […] [T]he value of autonomy alone cannot be a reason for or against the legitimacy of coercion: it cannot be a reason against its legitimacy, because it is not affected by coercion; and it cannot be a reason for its legitimacy, because it cannot be promoted by coercive measures.“ Zwang stellt überhaupt erst gegenüber autonomen und daher selbstzweckhaften Vernunftwesen ein moralisches Problem dar. Insofern ist Personalität bzw. ihr sittlicher Wert der einzige Grund, warum Zwang gegenüber autonomen Vernunftwesen prima facie illegitim ist und somit allererst einer Begründung bedarf.Vgl. zum Teil ähnlich Ludwig 2013b, S. 300 f. Vgl. hierzu ausführlich unten S. 156 – 158 m. w. N. Auch wenn sich Teufel durch Unterwerfung unter öffentliche Gesetze und Zwangsmechanismen (ein Staat im technischen, nicht moralischen Sinne) in Schach halten können, ist damit noch nicht das moralische Recht bzw. vice versa die moralische Pflicht verbunden, diesen Zwangsmechanismus aufrechtzuerhalten. Der Teufels-Staat ist eine pragmatische Klugheitseinrichtung, sodass es kein moralisches Problem darstellt, aus diesem organisierten Zwangsmechanismus auszubrechen (oder ihn gar zu zerstören) und erneut unilateral zu zwingen. KpV, AA V, S. 87. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1319.
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Selbstzweckhaftigkeit aller autonomen Vernunftwesen gewahrt wird – formuliert wie gezeigt das Recht.²⁴⁹ Insofern das Recht die Koexistenzbedingungen autonomer Vernunftwesen ausbuchstabiert, schützt es aber nicht nur die Rechtspersonen, sondern beschränkt den moralischen Schutzbereich auch gleichzeitig auf die Wahrung ebendieses allgemeingesetzlich vertretbaren Willkürgebrauchs. Dies heißt umgekehrt, dass ein Willkürgebrauch, der sich jenseits dessen bewegt, gar nicht mehr als Ausdruck der schützenswerten moralischen Persönlichkeit begriffen werden kann. In diesem Maße ist meine Freiheit durch Rechtsgesetze bereits begrifflich eingeschränkt und eröffnet insofern auch anderen die Möglichkeit, meinen Willkürgebrauch hierauf zu begrenzen. Hierzu führt Kant in den Vorarbeiten zur Tugendlehre aus: Rechtspflichten […] beruhen lediglich auf der nothwendigen übereinstimmung mit dem Gesetz der Freyheit in Beziehung auf seine eigene Person oder auf Andere […] also eigentliche Gesetze d.i. strickt-bestimmende Grundsätze, und da sind die Gesetze die aus der Persönlichkeit des Menschen seine eigene Freyheit einschränken die Bedingung der Möglichkeit die Freyheit anderer einzuschränken.²⁵⁰
Entsprechend dieser vernunftnotwendigen Einschränkung der sittlich schützenswerten Freiheit begründet Kant nun die Zwangsbefugnis in der Rechtslehre. Insofern beim Recht der Willkürgebrauch durch ein Gesetz allgemeingesetzlich bestimmt ist, wird eine Art »moralischer Schutzbereich« definiert: Auf diesen ist – wie Kant in § C der „Einleitung in die Rechtslehre“ pointiert formuliert – die Freiheit „in ihrer Idee […] eingeschränkt [ … ] und [sc. darf] von andern auch thätlich eingeschränkt werden“.²⁵¹ Anders gesagt: Wer eine Rechtsverletzung begeht, ist insoweit (d. h., sofern seine Rechtsverletzung reicht) nicht mehr schützenswerte Rechtsperson. Durch entgegenstehende Zwangshandlungen wird seine moralische Freiheit gar nicht betroffen, sodass sich eine einschlägige Zwangsbefugnis als Problem überhaupt nicht stellt.²⁵² Insofern das Recht analytisch aus dem Begriff einer allgemeinge Vgl. dazu auch ausführlich oben S. 70 – 85. VA TL, AA XXIII, S. 392. RL, AA VI, S. 231. Vgl. dazu bereits oben S. 59 – 61. Dies ist vor allem gegenüber Willaschek 2009, S. 60 f. anzuführen: „[O]ne might perhaps argue that the end pursued with rightful acts of coercion is freedom in accordance with a universal law,which is an end even the coerced person could, an should, rationally adopt as her own, so that it is possible that she could consent to the coercion. […] The problem with it [sc. this line of reasoning] in our context is that it presupposes Kant’s conception of right as freedom in accordance with a universal law, which, as Kant argues, analytically implies the authorization to use coercion. […] [B]y assuming that this conception [sc. of right] is a possible end of rational beings we simply presuppose the legitimacy of coercion. I conclude that the end-in-itself formula is not a possible
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setzlich vertretbaren Willkürfreiheit abgeleitet werden kann, korrespondiert dem unmittelbar die Zulässigkeit äußeren Zwangs. Deutlich führt Kant dies in der Metaphysik der Sitten-Vigilantius aus: Die U e b e r e i n s t i m m u n g d e r H a n d l u n g m i t d e n a l l g e m e i n e n G e s e t z e n d e r F r e i h e i t ist also der Maßstab der Bestimmung, ob Jemandem ein Zwangsrecht zustehen und der andere ihm unterworfen seyn kann, und ich kann daher die Befugniß, den Willen der Person des anderen gegen seine Freiheit zu zwingen, nur insofern haben, als meine Freiheit zugleich mit der allgemeinen Freiheit nach den allgemeinen Gesetzen übereinstimmt. Eine Handlung ist daher nur insofern recht oder unrecht, insofern sie der Bedingung gemäß oder zuwider ist, daß nemlich die Freiheit des Handelnden mit der Freiheit eines Jeden anderen nach allgemeinen Gesetzen zusammen bestehen kann, oder ihnen zuwider ist, und das Recht, der Freiheit des anderen Widerstand zu thun, oder ihn zu zwingen, kann nur insoweit zutreffen, als meine Freiheit mit der allgemeinen Freiheit zusammenstimmt. […] Hieraus folgt, daß ich zu allen Handlungen befugt bin, die dem Recht des anderen, d.i. seiner moralischen Freiheit nicht widerstreiten, denn insofern thue ich seiner Freiheit keinen Abbruch, und er hat kein Recht, mich zu zwingen. Ferner folgt hieraus, daß die Befugniß, den anderen zu zwingen, darin besteht, dem Gebrauch der Freiheit des anderen zu widerstehen, insofern als sie mit der allgemeinen Freiheit nach dem allgemeinen Gesetz nicht bestehen kann, und dies ist das Zwangsrecht.²⁵³
Um es noch einmal deutlich zu machen: Recht und Zwangsbefugnis folgen bei Kant gleichermaßen daraus, dass der »moralische Schutzbereich« von Personen gesetzlich bestimmt ist. Die Freiheit der Willkür steht in ihrem äußeren Gebrauch unter dem Rechtsgesetz. Das Recht beschreibt dabei a priori die zulässigen Handlungen nach diesem Gesetz und gleichzeitig – insofern es um Unrecht geht – die moralisch möglichen Zwangshandlungen. Jenseits des so formulierten rechtlichen Schutzbereichs der Person wird durch Zwang der „moralischen Freiheit [sc. des andern] nicht widerstr[it]ten, denn insofern thue ich seiner Freiheit
basis for a deduction of the legitimacy of juridical coercion.“ Vgl. ähnlich erneut Willaschek 2012, S. 558 f. Willascheks Argumentation beruht auf einer verfehlten Verknüpfung von Zweckformel und Zwangsbefugnis. Wer unrechtmäßig handelt, der ist insofern nicht mehr moralisch schützenswert. Durch Gegenzwang wird seine Selbstzweckhaftigkeit überhaupt nicht tangiert. Ob der Gegenzwang vom Gezwungenen als Zweck gewollt werden kann, ist daher moralisch irrelevant. Die Selbstzweckformel sagt hierüber nichts aus, da ich den anderen – insofern er unrechtmäßig handelt – gar nicht in mein moralisches Kalkül einbeziehen muss. Aus der Selbstzweckformel lässt sich also nicht ableiten, wen zu zwingen ich positiv befugt bin, sondern es lässt sich hiernach nur ausweisen, wen ich ob seiner Selbstzweckhaftigkeit nicht zwingen, d. h. nicht als Mittel behandeln, darf. Vgl. mit Kritik an Willaschek ebenso Ludwig 2013b, S. 301 mit Fn. 47. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 525 f., kursive Hervorhebung P.-A. H.
3.4 Freiheit der Willkür: Die Abhängigkeit des Rechts vom Autonomietheorem
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keinen Abbruch“.²⁵⁴ Deswegen kann Kant in § E der „Einleitung in die Rechtslehre“ Recht und Zwang analytisch gleichsetzen.²⁵⁵ Es bedarf also keiner positiven Herleitung der Zwangsbefugnis beim Recht, sondern vielmehr ihrer Begrenzung. Danach ist Zwang stets insoweit zulässig, als dass die rechtlich geschützte Freiheit des anderen – mithin seine moralische Persönlichkeit in rechtlicher Hinsicht – nicht beeinträchtigt wird. Zwangsproblem bzw. Zwangsbefugnis lassen sich bei Kant gerade als Ausdruck seiner kritischen Rechtsbegründung begreifen.
3.4 Freiheit der Willkür: Die Abhängigkeit des Rechts von Autonomietheorem und transzendentaler Freiheitslehre Bisher konnte dargelegt werden, dass sich rechtliche Gebote und ihre moralische Verbindlichkeit materialiter aus der vernunftnotwendigen Wahrung der Selbstzweckhaftigkeit autonomer Vernunftwesen ergeben. Desweiteren wurde gezeigt, dass der kategorische Imperativ – insofern er eine Maximenbestimmung in Anbetracht der Handlungen enthält – das formale Prinzip dieser rechtlichen Verpflichtungen ist. Nunmehr soll der Kristallisationspunkt dieser kritischen Rechtsbegründung am Text der Rechtslehre ausgewiesen werden: Kants Freiheitsbegriff beim Recht. An diesem wird deutlich, dass Kants Rechtsbegründung auf das Autonomietheorem und die ihm zugrundeliegende transzendentale Freiheitslehre rekurriert, dessen oberstes Prinzip der kategorische Imperativ ist.²⁵⁶ In der Metaphysik der Sitten weist Kant Freiheit als eine Eigenschaft der Willkür aus.²⁵⁷ Dies stellt ein Novum gegenüber vorherigen Veröffentlichungen Kants dar, in denen er die Freiheit stets dem Willen attribuierte.²⁵⁸ Diese Veränderung ist Ausdruck einer inhaltlichen Präzisierung Kants, um das Phänomen autonomer Selbstbestimmung angemessen erklären zu können: In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und auch noch in der Kritik der praktischen Vernunft verwandte
MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 526. Es ist daher schon verfehlt, mit Willaschek 2012, S. 559/562 zu fragen, ob man autorisiert sei, „to limit the freedom of others“ bzw. „[sc. to infringe] upon some other person’s external freedom“. Denn unrechtmäßige Handlungen sind nicht Ausdruck dieser Freiheit, und entsprechender Gegenzwang stellt daher von vornherein kein moralisches Problem dar. Vgl. hierzu bereits oben Kap. 3, Fn. 252. Vgl. RL, AA VI, S. 232, vollständig zitiert oben S. 62 f. Wie bereits oben (S. 56 f.) angedeutet, wird diese Lesart schon in der „Einleitung in die Rechtslehre“ durch Kants Rede von Personen und sich wechselseitig beeinflussenden Fakta nahegelegt. Nun gilt es, die anfängliche Vermutung beim Recht an Kants Freiheitsbegriff zu belegen. Vgl. zur Begriffsbestimmung von Willkür oben S. 50 f. sowie zur Beschränkung des Rechts auf die freie Willkür schon oben S. 58 mit Fn. 107. Vgl. statt vieler nur GMS, AA IV, S. 446 – 448, KpV, AA V, S. 28 f. und 71 f. sowie oben S. 39 – 45.
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Kant die Begriffe Wille und Willkür synonym,²⁵⁹ weil er den Willen (bzw. die Willkür) gleichzeitig als affiziert und bestimmend ansah.²⁶⁰ Diese Problematik überwindet Kant in der Metaphysik der Sitten dadurch, dass er Wille und Willkür begrifflich unterscheidet und erstere als „legislative“, hingegen letztere als „exekutive Instanz“ begreift:²⁶¹ [Das Begehrungsvermögen nach Begriffen,] sofern es mit dem Bewußtsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objects verbunden ist, heißt […] W i l l k ü r ; […] Der Wille ist also das Begehrungsvermögen, nicht sowohl (wie die Willkür) in Beziehung auf die Handlung, als vielmehr auf den Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung betrachtet, und hat selber vor sich eigentlich keinen Bestimmungsgrund, sondern ist, sofern sie die Willkür bestimmen kann, die praktische Vernunft selbst.²⁶²
Da sich der Wille in seiner Eigenschaft als gesetzgebende, reine praktische Vernunft erschöpft, kann das Prädikat frei nur noch der Willkür als exekutivem Vermögen zugeschrieben werden.²⁶³ Innerhalb der Willkür, als der Fähigkeit, eine Handlung zu tun oder zu unterlassen, unterscheidet Kant daher „thierische
Vgl. den ständigen begrifflichen Wechsel zwischen Wille und Willkür allein im ersten Abschnitt der Analytik der KpV, AA V, S. 19 – 33. Weniger eindeutig ist dies in GMS, AA IV, S. 428, 451, 461, dafür aber deutlich in den zeitgleichen Vorlesungsnachschriften, vgl. MoralphilosophieMrongovius-II, AA XXIX, S. 611, 597 sowie Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1330, 1326 und dazu Hirsch 2012a, S. 83 – 85. Vgl. exemplarisch GMS, AA IV, S. 427: „Hier aber ist vom objectiv-praktischen Gesetze die Rede, mithin von dem Verhältnisse eines Willens zu sich selbst, so fern er sich bloß durch Vernunft bestimmt […]. Der Wille wird als ein Vermögen gedacht, d e r Vo r s t e l l u n g g e w i s s e r G e s e t z e gemäß sich selbst zum Handeln zu bestimmen.“ Timmermann 2003, S. 147 und Beck 1971, S. 188. Es ist umstritten, seit wann es diese begriffliche Unterscheidung gibt. Wood 1999, S. 27 f. ist der Ansicht, dass Kant die Unterscheidung bereits 1781 mit der Kritik der reinen Vernunft ausgearbeitet hat. Nach wohl überwiegender Meinung nimmt Kant jedoch erst in der Metaphysik der Sitten in Auseinandersetzung mit Karl Leonard Reinhold (vgl. dazu Bojanowski 2007) eine trennscharfe Unterscheidung vor. Vgl. statt vieler Hirsch 2012a, S. 83 – 85 und Geismann 2006, S. 11 mit Fn. 48, jeweils m w. N. RL, AA VI, S. 213. Vgl. RL, AA VI, S. 226: „Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen. Die letztere ist im Menschen eine freie Willkür; der Wille, der auf nichts Anderes, als bloß auf Gesetz geht, kann weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen (also die praktische Vernunft selbst) geht, daher auch schlechterdings nothwendig und selbst keiner Nöthigung f ä h i g ist. Nur die W i l l k ü r also kann f r e i genannt werden.“ Entsprechend ist der Wille notwendig rein und nur noch die Willkür kann als sinnlich affiziert betrachtet werden. Vgl. RL, AA VI, S. 221, wo Kant von den Menschen spricht, „deren Willkür sinnlich afficirt und so dem reinen Willen nicht von selbst angemessen“ ist.
3.4 Freiheit der Willkür: Die Abhängigkeit des Rechts vom Autonomietheorem
141
Willkür (arbitrium brutum)“ und „freie Willkür“ (arbitrium liberum).²⁶⁴ Während erstere durch Neigung (d. h. naturgesetzlich) determiniert wird, wird das arbitrium liberum durch Neigung lediglich affiziert und ist noch einer moralgesetzlichen Bestimmung durch den Willen, d. h. durch reine praktische Vernunft, fähig. Die Freiheit der Willkür (das arbitrium liberum) lässt sich nun durch zwei Begriffe²⁶⁵ beschreiben: Die F r e i h e i t der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer B e s t i m m u n g durch sinnliche Antriebe; dies ist der negative Begriff derselben. Der positive ist: das Vermögen der reinen Vernunft für sich selbst praktisch zu sein. Dieses ist aber nicht anders möglich, als durch die Unterwerfung der Maxime einer jeden Handlung unter die Bedingung der Tauglichkeit der erstern zum allgemeinen Gesetze.²⁶⁶
Die Freiheit der Willkür ist auch für das Recht maßgeblich, wie Kant in der Metaphysik der Sitten deutlich macht. So zeigen Kants Bestimmung des moralischen Rechtsbegriffs in § B sowie des allgemeinen Rechtsprinzips (§ C), dass es beim Recht um die freie Willkür geht.²⁶⁷ Diese ist wie gesagt als eine solche definiert, „die durch r e i n e Ve r n u n f t bestimmt werden kann“.²⁶⁸ Legt man diese beiden Bestimmungen zu Grunde, wird allein begrifflich deutlich, dass es beim Recht um die Willkür geht, sofern sie durch reine Vernunft bestimmbar ist. Recht erfordert also die Bestimmbarkeit des menschlichen Begehrungsvermögens durch den Willen als reine, gesetzgebende Vernunft. Wie diese Bestimmbarkeit der Willkür durch reine praktische Vernunft möglich und vorzustellen ist, weist Kant nun wie folgt aus:
RL, AA VI, S. 213. Mit dieser Differenzierung führt Kant die Unterscheidung zwischen Tieren und Vernunftwesen ein. Erstere können sich im Vergleich zu letzteren nicht nach rationalen Prinzipien bestimmen, sondern werden instinkthaft geleitet. Vgl. dazu auch Wood 1999, S. 25 – 28 und Höffe 2007, S. 178 179 f. Allerdings grenzt Kant im Weiteren Vernunftwesen noch gegenüber vernünftigen Wesen ab. Vernünftige Wesen verfügen nur über empirisch bedingte bzw. technischpraktische Vernunft. Erst ein Vernunftwesen ist im emphatischen Sinne frei und der Bestimmung durch reine praktische Vernunft fähig.Vgl. dazu oben Kap. 2, Fn. 26 und unten S. 154– 158, jeweils m. w. N. Vgl. zum positiven und negativen Begriff der Freiheit der Willkür und der jeweiligen Bedeutung für die Kantische Rechtsbegründung sogleich ausführlich unten S. 147– 159. RL, AA VI, S. 213 f. Laut § B kommt es beim Recht, auf die „F o r m im Verhältniß der beiderseitigen Willkür, sofern sie bloß als f r e i betrachtet wird,“ an (RL, AA VI, S. 230). Auch in § C bezieht Kant das Rechtshandeln begrifflich auf die Willkürfreiheit: „»Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.«“ (RL, AA VI, S. 230, kursive Hervorhebung P.-A. H.). Vgl. hierzu oben S. 58 – 60. RL, AA VI, S. 213.
142
3 Kants Rechtsphilosophie als Teil seiner kritischen Moralphilosophie
Der Begriff der F r e i h e i t ist ein reiner Vernunftbegriff, der eben darum für die theoretische Philosophie transscendent, d.i. ein solcher ist, dem kein angemessenes Beispiel in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann, welcher also keinen Gegenstand einer uns möglichen theoretischen Erkenntniß ausmacht und schlechterdings nicht für ein constitutives, sondern lediglich als regulatives und zwar nur bloß negatives Princip der speculativen Vernunft gelten kann, im praktischen Gebrauch derselben aber seine Realität durch praktische Grundsätze beweiset, die als Gesetze eine Causalität der reinen Vernunft, unabhängig von allen empirischen Bedingungen (dem Sinnlichen überhaupt) die Willkür zu bestimmen, und einen reinen Willen in uns beweisen, in welchem die sittlichen Begriffe und Gesetze ihren Ursprung haben. Auf diesem (in praktischer Rücksicht) positiven Begriffe der Freiheit gründen sich unbedingte praktische Gesetze, welche m o r a l i s c h heißen, die in Ansehung Unser, deren Willkür sinnlich afficirt und so dem reinen Willen nicht von selbst angemessen, sondern oft widerstrebend ist, I m p e r a t i v e n (Gebote oder Verbote) und zwar kategorische (unbedingte) Imperativen sind […].²⁶⁹
Dies ist förmlich ein Zitat der zentralen Inhalte kritischer praktischer Philosophie nach den beiden ersten Kritiken sowie der Grundlegungsschrift: Die Kritik der reinen Vernunft zeigte lediglich auf, dass eine Kausalität durch Freiheit (d. h. transzendentale Freiheit) neben der Naturkausalität möglich ist.²⁷⁰ Die Grundlegung entwickelte nun aus der transzendentalen Idee der Freiheit die Möglichkeit sittlicher Selbstbestimmung in Form des Autonomietheorems.²⁷¹ Dass reine praktische Vernunft in dieser Form wirklich ist, folgt schließlich aus der Faktumlehre der Kritik der praktischen Vernunft. Sittliche Freiheit ist theoretisch nicht erkennbar. Jedoch müssen wir uns angesichts des Bewusstseins unbedingter moralischer Verpflichtung nach dem kategorischen Imperativ in praktischer Hinsicht als sittlich frei annehmen. Autonomie und transzendentale Freiheit, deren Möglichkeit die Grundlegung sowie die Kritik der reinen Vernunft aufgezeigt haben, gewinnen somit erst durch das Faktum der Vernunft, d. h. das Bewusstsein der Verbindlichkeit nach dem Sittengesetz, praktische Realität. ²⁷² Folglich positioniert Kant die Rechtslehre mit dieser Passage zum Freiheitsbegriff – welche Kant in der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ der Rechtsund Tugendlehre gleichermaßen voranstellt – eindeutig im Gesamtkontext seiner kritischen Moralphilosophie. Auch das Rechtsgesetz – als moralisches Gesetz –²⁷³
RL, AA VI, S. 221. Vgl. oben S. 38 – 41 m. w. N. Vgl. oben S. 44 f. Vgl. oben S. 46 – 48 m. w. N. Vgl. RL, AA VI, S. 214: „Diese Gesetze der Freiheit heißen zum Unterschiede von Naturgesetzen m o r a l i s c h . So fern sie [sic !] nur auf bloße äußere Handlungen und deren Gesetzmä-
3.4 Freiheit der Willkür: Die Abhängigkeit des Rechts vom Autonomietheorem
143
beweist „einen reinen Willen in uns […], in welchem die sittlichen Begriffe und Gesetze ihren Ursprung haben“ und welcher „eine Causalität der reinen Vernunft, unabhängig von allen empirischen Bedingungen (dem Sinnlichen überhaupt) die Willkür zu bestimmen“ darstellt.²⁷⁴ Wohlgemerkt: Die Freiheit, um die es hier geht, besteht noch nicht in reiner praktischer Vernunft zur Pflichtexekution (Handeln aus Pflicht), sondern bezieht sich auf die Bestimmbarkeit nach moralischen Gesetzen, d. h. reine praktische Vernunft zur Pflichtenkonstitution. ²⁷⁵ Genau dieser Zusammenhang wird von Kant in der „Einleitung in die Rechtslehre“ erneut aufgegriffen, wenn er in § E ausführt: Ein s t r i c t e s (enges) Recht kann man also nur das völlig äußere nennen. Dieses gründet sich nun zwar auf dem Bewußtsein der Verbindlichkeit eines jeden nach dem Gesetze; aber die Willkür darnach zu bestimmen, darf und kann es, wenn es rein sein soll, sich auf dieses Bewußtsein als Triebfeder nicht berufen, sondern fußt sich deshalb auf dem Princip der Möglichkeit eines äußeren Zwanges […].²⁷⁶
ßigkeit gehen, heißen sie j u r i d i s c h ; fordern sie aber auch, daß sie (die Gesetze) selbst die Bestimmungsgründe der Handlungen sein sollen, so sind sie e t h i s c h […].“ Vgl. die zitierte Passage, RL, AA VI, S. 221. Vgl. dazu schon oben S. 111– 117. Bestimmbarkeit in diesem Sinne erfordert reine praktische Vernunft bereits als moralepistemologisches Prinzip. Ohne reine praktische Vernunft als prinicipium dijudicationis hätten wir gar keine Kenntnis moralischer Verpflichtung. Umgekehrt präsupponiert letztere immer Autonomie und transzendentale Freiheit der Pflichtunterworfenen. Also meint Bestimmbarkeit durch reine praktische Vernunft noch nicht reine praktische Vernunft als moralpsychologisches Prinzip der Pflichtbefolgung (Autokratie reiner praktischer Vernunft). Vgl. ähnlich auch Scholz 1972, S. 194. Gleichwohl lassen sich diese beiden Aspekte nicht trennen, denn ein jeder „urtheilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre“ (KpV, AAV, S. 30,vgl. ebenso Religion, AAVI, S. 50 und TL, AAVI, S. 383).Wer erkennt, dass er einer kategorischen Verpflichtung unterliegt, weiß dadurch gleichzeitig, dass er grundsätzlich auch über reine praktische Vernunft zur Pflichtexekution verfügt. Daher kann Bestimmung durch reine praktische Vernunft bei Kant beides meinen: Reine praktische Vernunft als Erkenntnisprinzip moralischer Verpflichtung sowie als Ausführungsgrund derselben. Vgl. hierzu (teilweise unterschiedlich) auch Scholz 1972, S. 189 – 195; Kersting 1990, S. 64 f.; Schönecker und Wood 2002, S. 26 sowie Geismann 2004, S. 242 mit Fn. 31. Im Ergebnis ist der Diagnose von Tretter 1997, S. 233 zuzustimmen: „Zwar ist nur in der Realisierung von unbedingter Vernunftbestimmtheit die Willkür wirklich frei, aber schon als (bloßes) Vermögen der Realisierung von unbedingter Vernunftbestimmtheit, d.i. als freiheitsfähiges, aber nicht notwendig auch Freiheit verwirklichendes Begehrungsvermögen, steht die freie Willkür […] prinzipiell unter dem unbedingten Anspruch des Freiheitsgesetzes. Einer freien Willkür kommt also das Prädikat ‚frei‘ schon allein aufgrund ihrer Freiheitsfähigkeit zu.“ Vgl. ähnlich auch schon Kersting 1984, S. 40. RL, AA VI, S. 232. Vgl. zu § E der „Einleitung in die Rechtslehre“ auch oben S. 62– 64.
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3 Kants Rechtsphilosophie als Teil seiner kritischen Moralphilosophie
Auch wenn Recht gegenüber dem Handlungsmotiv indifferent bleibt, d. h. „sich [nicht] auf dieses Bewußtsein [sc. der Verbindlichkeit] als Triebfeder“ beruft, gründet sich das Recht dennoch „auf dem Bewußtsein der Verbindlichkeit eines jeden nach dem Gesetze“.²⁷⁷ Kant konstatiert in dieser Passage nicht nur, dass Recht auf eine Triebfederbestimmung durch reine Vernunft verzichtet.²⁷⁸ Er sagt mehr: Indem Kant das Recht auf das Bewusstsein der Verbindlichkeit zurückführt, weist er es als integralen Bestandteil seiner kritischen Moralphilosophie aus. Denn ein solches Bewusstsein der Verbindlichkeit haben wir nur, insofern wir autonome (und insofern transzendental freie) Wesen sind, wie Kant in der zuvor zitierten Passage aus der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ hinlänglich ausgeführt hat.²⁷⁹ § E belegt, dass es auch rechtliche Verbindlichkeit nur in Ansehung moralischer Gesetze geben kann, welche eo ipso die Autonomie und transzendentale Freiheit der Rechtssubjekte präsupponieren.²⁸⁰ Anders gesagt: Auch das Rechtsgesetz ist als moralisches Gesetz die ratio cognoscendi der transzendentalen Freiheit der Rechtssubjekte, umgekehrt ist die transzendentale Freiheit ratio essendi rechtsgesetzlicher Verbindlichkeiten.²⁸¹ Wenn es nämlich „keine Freiheit und darauf gegründetes moralisches Gesetz giebt, sondern alles, was geschieht oder geschehen kann, bloßer Mechanism der Natur ist, so ist […] der Rechtsbegriff
Kant meint in § E eindeutig das Bewusstsein des Sittengesetzes (worauf auch die Faktumlehre der KpV hinausläuft), da er hier ja gerade anstelle des Sittengesetzes beim strikten Recht den Zwang als Triebfeder setzen möchte. Vgl. ähnlich schon Gregor 1963, S. 46: „Thus […] Kant reminds us that while no appeal can be made to our consciousness of our obligation corresponding to the right, the right is ‚grounded upon‘ our consciousness of obligation according to the law. […] [R]ights [sc. of others] according to the law […] are based upon our consciousness of obligation toward them, which is, in turn, based upon our recognition of the presence of pure practical reason within us and of our obligation toward our own personality.“ Vgl. mit entsprechender Beobachtung Pippin 2006, S. 424 mit Fn. 23 und Wood 2006, S. 296 mit Fn. 37. Dies hat er bereits in § C der „Einleitung in die Rechtslehre“ ausgeführt. Vgl. oben S. 59 – 61. Vgl. RL, AA VI, S. 221, vollständig zitiert oben S. 142. Psychologische Freiheit oder ein empirisch bedingter Vernunftgebrauch reichten hierfür nicht aus. Denn nach Kants eigenen Worten kann selbst das „allervernünftigste Weltwesen“, wenn es nicht transzendental frei ist, keinen Begriff von Verbindlichkeit haben und ebensowenig eine der Zurechnung fähige Person sein. Vgl. Religion, AA VI, S. 26 mit Fn. * und dazu Kersting 1984, S. 23 – 25 sowie sogleich unten S. 154– 158. Einer Verbindlichkeit kann nur unterliegen, wer ein autonomes (und insofern transzendental freies) Wesen ist, vgl. nur GMS, AA IV, S. 433 und KpV, AA V, S. 125 f. Dies gilt auch für Verbindlichkeiten der Rechtslehre. Vgl. mit ähnlicher Einschätzung Rapic 2007, S. 462 f.; Gregor 1963, S. 46 sowie mit Einschränkungen Kersting 1984, S. 27 f. und Kersting 1990, S. 69 – 72, der das Rechtsgesetz nicht als ratio cognoscendi der Freiheit ansehen möchte. Vgl. allgemein zur Freiheit als ratio essendi des moralischen Gesetzes und zum moralischen Gesetz als ratio cognoscendi der Freiheit KpV, AA V, S. 4, Fn. * und dazu oben S. 47 f.
3.4 Freiheit der Willkür: Die Abhängigkeit des Rechts vom Autonomietheorem
145
ein sachleerer Gedanke“.²⁸² Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang – ohne der späteren Untersuchung vorgreifen zu wollen –²⁸³ in Kants Deduktion des bloß-rechtlichen Besitzes, wenn er betont, es dürfe niemanden befremden, […] daß die t h e o r e t i s c h e n Principien des äußeren Mein und Dein sich im Intelligibelen verlieren und kein erweitertes Erkenntniß vorstellen: weil der Begriff der Freiheit, auf dem sie beruhen, keiner theoretischen Deduction seiner Möglichkeit fähig ist und nur aus dem praktischen Gesetze der Vernunft (dem kategorischen Imperativ), als einem Factum derselben, geschlossen werden kann.²⁸⁴
Die Freiheit, die durch den kategorischen Imperativ erkannt wird, ist – so Kants grundlegende Erkenntnis der Kritik der praktischen Vernunft – die transzendentale Freiheit des Autonomietheorems.²⁸⁵ Hierauf gründet sich dann der Rechtsbegriff. Daher antwortet Kant auf die Frage, warum die „Sittenlehre (Moral) gewöhnlich (namentlich vom C i c e r o ) die Lehre von den P f l i c h t e n“ genannt wird:²⁸⁶ Der Grund ist dieser: Wir kennen unsere eigene Freiheit (von der alle moralische Gesetze, mithin auch alle Rechte sowohl als Pflichten ausgehen) nur durch den m o r a l i s c h e n I m p e r a t i v, welcher ein pflichtgebietender Satz ist, aus welchem nachher das Vermögen, andere zu verpflichten, d.i. der Begriff des Rechts, entwickelt werden kann.²⁸⁷
Das Recht in dieser Weise als Teil der kritischen Moralphilosophie zu begreifen, ist jedoch keine Neuerung der Metaphysik der Sitten von 1797. Nachweise einer kritischen Rechtsbegründung finden sich bereits in den Vorlesungsnachschriften der 1780er und 1790er Jahre. So zeigen schon die Vorlesungsnachschriften Moralphilosophie-Mrongovius II und Naturrecht-Feyerabend aus den Jahren 1784/1785, dass Kants Rechtsbegriff bereits in dieser Zeit ausgearbeitet und in einem Guss mit der kritischen Moralphilosophie der Grundlegung konzipiert war. Hiernach baut auch das Recht auf Autonomietheorem und transzendentaler Freiheitslehre auf.²⁸⁸ So heißt es in Naturrecht-Feyerabend, dass „alle Lehrer des Naturrechts […] um den Punkt geirret [haben], den sie aber nie gefunden haben“, namentlich dass „Freiheit sich selbst ein Gesetz seyn [kann]“.²⁸⁹ Entsprechend führt Kant das Recht auf die autonome Selbstgesetzlichkeit der Freiheit zurück:
ZeF, AA VIII, S. 372. Vgl. dazu ausführlich unten S. 272– 278. RL, AA VI, S. 252. Vgl. erneut oben S. 47 f. mit Fn. 51. Vgl. hierzu auch Kersting 1990, S. 70 und Laschet 2011, S. 212 f. RL, AA VI, S. 239. Vgl. hierzu ausführlich Hirsch 2012a, insb. S. 82– 95. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1322.
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3 Kants Rechtsphilosophie als Teil seiner kritischen Moralphilosophie
Die Freiheit muß also eingeschränkt werden, aber durch Naturgesetze gehts nicht an; denn sonst wäre der Mensch nicht frey; also muß er sich selbst einschränken. Das Recht beruht also auf der Einschränkung der Freiheit. […] Die Freiheit muß, wenn sie unter Gesetzen seyn soll, sich selbst die Gesetze geben. Nehme sie die Gesetze aus der Natur, so wäre sie nicht frei. […] Ist Freiheit einem Gesetz der Natur unterworfen, so ist sie keine Freiheit. Sie muß sich daher selbst Gesetz seyn.²⁹⁰
Ähnliches zeigt sich in der knapp zehn Jahre später niedergeschriebenen Mitschrift Metaphysik der Sitten-Vigilantius. Dort definiert Kant den Gegenstandsbereich der Metaphysik der Sitten als den „Gebrauch der Freiheit des menschlichen Willens nach den Regeln des Rechts“, wobei „[d]as Princip der Freiheit […] von aller Erfahrung unabhängig [ist], weil die Vernunft dem Menschen die Gesetze der Verpflichtung auferlegt“.²⁹¹ Entsprechend bestimmt Kant an späterer Stelle, dass: [d]ie moralische Gesetzgebung […] die Gesetzgebung der Vernunft des Menschen [ist], als welche in Ansehung aller Gesetze die Gesetzgeberin und zwar durch sich selbst ist. Dies ist die Autonomie der Vernunft, nach welcher sie nämlich die Gesetze der freien Willkür durch eigene und von allem Einfluß unabhängige Gesetzgebung bestimmt, und das Princip der Autonomie der Vernunft ist also die selbsteigene Gesetzgebung der Willkür durch die Vernunft.²⁹²
Nur sofern der Mensch ein autonomes und insofern transzendental freies Wesen ist,²⁹³ ist er überhaupt moralischer und damit rechtlicher Verpflichtung fähig.²⁹⁴ Diese Freiheit ist ratio essendi des Rechtsgesetzes. Und umgekehrt ist das Bewusstsein der Rechtsverbindlichkeit ratio cognoscendi der Freiheit:
Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1321 f. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 480. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 499. Vgl. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 505: Der Mensch muss „als ein intelligibeles Wesen [sc. betrachtet werden], d.i. als ein Wesen, so von allem Einfluß der Sinnlichkeit unabhängig festgestellt werden […]. Man nennt diese Seite Noumenon. In dieser Qualität sind die Bestimmungsgründe seiner Handlung von aller Zeit und Raum unabhängig, und die Causalität seiner Handlungen ist durch bloße Vernunft vorhanden. Nur allein in dieser Qualität kann er frei seyn, da er nur insofern absolute Spontaneität hat, seine Handlungen auf die Autonomie der Vernunft gegründet sind, und deren Bestimmung categorisch ist.“ Vgl. im Ergebnis ebenso Gregor 1963, S. 32: „More specifically, Kant’s analysis of the supreme moral principle concludes that the notion of moral autonomy is the foundation of all moral concepts. Man is represented, through the categorical imperative, as an agent who can and ought to determine every free action according to a priori principles of practical reason, and any rule of conduct which can be called ‚moral‘ must have its source in the practical activity of this pure reason.“
3.5 Die Alternativlosigkeit einer kritischen Rechtsbegründung bei Kant
147
Der Begriff dessen, was Recht ist, oder die Vernunftidee der Verpflichtung, worauf die Metaphysic der Sitten gebauet sein muß, [sc. ist] auf Realität gegründet: denn da sie die Vernunft unbedingt gebietet, so muß sie an sich möglich sein.²⁹⁵
3.5 Die Alternativlosigkeit einer kritischen Rechtsbegründung bei Kant Doch ist bei Kant die hier vorgeschlagene Lesart einer kritischen Rechtsbegründung alternativlos? Jenseits einer starken Unabhängigkeitsthese, die jegliche Möglichkeit einer Rückführung bzw. Ableitung der Kantischen Rechtsphilosophie aus der kritischen Moralphilosophie abstreitet, behaupten Vertreter einer schwachen Unabhängigkeitsthese lediglich, dass neben einem kritischen Rechtsverständnis auch eine alternative Rechtsbegründung ausgehend von Kantischen Prinzipien möglich sei.
3.5.1 Rechtsbegründung und psychologische Freiheit Eine solche alternative Begründungsstrategie versucht, die Unabhängigkeit der Kantischen Rechtslehre von der kritischen Moralphilosophie über den Begriff der Willkürfreiheit auszuweisen. Hierfür wird die Unterscheidung zwischen positivem und negativem Begriff der Willkürfreiheit im Lichte der Unterscheidung von transzendentaler und praktischer Freiheit interpretiert, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft vornimmt. Der negative Begriff der Freiheit der Willkür erfordere lediglich praktische Freiheit im Sinne der ersten Kritik.²⁹⁶ Hiernach ist ein Wesen
MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 480. Vgl. so explizit etwa Ebbinghaus 1986c-1994, S. 296 f.; Baum 2005, S. 37– 39, erneut Baum 2008, S. 49 – 52; Geismann 2006, S. 10 – 17 und – obgleich kein Unabhängigkeitstheoretiker – Steigleder 2002, S. 4– 18 und S. 109. Darüber hinaus scheinen andere Autoren implizit ebenfalls auf ein solches Freiheitsverständnis zu rekurrieren. Exemplarisch lassen sich hier etwa Ripstein 2004, S. 39 f. oder Pogge 2002, S. 149 anführen, die die Freiheit der Willkür als Zwecksetzungsfähigkeit (≈ praktische Freiheit i. S. d. KrV) verstehen wollen. Die genannten Autoren lesen Kants Unterscheidung zwischen einem positiven und negativen Begriff von etwas (hier von Freiheit) als Unterscheidung zwischen einem positiven und negativen Gegenstand (hier verschiedene Arten der Freiheit). Sie beziehen den negativen Begriff der Willkürfreiheit auf die empirisch bedingte praktische Vernunft und erst den positiven Begriff der Willkürfreiheit als das „Vermögen der reinen Vernunft für sich selbst praktisch zu sein“ (RL, AA VI, S. 213) auf das Autonomietheorem und die transzendentale Freiheitslehre. Auch unabhängig vom spezifisch rechtlichen Kontext findet sich eine solche Lesart, etwa bei Schadow 2013a, S. 178 – 187, nach der (ebd., S. 182)
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3 Kants Rechtsphilosophie als Teil seiner kritischen Moralphilosophie
praktisch frei, wenn es durch sinnliche Antriebe nicht determiniert, sondern nur affiziert wird und sich durch Vernunft von diesen distanzieren kann. Reine praktische Vernunft ist für einen solchen Vernunftgebrauch nicht erforderlich. Hinreichend ist empirisch bedingte praktische Vernunft, welche einen Teil ihrer Bestimmungen von außen (von Trieben, Bedürfnissen etc.) erhält. Hiervon ausgehend wird die Unabhängigkeit der Rechtslehre von Kants übriger kritischer Moral- und Transzendentalphilosophie damit begründet, dass sich Recht ausschließlich auf den so verstandenen negativen Begriff der Willkürfreiheit beziehe. Recht erfordere nur die empirisch nachweisbare Fähigkeit, sich selbst nach Zwecken bestimmen zu können, nicht jedoch die transzendentale Freiheit und sittliche Autonomie der Rechtssubjekte.²⁹⁷ Kants Rechtsphilosophie setze daher
„Handlungen gegen die Forderung des moralischen Gesetzes zwar kein Ausdruck des positiven Gebrauchs der Freiheit als Autonomie [sind], aber […] frei in dem Sinne [sind], dass sie nicht allein auf Naturgesetzlichkeiten beruhen, sondern auf die grundlegende Fähigkeit rationaler Wesen zurückgehen, nach vernünftiger Überlegung handeln zu können und durch sinnliche Reize nicht unmittelbar auf ein bestimmtes Verhalten festgelegt zu sein“. Vgl. mit teilweise ähnlichen Gedanken Engström 2002, S. 294 f.; Klar 2007, S. 20 f.; Baum 2013b, S. 136 und Zimmermann 2015, S. 85 – 87. Dieser Ansicht habe zunächst auch ich (vgl. Hirsch 2012a, S. 38 f.) beigepflichtet. Diese Auffassung wird hiermit revidiert. – Vgl. ferner allgemein zu den Freiheitsbegriffen in der KrV und der Grundlegung oben S. 38 – 46. Vgl. außerdem zur Unterscheidung von empirisch bedingter praktischer Vernunft und reiner praktischer Vernunft KpV, AA V, S. 15 f. und S. 31 f. und dazu Höffe 2002, S. 6 sowie unter Bezugnahme auf das Recht Bartuschat 2008, S. 32 f. und Geismann 2006, S. 6 – 14. Diese Interpretation der Rechtslehre geht vor allem auf Ebbinghaus 1986d-1994, S. 168 zurück: „Das Problem aber der Freiheit des Willens beginnt erst jenseits der Rechtslehre […].“ Recht sei von der kritischen Moralphilosophie unabhängig, weil es mit dem negativen Begriff der Willkürfreiheit nur praktische Freiheit i. S. d. KrV verlange, vgl. Ebbinghaus 1986c-1994, S. 296 – 298: „Die dabei [sc. beim Recht] von ihm [sc. Kant] in Anspruch genommene Freiheit ist diejenige Freiheit, die jeder Mensch bei sich selber voraussetzt, wenn er sich mit Bezug auf gewisse Zwecke […] zur Begehung oder Unterlassung irgend welcher Handlungen bestimmt. […] Daraus ergibt sich der Begriff der praktischen Freiheit des Menschen als der ‚negative Begriff‘ der ‚Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit‘ (Kr. d. r. V. B 562). […] Was aber die ‚sittliche Freiheit‘ anlangt, deren Gesetz das der Selbstgesetzgebung der reinen praktischen Vernunft sein müßte, so ist deren Möglichkeit in keiner Weise die Voraussetzung für die Gültigkeit des von Kants Rechtslehre vorausgesetzten negativen Freiheitsbegriffs. […] [S]o bedeutet die Eingeschränktheit der Kantischen Rechtslehre auf den negativen Begriff der Freiheit der menschlichen Willkür zugleich die Unabhängigkeit dieser Rechtslehre von der kritischen Philosophie überhaupt und ihrem transzendentalen Idealismus.“ Die Unabhängigkeitsthese Ebbinghaus’scher Prägung wird heute vor allem noch von Geismann 1974, S. 3 mit Fn. 7 und zuletzt ausführlich Geismann 2006, S. 64– 88 vertreten. Ähnlich äußerte sich zeitweise der EbbinghausSchüler Oberer 1973, S. 98 f., der sich aber später hiervon distanziert und eine Abhängigkeit des Rechts von der kritischen Moralphilosophie favorisiert, vgl. Oberer 1997 und Oberer 2010. Ausdrücklich in Anschluss an Ebbinghaus positioniert sich auch Pogge 1997, erneut Pogge 2002.
3.5 Die Alternativlosigkeit einer kritischen Rechtsbegründung bei Kant
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nicht notwendig seine kritische Moralphilosophie voraus, sondern sei bereits aus sich heraus verständlich.²⁹⁸ Obwohl die Begründungen hierfür im Einzelnen differieren, lautet die Quintessenz der Argumentation wie folgt: Der Mensch sieht sich – unter dem Eindruck der beständigen Möglichkeit der Kollision seiner Zwecksetzungen mit Handlungen bzw. Zwecksetzungen anderer – genötigt, sich in einen rechtlichen Zustand zu fügen, welcher einen ungestörten Willkürgebrauch nach allgemeinen Gesetzen gewährleistet. Da der Mensch vernunftnotwendig seine eigenen Zwecke realisieren will, muss er auch das Recht als Möglichkeitsbedingung allgemeingesetzlich denkbarer Zweckrealisation wollen.²⁹⁹
Inhaltlich ähnliche Einlassungen finden sich auch schon bei Reich 2001, S. 157 und außerdem bei Baum 2005, insb. S. 37– 43, erneut Baum 2007, S. 226. Aber auch Autoren, die sich ausdrücklich von einer Ebbinghaus’schen Unabhängigkeitsthese distanzieren, stellen – insofern Ebbinghaus ähnlich – die arbiträre Willkürfreiheit als die Fähigkeit beliebiger Zwecksetzung (und damit die Unabhängigkeit von der transzendentalen Freiheit) als Spezifikum des Rechts heraus. Vgl. etwa Horn 2009, S. 410, erneut Horn 2014, S. 50 – 53 und S. 171 oder Höffe 1979b, S. 32 f.: „[J]ede Argumentationsstrategie [ist] zu kritisieren, […] die auf den transzendentalen Begriff der Freiheit, den Begriff der Autonomie des Willens, oder auf das Sittengesetz im spezifischen Sinn der Tugendlehre […] rekurriert. […] Die Rechtslehre geht von der Willkürfreiheit endlicher Vernunftwesen, das heißt von der Fähigkeit aus, sich selbst Zwecke setzen und sie mit den für sinnvoll erachteten Mitteln und Wegen verfolgen zu können.“ Vgl. erneut Höffe 2007, S. 218 und Höffe 1999a, S. 50, gleichwohl das Recht in einem weiteren Sinne dem kategorischen Imperativ zuordnend Höffe 1990, S. 16 – 22. Vgl. Pogge 2002, S. 149: „This freestanding argument for Recht can be embedded in diverse comprehensive views. It can be embedded, for instance, in a Kantian morality […]. At another extreme, it can also be embedded in a Hobbesian prudential account: because my fundamental interest is to secure my external freedom against obstructing actions by others, I prudentially ought to contribute to the establishment and/or maintenance of Recht.“ Vgl. sich ähnlich im Sinne einer schwachen Unabhängigkeitsthese äußernd Ebbinghaus 1986b-1994, S. 172 f. und mit Einschränkungen Geismann 1974, S. 61. Ebbinghaus 1986d-1994, S. 167 begreift das Rechtsgesetz bei Kant als ein „Gesetze der Vereinigung aller in derjenigen (äußeren) Freiheit, deren sie bedürfen, wenn sie irgendwelche Zwecke, ganz gleich welche, sollen realisieren können. Einschränkung der Freiheit auf diejenigen Bedingungen, unter denen sie mit der von jedermann in einer möglichen gesetzlichen Übereinstimmung steht – das heißt ja soviel wie: Einschränkung Deiner (natürlichen) Freiheit auf diejenigen Bedingungen, unter denen allein Du selbst und alle anderen mit Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit frei sein können (von aller willkürlichen Störung ihres äußeren Tuns).“ Recht sei verbindlich, weil der Mensch sich „unmöglich […] eine Freiheit im Widerspruche mit dem Gesetze vorbehalten wollen [kann], mit dem in Übereinstimmung er selber allein auf eine notwendige und allgemeingültige Weise frei sein kann“. Vgl. bei im Detail unterschiedlicher Argumentation im Ergebnis ebenso Geismann 1974, S. 56 und ausführlich Geismann 2006, S. 72– 88 sowie Pogge 2002, S. 146 f.
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3 Kants Rechtsphilosophie als Teil seiner kritischen Moralphilosophie
Einer solchen, vermeintlich alternativen Rechtsbegründung ist schon vielfach kritisch entgegengetreten worden.³⁰⁰ Aus meiner Sicht leidet sie vor allem an zwei schwerwiegenden Mängeln: Zweifelhaft ist schon die geschilderte Interpretation des Begriffs der Freiheit der Willkür, insofern hiernach positiver und negativer Begriff der Freiheit der Willkür eine unterschiedliche Extension hätten: In seiner positiven Bedeutung verwiese der Begriff letztlich auf transzendentale Freiheit, in seiner negativen hingegen auf praktische Freiheit im Sinne der Kritik der reinen Vernunft.Wenn Kant jedoch von einem positiven bzw. negativen Begriff spricht, so meint dies in der Regel³⁰¹ keinen unterschiedlichen Begriffsumfang, sondern lediglich eine unterschiedliche inhaltliche Bestimmung ein und desselben Gegenstands. Ein negativer Begriff von etwas wird dadurch gebildet, dass man von Prädikaten, die ihm nicht zukommen, abstrahiert. Der positive Begriff hingegen wird durch die Bejahung bestimmter Prädikate gebildet, womit auch ein unterschiedlicher Erkenntnisanspruch verbunden ist.³⁰² Z. B. lautet der Begriff des Verstandes in negativer Bedeutung „ein nichtsinnliches Erkenntnißvermögen“, in positiver Bedeutung hingegen „e i n Ve r m ö g e n z u u r t h e i l e n“.³⁰³ Nun lässt sich von transzendentalen Ideen, weil sie für uns in spekulativer Hinsicht übersinnlich sind,³⁰⁴ grundsätzlich nur der negative Begriff angeben. So lässt sich von der Seele nur sagen, sie sei nichtsterblich und unkörperlich,³⁰⁵ und von Gott, er sei
Am überzeugendsten hat m. E. Tretter 1997 eine solche Lesart widerlegt. Vgl. im Übrigen kritisch statt vieler Kersting 1984, S. 35 – 42 und Kühl 1984, S. 63 – 110, jeweils m. w. N. Vgl. zu einem anders gelagerten Fall unten Kap. 3, Fn. 308. Vgl. Kants Unterscheidung von negativen, bejahenden und unendlichen Urteilen in KrV, A 72 f./B 97 f. Ein negativer Begriff entsteht durch ein negatives Urteil, indem mindestens ein Prädikat eines Gegenstandes negiert wird. Dies ist eine rein logische Bestimmung. Sobald aber von dem negativen Begriff von etwas die Rede ist, geht hiermit eine ontologische Bestimmung einher. Denn hierdurch wird das unendliche Urteil präsupponiert, dass es ein Ding gibt,welches durch ein mögliches Prädikat bestimmt ist, welches nicht das negierte ist (vgl. hierzu auch KrV, A 571– 576/ B 599 – 604). Durch die Redeweise eines negativen Begriffs von etwas wird also eine Sphäre möglicher Bestimmung durch andere Prädikate, die nicht das negierte sind, eröffnet, womit freilich keine Erkenntniserweiterung einhergeht. Dies ist erst der Fall, wenn durch ein bejahendes Urteil als Explikation eines positiven Begriffs eindeutige Prädikate affirmativ zugeschrieben werden können. Vgl. hierzu auch Ludwig 2013b, S. 273 f. KrV, A 67– 69/B 92– 94. D. h., ihre Realität lässt sich nicht empirisch erweisen, insofern ihnen keine Anschauung korrespondiert. Vgl. KpV, AA V, S. 3 – 7. KrV, A 72/B 97 f. sowie A 798 f./B 826 f., kursive Hervorhebung P.-A. H.: „[U]nser Begriff einer unkörperlichen Natur [ist] bloß negativ […] und [erweitert] unsere Erkenntniß nicht im mindesten […].“
3.5 Die Alternativlosigkeit einer kritischen Rechtsbegründung bei Kant
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unendliche Kraft, unendlicher Verstand etc. ³⁰⁶ Gleichermaßen lässt sich auch von der transzendentalen Idee der Freiheit spekulativ nur ein negativer Begriff bilden: Unabhängigkeit der Willkür von aller Bestimmung durch sinnliche Antriebe. Jedoch wird unsere Erkenntnis der Freiheit in praktischer Hinsicht durch das Faktum der Vernunft erweitert und gestattet – im Gegensatz zu den Ideen von Gott oder der Unsterblichkeit der Seele – eine positive Begriffsbestimmung: autonome Bestimmung der Willkür durch die gesetzgebende, reine praktische Vernunft.³⁰⁷ Folglich sind, ebenso wie durch einen positiven und negativen Begriff von Gott nicht zwei verschiedene Götter beschrieben werden, in der Metaphysik der Sitten der negative und positive Begriff der Freiheit der Willkür nicht extensional verschieden.³⁰⁸ Vielmehr wird lediglich in unterschiedlicher Weise auf das verwiesen,
Vgl. Religionsphilosophie-Volckmann, AA XXVIII, S. 1166 – 1171, ebd. S. 1169: „Die [sc. anthropomorphen] Schranken müssen also zuerst weggelassen werden“, sodass Gott „nicht bloß eine Kraft, sondern eine unendliche Kraft, nicht bloß Verstand, sondern ein unendlicher Verstand“ ist. Vgl. ferner Metaphysik-Pölitz, AA XXVIII, S. 324 f. und Danziger Rationaltheologie, AA XXVIII, S. 1248. Im Übrigen erfolgen positive Beschreibungen Gottes im Wege der Analogie, vgl. z. B. Metaphysik-Pölitz, AA XXVIII, S. 330 f. und Religionsphilosophie-Volckmann, AA XXVIII, S. 1170 f. Diese Erkenntniserweiterung ist dem Faktum der Vernunft zu verdanken, insofern wir aus dem Bewusstsein der Verpflichtung nach dem Sittengesetz auf unsere sittliche Freiheit als Autonomie schließen können.Vgl. hierzu KpV, AA V, S. 30 – 34 sowie S. 47: „Das moralische Gesetz ist in der That ein Gesetz der Causalität durch Freiheit und […] bestimmt also das, was speculative Philosophie unbestimmt lassen mußte, nämlich das Gesetz für eine Causalität, deren Begriff in der letzteren nur negativ war, und verschafft diesem also zuerst objective Realität.“ Vgl. dazu ausführlich oben S. 46 – 48 und S. 141– 145. Hierbei sei klargestellt, dass es sich lediglich um eine Erkenntniserweiterung in praktischer Hinsicht handelt, welche kein Stück zu einer theoretischen Erkenntnis der Freiheit weiterhilft. Vgl. KpV, AA V, S. 134– 142 und auch KdU, AA V, S. 474, kursive Hervorhebung P.-A. H.: „Es bleibt hiebei immer sehr merkwürdig: daß unter den drei reinen Vernunftideen, G o t t , F r e i h e i t und U n s t e r b l i c h k e i t , die der Freiheit der einzige Begriff des Übersinnlichen ist, welcher seine objective Realität (vermittelst der Causalität, die in ihm gedacht wird) an der Natur durch ihre in derselben mögliche Wirkung beweiset […]; und daß wir also in uns ein Princip haben, welches die Idee des Übersinnlichen in uns, dadurch aber auch die desselben außer uns zu einer, obgleich nur in praktischer Absicht möglichen, Erkenntniß zu bestimmen vermögend ist, woran die bloß speculative Philosophie (die auch von der Freiheit einen bloß negativen Begriff geben konnte) verzweifeln mußte […].“ Um Missverständnisse an dieser Stelle zu vermeiden: Der positive und negative Begriff der Freiheit der Willkür sind für den Menschen extensional gleich, weil in beiden Fällen das gleiche menschliche Vermögen beschrieben wird. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass positive und negative Begriffe stets extensional gleich sind. Grundsätzlich kann die Extension eines positiven Begriffes (im Falle seiner Objektivität) auch nur eine Teilmenge der Extension des negativen Begriffs sein. Z. B. kann dem negativen Begriff der Freiheit als nicht-sinnlich bedingte Kausalität – neben dem als Autonomie bestimmten positiven Begriff der Freiheit – nach Kant auch der uns
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3 Kants Rechtsphilosophie als Teil seiner kritischen Moralphilosophie
was Kant in der ersten Kritik die transzendentale Idee der Freiheit nennt und dann seit der Grundlegung in praktischer Hinsicht als sittliche Autonomie ausweist.³⁰⁹ Unabhängig hiervon bestehen aber auch inhaltliche Bedenken gegen die vorgestellte unabhängigkeitstheoretische Lesart. Indem diese für Kants Rechtsphilosophie lediglich die Fähigkeit verlangt, sich nach selbstgesetzten Zwecken bestimmen zu können (d. h. einen empirisch bedingten Vernunftgebrauch i. S. d. praktischen Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft),³¹⁰ rekurriert sie auf einen Freiheitsbegriff, den Kant selbst spätestens mit Erscheinen der Grundlegung aufgegeben hat.³¹¹ In der ersten Kritik geht Kant noch davon aus, dass sich die freie Willkür in der Fähigkeit erschöpft, zweckhaft zu handeln und nicht unmittelbar sinnlich determiniert zu sein. Diese praktische Freiheit ist empirisch nachweisbar
notwendig unbekannte positive Begriff einer kosmologisch-notwendigen absoluten Spontaneität (vgl. KrV, A 444– 446/B 472– 474) korrespondieren. Vgl. so auch Ludwig 2013b, S. 274 mit Fn. 6. Vgl. mit ähnlicher Beobachtung Gregor 1963, S. 25: „Apart from moral considerations, we have a negative concept of freedom which arises from theoretical reason’s reflection upon necessity. But his theoretical concept of a will which is not determined by anything outside itself is altogether negative, empty and problematic. In order to give content to the Idea of freedom and at the same time to establish, sufficiently for practical purposes, the reality of our freedom, we must turn to our consciousness of duty. […] Hence the positive concept of freedom, Kant concludes, is that of the power of practical reason to act upon a self-imposed law or, in other words, the concept of moral autonomy.“ Ein unmittelbares Zeugnis hiervon haben wir in MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 494. Danach ist für Kant der Mensch, „insofern sinnliche Triebe auf ihn wirken, auch nur blos passiv […]. Dagegen die motive finden nur insofern Statt, als der Mensch als ein freies Wesen gedacht wird […]. Sie nehmen ihren Grund aus der Spontaneität des menschlichen Willens, die durch Vernunftvorstellungen, ganz unabhängig von allen bestimmenden Ursachen der Natur, mithin blos durch das moralische Gesetz, geleitet wird.“ Hiervon ausgehend definiert Kant den negativen und positiven Begriff der Freiheit der Willkür nahezu identisch mit der Metaphysik der Sitten von 1797: Denn „[m]an kann […] das motivum […] arbitrium liberum nennen. Dieser Unterschied leitet nun […] zum Begriff der Freiheit, der n e g a t i v e in der Independenz der Willkür von aller Determination per stimulos besteht; – mithin p o s i t i v e die Spontaneität, oder das Vermögen ausmacht, sich selbst durch die Vernunft zu determiniren, ohne Triebfedern von der Natur zu bedürfen.“ Diesen positiven Begriff weist Kant dann (ebd., S. 505) als Autonomie aus: Der Mensch kann „[n]ur allein in dieser Qualität [sc. als intelligibles Wesen] […] frei seyn, da er nur insofern absolute Spontaneität hat, seine Handlungen auf die Autonomie der Vernunft gegründet sind, und deren Bestimmung categorisch ist.“ Teilweise bezeichnet Kant einen solchen Vernunftgebrauch im Gegensatz zu moralischpraktisch auch als technisch-praktisch, vgl. z. B. KpV, AA V, S. 26, Fn. *; KdU, AA VI, S. 172– 175; VA ZeF, AA XXIII, S. 163; MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 577 sowie RL, AA VI, S. 217 f. Auch Tretter 1997, S. 277 bezeichnet die „Definitionen der Begriffe der freien Willkür und der praktischen Freiheit […] mit der Entwicklung des positiv-praktischen Freiheitsbegriffes und des Prinzip der Autonomie des Willens in der GMS und KpV“ zu Recht als „überholt“ und bringt dies als Argument gegen eine unabhängigkeitstheoretische Lesart in Stellung. Vgl. die Entwicklung des Kantischen Freiheitsbegriffs ähnlich bewertend schon Meyer 1979, S. 171– 176 und S. 233 – 242.
3.5 Die Alternativlosigkeit einer kritischen Rechtsbegründung bei Kant
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und macht uns bereits zu möglichen Adressaten von Imperativen.³¹² Einen solchen Freiheitsbegriff charakterisiert Kant dann jedoch in der Kritik der praktischen Vernunft als „elende[n] Behelf“, da es […] bei der Frage nach derjenigen Freiheit, die allen moralischen Gesetzen und der ihnen gemäßen Zurechnung zum Grunde gelegt werden muß, darauf gar nicht an[kommt], ob die nach einem Naturgesetze bestimmte Causalität durch Bestimmungsgründe, die i m Subjecte, oder a u ß e r ihm liegen, und im ersteren Fall, ob sie durch Instinct oder mit Vernunft gedachte Bestimmungsgründe nothwendig sei.
Die Fähigkeit, sich durch empirisch bedingten Vernunftgebrauch nach Motiven zu bestimmen, wird von Kant nur noch als „psychologische Freiheit (wenn man ja dieses Wort von einer blos inneren Verkettung der Vorstellungen der Seele brauchen will)“ bezeichnet, welche „Naturnothwendigkeit bei sich führ[t], mithin keine t r a n s s c e n d e n t a l e F r e i h e i t übrig [lässt] […], ohne welche […] kein moralisch Gesetz, keine Zurechnung nach demselben möglich ist“.³¹³ Kurzum: Praktische Freiheit im Sinne der Kritik der reinen Vernunft unterliegt nach Kants revidierter eigener Auffassung als empirisch-psychologische Freiheit dem Gesetz der Naturkausalität und ist daher für die Begründung der kritischenpraktischen Philosophie unzureichend. Mit ihr können weder die Möglichkeit und Verbindlichkeit moralischer Gestze, noch die Zurechenbarkeit von Handlungen erklärt werden, da es hierfür – so die zentrale Einsicht von Grundlegung und Kritik
Vgl. KrV, A 802/B 830: „Diejenige [sc. Willkür] aber, welche unabhängig von sinnlichen Antrieben, mithin durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden, bestimmt werden kann, heißt die f r e i e W i l l k ü r (arbitrium liberum), und alles, was mit dieser, es sei als Grund oder Folge, zusammenhängt, wird p r a k t i s c h genannt. Die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden. Denn nicht bloß das, was reizt, d.i. die Sinne unmittelbar afficirt, bestimmt die menschliche Willkür, sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden […]“.Vgl. dazu oben S. 38 – 41. Damit übernimmt Kant in der KrV ein klassisches Lehrstück der empirischen Psychologie: „Da wir aber in der empirischen Psychologie die practische Freiheit erwiesen haben, nachdem wir frei sind von der Necessitatione a stimulis, so können schon dadurch die practischen Sätze statt finden; m i t h i n i s t i n A n s e h u n g d e s s e n d i e M o r a l s i c h e r, w e l c h e s a u c h u n s e r v o r n e h m s t e r Z w e c k i s t . “ (Metaphysik Pölitz, AA XXVIII, S. 269).Vgl. zum Ganzen auch Ludwig 2010, S. 604– 606. Zum Ganzen: KpV, AAV, S. 96 f. Ebd. bezeichnet Kant diese empirisch-psychologische Freiheit als die „Freiheit eines Bratenwenders […], der auch,wenn er einmal aufgezogen worden,von selbst seine Bewegungen verrichtet“.
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der praktischen Vernunft – der Autonomie (und damit der transzendentalen Freiheit) bedarf.³¹⁴ Dass Kant auch bei der Rechtsbegründung nicht mehr hinter diese zentrale Erkenntnis zurückfällt, zeigen die Begriffsbestimmungen der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“,³¹⁵ von denen ausgehend Kant den Rechtsbegriff entwickelt.Vor allem ist hier der zentrale Begriff Person zu nennen, dessen für das Recht maßgebliche Bestimmung nochmals in Gänze zitiert sei:³¹⁶ P e r s o n ist dasjenige Subject, dessen Handlungen einer Z u r e c h n u n g fähig sind. Die m o r a l i s c h e Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen […], woraus dann folgt, daß eine Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst giebt, unterworfen ist.³¹⁷
Indem Kant den moralischen Begriff des Rechts als Verhältnis zwischen Personen bestimmt, sind Rechtsgesetze als moralische und eo ipso autonom gegebene Gesetze ausgewiesen. Zurechnungsfähige Rechtsperson kann nur sein, wer den Anspruch erhebt, als autonomes Vernunftwesen unter diesen moralischen Gesetzen zu stehen.³¹⁸ Persönlichkeit ist für Kant „die Freiheit und Unabhängigkeit von Vgl. dazu oben S. 41– 49. Vgl. auch Oberer 2010, S. 381 und mit erhellenden Ausführungen zum Freiheitsbegriff Tretter 1997, S. 209 – 241 und S. 275 – 279, der – ohne die Koextensionalität von positivem und negativem Begriff der Freiheit der Willkür zu bemerken – gleichwohl (ebd., S. 276) zu Recht ausführt: „Der Kantische Begriff der freien Willkür gründet sich nämlich nicht auf einen negativ-empirischen, sondern auf den in der GMS und KpV entwickelten Begriff der positivpraktischen Freiheit. Denn eine freie Willkür ist eine solche, ‚die durch reine Vernunft bestimmt werden kann‘.“ Deren Inhalte (von der begrifflichen Präzisierung Wille – Willkür abgesehen) sind wie gezeigt nicht als theoretische Neuschöpfung zu verstehen, sondern geben vielmehr den Stand der praktischen Philosophie wieder, den Kant mit der Kritik der praktischen Vernunft erreicht hat. Dies gilt insb. für die „Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten (Philosophia practica universalis)“ (RL, AA VI, S. 221– 228) und unter diesen für den Freiheitsbegriff beim Recht (vgl. oben S. 139 – 143). Vgl. dazu bereits oben S. 55 – 57 und S. 75 – 77. RL, AA VI, S. 223. Denn „Person-sein ist nach Kant entscheidend durch den Bezug zu Verbindlichkeit und Herrschaft des Sittengesetzes konstituiert“ (Langthaler 1991, S. 80). Hiermit ist die Problematik verbunden, dass wir intersubjektiv keine Kenntnis der moralischen Persönlichkeit des anderen haben. Qua Ansprache durch das Sittengesetz wissen wir stets nur von unserer eigenen Personalität. Dass auch der andere Person, d. h. moralisch beachtlicher Akteur, ist, muss daher zwangsläufig von dessen Anspruch abhängig gemacht werden, selber Person zu sein, welcher Verbindlichkeiten und Rechte zukommen. Erhebt der andere diesen Anspruch, so müssen wir ihm – ggf. kontrafaktisch – Personalität zuschreiben.Vgl. dazu auch unten S. 162 f. mit Fn. 350.Vgl. mit freilich eigenen Überlegungen zur epistemischen Problematik der moralischen Relevanz des anderen auch Ricken 2000, S. 248 – 250 und Ludwig 2013b, S. 296 f. mit Fn. 38 sowie zur Praxis der
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dem Mechanism der ganzen Natur, doch zugleich als ein Vermögen eines Wesens betrachtet, welches eigenthümlichen, nämlich von seiner eigenen Vernunft gegebenen, reinen praktischen Gesetzen […] unterworfen ist“.³¹⁹ Persönlichkeit erfordert damit aber mehr als empirisch bedingte bzw. technisch-praktische Vernunftbegabung. Erst durch reine praktische Vernunftbegabung ist der Mensch Person und – entgegen der eingangs vorgestellten unabhängigkeitstheoretischen Lesart – als moralischer Akteur und Rechtssubjekt konstituiert: Wir können sie [sc. die Anlage des Guten] in Beziehung auf ihren Zweck füglich auf drei Klassen, als Elemente der Bestimmung des Menschen, bringen:1. Die Anlage für die Thierheit des Menschen, als eines lebenden; 2. Für die Menschheit desselben, als eines lebenden und zugleich vernünftigen; 3. Für seine Persönlichkeit, als eines vernünftigen und zugleich der Zurechnung fähigen Wesens.* […] *) […] Das allervernünftigste Weltwesen könnte doch immer gewisser Triebfedern, die ihm von Objecten der Neigung herkommen, bedürfen, um seine Willkür zu bestimmen; hiezu aber die vernünftigste Überlegung, sowohl was die größte Summe der Triebfedern, als auch die Mittel, den dadurch bestimmten Zweck zu erreichen, betrifft, anwenden: ohne auch nur die Möglichkeit von so etwas, als das moralische, schlechthin gebietende Gesetz ist, welches sich als selbst und zwar höchste Triebfeder ankündigt, zu ahnen.Wäre dieses Gesetz nicht in uns gegeben, wir würden es als ein solches durch keine Vernunft herausklügeln, oder der Willkür anschwatzen: und doch ist dieses Gesetz das einzige, was uns der Unabhängigkeit unsrer Willkür von der Bestimmung durch alle andern Triebfedern (unsrer Freiheit) und hiemit zugleich der Zurechnungsfähigkeit aller Handlungen bewußt macht.³²⁰
intersubjektiven Zuschreibung bestimmter Prädikate bei Kant bereits GMS, AA IV, S. 448 und KrV, A 346 f./B 404 f. KpV, AA V, S. 87. Vgl. dazu auch Ricken 2000, S. 238: „Die Persönlichkeit ist folglich ein Vermögen der Person, die also zugleich zur Sinnenwelt und zur intelligiblen Welt gehört. Die zur Sinnenwelt gehörende Person ist ihrer eigenen Persönlichkeit, aufgrund deren sie zur intelligiblen Welt gehört, unterworfen.“ Religion, AA VI, S. 26 mit Fn. *, kursive Hervorhebung P.-A. H. Hier macht Kant die Differenz zwischen technisch-praktischer versus reiner praktischer Vernunftbegabung des Menschen terminolgogisch an der Unterscheidung zwischen Menschheit und Persönlichkeit fest. Persönlichkeit ist nicht „schon in dem Begriff der vorigen [sc. Menschheit] enthalten, sondern man muß sie nothwendig als eine besondere Anlage betrachten“ (Religion, AA VI, S. 26, Fn. *). Vgl. dazu auch Langthaler 1991, S. 80 f. Doch schon in MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 579 und S. 627 wird die Menschheit als „noumenon“, „als reine Intelligenz in Ansehung des dem Menschen beygelegten Vermögens der Freiheit und der Zurechnungsfähigkeit“ bestimmt und explizit mit der Persönlichkeit gleichgesetzt: „Die Menschheit aber ist ein an sich unverletzbares Heiligtum; in demselben ist meine Persönlichkeit, oder das Recht der Menschheit in meiner Person ebenso unverletzbar enthalten.“ Dies entspricht auch RL, AA VI, S. 239, wo Kant mit Menschheit den Menschen „nach der Eigenschaft seines Freiheitsvermögens, welches ganz übersinnlich ist“, bezeichnet und ihn als die „physischen Bestimmungen unabhängige Persönlichkeit (homo noumenon)“ vorstellt. Diese terminologische Verschiebung bedingt aber – wie die Zitate eindeutig
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Folgerichtig lassen sich weder die kategorische Verbindlichkeit des Rechts noch die Zurechenbarkeit rechtserheblicher Handlungen im Rekurs auf empirisch bedingte praktische Vernunft bzw. psychologische Freiheit – in Kants Worten – „herausklügeln, oder der Willkür anschwatzen“. Angesichts der bisherigen Ergebnisse ist auch die an dieser Stelle denkbare Entgegnung zurückzuweisen, für rechtmäßiges Verhalten sei doch ein empirisch bedingter Vernunftgebrauch hinreichend, da Recht ja gerade auf eine Triebfederbestimmung durch reine praktische Vernunft verzichte. Denn dies trifft nur auf das Wie der Befolgung von Rechtspflichten zu, wofür in der Tat die Fähigkeit, sein Handeln nach Zwecken zu bestimmen (d. h. technisch-praktische Vernunft), ausreicht. Davon unangetastet verlangt jedoch das Ob der Pflichtkonstitution – wie hinlänglich gezeigt –³²¹ Autonomie und damit reine praktische Vernunft der Pflichtunterworfenen.³²² Verzichtet man hierauf und versucht, die Rechtsgeltung allein auf die Möglichkeit allgemeingesetzlich denkbarer Zweckrealisation zu stützen,³²³ entzieht man also dem Recht seinen verbindlichkeitstheoretischen Boden und degradiert es zu einem bloßen Klugheitskalkül. Deutlich lässt sich dies anhand der (ironischerweise gerne von Unabhängkeitstheoretikern bemühten) Passage zum Volk von Teufeln aus der Friedensschrift ausweisen: Auch wenn rechtliches Handeln „selbst für ein Volk von Teufeln“ möglich ist, so hätte es doch nie einen Begriff von Rechtsverbindlichkeit oder Rechtspflicht: Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar und lautet so: »Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesammt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber ingeheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten.«³²⁴
belegen – keine sachliche Veränderung. Maßgeblich für die Befähigung als moralischer Akteur bleiben hier wie dort Autonomie bzw. sittliche Freiheit. – Vgl. i. Ü. zur Unterscheidung gegenüber der Menschheit als Gattungsbegriff bei Kant Ricken 2000, S. 239 f. Vgl. ausführlich oben S. 111– 117 m. w. N. Vgl. im Ergebnis ähnlich Kersting 1984, S. IX: „Die dem Recht eigentümlichen Momente der Äußerlichkeit, der Gesinnungsgleichgültigkeit und der Erzwingbarkeit dürfen nicht als Anzeichen seiner Geltungsunabhängigkeit von der Konzeption reiner praktischer Vernunft und dem in ihr fundierten Begriff des praktischen Gesetzes gelesen werden […].“ Vgl. oben S. 149 mit Fn. 299. ZeF, AA VIII, S. 366.
3.5 Die Alternativlosigkeit einer kritischen Rechtsbegründung bei Kant
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Teufel (also zweckrationale, jedoch weder transzendental freie noch autonome Wesen)³²⁵ können zwar einem äußeren Zwangsmechanismus unterworfen werden, der – trotz egoistischer Eigeninteressen – ein prudentiell-rechtmäßiges Verhalten garantiert. Jedoch ist dies allenfalls ein Staat im technischen Sinne, der rein gar nichts zur moralischen Notwendigkeit von Recht und Staat (d. h. zum Staat im moralischen Sinne, zu dem eine Rechtspflicht besteht) beiträgt. Dies sagt Kant selbst, wenn er den Teufels-Staat im Kontext der Naturgarantie des ewigen Friedens für das Staatsrecht verhandelt. Denn letztere antwortet lediglich auf die Frage, [w]as die Natur […] zu Begünstigung seiner m o r a l i s c h e n A b s i c h t thue, und wie sie die Gewähr leiste, daß dasjenige, was der Mensch nach Freiheitsgesetzen thun s o l l t e , aber nicht thut, dieser Freiheit unbeschadet auch durch einen Zwang der Natur, daß er es thun w e r d e , gesichert sei […]. – Wenn ich von der Natur sage: sie will, daß dieses oder jenes geschehe, so heißt das nicht soviel als: sie legt uns eine Pflicht auf, es zu thun (denn das kann nur die zwangsfreie praktische Vernunft), sondern sie thut es selbst, wir mögen wollen oder nicht (fata volentem ducunt, nolentem trahunt).³²⁶
Der Teufels-Staat belegt lediglich, dass die verständigen Teufel aus klug kalkuliertem Eigennutz für Recht und Staat optieren werden und somit „die Natur dem […] in der Vernunft gegründeten Willen […] gerade durch jene selbstsüchtige Neigungen zu Hülfe [kommt]“.³²⁷ Jedoch möchte Kant hierdurch nicht die Frage der moralischen Verbindlichkeit des Rechts und der Pflicht zur Staatsbegründung antasten, geschweige denn lösen.³²⁸ Die Teufels-Passage als Beleg gegen eine kritische Rechtsbegründung ins Feld zu führen,³²⁹ würde ihren Sinn also geradezu Gemeint ist der verständige Teufel der Friedensschrift, der lediglich über technisch-praktische Vernunft verfügt, nicht jedoch der Teufel der Religionsschrift, der den „Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder“ macht (Religion, AA VI, S. 35). Vgl. zu dieser Unterscheidung Niesen 2001, S. 584 f. ZeF, AA VIII, S. 365, fette Hervorhebung P.-A. H. ZeF, AA VIII, S. 366. Dass der Mensch von seinen selbstsüchtigen Eigeninteressen getrieben (insofern dem Teufeln gleichend) natürlicherweise zur Begründung von Recht und Staat genötigt und durch die wechselseitige Zwangsandrohung in Schranken gehalten wird, erklärt lediglich wie Recht und Staat – unabhängig von der Frage der moralischen Pflicht hierzu – entstehen können. Diese Naturgarantie trägt aber nach Kants eigener Aussage nicht das Mindeste zu der für eine praktische Philosophie einzig maßgeblichen Frage der Rechtfertigung und moralischen Begründung derselben bei. Vgl. so auch Horn 2014, S. 194 f. Vgl. beispielhaft Pogge 2002, S. 150: „This passage shows clearly, I believe, that Kant wants his argument for Recht, and for a republican instantiation thereof, to be independent from his morality. This morality […] does not […] have a special status with respect to Recht, because it is, as the quote shows, just as true that selfishness gives its immoral adherents selfish reasons for
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ins Gegenteil verkehren: Das Rechtsproblem sänke von dem moralischen Problem einer apriorischen Rechtsbegründung hin zu einem bloß technisch-praktischen Problem und einem reinen Klugheitskalkül herab.³³⁰ Recht würde zur rein pragmatischen Aufgabe für die empirisch bedingte praktische Vernunft, welche jedoch – nach Kants eigener Ansicht – nicht zur Begründung moralischer Gesetze³³¹ und eines moralischen Begriffs von Recht und Staat³³² geeignet ist. Mithin hat für ein Volk von Teufeln jede Redeweise von Rechtspflicht und Rechtsverbindlichkeit ihren Sinn verloren, denn „uns eine Pflicht auf[legen], […] das kann nur die zwangsfreie praktische Vernunft“,³³³ nicht jedoch ein Klugheitskalkül. Nach letzterem ist rechtliches Handeln nur hypothetisch geboten, nämlich insofern es dem eigenen Interesse an der Selbsterhaltung und Freiheitswahrung förderlich ist.³³⁴ Demgegenüber kann man von den Menschen allein als autonomen und eo ipso transzendental freien Vernunftwesen sagen, dass sie „apriori unter der Verpflichtung [stehen], ihre Verhältnisse nach den Regeln des Rechts zu gestalten“.³³⁵ Der Mensch unterliegt qua reiner praktischer Vernunft einem kategorischen Rechtsgebot, dessen Außerachtlassung pflichtwidrig wäre. Dies ist der Kern von Kants praktischer Philosophie: „Wenn man annimmt, daß r e i n e Vernunft einen praktisch, d.i. zur Willensbestimmung hinreichenden Grund in sich enthalten könne, so giebt es praktische Gesetze; wo aber nicht, so werden alle praktische Grundsätze bloße Maximen sein.“³³⁶
supporting Recht and a republican constitution in particular.“ Vgl. ähnlich Pasini 1974, S. 678 f., der den Staat nicht für eine „Schöpfung des sittlichen Willens, i. e. eine moralische Einrichtung, sondern nur die Schöpfung des egoistischen Willens der Menschen“ hält.Vgl. auch – obgleich mit Einschränkungen – Niesen 2001, S. 583 – 604; Kräft 2011, S. 85 – 104 und Horn 2009, S. 404– 406, jetzt aber anders Horn 2014, S. 194 f. und S. 310. Treffend formuliert Langthaler 1991, S. 16: „Damit wäre […] die Frage: ‚Was soll ich tun?‘ im Grunde zu dem Kalkül ‚Was tun?‘ herabgesunken, das Rechtsproblem wäre […] als dasjenige der ‚reinen praktischen Vernunft‘ geradewegs eliminiert.“ Vgl. KpV, AA V, S. 20. Vgl. § B der „Einleitung in die Rechtslehre“ (RL, AA VI, S. 230 und dazu oben S. 55 – 59) und mit Blick auf den Staat ZeF, AA VIII, S. 377, wo Kant das „Problem[s] des Staats-, Völker- und Weltbürgerrechts“ im Sinne einer „bloße[n] Ku n s t a u f g a b e (problema technicum)“ als schlichtes „Staats-Klugheitsproblem“ qualifiziert, welchem er die „s i t t l i c h e A u f g a b e (problema morale)“ des ewigen Friedens „als eine[m] aus Pflichtanerkennung hervorgehenden Zustand“ konträr gegenüberstellt. ZeF, AA VIII, S. 365 – nach meiner Interpretation die Quintessenz aus der Teufels-Passage. Vgl. ähnlich Brandt 2012, S. 317– 323; Oberer 2010, S. 387; Tretter 1997, S. 282– 285; Langthaler 1991, S. 18 f.; Kersting 1984, S. 23 f. und Nagl 1983, S. 289. Kersting 1983c, S. 297. KpV, AA V, S. 19.
3.5 Die Alternativlosigkeit einer kritischen Rechtsbegründung bei Kant
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Zusammenfassend lässt sich festhalten: Unabhängig von der Inadäquatheit der Auslegung des Begriffs einer »negativen Willkürfreiheit« als bloße Zwecksetzungsfähigkeit empirisch bedingter praktischer Vernunft, lässt sich die eingangs geschilderte Interpretation auch aus verbindlichkeitstheoretischer Sicht nicht aufrechterhalten: Sie kann ausgehend von Kantischen Prinzipien nicht erklären, warum Recht gilt und moralische Verbindlichkeit hat. Soll Recht ein praktisches Gesetz sein und nicht eine bloße Klugheitsregel, bedarf es reiner praktischer Vernunft und damit der sittlichen Autonomie der Pflichtunterworfenen.
3.5.2 Rechtsbegründung und das Problem räumlicher Koexistenz Schließlich lässt sich vor diesem Hintergrund der Versuch zurückweisen, die Unabhängigkeit des Rechts von der kritischen Moralphilosophie damit zu begründen, dass Kants Rechtslehre in besonderer Weise auf das Problem räumlicher Koexistenz antworte. Hierbei wird erneut darauf hingewiesen, dass Kant das Recht als „ein Postulat, welches gar keines Beweises weiter fähig ist“,³³⁷ einführt. Dies erkläre sich aus der Räumlichkeit bzw. Körperlichkeit rechtlicher Konflikte, die für Kants Rechtsdenken konstitutiv sei und eine Ableitung aus dem kategorischen Imperativ unmöglich mache: Der kategorische Imperativ arbeite nur auf der Ebene begrifflicher Widerspruchsfreiheit der eigenen Maximen und sei daher ungeeignet zur Problembeschreibung bzw. -lösung rechtlicher Konflikte, welche sich nur anschauungsmäßig, in Raum und Zeit darstellen ließen. Während sich der kategorische Imperativ auf die innere, nicht-relationale Maximenbestimmung beziehe, müsse das Recht auf das Problem äußerer, relationaler Handlungskonflikte antworten. Daher bedürfe es eines Postulats der praktischen Vernunft, welches die raum-zeitliche Existenz von Personen in einer räumlich beschränkten Außenwelt unter allgemeine Gesetze bringe.³³⁸ Jedoch zeigen die bisherigen Ergebnisse, dass RL, AA VI, S. 231. Vgl. dazu schon oben S. 101– 106. Diese Position vertritt maßgeblich Ripstein 2009, S. 355 – 388, aber auch schon Ripstein 2004. Ohne Ripsteins detailreiche Argumentation umfassend aufarbeiten zu können, lautet seine zentrale These, vgl. Ripstein 2009, S. 368 – 376: „[T]he Categorical Imperative grounds the demand for consistency with others in the requirement of consistency in your own maxim. […] [Sc. It cannot] generate the Universal Principle of Right,which authorizes coercion. […] [Sc. One can], however, do so by means of a postulate, that is, something that introduces a new set of incompatibility relations by applying moral concepts to things that are incompatible in a different way. The postulate of right does exactly that. […] The principle of right governs outer freedom, so a priori intuitions for it must conform to the form of outer intuition – space. Kant’s central claim is that we are rational beings who occupy space. This postulate is ‚incapable of further proof‘, because nothing would
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Räumlichkeit bzw. Körperlichkeit rechtlicher Konflikte weder eine kritische Rechtsbegründung über den kategorischen Imperativ in Frage stellen, noch als solche eine eigenständige Bedeutung für die Begründung der moralischen Geltung und Verbindlichkeit des Rechts haben. Zunächst zur Behauptung, Recht sei nicht vom kategorischen Imperativ ableitbar, da es äußere Handlungskonflikte bzw. Verletzungen des äußeren Handlungsspielraums unabhängig von der Maxime des Handelnden sanktioniere: Zutreffend ist, dass Recht auf die Regelung äußerer Handlungskonflikte abzielt und dabei vom Handlungsmotiv des Einzelnen abstrahiert. Jedoch verlangt es dabei stets, dass sich „[d]ie Maximen […] zu einer allgemeinen Gesetzgebung blos q u a l i f i c i r e n“, d. h. zumindest „einem Gesetz überhaupt nicht […] widerstreiten“.³³⁹ Daher ist nicht ersichtlich, inwiefern beim Recht ein Unterschied zu Handlungsgeboten nach dem kategorischen Imperativ bestehen soll. Denn jedes moralisch relevante Handeln ist für Kant ein Handeln nach Maximen, sodass jeder rechtlichen Handlungsbestimmung eine rechtsgesetzliche Maximenbestimmung unmittelbar zugrundeliegt. Jede Rechtsverletzung beinhaltet eine Übertretung kategorischer Rechtsverpflichtungen und damit eine rechtlich verwerfliche Maximenbildung. Folglich lassen sich rechtliche Verpflichtungen – wie bereits dargelegt worden ist – als Gebote nach dem kategorischen Imperativ erklären.³⁴⁰ Verhielte es sich anders, wäre es nach Kant nicht einmal möglich, etwaige Rechtsverletzungen zuzurechnen und jemanden hierfür verantwortlich zu machen. Denn ohne Rekurs auf die Maxime des Handelnden und die sie bestim-
qualify as a successful proof of it. It cannot be given a proof from concepts, because […] space is nonconceptual and cannot be reduced to any concept or relations between them. […] If no proof is available, then a postulate is required to introduce the norms governing the concept of an embodied rational being, that is, one that both occupies space and falls under laws of freedom. […] If space is governed by the part/whole relation rather than the concept/instance relation, then embodied rational beings can stand in a novel type of incompatibility relation to each other, in addition to the conceptual incompatibility of potential maxims that are the object of the Categorical Imperative. In particular, because they occupy space, the only way their activity can be rendered consistent under universal law is if they neither occupy nor interfere with the space occupied by others.“ TL, AA VI, S. 389. Vgl. dazu ausführlich oben S. 93 – 101 sowie S. 106 – 108. Vgl. auch mit ähnlichem Einwand Seel 2009, S. 81: „He [sc. Ripstein] is right that the Principle of Right prohibits inference with another person’s body as such. But does this mean that it prohibits a broader class of actions? This would be the case only if Kant had a concept of action according to which a person can act without acting on a maxim. […] [I]f we admit that he had no such conception we cannot follow Ripsteins’s argument. On the contrary, if everything we do is done on a maxim, by prohibiting acting on a certain kind of maxim the Categorical Imperative prohibits the same class of actions as does the Principle of Right.“
3.5 Die Alternativlosigkeit einer kritischen Rechtsbegründung bei Kant
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mende Verpflichtung nach einem kategorischen Imperativ können wir nicht von zurechenbaren Taten unter moralischen Gesetzen sprechen, sondern lediglich von bloßem, physischem Verhalten.³⁴¹ Die Inkompatibilität äußerer Handlungssphären bei Rechtskonflikten erfordert mithin keineswegs notwendig ein gegenüber dem kategorischen Imperativ eigenständiges Erklärungsprinzip. Aber ist angesichts dessen eine alternative Rechtsbegründung vielleicht gleichwohl möglich? ³⁴²
In RL, AA VI, S. 223 definiert Kant Tat als „eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht“ und betont, dass deren Auswirkungen, „zusammt der Handlung selbst […] zugerechnet werden [können], wenn man vorher das Gesetz kennt, kraft welches auf ihnen eine Verbindlichkeit ruht“. Vgl. gleichlautend ebd., S. 227 und dazu oben S. 56 f. Wenn Zurechnung Kenntnis der Verbindlichkeit erfordert, setzt dies seinerseits die Verpflichtung durch einen kategorischen Imperativ voraus, der – insofern es um Recht geht – eine negative Maximenbestimmung (Habilität zum allgemeinen Gesetz) enthält. Zurechenbare Rechtsverletzungen stellen mithin immer eine Verletzung des kategorischen Imperativs dar, gleichgültig ob dies vorsätzlich oder fahrlässig geschieht. Vgl. ebd., S. 223 f. Entsprechend definiert Kant rechtswidrige Schädigungen nicht nur als Verletzung des Rechts eines andern, sondern zugleich als Übertretung einer rechtlichen Pflicht, so z. B. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 690, kursive Hervorhebung P.-A. H.: „Eine jede laesio setzt eigentlich eine Verletzung eines Zwangsrechts des andern und Übertretung der Zwangspflicht gegen ihn voraus […].“ Unrecht im Sinne des § C der „Einleitung in die Rechtslehre“ erfordert also immer positives Wissen oder zumindest fahrlässige Unkenntnis der kategorischen Rechtsverpflichtung. Ein anschauliches Beispiel hierfür liefert Kant (Achenwall folgend, jedoch ihn in eigener Terminologie modifizierend) in Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1344 f., wonach einem gutgläubigen Finder der Verbrauch bzw. die Beschädigung einer fremden Sache (mithin die faktische Schädigung des Eigentümers) nicht zugerechnet werden kann, solange er nicht von seinen rechtlichen Pflichten Kenntnis hat: „Er handelt materialiter nicht recht d:i: unrecht, aber formaliter nicht, das ist, er ist nicht ungerecht. […] Bonae fidei poßeßor, kann die Sachen verbrauchen […]; denn es kann ihm nichts imputirt werden. Sobald er aber hört, daß die Sache einem andern gehört, so muß er das Uebrige gleich herausgeben, behält ers aber noch ferner, so wird er angesehen als poßeßor dolosus.“ Wenn nun Ripstein 2009, S. 381 f. meint, mit dem unabsichtlichen unbefugten Betreten fremder Gründstücke oder der unabsichtlichen Verletzung eines anderen Beispiele für Rechtsverletzungen anzuführen, die keine verwerfliche Maxime nach dem kategorischen Imperativ enthalten, so basiert dies auf einem – aus Kantischer Sicht – verfehlten Rechtsverständnis. Kant kennt keine verschuldensunabhängige Haftung bzw. strict liability. Für ihn müssen zurechenbare Rechtsverletzungen immer schuldhaft sein. War z. B. die Unkenntnis beim unabsichtlichen Betreten eines fremden Grundstücks unvermeidbar, so liegt zunächst überhaupt keine moralisch relevante Handlung (Tat) vor. Entsprechend darf auch kein Zwang ausgeübt werden, solange der »Eindringling« noch nicht über seine Pflicht, das Grundstück zu verlassen, informiert wurde. Anders verhält es sich freilich, wenn die Unkenntnis vermeidbar war, also ein Fall von Fahrlässigkeit vorliegt und der »Eindringling« schon von vornherein schuldhaft seine Handlungsmaxime nicht wie vom kategorischen Imperativ gefordert gebildet hat. Diesbezüglich hat Kant ein weites Fahrlässigkeitsverständnis,vgl. z. B. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 565 f. Ripstein selbst scheint nur eine schwache Unabhängigkeitsthese zu vertreten, vgl. Ripstein 2009, S. 358 f.: „I believe that […] the Universal Principle of Right really does follow from the Categorical Imperative, but is not equivalent to it. […] The characterization of it as a postulate
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Häufig wird in der Kant-Forschung betont, dass dem Recht das Problem des Zusammenlebens in einer räumlich begrenzten Außenwelt zugrundeliege.³⁴³ Doch obgleich Kants Rechtslehre zweifellos eine Lösung insbesondere für raum-zeitlich verfasste Rechtskonflikte bereithält,³⁴⁴ trägt die Betonung der Räumlichkeit von Rechtskonflikten und der Körperlichkeit der Rechtssubjekte nichts Wesentliches zum Verständnis von Rechtskonflikten als moralischen Problemen bei. Es kann also zugestanden werden, dass es beim Recht um die Regelung der Koexistenz in der empirischen Welt geht.³⁴⁵ Dennoch lassen sich allein hieraus keine eigenständigen normativen Vorgaben ableiten, wie es für eine alternative Rechtsbegründung erforderlich wäre. Auch wenn Körperlichkeit bzw. raum-zeitliche Verfasstheit der Rechtssubjekte Konflikte sui generis begründen, so sind diese Konflikte nicht eo ipso ein moralisches Problem. Wie soeben gezeigt, entsteht Letzteres erst dadurch, dass körperlich verfasste Wesen Personen sind, d. h. autonome und insofern transzendental freie Wesen, die unter moralischen Gesetzen der Freiheit stehen.³⁴⁶ Auch wenn Kant den Menschen als verkörperte Person zu verstehen scheint,³⁴⁷ ist für die moralische Geltung und Verbindlichkeit des Rechts allein seine Personalität maßgeblich. Damit sind wir erneut auf die Frage zurückgeworfen, ob und wann verkörperten Wesen Personalität zukommt. Personalität und damit überhaupt die Möglichkeit, Rechtssubjekt moralischer Rechtskonflikte zu sein, können wir uns – so die seit der Kritik der praktischen Vernunft nicht mehr hintergehbare Einsicht Kants – nur als Vernunftwesen mit reiner praktischer Vernunft zuschreiben, welche den kategorischen Forderungen mo-
appears immediately following the claim that it is not equivalent to the Categorical Imperative […]. The Universal Principle of right is not a principle for self-legislation.“ Auch Willaschek 2009, S. 53 f. und Seel 2009, S. 73 und S. 81 f. qualifizieren Ripsteins Position als schwache Unabhängigkeitsthese. Vgl. statt vieler nur Laschet 2011, S. 180 – 190; Kersting 2004, S. 14 und S. 17 sowie Höffe 1982, S. 346 f., erneut Höffe 1999a, S. 50 und zustimmend Kalscheuer 2014, S. 199 f. Dies ist trivial, insofern sie nach Kant eine Lehre von Rechtspflichten ist und damit eine Lehre von Geboten für sinnlich-affizierte, d. h. unter den Bedingungen von Raum und Zeit stehende, Wesen ist. Daraus folgt aber noch nicht, dass die moralische Problematik des Rechts als solche von der raum-zeitlichen Verfasstheit bzw. der Körperlichkeit der Rechtssubjekte abhängt. Denkbar sind moralische Rechtsprobleme auch zwischen nicht-körperlichen, ätherischen Wesen (vielleicht Geistern oder Engeln), sofern sie nur autonome Vernunftwesen sind. Denn auch diese könnten beispielsweise wechselseitig Ehrverletzungen begehen (≈ Verletzung angeborener Rechte) oder urheberrechtliche Konflikte austragen (≈ Verletzung erworbener Rechte). Vgl. hierzu schon oben S. 81 f. mit Fn. 69. Vgl. so schon von meiner Seite Hirsch 2012a, S. 36 sowie oben S. 56. Vgl. dazu schon S. 56 f., 75 – 77, 134 f. und S. 154 f. Vgl. RL, AA VI, S. 278 und Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg. von Werner Stark, S. 216; vgl. dazu auch oben Kap. 3, Fn. 245.
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ralischer Gesetze unterliegen.³⁴⁸ Da sich das Faktum moralischer Verpflichtung nur gegenüber einem selbst darstellt, ist allenfalls die Fremdzuschreibung von Personalität problematisch. Hierfür bedarf es nun keines eigenen (rechtlichen) Prinzips,³⁴⁹ sondern lediglich des Anspruchs des anderen, Person zu sein.³⁵⁰ Ob die so beanspruchte Personalität tatsächlich vorliegt (d. h., ob der andere tatsächlich ein autonomes Vernunftwesen ist), ist intersubjektiv nicht überprüfbar und daher im Zweifel kontrafaktisch anzunehmen.³⁵¹ Sowohl für die Begründung als auch für die Zuschreibung von Personalität ist es jedoch keine Lösung, stattdessen auf die (empirisch nachweisbare) Zwecksetzungsfähigkeit im Sinne technisch-praktischer Vernunft abzustellen.³⁵² Dies hätte nur erneut die im vorigen
Dies gilt wie gezeigt auch für das Recht, insofern es „sich […] auf dem Bewußtsein der Verbindlichkeit eines jeden nach dem Gesetze [gründet]“. Vgl. RL, AA VI, S. 232 und dazu ausführlich oben S. 141– 145. Dies sei noch einmal gegenüber Ripstein 2009, S. 376 betont, der diesen zentralen Punkt übersieht: „No consciousness of obligation is required in order to identify those acts that are prohibited by the Universal Principle of Right. Instead, acts are individuated in terms of their potential incompatibility with other people’s occupation of space.“ Auf Grund der körperlichen Verfasstheit des Menschen mögen sich zwar besondere, räumlich bestimmbare Rechtskonflikte ergeben. Gleichwohl bedarf es stets der konkreten Verpflichtung durch den kategorischen Imperativ, um diese Konflikte auch als moralische Probleme zu identifizieren. Dies scheint aber Ripstein 2009, S. 358 f. und S. 375 f. zu meinen, insofern das allgemeine Rechtsprinzip als Postulat gerade zur raum-zeitlichen Individuation von rechtlich relevanten Subjekten und Handlungen erforderlich sei. Anschaulich zeigt dies TL, AA VI, S. 442, wonach ein der Verpflichtung fähiges Wesen „e r s t l i c h eine Person sein, z w e i t e n s […] diese Person als Gegenstand der Erfahrung gegeben sein [muß]“. Die raum-zeitliche Verkörperung ist dabei nur erforderlich, weil eine „Pflicht gegen irgend ein Subject […] die moralische Nöthigung durch dieses seinen Willen“ ist und dieses „nur in dem Verhältnisse zweier existirender Wesen zu einander geschehen kann“. Anders gesagt: Personalität ist bereits anzunehmen, wenn jemand den Anspruch erhebt, ein der aktiven und passiven Verpflichtung fähiges Wesen zu sein. Körperlichkeit ist darüber hinaus nur notwendig, weil die Nötigung durch einen anderen ein von uns unterschiedenes Subjekt erfordert, wofür Kant nun die Körpergrenze als maßgeblich erachtet. Zwar stellt Ripstein 2009, S. 374– 376 diesen letzten Punkt zutreffend unter Hinweis auf die Amphibolie der Reflexionsbegriffe in KrV, A 263 f./B 319 f. heraus. Allerding ist dies weder allein rechtsspezifisch (der räumlichen Individuation bedarf es auch, um Tugendpflichten gegen andere zu bestimmen), noch ist es für die moralische Problematik von Rechtskonflikten konstitutiv (hier ist allein die Personalität maßgeblich). Vgl. dazu schon oben S. 154 mit Fn. 318. Ripstein scheint diesen Weg zu gehen. Zwar betont Ripstein 2009, S. 370: „Embodied persons have both duties and entitlements because they are rational beings […].“ Jedoch scheint er technisch-praktische Zweckrationalität für Personalität als ausreichend zu erachten, wenn er (ebd., S. 362) beim Recht die Freiheit der Willkür bestimmt als „the ability to choose which ends to pursue, which, on Kant’s analysis, can only be done in light of the powers one has available […] to set and pursue his or her own purposes, consistent with the ability of others to do the same.“ Dies erfordere weder reine praktische Vernunft noch transzendentale Freiheit, vgl. ebd., S. 40: „The
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Abschnitt erläuterten Begründungsprobleme zur Folge.³⁵³ Mithin steht die Räumlichkeit rechtlicher Handlungskonflikte weder in einem Widerspruch zur Rückführung des Rechts auf den kategorischen Imperativ, noch lässt sich unter Rekurs hierauf eine alternative Rechtsbegründung aufzeigen. Nur angesichts des Bewusstseins der Verpflichtung durch das Rechtsgesetz als kategorischen Imperativ lassen sich moralische Rechtskonflikte ausweisen und nur vor dem Hintergrund der Autonomie der Rechtssubjekte lassen sich diese als moralisches Problem begreifen.
3.6 Darum Recht! – Die kritische Grundlegung der Kantischen Rechtsphilosophie Nunmehr können wir zur anfänglichen Frage Warum überhaupt Recht? und den durch sie aufgeworfenen Problemen zurückkehren und ausgehend von Kantischen Prinzipien antworten: 1) Die moralische Verbindlichkeit rechtlicher Gebote resultiert aus dem Achtungsanspruch autonomer und damit notwendig selbstzweckhafter Vernunftwesen (Personen). Die Rechtslehre formuliert dabei die Bedingungen für die Koexistenz von Personen, welche verbieten, den jeweils anderen als bloßes Mittel zu gebrauchen. Sie unterscheidet sich damit grundlegend von der Tugendlehre, welche darüber hinaus positiv gebietet, Personen stets auch als Zweck zu behandeln, also die hinreichenden Bedingungen für die Übereinstimmung mit der Selbstzweckhaftigkeit autonomer Vernunftwesen formuliert. 2) Hieraus lässt sich auch die Allzuständigkeit des kategorischen Imperativs bei gleichzeitiger Beibehaltung der Besonderheiten von Recht und Ethik erklären. Der kategorische Imperativ trägt dem unbedingten Wert reiner praktischer Vernunft und damit der vernunftnotwendigen Selbstzweckhaftigkeit von Personen durch praktische Gesetze Rechnung, die eine gesetzliche Maximenbestimmung vorschreiben. Beim Recht (Wahrung der Selbstzweckhaftigkeit) geht es um den negativen Aspekt einer allgemeingesetzlichen Maximenbestimmung: Diese bezieht sich auf die Maxime in Ansehung der Handlungen und erfordert lediglich die Tauglichkeit bzw. Eignung der Maxime zum allgemeinen Gesetz. Mithin gebietet sie keine bestimmten Maximen, sondern schließt alle Handlungen aus, deren
ability to choose […] doesn’t depend on the ability to stand outside the causal world, or even to abstract from your own purposes in making choices. Instead, it rests on the familiar observation that if you choose to do something,you must set about doing it,which requires that you take it to be within your power to pursue.“ Vgl. oben S. 147– 159.
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Maxime allgemeingesetzlich undenkbar ist. Bei der Ethik (Beförderung der Selbstzweckhaftigkeit) geht es um den positiven Aspekt einer allgemeingesetzlichen Maximenbestimmung: Insofern eine vernunftbestimmte Zwecksetzung geboten ist, geht es darum, eine bestimmte Maxime in Ansehung der Zwecke zu verfolgen, die zu haben für jeden ein allgemeines Gesetz sein kann. 3) Ohne das Autonomietheorem und die transzendentale Freiheitslehre als ratio essendi zugrundezulegen, lassen sich schließlich weder Geltung und Verbindlichkeit von Rechtspflichten noch weitere zentrale Begriffsbestimmungen der Rechtslehre wie Freiheit der Willkür, Person oder Zurechnung angemessen verstehen. Gleichzeitig ist die Ansprache durch das Rechtsgesetz als Prinzip rechtlicher Pflichten ratio cognoscendi unserer Freiheit. Auch die Unterworfenheit unter das Rechtsgesetz ist ein Vernunftfaktum, das uns gleichermaßen unserer Rechtssubjektivität wie auch unserer Rechtsverbindlichkeit versichert. Gleichzeitig haben wir gesehen, dass Bedenken gegen diese kritische Lesart der Rechtslehre unbegründet sind: Insofern auf eine fehlende Rechtsdeduktion aus dem kategorischen Imperativ verwiesen wird, wird nach etwas gesucht, was es bei Kant weder geben muss noch geben kann. Moralische Gesetze lassen sich laut Kant nicht deduzieren, da alle praktische Erkenntnis mit der unmittelbaren Ansprache durch kategorische Imperative anhebt. Dass Kant das Recht als Postulat einführt, ist also schlichtweg die Konsequenz aus der Selbstevidenz der reinen praktischen Vernunft, wie sie uns im Faktum entgegentritt. Insofern ist auch das Rechtsgesetz als kategorischer Imperativ moralepistemologisch ein synthetischpraktischer Satz a priori. Dies wird weder dadurch in Frage gestellt, dass Recht und Zwangsbefugnis analytisch verknüpft sind, noch dadurch, dass eine analytische Verknüpfung von Rechtsgesetz und sittlicher Freiheit besteht, insofern letztere ratio essendi des ersteren ist. Schließlich erwies sich der Einwand unter Rekurs auf die vermeintliche Existenz von moralischen, doch gleichwohl nicht-juridischen Handlungspflichten und Befugnissen bei Kant als irrig, da er auf verfehlten Vorannahmen bzw. unrichtigen Beispielen beruht. Vor allem ist es jedoch verfehlt, eine kritische Rechtsbegründung mit dem Einwand zurückzuweisen, der kategorische Imperativ fordere stets ein Handeln aus Pflicht. Es gibt bei Kant keine Pflicht zum Handeln aus Pflicht. Richtig ist: Der kategorische Imperativ fordert Pflichtbefolgung unangesehen des Handlungsmotivs. Dies kann Handeln aus Pflicht implizieren, muss es aber nicht. Denn der Pflichtbegriff drückt bei Kant eine Nötigung bzw. einen Zwang aus, welche(r) erst durch die Struktur der in Frage stehenden Pflicht präzisiert wird: Auf Grund der Pflichtstruktur kommt bei Rechtspflichten (vollkommene Handlungspflichten) neben dem moralisch möglichen pathologischen Fremdzwang auch tugendhaftes Handeln (moralischer Selbstzwang) als weitere moralisch mögliche Zwangsart zur Pflichterfüllung in Betracht. Nur bei Tugendpflichten (Pflichten zu einer ver-
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nunftbestimmten Zwecksetzung) ist moralischer Selbstzwang die einzige moralisch mögliche Zwangsart, was zur Pflichterfüllung eo ipso ein Handeln aus Pflicht erfordert. Dementsprechend beleuchtet Kants Unterscheidung verschiedener Gesetzgebungen die moralisch möglichen Zwangsarten von der Seite der Nötigung her. Bei juridischer Gesetzgebung wird die Nötigung durch pathologischen Fremdzwang, bei ethischer Gesetzgebung durch moralischen Selbstzwang vorgestellt. Bei innerer Gesetzgebung liegt der Nötigende in der eigenen Person, bei äußerer in der Person eines anderen. Ethische und juridische Gesetzgebung sowie innere und äußere Gesetzgebung bezeichnen bei Kant daher nicht unterschiedliche Prinzipien der Pflichtkonstitution (denen entsprechend unterschiedliche kategorische Imperative zugrundelägen), sondern sind lediglich verschiedene Gegebenheitsweisen bzw. Betrachtungsweisen ein und derselben Pflicht. Auch im Hinblick auf die Differenzierung zwischen Rechts- und Tugendpflichten kann man nicht von unterschiedlichen Pflichtprinzipien sprechen. Zwar wird zur Begründung des obersten Prinzips der Tugendlehre der kategorische Imperativ in seiner allgemeinsten Form (wie er der Rechtslehre zugrundeliegt) um bestimmte Pflichtzwecke erweitert. Jedoch ändert sich hierdurch nur der Bezugspunkt bzw. der Aspekt der allgemeingesetzlichen Maximenbestimmung nach dem kategorischen Imperativ: Es geht nicht mehr um die allgemeingesetzliche Bestimmung der Maxime in Anbetracht der Handlung (negative Maximenbestimmung, Unterlassungspflichten), sondern in Anbetracht der Zwecke (positive Maximenbestimmung, Zwecksetzungspflichten). Zuletzt erweist sich auch die Zwangsbefugnis beim Recht nicht als Problem für die kritische Fundierung des Kantischen Rechtsdenkens, sondern beweist vielmehr deren Notwendigkeit: Zwang wird überhaupt erst gegenüber autonomen Vernunftwesen zum moralischen Problem, denn ohne Persönlichkeit des Gezwungenen besteht für äußeren Zwang bzw. Gewalt kein Rechtfertigungsbedürfnis. Gleichwohl ist Zwang gegenüber Personen nicht schlechthin unzulässig. Vielmehr wird angesichts der Pluralität autonomer Vernunftwesen durch das Recht ein allgemeingesetzlich bestimmter, »moralischer Schutzbereich« ausgewiesen, innerhalb dessen Zwang unzulässig, jenseits dessen wiederum nicht begründungsbedürftig ist. Schließlich wurde deutlich, dass eine kritische Lesart der Rechtslehre nicht nur möglich, sondern alternativlos ist. Unabhängig von Autonomietheorem und transzendentaler Freiheitslehre lässt sich Recht nur als Klugheitsregel zur zweckrationalen Vermeidung von Handlungskonflikten begreifen. Sachlich ist das vielleicht ein gangbarer Weg, jedoch nicht im Rahmen von Kants praktischer Philosophie. Eine solche Lesart Kants scheitert bereits textlich an der inadäquaten Auslegung des negativen Begriffs der Willkürfreiheit im Sinne von bloßer Zwecksetzungsfähigkeit empirisch bedingter praktischer Vernunft.Vor allem aber
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entzieht man der Kantischen Rechtsphilosophie ihren verbindlichkeitstheoretischen Boden, wenn man das Recht ohne die (zugegebenermaßen metaphysisch voraussetzungsreichen) Vorannahmen von Autonomietheorem und transzendentaler Freiheitslehre zu begründen versucht. Denn ohne diese Vorannahmen lässt sich die eingangs aufgeworfene Frage Warum überhaupt Recht? zumindest nicht mit Kant beantworten: Man kann dann nämlich nicht erklären, warum Recht moralische Verbindlichkeit hat. Mithin lässt sich Kants Rechtsphilosophie nur als Teil seiner kritischen Moralphilosophie begreifen. Dem Recht kommt dabei gegenüber der Ethik keine dienende Funktion zu,³⁵⁴ sondern Rechts- und Tugendlehre sind die beiden gleichberechtigten Teile einer einheitlichen kritischen Metaphysik der Sitten. Diese These einer verbindlichkeitstheoretischen Abhängigkeit des Rechts von der kritischen Moralphilosophie hat in der Kant-Forschung bereits vielfach Zustimmung gefunden,³⁵⁵ wobei aber ein wesentlicher Punkt – zumindest von einigen dieser Autoren – übersehen worden zu sein scheint. Häufig wird angeführt, dass trotz der verbindlichkeitstheoretischen Abhängigkeit des Rechts von der kritischen Moralphilosophie bei Kant gleichwohl eine grundlegende „Trennung zwischen Moral und Recht“ vorliege, welche „ein[en] immanente[n] Übergang von der Moralphilosophie zur Rechtsphilosophie“ nicht ermögliche.³⁵⁶
So die Quintessenz der moralteleologischen Rechtsinterpretation. Vgl. zur Auseinandersetzung hiermit oben S. 86 f. mit Fn. 77 f. Prominent formuliert Kersting 1983c, insb. Kersting 1984, S. 16 – 50 eine solche Position. „Der Kantische Verbindlichkeitsbegriff steht unter der Voraussetzung der transzendentalen Freiheit. Er verlangt mehr als die Unabhängigkeit von naturgesetzlicher Determination, er verlangt reine praktische Vernunft.“ (Kersting 1984, S. 27). Das Rechtsgesetz ist hiernach als Sittengesetz auf die transzendentale Freiheit als ratio essendi angewiesen. „Der Begriff des praktischen Gesetzes […] verlangt die Möglichkeit einer rein vernünftigen Willensbestimmung als Voraussetzung. Beginnt das Problem der Willensfreiheit erst jenseits der Rechtslehre, dann gibt es in der Rechtslehre keine Berechtigung von Recht, Pflicht und Verbindlichkeit zu reden […].“ (ebd., S. 41 mit Fn. 63). Für eine verbindlichkeitstheoretische Abhängigkeit des Rechts von der kritischen Moralphilosophie sprechen sich – jeweils mit im Detail unterschiedlicher Argumentation und eigener Schwerpunktsetzung, teilweise auch nur implizit – auch Gregor 1963, S. 45 – 47; Scholz 1972, S. 197– 200; Kaulbach 1982d, S. 182 f. sowie Kaulbach 1982a, S. 85; Kühl 1984, S. 74– 110; Oberer 1988, S. 370 f.; Ralf Ludwig 1992, S. 190; Tretter 1997; Guyer 2002; Müller 2006, S. 58; Seel 2009; Laschet 2011, S. 209 – 213; Mosayebi 2013, S. 88 – 108 sowie B. Ludwig 2002, S. 182, erneut Ludwig 2013b, S. 298 – 303 aus. Kersting 1984, S. 30. Dabei weist Kersting 1984, S. 82 f. Recht und Ethik als unterschiedliche Pflichtprinzipien aus. Kant habe die Auffassung von „der universalen pflichtentheoretischen Zuständigkeit des einen formalen Moralprinzips“ aufgegeben. „Das Rechtsgesetz ist“ – ebd., S. 31 f. – „ein auf den moralisch möglichen Zwang zugeschnittenes und darum rein handlungsbezogenes Pflichtprinzip. Da die Vernunftgesetzgebung selbst aufgrund der moralischen Mög-
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3 Kants Rechtsphilosophie als Teil seiner kritischen Moralphilosophie
Dem widersprechen die bisherigen Erkenntnisse: Kants gesamter kritischer Moralphilosophie liegt die Vorstellung zugrunde, dass reine praktische Vernunft einen unbedingten Wert darstellt und damit auch das autonome Vernunftwesen als notwendigen Selbstzweck ausweist.³⁵⁷ Hiermit verfügen wir über einen archimedischen Punkt, von welchem wir unmittelbar zu Rechts- und Tugendlehre überschreiten können: sowohl materialiter, insofern Rechts- und Tugendlehre die notwendigen bzw. hinreichenden Bedingungen zur Wahrung der notwendigen Selbstzweckhaftigkeit formulieren, als auch formaliter, insofern sich Rechts- und Tugendlehre gleichermaßen auf den kategorischen Imperativ zurückführen lassen und sich nur dessen Bezugspunkt bzw. Aspekt ändert. Kants kritische praktische Philosophie – so die Quintessenz der bisherigen Untersuchung – hat zwar mit Rechts- und Tugendlehre zwei distinkte Disziplinen, jedoch rekurrieren diese gleichermaßen auf ein gemeinsames oberstes praktisches Prinzip. Kants kritische Moralphilosophie ist mithin eine einheitliche.
lichkeit bestimmter Zwangshandlungen ein von dem Autonomiegedanken abweichendes Verhältnis von Verbindlichkeitserkenntnis und Verbindlichkeitsleistung, also eine heteronome Pflichterfüllung, der Möglichkeit nach zuläßt, enthält sie auch das Rechtsgesetz […]. Die beiden Arten der Vernunftgesetzgebung unterscheiden sich darin, daß die Pflichtidee als Ausführungsgrund des gesetzlich Geforderten einmal geboten und zum anderen nicht geboten wird […]. Daraus folgt, daß die innere Triebfeder der Pflicht und die äußere des Zwangs nicht alternative und gleichberechtigte Exekutionsprinzipien der Vernunftgesetzgebung sind.“ Ferner möchte Kühl 1984, S. 81– 83 bei Recht und Moral verschiedene Freiheitsgesetze unterscheiden, da „sich die Gesetzgebung der Vernunft einerseits auf die Regelung der äußeren Freiheit beschränkt und sich andererseits auf das Gebiet erstreckt, in der die Freiheit der Gesinnung herrscht.“ Die Unterscheidung von innerer und äußerer Gesetzgebung „deutet darauf hin, daß er [sc. Kant] für Recht und Moral verschiedene Freiheitsbegriffe zugrundelegt“. Auch andere Autoren teilen die Einschätzung, dass Recht und Ethik genuin unterschiedlichen Prinzipien der Pflichtkonstitution unterliegen. Vgl. etwa Scholz 1972, S. 12– 15; Kaulbach 1982c, S. 140 – 144; Langthaler 1991, S. 31 f. sowie mit Einschränkungen Gregor 1963, S. 18 – 33, insb. S. 29 f. und Dreier 1979, S. 19 – 22. Vgl. ähnlich Steigleder 2002, S. 64 und dazu oben S. 90 – 93.
4 Die kritische Begründung ursprünglicher Rechte und Pflichten Recht ist Teil der kritischen Moralphilosophie Kants – so das Ergebnis der bisherigen Untersuchung: Die Pluralität autonomer Vernunftwesen erfordert Regeln, die ein Miteinander unter Wahrung ihrer Selbstzweckhaftigkeit gewährleisten. Die Gebote des Rechts enthalten nun genau diese Spielregeln, durch die eine Gemeinschaft von Personen allererst möglich ist. Doch was genau sind die Regeln, welche die Koexistenzbedingungen von Personen normieren? Welche ursprünglichen Rechte und Pflichten folgen aus der notwendigen Selbstzweckhaftigkeit der Person? Bisher wurde gezeigt, dass das Recht negative Schutzpflichten konstituiert, die Persönlichkeit in der eigenen Person und der Person des anderen zu wahren und dem widerstreitende Handlungen zu unterlassen. Illustrativ lässt sich dies ausgehend vom negativen Aspekt der Zweckformel des kategorischen Imperativs veranschaulichen: „H a n d l e s o , d a ß d u d i e M e n s c h h e i t s o w o h l i n d e i n e r P e r s o n , a l s i n d e r P e r s o n e i n e s j e d e n a n d e r n […] n i e m a l s b l o ß a l s M i t t e l b r a u c h s t .“¹ Die Menschheit in der Person des anderen nicht bloß als Mittel zu gebrauchen, verlangt die Kompatibilität des eigenen Willkürgebrauchs mit der Willkür anderer. Dies ist nichts anderes als die Forderung des allgemeinen Rechtsgesetzes in § C der „Einleitung in die Rechtslehre“,² wie sie sich dann subjektiv-rechtlich im angeborenen Recht ausdrückt: „F r e i h e i t (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“.³ Die Menschheit in der eigenen Person nicht als Mittel zu gebrauchen, gebietet im Rahmen des eigenen Willkürgebrauchs die Wahrung der eigenen Freiheit und Persönlichkeit. Dies läuft – sofern es das Verhalten gegenüber anderen betrifft – auf die Formulierung der inneren Rechtspflicht des honeste vive hinaus: „»Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck.«“, welche Kant sodann „als Verbindlichkeit aus dem R e c h t e der Menschheit in unserer eigenen Person erklärt“.⁴ Diese ursprünglichen Rechte und die ihnen korrespondierenden Rechtspflichten machen im Kern die Regeln aus, die unmittelbar aus der Selbstzweckhaftigkeit autonomer Vernunftwesen folgen und deren Koexistenzbedingungen formulieren: Das Recht der Menschheit und die
GMS, AA IV, S. 429. Vgl. dazu ausführlich oben S. 70 – 85. Vgl. RL, AA VI, S. 231. RL, AA VI, S. 237 und vgl. dazu oben S. 72. RL, AA VI, S. 236.
DOI 10.1515/9783110530070-004
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4 Die kritische Begründung ursprünglicher Rechte und Pflichten
innere Rechtspflicht des honeste vive (4.1) sowie das Recht der Menschen und die äußeren Rechtspflichten des neminem laede und suum cuique tribue (4.2).
4.1 Das Recht der Menschheit und die inneren Rechtspflichten S e i e i n r e c h t l i c h e r M e n s c h (honeste vive). D i e r e c h t l i c h e E h r b a r k e i t (honestas iuridica) besteht darin: im Verhältniß zu Anderen seinen Werth als den eines Menschen zu behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: »Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck.« Diese Pflicht wird im folgenden als Verbindlichkeit aus dem R e c h t e der Menschheit in unserer eigenen Person erklärt werden (Lex iusti).⁵
Die Pflicht des honeste vive ist so, wie sie Kant in der Metaphysik der Sitten ausweist, eine Innovation.⁶ Es ist nicht so, dass Kant honeste vive hier erstmals als Pflichtbegriff einführt,⁷ wohl aber verwendet er es erstmals zur Bezeichnung der inneren Rechtspflicht.⁸ Sie besteht laut Kant darin, „im Verhältniß zu Anderen seinen Werth als den eines Menschen zu behaupten“ und wird von ihm in der Formel zusammengefasst: „»Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck.«“⁹
4.1.1 Was es heißt, ein rechtlicher Mensch zu sein Was dies konkret heißt, lässt sich anhand der Metaphysik der Sitten zunächst nicht vollständig bestimmen. Kant weist honeste vive lediglich als innere Rechtspflicht aus¹⁰ und qualifiziert sie „als Verbindlichkeit aus dem R e c h t e der Menschheit in
RL, AA VI, S. 236. Vgl. dazu auch ausführlich Ju 1990, S. 36 – 110 und Brandt 2012. Zuvor bezeichnete Kant mit honeste vive das Prinzip der Ethik, vgl. nur Praktische Philosophie Powalski, AA XXVII, S. 143 – 144, Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1336 sowie MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 527. Vgl. dazu auch sogleich S. 187 f. m. w. N. Eine weitere Belegstelle findet sich im opus posthumum, AA XXI, S. 462: „Honeste vive handle der angebohrnen Pflicht nicht entgegen der Pflicht gegen die Menschheit in deiner eigenen Person – Mache dich nicht selbst zum bloßen Mittel.“ Mit Blick auf die innere Rechtspflicht spricht Kant außerdem in TL, AA VI, S. 390 und VA RL, AA XXIII, S. 359 davon, ein rechtlicher Mensch zu sein. RL, AA VI, S. 236. Dies ergibt sich eindeutig aus der Tafel zur Einteilung der Pflichten „nach dem objectiven Verhältniß des Gesetzes zur Pflicht“ in RL, AAVI, S. 240 sowie aus Kants Aussage zu den praecepta iuris des Ulpian in RL, AA VI, S. 237: „Also sind obstehende drei classische Formeln zugleich
4.1 Das Recht der Menschheit und die inneren Rechtspflichten
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unserer eigenen Person […] (lex iusti)“.¹¹ Dies wird dahingehend präzisiert, dass dem Recht der Menschheit in unserer eigenen Person eine vollkommene Rechtspflicht gegen sich selbst korrespondiert.¹² In der Rechtslehre führt Kant das Recht der Menschheit im Übrigen an, um das „auf dingliche Art persönliche Recht“ zu erklären (insbesondere im Hinblick auf die Ehe als notwendiges Konstrukt zur Fortpflanzung),¹³ um ein posthumes Recht auf den guten Namen zu begründen,¹⁴ um zu erläutern, inwiefern man nicht Eigentum an seinem eigenen Körper hat,¹⁵ sowie um die staatliche Befugnis zur Religionsgesetzgebung auszuschließen.¹⁶ Auch finden sich in der Rechtslehre einige Stellen, in denen Kant auf die lex iusti rekurriert.¹⁷ Bei alldem wird das Recht der Menschheit aber entweder nur kasuistisch oder ohne nähere Begründung eingeführt, eine grundlegende Bestimmung des Rechts der Menschheit und der daraus resultierenden inneren Rechtspflichten gegen sich selbst fehlt hingegen auch hier. Zugegebenermaßen werden vollkommene bzw. schuldige Pflichten gegen sich selbst ausführlich in der Tugendlehre behandelt (aber auch bereits in der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft angesprochen).¹⁸ Jedoch hat Kant diese Pflichten noch in der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ als Rechtspflichten der Rechtslehre zugewiesen. Daher verwundert die Behandlung der vollkommenen Pflichten gegen sich selbst in der Tugendlehre vielmehr, als dass sie zum besseren Verständnis der inneren Rechtspflichten beiträgt. Um daher eine tragfähige Interpretation des honeste vive in der Rechtslehre zu entwickeln, bietet es sich an, zunächst die Vorlesungsnachschrift Metaphysik der Sitten-Vigilantius von 1794 in den Blick zu nehmen, da dort die Behandlung der inneren Rechtspflichten sowie des korrespondierenden Rechts der Menschheit äußerst ausführlich und systematisch reflektiert erfolgt:¹⁹
Eintheilungsprincipien des Systems der Rechtspflichten in i n n e r e , ä u ß e r e und in diejenigen, welche die Ableitung der letzteren vom Princip der ersteren durch Subsumtion enthalten.“ RL, AA VI, S. 236. Vgl. die Tafel zur Einteilung der Pflichten „nach dem objectiven Verhältniß des Gesetzes zur Pflicht“ in RL, AA VI, S. 240. RL, AA VI, S. 276 und S. 278. RL, AA VI, S. 296. RL, AA VI, S. 270. RL, AA VI, S. 327. RL, AA VI, S. 267 und S. 306. Vgl. auch VA RL, AA XXIII, S. 249, 256 und S. 324. Vgl. TL, AA VI, S. 392 f., 398 und S. 421– 444; KpV, AA V, S. 66 und S. 158 sowie GMS, AA IV, S. 421– 430. Vgl. zu den Daten der Vigilantius-Mitschrift Lehmann 1979, S. 1045 f.
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Der erstere Abschnitt der Rechtspflichten (in opposito gegen die Pflichten von later Verbindlichkeit) betrifft nun die Pflichten gegen sich selbst oder die inneren Rechtspflichten. Diese nennt man Recht der Menschheit in seiner eigenen Person; jus humanae naturae in nostra persona.²⁰
Kant bestimmt dort anhand der Relationskategorien (Substanz, Kausalität, Wechselwirkung)²¹ drei Untergruppen des Rechts der Menschheit in der eigenen Person. Die erste ist das Recht der Menschheit „in Ansehung seiner Substanz oder in Rücksicht des Rechtes zur disposition über seinen Körper als Körper“.²² Da der Mensch gerade nicht Eigentümer seines Körpers ist, ist jegliche substantielle Verfügung über denselben moralisch unzulässig. Dementsprechend sind alle Handlungen untersagt, welche die substantielle Integrität tangieren: Selbstmord, Verstümmelung und dauerhafte²³ Entfernung von Körperteilen.²⁴ Zweitens besteht das Recht der Menschheit auch in „Ansehung der Causalität oder des eigenen Vermögens und Kraft des Menschen, Wirkungen hervorzubringen. Er kann insofern nicht unbestimmt über seine Freiheit disponiren […].“²⁵ Hiernach untersagt das Recht der Menschheit die vollständige Veräußerung seiner Freiheit (d. h. des selbstbestimmten Willkürgebrauchs), z. B. durch Eingehung von Sklaverei oder Leibeigenschaft. Drittens ist der Mensch durch das Recht der Menschheit in „Ansehung des commercii mit andern oder in Ansehung des Verhältnisses der Menschen unter einander in der Gemeinschaft […] dahin eingeschränkt, sich seine Ehre nicht rauben zu lassen, oder sich nicht selbst derselben zu berauben“.²⁶ Dies beinhaltet das Verbot sämtlicher erniedrigender und ehrenrühriger Handlungen, wie z. B. Bettelei oder Schmarotzertum.²⁷ Dabei beziehen sich die zweite und dritte Untergruppe schon begrifflich auf ein intersubjektives Geschehen, d. h. Veräußerung seiner selbst an einen anderen oder Entehrung vor anderen bzw. durch andere. Aber auch hinsichtlich der ersten Untergruppe hebt Kant hervor, dass das Recht der Menschheit nicht nur die selbstverursachte Substanzverletzung ver-
MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 592. Vgl. dazu KrV, A 80/B 106. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 593. Verboten ist z. B. nicht das Haareschneiden, da diese nachwachsen, wohl aber die Entfernung gesunder Zähne. Vgl. MdS-Vigilantius, S. 593 f., 601 sowie S. 630. MdS-Vigilantius, S. 594. Vgl. auch MdS-Vigilantius S. 601 f. MdS-Vigilantius, S. 594. Vgl. auch MdS-Vigilantius S. 602. MdS-Vigilantius, S. 594. Im Folgenden (ebd., S. 604– 607) führt Kant dies näher aus. Verboten sind hiernach Lüge, Widerruf, Schuldenmachen, Betteln, Verzagtheit, filzige Kargheit, Schmarotzertum, sich beleidigen zu lassen sowie bestimmte religiöse Handlungen.
4.1 Das Recht der Menschheit und die inneren Rechtspflichten
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bietet,²⁸ sondern auch die Duldung von Substanzverletzungen durch andere. Verboten ist somit auch, „seine Substanz anderen als Objekt des Genusses zu übergeben, d.i. sich zu einer Sache zu machen, worüber er anderen die Erlaubniß giebt, sie als eine genießbare Sache zu behandeln.“²⁹ Das klassische Beispiel, das Kant anführt, ist die Prostitution.³⁰ Nach dem Bild der Metaphysik der SittenVigilantius zu schließen, betrachtet Kant die drei geschilderten Untergruppen gleichwohl nicht als drei distinkte Rechte, sondern vielmehr als Ausdifferenzierungen in systematischer Absicht.³¹ Allgemein gesprochen zielt das Recht der Menschheit auf die Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit ab und verbietet sowohl, sich selbst zum bloßen Objekt zu degradieren, als auch, sich zu einem solchen von anderen degradieren zu lassen:³² Zuvörderst die analyse der officiarum debiti gegen sich selbst, die man als schuldige Pflichten ansehen kann. Hier ist nun der identische Grundsatz zu praemittiren: Der Mensch gehört sich selbst an, homo est sui juris. Dies gründet sich auf das Recht der Menschheit in seiner eigenen Person und heißt also: er gehört seiner eigenen Menschheit als intellectuelles Wesen an. Daraus folgt das erste Recht und Pflicht des Menschen in seiner eigenen Person: Der Mensch kann sich nie als Sache behandeln. Dies ist eine unerläßliche Pflicht […].³³
Mithin folgen aus dem Recht der Menschheit in der eigenen Person innere Rechtspflichten, die den Menschen zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit verpflichten. Es geht dabei offensichtlich nur um die Erhaltung seiner selbst als moralischer Person: Alle Handlungen sind zu unterlassen, die die moralische Persönlichkeit in ihrem Wesen antasten. Dies kann entsprechend Kants Dreiteilung dadurch geschehen, dass man seinen Körper – insofern er mit der Person eine ab Vgl. MdS-Vigilantius, S. 601: „Es ist daher Pflicht in Ansehung seiner Substanz a) weder total noch partial seine Substanz zu verderben, zu zerstören, z.E. Selbstmord, oder sich zu den natürlichen Bestimmungen seiner Substanz und eines jeden Gliedes besonders untauglich zu machen.“ MdS-Vigilantius, S. 602. Vgl. MdS-Vigilantius, S. 602 sowie S. 637– 641. Kant selbst betont in MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 604: „Die einzelnen Rechte der Menschheit oder die strengen Pflichten gegen sich selbst […] sind bis jetzt noch nicht systematisch entwickelt, sondern sind blos gesammelt. Es fehlt an dem princip, aus dem sie abgeleitet werden müssen, und daher rührt der Mangel der Vollständigkeit, mit der die Unterarten erkannt und jederzeit untergeordnet werden müssen. In fragmentarischer Art erläutern sie sich indeß in der Art, vorzüglich zur Begründung dessen, daß sie die höchsten Pflichten unter allen übrigen sind“. Dies wird vor allem daran deutlich, dass Kant in den Begründungen zu den jeweiligen Untergruppen stets darauf abstellt, dass der Mensch durch Substanzverletzung, vollständige Freiheitsveräußerung bzw. Erniedrigung immer zur bloßen Sache degradiert wird. Vgl. MdS-Vigilantius, S. 593 f. sowie S. 601 f. MdS-Vigilantius, S. 601.
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solute Einheit bildet –³⁴ vernichtet oder schädigt, dass man sich vollständig seiner moralischen Handlungsfähigkeit entäußert oder dass man sich als moralische Person in den Augen anderer herabwürdigt. Jedoch ist etwa,wie Kant betont,³⁵ der Schutz des Lebens oder der körperlichen Integrität nicht Selbstzweck, sondern die Pflicht zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit „beruht auf der Achtung für seine Persönlichkeit, die ihm [sc. dem Menschen] als Vernunftwesen zugetheilt ist, und der er sich als Sinnenwesen nicht entziehen darf“.³⁶ In dieses Bild innerer Rechtspflichten, welches sich auch anhand weiterer Vorlesungsnachschriften sowie Reflexionen bestätigt,³⁷ fügt sich die eingangs zitierte Rechtspflicht des honeste vive in der Metaphysik der Sitten von 1797 zwanglos ein, da auch sie den Einzelnen auf die Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit verpflichtet. Trotzdem deckt honeste vive angesichts der Fallgruppen, die Kant noch in der Metaphysik der Sitten-Vigilantius bildet, nur einen Teilbereich ab. Denn es geht lediglich darum, im Verhalten gegenüber anderen den
Vgl. dazu RL, AA VI, S. 278 und Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg. von Werner Stark, S. 216; vgl. dazu auch oben Kap. 3 Fn. 245. MdS-Vigilantius, S. 629: „Verächtlich und pflichtwidrig bleibt es dagegen, die Erhaltung des Lebens auf Kosten seiner Moralität zu fördern, und das: zu leben, auch dann für ein Glück zu schätzen, wenn die Erhaltung gleich mit Laster, der Tod aber, den man erdulden soll, mit der moralischen Würde des Menschen verknüpft wäre.“ Vgl. auch Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg. von Werner Stark, S. 228: „[D]ie Menschheit in unser Person ist ein Gegenstand der höchsten Achtung und in uns unverletzlich. In den Fällen, wo die Menschheit dadurch entehrt wird, da ist der Mensch verbunden, lieber sein Leben aufzuopfern als seine Menschheit in seiner Person zu entehren, denn ehrt er seine Menschheit, wenn sie von andern soll entehrt werden; kann der Mensch sein Leben nicht anders erhalten, als durch Entehrung seiner Menschheit, so soll er es lieber aufopfern, denn setzt er zwar sein thierisches Leben in Gefahr, allein er fühlt doch, daß er […] Ehrenwerth gelebt habe.“ MdS-Vigilantius, S. 628. Vgl. Praktische Philosophie-Powalski, AA XXVII, S. 188 – 192, Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg. von Werner Stark, S. 216 – 229 sowie in AA XIX Refl. 7571, S. 458; Refl. 7869, S. 541; Refl. 7896, S. 548; Refl. 7931, S. 558 – 559. Vgl. jedoch die Unterschiede herausstellend Denis 2010, S. 174– 181 und im Einzelnen Durán Casas 1996, S. 209 – 348. Exemplarisch sei hier auf die 1784 entstandene Mitschrift Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1335 f. verwiesen, wo Kant zu den Pflichten gegen sich selbst sagt, sie „sind officia neceßaria bisweilen. Leges strictae, die keine Ausnahme […] leiden.“ Sodann führt er aus: „Wenn z.E. ein Mensch sich nur um Lohn zur Wollust verdingt. Kann ich sie dann zwingen das Wort zu halten? Nein, denn sie war nicht befugt, über sich zu disponiren. Sie war Persona, nicht Res. So auch wenn ein Mensch sich zum Leibeigenen verkauft, gilt sein Pactum nichts. Ich bin frei, darum kann ich meine Freiheit nicht wegwerfen.“ Vgl. auch ebd., S. 1379: „Ists erlaubt, daß ein Frauenzimmer ihre Geschlechtsfähigkeiten verdingen kann? Eine Person die versprochen hat, kann nicht poenitiren. Sie ist ein Mensch, nicht eine Sache. Mich selbst kann ich nur zur Arbeit verdingen, es ist eine Pflicht, daß kein Mensch über sich selbst disponiren kann.“ Vgl. hierzu auch Hirsch 2012a, S. 107– 109.
4.1 Das Recht der Menschheit und die inneren Rechtspflichten
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Wert eines Menschen zu behaupten und sich von ihnen nicht als bloßes Mittel behandeln zu lassen. Honeste vive gebietet damit die Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit nur im intersubjektiven Verhältnis und bewegt sich damit innerhalb der begrifflichen Grenzen des moralischen Rechtsbegriffs aus § B der „Einleitung in die Rechtslehre“. Insofern Kant dort den Rechtsbegriff auf das wechselseitige Willkürverhältnis und die mögliche gegenseitige Beeinflussung durch facta beschränkt,³⁸ gilt gleiches für die Rechtspflicht des honeste vive. Selbstschädigende bzw. entehrende Handlungen, die keine Außenrelevanz haben und die Willkür anderer nicht tangieren (z. B. Selbstmord, Verstümmelung oder Onanie), werden von honeste vive nicht erfasst. Diese Handlungen sind originärer Gegenstand der Pflichten, die Kant in der Tugendlehre als vollkommene Pflichten gegen sich selbst ausweist.³⁹
4.1.2 Zur Möglichkeit innerer Rechtspflichten Auch wenn nach dem Gesagten klar wird, was Kant unter dem Recht der Menschheit und der korrespondierenden Rechtspflicht des honeste vive versteht, bleibt erklärungsbedürftig, wie (Rechts‐)Pflichten gegen sich selbst überhaupt möglich sind. Inwiefern kann von Pflicht gesprochen werden, wenn Verpflichteter und Verpflichtender eigentlich ein und dieselbe Person sind?⁴⁰ Kant möchte dieses Problem dadurch lösen, dass er vom Menschen in zweierlei Bedeutung spricht: Der Mensch nun als vernünftiges N a t u r w e s e n (homo phaenomenon) ist durch seine Vernunft, als U r s a c h e , bestimmbar zu Handlungen in der Sinnenwelt, und hiebei kommt der Begriff einer Verbindlichkeit noch nicht in Betrachtung. Eben derselbe aber seiner P e r s ö n l i c h k e i t nach, d.i. als mit innerer F r e i h e i t begabtes Wesen (homo noumenon) gedacht, ist ein der Verpflichtung fähiges Wesen und zwar gegen sich selbst (die Menschheit in seiner Person) betrachtet, so: daß der Mensch (in zweierlei Bedeutung betrachtet), ohne in
Vgl. oben S. 55 – 59. Vgl. TL, AA VI, S. 421– 444. Vgl. näher zur Aufgliederung in die Pflicht des honeste vive einerseits und die vollkommenen Pflichten gegen sich selbst der Tugendlehre andererseits unten S. 193–203. Vgl. TL, AAVI, S. 417: „Wenn das v e r p f l i c h t e n d e Ich mit dem v e r p f l i c h t e t e n in einerlei Sinn genommen wird, so ist Pflicht gegen sich selbst ein sich widersprechender Begriff. […] [D]er Satz, der eine Pflicht gegen sich selbst ausspricht (ich s o l l mich selbst verbinden), würde eine Verbindlichkeit verbunden zu sein (passive Obligation, die doch zugleich in demselben Sinne des Verhältnisses eine active wäre), mithin einen Widerspruch enthalten.“ Vgl. hierzu Timmermann 2013a, S. 209 – 211 sowie im Detail zum Kantischen Problemaufriss kritisch Durán Casas 1996, S. 120 – 130 m. w. N.
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Widerspruch mit sich zu gerathen (weil der Begriff vom Menschen nicht in einem und demselben Sinn gedacht wird), eine Pflicht gegen sich selbst anerkennen kann.⁴¹
Diese Unterscheidung von homo phaenomenon und homo noumenon taucht erst 1794 auf,⁴² hat jedoch gedankliche Vorläufer in Kants Unterscheidung von empirischem und intelligiblem Charakter in der Kritik der reinen Vernunft sowie in der zweifachen Zugehörigkeit des Menschen zur Sinnenwelt bzw. Verstandeswelt in der Grundlegung. ⁴³ Denn mit seiner Redeweise vom Menschen als Natur- bzw. Vernunftwesen überträgt Kant den Lehrbegriff vom transzendentalen Idealismus auf den Menschen als moralischen Akteur.⁴⁴ Pflichten gegen sich selbst werden nach Kant dadurch möglich, dass der Mensch betrachtet als homo noumenon dem Menschen betrachtet als homo phaenomenon eine Verbindlichkeit auferlegt. Was Kant in der Metaphysik der Sitten hierunter genau versteht, wird deutlich, wenn man zur Interpretation erneut die ausführliche Behandlung der Pflichten gegen sich selbst in der Vorlesungsnachschrift Metaphysik der Sitten-Vigilantius von 1794 hinzuzieht: Gegen sich selbst eine Regel machen setzt voraus, daß man sein intelligibles Selbst, d.i. die Menschheit in seiner Person gegen sein sensibles Wesen, d.i. den Menschen in seiner Person, mithin den Menschen als handelnden gegen die Menschheit als Gesetz gebenden Theil, in Verhältniß setzt.⁴⁵
Den Menschen als homo noumenon zu betrachten, heißt, sich ihn ausschließlich in der Eigenschaft als autonomes und transzendental freies moralisches Wesen vorzustellen.⁴⁶ Der homo noumenon ist die personifizierte Idee reiner, gesetzgebender Vernunft, die Kant begrifflich auch mit der Menschheit in der eigenen
TL, AA VI, S. 418. So erstmals in MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 510 sowie in Das Ende aller Dinge, AA VIII, S. 334. Vgl. hierzu ausführlich Ju 1990, S. 61– 78, zusammenfassend S. 92 f. Vgl. KrV, A 538 – 557/B 566 – 585 sowie GMS, AA IV, S. 448 – 455. S. dazu oben S. 38 – 46 m. w. N., insb. mit Fn. 13. Vgl. opus posthumum, AA XXI, S. 28: „Ich: der Mensch. Phaenomenon, Noumenon. Der Gegenstand in der Erscheinung und das Ding a n s i c h“ Vgl. zum transzendentalen Idealismus oben Kap. 2, Fn. 9. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 579. Entsprechend ist Persönlichkeit „die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanism der ganzen Natur“ (KpV, AA V, S. 87), „eine intelligible Substanz, […] dasjenige, was den Menschen in seiner Freiheit von allen Objekten unterscheidet“ (MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 627 f.). Vgl. ähnlich ebd., S. 579: „Die Menschheit ist das eben erwähnte noumenon, so als reine Intelligenz in Ansehung des dem Menschen beygelegten Vermögens der Freiheit und Zurechnungsfähigkeit gedacht wird.“
4.1 Das Recht der Menschheit und die inneren Rechtspflichten
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Person bzw. mit der Persönlichkeit identifiziert.⁴⁷ Dadurch wird der Mensch vorgestellt als ein „Ideal, wie er seyn soll, und seyn kann, blos nach der Vernunft“.⁴⁸ Insofern ist der Mensch „m o r a l i s c h e s We s e n […] (wenn er sich objectiv, wozu er durch seine reine praktische Vernunft bestimmt ist, (nach der M e n s c h h e i t in seiner eigenen Person) betrachtet)“.⁴⁹ Diesem homo noumenon ist nun der homo phaenomenon gegenübergestellt. Dieser ist der Mensch betrachtet als „S i n n e n w e s e n“ bzw. „vernünftiges N a t u r w e s e n“, der als „zu einer der Thierarten gehörig“ sinnlicher und damit naturgesetzlicher Bestimmung unterliegt.⁵⁰ Doch erklärt diese Unterscheidung von homo noumenon und homo phaenomenon tatsächlich die Möglichkeit moralischer Selbstverpflichtung? Anscheinend entstehen Probleme gerade dadurch, dass Kant vom homo phaenomenon als Verpflichtetem spricht: Nehmen wir indeß auf die Pflichten gegen uns selbst Rücksicht, so stellt sich der Mensch in seiner physischen Natur, d.i. insoweit er den Gesetzen der Natur unterworfen ist, als der verpflichtete und recte dar, personificirt man aber den Verpflichtenden als ein idealisches Wesen, oder als eine moralische Person, so kann es kein anderes, als die Gesetzgebung der Vernunft seyn: dies ist also der Mensch als intelligibeles Wesen allein betrachtet, das hier den Menschen als Sinnenwesen verpflichtet, also ein Verhältniß des Phänomenon gegen ihn als Noumenon.⁵¹
Interpretiert man dies in einem moralisch-pflichtentheoretischen Sinne, entsteht das Problem, dass der Mensch – zumindest nach Kants eindeutiger Bestimmung in § 3 der Tugendlehre – als Sinnenwesen eigentlich kein der Verpflichtung⁵² fähiges
Vgl. z. B. RL, AA VI, S. 239, wo Kant von der „Menschheit, als von physischen Bestimmungen unabhängiger Persönlichkeit, (homo noumenon)“ spricht. Vgl. zur Identifikation von homo noumenon und Menschheit ebenso RL, AA VI, S. 295, 423, 425 und S. 435; VA TL, AA XXIII, S. 398; MdSVigilantius, AA XXVII, S. 579 und S. 593 sowie zur Identifikation mit Persönlichkeit nur Religion, AA VI, S. 28; RL, AA VI, S. 239; VA RL, AA XXIII, S. 358 f.; Refl. 7305, AA XIX, S. 307 und MdSVigilantius, AA XXVII, S. 601 und S. 627. Zwischen Persönlichkeit und Menschheit in der eigenen Person besteht dabei kein sachlicher Unterschied. Die Menschheit in der eigenen Person ist nur eine besondere Redeweise Kants, um die Möglichkeit der Selbstverpflichtung zu explizieren. Vgl. auch oben Kap. 3, Fn. 320. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 593. Dieser Gedanke kehrt in Religion, AA VI, S. 60 – 78 wieder in der Vorstellung von Jesus als sittlichem Ideal und personifizierter Idee des guten Prinzips. TL, AA VI, S. 379, Fn. *. TL, AA VI, S. 418. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 510. Vgl. ebenso MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 601. Diese Redeweise findet sich so auch in § 3 der Tugendlehre, vgl. TL, AA VI, S. 418. Fähigkeit sittlicher Verpflichtung ist hier umfassend zu verstehen, d. h. sowohl aktiv (zu verpflichten) als auch passiv (verpflichtet zu werden). Vgl. so auch Reath 2002, S. 355, Fn. 7, kritisch jedoch Timmermann 2013a, S. 217, nach dem nur die aktive Verpflichtung gemeint sei. Wenn Kant
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Wesen ist: „Der Mensch nun als vernünftiges N a t u r w e s e n (homo phaenomenon) ist durch seine Vernunft, als U r s a c h e , bestimmbar zu Handlungen in der Sinnenwelt, und hiebei kommt der Begriff einer Verbindlichkeit noch nicht in Betrachtung.“ Hier wird der homo phaenomenon als reines Naturwesen eingeführt.⁵³ Erst der Mensch „seiner P e r s ö n l i c h k e i t nach, d.i. als mit innerer Freiheit begabtes Wesen (homo noumenon) gedacht, ist ein der Verpflichtung fähiges Wesen und zwar gegen sich selbst (die Menschheit in seiner Person) betrachtet“.⁵⁴ Nach Kant hat es nur dort einen Sinn, von Pflicht zu reden, wo auch die Möglichkeit besteht, eigenverantwortlich dieser Pflicht nachzukommen. Wie schon im vorherigen Kapitel gesehen, präsupponiert der Pflichtbegriff die Zurechnungsfähigkeit und damit die sittliche Freiheit des Verpflichteten.⁵⁵ Daher kann Kant eigentlich nicht davon sprechen, dass der homo phaenomenon als vernünftiges Naturwesen verpflichtet sei.⁵⁶ Jedoch könnte man darauf abstellen, dass Kant dies so auch gar nicht sagen zu wollen scheint. Denn in der zitierten Passage führt er aus, dass der Mensch als homo noumenon der Verpflichtung gegen sich selbst (d. h. gegen die Menschheit in seiner Person) fähig ist.⁵⁷ Nun ist es die Idee des moralischen Gesetzes, welche die Persönlichkeit ausmacht und die Kant mit der Idee der Menschheit identifiziert: „Die Idee des moralischen Gesetzes allein mit der davon unzertrennlichen Achtung kann man nicht füglich eine A n l a g e für die Persönlichkeit nennen; sie ist die P e r s ö n l i c h k e i t selbst (die Idee der Menschheit ganz intellectuell betrachtet).“⁵⁸ Kurz: Der Mensch ist nur qua Persönlichkeit bzw. Menschheit eine der Verpflichtung fähige Person, ist aber in den Pflichten gegen sich selbst genau
jedoch in § 16 (TL, AA VI, S. 442) davon spricht, der „Verpflichtung (der activen oder passiven) fähig“ zu sein, sind Aktiv- und Passivobligation gleichermaßen gemeint. Dieses Bild bestätigt sich in der Tugendlehre. Vgl. TL, AA VI, S. 430, wo Kant den homo phaenomenon als „physisches Wesen“ bestimmt, und ebd., S. 434: „Der Mensch im System der Natur (homo phaenomenon, animal rationale) ist ein Wesen von geringer Bedeutung und hat mit den übrigen Thieren, als Erzeugnissen des Bodens, einen gemeinen Werth (pretium vulgare)“. Kant spricht ebd., S. 435 auch von „seine[r] Geringfähigkeit als T h i e r m e n s c h“. Zum Ganzen: TL, AA VI, S. 418. Vgl. oben S. 153 – 158 und Kants Bestimmung von Verbindlichkeit als „Notwendigkeit einer freien Handlung“ in RL, AA VI, S. 222, kursive Hervorhebung P.-A. H. Dieses pflichtentheoretische Problem wird in der Kant-Forschung häufig nicht thematisiert. Vgl. in Ansätzen aber Durán Casas 1996, S. 132– 134; Forkl 2001, S. 122 f. sowie teilweise Reath 2002, S. 356 und Timmermann 2013a, S. 216 f. Vgl. so auch Kerstein 2008, S. 205 f. Religion, AA VI, S. 27– 28. Vgl. ebenso RL, AA VI, S. 239, VA RL, AA XXIII, S. 358 f. und MdSVigilantius, AA XXVII, S. 627.
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gegenüber dieser Persönlichkeit bzw. Menschheit als Idee verpflichtet.⁵⁹ Dabei besteht kein Problem dahingehend, dass hinsichtlich des Verpflichteten und des Verpflichtenden gleichermaßen auf die Persönlichkeit abgestellt wird.⁶⁰ Problematisch ist vielmehr, dass im Verhältnis von homo noumenon und der Menschheit als Idee überhaupt nicht mehr sinnvoll von Pflicht bzw. Verpflichtung gesprochen werden kann. Denn unter noumena (gleich wie man sie sich vorstellen möchte) gibt es sensu stricto keine Pflichten. Moralische Verbindlichkeiten hat nur ein arbitrium liberum sensitivum, das sittlich frei und gleichzeitig sinnlich affiziert ist.⁶¹ Von Pflicht lässt sich daher (bildlich gesprochen) überhaupt nur in Ansehung des Menschen als Ganzem (wenn man so will: dem homo totus) sprechen.⁶² Mithin führen die vorgestellten Lesarten in ein Dilemma: Entweder kommt man in die Verlegenheit, dem homo phaenomenon die Fähigkeit sittlicher Verpflichtung zuzuschreiben, oder der Begriff Pflicht ist in Abstraktion vom homo phaenomenon nicht mehr sinnvoll anwendbar. Zur Auflösung dieser Problematik sind meines Erachtens zwei weitere Interpretationsansätze denkbar. Zum einen kann man versuchen, das Dilemma zu umgehen, indem man Kants Unterscheidung von homo noumenon und homo phaenomenon nicht moralisch, sondern als Ausdruck des transzendentalen Idealismus liest. Hiernach dient die Unterscheidung von homo phaenomenon und homo noumenon lediglich dazu, die Möglichkeit einer Selbstbestimmung durch reine praktische Vernunft zu erklären.⁶³ Hierfür sprechen Stellen, in denen Kant sich so ausdrückt, dass der homo phaenomenon dem homo noumenon „zur Erhaltung anvertrauet“ ist.⁶⁴ „Der Mensch als
Vgl. ähnlich Forkl 2001, S. 123. Vgl. mit Einschränkungen auch Timmermann 2013a, S. 217, der zwar von einer Verbindlichkeit des homo noumenon gegenüber sich selbst spricht, dann aber im Sinne einer Obligation des homo phaenomenon ausführt: „As intellectual beings we are free and can therefore impose obligations upon ourselves as natural beings that can be determined by rational considerations.“ Denn Verpflichtender ist die Idee des moralischen Gesetzes schlechthin, Verpflichteter hingegen die Person als besondere Instanz dieser Idee. Hierfür ließen sich auch einige Passagen der Vigilantiusmitschrift anführen, vgl. z. B. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 579: „Die Menschheit ist das eben erwähnte noumenon, so als reine Intelligenz in Ansehung des dem Menschen beygelegten Vermögens der Freiheit und Zurechnungsfähigkeit gedacht wird. Der Mensch dagegen ist die Menschheit in der Erscheinung, mithin der Menschheit als generi untergeordnet.“ Vgl. Kants Bestimmung in RL, AA VI, S. 213 und dazu oben S. 140 f. Auch Kant selbst spricht davon, dass „[d]as verpflichtete sowohl als das verpflichtende Subject […] immer n u r d e r M e n s c h [ist]“ (TL, AA VI, S. 419). Hiernach scheinen Pflichten gegen sich selbst stets Pflichten des Menschen als sinnlich-affiziertem Vernunftwesen zu sein, mithin des Amalgams von homo noumenon und homo phaenomenon. Vgl. i. Ü. zum Kantischen Pflichtbegriff oben S. 42 f. Vgl. teilweise ähnlich Byrd und Hruschka 2011, S. 288 f. mit Fn. 56. TL, AA VI, S. 423.
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moralisches Wesen (homo noumenon)“ soll „sich selbst als physisches Wesen (homo phaenomenon)“ auf eine bestimmte Weise „brauchen“.⁶⁵ Insofern es hier primär um Gebrauch bzw. Bestimmung zu gewissen „Handlungen in der Sinnenwelt“⁶⁶ geht, scheint Kant – nach diesem Interpretationsansatz – mit der Unterscheidung von homo noumenon und homo phaenomenon nur den transzendentalen Idealismus auf Akteursebene⁶⁷ auszuführen: Der Mensch als rein intelligibles, moralisches Wesen (homo noumenon) liegt dem Menschen als Erscheinung (homo phaenomenon) zugrunde, wodurch er in der Lage ist, ihn zu Handlungen in der Sinnenwelt zu bestimmen, zu gebrauchen bzw. zu zwingen. „Das intelligibele Selbst ist nöthigend in Ansehung des Selbst in der Erscheinung.“⁶⁸ Eine Pflicht gegen sich selbst zu haben, hieße also, dass man „durch sich selbst genöthigt […] und moralisch gezwungen [wird] nach der Analogie mit dem Zwange eines Anderen“.⁶⁹ Man denkt sich den Menschen zuvörderst als Ideal, wie er seyn soll, und seyn kann, blos nach der Vernunft, und nennt diese Idee homo noumenon: dies Wesen denkt man sich zu einem andern, so, als werde dies andere von ihm eingeschränkt; dies ist der Mensch im Zustande der Sinnlichkeit, den man homo phänomenon nennt. Dies ist die Person und jenes ist blos eine personificirte Idee, wo der Mensch blos unter dem moralischen Gesetze, hier aber als phänomenon, der vom Gefühl von Lust und Schmerz afficirt und durch das noumenon zur Pflichtleistung gezwungen werden muß.⁷⁰
Dieses Bestimmungsverhältnis ist kein moralisches Verhältnis, weil es nicht um ein eigenverantwortliches Handeln des homo phaenomenon geht (hierzu ist er sensu stricto als reines Naturwesen nicht in der Lage).⁷¹ Moralisch verpflichtet ist TL, AA VI, S. 430. TL, AA VI, S. 418. Wie gesagt ist das theoretische Grundgerüst hierfür in der Kritik der reinen Vernunft und der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten angelegt. Vgl. die Nachweise in Kap. 4, Fn. 43. VA TL, AA XXIII, S. 386. Vgl. ähnlich ebd., S. 258. VA TL, AA XXIII, S. 390. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 593, kursive Hervorhebung P.-A. H.Vgl. ebenso ebd., S. 627 f., wo Kant sich die „Persönlichkeit“ bzw. „Menschheit in der eigenen Person […] als ein Subjekt [denkt], das bestimmt ist, dem Menschen moralische Gesetze zu geben, und ihn zu determiniren: als Inhaber des Körpers, unter dessen Gesetzgebung die Verwaltung aller Kräfte des Menschen geordnet ist. Es ist also dem Menschen ein unumschränktes Vermögen eingelegt, das in seiner Natur zu wirken nur durch sich selbst und durch nichts anderes in der Natur bestimmt werden kann. Dies ist die Freiheit und durch diese ist die Pflicht der Selbsterhaltung erkennbar, die sich daher nicht deutlich demonstrieren läßt.“ Vgl. ähnlich auch MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 602 sowie VA TL, AA XXIII, S. 399 f. Wenn Kant in TL, AA VI, S. 417 davon spricht, dass „in dem Begriffe der Pflicht […] der einer passiven Nöthigung enthalten [ist] (ich werde v e r b u n d e n )“, ich mich bei einer „Pflicht gegen
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stets nur der Mensch als Ganzer, denn nur das sinnlich affizierte Vernunftwesen hat ein Bewusstsein von Pflicht: „Der Mensch betrachtet sich in dem Bewußtsein einer Pflicht gegen sich selbst, als Subject derselben, in zwiefacher Qualität […]“.⁷² Um hierzu noch einen korrespondierenden Berechtigten zu denken, personifizieren wir die reine praktische Vernunft in uns: Wir sind daher als Mensch gegenüber der Menschheit in unserer Person als der personifizierten Idee der reinen gesetzgebenden Vernunft (homo noumenon) verpflichtet. Dies ist das eigentliche moralische Verpflichtungsverhältnis. Reflektieren wir über unsere Pflichten gegen uns selbst, betrachten wir uns stets als sinnlich-affiziertes Vernunftwesen, auch wenn wir uns dabei eine Bestimmung unseres sensiblen Teils durch den intelligiblen vorstellen. Die Unterscheidung von homo phaenomenon und homo noumenon erklärt insofern nur, wie wir uns durch uns selbst zu bestimmten Pflichthandlungen nötigen können. Will man gleichwohl an einer spezifisch moralischen Lesart festhalten, lässt sich das oben genannte Dilemma – so der zweite denkbare Interpretationsansatz – allenfalls terminologisch auflösen. Denn einige Passagen zur Unterscheidung von homo phaenomenon und homo noumenon erwecken den Anschein, dass Kant jeweils mit einer der Bezeichnungen bereits den Menschen als sinnlich affiziertes Vernunftwesen anspricht. So scheint Kant den homo phaenomenon in der einschlägigen Passage aus der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ nicht nur als reines Naturwesen zu begreifen, sondern als Wesen, das einer moralischen Bestimmung trotz sinnlicher Affektion fähig ist: Unter dem Begriff homo noumeonon wird der Mensch allein „nach der Eigenschaft seines Freiheitsvermögens“ und „als von physischen Bestimmungen unabhängig[e] Persönlichkeit […] vorgestellt“. Jedoch ist nun der homo phaenomenon „eben d[as]selbe, aber […] mit jenen Bestimmungen behaftete Subject“.⁷³ Der homo phaenomenon unterscheidet sich vom homo noumenon mithin lediglich nur durch die zusätzliche sinnliche Affektion. Nach Maßgabe dieser Definition lassen sich dann auch die bereits zitierten Passagen aus der Vorlesung Metaphysik der Sitten-Vigilantius verstehen, wonach der Mensch „als phaenomen dem noumenon obligirt“ ist.⁷⁴ Jedoch lässt sich diese Lesart mit Sicherheit nicht mehr in der Tugendlehre aufrechterhalten: Der homo
mich selbst“ aber gleichzeitig „als v e r b i n d e n d , mithin in einer activen Nöthigung vor[stelle]“, so ist dies – nach diesem Interpretationsansatz – nicht als Aufforderung zur eigenverantwortlichen Pflichterfüllung durch den homo phaenomenon zu lesen, sondern als freiheitskausale Bestimmung des empirischen Teils des Menschen durch den intelligiblen. TL, AA VI, S. 418, kursive Hervorhebung P.-A. H. RL, AA VI, S. 239. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 601.Vgl. größtenteils identisch auch die zuvor zitierten Passagen aus der Vigilantiusmitschrift.
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phaenomenon ist hier eindeutig nur noch reines Naturwesen. Demgegenüber wird der homo noumenon allerdings nicht als reines Vernunftwesen eingeführt. Vielmehr ist der homo noumenon laut Kant der Mensch (als Naturwesen), insofern es zusätzlich „als mit innerer Freiheit begabtes Wesen […] gedacht“ wird. Insofern ist es der Verpflichtung „gegen sich selbst (die Menschheit in seiner Person)“, d. h. gegenüber reiner praktischer Vernunft als personifizierte Idee, fähig.⁷⁵ Zusammengefasst: Die Rechtslehre abstrahiert (ebenso wie die Vigilantiusmitschrift) zur Bestimmung des homo noumenon von der sinnlichen Affektion des homo phaenomenon, die Tugendlehre abstrahiert zur Bestimmung des homo phaenomenon vom Freiheitsvermögen des homo noumenon. Das beschriebene Dilemma ließe sich nach dieser Lesart über eine begriffliche Verschiebung in Kants Terminologie zwischen Rechts- und Tugendlehre erklären. Gleichwohl bleibt es insgesamt fraglich, ob sich bei Kant überhaupt eine überzeugende Erklärung der Möglichkeit innerer (Rechts‐)Pflichten rekonstruieren lässt. Dies gilt auch für die zuletzt erwähnten Interpretationsansätze, insofern sie die Unterscheidung von homo phaenomenon und homo noumenon einerseits trotz der pflichtentheoretischen Relevanz »entmoralisieren« oder andererseits eine textlich nicht eindeutig verifizierbare Begriffsverschiebung annehmen. Dennoch kann im Folgenden dahingestellt bleiben, ob eine befriedigende Erklärung von Pflichten gegen sich selbst gegeben werden kann. Kant – und dies ist für die weitere Untersuchung maßgeblich – geht zumindest davon aus.
4.1.3 Die Frage der Verbindlichkeit des Rechts der Menschheit Die Möglichkeit innerer Rechtspflichten angenommen, stellt sich noch die Frage nach deren Geltungsgrund: Inwiefern kann die Menschheit in meiner Person Quelle der moralischen Verbindlichkeit innerer Rechtspflichten sein? In der Vigilantiusmitschrift führt Kant dazu aus, dass sich „[d]er Mensch […] sich selbst an[gehört] […]. Dies gründet sich auf das Recht der Menschheit in seiner eigenen Person und heißt also: er gehört seiner eigenen Menschheit als intellectuelles Wesen an.“⁷⁶ Hiernach besagt das Recht der Menschheit in meiner Person, dass meine Zugehörigkeit zur Menschheit qua reiner praktischer Vernunft die Verpflichtung begründet, ebendiese Zugehörigkeit aufrechtzuerhalten. Anders ausgedrückt: Weil ich Person bin, muss ich meine Persönlichkeit bewahren. Doch warum soll reine praktische Vernunftbegabung (d. h. Personalität bzw. Zugehörigkeit zur Menschheit als intellektuelles Wesen) eo ipso ein
Zum Ganzen: TL, AA VI, S. 418. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 601, vollständig zitiert oben S. 173.
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Recht der Menschheit sein und als solches die Rechtspflicht zur Erhaltung seiner selbst als Person (honeste vive) begründen? Die Antwort ergibt sich letztlich aus der bereits erwähnten Lehre vom Faktum der Vernunft:⁷⁷ Das Bewusstsein moralischer Verpflichtung nach dem Sittengesetz sichert durch das Du kannst, denn Du sollst! die praktische Realität der Willkürfreiheit und weist uns dadurch gleichzeitig als Personen aus. „Die m o r a l i s c h e Persönlichkeit ist […] die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen […].“⁷⁸ Wenn das Sittengesetz ratio cognoscendi der Freiheit ist,⁷⁹ sichert das Bewusstsein sittlicher Verpflichtung die moralische Persönlichkeit des verpflichteten Subjekts.⁸⁰ Das Faktum sichert aber nicht nur epistemisch unsere Personalität, sondern unterwirft uns als Personen kategorischen Verpflichtungen. Kategorische Imperative gibt es also nur, weil und insofern ich Person bin. Ist Pflichtbefolgung kategorisch gefordert, ist folglich als deren Möglichkeitsbedingung eo ipso die Wahrung der eigenen Persönlichkeit geboten. Hieraus erklärt sich die Verbindlichkeit des Rechts der Menschheit: Sittliche Verpflichtung präsupponiert die Existenz moralischer Akteure. Wenn ich Adressat moralischer Gesetze bin, muss ich mich deswegen als moralisches Wesen erhalten. Sich selbst als moralische Person zu negieren, hieße, die Möglichkeit von Pflichten überhaupt zu negieren. Das Recht der Menschheit in meiner Person und die korrespondierenden inneren Rechtspflichten sind daher Möglichkeitsbedingung kategorischer Verpflichtung überhaupt. Diese Lesart bestätigt sich auch in den Vorarbeiten zur Tugendlehre, wenn Kant ausführt: [D]ie freye Willkühr der Person steht selbst unter der Idee ihrer Persönlichkeit […] und diese Verbindlichkeit gegen sich selbst kann also auch das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person heißen welches aller anderen Verbindlichkeit vorgeht. Das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person gehört also noch nicht in die Tugendlehre weil sie auch nicht verlangt daß die Idee der Pflicht gegen sich selbst zugleich die Triebfeder der Handlungen sey: Es ist aber die oberste Bedingung aller Pflichtgesetze weil das Subject sonst aufhören würde ein Subject der Pflichten (Person) zu seyn und zu Sachen gezählt werden müßte. Wenn also die Befugnis über Gegenstände nach Willkühr zu verfügen das Recht überhaupt heißt so wird die über seine eigene Person durch das Recht der Menschheit in uns selbst eingeschränkt seyn welchem wir keinen
Vgl. dazu oben S. 46 – 48 sowie im spezifisch rechtlichen Kontext S. 142– 145. RL, AA VI, S. 223. Vgl. KpV, AA V, S. 4 mit Fn. *. Vgl. KpV, AA V, S. 3 – 7, jeweils mit Fn. *. Eine theoretische Erkenntnis unserer selbst als intelligible Wesen kann es nach Kant nicht geben, da wir über keine intellektuelle Anschauung verfügen. Vgl. auch oben S. 46 – 48 mit Fn. 50.
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Abbruch thun dürfen und dessen Hochachtung nicht zur Tugendlehre sondern zur Rechtslehre als bloße Einschränkende Bedingung gehört.⁸¹
Damit lässt sich die Frage nach dem Geltungsgrund des Rechts der Menschheit und der korrespondierenden inneren Rechtspflichten eindeutig beantworten: Wenn es eine nicht weiter hintergehbare Tatsache ist, dass ich irgendwelche Pflichten habe (seien es auch nur äußere), so impliziert diese sittliche Verpflichtung, dass wir uns nicht der Möglichkeit ihrer Befolgung entziehen dürfen. Nun zu fragen, warum ich moralisch zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit verpflichtet bin, hieße zu fragen, warum es überhaupt moralische Pflichten gibt. Diese Frage lässt sich bei Kant aber nicht sinnvoll stellen, weil die Existenz des Sittengesetzes ein unleugbares Faktum der reinen Vernunft ist, welches uns unserer sittlichen Freiheit als Geltungsgrund aller moralischen Verpflichtung versichert, dabei aber selbst keines Beweises und keiner Erklärung bedarf.⁸² Dies erklärt auch, warum – wie bereits hinlänglich ausgeführt – die notwendige Selbstzweckhaftigkeit autonomer Vernunftwesen das oberste Prinzip aller moralischen Gesetze ist. Diese ist notwendig anzunehmen, „[w]enn es denn also ein oberstes praktisches Princip und in Ansehung des menschlichen Willens einen kategorischen Imperativ geben soll“.⁸³ Die kategorische Verbindlichkeit moralischer Gesetze kommt nur dadurch zustande, dass sich reine praktische Vernunft selbst als notwendigen Gegenstand konstituiert. Das heißt, reine praktische Vernunft weist sich selbst und insofern auch das autonome Vernunftwesen als notwendigen Zweck an sich aus.⁸⁴ Nunmehr lässt sich aber auch der systematische Ort dingfest machen, an dem diese Selbstbezüglichkeit der reinen praktischen Vernunft ihren Ursprung hat: Es ist die innere Rechtspflicht, welche die Tatsache sittlicher Verpflichtung (Faktum der Vernunft) mit der Konstitution eines unbedingten, moralischen Selbstzwecks (Recht der Menschheit in der eigenen Person) verknüpft. Dadurch, dass wir überhaupt sittlich verpflichtet sind, wissen wir unmittelbar von unserer vernunftnotwendigen Selbstzweckhaftigkeit, welche wir gemäß der Pflicht des honeste vive zu schützen haben: „»Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck.« Diese
VA TL, AA XXIII, S. 390 f., kursive Hervorhebung P.-A. H. Einen Nachklang findet dies vielleicht in TL, AA VI, S. 417, wo Kant ausführt, dass es Pflichten gegen sich selbst geben muss, wenn es überhaupt Pflichten geben soll: „Denn setzet: es gebe keine solche Pflichten, so würde es überall gar keine, auch keine äußere Pflichten geben.“ Vgl. KpV, AA V, S. 31 f. GMS, AA IV, S. 428. Vgl. hierzu oben S. 85 – 90. Vgl. dazu oben S. 90 – 93.
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Pflicht wird im folgenden als Verbindlichkeit aus dem R e c h t e der Menschheit in unserer eigenen Person erklärt werden (Lex iusti).“⁸⁵ Wenn Kant von der Erklärung der inneren Rechtspflicht aus dem Recht der Menschheit spricht, sind wir falsch beraten, diese anschließend im angeborenen Recht »Freiheit« zu vermuten.⁸⁶ Es ist auch nicht so, dass uns Kant entgegen seiner Ankündigung eine Erklärung schuldig bleibt.⁸⁷ Vielmehr findet sich die besagte Erklärung in der „Einteilung der Metaphysik der Sitten überhaupt“,⁸⁸ wenn Kant
RL, AA VI, S. 236. Dieses wird ja selbst aus der Menschheit in der eigenen Person erklärt, insofern es „jedem Menschen kraft seiner Menschheit“ zusteht. Mithin kann es nicht selbst das Recht der Menschheit in der eigenen Person sein.Vgl. RL, AAVI, S. 237 und dazu sogleich S. 204–207. – Gleichwohl wird in der Kant-Forschung das Recht der Menschheit nicht trennscharf vom angeborenen Recht »Freiheit« unterschieden. Vgl. z. B. Ripstein 2009, S. 30 31 f., der unterschiedslos vom „innate right of humanity in your own person“ zum „innate right to freedom“ übergeht. Vgl. auch Kersting 1984, S. 92– 97, erneut Kersting 2004, S. 48 – 54 und Laschet 2011, S. 222. Teilweise wird sogar behauptet, das angeborene Recht sei mit dem Recht der Menschheit identisch, vgl. z. B. Ebbinghaus 1986 f1994, S. 353 f. oder schon Tieftrunk 1797, S. 169. So aber etwa Brandt 2012, S. 352 f.:„In der gesamten Rechtslehre findet sich jedoch nicht eine andere Passage, in der wir die Erklärung finden könnten.“ Vgl. ähnlich Rühl 2010, S. 53 und Oberer 2004, S. 210. Vgl. RL, AA VI, S. 239 – 242. Insofern erscheint die Umstellung dieser Passage durch Ludwig 1988, S. 50 verfehlt.Wenn man insb. den zweiten Abschnitt – wie Ludwig vorschlägt – ans Ende der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ verlegt, dann geht der explikatorische Bezug zu honeste vive und zum angeborenen Recht »Freiheit« verloren. Die Gründe, die Ludwig für die Umstellung anführt, sind überdies nicht zwingend. Der Abschnitt „Von der Einteilung einer Metaphysik der Sitten“ (RL, AA VI, S. 218 – 221) enthält bereits eine Einteilung. Diese bezieht sich auf den Begriff der Gesetzgebung (vgl. RL, AA VI, S. 218 mit Fn. *). Hier kann jedoch nicht die „Einteilung der Metaphysik der Sitten überhaupt“ angefügt werden, bezieht sich diese doch auf einen ganz anderen Gegenstand, namentlich den Begriff der Pflicht. Daher stellt diese Einteilung in Rechts- und Tugendpflichten – entgegen Ludwig 2013a, S. 72 – nicht auf das Kriterium einer möglichen äußeren Gesetzgebung ab. Vielmehr erfolgt die Einteilung danach, ob eine Zwecksetzung oder äußere Handlung geschuldet ist. Auch der Hinweis (Ludwig 1988, S. 50, Fn. 9) auf Tempus und Formulierung in RL, AAVI, S. 239 („Wir kennen unsere eigene Freiheit […] nur durch den m o r a l i s c h e n I m p e r a t i v, welcher ein pflichtgebietender Satz ist, aus welchem nachher das Vermögen, andere zu verpflichten, d.i. der Begriff des Rechts, entwickelt werden kann.“) spricht nicht zwingend für eine Umstellung. Zum einen setzt Kant hier den Begriff des Rechts schon voraus, was dessen vorherige Entwicklung in der „Einleitung in die Rechtslehre“ erfordert. Zum anderen muss sich „nachher“ nicht auf die Gliederungsabfolge beziehen, sondern kann auch die epistemische Problematik meinen, wodurch unsere praktische Erkenntnis anhebt (vgl. dazu oben S. 46 – 48 mit Fn. 50). Diese beginnt mit dem Bewusstsein sittlicher Verpflichtung, welches uns als homo noumenon ausweist und uns dadurch angesichts unserer Persönlichkeit (bzw. genauer, angesichts des Rechts der Menschheit in unserer Person) sowohl unserer ursprünglichen Rechtspflichten als auch unserer angeborenen Rechte vergewissert. Um diesen explikatorischen Bezug nicht zu
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im zweiten Abschnitt derselben darauf hinweist, dass „in der Lehre von den Pflichten der Mensch nach der Eigenschaft seines Freiheitsvermögens, welches ganz übersinnlich ist, also auch bloß nach seiner M e n s c h h e i t , als von physischen Bestimmungen unabhängiger Persönlichkeit, (homo noumenon) vorgestellt werden kann und soll“.⁸⁹ Der Mensch als Subjekt, das moralischen Pflichten unterworfen ist, wird dabei notwendig nach seinem sittlichen Freiheitsvermögen oder seiner Menschheit vorgestellt, d. h. als Person bzw. mit Persönlichkeit ausgestattet. Diese Persönlichkeit selbst ist wiederum nicht weiter deduzierbar, ist sie doch – wie vorhin ausgeführt – durch das Faktum sittlicher Verpflichtung unmittelbar selbstevident. Wenn wir also von Rechtspflichten bzw. Rechten sprechen, die dem Menschen allein kraft seiner Menschheit zukommen, so werden wir auf die selbstevidente, vernunftnotwendige Selbstzweckhaftigkeit verwiesen, welche unsere Persönlichkeit als absolut schützenswert ausweist. Eine Begründung von Rechtspflichten bzw. Rechten, die wir qua unserer Menschheit haben, kann es danach nicht geben, da sich auch Persönlichkeit nicht »begründen« lässt, wie Kant mit Bezug auf die innere Pflicht zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit in der Metaphysik der Sitten-Vigilantius selbst einräumt: Die Persönlichkeit oder die Menschheit in meiner Person ist gedacht als eine intelligible Substanz […]. Man denkt sie sich also als ein Subjekt, das bestimmt ist, dem Menschen moralische Gesetze zu geben, und ihn zu determiniren: […] Dies ist die Freiheit und durch diese ist die Pflicht der Selbsterhaltung erkennbar, die sich daher nicht deutlich demonstrieren läßt.⁹⁰
4.1.4 Der Rechtspflichtcharakter des honeste vive Honeste vive gebietet als innere Rechtspflicht, im Verhältnis zu anderen die eigene Rechtspersönlichkeit zu wahren. Alle Handlungen sind zu unterlassen, wodurch man für andere zum bloßen Mittel würde, z. B. sich in Sklaverei oder Schuldknechtschaft zu begeben, sich zu prostituieren etc. Obwohl der Inhalt des honeste übersehen, muss die „Einteilung der Metaphysik der Sitten überhaupt“ daher im Anschluss an das angeborene Recht belassen werden. RL, AA VI, S. 239. Es gibt in der gesamten Rechtslehre (ebenso wie in der Tugendlehre) keine anderen Stellen, welche als Erklärung in Betracht kämen. Im Übrigen wird das Recht der Menschheit in der Rechtslehre entweder nur kasuistisch oder ohne nähere Begründung eingeführt, vgl. oben S. 170 f. m. w. N. Daher spricht die Tatsache, dass Kant im Anschluss an die Pflicht des honeste vive und an das angeborene Recht »Freiheit« in RL, AA VI, S. 239 die Menschheit thematisiert (Das Recht der Menschheit wird explizit erst in der zugehörigen Tabelle, RL, AAVI, S. 240, erwähnt.), prima facie für den explikatorischen Charakter dieser Passage. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 627 f.
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vive klar bestimmbar erscheint, wurde die innere Rechtspflicht seit jeher als sperriger Fremdkörper im Kantischen Pflichtensystem der Metaphysik der Sitten empfunden. Fraglich sei der Rechtspflichtcharakter des honeste vive. Dabei wird neben dem Wortlaut der Pflicht insbesondere problematisiert, dass Kant honeste vive vor Erscheinen der Rechtslehre noch als Prinzip der Ethik bestimmte und dass sich Widersprüche zur grundsätzlichen Äußerlichkeit und Erzwingbarkeit von Rechtspflichten ergäben. Daher wird die Qualifikation des honeste vive als Rechtspflicht häufig ganz oder zumindest teilweise in Frage gestellt.⁹¹
4.1.4.1 Terminologische Schwierigkeiten In der Tat wirft die Bestimmung des honeste vive in der Rechtslehre einige Fragen auf. Erläuterungsbedürftig könnte zunächst Kants Formulierung der inneren Rechtspflicht sein: „»Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck.«“⁹² Offensichtlich entspricht Kants Wortwahl zum Teil dem kategorischen Imperativ in der Zweckformel: „H a n d l e s o , d a ß d u d i e Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als M i t t e l b r a u c h s t . “⁹³ Diese Ähnlichkeit ist jedoch nur vor dem Hintergrund der Unabhängigkeitsthese verwunderlich. Ausgehend von der hier nachgewiesenen kritischen Rechtsbegründung Kants erklärt sich dieser sprachliche Zusammenhang dadurch, dass ihm ein legitimatorischer Zusammenhang zugrunde liegt: Alle Rechtsgebote lassen sich als Ausdruck des kategorischen Imperativs in der Zweckformel begreifen, insofern Recht die Möglichkeitsbedingungen für die Koexistenz autonomer, notwendig selbstzweckhafter Vernunftwesen formuliert. Kants gesamter Rechtsphilosophie liegt daher das Verbot, Personen bloß als Mittel zu behandeln, zugrunde. Der Wortlaut der Pflicht des honeste vive ist mithin weniger ein Problem als eine Bestätigung dieses Prinzips.⁹⁴ Mehr Schwierigkeiten bereitet der terminologische Befund, dass Kant honeste vive vor der Veröffentlichung der Rechtslehre noch als Prinzip der Ethik bestimmte.⁹⁵ Allerdings zeigt Kants Darstellung der inneren Rechtspflichten in der
Vgl. zum Diskussionsstand die ausführliche Darstellung im Einleitungsteil oben S. 9 f. m. w. N. RL, AA VI, S. 236. GMS, AA IV, S. 429. Vgl. dazu ausführlich oben S. 77– 90. Vgl. exemplarisch VA TL, AA XXIII, S. 386 sowie MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 527: „honeste vive. Dies ist das Princip der Ethic, welches affirmative Pflichthandlungen bestimmen kann, da es auf Zwecke gerichtet ist, z.E. befördere die Glückseligkeit anderer nach deinen Kräften, suche dich
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Metaphysik der Sitten-Vigilantius, dass das Konzept innerer Rechtspflichten der Sache nach bereits 1794 vorliegt.⁹⁶ Ansatzweise gilt dies sogar schon für das Jahr 1784.⁹⁷ Dies deutet darauf hin, dass mit der terminologischen Änderung im Jahre 1797 (nunmehr verwendet Kant honeste vive als Prinzip innerer Rechtspflichten) zumindest keine inhaltliche Neuerung einhergeht. Status und Begründung innerer Rechtspflichten sind vor wie nach 1797 im Wesentlichen gleich, sodass sich der Unterschied in einer neuen Systematisierung erschöpft:⁹⁸ Kant verwendet die praecepta iuris des Ulpian seit 1797 nicht mehr als Einteilungsprinzipien der gesamten Metaphysik der Sitten, sondern nur noch zur Einteilung der Rechtslehre und ihrer besonderen Pflichten. Der Grund hierfür scheint mir ein Umdenken Kants in der pflichtentheoretischen Einordnung der Menschheit in der eigenen Person zwischen 1794 und 1797 zu sein.⁹⁹ Gerade in der Vigilantiusmitschrift und auch noch in den Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten gewinnt man an einigen Stellen den Eindruck, dass die Menschheit in der eigenen Person dem verpflichteten Subjekt technisch als anderer gegenübertritt: „Vollkommene Verbindlichkeit ist die so sich auf dem Recht eines andern gründet entweder Ideals der Menschheit oder einer reellen Person.“¹⁰⁰ So wie ich bei äußeren Pflichten durch eine andere Person verpflichtet werde, verpflichtet mich bei inneren Rechtspflichten die Menschheit. Selbst wenn Kant bei letzteren vom anderen nur in analoger Bedeutung spricht, könnte ihm dies ermöglicht haben, die inneren Rechtspflichten anfangs noch unter neminem laede zu subsumieren, weil er diese Formel als das
zu vervollkommnen.“ Vgl. dazu statt vieler Kersting 1984, S. 101– 106 sowie ausführlich das Quellenmaterial aufarbeitend Ju 1990, S. 36 – 91. Vgl. oben S. 171–174 m. w. N.Vgl. exemplarisch nur MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 581– 583: „[E]s giebt Rechtspflichten oder officia stricta, zu denen man gezwungen werden kann, ohne daß ein anderer mich zwingen kann, z.E. es ist strenge Pflicht der Menschheit in meiner eigenen Person, daß ich über meinen Körper nicht als Eigenthümer disponiren kann […]. Mithin theilen sich alle Pflichten ab in […] [d]as Recht der Menschheit in unserer eigenen Person und in das Recht der Menschen gegen andere. Diese begreifen die stricten Rechtspflichten in sich.“ Vgl. dazu auch Ju 1990, S. 61– 78. So spricht Kant in Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1336 von „officia neceßitatis“, welche „zum jus“ gehören, und betont: „Es ist aber diese Eintheilung unvollständig; denn Pflichten gegen sich selbst sind nicht officia caritatis. Pflichten gegen sich selbst, sind officia neceßaria bisweilen. Leges strictae, die keine Ausnahme […] leiden.“ Kant kennt also schon 1784 auch schuldige, vollkommene Pflichten (d. h. Rechtspflichten, „Leges strictae“) gegen sich selbst. Vgl. dazu auch oben Kap. 4, Fn. 37 sowie Hirsch 2012a, S. 107– 109 und Ju 1990, S. 55 f. Vgl. so schon Hirsch 2012a, S. 121 und dazu kritisch Brandt 2012, S. 325 f., 337– 350. Vgl. zu anderen Deutungen des terminologischen Wandels in Kants Pflichtensystematik oben Kap. 1, Fn. 16. VA RL, AA XXIII, S. 350, kursive Hervorhebung P.-A. H. Vgl. ähnlich VA TL, AA XXIII, S. 381 und S. 390 sowie MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 579, 593 und S. 603.
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Prinzip des Rechts im Naturzustand überhaupt ansah und der Frage der Selbstoder Eigenverpflichtung insofern keine Bedeutung beimaß.¹⁰¹ Später hingegen betont Kant, dass bei inneren Pflichten „[d]as verpflichtete sowohl als das verpflichtende Subject […] immer n u r d e r M e n s c h [ist]“,¹⁰² von dem mithin nicht mehr als anderem im technischen Sinne gesprochen werden kann. Für die Systematisierung der Rechtslehre entsteht dadurch eine „theoretische Lücke“, die „erst in den MAdR überwunden [ist], wo die Ulpianischen Sätze insgesamt als die Prinzipien der allgemeinen Einteilung der Rechtspflichten gelten“.¹⁰³ Weil neminem laede nach 1794 als alleiniges Prinzip aller Rechtspflichten ausfällt, muss Kant seit 1797 innere und äußere Rechtspflichten durch eigene Prinzipien ausweisen, namentlich honeste vive und neminem laede. ¹⁰⁴
4.1.4.2 Innerlichkeit und Äußerlichkeit von Rechtspflichten Während sich die terminologischen Besonderheiten der Rechtspflicht des honeste vive erklären lassen, scheint allerdings der rechtliche Charakter dieser Pflicht durch eine Bestimmung in der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ in Frage gestellt zu werden: Die Pflichten nach der rechtlichen Gesetzgebung können nur äußere Pflichten sein,weil diese Gesetzgebung nicht verlangt, daß die Idee dieser Pflicht, welche innerlich ist, für sich selbst Bestimmungsgrund der Willkür des Handelnden sei, und, da sie doch einer für Gesetze schicklichen Triebfeder bedarf, nur äußere mit dem Gesetze verbinden kann. Die ethische Gesetzgebung dagegen macht zwar auch innere Handlungen zu Pflichten, aber nicht etwa mit Ausschließung der äußeren, sondern geht auf alles, was Pflicht ist, überhaupt.¹⁰⁵
Wie kann honeste vive eine innere Rechtspflicht sein,¹⁰⁶ wenn Kant die Pflichten nach der rechtlichen Gesetzgebung als äußere Pflichten ausweist? Ist honeste vive
So führt Kant innere Rechtspflichten in Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1336 zunächst unter dem Prinzip neminem laede ein und auch in MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 587 unterscheidet er innerhalb des Prinzips neminem laede zwischen erzwingbaren äußeren und inneren Rechtspflichten. Vgl. auch VATL, AA XXIII, S. 385 f.,wo Kant innere Rechtspflichten bzw. inneres Recht der „Rechtslehre (doctrina iusti) […] auch ius im allgemeinen Sinne“ unter der Formel neminem laede zuschreibt. TL, AA VI, S. 418 f. So zutreffend Ju 1990, S. 90 f., der diese Lücke aber – entgegen meiner Auffassung – schon für die Vigilantiusmitschrift ansetzt, da Kant innere Rechtspflichten bereits 1794 nicht mehr unter neminem laede subsumiert habe. Dass Kant an dieser Einteilung auch später festhält, zeigt opus posthumum, AA XXI, S. 462: „Also dienen obige classische Formeln zum Princip der Eintheilung der Rechtspflichten überhaupt.“ RL, AA VI, S. 219. Dies ergibt sich eindeutig aus RL, AA VI, S. 237 und S. 240. Vgl. dazu oben Kap. 4, Fn. 10.
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daher ein Fremdkörper in der Kantischen Systematik der Rechtspflichten? Diese Fragen lassen sich damit beantworten, dass bei Kant die Begriffe innen und außen als Prädikate für Pflichten verschiedene Bedeutungen haben können. Vorliegend sind zwei Verwendungsarten zu unterscheiden:¹⁰⁷ Zum einen sind äußere Pflichten entsprechend Kants Nominaldefinition in der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ „Verbindlichkeiten zu äußeren Handlungen“.¹⁰⁸ Äußere Pflichten betreffen hiernach Handlungen, die in Zeit und Raum angeschaut werden können. Umgekehrt haben innere Pflichten innere Handlungen (Zwecksetzungen) zum Gegenstand, die nur vermittels des inneren Sinnes angeschaut werden können.¹⁰⁹ Zum anderen verwendet Kant das Begriffspaar innen – außen zur Beschreibung des Verpflichtungsverhältnisses und differenziert danach, ob Verpflichteter und Verpflichtender in einer Person liegen. Entsprechend sind innere Pflichten Pflichten gegen sich selbst, äußere Pflichten sind Pflichten gegen andere.¹¹⁰ Angesichts dessen ist z. B. die Tugendpflicht der Beförderung fremder Glückseligkeit sowohl eine äußere Pflicht (da sie gegenüber anderen besteht) als auch gleichzeitig eine innere Pflicht (insofern sie eine Zwecksetzung als innere Handlung zur Pflicht macht). Fraglich ist nun, auf welche Begrifflichkeit Kant in der eingangs zitierten Passage rekurriert. Kant unterscheidet hier rechtliche und ethische Gesetzgebung danach, dass erstere „nur äußere Pflichten“ zum Gegenstand hat, wohingegen letztere „auch innere Handlungen zu Pflichten [macht]“.¹¹¹ E contrario meint äußere Pflichten hier „Verbindlichkeiten zu äußeren Handlungen“,¹¹² die in Raum und Zeit stattfinden. Dies bestätigt sich dadurch, dass Kant an dieser Stelle von
Außer Acht gelassen werden kann in diesem Kontext die Unterscheidung von innen und außen in der „Amphibolie der Reflexionsbegriffe“ in KrV, A 265 f./B 321 f. Diese hebt auf die erkenntnistheoretische Problematik der Verwechslung von empirischem und transzendentalem Verstandesgebrauch ab und ist insofern für die rein moralisch-praktische Frage innerer und äußerer Verpflichtung bzw. Pflichten unerheblich. RL, AA VI, S. 220. Vgl. dazu oben S. 52 mit Fn. 74 sowie zur hieran anschießenden Einteilung in Pflichten der äußeren bzw. inneren Freiheit TL, AA VI, S. 406 f. und dazu oben Kap. 3, Fn. 24. Dies belegt vor allem die Gegenüberstellung der beiden Pflichteneinteilungen in RL, AA VI, S. 240 und TL, AA VI, S. 398, wonach Kant innere Pflichten mit Pflichten gegen sich selbst bzw. äußere Pflichten mit Pflichten gegen andere identifiziert. Ein weitere Beleg ist die analoge Verwendung von innen – außen bzgl. innerer und äußerer Gesetzgebung in RL, AAVI, S. 220. Auch hier stellt Kant auf die Identität von Verpflichteten und Verpflichtenden ab: „[W]eil die Gesetzgebung im angeführten Falle eine innere ist und keinen äußeren Gesetzgeber haben kann, wird die Verbindlichkeit zur Ethik gezählt.“ Vgl. dazu ausführlich oben S. 125 – 133. RL, AA VI, S. 219. RL, AA VI, S. 220.
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Zwang als äußerer Triebfeder spricht.¹¹³ Nur Handlungen in Raum und Zeit können Gegenstand einer zwangsbewehrten, rechtlichen Gesetzgebung sein.¹¹⁴ Denn Handlungen, welche alleine in der Zeit sind, können äußerlich nicht abgenötigt werden.¹¹⁵ Wenn Kant also sagt, dass die Pflichten nach der rechtlichen Gesetzgebung nur äußere Pflichten sein können, betrifft die Äußerlichkeit nicht das Verpflichtungsverhältnis (Pflichten gegen sich selbst vs. Pflichten gegen andere), sondern den Gegenstand der Pflicht. Die Innerlichkeit bzw. Äußerlichkeit einer Pflicht hängt hier also davon ab, ob sie auf innere oder äußere Handlungen geht. Vergegenwärtigen wir uns nun noch einmal den Gegenstand innerer Rechtspflichten, so wie sie eingangs dargestellt worden sind:¹¹⁶ Diese Pflichten richten sich allesamt auf Handlungen, die in Raum und Zeit stattfinden. Auch wenn die entsprechenden Verbote (sich selbst zu töten, sich zu prostituieren, sich in die Sklaverei zu veräußern etc.) innere Pflichten sind, insofern sie nur gegenüber einem selbst bestehen,¹¹⁷ sind sie Verbindlichkeiten zu äußeren Handlungen und insofern stets auch äußere Pflichten. Auch honeste vive gebietet, sich im Verhältnis zu anderen nicht zum bloßen Mittel zu machen, und reglementiert damit den eigenen Willkürgebrauch in äußeren Handlungen. Folglich ist honeste vive als äußere Pflicht zu qualifizieren, obschon sie in Anbetracht des Verpflichtungsverhältnisses gleichzeitig eine innere Pflicht ist (d. h. Verpflichteten und Verpflichtenden in einer Person vereint).¹¹⁸ Die vermeintliche Problematik der notwendigen Äußerlichkeit von Rechtspflichten ist damit einer terminologischen Ambivalenz Kants geschuldet. Zumindest vor diesem Hintergrund lässt sich der Rechtspflichtcharakter des honeste vive nicht anzweifeln.
Unmittelbar zuvor spricht Kant in RL, AA VI, S. 219 im Hinblick auf die rechtliche Gesetzgebung von „den p a t h o l o g i s c h e n Bestimmungsgründen der Willkür, den […] Abneigungen, […] weil es eine Gesetzgebung, welche nötigend […] ist, sein soll“.Wenn Kant daher vorliegend von äußeren Triebfedern spricht, hat er damit letztlich Zwang im Auge. Vgl. dazu oben Kap. 2, Fn. 70. Vgl. ähnlich Ludwig 2013a, S. 65. Vgl. Kants Beispiel der inneren Handlung einer Zwecksetzung in RL, AA VI, S. 239: „[S]ich aber einen Zweck vorzusetzen, das kann durch keine äußerliche Gesetzgebung bewirkt werden (weil es ein innerer Act des Gemüths ist)“. Vgl. dazu oben S. 53 und S. 120 f. Vgl. oben S. 170–175. Durch all diese Handlungen werden andere weder lädiert noch in ihrer Willkür anderweitig eingeschränkt (letztere würde vielmehr erweitert, vgl. Kap. 4, Fn. 124), sodass sich die Frage einer rechtlichen Verpflichtung ihnen gegenüber gar nicht stellt. Vgl. ebenso Ludwig 2013a, S. 68.
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4.1.4.3 Honeste vive als Zwangspflicht Wesentlich problematischer ist jedoch die Frage, inwiefern honeste vive als innere Rechtspflicht eine Zwangspflicht darstellt. Wie gezeigt muss laut Kant für Rechtspflichten „ein äußerer Zwang moralisch-möglich“ sein, damit sie einer äußeren Gesetzgebung fähig sind.¹¹⁹ Einerseits spricht nichts gegen die theoretische äußere Erzwingbarkeit der inneren Rechtspflicht: Honeste vive gebietet, alle Handlungen zu unterlassen, die die eigene Persönlichkeit im Verhältnis zu anderen verletzen. Es handelt sich damit um eine vollkommene Pflicht,¹²⁰ bei der die theoretische Möglichkeit der Pflichterfüllung durch äußeren Zwang bereits dadurch begründet ist, dass eine a priori genau bestimmbare (und insoweit erzwingbare) äußere Handlung bzw. Unterlassung geschuldet ist.¹²¹ Honeste vive müsste daher eigentlich eine Zwangspflicht sein, die einer äußeren Gesetzgebung fähig ist. Andererseits hängt die praktische Zulässigkeit äußeren Zwangs laut Kant von der Läsion durch einen anderen ab. Zwang ist nach § D der „Einleitung in die Rechtslehre“ [ … ] Ve r h i n d e r u n g eines H i n d e r n i s s e s d e r F r e i h e i t mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammen stimmend, d.i. recht: mithin ist mit dem Rechte zugleich eine Befugniß, den, der ihm Abbruch thut, zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft.¹²²
Hiernach setzt die Zwangsbefugnis die Verletzungshandlung eines anderen voraus, weil Zwang nur als Gegenzwang zulässig ist. Dem eigenen Zwangsrecht korrespondiert stets die Rechtspflicht eines anderen.¹²³ Hingegen fehlt es beim Verstoß gegen innere Rechtspflichten an einer solchen intersubjektiv relevanten Läsion. Dadurch, dass ich gegen honeste vive verstoße, wird die rechtliche Freiheit eines anderen nicht tangiert.¹²⁴ Dementsprechend kann der andere eigentlich
TL, AA VI, S. 383 und dazu bereits oben S. 53 f. und S. 117– 123, jeweils m. w. N. Dies ergibt sich auch aus der Pflichteneinteilung in RL, AA VI, S. 240. Dies unterscheidet vollkommene Pflichten von unvollkommenen, weil letztere „nur die Maxime der Handlungen, nicht die Handlungen selbst gebieten“, sodass man „nicht bestimmt angeben könne, wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden solle“ (TL, AA VI, S. 390). Vgl. auch oben S. 53 f. mit Fn. 87. RL, AA VI, S. 231, kursive Hervorhebung P.-A. H. Dementsprechend ist die analytische Gleichsetzung von Recht und Zwangsbefugnis in § E der „Einleitung in die Rechtslehre“ (RL, AA VI, S. 232, kursive Hervorhebung, P.-A. H.) an die Verpflichtung durch einen anderen gebunden: „[D]as Recht darf nicht als aus zwei Stücken, nämlich der Verbindlichkeit nach einem Gesetze und der Befugniß dessen, der durch seine Willkür den andern verbindet, diesen dazu zu zwingen, zusammengesetzt gedacht werden, sondern man kann den Begriff des Rechts in der Möglichkeit der Verknüpfung des allgemeinen wechselseitigen Zwanges mit jedermanns Freiheit unmittelbar setzen.“ Vgl. hierzu oben S. 62 f. Sich z. B. zum Sklaven oder Schuldknecht eines anderen zu machen, schränkt dessen Willkür nicht ein. Im Gegenteil: Hierdurch würde dessen rechtlich zulässiger Willkürgebrauch eigentlich
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auch kein Recht (d. h. „das Vermögen, andere zu verpflichten“)¹²⁵ haben, mich zur Erfüllung des honeste vive zu nötigen. Geht es nur um die Wahrung der eigenen Rechtspersönlichkeit, scheint sich die Frage des korrespondierenden Zwangsrechts eines anderen gar nicht zu stellen, sondern nur die Pflichterfüllung durch Selbstzwang in Betracht zu kommen.
4.1.4.3.1 Die überholte Unterscheidung von rechtlichen Pflichten und Rechtspflichten Kann honeste vive eine Rechtspflicht und dennoch keine Zwangspflicht sein? Diesen zweideutigen Status scheinen innere Rechtspflichten erst in der Metaphysik der Sitten erlangt zu haben, denn noch in der Metaphysik der Sitten-Vigilantius macht Kant einen eindeutigen Unterschied zwischen Rechtspflichten und rechtlichen Pflichten: [E]ndlich ist nicht jedes officium strictum d.i. jede Rechtspflicht eine Zwangspflicht in dem angenommenen Sinne, vielmehr läßt sich Zwang denken, ohne daß er eine Pflicht gegen andere voraussetzt: es giebt Rechtspflichten oder officia stricta, zu denen man gezwungen werden kann, ohne daß ein anderer mich zwingen kann, z. E. es ist strenge Pflicht der Menschheit in meiner eigenen Person, daß ich über meinen Körper nicht als Eigenthümer disponiren kann: auch ein anderer kann mich hierin nicht geradezu zwingen. Ebenso wenig sind Pflichten darum imperfecta, weil mich ein anderer dazu nicht zwingen kann: ich bin es dem Zwecke der Menschheit allerdings schuldig, mich zu vervollkommnen, nur freilich das Maaß der Vollkommenheit läßt sich nicht vorschreiben. Herr Kant bestimmt sich daher über diese Eintheilung dahin: Rechtspflichten sowohl gegen sich selbst als gegen andere sind officia juris, erstere interna, letztere externa. Die externa sind diejenige species der Rechtspflichten, die er Zwangspflichten oder eigentliche officia juridica, rechtliche Pflichten, nennt, und in Ansehung derer der äußere Zwang ein richtiger Charakter ist.¹²⁶
1794 bezeichnet Kant alle vollkommenen Pflichten (officia stricta bzw. officia juris) generell als Rechtspflichten. Die Vollkommenheit und nicht etwa die Zwangsbefugnis ist konstitutives Merkmal der Rechtspflichten, denn nicht jede Rechtspflicht ist eine Zwangspflicht. Nur die äußeren Rechtspflichten gegen andere bilden innerhalb der Rechtspflichten noch eine Unterklasse, welche Kant rechtliche Pflichten (officia juridica) nennt. Kant kennt hier also drei Arten von Pflichten: zum einen unvollkommene Tugendpflichten, welche auf bestimmte Pflichtzwecke
sogar erweitert werden, etwa durch Verfügungsrechte über den Sklaven bzw. Schuldknecht. Letzteres geschieht nach Kant allein deswegen nicht, weil die vorhergehende Selbstveräußerung unwirksam ist, vgl. unten S. 203 mit Fn. 153. RL, AA VI, S. 239. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 582. Vgl. ähnlich ebd., S. 585 – 587.
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gehen; zum anderen innere Rechtspflichten und äußere (erzwingbare) rechtliche Pflichten. Die beiden letzteren sind vollkommene Unterlassungspflichten, die auf a priori genau bestimmbare Handlungen gehen: Alle Rechte gründen sich auf den Begriff der Freiheit, und sind eine Folge der Behinderung des Abbruches der gesetzmäßigen Freiheit: mithin alle negativ und stricter Art, so wie prohibitio ex propositione neminem laede. Soviel nun die scientiam juris oder wissenschaftliche Kenntniß der rechtlichen Pflichten, welche eine äußere rechtliche Verbindlichkeit enthalten, betrifft, so gehört diese insoweit zum jure naturae speciell, als sie das Recht der Menschen gegen einander betrifft, dagegen nur zur Moral das jus gehört, so Rechte und Pflichten in meiner eigenen Person ausmacht.¹²⁷
Übertragen auf 1797 wäre honeste vive als vollkommene Pflicht eine Rechtspflicht, als Pflicht gegen sich selbst aber keine erzwingbare rechtliche Pflicht. Sie gehörte als innere Rechtspflicht „zur Moral“, nicht jedoch „zum jure naturae speciell“.¹²⁸ Jedoch unterscheidet Kant in der Rechtslehre nicht mehr zwischen rechtlichen Pflichten und Rechtspflichten. Der Grund scheint zu sein, dass er sich im Privatrecht und Öffentlichen Recht nur noch mit den rechtlichen Pflichten beschäftigt, d. h. mit den äußeren, erzwingbaren Rechtspflichten. Diese Einschränkung resultiert jedoch nicht etwa daraus, dass Kant 1797 vom Konzept innerer Rechtspflichten abgekommen wäre (honeste vive beweist das Gegenteil), sondern aus einer definitorischen Engführung des moralischen Begriff des Rechts in der „Einleitung in die Rechtslehre“. Der moralische Rechtsbegriff als „das Vermögen, andere zu verpflichten“¹²⁹ ist in der Rechtslehre zu jeder Zeit ausschließlich intersubjektiv gedacht. Denn schon zu Beginn beschränkt Kant den Rechtsbegriff in § B der „Einleitung in die Rechtslehre“ auf „das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Fakta aufeinander […] Einfluss haben können“.¹³⁰ Folglich erfährt auch die Herleitung der Zwangsbefugnis in § D eine entsprechende Beschränkung und hängt von der Läsion eines anderen in diesem interpersonalen Verhältnis ab.¹³¹ Somit widmet
MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 587. Vgl. zu dieser Pflichteneinteilung der MdS-Vigilantius ebenso Ju 1990, S. 61– 78; Durán Casas 1996, S. 49 – 54 und Denis 2010, S. 178 – 181. RL, AA VI, S. 239. RL, AA VI, S. 230, vgl. auch oben S. 55 – 59. Nach der Rechtslehre ist Zwang nur insoweit zulässig, als er einen Willkürgebrauch darstellt, der mit dem Willkürgebrauch des anderen nach einem allgemeinen Gesetz bestehen kann. Vgl. oben S. 61 f. sowie S. 136 – 139. Diese Beschränkung der Zwangsbefugnis auf die Wiederherstellung eines allgemeingesetzlich vertretbaren intersubjektiven Willkürgebrauchs ist die Kehrseite der begrifflichen Engführung des moralischen Rechtsbegriffs auf wechselseitige Willkürverhältnisse.
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sich Kant im ersten Teil der Metaphysik der Sitten ausschließlich den Zwangsrechten, welchen äußere Rechtspflichten (d. h. erzwingbare Rechtspflichten gegenüber anderen) korrespondieren.¹³² Kants Fokus auf den so bestimmten Rechtsbegriff hat Folgen für die Behandlung der inneren Rechtspflichten. Diese geraten in der Metaphysik der Sitten als eigenständiger Gegenstand aus dem Blick, da sich die gesamte Rechtslehre ausschließlich der Erläuterung und systematischen Entfaltung des moralischen Rechtsbegriffs und damit den äußeren Rechtspflichten gegenüber anderen widmet. Weil Kant das Recht nur insoweit interessiert, als es mit dem Vermögen, andere zu verpflichten, zusammenhängt, gehören innere Rechtspflichten und das korrespondierende Recht der Menschheit „zur Rechtslehre als bloße Einschränkende Bedingung“.¹³³ Die Bedeutung des honeste vive für die Rechtslehre erschöpft sich darin, die Möglichkeit wechselseitiger rechtlicher Verpflichtung durch die Bedingung einzuschränken, dass man dabei „im Verhältniß zu Anderen seinen Werth als den eines Menschen […] behaupte[t]“.¹³⁴ Daher kommt es innerhalb der Metaphysik der Sitten zu einer funktionalen Aufspaltung der vollkommenen Pflichten gegen sich selbst, welche 1794 noch eine eigene systematische Einheit bildeten.¹³⁵ Sie werden nunmehr als erster Teil der Tugendlehre verhandelt und kommen in der Rechtslehre lediglich punktuell als einschränkende Bedingung der Rechtsausübung zum Tragen. Eine eigenständige rechtliche Bedeutung hat die vollkommene Pflicht zur Erhaltung der eigenen Personalität damit nicht mehr. Dies führt in der Architektonik der Metaphysik der Sitten zu einer gewissen Asymmetrie, weil Kant hierdurch der Unterteilung der Metaphysik der Sitten zwei verschiedene Kriterien zugrunde legt. Zum einen differenziert er nach der Vollkommenheit der Pflichten: Vollkommene Pflichten bilden den Gegenstand der Rechtslehre und unvollkommene Pflichten den der Tugendlehre.¹³⁶ Zum anderen
Vgl. mit ähnlichem Ergebnis bei im Detail unterschiedlicher Argumentation Eppeneder 1980, S. 54– 123, zusammenfassend S. 258 f.; Durán Casas 1996, S. 58 – 66 und Ludwig 2013a, S. 69 – 71. VA TL, AA XXIII, S. 391, vollständig zitiert oben S. 183 f. Vgl. ähnlich auch ebd., S. 384: „Die Rechtslehre als Lehre strenger Pflichten (unter bestimmten Gesetzen) ist entweder die Lehre des inneren oder äußeren Rechts […]. Die erste gehört […] zur Moral überhaupt und also auch zum Recht als einschränkende höchste Bedingung.“ RL, AA VI, S. 236. Vgl. oben S. 170–175 m. w. N. Vgl. deutlich RL, AAVI, S. 239 f., wo Kant zunächst alle Pflichten nach der Vollkommenheit in Rechts- und Tugendpflichten unterscheidet (insofern bei ersteren eine konkrete Handlung, bei letzteren eine Zwecksetzung geschuldet ist, vgl. oben S. 53 f.) und sodann in der folgenden Tafel eine entsprechende Einteilung der Metaphysik der Sitten vornimmt. Das gleiche Einteilungsprinzip findet sich auch in den Einleitungen VI–XI der Tugendlehre. In TL, AA VI, S. 398 werden nur die unvollkommenen Pflichten gegen sich (Beförderung eigener Vollkommenheit) und gegen
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unterscheidet Kant die Disziplinen der Metaphysik der Sitten nach der Möglichkeit einer äußeren Gesetzgebung und der zugrundeliegenden äußeren Erzwingbarkeit der Pflichten: Die Rechtslehre hat es mit den äußerlich erzwingbaren Rechten und Pflichten zu tun, die Tugendlehre mit den nicht erzwingbaren.¹³⁷ Diese Einteilungen decken sich größtenteils,¹³⁸ allein honeste vive lässt sich als innere Rechtspflicht in der Gesamtschau der Metaphysik der Sitten systematisch weder eindeutig der Rechtslehre noch der Tugendlehre zuweisen. Einerseits fallen die inneren Rechtspflichten nicht unter den Begriff des Rechts, verstanden als das Vermögen, andere zu verpflichten. Sie sind daher kein eigenständiger Bestandteil der Rechtslehre, insofern damit die Lehre von erzwingbaren Rechten und Rechtspflichten gegenüber anderen gemeint ist, sondern nur noch eine einschränkende Bedingung der äußeren Rechtsausübung. Andererseits bleiben alle vollkommenen Pflichten strukturell Rechtspflichten, was einer Zuordnung zur Tugendlehre, verstanden als Lehre der unvollkommenen Pflichten bzw. der Pflichtzwecke, widerspricht. Letzteres betrifft nicht nur honeste vive, sondern – genau genommen – auch die vollkommenen Pflichten gegen sich selbst, so wie sie im ersten Teil der Tugendlehre dargestellt werden.¹³⁹ andere (Beförderung fremder Glückseligkeit) als Gegenstand der Tugendlehre ausgewiesen. Die vollkommenen Pflichten gegen sich selbst, die Kant gerade einmal 20 Seiten später verhandelt (ebd., S. 421– 444) werden hingegen nicht aufgeführt. Dies ergibt sich aus der analytischen Gleichsetzung von Recht und der Befugnis zu äußerem Zwang in § E der „Einleitung in die Rechtslehre“ (RL, AA VI, S. 232), aus der Pflichteneinteilung in RL, AA VI, S. 239 sowie aus der entsprechenden Abgrenzung der Tugendlehre vom Recht in den Einleitungen I, IX und X in TL, AA VI, S. 379 – 382 und S. 394– 396. Tugendpflichten, insofern sie auf bestimmte Pflichtzwecke gehen, sind unvollkommen und nicht erzwingbar. Äußere Rechtspflichten sind vollkommen und erzwingbar. Ohne dies hier näher ausführen zu können, gibt es mehrere Anzeichen dafür, dass Kant – trotz des äußeren Anscheins – die Systematisierung der Vigilantiusmitschrift in der Metaphysik der Sitten nicht endgültig aufgegeben hat und mit der Pflicht des honeste vive und den vollkommenen Pflichten gegen sich selbst in der Tugendlehre eine eigene Pflichtenklasse von nicht-erzwingbaren Rechtspflichten i. w. S. ausweist: 1) Strukturgleichheit: Honeste vive ist mit den vollkommenen Pflichten der Tugendlehre grosso modo strukturgleich. Die dort verhandelten Verbote des Selbstmords, der Onanie, der Genusssucht, der Lüge, des Geizes, der Kriecherei etc. (vgl. TL, AA VI, S. 421– 444) entsprechen als vollkommene Pflichten strukturell den Verboten, die Kant in der Vigilantiusmitschrift noch als innere Rechtspflichten ausweist. Vgl. oben S. 170–175. Der denkbare Einwand, die für honeste vive konstitutive intersubjektive Relevanz fehle bei den vollkommenen Tugendpflichten gegen sich selbst, ändert zunächst nichts an dieser Strukturgleichheit und trifft außerdem nicht auf alle vollkommenen Pflichten der Tugendlehre zu, da z. B. auch die Kriecherei von Kant intersubjektiv konzipiert wird. 2) Begründungsgleichheit: Dieser Strukturgleichheit korrespondiert eine Begründungsgleichheit, insofern bei honeste vive und den vollkommenen Pflichten der Tugendlehre zur Be-
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gründung gleichermaßen auf die Persönlichkeit im spezifisch rechtlichen Sinne abgestellt wird. Der Zweck der Menschheit in unserer Person gibt Zwecke vor, die positiv zu verfolgen Pflicht ist (etwa der Pflichtzweck eigener Vollkommenheit, vgl. TL, AA VI, S. 386 f., 391– 393 und S. 398). Das Recht der Menschheit in unserer Person gebietet die Unterlassung von Handlungen, die die eigene Persönlichkeit aufheben. Sowohl honeste vive, als auch die vollkommenen Pflichten in der Tugendlehre sind negative Unterlassungspflichten und rekurrieren mithin auf das Recht der Menschheit in unserer Person. Dass Kant in der Tugendlehre insofern später von Handlungen wider den Naturzweck spricht (TL, AA VI, S. 419, 424– 426 und S. 429), ändert hieran nichts. Zum einen ist der Naturzweck gerade nicht moralischer Pflichtzweck. Zum anderen scheint Kant dem Naturzweck keine moralische Begründungsfunktion beizumessen. So betont er in TL, AAVI, S. 425 ausdrücklich, dass bspw. Masturbation zwar naturzweckwidrig sei, insofern es einen „unnatürlichen und […] unzweckmäßigen Gebrauchs seiner Geschlechtseigenschaften“ darstelle. Jedoch liege der für die Verletzung der Pflicht gegen sich selbst maßgebliche „B e w e i s g r u n d […] freilich darin, daß der Mensch seine Persönlichkeit dadurch (wegwerfend) aufgiebt“. 3) Unterscheidung von Zwangsrecht und facultas moralis generatim: Kant weist in der Tugendlehre (TL, AA VI, S. 383) explizit einen Rechtsbegriff i. w. S. aus, der sich vom Recht i. e. S. als der Befugnis zu zwingen unterscheidet: „Aller Pflicht correspondirt ein Recht, als B e f u g n i ß (facultas moralis generatim) betrachtet, aber nicht aller Pflicht correspondiren R e c h t e eines Anderen (facultas iuridica) jemand zu zwingen; sondern diese heißen besonders R e c h t s p f l i c h t e n .“ Dies entspricht funktional dem Begriff der Rechtspflicht in der Vigilantiusmitschrift, bei der auch die äußere Erzwingbarkeit durch einen anderen fehlt. 4) Disparität von Einleitung und Haupttext: In der gesamten „Einleitung zur Tugendlehre“ werden die Tugendpflichten über ihre Unvollkommenheit bestimmt und gegenüber Rechtspflichten dadurch abgegrenzt, dass sie nicht auf Handlungen, sondern bestimmte Zwecksetzung gehen. Kant kennt hier nur zwei Tugendpflichten, nämlich eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit (vgl. TL, AA VI, S. 379 – 398). Im Haupttext wird jedoch – in Anbetracht der vorherigen Ausführungen vollkommen unerwartet – mit den vollkommenen Tugendpflichten gegen sich selbst eine neue Pflichtenklasse eingeführt, vgl. TL, AAVI, S. 419. Damit liegen Einleitung und Haupttext zwei disparate Einteilungsschemata zugrunde: Das Schema der Einleitung lässt – in Zusammenschau mit der Rechtslehre, die sich nur den äußeren Rechtspflichten widmet – eine Lücke im Hinblick auf die vollkommenen Pflichten gegen sich selbst erwarten. Das Schema des Haupttexts hingegen schließt genau diese Lücke durch Anerkennung solcher Pflichten als Tugendpflichten. 5) Einteilung der Metaphysik der Sitten als Ganze: Ebenso lässt die Tafel der „Einteilung der Metaphysik der Sitten überhaupt“ (RL, AA VI, S. 240) einen eigenen Abschnitt zu den vollkommenen Pflichten gegen sich selbst innerhalb der Rechtslehre erwarten. Umgekehrt werden hiernach ausschließlich unvollkommene Pflichten als Tugendpflichten ausgewiesen, welches dann zwar mit der späteren Systematisierung der Einleitung übereinstimmt, jedoch der des Haupttexts der Tugendlehre widerspricht. Es bleibt zu vermuten, dass dieses Nebeneinander unterschiedlicher Systematisierungsentwürfe in der Metaphysik der Sitten darauf zurückzuführen ist, dass Kant auch mit Erscheinen der Tugendlehre zu keiner endgültigen pflichtentheoretischen Einordnung der vollkommenen Pflichten gegen sich selbst gelangt ist. Aus meiner Sicht scheint Kant mit der pflichtentheoretischen Erfassung innerer Pflichten (durch die zweifache Betrachtung des Menschen als homo noumenon und homo phaenomenon Anfang/Mitte der 1790er Jahre) vor das Problem gestellt worden zu sein, eine Klassifikation moralischer Pflichten zu entwickeln, die die Dichotomie
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4.1.4.3.2 Innere Rechtspflichten als Zwangspflichten – eine gebotene immanente Kant-Korrektur? Die Tatsache, dass die vollkommenen Pflichten gegen sich selbst aus den zuvor genannten Gründen als Fremdkörper in der Architektonik der Metaphysik der Sitten erscheinen, wirft die Frage auf, ob dies einer systematisch inkonsequenten Behandlung durch Kant geschuldet sein könnte. Kurz: Müssten vielleicht auch vollkommene Pflichten gegen sich selbst richtigerweise als erzwingbare Rechtspflichten aufgefasst werden? Kant selbst wendet sich gegen eine begriffliche Gleichsetzung von vollkommenen Pflichten und Zwangspflichten, wie sie in der klassischen Schulphilosophie vorgenommen wird.¹⁴⁰ Die Zwangsbefugnis müsse vielmehr aus dem Rechtsbegriff bewiesen werden. In der Metaphysik der Sitten-Vigilantius beklagt Kant, es sei bis jetzt […] ein unerwiesenes assumtum des Rechts […], die Befugniß zum Zwange als axiom des Rechts anzusehen. Man nahm nemlich die Befugniß zu zwingen als einen Grundbegriff des Rechts an, und legte sie in die definition selbst vom Recht. Da aber Niemand ein Zwangsrecht ausüben kann, der nicht dazu aus einem höheren Grunde ein Recht erhalten, dieser Grund aber in der eigenen Freiheit und deren übereinstimmendem Verhältniß mit der Freiheit von Jedermann nach dem allgemeinen Gesetz bestehet, so ist klar, daß die Befugniß zu zwingen nur aus der Idee des Rechts selbst abgeleitet werden kann.¹⁴¹
Ob Kants Beschränkung der äußeren Zwangsbefugnis (d. h. des Zwangs durch andere) auf äußere Rechtspflichten systematisch gerechtfertigt ist, bemisst sich mithin allein danach, ob sich aus der Idee des Rechts eine solche Beschränkung des Zwangs auf intersubjektive Verhältnisse ableiten lässt. Dies erscheint aus zwei Gründen fraglich: Zunächst spricht die bereits erläuterte Rechtfertigung der Zwangsbefugnis über die fehlende moralische Schutzwürdigkeit einer Handlung gegen eine solche Beschränkung. Recht und Zwangsbefugnis folgen bei Kant gleichermaßen daraus, dass die Freiheit in ihrem äußeren Gebrauch unter Gesetzen steht. Indem Recht bestimmte
vollkommene erzwingbare – unvollkommene nicht-erzwingbare Pflichten der klassischen Schulphilosophie sprengt. Die Vigilantiusmitschrift, die Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten, die Systematisierungsversuche innerhalb der Rechtslehre sowie die Einteilungsschemata der Einleitung bzw. des Haupttextes der Tugendlehre zeigen zwar eine Entwicklung in Kants Denken, bleiben aber bis zuletzt zumindest in Teilen inkompatibel. Als Hypothese scheint es daher plausibel, dass wir hierbei jeweils unterschiedliche Entwicklungsschichten im Hinblick auf Kants Einordnung vollkommener Pflichten gegen sich selbst haben, die jedoch keine endgültige, stabile Position Kants wiedergeben. Vgl. Achenwall/Pütter, Elementa iuris naturae, § 185. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 526. Vgl. ebenso Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1335.
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Handlungen als unzulässig ausweist, beschreibt es gleichzeitig die moralisch möglichen Zwangshandlungen. Wer eine Rechtsverletzung begeht, ist insoweit (d. h. sofern seine Rechtsverletzung reicht) nicht schützenswerte Rechtsperson. Durch entgegenstehende Zwangshandlungen wird seine moralische Freiheit gar nicht betroffen, sodass sich die Zwangsbefugnis als Problem überhaupt nicht stellt. Bei unrechten Handlungen, die gegen äußere Rechtspflichten verstoßen, ist eine entgegenstehende Zwangshandlung zulässig, weil diese die moralische Freiheit des Schädigers nicht lädiert. Die Rechtsverletzung des Schädigers ist nicht mehr Ausdruck seiner moralisch gebilligten Freiheit: „Hieraus folgt, daß ich zu allen Handlungen befugt bin, die dem Recht des anderen, d.i. seiner moralischen Freiheit nicht widerstreiten, denn insofern thue ich seiner Freiheit keinen Abbruch […].“¹⁴² Das Gleiche lässt sich jedoch schlechthin für Zwangshandlungen im Falle der Verletzung vollkommener Pflichten anführen. Ausschließlich selbstschädigende Handlungen, die gegen vollkommene Pflichten gegen sich selbst verstoßen, sind ebenso wenig Ausdruck der eigenen Freiheit nach moralischen Gesetzen wie die willkürliche Verletzung anderer in ihren Rechten (d. h. fremdschädigende Handlungen, die gegen äußere Rechtspflichten verstoßen). Insofern Kant vollkommene Pflichten gegen sich selbst anerkennt, werden bestimmte Verhaltensweisen bzw. Handlungen als nicht moralisch schützenswert ausgewiesen. Dies gilt auch, wenn durch sie keine anderen Personen betroffen oder lädiert werden. Auch das Recht der Menschheit in der eigenen Person kreiert (als spezifische Ausprägung der Rechtsidee) einen moralischen Schutzbereich, welcher einen bestimmten Freiheitsgebrauch als unsittlich ausweist. Dem entgegenstehende Zwangshandlungen Dritter betreffen die eigene moralische Freiheit nicht und sind mithin zulässig. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich – in der Terminologie der Metaphysik der Sitten – um innere Rechtspflichten (Verbot von Prostitution,Verkauf seiner selbst als Sklave etc.) oder vollkommene Tugendpflichten gegen sich selbst (Verbot von Selbstmord, Selbstschändung etc.) handelt. Hierfür spricht noch ein weiteres Argument, das gegen die Beschränkung der Zwangsbefugnis auf äußere Rechtspflichten angeführt werden kann. Denn träfe letztere zu, ergäbe sich – ausgehend von Kantischen Prinzipien – das Paradox, dass gewisse Handlungen verboten und gleichzeitig moralisch zulässig wären. Wenn nämlich die Idee des Rechts (in Form des Rechts der Menschheit in der eigenen Person) bestimmte Verhaltensweisen als unmoralisch sanktioniert, kann sie sie nicht gleichzeitig gegenüber anderen Personen als rechtlich schützenswert ausweisen. Dies gilt im Ergebnis für alle vollkommenen Pflichten gegen sich selbst. Verbieten diese bestimmte Handlungen, so kann ich mich gegen Zwangsmaßnahmen Dritter, die diese zu unterbinden versuchen, nicht mit dem Argument
MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 525 f. Vgl. hierzu ausführlich oben S. 133 – 139.
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wenden, deren Intervention sei unrecht. Denn dies hieße e contrario, dass ich ein moralisches Recht zur eigentlich moralisch verbotenen Handlung hätte. Illustrativ lässt sich dies am Beispiel des Selbstmordverbots veranschaulichen. Dieses statuiert die vollkommene Pflicht zur Erhaltung der eigenen Personalität, die Kant bis 1797 als innere Rechtspflicht behandelt, in der Metaphysik der Sitten dann aber als vollkommene Tugendpflicht gegen sich selbst ausweist:¹⁴³ Beabsichtigt also jemand, durch Selbstmord aus Lebensüberdruss gegen diese innere Pflicht zur Erhaltung der eigenen Personalität zu verstoßen – wobei wohlgemerkt allein die Entäußerung/Herabwürdigung der Persönlichkeit moralisch maßgeblich ist –,¹⁴⁴ so ist dieser Willkürgebrauch nicht mehr Ausdruck seiner moralischen Freiheit. Hält ein anderer den Suizidenten durch Zwang von seiner Tat ab (z. B. indem er ihm in den Arm fällt oder ihm die Waffe aus der Hand reißt), so wird der moralische Schutzbereich des Suizidenten nicht tangiert. Um dies einzusehen, muss man sich nur fragen, ob dem Suizidenten die Befugnis zukommt, sich gegen die Intervention zu verteidigen. Diese Befugnis hätte er nur, wenn er gegenüber dem anderen geltend machen könnte, durch die Intervention in seinen Rechten lädiert zu werden. Jedoch hat der Suizident weder ein Recht noch eine anderweitige moralische Befugnis, sich umzubringen, sonst könnten wir nicht sagen, er habe eine vollkommene Pflicht zur Erhaltung der eigenen Personalität. Folglich ist die
Vgl. oben S. 170–175 m. w. N.Vgl. zur Rechtfertigung des Kantischen Selbstmordverbots jüngst erhellend Uleman 2016. Eigene Handlungen, die unweigerlich zum eigenen Tode führen, sind nicht schlechthin moralisch verwerflich. Nur in Anbetracht der Persönlichkeit ist das Leben durch moralische Gesetze geschützt bzw. der eigene Willkürgebrauch diesbezüglich eingeschränkt. Vgl. Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg. von Werner Stark, S. 222: „Der Selbstmord ist nicht deswegen abscheulich und unerlaubt, weil das Leben ein so hohes Guth seyn sollte […]. Es ist besser das Leben aufzuopfern als die Moralität zu verletzen.“ Vgl. auch ebd., S. 226 – 229 sowie MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 627– 630 und dazu oben S. 173 f. mit Fn. 35. Folglich ist – um beim gewählten Beispiel zu bleiben – die Selbststötung aus Lebensüberdruss verwerflich, diejenige des Soldaten, der sich zum Schutz der Einheit und zur Erlangung des Siegs auf eine Granate wirft, hingegen nicht. „[D]enn sein Leben gegen seine Feinde zu wagen, und die Pflicht gegen sich selbst zu beobachten, und auch sein Leben aufzuopfern, ist kein Selbstmord. […] Die Intention sich selbst zu destruiren macht den Selbstmord aus.“ (Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg. von Werner Stark, S. 219 f.). Insofern haben vollkommene Tugendpflichten gegen sich selbst durchaus einen intentionalen Bezug, und hierin mag ein Grund liegen, warum Kant sie aus der Rechtslehre ausgliedern wollte. Gleichwohl konstituieren vollkommene Tugendpflichten konkrete Handlungsverbote (im Sinne einer Rechtspflicht). Die Intention des Handelnden ist lediglich als heuristisches Mittel zur Ausmittlung einer Persönlichkeitsverletzung, d. h. für die praktische Anwendung dieser Handlungsverbote, relevant. In diesem Sinne sind Kants kasuistische Überlegungen in TL, AA VI, S. 423 – 444 zu lesen. Vgl. zum Begriff Kasuistik i. Ü. nur TL, AA VI, S. 411 und VA RL, AA XXIII, S. 369, 389 und S. 419.
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Intervention des anderen auch kein Unrecht – dies folgt trivial aus Kants Herleitung der Zwangsbefugnis nach dem Satz vom Widerspruch.¹⁴⁵ Insofern kann man sogar noch weiter gehen: Intersubjektiv gedacht, hat der Dritte nach Kants Rechtsbegriff – zumindest in einem schwachen Sinne – ein Recht, den anderen am Selbstmord zu hindern, denn sein Willkürgebrauch stimmt mit dem Willkürgebrauch des Suizidenten nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen, weil ebendieses Gesetz den Selbstmord verbietet.¹⁴⁶ Ist dies zutreffend, ist Kants Beschränkung der Zwangsbefugnis auf äußere Rechtspflichten systematisch nicht zu rechtfertigen. Eine immanente Kant-Korrektur wäre hiernach an zwei Stellen geboten: Zunächst sollte auch honeste vive als innere Rechtspflicht erzwingbar sein, weil die Zwangsbefugnis unmittelbar aus der Vollkommenheit einer Pflicht folgt. Innere Rechtspflichten, insofern sie vollkommene Pflichten sind, beschreiben die gesetzliche Einschränkung des äußeren Freiheitsgebrauchs, welche analytisch aus dem Begriff der Freiheit der Willkür abzuleiten ist.¹⁴⁷ Sie enthalten eine Verpflichtung zu einer konkreten, a priori bestimmbaren äußeren Handlung bzw. Unterlassung.¹⁴⁸ Schon allein dadurch ist es theoretisch möglich, diese Pflichten äußerlich zu erzwingen. Äußerer Zwang ist aber auch praktisch zulässig, denn wer eine Rechtsverletzung begeht (gleichgültig ob bei inneren oder äußeren Rechtspflichten), ist insoweit (d. h. sofern seine Rechtsverletzung reicht) nicht schützenswerte Rechtsperson. Die Zwangsbefugnis als Problem stellt sich überhaupt nicht, weil entgegenstehende Zwangshandlungen den anderen nicht in seiner rechtlich geschützten Freiheit berühren. Systematisch konsequent hätte Kant honeste vive daher nicht nur als einschränkende Bedingung der äußeren Rechtsausübung konzipieren dürfen, sondern als echte Zwangspflicht. Auch innere Rechtspflichten sind solche
Unrecht anderer fängt erst da an, wo eigenes Recht beginnt. Tertium non datur.Vgl. RL, AAVI, S. 231 und dazu oben S. 61 f. Zugegeben ist es befremdlich, angesichts der Zwangsbefugnis des Dritten zu sagen, der Suizident sei gegenüber dem Dritten rechtlich zur Selbsterhaltung verpflichtet. Dennoch ist das Verhalten des Dritten in völligem Einklang mit dem allgemeinen Rechtsprinzip und insofern Ausdruck seines angeborenen Rechts der Freiheit, vgl. oben S. 59 f. und S. 65. Vgl. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 587: „Die interna juris stricti sind der Form nach alle Pflichten gegen sich selbst, die darum streng sind, […] weil sie aus dem Begriff der Freiheit durch das Gesetz des Widerspruchs, mithin analytisch, abgeleitet werden, und also von der Art sind, daß sie eine Nothwendigkeit bey sich führen, die auch die Pflichthandlung selbst bestimmt […].“ Die Vollkommenheit lässt sich bei Kant (zumindest implizit) durchgehend als wesentliches Charakteristikum einer Rechtspflicht nachweisen.Vgl. GMS, AA IV, S. 421– 424; MoralphilosophieMrongovius II, AA XXIX, S. 617 f.; Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1333 – 1336; MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 578 sowie zuletzt explizit RL, AA VI, S. 239 und S. 388 – 390. Vgl. dazu auch oben S. 53 f., 93 – 101 und S. 120 – 122 sowie teilweise auch schon Hirsch 2012a, S. 31 f. und S. 75 – 77.
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Pflichten, für die eine juridische, äußere Gesetzgebung möglich ist,¹⁴⁹ und unterliegen daher definitionsgemäß der Rechtslehre.¹⁵⁰ Des Weiteren ist hiernach Kants Architektonik der Metaphysik der Sitten in Frage zu stellen: Falls honeste vive wegen ihrer Vollkommenheit als erzwingbare Pflicht zu konzipieren ist, lässt sich auch die Differenzierung zwischen inneren Rechtspflichten und vollkommenen Tugendpflichten gegen sich selbst innersystematisch nicht mehr rechtfertigen. Nur weil Kant Rechtspflichten auf Grund einer semantischen Entscheidung (§ B der „Einleitung in die Rechtslehre“) als intersubjektive Zwangspflichten begreift, muss er vollkommenen Pflichten gegen sich selbst einen anderen systematischen Platz zuweisen und behandelt sie daher in der Tugendlehre. Insofern war Kants Differenzierung in der Vigilantiusmitschrift zwischen Rechtspflichten im Allgemeinen und erzwingbaren rechtlichen Pflichten im Besonderen zumindest sachnäher, da mit dem Kriterium der Vollkommenheit eine eindeutige kategoriale Bestimmung von Rechts- und Tugendpflichten möglich war.¹⁵¹ Gleichwohl hat auch diese Binnendifferenzierung innerhalb des Rechts nach Kantischen Prinzipien keine sachliche Berechtigung, wenn vollkommene Pflichten eo ipso erzwingbare Pflichten sind. Die Verortung der vollkommenen Pflichten gegen sich selbst in der Tugendlehre erzeugt hiernach nicht nur eine systematische Asymmetrie, vielmehr ist der Begriff einer vollkommenen Tugendpflicht gewissermaßen eine contradictio in adiecto. Die Pflichten gegen sich selbst, die Kant zu Anfang der Tugendlehre verhandelt, müssten also systematisch konsequent als erzwingbare innere Rechtspflichten innerhalb der Rechtslehre behandelt werden. Ob diese immanente Kant-Korrektur allerdings in allen Punkten überzeugt, ist eine andere Frage.¹⁵² Sicher ist nur, dass die Verortung innerer Rechtspflichten innerhalb einer Metaphysik der Sitten sowie ihre fragliche Abgrenzbarkeit ge-
In VA TL, AA XXIII, S. 390 gesteht Kant selbst ein, dass innere Rechtspflichten keine Triebfederbestimmung durch reine Vernunft erfordern: „Das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person gehört also noch nicht in die Tugendlehre weil sie [sc. die Menschheit] auch nicht verlangt daß die Idee der Pflicht gegen sich selbst zugleich die Triebfeder der Handlungen sey:“ Ist mithin eine juridische Gesetzgebung in Ansehung des Rechts der Menschheit möglich, so kann diese auch äußerlich sein. Vgl. RL, AA VI, S. 220 und dazu S. 123 – 133. Vgl. RL, AA VI, S. 229: „Der Inbegriff der Gesetze, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist, heißt die R e c h t s l e h r e (Ius).“ Vgl. oben S. 193 – 196 und auch Kap. 4, Fn. 139. Weiter erläuterungsbedürftig wären insbesondere die bereits angesprochenen Punkte, ob innere Rechtspflichten durch die Anerkennung einer Zwangsbefugnis nicht eo ipso zu äußeren Rechtspflichten gegenüber den potentiell Zwangsbefugten würden (vgl. Fn. 146) und inwiefern sich vollkommene Tugendpflichten gegen sich selbst durch den intentionalen Bezug nicht doch von inneren Rechtspflichten unterscheiden (vgl. Fn. 144).
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genüber vollkommenen Tugendpflichten gegen sich selbst Probleme darstellen, die Kant 1797 nicht überzeugend zu lösen vermochte. Abschließend lassen sich gleichwohl – jenseits der verbliebenen offenen Fragen – Status und Funktion des Rechts der Menschheit in der eigenen Person sowie der korrespondierenden inneren Rechtspflicht (honeste vive) zumindest in der Form ausweisen, die Kant 1797 der Konzeption der Metaphysik der Sitten zugrunde legt.
4.1.5 Honeste vive und das Recht der Menschheit in der Metaphysik der Sitten Honeste vive ist hiernach zweifelsohne als innere Rechtspflicht zu qualifizieren. Diesbezügliche Bedenken angesichts des Wortlauts und der vorherigen Verwendung dieser Formel bei Kant lassen sich wie gezeigt ausräumen. Unabhängig von der Frage der systematischen Schlüssigkeit seines Vorgehens konzipiert Kant die innere Rechtspflicht allerdings nicht als äußerlich erzwingbare Pflicht, sondern als einschränkende Bedingung der äußeren Rechtsausübung. Honeste vive verpflichtet den Einzelnen zur Wahrung und Aufrechterhaltung der Menschheit in seinem äußeren Rechtshandeln. Damit ist die innere Rechtspflicht allen äußeren Rechtspflichten als Möglichkeitsbedingung vorgelagert: Man kann sich anderen gegenüber nur insoweit verpflichten, als dies nicht der inneren Rechtspflicht zuwiderläuft. Verträge mit anderen, die diese Grenze überschreiten (z. B. Verträge über Prostitution oder Selbstverkauf in die Sklaverei), sind daher null und nichtig. Versuche, die Erfüllung dieser unwirksamen Verträge zu betreiben (z. B. wenn man durch Zwang die versprochene Prostitution bzw. Sklaverei einfordert) stellen daher ihrerseits Unrecht dar, gegen welches rechtmäßiger Widerstand möglich ist.¹⁵³ Geltungsgrund des honeste vive ist das Recht der Menschheit in der eigenen Person. Die Menschheit in der eigenen Person ist dabei äquivalent zur Persönlichkeit, d. h. dem Status als selbstzweckhaftes, der gesetzlichen Selbstbestimmung fähiges Wesen. Erst diese weist den Einzelnen als Person, also als ein der Verpflichtung und Berechtigung fähiges Rechtssubjekt aus. Das Recht der Menschheit formuliert nun die notwendige Bedingung zur Wahrung und Aufrechterhaltung der Personalität bzw. der vernunftnotwendigen Selbstzweckhaftigkeit: Es verbietet, Personen, d. h. autonome Vernunftwesen, bloß als Mittel zu gebrauchen. Daher gebietet honeste vive, welches das Recht der Menschheit ge-
Dabei wird jedoch nicht die eigene Verletzung der inneren Rechtspflicht sanktioniert, sondern die Zwangshandlung des Vertragspartners, der – mangels eines wirksamen Vertrages – die Rechte (zumindest das angeborene Recht) des anderen verletzt und mithin gegen eine äußere, fraglos erzwingbare Rechtspflicht verstößt. Insofern kann man allenfalls davon sprechen, dass innere Rechtspflichten bei Kant indirekt erzwingbar sind.
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4 Die kritische Begründung ursprünglicher Rechte und Pflichten
genüber der eigenen Person vorstellt: „»Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck.«“.¹⁵⁴
4.2 »Freiheit« als angeborenes Recht und die äußeren Rechtspflichten Die Menschheit ist aber nicht nur Geltungsgrund innerer Rechtspflichten, sondern auch des angeborenen Rechts des Menschen: Das angeborne Recht ist nur ein einziges. F r e i h e i t (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.¹⁵⁵
4.2.1 Das Recht der Menschheit als Geltungsgrund des angeborenen Rechts »Freiheit« Wie bereits ausgeführt, formuliert Kant hiermit den moralischen Begriff des Rechts als subjektives Recht, welches der äußeren Rechtspflicht anderer nach dem allgemeinen Rechtsgesetz korrespondiert.¹⁵⁶ Jedoch ist die so bestimmte Freiheit gewissermaßen nur Schutzgut des Rechts. Geltungsgrund des Rechts ist die aus der sittlichen Autonomie bzw. Persönlichkeit folgende und notwendig zu wahrende Selbstzweckhaftigkeit des Einzelnen, die den Gebrauch als bloßes Mittel verbietet: Die äußere F r e y h e i t ist die Unabhängigkeit des Menschen von der Willkühr Anderer nicht nach ihren sondern dadurch zugleich nach seinen eigenen Zwecken handeln zu dürfen d.i. nicht b l o s als Mittel zu irgend einem Zweck des Andern dienen zu d ü r f e n (genöthigt werden zu können).¹⁵⁷
Diesen geltungstheoretischen Zusammenhang zwischen der notwendigen Selbstzweckhaftigkeit und dem angeborenen Recht »Freiheit« bringt Kant in der Rechtslehre dadurch zum Ausdruck, dass das angeborene Recht jedem Menschen kraft seiner Menschheit zukommt. Denn durch den Verweis auf die Menschheit
RL, AA VI, S. 236. RL, AA VI, S. 237, kursive Hervorhebung P.-A. H. Vgl. oben S. 64 f. m. w. N. VA RL, AA XXIII, S. 341. Vgl. hierzu ausführlich oben S. 72– 75.
4.2 »Freiheit« als angeborenes Recht und die äußeren Rechtspflichten
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betrachtet Kant den Menschen „nach der Eigenschaft seines Freiheitsvermögens, welches ganz übersinnlich ist, also auch bloß nach seiner M e n s c h h e i t , als von physischen Bestimmungen unabhängiger Persönlichkeit, (homo noumenon)“.¹⁵⁸ Personalität verweist wiederum auf die vernunftnotwendige Selbstzweckhaftigkeit autonomer Vernunftwesen.¹⁵⁹ Dabei lässt sich das angeborene Recht geltungstheoretisch auf die Menschheit im spezifisch rechtlichen Sinne, d. h. das Recht der Menschheit, zurückführen: Dieses verbietet (insofern schwächer als das positive Gebot nach dem Zweck der Menschheit) die bloße Instrumentalisierung unserer Person.¹⁶⁰ In der inneren Rechtspflicht (honeste vive) richtet sich dieses Verbot an uns selbst. Im angeborenen Recht »Freiheit« richtet es sich an andere und ist entsprechend Geltungsgrund äußerer Rechtspflichten, die andere Personen uns gegenüber haben. „Heilig ist nichts auf der Welt als die Rechte der Menschheit in unserer Person und das Recht der Menschen. Die Heiligkeit besteht darin, daß wir sie niemals blos als Mittel brauchen, und das Verbot eines solchen Gebrauchs liegt in der freyheit und Persönlichkeit.“¹⁶¹ Die „freyheit und Persönlichkeit“ konstituiert also dieser Reflexion nach zu urteilen das Recht der Menschheit in unserer Person und das Recht der Menschen gleichermaßen.¹⁶² Insofern Kant ebendiese „freyheit und Persönlichkeit“ begrifflich mit der Menschheit gleichsetzt, ist „anzunehmen, daß das angeborene Recht nach Kant nichts anders […] als das ‚Recht der Menschheit‘ im äußeren Gebrauch“ ist.¹⁶³ Hierdurch entsteht eine gewisse Ambiguität im Hinblick auf den Begriff Recht der Menschheit, insofern es dem Recht der Menschen einerseits klassifikatorisch gegenübergestellt wird, andererseits verbindlichkeitstheoretisch zugrunde liegt.
RL, AA VI, S. 239. Vgl. zur begrifflichen Identifikation von der Menschheit und Persönlichkeit oben Kap. 3, Fn. 320 sowie S. 176 f. mit Fn. 47. Vgl. oben S. 75 – 77. Das Recht der Menschheit verbietet die Behandlung als bloßes Mittel, ist also rein negativ. Der Zweck der Menschheit verlangt demgegenüber positiv, sich die Menschheit zum Zweck zu setzen. Vgl. hierzu ausführlich oben S. 77– 90 m. w. N. Refl. 7308, AA XIX, S. 308, vollständig zitiert oben S. 90. Es ist also nicht so, dass Kant keine Begründung des angeborenen Rechts gibt (so aber z. B. Klemme 2001, S. 181 und wohl auch Joerden 2009, S. 455 f.). Diese ergibt sich nämlich unmittelbar aus Kants Hinweis, dass uns dieses Recht qua Menschheit zukomme. Letztere identifiziert er wiederum in der „Einteilung der Metaphysik der Sitten überhaupt“ mit der Persönlichkeit, vgl. RL, AA VI, S. 239 f. Erneut wird dieser Begründungszusammenhang verschleiert, wenn man dieses Textelement (wie Ludwig 1988, S. 50 vorschlägt) verschiebt. Vgl. dazu ausführlich Kap. 4, Fn. 88. Ju 1990, S. 112. Dieser hat (Ju 1990, S. 110 – 114) überzeugend nachgewiesen, dass Kant das Recht der Menschheit auch zur Begründung des angeborenen Rechts »Freiheit« in Anschlag bringt. Hierfür finden sich auch ausdrückliche Textbelege, vgl. Refl. 7862, AA XIX, S. 538; Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1335 f.; opus posthumum, AA XXI, S. 471 und dazu Ju 1990, S. 112.
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Diese Doppeldeutigkeit ist dem besonderen Charakter innerer Rechtspflichten geschuldet. Denn bei diesen muss – um überhaupt ein irgendwie geartetes Verpflichtungsverhältnis etablieren zu können – die Menschheit in der eigenen Person gleichzeitig als Berechtigter vorgestellt werden. Daher wird im Hinblick auf innere Rechtspflichten mit Recht der Menschheit auch die personifizierte Idee der Menschheit (homo noumenon) als Rechtsinhaber angesprochen (genitivus subjectivus).¹⁶⁴ Diese Betrachtung fällt jedoch bei äußeren Rechtspflichten weg, insoweit als Berechtigter nicht mehr die Persönlichkeit (als Abstraktum) vorgestellt wird, sondern die Person, d. h. der Mensch als sinnlichaffiziertes Vernunftwesen. Hiervon deutlich zu unterscheiden ist die universelle verbindlichkeitstheoretische Bedeutung des Rechts der Menschheit. Allen Rechtspflichten liegt das Recht der Menschheit zugrunde, weil hierdurch die Persönlichkeit als unbedingt schützenswert vorgestellt wird: „Die Menschheit aber ist ein an sich unverletzbares Heiligtum; in demselben ist meine Persönlichkeit, oder das Recht der Menschheit in meiner Person ebenso unverletzbar enthalten.“¹⁶⁵ Angesichts dieser begrifflichen und verbindlichkeitstheoretischen Zusammenhänge wäre es verfehlt, zu denken, das angeborene Recht »Freiheit« sei vom Recht der Menschheit unabhängig. Ohne Rekurs auf das Letztere lässt sich die moralische Verbindlichkeit des angeborenen Rechts nicht begründen.¹⁶⁶ Auch das angeborene Recht »Freiheit« hängt in verbindlichkeitstheoretischer Hinsicht vom Recht der Menschheit ab, da erst die Menschheit bzw. Persönlichkeit den Anspruch konstituiert, von anderen nicht als bloßes Mittel gebraucht zu werden. Daher kann Kant sagen, dass das angeborene Recht jedem kraft seiner Menschheit zukommt. Umgekehrt darf das angeborene Recht »Freiheit« nicht schlichtweg mit dem Recht der Menschheit gleichgesetzt werden.¹⁶⁷ Hierdurch entstünde nicht nur eine unzulässige Verengung des Rechts der Menschheit auf die angeborenen Rechte,¹⁶⁸ sondern auch ein falscher Verweisungszusammenhang zur inneren
Vgl. dazu oben S. 175–182. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 627. Insofern lässt sich das angeborene Recht nur vor dem Hintergrund des transzendentalen Idealismus und unter Rückführung auf das Autonomietheorem bzw. den transzendentalen Freiheitsbegriff rechtfertigen. Vgl. so auch Joerden 2009, S. 457 f., Klemme 2001, S. 182 f. m .w. N.; Ludwig 1988, S. 104 und Ju 1990, S. 114 f. So aber z. B. Ebbinghaus 1986 f-1994, S. 353 f.; implizit Ripstein 2009, S. 30 – 56 oder schon Tieftrunk 1797, S. 169. Dies erscheint verfehlt, weil die von Kant mit dem Recht der Menschheit in unserer Person assoziierte lex iusti (vgl. RL, AAVI, S. 236) in Passagen der Rechtslehre auftaucht, die sowohl für die Eigentumsbegründung (§ 16) wie auch für die Staatskonstitution (§ 41) relevant sind. Vgl. dazu insb. unten S. 293 – 300.
4.2 »Freiheit« als angeborenes Recht und die äußeren Rechtspflichten
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Rechtspflicht des honeste vive. Das angeborene Recht »Freiheit« gehört klassifikatorisch zum Recht der Menschen, dem als solchen die äußere Rechtspflicht des neminem laede korrespondiert.¹⁶⁹
4.2.2 Die äußeren Rechtspflichten: neminem laede, suum cuique tribue und das allgemeine Rechtsgesetz Das pflichtentheoretische Pendant zum angeborenen Recht »Freiheit« ist die Pflicht des neminem laede, welche Kant als zweites Pflichtprinzip bei der Einteilung der Rechtspflichten nach den Ulpianischen praecepta iuris vorstellt. „T h u e n i e m a n d e n U n r e c h t (neminem laede), und solltest du darüber auch aus aller Verbindung mit andern heraus gehen und alle Gesellschaft meiden müssen (Lex iuridica).“¹⁷⁰ Neminem laede ist damit das Prinzip äußerer Rechtspflichten, denen Rechte anderer korrespondieren. Somit handelt es sich letztlich um eine Umformulierung des allgemeinen Rechtsgesetzes, da angesichts der Bestimmung von Recht und Unrecht nach dem allgemeinen Rechtsprinzip »niemandem Unrecht tun« mit „äußerlich so [handeln], daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen“ kann, gleichgesetzt werden kann.¹⁷¹ Die dem neminem laede korrespondierenden Rechte unterliegen mithin dem Recht der Menschen. ¹⁷² Jedoch ist neminem laede nicht auf das angeborene Recht bzw. das innere Mein und Dein beschränkt, sondern das Prinzip aller äußeren Rechtspflichten. Kant verwendet neminem laede seit jeher als allgemeines Rechtsprinzip, ohne dabei zwischen angeborenen oder erworbenen Rechten zu differenzieren.¹⁷³ Allerdings weist er neminem laede in der Rechtslehre – wie auch
Daher ist Kersting 2004, S. 51– 57 zu kritisieren, wenn er nicht trennscharf zwischen dem Recht der Menschheit in der eigenen Person und dem angeborenen Recht des Menschen unterscheidet und stattdessen von einem einheitlichen „Menschheitsrecht“ spricht, welchem honeste vive und neminem laede gleichermaßen korrespondierten. RL, AA VI, S. 236. Vgl. trotz teilweise anderer Begründung ähnlich Pippin 1999, S. 67; Kersting 1984, S. 107 f. sowie Kaulbach 1982b, S. 33 f. Vgl. zum allgemeinen Rechtsgesetz oben S. 60 f. Vgl. Kants Pflichteneinteilung in RL, AA VI, S. 240. Vgl. exemplarisch nur Praktische Philosophie-Powalski, AA XXVII, S. 144; Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg. von Werner Stark, S. 76 f.; Moralphilosophie-Mrongovius II, AA XXIX, S. 632; Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1336 f.; MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 527 f. sowie VA TL, AA XXIII, S. 386.
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schon in den 1780er und 1790er Jahren –¹⁷⁴ ausschließlich als Prinzip des Rechts im Naturzustand aus.¹⁷⁵ Hiervon unterscheidet Kant suum cuique tribue als das Prinzip äußerer Rechtspflichten im bürgerlichen Zustand, wie anschaulich eine Passage aus der Naturrechtsvorlesung Feyerabend zeigt: Neminem laede thue keinem Unrecht. […] Das Recht bezieht sich aufs Princip neminem laede. Thue die Handlung so nachm Gesetz, wie es dem Rechte der Menschheit gemäß ist. […] Das Recht des andern besteht darin, daß seine Freiheit heilig ist, wenn sie nur der allgemeinen Freiheit nicht Abbruch thut. Alle Handlungen sind recht, sofern sie unterlassen, die Freiheit andrer zu stöhren, nach allgemeinen Gesetzen, oder wenn sie einem Stöhrer der allgemeinen Freiheit widerstreiten. Suum cuique tribue, ist eben das als das vorige. […] Neminem laede ist Principium justitiae commutativae, aber nicht distributivae. […] Das Principium der Justitiae distributivae heißt suum cuique tribue.¹⁷⁶
Durch suum cuique tribue werden also gegenüber neminem laede keine inhaltlich neuen Pflichten begründet. Vielmehr ändert sich hierdurch nur die Verfasstheit der äußeren Rechtspflichten, weil sie im bürgerlichen Zustand Teil einer distributiven Gerechtigkeit werden. Daher betont Kant in der Rechtslehre, dass der bürgerliche Zustand […] nicht mehr oder andere Pflichten der Menschen unter sich [enthält], als in jenem [sc. dem Naturzustand] gedacht werden können; die Materie des Privatrechts ist eben dieselbe in beiden. Die Gesetze des letzteren betreffen also nur die rechtliche Form ihres Beisammen-
Im Gegensatz zur Formel honeste vive gibt es hinsichtlich neminem laede keine terminologischen Verschiebungen. Schon 1784 bezeichnet Kant neminem laede in MoralphilosophieMrongovius II, AA XXIX, S. 631 als das Prinzip „des Rechts in statu naturali“. Vgl. ähnlich die Nachweise in Kap. 4, Fn. 173 sowie hierzu Hirsch 2012a, S. 109 f. Einzig fällt auf, dass Kant neminem laede zeitweise als das Prinzip der Rechtspflichten schlechthin (d. h. innerer wie äußerer Rechtspflichten) angesehen zu haben scheint. Vgl. dazu oben S. 187– 189 m. w. N. Dieser ist in der Rechtslehre dem bürgerlichen Zustand entgegengesetzt.Vgl. RL, AAVI, S. 242: „Denn dem N a t u r z u s t a n d e ist nicht der gesellschaftliche, sondern der bürgerliche entgegengesetzt; weil es in jenem zwar gar wohl Gesellschaft geben kann, aber nur keine b ü r g e r l i c h e (durch öffentliche Gesetze das Mein und Dein sichernde) […].“ Vgl. zum Naturzustand sogleich S. 211– 227. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1336 f. Vgl. dazu auch Hirsch 2012a, S. 58 – 62 und ähnlich MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 528. Auch in der Rechtslehre lässt sich dieser Zusammenhang textlich an Kants Aussage zum Verhältnis der praecepta iuris fixieren, dass die drei Formeln „Eintheilungsprincipien des Systems der Rechtspflichten in i n n e r e , ä u ß e r e und in diejenigen [sind], welche die Ableitung der letzteren vom Princip der ersteren durch Subsumtion enthalten“ (RL, AA VI, S. 237). Hiernach werden von suum cuique tribue diejenigen Rechtspflichten erfasst, welche im Naturzustand noch unter neminem laede fallen.Vgl. dazu ausführlich unten S. 264– 271.
4.2 »Freiheit« als angeborenes Recht und die äußeren Rechtspflichten
209
seins (Verfassung), in Ansehung deren diese Gesetze nothwendig als öffentliche gedacht werden müssen.¹⁷⁷
Suum cuique tribue fügt damit der Dichotomie von inneren und äußeren Rechtspflichten eine neue Dimension hinzu. Wir haben gesehen: Innere Rechtspflichten verpflichten den Einzelnen zur Wahrung und Verteidigung der eigenen Rechtssubjektivität im Verhältnis zu anderen. Geltungsgrund dieser Verpflichtung ist die Menschheit in der eigenen Person. D. h. die Tatsache, dass der Mensch als autonomes Vernunftwesen Persönlichkeit hat und aufgrund dessen seinen Status als notwendig selbstzweckhaftes Wesen gegenüber anderen behaupten muss. Ebendieselbe Persönlichkeit ist auch Geltungsgrund äußerer Rechtspflichten, nur dass uns neminem laede nun zur Wahrung des Rechts der Menschheit in der Person des anderen verpflichtet. Suum cuique tribue geht jedoch über diese rein materielle (d. h. den Inhalt bzw. Gegenstand von Rechten und Rechtspflichten betreffende) Sichtweise hinaus. Kant bringt hierdurch das formelle Erfordernis einer besonderen öffentlichen Verfasstheit des Rechts zum Ausdruck und verweist uns damit auf den bürgerlichen Rechtszustand, dessen Begründung und Ausgestaltung sich diese Untersuchung nun widmen wird.
RL, AA VI, S. 306.
5 Autonomie trotz rechtlicher Fremdverpflichtung? – Das Naturzustandsproblem und die sittliche Notwendigkeit des Staates Wenn Recht schon die sittlichen Möglichkeitsbedingungen für die Koexistenz von Personen formuliert, was leistet dann überhaupt noch der Staat? – Diese Frage scheint berechtigt zu sein: Denn wie lässt sich eine Rechtspflicht, in den bürgerlichen Zustand einzutreten oder in diesem zu bleiben, überhaupt noch normativ rechtfertigen, wenn doch die Koexistenzbedingungen von Personen durch die inneren und äußeren Rechtspflichten bereits hinreichend bestimmt sind, gewissermaßen also »schon alles gesagt ist«? Hierauf lässt sich vorgreiflich antworten: Jenseits des Rechts als Möglichkeitsbedingung ist Staatlichkeit als Realisationsbedingung für die Koexistenz autonomer Vernunftwesen sittlich notwendig. Wie im Folgenden dargelegt wird, ist die Geltendmachung von Rechten ohne Staatlichkeit, d. h. im Naturzustand, aus autonomietheoretischen Gründen sittlich defizitär. Im Naturzustand ist es nämlich nicht möglich, Recht (d. h. die Befugnis, andere zu verpflichten) als autonome Selbstverpflichtung zu begreifen (5.1). Dieses Defizit wird im bürgerlichen Zustand dadurch behoben, dass er eine systematische Verfasstheit der Rechtssubjekte unter dem vereinigten Volkswillen als gesetzgebendem Oberhaupt herstellt. Hierdurch stellt sich rechtliche Fremdverpflichtung stets als mittelbare Selbstverpflichtung dar (5.2). Ziel dieses Kapitels ist es, diese Antwort zunächst systematisch zu entwickeln. Es geht hier also um den Nachweis, dass aus der konsequenten Anwendung von Kants kritischer Moralphilosophie auf den Sonderfall zwangsbewehrter Rechtsverpflichtung notwendig die moralische Pflicht zur Staatsbegründung folgt. Im Folgenden soll daher überprüft werden, inwiefern die Rechtsgemeinschaft im Naturzustand aus genuin autonomietheoretischen Gründen moralisch defizitär ist. Das Korpus der hierfür maßgeblichen Referenztexte ist dementsprechend weit und umfasst neben Kants rechtsphilosophischen Schriften gerade auch die moralphilosophischen Grundlegungsschriften (insbesondere die Grundlegung) sowie Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Der detaillierte Nachweis der hier entwickelten Interpretation am Text der Rechtslehre von 1797 erfolgt dann im anschließenden Kapitel 6.
DOI 10.1515/9783110530070-005
5.1 Der Naturzustand als »bloße Idee der Möglichkeit einer Rechtspflege«
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5.1 Der Naturzustand als »bloße Idee der Möglichkeit einer Rechtspflege« Kant thematisiert den Naturzustand traditionsgemäß nicht als historisches Faktum, sondern als Fiktion zur Beurteilung der Rechtsverhältnisse nach der Vernunftidee des Rechts.¹ Nach dieser Vernunftidee gibt es zwar bereits im Naturzustand Rechte und Pflichten, jedoch lassen sich diese nicht wechselseitig geltend machen. Das Problem ist also nicht etwa, dass sich im Naturzustand keine Rechte und Pflichten denken ließen. Vielmehr ist das Problem – so die vorliegende These – die fehlende Rechtsgeltung. Hiermit ist gemeint, dass es keinen sittlich legitimen Weg zur Bestimmung und Durchsetzung von Rechten gibt.² Der Naturzustand ist lediglich „eine bloße Idee der Möglichkeit einer Rechtspflege“.³
5.1.1 Die fehlende Rechtsgeltung im Naturzustand – ein moralisches Problem? Ein erstes, anschauliches Bild davon, worin für Kant das Defizit der Rechtsgemeinschaft im Naturzustand liegt, liefert uns die Metaphysik der Sitten-Vigilantius von 1794. Dort bestimmt Kant das angeborene Recht in Übereinstimmung mit der Vgl. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 589: „[D]er status naturalis existiert an sich gar nicht, und hat nie existirt, es ist eine bloße Vernunft-Idee, die die Beurtheilung des Privatverhältnisses der Menschen unter einander enthält, wie sich nämlich die Freiheit des einen gegen die Freiheit des anderen nach den Gesetzen der allgemeinen Freiheit bestimmt.“ Vgl. so auch Kersting 1984, S. 199 und S. 204 f. sowie Unruh 1993, S. 86 f. m. w. N. Rechtsgeltung in diesem Sinne erfordert also nicht nur die Bestimmung und Durchsetzung (und damit faktische Wirksamkeit) moralgesetzlicher Rechte und Pflichten, sondern vor allem auch, dass dies auf eine moralisch zulässige Art und Weise geschieht. Damit geht dieser Geltungsbegriff zwar von klassischen Definitionen der Rechtsgeltung (vgl. z. B. Zippelius 2011, § 5 oder Sandermann 1989, S. 33 – 35) aus, wird aber in einem genuin Kantischen Sinne verwandt: Hiernach gilt Recht bzw. werden Rechte geltend gemacht, wenn die Bestimmung und Durchsetzung von Rechten in Übereinstimmung mit der sittlichen Autonomie aller beteiligten Rechtssubjekte erfolgt. Was dies genau heißt und welche Bedeutung es für die Kantische Staatsbegründung hat, gilt es im vorliegenden Kapitel zu entwickeln. Betont sei an dieser Stelle auch, dass diese Frage der formalen Rechtsgeltung (Wie kann bzw. darf bestehendes Recht behauptet werden?) von der Frage des materialen Geltungsgrundes von Rechten und Pflichten (Warum bestehen Rechte überhaupt?) zu unterscheiden ist. Letztere Frage wurde in den vorigen Kapiteln bereits unter Verweis auf die Selbstzweckhaftigkeit als Geltungsgrund des Rechts beantwortet, vgl. nur oben S. 72– 75. VA RL, AA XXIII, S. 347.Vgl. auch Refl. 7727, AA XIX, S. 501: „Bis dahin haben wir die Gründe des Natürlichen rechts erwogen aber ohne Rechtspflege (iustitia administrans), die Gründe der diiudication aber nicht der actuation (principia essendi non fiendi). Eine bloße idee, in welcher der status iuridicus nur potential ist und welche den Grund enthält, nach welchem die iustitia externa soll angeordnet werden.“
212
5 Das Naturzustandsproblem und die sittliche Notwendigkeit des Staates
Rechtslehre als „den Gebrauch meiner Willkür oder die Freiheit, der Willkür des anderen zu widerstehen, insoweit die maxime meiner Handlung mit der Freiheit anderer nach einem allgemeinen Gesetz übereinstimmt“.⁴ Daraufhin führt er zum angeborenen Recht im Naturzustand aus: [U]m von seiner Freiheit sicheren Gebrauch machen zu können, [ist] eine unwiderstehliche Gewalt nöthig, die einen gegen den andern zwingt, seine Freiheit nach allgemeiner Gesetzmäßigkeit ausüben zu können. Nun ist jedes einzelnen Menschen Beurtheilung anheim gestellt, was er für Recht oder Unrecht anerkennen will, er kann also auch die Freiheit des andern ungehindert verletzen. Dieser Zustand der Läsion würde immerwährend seyn, solange Jeder allein Gesetzgeber und Richter wäre: Dies ist es, was man statum naturalem nennt, ein Zustand aber, der der angeborenen Freiheit ganz entgegen läuft. Es ist daher nothwendig, daß, sobald Menschen sich bis zur Ausübung ihrer wechselseitigen Freiheit nähern, sie den statum naturalem verlassen, um ein nothwendiges Gesetz, einen statum civilem, einzugehen; d.i. es ist eine allgemeine Gesetzgebung, die für Jedermann Recht und Unrecht festsetzt, eine allgemeine Gewalt, die jeden in seinem Recht schützt und eine richterliche Gewalt nöthig, die das gekränkte Recht wiederherstellt oder sogenannte justitiam distributivam eruirt (suum cuique tribuit). Dies ist es, was unter allen Naturrechtslehrern allein Hobbes als das oberste Princip des status civilis annimmt: exeundum esse ex statu naturali. Also in der privaten oder öffentlichen (singuli vel communi) Bestimmung der Gesetzmäßigkeit der Handlung und Zusicherung dessen, was rechtliche Folge ist, besteht der Unterschied.⁵
Im Naturzustand ist jeder notwendig Gesetzgeber und Richter in eigener Sache, da es an einer Instanz fehlt, welche öffentlich und allgemein verbindlich Rechtspflichten deklariert, adjudiziert und sichert. Es ist der Zustand des Privatrechts, weil die Besonderheit des Naturzustands „in der privaten […] Bestimmung der Gesetzmäßigkeit der Handlung und Zusicherung dessen, was rechtliche Folge ist“, liegt.⁶
MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 588. In der Vigilantiusmitschrift ist dieses Recht für Kant das einzige Recht im Naturzustand, da es im „statu naturali keine acquisition [giebt], oder einen actum juridicum, d.i. solche Handlung, wodurch etwas mein wird, was nicht mein war“.Vgl. zu der Frage, ob auch erworbene Rechte (äußeres Mein und Dein) im Naturzustand möglich sind oder nicht ausführlich unten S. 272– 285. Die Rechtslehre lässt angesichts ihres Fokus auf das äußere Mein und Dein eingehende Ausführungen zum Status des angeborenen Mein und Dein im Naturzustand bzw. bürgerlichen Zustand vermissen. Vgl. dazu unten S. 249 – 254. Gleichwohl hat dies keine Relevanz für Kants Beschreibung des Naturzustandsproblems, die – wie im Folgenden ersichtlich wird – 1794 und 1797 im Wesentlichen gleich bleibt. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 589 f., kursive Hervorhebung P.-A. H. Vgl. ähnlich bereits Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1337 und S. 1381 f. MdS-Vigiliantius, AA XXVII, S. 590, kursive Hervorhebung P.-A. H. Damit unterscheidet sich Kants Terminologie von der heutigen, die Privatrecht und Öffentliches Recht über das Verhältnis der beteiligten Rechtsubjekte (Privat-Privat bzw. Privat-Staat) bestimmt. Demgegenüber geht es Kant mit dieser Unterscheidung um die private bzw. öffentliche Bestimmung und Verfasstheit
5.1 Der Naturzustand als »bloße Idee der Möglichkeit einer Rechtspflege«
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Auch in der Rechtslehre von 1797 sieht Kant hierin das Problem des rechtlichen Naturzustandes. Denn nach Kant liegt es […] doch a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustandes, daß, bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewaltthätigkeit gegen einander sicher sein können, und zwar aus jedes seinem eigenen Recht zu thun, w a s i h m r e c h t u n d g u t d ü n k t , und hierin von der Meinung des Anderen nicht abzuhängen […].⁷
Die fehlende Rechtsgeltung beschreibt Kant zwar nicht als einen „Zustand der U n g e r e c h t i g k e i t (iniustus) […], einander nur nach dem bloßen Maße seiner Gewalt zu begegnen“, aber doch als einen „Zustand der R e c h t l o s i g k e i t (status iustitia vacuus), wo, wenn das Recht s t r e i t i g (ius controversum) war, sich kein competenter Richter fand, rechtskräftig den Ausspruch zu thun“.⁸ Jeder kann die Freiheit des anderen vorgeblich rechtmäßig einschränken, da es an einer für alle gleichermaßen verbindlichen Bestimmung und Durchsetzung des Rechts fehlt. Trotz der existierenden Vernunftidee von Recht, die grundsätzlich eine Beurteilung von Recht und Unrecht ermöglicht, fehlt es im Naturzustand an der Realisation dieser Vernunftidee. Erst in einem bürgerlichen Zustand, in welchem die Staatsgewalt die allgemeingültige Adjudikation von Rechten sicherstellt, gibt es überhaupt Recht in diesem anspruchsvollen Sinne. Doch inwieweit ist das ein moralisches Problem? So offensichtlich es auch ist, dass staatliche Adjudikations- und Zwangsmechanismen das Bedürfnis nach allgemein verbindlicher Rechtsgeltung einlösen, ist dies noch keine hinreichende Erklärung der sittlichen Vernunftnotwendigkeit des Staates. Die fehlende Rechtsgeltung im Naturzustand könnte auch lediglich ein epistemisches bzw. anthropologisches Problem sein. Der Naturzustand wäre hiernach nur epistemisch problematisch, insofern bei Rechtsstreitigkeiten untereinander (mangels staatlicher Rechtsadjudikation und -durchsetzung) ein jeder beanspruchen kann, die richtige Einsicht in die Rechtsverhältnisse zu haben. Und auch wenn dem gemeinen Mann klar sein sollte, was sittlich richtig ist,⁹ bliebe weiterhin ungewiss, ob er auch der sittlichen Einsicht folgt, oder ob er nicht doch der menschlichen Neigung zum Unsittlichen (dies ist das »anthropologische Problem«) unterliegt.
jeglichen Rechts.Vgl. in diesem Sinne auch Kants Bestimmung des öffentlichen Rechtszustands in RL, AA VI, S. 306 und S. 311. Vgl. hierzu auch Byrd und Hruschka 2011, S. 28 – 32. RL, AA VI, S. 312, vollständig zitiert unten S. 217. RL, AA VI, S. 312. Vgl. nur Kants regelmäßigen Verweis auf die gemeine Menschenvernunft zur Einsicht in das sittlich Richtige, z. B. GMS, AA IV, S. 403 f. und S. 454 f. sowie KpV, AA V, S. 36 und S. 155.
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5 Das Naturzustandsproblem und die sittliche Notwendigkeit des Staates
Und tatsächlich finden sich in frühen Äußerungen Kants Hinweise auf eine solche epistemisch-anthropologische Problematisierung des Naturzustands: Nehme ich die Natur des Menschen an als gerecht, d:i: als eine solche, die nicht die Absicht hätte, jemanden zu laediren, setze ich, daß alle Menschen einerlei Einsichten im Recht und einerlei guten Willen hätten, so wäre status civilis nicht nöthig. Da aber nun das Gegentheil ist, so hat jeder das Recht von andern zu verlangen, aus dem statu naturali herauszutreten. Kein Mensch ist sonst sicher, weil jeder eine andre Meinung vom Recht haben kann.¹⁰
Hiernach bräuchte ein Volk von Engeln, d. h. allwissender und notwendig moralisch korrekt handelnder Wesen, keinen Staat. Menschen hingegen sind nicht allwissend und können außerdem von Neigungen bestimmt unmoralisch handeln.
5.1.1.1 Anthropologische Staatsbegründung, oder: Staatlichkeit weil wir Teufel sind? Auch in der Rechtslehre scheint Kant auf die menschliche Boshaftigkeit als anthropologisches Faktum anzuspielen, wenn er darauf hinweist, dass man „die Neigung der Menschen überhaupt über andere den Meister zu spielen (die Überlegenheit des Rechts anderer nicht zu achten, wenn sie sich der Macht oder List nach diesen überlegen fühlen) in sich selbst hinreichend wahrnehmen kann“.¹¹ Teile der KantForschung sehen hierin auch einen tragenden Gedanken von Kants Staatsbegründung. Der Staat bzw. der bürgerliche Zustand werde bei Kant als Sicherungsinstanz etabliert, der einseitige, gewalttätige Übergriffe unterbinde.¹² Dabei sind aus meiner Sicht vor allem zwei Wege denkbar, auf denen die Kantische Staatsbegründung auf die Boshaftigkeit des Menschen als anthropologische Setzung rekurrieren könnte. Zum einen könnte Staatlichkeit zur Sicherung vor Übergriffen anderer notwendig sein, weil sich der Einzelne aus klug kalkuliertem Egoismus zur Begründung des Staates genötigt sieht. Um die eigene Freiheit zu sichern und nicht dem willkürlichen Recht des Stärkeren anheimzufallen, müsste der Einzelne den Naturzustand verlassen. Häufig werden in der
Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1381. Vgl. ähnlich Refl. 7710, AA XIX, S. 497; im Ansatz auch Refl. 7717, AA XIX, S. 499. RL, AA VI, S. 307. Vgl. so – freilich mit im Detail unterschiedlicher Argumentation – etwa Pasini 1974, S. 677– 680; Deggau 1983, S. 239 f.; Wolff 1987, S. 204 f.; Zotta 2000, S. 85 – 93; Saage 1973, S. 34 f.; Psychopedis 1980, S. 17 f. und S. 65 f.; Horn 2009, S. 403 f. (jetzt aber anders Horn 2014, S. 180 f., 193 – 195 und S. 310) sowie mit Einschränkungen Clohesy 1995, S. 738 f.; Niesen 2001, S. 583 – 604; Pfordten 2009c, S. 57; Kräft 2011, S. 40 – 48 und Byrd und Hruschka 2011, S. 25 – 32, 190 – 194 und S. 212 f.
5.1 Der Naturzustand als »bloße Idee der Möglichkeit einer Rechtspflege«
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Literatur als Beleg für eine solche Lesart Kants Ausführungen zur Staatserrichtung für ein Volk von Teufeln angeführt: Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar und lautet so: »Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesammt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber ingeheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten.«¹³
Gewiss, die Etablierung eines staatlichen Zustands mit rechtlichen Adjudikationsund Zwangsmechanismen behebt das Problem der Koexistenz im Naturzustand auch für ein Volk von Teufeln. Wie jedoch bereits im Rahmen der Verhältnisbestimmung von Recht und Ethik ausgeführt wurde, ist der dort erörterte TeufelsStaat allenfalls ein Staat im technischen, aber nicht im moralischen Sinne. Auch wenn Teufel untereinander durch Unterwerfung unter öffentliche Gesetze und Zwangsmechanismen in Schach gehalten werden können, ist damit noch nicht das moralische Recht vice versa die moralische Pflicht verbunden, diesen Zwangsmechanismus aufrechtzuerhalten. Der Teufels-Staat ist eine pragmatische Klugheitseinrichtung, sodass es kein moralisches Problem darstellt, aus diesem organisierten Zwangsmechanismus auszubrechen und erneut unilateral zu zwingen.¹⁴ Wenn man also zur Rechtfertigung des Staates allein auf die »anthropologische Tatsache« abstellt, dass der Mensch nun einmal des Menschen Wolf sei und man daher nie wissen könne, ob sich das Gegenüber rechtlich wirklich korrekt verhalten werde, so ist der Staat nur notwendig, weil und insofern er angesichts seiner Machtvollkommenheit „die Neigung der Menschen überhaupt über andere den Meister zu spielen“¹⁵ unterdrückt. Dies ist es, was bei Hobbes die Legitimität des Staates als Sicherungsinstanz begründet.¹⁶ So jedoch lässt sich bei
ZeF, AA VIII, S. 366. Vgl. dazu ausführlich oben S. 154– 158. RL, AA VI, S. 307. Freilich ist Hobbes‘ Argumentation insofern noch weitergehend, als dass Staatlichkeit bei Hobbes nicht nur Recht sichert, sondern allererst in einem anspruchsvollen Sinne begründet.Vgl. dazu nur Hüning 1998a und Geismann 1997. Unbestritten ist überdies, dass Kant das Naturzustandsszenario grundsätzlich in Analogie zu Hobbes konzipiert. So sagt Kant, dass „der juridische Naturzustand ein Zustand des Krieges von jedermann gegen jedermann ist“ (Religion, AA VI, S. 96 f.), und möchte ihn einen „Zustand der Gewaltthätigkeit nennen, wie Hobbes es ausdrückt: bellum omnium contra omnes“ (MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 591). Auch gibt er ihm grundsätzlich in der Problemanalyse Recht, dass der Naturzustand zu verlassen sei. Vgl. Religion, AA VI, S. 97, Fn. *; MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 590 und Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1382: „Hobbes
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5 Das Naturzustandsproblem und die sittliche Notwendigkeit des Staates
Kant eine moralische Rechtspflicht (suum cuique tribue) zum Übergang in ein bürgerliches Gemeinwesen nicht begründen. Im Gegenteil, der moralische Begriff des Rechts würde auf der Ebene der Staatlichkeit wieder zum Klugheitskalkül degradiert werden. Denn unterwerfe ich mich der staatlichen Macht nur aus Furcht vor der Gewalt anderer, ist die Begründung des bürgerlichen Rechtszustands allenfalls hypothetisch geboten: nämlich nur weil und insofern ich nicht hinreichend Macht akkumulieren kann, um aus eigener Machtvollkommenheit vor den Anfeindungen anderer sicher zu sein. Hiermit ist aber noch nichts über die sittliche Notwendigkeit des Staates ausgesagt. Gerade auf diese hebt Kant aber in der Rechtslehre mit der moralischen Pflicht des suum cuique tribue ab,von der er in Naturrecht-Feyerabend sagt, „[d]aß der Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft eine der ersten Pflichten sey“, was aber „noch niemand recht eingesehen“ habe.¹⁷ Die „Errichtung einer b ü r g e r l i c h e n Ve r f a s s u n g “ ist – wie Kant im Gemeinspruch betont – „unbedingte und erste Pflicht“.¹⁸ Es gilt also zu klären, warum es eine Pflicht zum Staat gibt, warum Staatlichkeit nicht nur zweckrational, sondern sittlich notwendig ist.¹⁹ Geht es nur um die Sicherung der eigenen Rechte vor Übergriffen anderer aus klug kalkuliertem Eigennutz, lässt sich das exeundum folglich nicht als moralische Pflicht im Kantischen Sinne ausweisen. Anders verhielte es sich allenfalls, wenn es um die Pflicht zur Sicherung der Rechte anderer vor eigenen Übergriffen geht (dies ist m. E. der andere denkbare Weg , einer anthropologischen Staatsbegründung). Hier ließe sich argumentieren, dass die kategorische Pflicht zur Wahrung der Rechte anderer – angesichts der an sich selbst wahrgenommenen Boshaftigkeit – eo ipso dazu verpflichtet, Sicherungsmaßnahmen zum Schutz des anderen zu ergreifen. Diese Verpflichtung besteht selbstredend wechselseitig: Wenn andere mir gegenüber auf Grund moralischer Gesetze zur Wahrung meiner Rechte verpflichtet sind, kann auch ich von ihnen die hierfür erforderlichen Sicherungsbedingungen einfordern und verlangen, gemeinsam in den Staat zum Zwecke der wechselseitigen Pflichterfüllung
hat demnach ganz recht wenn er sagt: exeundum est e statu naturali.“ Vgl. ebenso Kersting 1984, S. 199 – 202 und Friedrich 2004, S. 168 f. Kant geht aber über Hobbes hinaus, insofern er hierin ein moralisches Problem sieht und dementsprechend eine sittliche Verpflichtung zum bürgerlichen Rechtszustand besteht. Hobbes konnte hingegen die Notwendigkeit des exeundum est e statu naturali lediglich aus dem rationalisierten Selbsterhaltungswillen des Einzelnen angesichts einer konstanten Bedrohung durch andere herleiten und somit nur eine hypothetische Notwendigkeit des Staates erklären: Weil der Einzelne sich in einem permanenten Zustand drohender Gefahr und Verletzung befindet, ist es klug bzw. pragmatisch, für den Staat zu optieren. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1337. TuP, AA VIII, S. 289. Vgl. mit ähnlicher Stoßrichtung stellvertretend für viele Kersting 1984, S. 202; Kühl 1984, S. 164; Ludwig 1988, S. 156 f.; Unruh 1993, S. 101– 103 und Friedrich 2004, S. 167 f.
5.1 Der Naturzustand als »bloße Idee der Möglichkeit einer Rechtspflege«
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einzutreten. Zugegebenermaßen lässt sich so das exeundum als moralische Pflicht ausweisen. Jedoch beruht die sittliche Notwendigkeit der Staatsbegründung hiernach allein auf dem Begriff der Pflicht (angesichts dem moralischen Gesetz widerstrebender Neigungen des Menschen), nicht jedoch – und damit entgegen Kants ausdrücklicher Intention – auf dem Begriff des Rechts: Aus dem Privatrecht im natürlichen Zustande geht nun das Postulat des öffentlichen Rechts hervor: du sollst im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins mit allen anderen aus jenem heraus in einen rechtlichen Zustand, d.i. den einer austheilenden Gerechtigkeit übergehen. – Der Grund davon läßt sich analytisch aus dem Begriffe des R e c h t s im äußeren Verhältniß im Gegensatz der G e w a l t (violentia) entwickeln.²⁰
Die Notwendigkeit des bürgerlichen Zustands folgt laut dem Postulat des öffentlichen Rechts²¹ analytisch aus dem Begriff des Rechts. Dieser findet jedoch (im Gegensatz zum Pflichtbegriff) auch bei Engeln oder Heiligen, d. h. notwendig moralisch korrekt handelnden Wesen, Anwendung. Denn auch diese unterliegen dem Recht als moralischem Gesetz (hier entfällt nur die moralische Nötigung, d. h. i. E. die Pflicht). Gilt die moralische Notwendigkeit der Staatsbegründung mithin auch für heilige Wesen, kommt der besonderen Konstitution des Menschen folglich keine Bedeutung hierfür zu. Die fehlende Rechtssicherheit angesichts einer anthropologisch begründeten Feindseligkeit des Menschen im Naturzustand kann daher nicht das Skandalon für die reine praktische Vernunft sein. Dies macht Kant auch in der Rechtslehre deutlich: Es ist nicht etwa die Erfahrung, durch die wir von der Maxime der Gewaltthätigkeit der Menschen belehrt werden und ihrer Bösartigkeit, sich, ehe eine äußere machthabende Gesetzgebung erscheint, einander zu befehden, also nicht etwa ein Factum, welches den öffentlich gesetzlichen Zwang nothwendig macht, sondern, sie mögen auch so gutartig und rechtliebend gedacht werden, wie man will, so liegt es doch a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustandes, daß, bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewaltthätigkeit gegen einander sicher sein können, und zwar aus jedes seinem eigenen Recht zu thun, w a s i h m r e c h t u n d g u t d ü n k t , und hierin von der Meinung des Anderen nicht abzuhängen […].²²
Kant wendet sich hiermit explizit gegen eine Staatslegitimation, die allein auf die »anthropologische Tatsache« abstellt, dass der Mensch nun einmal des Menschen Wolf sei und daher in den Staat treten müsse. Denn die Menschen können „auch so
RL, AA VI, S. 307, fette Hervorhebung P.-A. H. Vgl. dazu eingehend unten S. 300 – 310. RL, AA VI, S. 312, fette Hervorhebung P.-A. H.
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5 Das Naturzustandsproblem und die sittliche Notwendigkeit des Staates
gutartig und rechtliebend gedacht werden, wie man will“, gleichwohl ist man im Naturzustand „niemals vor Gewaltthätigkeit gegen einander sicher“.
5.1.1.2 Epistemische Staatsbegründung, oder: Staatlichkeit weil wir keine Engel sind? Gleichwohl ist der Naturzustand hiermit noch nicht als moralisches Problem ausgewiesen.Vielmehr könnte der Naturzustand auch lediglich ein epistemisches Problem sein, weil bei Rechtsstreitigkeiten untereinander ein jeder den Anspruch auf richtige Rechtserkenntnis erheben kann. Staatlichkeit wäre insofern nicht moralisch geboten, sondern weil es an einer allgemein verbindlichen Rechtserkenntnis mangelt.²³ Dabei lassen sich – vereinfacht gesagt – zwei Argumentationslinien unterscheiden. Teilweise wird darauf abgestellt, dass die vernunftrechtlichen Regeln an sich unterbestimmt seien. Recht sei darum nicht a priori justiziabel, weil die Rechtsregeln und deren konkrete Anwendung selbst zu einem gewissen Grad inhaltlich unterbestimmt seien. Erst der Staat stelle fest, was Recht sei.²⁴ Gegen diese Interpretation spricht jedoch, dass Kant in der Rechtslehre vielfach darauf hinweist, dass der bürgerliche Rechtszustand bereits bestehendes Vernunftrecht nur sichere: Der bürgerliche Zustand ist ein solcher, „in welche[m] Jedem das Seine erhalten werden kann (suum cuique tribue). – Die letztere Formel, wenn sie so übersetzt würde: »Gieb Jedem das Seine,« würde eine Ungereimtheit sagen; denn man kann niemanden etwas geben, was er schon hat.“²⁵ Das Recht im Naturzustand enthält „nicht mehr oder andere Pflichten der Menschen unter sich,
Hierin sah schon Locke das Problem des Naturzustands, vgl. Locke, Second Treatise, §§ 123–126. So gesteht Kersting 1994, S. 191 dem vorstaatlichen Vernunftrecht lediglich zu, dass es „eine generelle Orientierung der Willkür“ ermöglicht. „Aber dieser Orientierung mangelt es an allgemein anerkannter Bestimmtheit […]. Das Vernunftrecht vermag nicht die Handlungs- und Eigentumskonflikte zu regulieren […].“ Vgl. ähnlich Kersting 1993, S. 29 sowie Kersting 2004, S. 34. Vgl. auch Bartuschat 1999, S. 19, nach dem „[d]as positive Recht […] unerläßlich [ist], weil das ursprüngliche Recht zwar ein ius ist, aber damit noch kein ius quoddam, kein bestimmtes Recht“. Dabei wird die Unterbestimmtheit des Rechts im Naturzustand sowohl im Hinblick auf äußeres Mein und Dein (vgl. z. B. Brandt 1974, S. 193 und S. 200 f.; wohl auch Hespe 2002, S. 137 f. und Ludwig 1988, S. 116), als auch auf inneres Mein und Dein (z. B. Kersting 2004, S. 51 f. und Hüning 1998b, S. 83) angeführt. Mit im Detail unterschiedlicher Argumentation scheinen ferner Gregor 2006, S. 112; Waldron 1996, S. 1545 – 1556; Varden 2008, S. 16; Ripstein 2009, S. 23 f. und S. 148 – 176; Kräft 2011, S. 50 – 53; Beyrau 2012, S. 113 – 115 und Maliks 2013, S. 32 (zumindest teilweise) die mangelnde Justiziabilität vernunftrechtlicher Regeln zu betonen. RL, AA VI, S. 237, vollständig zitiert S. 253 f.
5.1 Der Naturzustand als »bloße Idee der Möglichkeit einer Rechtspflege«
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als in jenem [sc. dem bürgerlichen Zustand] gedacht werden können“.²⁶ Der Grund hierfür ist, dass der bürgerliche Rechtszustand lediglich das principium executionis des Vernunftrechts ändert, „denn bürgerliche Verfassung ist allein der rechtliche Zustand, durch welchen jedem das Seine nur gesichert, eigentlich aber nicht ausgemacht und bestimmt wird“.²⁷ Demzufolge besteht das Dijudikationsprinzip zur Bestimmung rechtlicher Verbindlichkeiten bereits im Naturzustand. Nicht nur in der Rechtslehre, schon in Naturrecht-Feyerabend vertritt Kant diese Ansicht, wie seine Bestimmung des neminem laede als das Prinzip des Rechts im Naturzustand anschaulich zeigt: Neminem laede ist Principium justitiae commutativae, aber nicht distributivae. Zur justitia distributiva gehören äußere Gesetze, die für jederman allgemein gültig sind, und jedem bestimmen, was Recht oder Unrecht ist. Justitia commutativa hat ohne distributiva keine Effectus. Es ist Principium dijudicationis, nicht executionis.²⁸
Auch nach Kants Darstellung in der Vigilantiusmitschrift ist der Naturzustand selbst geradezu nichts anderes als „eine bloße Vernunft-Idee, die die Beurtheilung des Privatverhältnisses der Menschen unter einander enthält, wie sich nämlich die Freiheit des einen gegen die Freiheit des anderen nach den Gesetzen der allgemeinen Freiheit bestimmt“.²⁹ Mithin sind wir laut Kant bereits im status naturalis mit dem notwendigen Instrumentarium zur Beurteilung des Vernunftrechts ausgestattet. Das gilt nicht nur für angeborene Rechte,³⁰ sondern auch für erworbene. Diese sind dem Inhalt nach – ohne die nähere Behandlung des äußeren Mein und Dein vorwegnehmen zu wollen –³¹ bereits durch die provisorischen Besitzverhältnisse vorgezeichnet, welche eindeutige Vorgaben für die künftige eigentumsrechtliche (peremptorische) Zuordnung von Rechten und Gegenständen durch den Staat enthalten.³²
RL, AA VI, S. 306. Vgl. ebenso RL, AA VI, S. 312 f. RL, AA VI, S. 256, allerdings mit ausschließlichem Bezug auf äußeres Mein und Dein. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1337. Vgl. ähnlich Refl. 7727, AA XIX, S. 501 vollständig zitiert oben Kap. 5, Fn. 3. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 589.Vgl. auch Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1338, wo Kant den Naturzustand als den „Inbegriff aller Principien der Diiudication dessen was recht ist“ beschreibt. Der Inhalt des angeborenen Rechts »Freiheit« ist stets hinreichend bestimmt, ist es doch von Kant begrifflich in §§ 4 und 6 (RL, AA VI, S. 247– 252) durch die Körpergrenze bzw. die „von meiner Willkür durchdrungene Physis a priori bestimmt“ (Ludwig 1988, S. 117). Vgl. unten S. 272– 292, insb. S. 281– 285. Vgl. ebenso Saage 1973, S. 38 – 40; Friedrich 2004, S. 133; Brocker 2006, S. 23 und S. 26; Wawrzinek 2009, S. 106 – 109; Rühl 2010, S. 92 f. sowie Winkler 2010, S. 28 – 33.
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5 Das Naturzustandsproblem und die sittliche Notwendigkeit des Staates
Wenn das Recht im Naturzustand also nicht an sich epistemisch unterbestimmt ist, vielleicht ist dann – so die andere Argumentationslinie – die defizitäre Fähigkeit des Menschen zur Rechtserkenntnis das Problem. Dies scheint Kant in der eingangs zitierten Vorlesung von 1784 zu meinen: „[S]etze ich, daß alle Menschen einerlei Einsichten im Recht und einerlei guten Willen hätten, so wäre status civilis nicht nöthig.“³³ Und auch 1797 problematisiert Kant den Naturzustand dahingehend, dass sich in diesem, „wenn das Recht s t r e i t i g (ius controversum) war, […] kein competenter Richter fand, rechtskräftig den Ausspruch zu thun“.³⁴ Anders formuliert:Wenn wir allwissend wären, entfiele die Notwendigkeit zur Etablierung des bürgerlichen Rechtszustands.³⁵ Ein Volk von Engeln bräuchte keinen Staat. Formuliert hier Kant jedoch wirklich ein epistemisches Problem? Das Problem des Naturzustands scheint mir vielmehr darin zu liegen, dass er einen Zustand der Gewalt darstellt. Diese Gewalt besteht nicht etwa in physischer Läsion, sondern schon allein darin, dass jeder „aus jedes seinem eigenen Recht […] thun [kann, P.-A.H.], w a s i h m r e c h t u n d g u t d ü n k t , und hierin von der Meinung des Anderen nicht“ abhängt.³⁶ Das Problem ist also nicht, dass wir keine Einsicht in das Recht haben, sondern dass – selbst in dem Fall, dass jemand eine vollkommen richtige Rechtsauffassung ausbildet – die Geltendmachung von Rechten nicht den Anspruch intersubjektiver Gültigkeit erfüllt. Dass Kant hierin das Naturzustandsproblem sieht, bestätigt seine Auseinandersetzung mit Hobbes in der Religionsschrift. Dort beschreibt Kant den Naturzustand als „Zustand, in welchem ein jeder selbst Richter über das sein will, was ihm gegen andere recht sei, aber auch für dieses keine Sicherheit von andern hat oder ihnen giebt, als jedes seine eigene Gewalt“. Kant spricht von der „continuirliche[n] Läsion der Rechte aller andern durch die Anmaßung in seiner eigenen Sache Richter zu sein“.³⁷ Diese Erwägungen Kants finden sich so auch schon 1784 in NaturrechtFeyerabend: Im Naturzustand richtet man sich „nach andrem Urtheil nicht; sondern nur nach [d]em eignen. Justitia commutativa ist das Recht [sc. im Na-
Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1381, vgl. oben S. 214. RL, AA VI, S. 312, vollständig zitiert oben S. 217. Vgl. so deutlich Winkler 2010, S. 33 f.: „Der Grund [sc. für die Notwendigkeit des Staates] liegt vielmehr nicht im Vernunftrecht selbst, das mit seinen objektiv feststehenden klaren Regeln der Güterzuordnung einer Regulierung der zwischenmenschlichen Verhältnisse durchaus fähig wäre, sondern in menschlicher Unvollkommenheit, insbesondere Vernunfterkenntnis. […] Die Defizite menschlicher Erkenntnis bedingen also den Staat notwendig und hinreichend […].“ Vgl. teilweise ähnlich Byrd und Hruschka 2011, S. 32: „[I]ndividuals’ ability to see what that law is in the state of nature can be clouded by limitations on their ability to discover a priori truths […]. The public juridical state in contrast is the state of public justice.“ RL, AA VI, S. 312, vollständig zitiert oben S. 217. Religion, AA VI, S. 97, Fn. *.
5.1 Der Naturzustand als »bloße Idee der Möglichkeit einer Rechtspflege«
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turzustand], was ein jeder aus seinem Verstande selbst erkennt, distributiva [sc. im bürgerlichen Zustand] wo auch eines 3ten Urtheil über Recht bei mir gültig seyn muß.“³⁸ Das Problem des Naturzustands ist also, dass es keine valide äußere Gesetzgebung, keine äußere Rechtsgeltung gibt.³⁹ Und dies gilt auch für allwissende Wesen. Auch der Engel würde, wenn er Rechtspflichten gegenüber anderen geltend macht, lediglich aus „seinem eigenen Recht […] thun, w a s i h m r e c h t u n d g u t d ü n k t , und hierin von der Meinung des Anderen nicht abhängen“.⁴⁰ Sein Gegenüber mag als Engel zwar einsehen, dass er hiermit richtig liegt, und seiner Aufforderung folgen. Doch tut er dies, weil er sich eine eigene entsprechende Rechtsüberzeugung gebildet hat und diese für sich verbindlich erachtet (als Akt innerer Gesetzgebung), jedoch nicht weil die Geltendmachung seitens des Berechtigten für ihn verbindlich wäre (Inbegriff äußerer Gesetzgebung). Wenn wir aber von „Rechte[n] als (moralische[n]) Ve r m ö g e n Andere zu verpflichten“ sprechen,⁴¹ berufen wir uns nicht auf die richtige Erkenntnis des Rechts und den guten Willen des Verpflichteten. Vielmehr berufen wir uns auf die Befugnis, den anderen zur Befolgung seiner vernunftrechtlichen Pflicht zu nötigen, unabhängig davon, ob er unsere Rechtsüberzeugung teilt und gewillt ist, dem nachzukommen. Rechtsverpflichtung ist für Kant begrifflich immer Fremdverpflichtung, wenn er vom „Vermögen, andere zu verpflichten, d.i. de[m] Begriff des Rechts“, spricht.⁴² Im Naturzustand scheint es genau an dieser Möglichkeit der gültigen Fremdverpflichtung anderer zu fehlen. In diesem Sinne ist der Naturzustand ein Zustand der Gewalt und ist deswegen vernunftwidrig, weil er den Begriff von Recht konterkariert. Dies zeigt erneut das Postulat des öffentlichen Rechts, wenn Kant von einer analytischen Herleitung der Pflicht zum bürgerlichen Rechtszustand spricht: „Der Grund davon [sc. dieser Pflicht] läßt sich analytisch aus dem Begriffe des R e c h t s im äußeren Ver-
Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1337, kursive Hervorhebung P.-A. H. Vgl. ähnlich auch schon Refl. 7521, AA XIX, S. 445. Rechtsgeltung meint hier wieder, dass die Bestimmung und Durchsetzung des Rechts für alle Beteiligten moralisch verbindlich und damit legitim ist. Vgl. zum hier verwendeten Begriff der Rechtsgeltung oben Kap. 5, Fn. 2. RL, AAVI, S. 312. Auch Geismann 2012, S. 57– 61 diagnostiziert hierin zutreffend das Defizit des Naturzustandes, obgleich er hierin ausschließlich ein Problem der Rechtssicherheit und nicht – wie hier in der Folge vertreten – ein genuin autonomietheoretisches Problem der Rechtsgeltung sieht. Vgl. dazu S. 242–246 m. w. N. RL, AA VI, S. 237. RL, AA VI, S. 239.
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5 Das Naturzustandsproblem und die sittliche Notwendigkeit des Staates
hältniß im Gegensatz der G e w a l t (violentia) entwickeln.“⁴³ Das Problem des Naturzustands kann daher weder ein bloß anthropologisches oder epistemisches sein, noch wird es durch jedwede Form der Rechtssicherung aufgelöst. Insofern die Notwendigkeit eines bürgerlichen Rechtszustands analytisch aus dem moralischen Begriff des Rechts folgt, ist das Naturzustandsproblem vielmehr ein genuin moralisches Problem der sittlich legitimen Bestimmung und Durchsetzung von Rechten. Doch wieso ist die Rechtsdurchsetzung im Naturzustand sittlich defizitär, sodass bereits der moralische Begriff des Rechts die Verfasstheit der Rechtssubjekte in einem bürgerlichen Gemeinwesen fordert, um von Rechtsgeltung im Gegensatz zu Gewalt sprechen zu können?
5.1.2 Autonome Gesetzgebung und sittliche Unterbestimmtheit des Rechts im Naturzustand Die Antwort auf die soeben aufgeworfene Frage liegt darin, dass die Geltendmachung von Rechten im Naturzustand der Autonomie der verpflichteten Rechtssubjekte widerspricht. Um dies zu verstehen, müssen wir zunächst noch einmal darauf eingehen, was »autonome Gesetzgebung« bei Kant bedeutet, und daraufhin untersuchen, wie sie sich bei Rechts- und Tugendpflichten unter Naturzustandsbedingungen verhält. Wenn Autonomie darin besteht, dass man „n u r s e i n e r e i g e n e n u n d dennoch a l l g e m e i n e n G e s e t z g e b u n g unterworfen“ ist,⁴⁴ ist maßgeblich, was Gesetzgebung hierbei heißt. Wie bereits gezeigt, meint Gesetzgeber bei natürlichen moralischen Gesetzen nicht den Urheber des Gesetzes, sondern den Urheber der Verbindlichkeit nach dem Gesetz. Kant verweist mit dem Begriff Gesetzgeber also auf denjenigen, welcher die Pflicht gegenüber dem Verpflichteten vorstellt und ihn zur Erfüllung der geschuldeten Pflicht bestimmt. Stelle ich mir also die Pflicht selber vor, bin ich Gesetzgeber und Verpflichteter in einer Person, und es liegt innere Gesetzgebung vor. Nötigt mich ein anderer und deklariert mir gegenüber die Pflicht, liegt äußere Gesetzgebung vor. Hiermit möchte sich Kant gegenüber der Schulphilosophie (insbesondere Wolff und Baumgarten) abgrenzen, weil diese unter Gesetzgeber stets auch den Urheber des Gesetzes verstand.⁴⁵
RL, AA VI, S. 307, vgl. oben S. 217. Vgl. auch eingehend unten S. 300 – 310. Ähnlich äußert sich Kant in RL, AAVI, S. 312,wenn er davon spricht, dass man „allen Rechtsbegriffen entsagen“ würde, wenn man im Naturzustand verbliebe. GMS, AA IV, S. 432. Vgl. zum Autonomietheorem oben S. 44 f. Vgl. dazu ausführlich oben S. 123 – 133.
5.1 Der Naturzustand als »bloße Idee der Möglichkeit einer Rechtspflege«
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Diese Veränderung des Gesetzgebungsbegriffs durch Kant ist nun entscheidend für das Verständnis des Autonomietheorems. Denn Kant kennt hiernach keinen Urheber natürlicher moralischer Gesetze (seien sie Rechts- oder Tugendgesetze). Diese werden – wie er verschiedentlich ausführt – vielmehr „aus der Natur der Sache durch die Vernunft erkannt“,⁴⁶ „sie sind nicht aus der Willkühr entsprungen, sondern sind practisch nothwendig“.⁴⁷ Nur positive Gesetze haben einen Urheber: „[E]in auctor legis kann nur von einem Gesetz verstanden werden, das an sich selbst keine verbindende Kraft, sondern solche nur ex voluntate vel arbitrio alterius habe.“⁴⁸ Entsprechend betont Kant in der Rechtslehre, dass „[d]as Gesetz, was uns a priori und unbedingt durch unsere eigene Vernunft verbindet“, mithin das Sittengesetz, keinen Urheber habe.⁴⁹ Daher hat es bezüglich des Autonomietheorems bei Kant keinen Sinn, von einer Selbstgesetzgebung im Hinblick auf die Begründung bzw. Konstitution moralischer Gesetze zu sprechen. Reine praktische Vernunft macht oder schafft sich kein Gesetz, sondern sie ist immer schon das moralische Gesetz. Mithin kann das Autonomietheorem nicht auf den Ursprung natürlicher moralischer Gesetze, sondern nur auf die Gesetzgebung bezogen werden, d. h. auf die Begründung der Verbindlichkeit nach moralischen Gesetzen. Selbstgesetzgebung bzw. autonome Gesetzgebung meint bei natürlichen moralischen Gesetzen daher ausschließlich die Nötigung durch die eigene, reine praktische Vernunft, d. h. autonome Selbstverpflichtung. Damit ist noch nicht Autokratie gemeint (d. h. reine praktische Vernunft zur Pflichtexekution), sondern lediglich Autonomie in dem Sinne, dass ich mich (besser: meine reine praktische Vernunft) als Urheber der Verbindlichkeit nach dem Gesetz begreife.⁵⁰ In diesem Sinne lassen sich auch Kants einschlägige Ausführungen zum Autonomietheorem in der Grundlegung und später in der Metaphysik der Sitten verstehen. Autonomie wird beispielsweise in der Grundlegung ausdrücklich als Selbst-Gesetzgebung des Willens eingeführt. Kants Redeweise macht hierbei deutlich, dass Gesetzgebung vordringlich die Frage der Nötigungsrelation (Wie ist der Wille dem Gesetz unterworfen?) betrifft, nicht jedoch die Gesetzesbegründung (Warum ist etwas Gesetz?): „Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist.“⁵¹ Jeder muss sich dabei als solchermaßen dem Gesetz unterworfen denken, dass das „Gesetz aus seinem [sc. eigenen,
MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 544. Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg. von Werner Stark, S. 79. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 544. Vgl. RL, AA VI, S. 227. Vgl. oben S. 126 – 128. GMS, AA IV, S. 440.
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5 Das Naturzustandsproblem und die sittliche Notwendigkeit des Staates
P.-A. H.] Willen entsprang“.⁵² „Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch a l s s e l b s t g e s e t z g e b e n d und eben um deswillen allererst dem Gesetze […] unterworfen angesehen werden muß.“⁵³ Daran hält Kant auch in der Metaphysik der Sitten fest. Lediglich die Problematik, wie der Wille gleichermaßen gesetzgebend und dem Gesetz unterworfen sein kann, wird von Kant terminologisch durch die Unterscheidung von Wille und Willkür aufgelöst: Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen. Die letztere ist im Menschen eine freie Willkür; der Wille, der auf nichts Anderes, als bloß auf Gesetz geht, kann weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen (also die praktische Vernunft selbst) geht, daher auch schlechterdings nothwendig und selbst keiner Nöthigung f ä h i g ist. Nur die W i l l k ü r also kann f r e i genannt werden.⁵⁴
Mit Blick auf Autonomie bzw. Selbstgesetzgebung bilden Wille und Willkür nunmehr die beiden Relata der Nötigungsrelation. Hiernach geht der Wille allein auf die Gesetzgebung. Er ist als solcher keiner Nötigung fähig, sondern ist vielmehr selbst nötigend, insofern er einen Bestimmungsgrund der Willkür enthält. Weil Kant zudem den Willen unmittelbar als reine praktische Vernunft begreift,⁵⁵ ist die Gesetzgebung des Willens für die Willkür nichts anderes als deren Nötigung durch moralische Gesetze. Dabei ist der Wille nicht der Urheber der moralischen Gesetze, sondern Urheber der Verbindlichkeit nach diesen, d. h., er ist gesetzgebend.⁵⁶ Die Autonomie als oberstes formales Prinzip moralischer Gesetze ist nach Maßgabe der Metaphysik der Sitten also nichts anderes als die Gesetzgebung reiner praktischer Vernunft durch den eigenen Willen für die eigene Willkür. Diese Gesetzgebung wird nun von Kant unterschiedlich vorgestellt, je nachdem ob es sich um Tugendgesetze oder Rechtsgesetze handelt. In der Tugendlehre, als dem „System der Zwecke die zugleich Pflichten sind“, ist es notwendig, dass das Gesetz durch den eigenen gesetzgebenden Willen vorgestellt wird:
GMS, AA IV, S. 433. GMS, AA IV, S. 431. Vgl. zu dieser Passage eingehend oben Kap. 3, Fn. 217. RL, AA VI, S. 226, kursive Hervorhebung P.-A. H. Vgl. RL, AA VI, S. 213, kursive Hervorhebung P.-A. H.: „Der Wille ist also das Begehrungsvermögen, nicht sowohl (wie die Willkür) in Beziehung auf die Handlung, als vielmehr auf den Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung betrachtet, und hat selber vor sich eigentlich keinen Bestimmungsgrund, sondern ist, sofern sie die Willkür bestimmen kann, die praktische Vernunft selbst.“ Vgl. zur Kantischen Unterscheidung von Wille und Willkür bereits oben S. 139 – 141. Vgl. auch VA RL, AA XXIII, S. 248.
5.1 Der Naturzustand als »bloße Idee der Möglichkeit einer Rechtspflege«
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Der ethische Imperativ ist: handle so daß Du wollen kannst die Maxime Deiner Handlung solle ein allgemeines Gesetz werden. Da also das Gesetz nicht blos als aus Deiner Vernunft sondern auch als aus Deinem Willen entsprungen betrachtet wird so ist die Gesetzgebung immer innerlich.⁵⁷
Da eine vernunftbestimmte Zwecksetzung nur als innere Gesetzgebung denkbar ist,⁵⁸ muss das Gesetz als Gesetz des eigenen gesetzgebenden Willens betrachtet werden. Hierin unterscheidet sich die Gesetzgebung der Tugendlehre von derjenigen der Rechtslehre. Denn in „der Ethik [wird] dieses [sc. das Gesetz] als das Gesetz d e i n e s eigenen W i l l e n s gedacht […], nicht des Willens überhaupt, der auch der Wille Anderer sein könnte: wo es alsdann eine Rechtspflicht abgeben würde“.⁵⁹ Da den Gegenstand von Rechtspflichten äußere Handlungen bilden, kann der zur Befolgung des Gesetzes nötigende Wille mein eigener wie auch der eines anderen sein. Wie in der bisherigen Untersuchung gezeigt, macht letzteres den Begriff des Rechts als „das Vermögen, andere zu verpflichten“ aus.⁶⁰ Und dies ist es auch, was die Möglichkeit einer äußeren Gesetzgebung erst eröffnet. Die Frage ist nun, was es genau heißt, dass der nötigende Wille auch der eines anderen sein kann. Angesichts der Gleichsetzung von Willen und reiner praktischer Vernunft kann der Wille eines anderen nur insoweit maßgeblich sein, als dass auch in der Person des anderen die reine praktische Vernunft als gesetzgebend bzw. nötigend vorgestellt wird.⁶¹ Da die Gesetzgebung reiner praktischer Vernunft von Kant jedoch gleichzeitig als Autonomie ausgewiesen wird, ist dies nur möglich, insofern die Bestimmung meiner Willkür nach dem Gesetz auch Ausdruck meines eigenen gesetzgebenden Willens ist. Um es auf den Punkt zu bringen: Ich muss mich in der Nötigung durch den anderen gleichzeitig als mitgesetzgebend begreifen.Wie Kant in der Metaphysik der Sitten sagt, ist dies gerade der Inbegriff moralischer Persönlichkeit: Die m o r a l i s c h e Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen, woraus dann folgt, daß eine Person keinen anderen
Zum Ganzen: VA TL, AA XXIII, S. 388, kursive Hervorhebung P.-A. H. Nach einer Maxime zu handeln, die als allgemeines Gesetz gewollt werden kann, erfordert, sich nach den beiden Vernunftzwecken der Tugendlehre zu bestimmen, vgl. oben Kap. 3, Fn. 118. Die von den Tugendpflichten geforderte vernunftbestimmte Zwecksetzung ist wiederum nur im Wege innerer, ethischer Gesetzgebung möglich, vgl. oben S. 120 f. und S. 129. TL, AA VI, S. 389. Vgl. RL, AA VI, S. 239, vollständig zitiert oben S. 145. Vgl. ferner oben S. 125 – 130. In diesem Sinne ist Kersting 1984, S. 77 zuzustimmen, wenn er sagt: „[I]m rechtlichen Verpflichtungsverhältnis begegnet dem Verpflichteten die eigene Vernunft in Gestalt des ihn verpflichtenden Anderen.“
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5 Das Naturzustandsproblem und die sittliche Notwendigkeit des Staates
Gesetzen als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst giebt, unterworfen ist.⁶²
Durch andere kann eine äußere Verbindlichkeit nach Rechtsgesetzen nur begründet werden, sofern ich dies als Selbst-Verpflichtung (Auto-Nomie) begreifen kann. Nur dann gebe ich mir das Rechtsgesetz selber. Dass ich diesen Anspruch legitimerweise erheben kann, liegt daran, dass ich Person bin.⁶³ Die moralische Persönlichkeit, die materiell die notwendige Selbstzweckhaftigkeit begründet, wird formell von Kant als Autonomie ausgewiesen. Alle Handlungen stehen unter der Bedingung der „Einstimmung mit der Autonomie des vernünftigen Wesens“.⁶⁴ Nur wenn man äußere Nötigung als Ausdruck der eigenen, gesetzgebenden reinen praktischen Vernunft begreifen kann, ist die eigene Selbstzweckhaftigkeit gewahrt.⁶⁵ Um mithin Gesetzgebung – innere wie äußere – als sittlich zulässige Gesetzgebung qualifizieren zu können, muss die Nötigung nach moralischen Gesetzen als Selbstverpflichtung reiner praktischer Vernunft des Einzelnen begriffen werden können. Dies ist bei Tugendpflichten eo ipso der Fall, da es ein Akt innerer Gesetzgebung und moralischen Selbstzwanges ist, sich einen rein vernunftbestimmten Zweck zu setzen. Die Rechtslehre hingegen ist der „Inbegriff der Gesetze, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist“.⁶⁶ Eine äußere Gesetzgebung, d. h. wenn mich ein anderer nötigt und mir gegenüber eine Rechtspflicht deklariert, genügt jedoch nicht automatisch dem Autonomietheorem. Vielmehr ist das Recht im Naturzustand autonomietheoretisch defizitär, weil in diesem der Verpflichtete und der Urheber der Verbindlichkeit nach dem Gesetz auseinanderfallen. Auch wenn das Rechtsgesetz apriorisch ist, weil uns das Gesetz „a priori
RL, AA VI, S. 223, kursive Hervorhebung P.-A. H. Dass hierin der autonomietheoretische Gehalt der Kantischen Rechtsphilosophie liegt, hat – von der Kant-Forschung weitgehend unbeachtet – grundlegend Sandermann 1989, insb. 196 – 218 herausgestellt. Vgl. ebd., S. 207 f. und S. 215: „Die verpflichtende Verbindlichkeit des Rechts entsteht deshalb nur dort, wo mit unserem Rechts-Anspruch ‚gegenüber‘ einer Person zugleich deren eigener Selbst-Anspruch als Person affimiert wird. […] [D]er Mensch als Person [kann] rechtlich nur dann verbunden werden […], wenn e[r] […] sich nach jenen grundsätzlichen Ansprüchen selbstbestimmt.“ Allerdings bezieht Sandermann (ebd., S. 225 f.) Autonomie bzw. autonome Gesetzgebung unzulässigerweise verengend allein auf die Konstitution von Gesetzen und nicht – wie hier vorgeschlagen – primär auf die Begründung der Verbindlichkeit entsprechend moralischer Gesetze. KpV, AA V, S. 87. Vgl. zum Ganzen ausführlich oben S. 77– 82 und S. 139 – 147. RL, AA VI, S. 229.
5.2 Staatlichkeit als Bedingung für ein System selbstzweckhafter Wesen
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und unbedingt durch unsere eigene Vernunft verbindet“⁶⁷, ist im Naturzustand gleichwohl nicht ein jeder zugleich Gesetzgeber, d. h. Urheber der Verbindlichkeit nach dem Gesetz. Denn macht jemand mir gegenüber ein Recht im Naturzustand geltend, so ist allein der andere Gesetzgeber, da er mir gegenüber eine Rechtsverbindlichkeit deklariert.⁶⁸ Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Eine andere Person nötigt mich unter Androhung von Strafe, seine körperliche Integrität zu wahren. Materiell betrachtet (d. h. mit Blick auf den Inhalt des Rechtsverhältnisses), hat der andere bereits im Naturzustand dieses angeborene Recht auf körperliche Unversehrtheit und ich habe eine korrespondierende Rechtspflicht zur Wahrung derselben. Formell betrachtet (d. h. mit Blick auf das Nötigungsverhältnis), ist dies im Naturzustand jedoch ein Akt heteronomer Fremdverpflichtung. Die äußere Gesetzgebung – d. h. die Nötigung Unterlasse es, mich zu verletzen! durch mein Gegenüber – ist für mich unilateral und heteronom,⁶⁹ insofern die Nötigung zur Befolgung des Gesetzes nicht auf meinen eigenen Willen zurückführbar ist. Rechte, d. h. die Befugnis, andere zu verpflichten, erfordern daher eine Instanz, deren Urteile auf den Willen der rechtsgesetzlich Verpflichteten zurückgeführt werden können und daher legitim sind. Das Problem des Naturzustands ist also, dass dieser sittlich unterbestimmt ist, weil rechtliche Fremdverpflichtung nicht als autonome Gesetzgebung gedacht werden kann. Doch inwiefern kann Staatlichkeit bzw. die Etablierung eines bürgerlichen Rechtszustands dieses Problem lösen?
5.2 Staatlichkeit als Realisationsbedingung für ein System selbstzweckhafter Wesen Staatlichkeit muss mithin auf das genuin autonomietheoretische Problem antworten, das sich beim Recht, als der Befugnis, andere zu verpflichten, in aller Schärfe stellt: Wie kann individuelle Autonomie angesichts der Möglichkeit rechtlicher Fremdverpflichtung und äußerer rechtlicher Gesetzgebung gedacht werden? Dass für Kant die
RL, AA VI, S. 227. Vgl. oben S. 127– 130. Der andere ist Gesetzgeber, denn er ist „necessitator […], um den Willen zur Befolgung eines Gesetzes zu bestimmen […]; also der zum Zwange bringt“ (MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 546). Vgl. mit teilweise entsprechender Bestimmung Kants TL, AA VI, S. 417. Dass Kant hierin ein moralisches Problem sieht, wird auch in VA TL, AA XXIII, S. 409 deutlich: „Zu den Pflichten der Achtung für andere Menschen gehört daß wenn ihm ein Recht zusteht er doch Verschaffung seines Rechts nicht von seinem Willen sondern dem W i l l e n des öffentlichen Gesetzgebers u. Richters erwarten muß, z. B. bey der Rache oder selbst bey forderungen aus dem strengen Recht.“
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5 Das Naturzustandsproblem und die sittliche Notwendigkeit des Staates
Begründung eines bürgerlichen Rechtszustandes genau dieses Problem löst, beruht auf einem der zentralen Theoreme seiner kritischen Moralphilosophie: dem Ideal einer systematischen Verbindung autonomer Vernunftwesen durch gemeinschaftliche moralische Gesetze – einem Reich der Zwecke.
5.2.1 Das bürgerliche Gemeinwesen als negative Implikation eines Reichs der Zwecke Für Kant geht die Pluralität autonomer Vernunftwesen mit einer systematischen Verbindung zwischen ihnen einher, insofern bei jeder Handlung der Wille eines jeden jederzeit zugleich als allgemein gesetzgebend gedacht werden können muss. Daher muss sich „das vernünftige Wesen […] jederzeit als gesetzgebend in einem durch Freiheit des Willens möglichen Reiche der Zwecke betrachten“.⁷⁰ Die Vorstellung eines Reichs der Zwecke begründet das Ideal einer Willensgemeinschaft sittlicher Wesen.⁷¹ Die Gesamtheit autonomer und damit selbstzweckhafter Wesen steht […] unter dem G e s e t z , daß jedes derselben sich selbst und alle andere n i e m a l s b l o ß a l s M i t t e l , sondern jederzeit z u g l e i c h a l s Z w e c k a n s i c h s e l b s t behandeln solle. Hiedurch aber entspringt eine systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objective Gesetze, d.i. ein Reich, welches, weil diese Gesetze eben die Be-
GMS, AA IV, S. 434. Wie Kant selbst sagt (vgl. nur Moralphilosophie-Mrongovius II, AA XXIX, S. 610, zuvor schon KrV, A 813/B 841), entwickelt er seine Theorie vom Reich der Zwecke gegenüber Leibniz‘ Lehre vom Reich der Gnaden. Vgl. zu letzterer nur Leibniz, Monadologie, § 87 und ders., Theodicée, §§ 62, 74, 112, 118. Dabei äußert Kant die Vorstellung, dass das Sittengesetz als solches die Existenz einer moralischen Welt postuliert, schon in der Kritik der reinen Vernunft, KrV, A 807 f./B 835 f. Bereits damals fordert er für diese moralische Welt eine systematische Einheit nach Gesetzen der Freiheit und spricht von einem „corpus mysticum der vernünftigen Wesen in ihr, so fern deren freie Willkür unter moralischen Gesetzen sowohl mit sich selbst, als mit jedes anderen Freiheit durchgängige systematische Einheit an sich hat.“ (KrV, A 808/B 836). Allerdings erscheint eine Parallelisierung dieser Stellen aus der Kritik der reinen Vernunft mit dem Reich der Zwecke der Grundlegung (vgl. z. B. Horn, Mieth und Scarano 2007, S. 257) voreilig. Es bestehen zumindest dahingehend Bedenken, dass das für das Reich der Zwecke der Grundlegung zentrale Autonomietheorem zur Zeit der Erstauflage der KrV noch nicht entwickelt war, sodass das corpus mysticum zumindet 1781 noch nicht in demselben Sinne konzipiert sein konnte wie das Reich der Zwecke autonomer Vernunftwesen. Vgl. mit anderen Bedenken bzgl. einer Identifizierung des corpus mysticum mit dem Reich der Zwecke Schönecker und Wood 2002, S. 159, Fn. 89.Vgl. im Übrigen allgemein zum Reich der Zwecke in der Grundlegung stellvertretend nur Timmermann 2007, S. 105 – 108 und Schönecker und Wood 2002, S. 157– 161.
5.2 Staatlichkeit als Bedingung für ein System selbstzweckhafter Wesen
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ziehung dieser Wesen auf einander als Zwecke und Mittel zur Absicht haben, ein Reich der Zwecke (freilich nur ein Ideal) heißen kann.⁷²
Das Reich der Zwecke ist für Kant die Vorstellung „eines ideal-sozialen System[s] frei wollender, autonomer, als Selbstzwecke (nicht bloß als Mittel) geltender, aus eigener Vernunft gesetzgebender Persönlichkeiten“.⁷³ Nur wenn in einem System der Zwecke jedes Mitglied in allen Handlungen als gesetzgebend betrachtet wird, ist garantiert, dass die Menschheit in der eigenen Person und der Person des anderen nicht nur als Mittel, sondern stets auch als Zweck gebraucht wird. Stellt man diesen systematischen Aspekt der Pluralität autonomer Vernunftwesen in Rechnung, so verlangt bereits die Zweckformel, dass moralisches Handeln wechselseitig stets unter der Bedingung der möglichen Einstimmung jeder autonomen Vernunftnatur steht.⁷⁴ Daher steht es uns nicht frei, ob wir ein Reich der Zwecke begründen wollen oder nicht, sondern wir sind durch reine praktische Vernunft bereits stets auf ein solches verwiesen, wenn wir uns als freie, unter moralischen Gesetzen stehende Personen deklarieren. Das Ideal eines Reichs der Zwecke verbleibt folglich nicht bloß als Gedankenspiel in der intelligiblen Welt, sondern ist selbst das normative Leitbild unseres moralischen Handelns in der Sinnenwelt.⁷⁵ Es konstituiert einen verbindlichen Verhaltensstandard für die empirische Welt, denn zu dem „herrliche[n] Ideal eines allgemeinen Reichs der Zwecke an sich selbst […] [können] wir nur alsdann als Glieder gehören […], wenn wir uns nach Maximen der Freiheit, als ob sie Gesetze der Natur wären, sorgfältig verhalten“.⁷⁶ Noch deutlicher kommt dies in der Danziger Rationaltheologie zum Ausdruck, wo Kant ausführt: Dieses allgemeine System der Zwecke wirklich zu machen, ist unsere Bestimmung, und daß wir diese Bestimmung erfüllen, ist der objektive Zweck bei der Schöpfung. Die Welt als
GMS, AA IV, S. 433. Vgl. dazu schon oben S. 45 f. Eisler 1969, S. 195. Vgl. ähnlich auch Bambauer 2011, S. 237. Mit moralischem Handeln ist hier nicht Moralität bzw. Handeln aus Pflicht gemeint, sondern lediglich ein Handeln, welches moralgesetzlicher Bestimmung (gleichgültig ob nach der Rechtsoder Tugendlehre) entspricht. GMS, AA IV, S. 462 f.Vgl. ebenso GMS, AA IV, S. 438: „Ein solches Reich der Zwecke würde nun durch Maximen, deren Regel der kategorische Imperativ allen vernünftigen Wesen vorschreibt, wirklich zu Stande kommen, w e n n s i e a l l g e m e i n b e f o l g t w ü r d e n .“ Zurecht betont Heimsoeth 1965, S. 365 f.: Das Reich der Zwecke „ist ein alle empirische Realität transzendierendes, aber für unsere Vernunft sinnotwendiges Prinzip, welches alle freie Wirksamkeit des Menschen in der Sinnenwelt regulieren soll. Es ist […] das oberste Prinzip für die Aufgaben der Daseinsgestaltung durch praktische Vernunft, welche geleitet wird von Ideen, die nicht ‚schöpferische‘, aber ‚praktische Kraft‘ […] haben.“
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congruierend mit den moralischen Gesetzen ist das summum bonum creatum. Jedes vernünftige Wesen hat also den Zweck für sich in der Welt, den Gott im allgemeinen mit der Welt hat, nämlich: soviel an ihm ist, ein allgemeines System der Zwecke zu befördern. Nach diesem allgemeinen System zu handeln, macht uns zum Mitglied derselben.⁷⁷
Sobald wir eine Pluralität autonomer und damit notwendig selbstzweckhafter Vernunftwesen anerkennen, verpflichtet uns der kategorische Imperativ – welcher uns nötigt, unsere „Maximen jederzeit aus dem Gesichtspunkte […] [sc. unserer, P.A. H.] selbst, zugleich aber auch jedes andern vernünftigen als gesetzgebenden Wesens (die darum auch Personen heißen) nehmen zu müssen“ – zugleich zur Etablierung eines Reichs der Zwecke: [E]ine Welt vernünftiger Wesen (mundus intelligibilis) als ein Reich der Zwecke [ist] möglich und zwar durch die eigene Gesetzgebung aller Personen als Glieder. Demnach muß ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre.⁷⁸
Was hat nun das Reich der Zwecke mit Kants Rechtsphilosophie zu tun? Wie zuvor gezeigt, lassen sich bei der Zweckformel des kategorischen Imperativs ein negativer und ein positiver Aspekt unterscheiden und hernach kategorische Rechtspflichten als Möglichkeitsbedingung für die Koexistenz autonomer Vernunftwesen ausweisen.⁷⁹ Ebenso lassen sich nun im Hinblick auf das Reich der Zwecke zwei Aspekte unterscheiden⁸⁰ und Recht und Ethik als die negativen bzw. positiven normativen Vorgaben für ein mögliches System selbstzweckhafter Wesen interpretieren.⁸¹ Man könnte gegen diese Aufspaltung der normativen Implikationen des Reichs der Zwecke den Einwand erheben, dass das Ideal eines Reichs der Zwecke in positiver Hinsicht eine ethische Gesellschaftsordnung verlange, die unter der „Fahne der Tugend als Vereinigungspunkt“⁸² stehe und den Menschen
Danziger Rationaltheologie, AA XXVIII, S. 1302. Zum Ganzen: GMS, AA IV, S. 438. Vgl. oben S. 77– 85 und S. 93 – 101. Zu Recht betont Klar 2007, S. 196, dass Kants Bestimmung des Reichs der Zwecke als System, in dem „sich die Menschen […] ‚als Zwecke und Mittel‘ aufeinander beziehen“, nur unter Inklusion von Rechtsverhältnissen verständlich ist. Eine Interpretation der Kantischen Rechtslehre ausgehend von der Zweckformel des kategorischen Imperativs bzw. der Idee eines Reichs der Zwecke ist bereits häufiger angedacht worden. Vgl. z. B. Gregor 1963, S. 38 – 47; Deggau 1983, S. 28 f. und 59; Dreier 1979, S. 20 – 28; Ricken 1987/ 1988, S. 8 f.; Kühl 1990, S. 78; in Ansätzen Pinkard 1999, S. 160 – 164 und Malibabo 2000, S. 122 – 126. Eine ausführliche Thematisierung findet sich allerdings nur bei Langthaler 1991, S. 3 – 53.Vgl. zur Kritik an einer solchen Lesart die Nachweise in Kap. 5, Fn. 88. Religion, AA VI, S. 194.
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Moralität abverlange.⁸³ Doch auch wenn erst ein solches ethisches Gemeinwesen das Ideal eines Reichs der Zwecke in positiver Hinsicht einlöst, ist eine rechtliche Gesellschaftsordnung – in negativer Hinsicht – hierfür stets die notwendige Vorbedingung. Kant selbst macht diesen Punkt in der Religionsschrift stark, wenn er davon spricht, dass eine Rechtsordnung einer ethischen Ordnung im Vorhinein zugrunde liegen muss: Man kann eine Verbindung der Menschen unter bloßen Tugendgesetzen nach Vorschrift dieser Idee eine e t h i s c h e , und sofern diese Gesetze öffentlich sind, eine e t h i s c h - b ü r g e r l i c h e (im Gegensatz der r e c h t l i c h - b ü r g e r l i c h e n ) Gesellschaft, oder ein e t h i s c h e s g e m e i n e s We s e n nennen. Dieses kann mitten in einem politischen gemeinen Wesen und sogar aus allen Gliedern desselben bestehen (wie es denn auch, ohne daß das letztere zum Grunde liegt, von Menschen gar nicht zu Stande gebracht werden könnte). Aber jenes hat ein besonderes und ihm eigenthümliches Vereinigungsprincip (die Tugend) und daher auch eine Form und Verfassung, die sich von der des letztern wesentlich unterscheidet. Gleichwohl ist eine gewisse Analogie zwischen beiden, als zweier gemeinen Wesen überhaupt betrachtet, in Ansehung deren das erstere auch ein e t h i s c h e r S t a a t , d.i. ein R e i c h der Tugend (des guten Princips), genannt werden kann, wovon die Idee in der menschlichen Vernunft ihre ganz wohlgegründete objective Realität hat (als Pflicht sich zu einem solchen Staate zu einigen), wenn es gleich subjectiv von dem guten Willen der Menschen nie gehofft werden könnte, daß sie zu diesem Zwecke mit Eintracht hinzuwirken sich entschließen würden.⁸⁴
Das systematische Verhältnis unter Menschen steht – nach Maßgabe der reinen praktischen Vernunft – unter moralischen Gesetzen. Diese konstituieren, insofern es um öffentliche Tugendgesetze geht, ein ethisches gemeines Wesen bzw. ein Reich der Tugend.⁸⁵ Geht es hingegen um öffentliche Rechtsgesetze, handelt es sich um ein bürgerliches gemeines Wesen bzw. eine rechtlich-bürgerliche Gesellschaft. Kant selbst versteht nun unter dem Reich der Zwecke in der Grundlegung „eine systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objective Gesetze, d.i. ein Reich“.⁸⁶ Gibt es nun mit den Gesetzen von Rechtsund Tugendlehre zwei „gemeinschaftliche objective Gesetze“, so lässt sich dem Nach Kant ist „Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann, weil nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebend Glied im Reiche der Zwecke zu sein“. (GMS, AA IV, S. 435) „Moralität besteht also in der Beziehung aller Handlung auf die Gesetzgebung, dadurch allein ein Reich der Zwecke möglich ist.“ (GMS, AA IV, S. 434). Religion, AA VI, S. 94 f., kursive Hervorhebung, P.-A. H. Im Ergebnis verwendet Kant hierbei die Begriffe Reich der Tugend, ethisches Gemeinwesen, Reich Gottes etc.weitgehend synonym. Gleiches gilt für den Begriff der unsichtbaren Kirche, der das Ideal einer entsprechenden Organisationsform (und damit das praktische Vorbild für die sichtbare Kirche) repräsentiert. Vgl. (im Detail unterschiedlich) nur Stangneth 2000, S. 135– 142; Klar 2007, S. 193 f. und Wood 2011, S. 135 f. GMS, AA IV, S. 433.
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entsprechend auch von zwei moralischen Reichen sprechen und es muss neben dem Reich der Tugend auch ein »Reich des Rechts« geben. Diesbezüglich ist das Reich der Zwecke nur der gemeinsame Oberbegriff für eine Gemeinschaftsordnung unter moralischen Gesetzen. Das Reich der Zwecke als ideale Ordnung selbstzweckhafter Wesen ist damit gleichsam der Vereinigungspunkt, der sowohl die ideale Rechtsordnung eines »Reich des Rechts« (einer respublica noumenon)⁸⁷ als auch die ideale ethische Ordnung eines Reichs der Tugend umfasst.⁸⁸ Dabei gilt es Vgl. Streit, AA VII, S. 90 f. Es ist daher unpräzise, wenn einige Autoren das Ideal eines Reichs der Zwecke in ausdrückliche Opposition zur unter dem Leitgedanken der Legalität stehenden Rechtsgesellschaft bringen (und z. T. mit Kants ethischem Gemeinwesen bzw. dem Reich Gottes gleichsetzen). Vgl. stellvertretend – freilich im Detail unterschiedlich – nur Krüger 1931, S. 104– 109; Heimsoeth 1965, S. 365 f.; Schwartländer 1968, S. 233 – 238; Pasini 1974, S. 684– 689; Kaulbach 1988, S. 86– 88; Schönecker und Wood 2002, S. 160 f.; Sala 2004, S. 233 und S. 252– 254; Wimmer 2004, S. 375– 389; Horn, Mieth und Scarano 2007, S. 256 f.; erneut Horn 2014, S. 56 f.; Flikschuh 2009, S. 133 – 139; Geismann 2012, S. 64 mit Fn. 109; Laschet 2011, S. 147– 155 mit Fn. 150 sowie Mosayebi 2013, S. 222. Grund sei insb., dass das Ideal des Reichs der Zwecke die Moralität seiner Mitglieder einfordere. Dieses ethische Ideal eines Reichs der Zwecke könne nicht Grundlage des Rechtssystems als Zwangsordnung sein. Jedoch ist diese Darstellung verkürzend und insoweit unzutreffend. Es steht außer Frage, dass das Reich der Zwecke seine vollwirksame Geltung erst erhielte, wenn im Verhältnis der Menschen untereinander reine Vernunft in jeder Hinsicht praktisch würde. Dies mag im Ergebnis auf ein Reich der Tugend hinauslaufen. Gleichwohl ist für Kant das Reich der Zwecke ein praktisches Ideal (vgl. zum Begriff des praktischen Ideals nur KrV, A 314– 317/B 371– 374, Moralphilosophie-Mrongovius II, AA XXIX, S. 604 f. und bereits Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg.von Werner Stark, S. 10 f.). Als solches ist es einer kontinuierlichen Annährung fähig (vgl. insb. mit Blick auf das Recht Streit, AA VII, S. 91 und Reflexion 8077, AA XIX, S. 610). Daher ist es mitnichten eine Absage an eine Rechtsbegründung vor dem Hintergrund des Reichs der Zwecke, wenn Kant sagt, dass es nur durch „Moralität […] möglich ist, ein gesetzgebend Glied im Reiche der Zwecke zu sein“. Denn auch wenn ein Reich der Zwecke erst durch ein Reich der Tugend in positiver Hinsicht eingelöst würde, ist eine bürgerlich-rechtlich Gesellschaft (nach Maßgabe der respublica noumenon) notwendige Vorbedingung von einem und sukzessive Annäherung an ein Reich der Zwecke. So betont Paton 1962, S. 227 f. unter Verweis auf GMS, AA IV, S. 433 zutreffend, dass „[d]as System eines Reichs der Zwecke, das von selbstgegebenen, objektiven Gesetzen beherrscht wird, […] der Rahmen [ist], in dem unsere privaten Zwecke oder die anderer realisiert werden sollen“. Es ist leicht ersichtlich, dass dieser Rahmen angesichts der moralischen Gesetze von Rechts- und Tugendlehre einerseits Zwecke umfasst, die wir uns setzen sollen (positive Vorgaben der Tugendlehre – erfordern Moralität), und anderseits solche Zwecke, die wir realisieren dürfen, weil die Mittel hierzu legale Handlungen sind (negative Vorgaben der Rechtslehre – erfordern nur Legalität). Erfordert also das Ideal des Reichs der Zwecke immer erst Legalität (nach Rechtsgesetzen) und erst darüber hinausgehend Moralität (nach Tugendgesetzen), so ist auch der Einwand mit Blick auf das Recht als Zwangsordnung entkräftet. Vgl. (teilweise ähnlich) kritisch zur Gleichsetzung von Reich der Zwecke und ethischem Gemeinwesen Klar 2007, S. 194– 198 und vor allem Langthaler 1991, S. 34– 54, dessen diesbezüglicher Kritik (ebd., S. 47– 54) hier beigepflichtet wird, obgleich er die Vorstellung eines Reichs der Zwecke fälschlich auf eine rein rechtliche Gesellschaftsordnung beschränkt.
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stets zu beachten, dass es jeweils um praktische Ideale geht. Als solche beschreiben sie nicht reale, in der Erfahrung anzutreffende Organisationsformen, sondern sind für diese lediglich die noumenale Vorgabe sowie für den Einzelnen das handlungsleitende, normative Leitbild. Das »Reich des Rechts« ist somit die respublica noumenon, zu der sich reale Gesellschaftsordnungen stets nur als approximative Annäherung verhalten.⁸⁹ Die beiden Reiche unterscheiden sich – wie Kant in der zitierten Stelle aus der Religionsschrift ausdrücklich betont – wiederum durch ihre ihnen eigentümlichen Vereinigungsprinzipien: Dieses ist beim ethischen gemeinen Wesen die Tugend, wohingegen äußerer Zwang folgerichtig das Spezifikum der Rechtsgemeinschaft ist.⁹⁰
5.2.2 E pluribus unum – Der Souverän als einheitsstiftendes Oberhaupt im »Reich des Rechts« Was trägt es nun zur Staatslegitimation bei Kant bei, das Ideal einer rechtlichbürgerlichen Ordnung (eine respublica noumenon, ein »Reich des Rechts«) als negative Implikation des Reichs der Zwecke zu betrachten? Die Antwort lautet, dass jedes Reich im moralischen Sinn eines einheitsstiftenden Oberhaupts bedarf. Daher bedarf auch ein »Reich des Rechts« als negative Implikation eines moralisch notwendigen Reichs der Zwecke eines Oberhauptes, um die notwendigen Bedingungen für die (rechtliche) Koexistenz autonomer und damit selbstzweckhafter Vernunftwesen in systematischer Form einzulösen.
Die respublica noumenon konstituiert damit nicht nur den Idealtypus für reale Gesellschaftsordnungen, sondern auch für den Einzelnen die individuelle Pflicht, zur Etablierung einer solchen Ordnung mitzuwirken (vgl. nur die Nachweise in Kap. 5, Fn. 77 f.) und reale Herrschaft als Annäherung an dieses Ideal zu interpretieren. Vgl. zum Verhältnis von Staat in der Idee und Staat in der Erscheinung noch eingehend unten S. 311– 319. Eine Vereinigung nach Tugendgesetzen erfordert stets die Idee der Pflicht als Triebfeder. Die damit einhergehende Moralitätsforderung (vereinfachend gesagt, Freiwilligkeit der Vereinigung) macht den Unterschied gegenüber der Möglichkeit äußeren Zwangs bei einer Vereinigung nach Rechtsgesetzen aus. Vgl. Religion, AA VI, S. 98 f. und S. 101. Ein weiterer Unterschied ist, dass das ethische Gemeinwesen notwendig die Menschheit als Ganze betrifft, wohingegen die Vereinigung nach Rechtsgesetzen auch partikularstaatlich möglich ist. Vgl. Religion, AA VI, S. 96 und S. 101. Daraus ist – etwa entgegen Stangneth 2000, S. 130 f.; Stangneth 2005, S. 200 – 204; Klar 2007, S. 198 f.; Wood 2011, S. 133 f. oder Horn 2014, S. 45, 64, 291 und S. 304 – jedoch nicht zu schließen, dass die Vereinigung nach Rechtsgesetzen nicht auch global sein könne. Obgleich diese zwar nationalstaatlich möglich ist, bleibt stets (insofern gerade in Entsprechung zum globalen Reich der Tugend) das Ideal einer kosmopolitischen Republik das sittliche Desiderat. Vgl. dazu LutzBachmann 2005, S. 215 – 219 sowie ausführlich von meiner Seite Hirsch 2012b m. w. N.
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Dies geht aus der Analyse dessen hervor, was bei Kant ein Reich im moralischen Sinne allererst konstituiert: „Ich verstehe aber unter einem R e i c h e die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze.“⁹¹ Gesetze sind für Kant praktische Grundsätze, deren Bestimmungen „als objectiv, d.i. für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig, erkannt“ werden.⁹² Gemeinschaftliche moralische Gesetze müssen darüber hinaus wechselseitig gelten.⁹³ Solche gemeinschaftlichen moralischen Gesetze soll es nun – angesichts der Allgemeingültigkeit und Reziprozität der durch sie entstehenden Verpflichtungen – ausschließlich im Falle einer systematischen Verbindung der Gesetzesunterworfenen geben können. Gleichwohl muss sich dabei, weil es sich um moralische, mithin autonome Gesetzgebung handelt, ein jeder stets als selbstgesetzgebend begreifen können. Individuelle Autonomie erfordert, dass man „n u r s e i n e r e i g e n e n u n d dennoch a l l g e m e i n e n G e s e t z g e b u n g unterworfen sei“. Es reicht daher nicht aus, dass man „gesetzmäßig von e t w a s a n d e r m genöthigt wurde, auf gewisse Weise zu handeln“.⁹⁴ Hierdurch entsteht jedoch ein gewisses Spannungsverhältnis. Denn wie kann sich der Einzelne einerseits als selbstgesetzgebend begreifen (der Anspruch individueller Autonomie, moralisch nur durch allgemeingültige Selbstgesetzgebung verpflichtet zu werden), andererseits aber gleichzeitig gemeinschaftlichen Gesetzen unterworfen sein (d. h., auch die Gesetzgebung anderer Vernunftwesen als moralisch verbindlich anerkennen müssen)? Reine praktische Vernunft verlangt daher nach einer Instanz, welche der individuellen Autonomie und der Reziprozität gemeinschaftlicher moralischer Gesetze gleichermaßen gerecht wird, also ein Reich, d. h. eine systematische Verbindung autonomer Vernunftwesen, einlöst. Wie Kant in der Grundlegung zum Reich der Zwecke ausführt, leistet dies die Vorstellung eines Oberhaupts, d. i. eines einheitsstiftenden Gesetzgebers: Es gehört aber ein vernünftiges Wesen als G l i e d zum Reiche der Zwecke, wenn es darin zwar allgemein gesetzgebend, aber auch diesen Gesetzen selbst unterworfen ist. Es gehört dazu als O b e r h a u p t , wenn es als gesetzgebend keinem Willen eines andern unterworfen ist. Das vernünftige Wesen muß sich jederzeit als gesetzgebend in einem durch Freiheit des Willens möglichen Reiche der Zwecke betrachten, es mag nun sein als Glied, oder als Oberhaupt. Den Platz des letztern kann es aber nicht bloß durch die Maxime seines Willens, sondern nur
GMS, AA IV, S. 433. KpV, AA V, S. 19. Vgl. nur Kants Bestimmung der Relationskategorie der Gemeinschaft (KpV, AA VI, S. 66; KrV, A 80/B 106). GMS, AA IV, S. 432 f.
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alsdann, wenn es ein völlig unabhängiges Wesen ohne Bedürfniß und Einschränkung seines dem Willen adäquaten Vermögens ist, behaupten.⁹⁵
Dabei bewirkt laut Kant erst die Vorstellung eines einheitsstiftenden, gesetzgebenden Oberhaupts ein Reich, d. h. die systematische Verknüpfung der autonomen Vernunftwesen als Glieder. Denn nur wenn man „das Reich der Zwecke als unter einem Oberhaupte vereinigt“ begreift, „[bliebe] dadurch das letztere [sc. das Reich der Zwecke] nicht mehr bloße Idee […], sondern [erhielte] wahre Realität“.⁹⁶ Das gesetzgebende Oberhaupt ist der notwendige Fluchtpunkt, der die bloße Pluralität autonomer und selbstzweckhafter Vernunftwesen in eine systematische Gemeinschaft, ein Reich der Zwecke, transformiert. Dabei hebt – und das ist die Pointe der Kantischen Konzeption – die Vorstellung eines gesetzgebenden Oberhaupts die individuelle Autonomie (d. h. den Anspruch jedes Vernunftwesens selbstgesetzgebend zu sein) trotz seiner einheitsstiftenden Funktion nicht auf. Vielmehr begreift Kant das Oberhaupt als einheitlichen, mich als gesetzgebend mit einschließenden Willen, in dem individuelle Autonomie gleichsam aufgeht. Im Hinblick auf das Reich der Tugend (und damit das Reich der Zwecke in seiner positiven Bedeutung) leistet dies die Vorstellung Gottes als gesetzgebendes Oberhaupt: „Wenn ein ethisches gemeines Wesen zu Stande kommen soll, so müssen […] alle Gesetze […] als Gebote eines gemeinschaftlichen Gesetzgebers angesehen werden können.“⁹⁷ Sich nun Gott als gesetzgebendes Oberhaupt vorzustellen, heißt, sich aus moralischen Motiven selbst zu nötigen, d. h. reine praktische Vernunft in Form innerer Gesetzgebung wirksam werden zu lassen. Denn in göttlichen Geboten – so Kant verschiedentlich – offenbart sich uns „Gott in uns“ als unser „eigene[r] Verstand und unsere eigene Vernunft […] durch Begriffe unserer Vernunft, so fern sie rein-moralisch und hiemit untrüglich sind“.⁹⁸ Gott als Gesetzgeber ist „k e i n e a u s s e r m i r b e f i n d l i c h e S u b s t a n z sondern blos ein moralisch[es] Verhältnis in Mir“⁹⁹ und muss „als das höchste moralische Princip in mir“¹⁰⁰ vorgestellt werden: Es ist nothwendig, daß ein solches Wesen über alle Verbindlichkeit, mithin über alle Pflichtgesetze erhoben gedacht wird, das selbst nicht unterm Gesetz steht, mithin kann es
GMS, AA IV, S. 433 f. GMS, AA IV, S. 439. Religion, AA VI, S. 98. Streit, AA VII, S. 48. opus posthumum, AA XXI, S. 148. opus posthumum, AA XXI, S. 144.Vgl. ähnlich ebd., S. 145: „Gott ist nicht ein Wesen außer Mir sondern blos ein Gedanke in Mir[.] Gott ist die moralisch practische sich selbst gesetzgebende Vernunft […].“
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nur das Gesetz selbst seyn, und da das moralische Gesetz unter der Idee von Gott personificirt wird, nur dieser als höchster moralischer Gesetzgeber aller Gesetze.¹⁰¹
Da aber Gott die Personifikation des moralischen Gesetzes in mir ist, ist göttliche Gesetzgebung für Kant weiterhin ein Fall innerer Gesetzgebung, bei der die individuelle Autonomie bewahrt wird.¹⁰² Gleichzeitig entsteht hierdurch – indem Gott nicht nur in mir, sondern in allen Vernunftwesen als gesetzgebend vorgestellt wird – idealiter eine systematische Verbindung, welche ein Reich nach Tugend-
MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 581. Vgl. Gott und reine praktische Vernunft identifizierend auch opus posthumum, AA XXII, S. 104 f. und S. 118 sowie opus posthumum, AA XXI, S. 15. Zwar betonen einige Autoren zurecht, dass Gott als Gesetzgeber (gerade im Hinblick auf seine einheitsstiftende Funktion, s. u. Kap. 5, Fn. 103) analogisch als „unhintergehbare[r] Außenstehende[r]“ zu betrachten ist (so Stangneth 2000, S. 137, vgl. ähnlich wohl Wood 2011, S. 135 und S. 137). Gleichwohl ist die hiermit verbundene Gesetzgebung notwendig eine innere, da Tugendgesetze – insofern sie die Idee der Pflicht als Triebfeder implizieren – nur innerlich gegeben werden können. In der Rede von Gott als Gesetzgeber personifizieren wir lediglich unsere eigene, uns innerlich verpflichtende Vernunft und ermöglichen damit gleichzeitig die Abgrenzung von uns als verpflichtetem Subjekt. Dies ist mehr als nur eine „göttliche Bestätigung aller wahren ethischen Pflichten“ (Lutz-Bachmann 2005, S. 215), sondern ethische Gesetzgebung muss notwendig als göttliche vorgestellt werden. Vgl. unter Betonung des systematischen Aspekts ähnlich Städtler 2005, S. 168 f. mit Fn. 2. Denn wie Kant in TL, AA VI, S. 487 ausführt, muss die „R e l i g i o n s l e h r e […] als ein Theil der Ethik (denn vom Recht der Menschen gegen einander kann hier nicht die Rede sein)“ angesehen werden, insofern das „F o r m a l e aller Religion, wenn man sie so erklärt: sie sei »der Inbegriff aller Pflichten als (instar) göttlicher Gebote«, […] zur philosophischen Moral [gehört] […]. Wir können uns nämlich Verpflichtung (moralische Nöthigung) nicht wohl anschaulich machen, ohne einen A n d e r e n und dessen Willen (von dem die allgemein gesetzgebende Vernunft nur der Sprecher ist), nämlich Gott, dabei zu denken.“ Diese Vorstellung ist (wie Kant in der Bestimmung des Gewissens als innerer Gerichtshof darlegt, vgl. TL, AA VI, S. 440) nur analogisch, da sich der Mensch die Verpflichtung durch Gott „n u r n a c h d e r A n a l o g i e mit einem Gesetzgeber aller vernünftigen Weltwesen […] als Verantwortlichkeit vor einem von uns selbst unterschiedenen, aber uns doch innigst gegenwärtigen heiligen Wesen (der moralischgesetzgebenden Vernunft) […] vorzustellen“ hat. Vgl. diese notwendige Gottesvorstellung näher qualifizierend Förster 1998, S. 357– 360; Hoffmann 2002, S. 436 f.; Forkl 2001, S. 178 – 182; Esser 2013, S. 272 und S. 281– 283 und Ricken 2013, S. 417– 420.Vgl. insb. zur Frage, ab wann Kant diese Gotteslehre vertrat, kontrovers Förster 1998; Schwarz 2004, zusf. S. 271– 197 sowie Brandt 2008. Freilich wären an dieser Stelle noch weitere Aspekte der Kantischen Gottesvorstellung (insb. Kants gewaltenteiliges Trinitätsverständnis und die Funktion Gottes zur Realisierung des höchsten Guts) erläuterungsbedürftig. Dies kann hier nicht aufgearbeitet werden, vgl. aber zur Entwicklung der Kantischen Gotteslehre konzis Förster 1998 und bereits Baumgartner 1996. Vorliegend ging es allein um den Nachweis, dass innere, ethische Gesetzgebung bei Kant notwendig mit der Gottesvorstellung als Personifikation der gesetzgebenden, reinen praktischen Vernunft einhergeht.
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gesetzen einlöst.¹⁰³ Tugendpflichten können allerdings – da sie vernunftnotwendige Zwecksetzungen einfordern – nur aus Pflicht befolgt werden.¹⁰⁴ Damit ist ein Reich nach Tugendgesetzen (das ethische Gemeinwesen) notwendig ein solches, dessen Vereinigungsprinzip die Tugend ist: Also kann nur ein solcher als oberster Gesetzgeber eines ethischen gemeinen Wesens gedacht werden, in Ansehung dessen alle w a h r e n P f l i c h t e n , mithin auch die ethischen z u g l e i c h als seine Gebote vorgestellt werden müssen; welcher daher auch ein Herzenskündiger sein muß, um auch das Innerste der Gesinnungen eines jeden zu durchschauen und, wie es in jedem gemeinen Wesen sein muß, jedem, was seine Thaten werth sind, zukommen zu lassen. Dieses ist aber der Begriff von Gott als einem moralischen Weltherrscher. Also ist ein ethisches gemeines Wesen nur als ein Volk unter göttlichen Geboten, d.i. als ein Vo l k G o t t e s , und zwar n a c h T u g e n d g e s e t z e n , zu denken möglich.¹⁰⁵
Das Reich der Tugend ist auf Moralität gegründet, und gerade deswegen muss Gott als Oberhaupt für die systematische Verbindung nach Rechtsgesetzen (d. h. die respublica noumenon, das »Reich des Rechts« als die negative Implikation eines Reichs der Zwecke) ausfallen. Denn das Vereinigungsprinzip einer Rechtsgemeinschaft ist grundlegend verschieden:¹⁰⁶ Sollte nun das zu gründende gemeine Wesen ein j u r i d i s c h e s sein: so würde die sich zu einem Ganzen vereinigende Menge selbst der Gesetzgeber (der Constitutionsgesetze) sein müssen, weil die Gesetzgebung von dem Princip ausgeht: d i e F r e i h e i t e i n e s j e d e n a u f die Bedingungen einzuschränken, unter denen sie mit jedes andern F r e i h e i t n a c h e i n e m a l l g e m e i n e n G e s e t z e z u s a m m e n b e s t e h e n k a n n , und
Vgl. Religion, AA VI, S. 6 mit Fn. *: „Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen [sc. und zur Idee eines ethischen Gemeinwesens, P.-A. H.] erweitert […]. Das Zusammenstimmen mit der bloßen Idee eines moralischen Gesetzgebers aller Menschen ist […] mit dem moralischen Begriffe von Pflicht überhaupt identisch, und sofern wäre der Satz, der diese Zusammenstimmung gebietet, analytisch.“ Vgl. inhaltlich entsprechend opus posthumum, AA XX, S. 104 f. sowie äußerst erhellend Förster 1998, S. 350 – 355, der zutreffend erkennt, dass Kant ab der Religionsschrift Gott nicht nur Stifter des ethischen Gemeinwesens qualifiziert, sondern ihn insofern auch mit reiner praktischer Vernunft im Pflichtbegriff gleichsetzt. Vgl. ebd., S. 355: „Dieser Gottesbegriff ist also analytisch mit dem Pflichtbegriff bzw. dem kategorischen Imperativ, sofern er als ‚Vereinigungsprinzip‘ freier Vernunftwesen gedacht ist, verbunden.“ Die einheitsstiftende Funktion Gottes betonen i. Ü. auch Städtler 2005, S. 167 f.; Wood 2011, S. 135; Ricken 2011, S. 176 sowie Stangneth 2000, S. 134– 137, vgl. aber kritisch Klar 2007, S. 203 – 206; ohne jedoch den Zusammenhang zum Reich der Zwecke und dem dortigen Begriff vom Oberhaupt zu erkennen. Vgl. oben S. 120 f. mit Fn. 201. Religion, AA VI, S. 99. Diese Differenz der jeweiligen Vereinigungsprinzipien stellen auch Stangneth 2000, S. 129 – 131; Klar 2007, S. 150 f. und S. 198 f. und Wood 2011, S. 133 f. heraus.
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wo also der allgemeine Wille einen gesetzlichen äußeren Zwang errichtet. Soll das gemeine Wesen aber ein e t h i s c h e s sein, so kann das Volk als ein solches nicht selbst für gesetzgebend angesehen werden. Denn in einem solchen gemeinen Wesen sind alle Gesetze ganz eigentlich darauf gestellt, die M o r a l i t ä t der Handlungen (welche etwas I n n e r l i c h e s ist, mithin nicht unter öffentlichen menschlichen Gesetzen stehen kann) zu befördern, da im Gegentheil die letzteren, welches ein j u r i d i s c h e s gemeines Wesen ausmachen würde, nur auf die Legalität der Handlungen, die in die Augen fällt, gestellt sind und nicht auf die (innere) Moralität, von der hier allein die Rede ist.¹⁰⁷
„Gott aber will, wir sollen ihm gehorchen, weil wir einsehen, es sei billig und gut. Er will, daß wir es gerne tun, nicht äußerlich gezwungen.“¹⁰⁸ Sich Gott als Gesetzgeber vorzustellen, ist innere Gesetzgebung reiner praktischer Vernunft und verlangt uns Moralität ab. Stellten wir uns Gott daher auch als vereinigendes, gesetzgebendes Oberhaupt in Ansehung des Rechts vor, so würden dadurch gerade die für das Recht konstitutiven Momente der Gesinnungsindifferenz und Äußerlichkeit der Gesetzgebung verloren gehen. Wenn Gott gleichwohl auch „als höchster moralischer Gesetzgeber aller Gesetze“¹⁰⁹ (mithin auch der Rechtsgesetze) vorgestellt werden kann, so heißt dies lediglich, Rechtspflichten als indirekt-ethische Pflichten zu betrachten.¹¹⁰ Beim Recht sensu stricto geht es aber um die moralische Möglichkeit äußerer Gesetzgebung, und die Verfassung der Rechtsgemeinschaft konstituiert sich durch gleichmäßigen, wechselseitigen, äu-
Religion, AA VI, S. 98 f. Danziger Rationaltheologie, AA XXVIII, S. 1314. Vgl. ebenso Religionsphilosophie-Volckmann, AA XXVIII, 1218 und ausführlich MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 713 – 730. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 581, kursive Hervorhebung P.-A. H.Vgl. ähnlich Religion, AA VI, S. 99 mit Fn. *. Als indirekt-ethische Pflichten ist auch für Rechtspflichten eine innere, ethische Gesetzgebung möglich.Vgl. dazu ausführlich oben S. 121 f. Und allein für ethische Pflichten (seien sie direkt oder indirekt) ist die Vorstellung Gottes als Gesetzgeber notwendig. Dies zeigt nicht nur die Bestimmung Gottes als Oberhaupt des ethischen Gemeinwesens, sondern auch die explizite Begrenzung der „R e l i g i o n s p f l i c h t […] der Erkenntniß aller unserer Pflichten als (instar) göttlicher Gebote“ auf die „Ethik (denn vom Recht der Menschen gegen einander kann hier nicht die Rede sein)“,vgl. TL, AAVI, S. 443 und S.487, hierzu bereits oben Kap. 5, Fn. 102. Bei Rechtspflichten ist stets zwischen deren juridischer und ethischer Gesetzgebung zu trennen und ausschließlich mit Blick auf letzte kann man von Gott als Gesetzgeber sprechen. Insofern aber Rechtspflichten als indirekt-ethische Pflichten betrachtet auch der Gesetzgebung Gottes im ethischen Gemeinwesen unterliegen, ist gleichzeitig garantiert, dass rechtliches und ethisches Gemeinwesen nicht in Widerspruch treten können, „denn wo jener [sc. der politischen Gemeinschaft] ihre Zwangsmittel nicht hinlangen, weil der menschliche Richter das Innere anderer Menschen nicht durchschauen kann, da würden die Tugendgesinnungen das Verlangte bewirken“ (Religion, AA VI, S. 95 f.). Vgl. ähnlich Religion, AAVI, S. 99, Fn. * und VA RL, AA XXIII, S. 353 f.Vgl. zustimmend Stangneth 2000, S. 129 f. und hierzu kritisch Klar 2007, S. 200 – 202.
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ßeren Zwang. Die rechtsspezifische Indifferenz gegenüber dem Handlungsmotiv, wonach es „nur auf die Legalität der Handlungen, die in die Augen fällt,“ ankommt, kann jedoch nicht in Ansehung Gottes aufrecht erhalten werden, da Gott als Gesetzgeber „Herzenskündiger“ ist und als solcher „das Innerste der Gesinnungen eines jeden […] durchschau[t]“ und nach Maßgabe der Moralität Verdienst und Strafe ausspricht.¹¹¹ Die Vorstellung Gottes als Gesetzgeber fällt daher für das Recht aus und entwickelt eine einheitsstiftende Funktion nur für das Reich der Tugend, welches „ein besonderes und ihm eigenthümliches Vereinigungsprincip (die Tugend) [hat] und daher auch eine Form und Verfassung, die sich von der de[r] letztern [sc. der Rechtsgemeinschaft] wesentlich unterscheidet“.¹¹² Die systematische Verbindung nach öffentlichen Rechtsgesetzen (die Rechtsgemeinschaft bzw. ein rechtlich-bürgerliches gemeines Wesen) bedarf daher eines anderen einheitsstiftenden Oberhaupts. Hier würde laut Kant „die sich zu einem Ganzen vereinigende Menge selbst der Gesetzgeber (der Constitutionsgesetze) sein müssen, […] wo also der allgemeine Wille einen gesetzlichen äußeren Zwang errichtet“.¹¹³ Dieses gesetzgebende Oberhaupt ist der staatliche Souverän, die Vorstellung des vereinigten, gesetzgebenden Willens aller: Das öffentliche Recht ist der Inbegriff öffentlicher Gesetze (d.i. solcher die durch einen machthabenden Gesetzgeber allen denen eine Pflicht obliegt verkündigt werden). – Sollen nun diese Gesetze a priori durch die Vernunft erkennbar seyn so können sie aus nichts anders als der Idee eines gemeinschaftlichen Willens der dem Obersten Gesetzgeber beygelegt wird (der Idee desselben) hervorgehen nur daß der declarirte Wille einer wirklichen Person beygelegt werden muß. Ohne diese hat der Begrif des Rechts keine bestimmte Qvelle der Ausführung nämlich der wirklichen Verbindung des Willens aller zu einem Willen des Ganzen. Das öffentliche Recht ist das desjenigen der nur befiehlt und nicht gehorcht. Das Privatrecht ist wechselseitig. Ohne ein öffentliches ist es der status naturalis und eine bloße Idee der Möglichkeit einer Rechtspflege.¹¹⁴
Die Idee eines gemeinschaftlichen, gesetzgebenden Willens aller bewirkt – wie diese Passage aus den Vorarbeiten anschaulich zeigt – die „wirkliche Verbindung des Willens aller zu einem Willen als Ganzen“. Staatlichkeit ist damit der Inbegriff dieser systematischen Verknüpfung nach Rechtsgesetzen, da erst unter ihrer Idee Gesetzgebung, Rechtsadjudikation und Rechtsdurchsetzung als Ausdruck des vereinigten Willens aller angesehen werden. Diese Lesart bestätigt sich auch in der
Vgl. Religion, AA VI, S. 99 und hierzu Stangneth 2000, S. 137; Wood 2011, S. 135 und vor allem Förster 1998, S. 354 f. Religion, AA VI, S. 94, vollständig zitiert S. 231. Vgl. dazu auch Klar 2007, S. 150 f. Religion, AA VI, S. 98, vollständig zitiert S. 237 f. VA RL, AA XXIII, S. 347, kursive Hervorhebung P.-A. H.
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5 Das Naturzustandsproblem und die sittliche Notwendigkeit des Staates
Rechtslehre, wenn Kant ausführt, dass „[d]ie drei Gewalten im Staat, die aus dem Begriff eines g e m e i n e n We s e n s überhaupt (res publica latius dicta) hervorgehen,“ nichts anderes sind als […] Verhältnisse des vereinigten, a priori aus der Vernunft abstammenden Volkswillens und eine reine Idee von einem Staatsoberhaupt, welche objective praktische Realität hat. Dieses Oberhaupt (der Souverän) aber ist so fern nur ein (das gesammte Volk vorstellendes) G e d a n k e n d i n g […].¹¹⁵
Ein solcher Souverän muss als Oberhaupt einer Rechtsgemeinschaft notwendig vorgestellt werden, damit „der allgemeine Wille einen gesetzlichen äußeren Zwang errichtet […], welches ein j u r i d i s c h e s gemeines Wesen ausmach[t]“.¹¹⁶ Daher kann Kant sagen, „[j]ener [sc. bürgerliche] Verein ist also nicht sowohl als m a c h t vielmehr eine Gesellschaft“.¹¹⁷ Der bürgerliche Rechtszustand erfordert „einen öffentlich deklarirten Willen“, der „mit einer Macht begleitet [ist, P.-A. H.] und […] aus allen einzelnen eine Vniversitatem [macht].“¹¹⁸ Während also im Reich der Tugend die systematische Verbindung der Gesetzesunterworfenen dadurch zustande kommt, dass Gott in allen als gesetzgebendes Oberhaupt vorgestellt wird (Einer in allen), geschieht dies im »Reich des Rechts« dadurch, dass alle als Teil des vereinigten, gesetzgebenden Volkswillens gemeinsam den Souverän konstituieren (Alle in einem).
5.2.3 Exeundum est e statu naturali – Der Staat als Rechtsgeltungsinstanz Vor diesem Hintergrund können wir nun erklären, was bei Kant die sittliche Notwendigkeit des Staates generiert und eine entsprechende Pflicht zur Etablierung eines status civilis begründet: Im Naturzustand besteht das Problem, dass rechtliche Fremdverpflichtung nicht als autonome Selbstverpflichtung gedacht werden kann.¹¹⁹ Wie die Auseinandersetzung mit Kants Reich der Zwecke zeigt, lässt sich dieses Problem strukturell darauf zurückführen, dass Rechtsgesetze als gemeinschaftliche moralische Gesetze eine systematische Verbindung der Ge RL, AA VI, S. 238. Religion, AA VI, S. 98 f. RL, AA VI, S. 307. VA RL, AA XXIII, S. 346.Vgl. auch VA RL, AA XXIII, S. 351: „Der allgemeine Wille des Volks ist nicht der Wille aller über einen gegebenen Fall sondern derjenige der diese verschiedenen Willen blos verknüpft d.i. der gemeinschaftliche Wille der f ü r a l l e b e s c h l i e ß t also die bloße Idee der bürgerlichen Einheit“. Vgl. eingehend oben S. 220 – 227.
5.2 Staatlichkeit als Bedingung für ein System selbstzweckhafter Wesen
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setzesunterworfenen erfordern, welche gleichwohl garantiert, dass sich ein jeder als selbstgesetzgebend begreifen kann. Dies ist jedoch nur unter der Vorstellung eines einheitsstiftenden, gesetzgebenden Oberhaupts möglich, in welchem die reine praktische Vernunft des Einzelnen seine Partikularität verliert, da sie in der Idee des Oberhaupts als vereinigtem, allgemein gesetzgebenden Willen aller aufgeht.¹²⁰ Daher führt Kant in der Rechtslehre zum Wesen des bürgerlichen Vereins aus, dass er „das Verhältniß eines allgemeinen O b e r h a u p t s (der, nach Freiheitsgesetzen betrachtet, kein Anderer als das vereinigte Volk selbst sein kann) zu der vereinzelten Menge ebendesselben als U n t e r t h a n s , d.i. des G e b i e t e n d e n (imperans) gegen den G e h o r s a m e n d e n (subditus)“ enthält, wodurch der Mensch im bürgerlichen Zustand „seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit, d. i. in einem rechtlichen Zustande, unvermindert wieder […] finde[t], weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt“.¹²¹ Reine praktische Vernunft verlangt also aus autonomietheoretischen Gründen den Übergang in den bürgerlichen Rechtszustand, weil Staatlichkeit idealiter ¹²² die sittlich notwendige Realisationsbedingung des Rechts ist. Anschaulich führt Kant hierzu in einer Reflexion aus: Das Principium dieses Rechts ist, daß ohne eine iustitia distributiva es keine commutativam geben kan, d.i., daß niemand ein Recht habe einem andern freyheit einzuschränken, wenn der andere nicht zugleich unter derselben Bedingung seine freyheit einschränkt, daß niemand ein Recht fodern kann, wenn er nicht dem andern seine Rechte sichert.¹²³
Da Kant mit dem Recht die Befugnis zu zwingen analytisch verknüpft,¹²⁴ steht entsprechend auch die Zwangsbefugnis unter der Einschränkung, dass dieser Zwang staatlich ausgeführt wird.Wie Kant in § E der „Einleitung in die Rechtslehre“ ausführt, wird die „C o n s t r u c t i o n jenes Begriffs [sc. des Rechtsbegriffs], d.i. Darstellung desselben in einer reinen Anschauung a priori, nach der Analogie der Möglichkeit freier Bewegungen der Körper unter dem Gesetze der G l e i c h h e i t d e r W i r k u n g und G e g e n w i r k u n g “ erst durch den „unter allgemeine Gesetze gebrachte[n], mit ihm [sc. dem Recht] zusammenstimmende[n] durchgängig wechselseitige[n] und
Vgl. soeben S. 227– 240. RL, AA VI, S. 315 f. Der Einzelne ist also als Teil des vereinigten Willens autonomer Mitgesetzgeber und wird – entgegen Flikschuh 2010, S. 68 – gleichzeitig von ebendiesem vereinigten Willen (dem Oberhaupt) asymmetrisch als partikulares Wesen (als Unteran) verpflichtet. Es sei noch einmal betont, dass es hier ausschließlich um das praktische Ideal einer respublica noumenon geht, welches für reale Herrschaft und die Gewaltunterworfenen gleichermaßen ein normatives Leitbild begründet.Vgl. dazu bereits oben S. 232 f. und unten S. 311– 319, jeweils m. w. N. Refl. 7933, AA XIX, S. 559. Vgl. oben S. 61– 64.
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5 Das Naturzustandsproblem und die sittliche Notwendigkeit des Staates
gleiche[n] Zwang“ ermöglicht.¹²⁵ Genauso wie nun die Bewegung von Körpern immer nur relativ auf andere Körper darstellbar ist, ist auch – in Analogie zum dritten Newtonschen Axiom – die Darstellung des Rechtsbegriffs erst durch die Vorstellung eines wechselseitigen und gleichen Zwangs möglich.¹²⁶ Ohne eine Zwangsgemeinschaft gibt es auch keine Rechtsgemeinschaft. Erfordert nun ebendiese Rechtsgemeinschaft Staatlichkeit als Realisationsbedingung des Rechts, gilt dies auch für die korrespondierenden Zwangshandlungen. Daher ist „das öffentliche Recht (in einem gemeinen Wesen) bloß der Zustand einer wirklichen, diesem Princip gemäßen und mit Macht verbundenen Gesetzgebung“, welcher durch die Etablierung einer obrigkeitlichen Zwangsordnung bewirkt, dass „sich alle zu einem Volk Gehörige als Unterthanen in einem rechtlichen Zustand (status iuridicus) überhaupt, nämlich der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung einer dem allgemeinen Freiheitsgesetze gemäß einander einschränkenden Willkür, (welches der bürgerliche Zustand heißt) befinden“.¹²⁷ Allerdings ist an dieser Stelle zu betonen, dass der Staat in Kants politischer Philosophie hiermit weit mehr als ein bloßer „Rechtssicherungsstaat“¹²⁸ ist: Er ist moralische Rechtsgeltungsinstanz. ¹²⁹ Damit ist Interpretationen entgegenzutreten, die Staatlichkeit zwar als notwendige Realisationsbedingung des Rechts begreifen, diese Notwendigkeit aber allein aus der potentiellen, a priori vernunftwidrigen Konfliktträchtigkeit des Naturzustands herleiten: Im Naturzustand gebe es für die Rechtssicherheit bzw. Rechtswahrung keine Garantie; zumindest keine nach reziproken und universellen Gesetzen.¹³⁰ Richtig ist, dass Kant bereits das
RL, AA VI, S. 232 f. Vgl. dazu näher Kersting 2004, S. 18 – 20 und Hirsch 2012a, S. 55 – 57. Gemeinspruch, AA VIII, S. 292 sowie dazu nochmals eingehend unten S. 259 f. Kühl 1984, S. 163. Vgl. zu dieser Thematik auch unten S. 260 – 262 und S. 267 f. Innerhalb des hier schlagwortartig als Staatlichkeit als Rechtssicherungsinstanz bezeichneten Interpretationsansatzes lassen sich bei genauer Betrachtung zwei Argumentationslinien nuancieren: Zunächst ergebe sich die Notwendigkeit des Staats „aus dem Umstand, daß Menschen sich nicht notwendig ans Recht halten“ (Geismann 2012, S. 58, ausführlich S. 53 – 56). Im Naturzustand könne keiner „dem anderen mit der erforderlichen Sicherheit garantieren […], dass er dessen gesetzliche Willkürfreiheit respektieren wird“. Es bestehe „im gemeinsamen Lebensraum“ mithin immer die Möglichkeit eines „prinzipiell unlösbare[n] Konflikt[s] bezüglich der individuellen Freiheitsrechte“ (Laschet 2011, S. 237). Jedoch fehle es im Naturzustand nicht nur an einer notwendigen Garantie des materiellen Rechts, sondern es bestehe vielmehr eine „a priori mit der Vernunftidee des Naturzustandes gegebene und innerhalb dieses Zustandes unaufhebbare Unsicherheit“ (Geismann 2012, S. 57). Insofern Recht der Inbegriff der Freiheit, d. h. der Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür, nach reziproken und universellen Gesetzen sei, lasse sich Recht unmöglich im Naturzustand als „Zustand möglicher universell-reziproker Rechtsstrittigkeit“ (ebd.) realisieren. Nach Ripstein 2009, S. 145 – 181 ist das Problem im Natur-
5.2 Staatlichkeit als Bedingung für ein System selbstzweckhafter Wesen
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unvermeidliche Sozialverhältnis im Naturzustand als Läsion der eigenen Rechte qualifiziert. Nach ihm rechtfertigt es allein die Möglichkeit so entstehender Handlungs- bzw. Rechtskonflikte, den Übergang in einen rechtssichernden bürgerlichen Zustand zu fordern. Repräsentativ sei hierzu eine Stelle aus den Vorarbeiten zu Zum ewigen Frieden zitiert: Ob ein Mensch nur dann befugt ist[,] von dem Anderen Sicherheit zu fordern[,] daß er ihn nicht lädiren wird[,] wenn er ihn schon lädirt hat oder ob er diese Sicherheit vorher fordern dürfe. Das Letztere ist klar. […] [D]aher ist mir erlaubt zuerst Sicherheit zu verlangen wegen seiner Heilighaltung meiner Rechte[,] eh ich noch durch Schaden vom Gegentheil überführt werde. […] Es läßt sich kein Recht des Andern gegen mich (welches ich lädiren könnte)[,] es mag auch seyn welches es wolle[,] denken wenn ich nicht m i t G r u n d e voraussetzen kann[,] er wolle auch nicht das meinige respektiren […]. [D]ie Läsion des bloßen Naturmenschen ist seine Nachbarschaft, er kann genöthigt werden sich daraus wegzumachen[,] weil sein Daseyn andere mit Gefahr bedroht (das ist die Ursache der Zerstreuung der Menschen im Naturstande.) […] Aber wo nicht auch eine Sicherheit da ist (oder der andere diese stellt)[,] daß er mich nicht l ä d i r e n w i r d [ , ] da kann keine Verbindlichkeit meinerseits stattfinden ihn ungehindert neben mir zu dulden. Denn es müsse schon ein öffentliches Recht da seyn[,] was mich dazu verbände[,] denn von selbst kann von mir nicht verlangt werden[,] daß ich mich der Gefahr aussetze.¹³¹
Wenn dabei aber unter Rechtssicherung lediglich die garantierte, faktische Abwehr permanent möglicher Handlungskonflikte zur Wahrung materieller Frei-
zustand daher (ebd. S. 159 f.) „the tension between unilateral choice and freedom under universal law. […] The only obligation of right that you can owe to another person must be part of the system of reciprocal limits […].“ Vgl. zusammenfassend ebd., S. 176: „All authority must come from law, because the only alternative is unilateral choice.“ Vgl. auch Varden 2010, S. 333 – 335 und Varden 2008, zusf. S. 27: „Only in civil society is it possible to subject our interactions to symmetrical, noncontigent restrictions rather than to one another’s arbitrary choice.“ Mithin ist Staatlichkeit als Rechtssicherungsinstanz hiernach geboten, weil es im Naturzustand nicht nur an einer notwendigen Garantie des Rechts fehle, sondern – so die zweite Argumentationslinie – auch an einer reziprok-universellen Garantie bzw. Rechtssicherung, d. h. einer allgemeingesetzlichen im Unterschied zu einer unilateralen Rechtsrealisierung.Vgl. diese Lesart – bei im Detail unterschiedlicher Argumentation – im Ergebnis teilend Kühl 1984, S. 163 – 165; Höffe 1979a, S. 208 – 210; Waldron 1996, S. 1556 – 1562; Fulda 1997, S. 278 f.; Friedrich 2004, S. 170 – 173; Kersting 2004, S. 109 – 112; Maliks 2013, S. 31 f., erneut Maliks 2014, S. 69 – 72; Zylberman 2016, S. 112– 114 sowie mit Einschränkungen Hruschka 2003, S. 216 f. und Byrd und Hruschka 2011, S. 26 und S. 31 f. VA ZeF, AA XXIII, S. 159 f. Dieser Aspekt wird in Kants Äußerungen zur Staatsbegründung seit jeher erwähnt, vgl. nur exemplarisch Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1337 f. und S. 1381 f.; MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 589 f. sowie Refl. 7937 – 7940, AA XIX, S. 560 f. und Refl. 7996, AA XIX, S. 576. Auch in der Rechtlehre von 1797 findet er sich wiederholt,vgl. RL, AAVI, S. 255 – 257; 307 f. und S. 312.
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5 Das Naturzustandsproblem und die sittliche Notwendigkeit des Staates
heitsrechte verstanden wird,¹³² ist dies eine verfehlte und verkürzte Darstellung der Kantischen Naturzustandsproblematik. Sie erscheint verfehlt, insofern dies letztlich auf eine vorliegend bereits zurückgewiesene anthropologische Staatsbegründung hinausliefe.¹³³ Vor allem aber ist sie verkürzend, weil sie lediglich materielle Rechte, d. h. Rechte auf etwas (z. B. auf Handlungsfreiheit, auf äußere Gegenstände etc.), in den Blick nimmt und nach deren faktischer Gewährleistung fragt. Jedoch geht es Kant bei der Staatsbegründung ersichtlicherweise primär um die Form bzw. die Art und Weise, in der Rechte bestehen und gewährleistet werden. Daher enthält das Recht im bürgerlichen Zustand auch […] nicht mehr oder andere Pflichten der Menschen unter sich, als in jenem [sc. dem Naturzustand] gedacht werden können; die Materie des Privatrechts ist eben dieselbe in beiden. Die Gesetze des letzteren [sc. des bürgerlichen Zustands] betreffen also nur die rechtliche Form ihres Beisammenseins (Verfassung), in Ansehung deren diese Gesetze nothwendig als öffentliche gedacht werden müssen.¹³⁴
Umgekehrt:Weigern sich Menschen, den Naturzustand zu verlassen, so besteht für Kant das Problem nicht in der Verletzung bestimmter materieller Rechtstitel des jeweils anderen und die Akteure „thun […] e i n a n d e r auch gar nicht unrecht, wenn sie sich untereinander befehden“. Vielmehr „thun sie im höchsten Grade daran unrecht“, weil sie durch das Verbleiben im Naturzustand „bloß formaliter […] unrecht“ handeln.¹³⁵ Dieses formelle Erfordernis, das Kant an das rechtliche Verhältnis zwischen Menschen stellt und welches er im Staat eingelöst sieht, ist hier mit dem (bereits eingangs definierten) Begriff der Rechtsgeltung gemeint.¹³⁶ Jedoch ist Rechtsgeltung durch die Notwendigkeit einer universell-reziproken Rechtssicherung bzw. Rechtsrealisierung nach öffentlichen Gesetzen noch nicht hinreichend bestimmt.¹³⁷ Vielmehr muss Kant zeigen, warum eine solche Form der Rechtsrealisierung sittlich bzw. moralisch notwendig ist. Universalität und Rezipro-
So die in Kap. 5, Fn. 130 genannten Interpreten, insofern sie der dort beschriebenen ersten Argumentationslinie zuneigen. Denn die Notwendigkeit des Staates beruhte letztlich auf der (wenn auch schwachen) anthropologischen Prämisse, dass Menschen nicht von sich aus in allen Fällen rechtskonform handelten bzw. im Konfliktfalle zu keiner moralkonformen Lösung fähig wären. Kant hat jedoch den Anspruch, die Notwendigkeit des Staates jenseits der Frage menschlicher Boshaftigkeit allein aus dem Begriff des Rechts analytisch zu entwickeln. Vgl. dazu oben S. 214–218. RL, AA VI, S. 306, kursive Hervorhebung P.-A. H. RL, AA VI, S. 307 mit Fn. *, kursive Hervorhebung P.-A. H. Vgl. hierzu ausführlich unten S. 300 – 310 m. w. N. Vgl. oben S. 211 mit Fn. 2. So aber weitgehend die in Kap. 5, Fn. 130 genannten Interpreten, insofern sie der dort beschriebenen zweiten Argumentationslinie zuneigen.
5.2 Staatlichkeit als Bedingung für ein System selbstzweckhafter Wesen
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zität sind bloß begriffliche Bestimmungen von Gesetzen. Hiermit ist jedoch noch nicht ihre moralische Notwendigkeit für die Rechtsrealisierung gezeigt. Moralische Rechtsgeltung verlangt daher neben der gesetzlichen Wahrung materieller Rechte (d. h. Rechtssicherung i. e. S.), dass die Bestimmung und Durchsetzung dieser Rechte in sittlich zulässiger Weise, d. h. in Übereinstimmung mit der sittlichen Autonomie aller beteiligten Rechtssubjekte erfolgt. Dies wird nun durch die Vorstellung eines einheitsstiftenden, gesetzgebenden Oberhaupts, d. h. des staatlichen Souveräns, eingelöst. Er hebt die Unilateralität und Partikularität rechtlicher Fremdverpflichtung auf und lässt diese als externalisierte Selbstverpflichtung begreifen. Wenn der Souverän als der allgemeingesetzgebende Wille mich verpflichtet, bin ich es letztlich selbst, der mich nötigt. Daher lässt sich Auto-Nomie als Selbst-Verpflichtung in rechtlicher Hinsicht erst unter Bedingungen von Staatlichkeit realisieren. Vernunftrechtlich legitimierte Rechte jedweder Art (angeboren oder erworben) verlangen daher aus autonomietheoretischen Gründen den Übergang in ein Gemeinwesen, welches die Realisation dieser Rechte sittlich möglich macht. Hierin liegt der Grund, warum sich die Notwendigkeit eines bürgerlichen Rechtszustands bereits „analytisch aus dem Begriffe des R e c h t s im äußeren Verhältniß im Gegensatz der G e w a l t (violentia) entwickeln“ lässt.¹³⁸ Zugegebenermaßen hängt damit die Notwendigkeit des bürgerlichen Rechtszustands zunächst davon ab, dass Rechtssubjekte mit materiellen Rechten in Interaktion treten. Daher steht das Postulat des öffentlichen Rechts unter der Prämisse, dass man sich „im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins mit allen anderen“ befindet;¹³⁹ oder in Kants Worten aus Naturrecht-Feyerabend: Es ist nicht willkührlich sondern nothwendig, aus dem statu merae justitiae privatae herauszugehen, und in civilem zu treten. […] Dieser Zustand ist status civilis. Es ist zwar nur Bedingung, nicht absolute Pflicht, indem sie darauf beruht, wo wir im Commercio mit anderen stehen.¹⁴⁰
RL, AA VI, S. 307. Vgl. dazu auch oben S. 217. Im Naturzustand haben wir Rechtspflichten gegenüber anderen nur, sofern wir sie freiwillig anerkennen. Das Rechtsgesetz als moralisches Gesetz verbindet uns lediglich als inneres Gesetz, d. h. insofern ich mich selber zur Anerkennung der Rechte anderer verpflichte. Vgl. dazu bereits oben S. 220f. Vgl. ferner RL, AA VI, S. 341; Moral-Mrongovius II, AA XXIX, S. 632; Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1338 und S. 1381 sowie implizit auch Refl. 7939, AA XIX, S. 560f. Im emphatischen Sinne gibt es daher im Naturzustand nur Gewalt und kein gültiges Recht, als „das Vermögen, andere zu verpflichten“ (RL, AA VI, S. 239).Vgl. Refl. 8074, AA XIX, S. 602; Refl. 7903, AA XIX, S. 549 sowie ähnlich MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 514. RL, AA VI, S. 307. Vgl. im Ergebnis ähnlich RL, AA VI, S. 236 f. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1381 f. Vgl. ähnlich MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 590: Erst „sobald Menschen sich bis zur Ausübung ihrer wechselseitigen Freiheit nähern,“ ist es notwendig, dass „sie den statum naturalem verlassen, um ein nothwendiges Gesetz, einen statum civilem, einzugehen“.
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5 Das Naturzustandsproblem und die sittliche Notwendigkeit des Staates
Diese Einschränkung hebt aber die Kategorizität der Pflicht zum Staat nicht auf, sondern verdeutlicht nur, dass sie unter der Bedingung einer Pluralität von autonomen Rechtssubjekten steht. Nur weil diese materielle Rechte und Pflichten haben, die wir bei gleichzeitiger Wahrung ihrer Autonomie anerkennen müssen, entsteht überhaupt das Desiderat einer systematischen Verfasstheit der Rechtssubjekte.¹⁴¹
5.3 Staatlichkeit als moralische Pflicht Fassen wir zusammen: Während die Wahrung materieller Rechte die Möglichkeitsbedingung für die Koexistenz autonomer Vernunftwesen darstellt,¹⁴² ist Staatlichkeit die formale Realisationsbedingung derselben. Dahinter steht – wie eine genaue Analyse des Kantischen Gesetzgebungsbegriffs gezeigt hat – ein genuin autonomietheoretisches Problem, das erneut den kritischen Charakter von Kants Rechts- und politischer Philosophie beweist: Im Naturzustand besteht das Problem, dass Recht als Inbegriff der Fremdverpflichtung nicht als autonome Selbstverpflichtung gedacht werden kann. Machen andere mir gegenüber Rechte geltend, dann ist rechtliche Fremdverpflichtung immer heteronom und damit moralisch defizitär. Staatlichkeit löst dieses Problem, weil dort der Idee nach alle rechtliche Verpflichtung vom Staat als vereinigtem, a priori aus der Vernunft abstammenden Volkswillen ausgeht. Recht unter Bedingungen von Staatlichkeit wahrt also individuelle Autonomie, weil sich das verpflichtete Rechtssubjekt als Teil dieses vereinigten gesetzgebenden Willens aller stets mittelbar selbst die rechtliche Verbindlichkeit auferlegt. Hiermit rekurriert Kant letztlich auf Überlegungen, die schon seiner Lehre vom Reich der Zwecke zugrunde liegen. Auch dort verlangt die systematische Verbindung nach gemeinschaftlichen moralischen Gesetzen nach einer Instanz, welche zwischen der individuellen Autonomie und der intersubjektiven Verpflichtung durch allgemeingültige und reziproke Gesetze vermittelt. Und ebenso wie dies im Reich der Zwecke die Vorstellung eines Oberhaupts, d. i. eines einheitsstiftenden Gesetzgebers, leistet, so erfordert auch die Idee des Staates ein staatliches „Oberhaupt (de[n] Souverän)“, d. h. „ein (das gesammte Volk vorstellendes) G e d a n k e n d i n g “,¹⁴³ das diese Vermittlungsleistung für das Recht als
In diesem Sinne lässt sich etwa Refl. 7727, AA XIX, S. 501 lesen, fette Hervorhebung P.-A. H.: „Bis dahin haben wir die Gründe des Natürlichen rechts erwogen aber ohne Rechtspflege (iustitia administrans), die Gründe der diiudication aber nicht der actuation (principia essendi non fiendi). Eine bloße idee, in welcher der status iuridicus nur potential ist und welche den Grund enthält, nach welchem die iustitia externa soll angeordnet werden.“ Vgl. dazu ausführlich oben S. 70 – 90. RL, AA VI, S. 338.
5.3 Staatlichkeit als moralische Pflicht
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moralisches Gesetz erbringt. Interpretationen, die das Problem des Naturzustandes in einer anthropologisch anzunehmenden Bosheit des Menschen, in der epistemischen Unterbestimmtheit des Rechts oder aber in einer a priori bestehende Rechtsunsicherheit sehen, gehen daher an dieser kritisch-moralphilosophischen Pointe der Kantischen Staatsbegründung vorbei: Reine praktische Vernunft verlangt aus autonomietheoretischen Gründen den Übergang in den bürgerlichen Rechtszustand, weil Staatlichkeit als Rechtsgeltungsinstanz idealiter die sittlich notwendige Realisationsbedingung des Rechts ist.
6 Freiheit zum und im Staat – Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre Soeben konnten wir sehen, dass Kant die moralische Notwendigkeit des Staates letztlich autonomietheoretisch begründet: Das Defizit der Rechtsgemeinschaft im Naturzustand liegt darin, dass in diesem rechtliche Fremdverpflichtung und der Anspruch der Person, nur im Wege autonomer Selbstverpflichtung obligiert werden zu können, notwendig miteinander in Konflikt geraten. Erst die Begründung eines bürgerlichen Rechtszustands löst diesen Konflikt auf, weil Kant Staatlichkeit der Idee nach als Vereinigung des gesetzgebenden Willens aller konzipiert. Dies bewirkt, dass rechtliche Verpflichtung durch den Staat vom Individuum stets als mittelbare Selbstverpflichtung begriffen werden kann. Dieses Ergebnis folgte in Kapitel 5 notwendig aus der konsequenten Anwendung zentraler Einsichten der kritischen Moralphilosophie Kants auf den Sonderfall zwangsbewehrter Rechtsverpflichtung. Ausgehend vom Kantischen Autonomietheorem und dem Ideal eines Reichs der Zwecke ergab sich, dass auch Rechtsgesetze als gemeinschaftliche moralische Gesetze eine systematische Verbindung der Gesetzesunterworfenen erfordern. Diese wird durch die Konstitution eines einheitsstiftenden Oberhauptes, namentlich des vereinigten Volkswillens, eingelöst und führt in Übereinstimmung mit der sittlichen Autonomie aller beteiligten Rechtssubjekte die moralische Geltung des Rechts herbei. Allein es steht noch der Nachweis aus, dass auch Kants Rechtslehre dieser zunächst vorwiegend systematisch rekonstruierten Konzeption folgt. Es gilt mithin, die autonomietheoretische Staatsbegründung am Text der rechtsphilosophischen Schriften Kants zu überprüfen. Im Vordergrund steht dabei freilich die Rechtslehre, gleichwohl sind zum besseren Verständnis auch der Gemeinspruch, Zum ewigen Frieden sowie der Streit der Fakultäten mit in den Blick zu nehmen. Dabei gilt ein besonderes Augenmerk der Frage, wie weit die hier vorgestellte autonomietheoretische Staatsbegründung trägt, insofern sie ihrem Anspruch nach für Recht schlechthin gilt: Jedes vernunftrechtlich legitimierte Recht – gleichgültig ob angeboren (inneres Mein und Dein) oder erworben (äußeres Mein und Dein) – verlangt den Übergang in ein bürgerliches Gemeinwesen, um es gegenüber anderen legitimerweise geltend machen zu können. Im Folgenden soll zunächst untersucht werden, ob dieser Erklärungsanspruch der autonomietheoretischen Staatsbegründung in einem Spannungsverhältnis zur besonderen Textgestalt der Rechtslehre steht, die sich in ihren Hauptstücken (Privatrecht und Öffentliches Recht) ja lediglich den erworbenen Rechten (äußeres Mein DOI 10.1515/9783110530070-006
6.1 Bloß ein Staat des äußeren Besitzes? – Zur Textgestalt der Rechtslehre
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und Dein) widmet (6.1). Sodann gilt – zweitens – der Fokus dem inneren Mein und Dein und dem Nachweis, dass Staatlichkeit die notwendige Realisationsbedingung ursprünglicher Rechte und Rechtspflichten ist. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei der praecepta iuris-Passage der „Einleitung in die Rechtslehre“ zu. Diese belegt, dass die autonomietheoretische Staatsbegründung auch in Ansehung angeborener Rechte unmittelbar Eingang in die Metaphysik der Sitten gefunden hat (6.2). Hiervon ausgehend soll in einem dritten Schritt die besondere Bedeutung des äußeren Mein und Dein für die Notwendigkeit eines bürgerlichen Zustandes untersucht werden. Hier zeigt sich, dass die sogenannte eigentumstheoretische Staatslegitimation bei Kant lediglich ein besonderer Anwendungsfall der allgemeinen autonomietheoretischen Staatsbegründung ist (6.3). Abschließend lässt sich – viertens – darlegen, dass auch die weitere Ausgestaltung des bürgerlichen Zustands im Kantischen Staatsrecht von dem hier vorgestellten autonomietheoretischen Grundgedanken bestimmt ist (6.4).
6.1 Bloß ein Staat des äußeren Besitzes? – Zur Textgestalt der Rechtslehre Wie im vorigen Kapitel dargelegt, besteht bei Kant ein systematisches Hauptargument für die Staatsnotwendigkeit: Jedes vernunftrechtlich legitimierte Recht verlangt den Übergang in ein bürgerliches Gemeinwesen, da Rechte gegenüber anderen legitimerweise nur im und durch den Staat geltend gemacht werden können. Kants Staatsbegründung erweist sich insofern als indifferent gegenüber der Unterscheidung zwischen angeborenen und erworbenen Rechten. Allerdings wird die Relevanz ursprünglicher (d. h. angeborener) Rechte und Rechtspflichten für die Kantische Staatsbegründung häufig nicht nur außer Acht gelassen, sondern explizit zurückgewiesen. Es sei allein das äußere Mein und Dein, welches die Notwendigkeit des bürgerlichen Rechtszustands begründe,¹ dem inneren Mein und Dein (insbesondere dem angeborenen Recht »Freiheit«) komme keine Vgl. nur Brandt 1990, S. 345: „[D]er Kantische Staat von 1797 […] [hat] nur das äußere Mein und Dein zu seiner Grundlage […]. Der Staat wird konzipiert als ein Staat des äußeren Besitzes […] – diese theoretische Entscheidung Kants ist eindeutig.“ Vgl. schon Brandt 1974, S. 180 f.; ebenso Ludwig 1988, S. 185 f.; Unruh 1993, S. 103 f., erneut Unruh 2005, S. 145 sowie auch Horn 2014, S. 198 und S. 219 f. Vgl. auch ehemals Kersting 1984, S. 205 – 214, erneut Kersting 1991, S. 128 – 132 mit Fn. 36, nunmehr jedoch anders Kersting 2004, S. 51– 54 und dazu Kap. 6, Fn. 37. Allerdings ist dabei die verbindlichkeitstheoretische Frage (Bestehen ohne den Staat überhaupt moralische Verbindlichkeiten in Ansehung eines äußeren Mein und Dein?) nicht immer von der epistemischen Frage (Ist das Vernunftrecht ohne den Staat überhaupt inhaltlich a priori hinreichend bestimmt?) hinreichend deutlich unterschieden. Vgl. hierzu oben S. 218 – 220.
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
staatskonstitutive Funktion zu.² Als wesentliches Argument wird hierbei stets angeführt, dass sich das Öffentliche Recht und damit die Staatsbegründung (vornehmlich in den §§ 6 – 9 sowie den §§ 41– 44 der Rechtslehre)³ ausschließlich auf das äußere Mein und Dein beziehe. Die Beobachtung, auf der diese Ansicht fußt, ist zweifelsohne korrekt, da sich die Rechtslehre in ihren Hauptstücken (Privatrecht und Öffentliches Recht) lediglich den erworbenen Rechten (äußeres Mein und Dein) widmet. Auch belegen die §§ 8 und 9 der Rechtslehre, dass es laut Kant ohne Staat kein äußeres Mein und Dein geben kann. Klar ist aber auch, dass Kant das äußere Mein und Dein nicht immer in den Vordergrund gestellt hat. Im Gemeinspruch und in Zum ewigen Frieden finden wir keine solche Differenzierung.Vielmehr wird ganz allgemein von der Notwendigkeit eines „R e c h t [ s ] der Menschen u n t e r ö f f e n t l i c h e n Z w a n g s g e s e t z e n , durch welche jedem das Seine bestimmt und gegen jedes Anderen Eingriff gesichert werden kann“, gesprochen.⁴ Ob es hier um das innere Seine oder das äußere Seine geht, lässt Kant offen. Dieses Bild bestätigt sich in der ebenfalls Mitte der 1790er Jahre entstandenen Vigilantiusmitschrift. Dort ist allgemein davon die Rede, dass es „nothwendig [ist], daß, sobald Menschen sich bis zur Ausübung ihrer wechselseitigen Freiheit nähern, sie den statum naturalem verlassen, um ein nothwendiges Gesetz, einen statum civilem, einzugehen“.⁵ Rückt Kant hiervon ab,wenn er nunmehr in der Rechtslehre dem äußeren Mein und Dein eine – im Vergleich zu vorhergehenden Konzeptionen – herausragende Rolle einräumt? Es wäre vorschnell, angesichts dessen dem äußeren Mein und Dein die alleinige Begründungslast für die Notwendigkeit des bürgerlichen Zustands aufzubürden. Vorliegend soll nicht bestritten werden, dass Staatlichkeit bei der Begründung und Ausgestaltung des äußeren Mein und Dein eine zentrale Rolle spielt, ja Eigentum ohne Staatlichkeit bei Kant nicht denkbar ist.⁶ Wohl aber gibt es gute Gründe, die im Rahmen der Kantischen Staatslegitimation den ausschließlichen Fokus auf das äußere Mein und Dein als überzogen erscheinen lassen. Zunächst ist hier die Architektonik der Rechtslehre selbst als Argument anzuführen: Dass Privatrecht und Öffentliches Recht (und sämtliche dortigen Aussagen Kants zur Notwendigkeit und Ausgestaltung des bürgerlichen Rechtszu-
So explizit Brandt 2012, S. 338 f.; ferner Horn 2009, S. 404– 408, erneut Horn 2014, S. 179 und S. 181 f.; Höffe 2007, S. 231 f.; indirekt auch Ludwig 1988, S. 105 f.; Ludwig und Herb 1993, S. 284– 293. Vgl. zu Kants Staatsbegründung in den §§ 6 – 9 sowie den §§ 41– 44 der Rechtslehre sogleich ausführlich unten S. 272– 285 bzw. S. 293 – 310. Gemeinspruch, AA VIII, S. 289. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 589 f., vollständig zitiert oben S. 212. S. dazu ausführlich unten S. 272– 285.
6.1 Bloß ein Staat des äußeren Besitzes? – Zur Textgestalt der Rechtslehre
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stands) allein das äußere Mein und Dein betreffen, ist nach Kants eigener Aussage dem Umstand geschuldet, dass „die Eintheilung der Rechtslehre bloß auf das äußere Mein und Dein bezogen“ wird. Zu dieser Einschränkung auf das äußere Mein und Dein kommt es nach Kant jedoch nur deswegen, weil es „in Ansehung des angebornen, mithin inneren Mein und Dein keine R e c h t e , sondern nur E i n Recht giebt,“ sodass es von Kant lediglich „in die Prolegomenen geworfen“ wird.⁷ Die Dominanz des äußeren Mein und Dein in der Rechtslehre ist mithin rein formaler Natur und dem Bestreben Kants geschuldet, die Rechtslehre übersichtlich zu gliedern. Aus dieser formalen Entscheidung Kants lässt sich jedoch nicht schließen, dass die grundlegende Unterscheidung zwischen Privatrecht und Öffentlichem Recht auch inhaltlich nicht auf das innere Mein und Dein bezogen werden kann.⁸ Im Gegenteil, Privatrecht bzw. Öffentliches Recht sind allgemeine Bestimmungen der Verfasstheit des Rechts im Naturzustand bzw. bürgerlichen Zustand, wie Kant selbst bereits 1794 in der Vigilantiusmitschrift ausführt: Also in der privaten oder öffentlichen (singuli vel communi) Bestimmung der Gesetzmäßigkeit der Handlung und Zusicherung dessen, was rechtliche Folge ist, besteht der Unterschied. Status naturalis ist also das Privatrecht eines Jeden, status civilis ist das öffentliche Recht eines Jeden, der mit andern unter denselben getreten.⁹
Von dieser Haltung ist Kant in der Rechtslehre von 1797 ersichtlich nicht abgerückt, da er auch dort betont, dass es im natürlichen Zustand des Privatrechts […] nicht mehr oder andere Pflichten der Menschen unter sich [gibt, P.–A. H.], als in jenem [sc. dem rechtlichen Zustand des öffentlichen Rechts] gedacht werden können; die Materie des Privatrechts ist eben dieselbe in beiden. Die Gesetze des letzteren [sc. des rechtlichen Zustands] betreffen also nur die rechtliche Form ihres Beisammenseins (Verfassung), in Ansehung deren diese Gesetze nothwendig als öffentliche gedacht werden müssen.¹⁰
Diese grundlegende Unterscheidung zwischen privatrechtlichem status naturalis und öffentlich-rechtlichem status civilis bleibt mithin bei Kant unverändert und
Zum Ganzen: RL, AA VI, S. 238. Vgl. ebenso Hespe 2013, S. 820 f. und wohl auch Rühl 2010, S. 47, der anmerkt, dass „[e]inzig aus pragmatischen Gründen […] das angeborene Freiheitsrecht »in die Prolegomenen geworfen«“ wird. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 590. In der Vigilantiusmitschrift beruht die Staatsbegründung sogar ausschließlich auf dem inneren Mein und Dein, weil dieses Recht das einzige Recht im Naturzustand sei, da es im „statu naturali keine acquisition [giebt], oder einen actum juridicum, d.i. solche Handlung, wodurch etwas mein wird, was nicht mein war“ (MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 588). Vgl. dazu auch Kersting 2004, S. 52 f. sowie oben S. 211 f. RL, AA VI, S. 306, kursive Hervorhebung P.-A. H.
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lässt sich inhaltlich gleichermaßen auf angeborene wie erworbene Rechte und die korrespondierenden Rechtspflichten anwenden.Wenn sich Kant in der Rechtslehre im Hinblick auf das äußere Mein und Dein zu dieser Unterscheidung äußert, lassen sich daher innerhalb seiner Darstellung Begründungselemente, die genuin auf ein äußeres Mein und Dein bezogen sind, von solchen unterscheiden, welche die allgemeine Verfasstheit des Rechts (angeborenes wie erworbenes) betreffen. Gelingt es, in dieser Weise von den gliederungsbedingten Besonderheiten der Rechtslehre zu abstrahieren, so ist es keineswegs zwingend, dass Kants Ausführungen zum äußeren Mein und Dein als solche die argumentative Last für die Staatsbegründung tragen. Dann ist es vielmehr gerade die besondere Architektonik der Rechtslehre, welche die grundlegende autonomietheoretische Staatsbegründung verschleiert. Darüber hinaus lässt sich – jenseits der geschilderten architektonischen Weichenstellung Kants – auch eine sachliche Erklärung dafür geben, warum sich Kant in der Rechtslehre so ausführlich dem äußeren Mein und Dein widmet. Dass die Rechtsgemeinschaft im Naturzustand defizitär ist und den Übergang in den bürgerlichen Zustand erfordert, steht für Kant – ausweislich des Gemeinspruchs und der Schrift Zum ewigen Frieden – bereits seit Anfang der 1790er Jahre fest.Was wir dort jedoch nicht finden, sind eingehende Ausführungen Kants zur Eigentumstheorie. Der Grund hierfür ist bekannt: Kant hat die Eigentumstheorie der Rechtslehre, insbesondere die Begründung des Rechts zum Erwerb äußerer Gegenstände, noch kurz vor der Veröffentlichung grundlegend überarbeitet. Textlich lässt sich dies daran erweisen, dass die in den einschlägigen Vorlesungsmitschriften (Naturrecht-Feyerabend und Metaphysik der Sitten-Vigilantius)¹¹ sowie in den Vorarbeiten zur Rechtslehre ¹² auffindbaren Begründungen des Eigentumsrechts gänzlich von der Rechtslehre abweichen. Wir können daher Schiller in dem viel zitierten Brief an Erhard Glauben schenken, wenn es dort heißt: Die Ableitung des Eigentumsrechts ist jetzt ein Punkt, der sehr viele denkende Köpfe beschäftigt, und von Kanten selbst, höre ich, sollen wir in der MdS etwas davon zu erwarten
In Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, 1341– 1344 spielt Kant ersichtlich noch mit dem Gedanken einer Arbeitstheorie zur Eigentumsbegründung. Und in Metaphysik der Sitten-Vigilantius, AA XXVII, S. 595 – 598 finden sich lediglich Ausführungen zu Begriff und möglichen Gegenständen eines äußeren Mein und Dein, jedoch keine zur eigentlichen Ableitung des Eigentumsrechts. Die dort überlieferten Begründungsversuche Kants lassen sich nicht in die spätere Konzeption der Druckschrift integrieren. Da die Vorarbeiten zur Eigentumstheorie vorliegend nicht erschöpfend aufgearbeitet werden können, sei an dieser Stelle auf die konzisen Ausführungen bei Ludwig 1988, S. 120 – 125 verwiesen.
6.1 Bloß ein Staat des äußeren Besitzes? – Zur Textgestalt der Rechtslehre
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haben. Zugleich höre ich aber, daß er mit seinen Ideen darüber nicht mehr zufrieden sei, und deswegen die Herausgabe vor der Hand unterlassen habe.¹³
Wenn aber die Ableitung des Eigentumsrechts das eigentliche Problem darstellt, mit dem Kant bis zur Veröffentlichung der Rechtslehre nachweislich rang, dann ist es die neu entwickelte Eigentumstheorie – und nicht etwa die Staatsbegründung –, die eine Zäsur im Kantischen Denken offenbart und Kants Fokus auf das äußere Mein und Dein verständlich macht. Die Rechtslehre liefert jedoch auch einen unmittelbaren textlichen Beleg, der die Relevanz ursprünglicher, d. h. angeborener Rechte und Rechtspflichten für die Kantische Staatsbegründung beweist. Denn auch wenn sich die Rechtslehre in ihren Hauptteilen formal dem äußeren Mein und Dein widmet, bezieht Kant die Staatsnotwendigkeit gleich zu Beginn der Rechtslehre eindrucksvoll auf das Recht schlechthin. Die hiermit angesprochenen Passagen zu den praecepta iuris und zum angeborenen Recht aus der „Einleitung in die Rechtslehre“ seien daher – obgleich sie in Teilen bereits erläutert wurden – nochmals in Gänze zitiert: 1) S e i e i n r e c h t l i c h e r M e n s c h (honeste vive). Die r e c h t l i c h e E h r b a r k e i t (honestas iuridica) besteht darin: im Verhältniß zu Anderen seinen Werth als den eines Menschen zu behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: »Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck.« Diese Pflicht wird im folgenden als Verbindlichkeit aus dem R e c h t e der Menschheit in unserer eigenen Person erklärt werden (Lex iusti). 2) T h u e n i e m a n d e n U n r echt (neminem laede), und solltest du darüber auch aus aller Verbindung mit andern heraus gehen und alle Gesellschaft meiden müssen (Lex iuridica). 3) T r i t t (wenn du das letztere nicht vermeiden kannst) in eine Gesellschaft mit Andern, in welcher Jedem das S e i n e erhalten werden kann (suum cuique tribue). – Die letztere Formel, wenn sie so übersetzt würde: »Gieb Jedem das Seine,« würde eine Ungereimtheit sagen; denn man kann niemanden etwas geben, was er schon hat. Wenn sie also einen Sinn haben soll, so müßte sie so lauten: »T r i t t in einen Zustand, worin Jedermann das Seine gegen jeden Anderen gesichert sein kann« (Lex iustitiae). Also sind obstehende drei classische Formeln zugleich Eintheilungsprincipien des Systems der Rechtspflichten in i n n e r e , ä u ß e r e und in diejenigen, welche die Ableitung der letzteren vom Princip der ersteren durch Subsumtion enthalten. […] Das angeborne Recht ist nur ein einziges. F r e i h e i t (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes
Schiller, Brief an Johann Benjamin Erhard vom 26. 10. 1794, vgl. Friedrich Schiller, Werke und Briefe, S. 748.
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Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.¹⁴
Dem ursprünglichen Recht »Freiheit« als einzigem angeborenen Recht geht Kants „Allgemeine Einteilung der Rechtspflichten“ voraus,¹⁵ die er im Wege einer eigenen Interpretation der Ulpianischen praecepta iuris vornimmt.¹⁶ Es handelt sich jedoch nicht nur um eine Einteilung der Rechtspflichten.Vielmehr wird in nuce die Notwendigkeit einer staatlichen Ordnung herausgestellt, da die Rechtspflicht des suum cuique tribue den Einzelnen zur Etablierung eines bürgerlichen Zustands verbindet, in welchem die rechtliche Freiheit eines jeden gewährleistet ist.¹⁷ Die Brisanz dieser Staatsbegründung in den praecepta iuris liegt darin, dass sie an den Rechtsbegriff schlechthin anknüpft. Denn neminem laede ist das Prinzip aller äußeren Rechtspflichten im Naturzustand und korrespondiert daher mit angeborenen und erworbenen Rechten gleichermaßen.¹⁸ Indem Kant suum cuique tribue als „die Ableitung der letzteren [sc. der äußeren Rechtspflichten nach neminem laede] vom Princip der ersteren [sc. der inneren Rechtspflichten nach honeste vive] durch Subsumtion“ bestimmt,¹⁹ führt er die Notwendigkeit des bürgerlichen Rechtszustands unmittelbar auch auf die ursprünglichen Freiheitsrechte und -pflichten zurück, die dem Einzelnen allein auf Grund seiner Persönlichkeit zukommen. Mithin bezieht sich diese Staatsbegründung gerade auch auf das angeborene Recht »Freiheit« bzw. das innere Mein und Dein.
RL, AA VI, S. 236 f. Dies mag auf den ersten Blick verwundern (so z. B. Pippin 1999, S. 63 f.), da in der „Einleitung in die Rechtslehre“ von Rechtspflichten bisher nicht die Rede war. Kants Vorgehensweise ist jedoch nur konsequent, wenn man bedenkt, dass er den Begriff des Rechts ausgehend vom Pflichtbegriff entwickeln möchte,vgl. RL, AAVI, S. 239.Wie gezeigt (vgl. oben S. 46 – 48 und S. 142– 145), hebt alle Erkenntnis im Praktischen mit dem Faktum eigener sittlicher Verpflichtung nach dem kategorischen Imperativ an. Rechte, d. h. die Befugnis zur Fremdverpflichtung, können also stets nur hieraus abgeleitet bzw. entwickelt werden. Vgl. oben S. 64. Diese Einschätzung teilt Friedrich 2004, S. 69: „Es kann […] davon ausgegangen werden, […] daß mit den drei Ulpianischen Formeln im Einleitungsteil der Rechtslehre bereits eine vollständige Begründung des Staates vorliegt.“ Vgl. oben S. 207 f. Ebenso äußern sich Friedrich 2004, S. 69 f. und wohl auch Kersting 1984, S. 107 f. und Kersting 2004, S. 52 f. RL, AA VI, S. 237.
6.2 Staatlichkeit und das innere Mein und Dein
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6.2 Staatlichkeit und das innere Mein und Dein Die vorgenannte praecepta iuris-Passage belegt die Bedeutung des inneren Mein und Dein für die Kantische Staatsbegründung. Doch belegt sie auch, dass die im vorherigen Kapitel entwickelte autonomietheoretische Staatsbegründung hierüber unmittelbar Eingang in die Rechtslehre gefunden hat? Wir sahen, dass dieser Staatsbegründung zufolge Staatlichkeit aus autonomietheoretischen Gründen die formal notwendige Realisationsbedingung materiellen Rechts ist, sodass Recht schlechthin nur im und durch den Staat beansprucht werden kann. D. h., bereits solche Rechte und Pflichten fordern den Übergang in das bürgerliche Gemeinwesen, welche dem Einzelnen ursprünglich zukommen, d. h. unmittelbar auf Grund seiner Stellung als Person. Dies gilt mit Blick auf die Rechtslehre insbesondere für das angeborene Recht »Freiheit« und die korrespondierende Rechtspflicht anderer, dieses Recht zu achten; aber auch für die innere Rechtspflicht des honeste vive. Staatlichkeit erweist sich insoweit schlechthin als die rechtlich notwendige Daseinsform autonomer Vernunftwesen, sofern sie prinzipiell interagieren. Jedoch ist nicht ohne Weiteres klar, dass Kant diesen Gedankengang tatsächlich der Darstellung des bürgerlichen Zustands in den praecepta iuris zugrunde gelegt hat. Hierfür wird das Verhältnis und die Ableitungsbeziehung zwischen den dort behandelten Rechtspflichten von Kant nicht eingehend genug erörtert. Um eine gehaltvolle Interpretation der praecepta iuris-Passage zu ermöglichen, erscheint es daher angebracht, zunächst diejenigen Aussagen Kants heuristisch in den Blick zu nehmen, die den besagten Zusammenhang des angeborenen Rechts sowie der inneren Rechtspflicht (honeste vive) zur autonomietheoretischen Staatsbegründung unmittelbar belegen. Hierüber lässt sich eine tentative Lesart entwickeln, die dann in einem zweiten Schritt anhand der praecepta iuris-Passage aus der Rechtslehre zu überprüfen ist.
6.2.1 Kant über Staatlichkeit als Realisationsbedingung ursprünglicher Rechte und Rechtspflichten Ein direktes Zeugnis davon, dass Kant Staatlichkeit ganz allgemein als Realisationsbedingung vernunftrechtlicher Rechtsverhältnisse begreift, liefert uns ein Briefwechsel aus den Jahren 1791/1792. Dort bittet Johann Benjamin Erhard Kant um Beurteilung einiger rechtsphilosophischer Thesen, welche er im Gespräch mit
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
Ernst Ferdinand Klein entwickelt habe.²⁰ Vorliegend sind die Thesen 9 – 12 von besonderem Interesse: 9)
Das moralische Gesetz giebt mir nicht allein die Vorschrift wie ich andere behandeln soll, sondern auch wie ich mich von andern soll behandeln lassen, es verbietet mir so wohl, den Misbrauch anderer Menschen, als die Erduldung desselben, die Wegwerfung meiner Selbst. 10) Es ist mir daher eben so wohl befohlen kein Unrecht zu leiden als keines zu thun, aber ersteres ist mir allein ohne Hülfe zwar im Vorsatz aber nicht in der Ausführung möglich, und dadurch ist mir und allen Menschen die Aufgabe gemacht, ein Mittel zu finden durch welches meine physischen Kräfte meinen moralischen Forderungen gleich würden. Hieraus entspringt der moralische Trieb und die Verbindlichkeit zur Geselligkeit. 11) Durch die Gesellschaft wird nun das Erlaubte zum Recht. und die Übertrettung der Sittengesetze zum Verbrechen. Nur nach der Entwicklung der Rechte, läße sich die Verbrechen richtig ihrer Größe nach bestimen. 12) Die Gesellschaft in so fern sie den Schutz der Rechte und die Bestraffung der Verbrechen zur Hauptabsicht hat heist bürgerliche Gesellschafft. Sie ist daher nicht bloß nüzlich sondern heilig.²¹
Erhard führt in These 9 aus, das moralische Gesetz verbiete nicht nur den Missbrauch anderer, sondern auch den Missbrauch der eigenen Person durch andere. Dementsprechend bestehen (These 10) zwei ursprüngliche Pflichten, namentlich kein Unrecht anderen gegenüber zu tun und keines durch andere zu erleiden. Deren Erfüllung sei jedoch – angesichts mangelnder physischer Kraft – nicht möglich, ohne sich zu vergesellschaften. Daher sei die staatliche Gemeinschaft zum Schutz der Rechte als solche moralisch geboten und heilig (These 12)). Kant antwortet hierauf im Brief vom 21.12.1792 wie folgt: ad. N. 9, 10. Beyde Sätze sind wahr, obgleich in den gewöhnlichen Moralen ganz verkannt. Sie gehören zu dem Titel von den Pflichten gegen sich selbst, welcher in meiner unter Händen habenden Metaphysik der Sitten, besonders, und auf andere Art als wohl sonst geschehen, bearbeitet werden wird. ad N. 12. Auch gut gesagt. Man trägt im Naturrecht den bürgerl[ichen] Zustand, als auf ein beliebiges pactum sociale gegründet, vor. Es kan aber bewiesen werden, daß der status
Johann Benjamin Erhard (1766 – 1826) war politischer Philosoph und Arzt im Zeitalter der Französischen Revolution. Bekannt wurde er vor allem durch die radikaldemokratische Schrift „Über das Recht des Volkes zu einer Revolution“ (1795). Vgl. zu Person und Werk Haasis 1970 und Richter 1968. Ernst Ferdinand Klein (1744– 1810) war deutscher Jurist und prominenter Vertreter der Berliner Aufklärung sowie Kommissionsmitglied für die Schaffung eines Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten (ALR). Vgl. zu Person und Werk Teichmann 1968. Brief von Johann Benjamin Erhard an Kant (1791), AA XI, S. 307 f.
6.2 Staatlichkeit und das innere Mein und Dein
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naturalis ein Stand der Ungerechtigkeit, mithin es Rechtspflicht ist in den statum ciuilem überzugehen²²
Kants Antwort zeigt zunächst auf – und dies ist wenig überraschend –, dass sich aus dem Sittengesetz innere und äußere Rechtspflichten ergeben, welche beide das intersubjektive Verhältnis zwischen Menschen regeln. Daran ist jedoch bemerkenswert, dass Kant in seiner Antwort die Frage der Staatsbegründung an die Behandlung der inneren Rechtspflichten zurückbindet. Staatlichkeit scheint – nach Kants Kommentar zu den Sätzen 9 und 10 zu schließen – notwendige Bedingung für die Erhaltung seiner selbst als Rechtsperson zu sein.²³ Während Erhard diese Notwendigkeit anthropologisch-pragmatisch erklärt,²⁴ spricht Kant eindeutig von einer sittlichen Notwendigkeit, da er – wie seine Anmerkung zu Satz 12 zeigt – den Eintritt in den bürgerlichen Rechtszustand als eine unbedingte Rechtspflicht qualifiziert. Kant stellt also schon zu Anfang der 1790er Jahre die moralische Pflicht zur Staatsbegründung in einen Begründungszusammenhang zur Wahrung eigener und fremder Rechtspersönlichkeit und damit verbunden zur Realisation ursprünglicher Rechte und (innerer wie äußerer) Rechtspflichten. In den Vorarbeiten zur Tugendlehre beleuchtet Kant denselben Begründungszusammenhang von anderer Seite erneut: Die Tugendlehre geht daher auf alle Pflichten indem sie nur das von dem Allgemeinen der Sittenlehre besonders in sich enthält daß sie die Idee der Pflicht selbst zur Triebfeder macht. Die allgemeine Sittenlehre aber geht überhaupt auf pflichtmäßige Handlungen die Triebfeder dadurch das Subject dazu bestimmt wird mag in demselben seyn welche sie wolle. – Die Nöthigung aber die nicht durch die Idee der Pflicht geschieht d.i. die nicht eine solche ist welche die Vernunft des Subjects über sich nach Freyheitsgesetzen ausübt (sich selbst zwingt) kan nur die mit der Freyheit vereinbare Möglichkeit seyn von anderen zu solchen Handlungen gezwungen zu werden und gegenseitig andere zu solchen zu zwingen. […] Die
Brief von Kant an Johann Benjamin Erhard (1792), AA XI, S. 399. Hierzu gibt Friedrich 2004, S. 167 zu beachten, „das[s] Kant hier noch keinen Zusammenhang zwischen der Pflicht gegen sich selbst und dem Staatsimperativ herstellt“. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass Kant vorliegend Sätze 9 und 10 bejaht. Die Existenz innerer Rechtspflichten und deren Gebotscharakter waren bereits Gegenstand von Satz 9. Der neue Aspekt von Satz 10 ist demgegenüber, dass die rechtliche Pflicht zur Selbsterhaltung bzw. kein Unrecht durch andere zu erleiden (neben der Pflicht, anderen kein Unrecht zu tun) die Etablierung eines bürgerlichen Rechtszustands erfordert. Kants affirmative Bezugnahme auf beide Sätze legt daher nahe, dass er genau diesen Zusammenhang bejaht. Erhard und Klein erklären die Notwendigkeit des Staates damit, dass die physischen Kräfte des Menschen nicht zur Bewältigung der moralischen Forderungen hinreichen. Angesichts dieser anthropologischen Prämisse handelt es sich nur um ein empirisch bedingtes Gebot, nicht jedoch um eine a priori unbedingte moralische Pflicht.
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
Befugnis des Zwanges anderer (sie zu zwingen) gründet sich aber auf die Persönlichkeit des Subjects und die freye Willkühr der Person steht selbst unter der Idee ihrer Persönlichkeit wornach sie in Handlungen die auf sie selbst gehen durch sich selbst genöthigt wird und moralisch gezwungen nach der Analogie mit dem Zwange eines Anderen und diese Verbindlichkeit gegen sich selbst kann also auch das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person heißen welches aller anderen Verbindlichkeit vorgeht.²⁵
Kant führt an dieser Stelle zweierlei aus: zum einen, wie man andere zwingen darf; zum anderen, warum man andere zwingen darf. Beginnen wir mit Letzterem: Wir dürfen andere zwingen, weil wir als Rechtssubjekte Persönlichkeit haben, denn „[d]ie Befugnis des Zwanges anderer (sie zu zwingen)[,] gründet sich aber auf die Persönlichkeit des Subjects und die freye Willkühr der Person steht selbst unter der Idee ihrer Persönlichkeit“. In dieser Bestimmung bringt Kant in aller Kürze die bereits erläuterte Herleitung der Zwangsbefugnis zum Ausdruck:²⁶ Innere und äußere Rechtspflichten sowie die ihnen korrespondierenden (ursprünglichen) Rechte formulieren die Möglichkeitsbedingungen für die Koexistenz autonomer Vernunftwesen, unter denen die eigene Persönlichkeit wie auch die Persönlichkeit des anderen gewahrt ist. Die Pluralität autonomer Vernunftwesen generiert damit eine Art allgemeingesetzlich beschränkten moralischen Schutzbereich. Jenseits dieses Schutzbereichs ist Zwang allerdings rechtlich zulässig, denn in dem Maße, in dem meine Freiheit durch Rechtsgesetze begrifflich eingeschränkt ist, eröffnet dies auch anderen die Möglichkeit, meinen Willkürgebrauch hierauf tätlich zu begrenzen. Gleichwohl – und dies hat Kant zuvor erläutert –²⁷ bedarf es einer besonderen Form der Realisierung dieser Rechte und Rechtspflichten, d. h. wie diese geltend gemacht und zwangsweise durchgesetzt werden können. Kant unterscheidet hier die allgemeine Sittenlehre²⁸ von der Tugendlehre durch das Merkmal der Gesinnungsindifferenz. Wenn Rechtspflichten aber nicht aus Pflicht befolgt werden müssen, dann sei die einzig mögliche Form der Nötigung „nur die mit der Freyheit vereinbare Möglichkeit […] von anderen zu solchen Handlungen gezwungen zu VA TL, AA XXIII, S. 390. Vgl. dazu ausführlich oben S. 133 – 139. Mohr 2011, S. 30 f. und Laschet 2011, S. 226 – 228 führen die zitierte Stelle (Kap. 6, Fn. 25) zurecht dafür an, dass bei Kant Fremdverpflichtung von der Möglichkeit zur Selbstverpflichtung abhängt. Allerdings übergehen sie im Hinblick auf das öffentliche Recht die m. E. zentrale Pointe dieser Passage, wonach Rechtszwang – mithin Fremdverpflichtung – reziprok sein muss und daher nur unter Bedingungen von Staatlichkeit zulässig ist. Es geht hier ersichtlich ums Recht, da laut Kant „[d]ie allgemeine Sittenlehre […] überhaupt auf pflichtmäßige Handlungen [geht]“, welches gerade das Spezifikum der Rechtslehre, genauer der rechtlichen Gesetzgebung ist. Vgl. zum obersten Grundsatz der Sittenlehre als Prinzip des Rechts auch oben S. 93 – 101.
6.2 Staatlichkeit und das innere Mein und Dein
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werden und gegenseitig andere zu solchen zu zwingen“.²⁹ Die grundsätzliche Befugnis, Rechte gegenüber anderen geltend zu machen, steht also unter der Bedingung der Wechselseitigkeit dieser Rechtsdurchsetzung, d. h. dass ich mich gleichermaßen als genötigt und nötigend begreife. Dies wiederum erfordert eine systematische Verbindung der Gesetzesunterworfenen, d. h. Staatlichkeit als Realisationsbedingung. Nur diese garantiert, sich trotz rechtlicher Fremdverpflichtung als selbstgesetzgebend zu begreifen. Dass Kant gerade hierauf abstellt, zeigt uns der sogenannte Krakauer Entwurf zum Streit der Fakultäten: Der Zwang welcher Menschen von Anderen gesetzlich angethan werden kan ist gegen sie als der Rechte fähige Wesen nicht anders möglich als vermittelst einer Gesetzgebung zu welcher die so gehorchen sollen ihre Stimme gegeben haben oder vielmehr nur durch den vereinigten Willen zum Gesetz gemacht worden. – Nun sind Freyheit und Gleichheit der Rechte nebst der Vereinigung des Willens nach diesen Principien die von der Qvalität eines Gesetzgebers unabtrennliche Bedingungen und Menschen, welche diese Idee aufgefaßt und die Würde der Menschheit in ihrer Person beherzigt haben können indem sie sich in dieser Qvalität betrachten niemals mehr zu bloßen Werkzeugen anderer wegwerfen sondern wenn sich Umstände eräugnen unter welchen sie Theilnahme an der Gesetzgebung in ihre Gewalt bekommen durch welche sie sich so wohl für ihr eigenes Glück besser versorgt als auch was noch mehr ist veredelt fühlen werden diesen Zustand begierig ergreifen und ihn festhalten und zwar aus moralischen Gründen weil er nicht allein Pflicht gegen Andere sondern eine noch höhere nämlich Pflicht gegen sich selbst (die Menschheit in ihrer Person.) ist. ³⁰
Kant sagt es hier explizit: Der Übertritt in den bürgerlichen Rechtszustand ist moralisch notwendig, weil allein die Rückführung rechtlicher, äußerer Gesetzgebung auf den vereinigten Willen der Gewaltunterworfenen deren Autonomie wahrt. Denn qua Menschheit in ihrer Person (d. h. sittlicher Autonomie) sind sie vernunftnotwendiger Selbstzweck und können „in dieser Qvalität […] niemals mehr zu bloßen Werkzeugen“ degradiert werden. Der rechtliche Zustand des vereinigten gesetzgebenden Willens („eine Gesetzgebung zu welcher die so gehorchen sollen ihre Stimme gegeben haben“) ist notwendig, „und zwar aus moralischen Gründen weil er nicht allein Pflicht gegen Andere sondern eine noch höhere nämlich Pflicht gegen sich selbst (die Menschheit in ihrer Person.) ist“. Da Autonomie verlangt, dass jegliche rechtliche Verpflichtung Selbstverpflichtung ist,³¹ ist Staatlichkeit als Realisationsbedingung sowohl in Ansehung der Rechte
VA TL, AA XXIII, S. 390. Reinschriftfragment „Loses Blatt Krakau“, abgedruckt in Weyand und Lehmann 1959/1960, S. 7, kursive Hervorhebung P.-A. H.Vgl. zur quellenkritischen Beurteilung Stark 2003, online beziehbar Stark 2010. Erhellend ist in diesem Zusammenhang auch Kants Rechtfertigung der Notwendigkeit von Pflichten gegen sich selbst in TL, AA VI, S. 417 f.: „Denn ich kann mich gegen Andere nicht für
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anderer (äußerer Rechtspflichten) als auch des Rechts der Menschheit in der eigenen Person (innerer Rechtspflichten) erforderlich. Dieser Gedanke findet auch noch Anklang im Gemeinspruch: Ein jedes Glied des gemeinen Wesens hat gegen jedes andere Zwangsrechte, wovon nur das Oberhaupt desselben ausgenommen ist (darum weil er von jenem kein Glied, sondern der Schöpfer oder Erhalter desselben ist),welcher allein die Befugniß hat zu zwingen, ohne selbst einem Zwangsgesetze unterworfen zu sein. […] [D]urch das [sc. Staatsoberhaupt] [kann] aller rechtliche Zwang allein ausgeübt werden […]. [ D ] e m R e c h t e nach (welches als der Ausspruch des allgemeinen Willens nur ein einziges sein kann […]) sind sie [sc. die Glieder des gemeinen Wesens] als Unterthanen alle einander gleich: weil keiner irgend jemanden anders zwingen kann, als durch das öffentliche Gesetz (und den Vollzieher desselben, das Staatsoberhaupt), durch dieses aber auch jeder andere ihm in gleicher Maße widersteht […].“³²
Bei Kant sind also Ob und das Wie der Rechtsdurchsetzung zu unterscheiden: Die vernunftrechtlich begründete, prinzipielle Zulässigkeit äußeren Zwangs zur Durchsetzung von Rechtspflichten (Ob) steht unter der Einschränkung, dass dieser Zwang staatlich ausgeführt wird (Wie).³³ Staatlichkeit ist mithin auch Realisationsbedingung derjenigen ursprünglichen Rechte und korrespondierenden Rechtspflichten, welche die Koexistenz autonomer Vernunftwesen allererst möglich machen. Kant selbst betont dies in einem Brief an Heinrich Jung-Stilling von 1789: Das allgemeine Problem der bürgerlichen Vereinigung aber ist: Freyheit mit einem Zwange zu verbinden, welcher doch mit der allgemeinen Freyheit und zur Erhaltung derselben zusammenstimmen kan. Auf solche Art entspringt ein Zustand der äußeren Gerechtigkeit (status iustitiae externae), wodurch das, was im natürlichen Zustande blos I d e e war, nämlich das Recht, als bloßes B e f u g n i s zu zwingen, r e a l i s i r t wird.
Jedoch hängt die sittliche Zulässigkeit der bürgerlichen Vereinigung davon ab, dass die äußere Gesetzgebung „der Q v a n t i t ä t nach […] so beschaffen […] [ist], als ob einer für alle und alle für einen sie beschlossen hätte“.³⁴ Der Kantische Staat
verbunden erkennen, als nur so fern ich zugleich mich selbst verbinde: […] indem ich zugleich der Nöthigende in Ansehung meiner selbst bin.“ Gemeinspruch, AA VIII, S. 291 f., kursive Hervorhebung P.-A. H. Vgl. zur Zwangsbefugnis oben S. 133 – 139 sowie S. 241 f. Brief an H. Jung-Stilling, AA XXIII, S. 494.Vgl. ebenso den vorherigen Entwurf Kants Brief an H. Jung-Stilling, AA XI, S. 10: „Die bürgerliche Gesetzgebung hat zu ihrem wesentlichen obersten Princip das natürliche Recht der Menschen, welches im statu naturali (vor der bürgerlichen Verbindung) eine bloße Idee ist, zu realisiren, d.i. unter allgemeine, mit angemessenem Zwange begleitete, öffentliche Vorschriften zu bringen, denen gemäß jedem sein Recht gesichert, oder
6.2 Staatlichkeit und das innere Mein und Dein
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ist kein bloßer Rechtssicherungsstaat, sondern ein Rechtsgeltungsstaat, der die Geltendmachung jeglichen Rechts an die Wahrung individueller Autonomie rückkoppelt.³⁵ Zwar ist der Gedanke, dass Staatlichkeit Realisationsbedingung von Recht schlechthin und damit auch angeborener, natürlicher Rechte und Pflichten ist, in abgewandelter Form bereits in der Kant-Forschung dahingehend formuliert worden, dass das angeborene Recht »Freiheit« nur unter den Bedingungen von Staatlichkeit behauptet bzw. durchgesetzt werden könne.³⁶ Teilweise wird es sogar als Inkonsistenz Kants gewertet, diesen Zusammenhang nicht ausgeführt zu haben.³⁷ Jedoch wurde dabei stets der hier nachgewiesene autonomietheoretische Begründungszusammenhang außer Acht gelassen. Dass „[d]er Staat […] bei Kant nichts anderes als die vernunftnotwendige Realisationsbedingung der äußeren Freiheit unter allgemeinen Gesetzen [ist]“,³⁸ erklärt als solches noch nicht, warum dies sittlich notwendig ist.³⁹ Auch für ein Volk pragmatisch denkender Teufel ist
verschafft werden kan.“ Vgl. ferner Kants Bemerkung zum Antwortschreiben Jung-Stillings (AA XIII, S. 229) sowie unten Kap. 6, Fn. 252. Vgl. dazu ausführlich oben S. 240 – 246. So schreibt König, Siegfried 1994, S. 232, dass es „[s]o etwas wie ‚Recht‘ im eigentlichen Sinne […] in einem vorstaatlichen Raum nicht geben [kann] […]. [E]s besteht eine Vernunftpflicht zum Staat, da auf andere Weise Recht nicht wirklich werden kann“. Später (ebd., S. 243 f.) heißt es, dass die „Redeweise von einem ‚angeborenen Recht‘ bei Kant nicht mehr bedeuten [kann], daß vor jeder Staatlichkeit bereits Subjekte mit Rechten existieren. Recht und Rechte kann es bei Kant nur im Staat geben. […] Das Menschenrecht erfordert somit den Staat, um als Recht verwirklicht werden zu können, es ist aber geltungstheoretisch nicht vom Staat abhängig.“ Vgl. ebenso Friedrich 2004, S. 177 und Klemme 2011, S. 46 sowie im Ergebnis ähnlich wohl Byrd und Hruschka 2011, S. 77– 90 und insb. 88 f., ferner schon Höffe 1979a, S. 208 – 210 sowie Kühl 1999, S. 162– 165. Laut Kersting 2004, S. 51 ist „[d]as Recht der Menschheit […] ein Recht auf Republik“. Dabei hält er Kant jedoch vor, dass „[d]ie Pflicht, den Naturzustand zu verlassen, […] in der Kantischen Rechtsmetaphysik ausschließlich mit dem Privatrecht verbunden [wird], den vernunftrechtlichen Prinzipien des äußeren Mein und Dein. […] Diese systematische Auszeichnung des Privatrechts ist jedoch nicht im mindesten gerechtfertigt. […] [D]aß der Naturzustand zu verlassen sei, verlangt bereits das angeborene Freiheitsrecht selbst.“ Der Grund ist laut Kersting 2004, S. 53, dass „das Menschheitsrecht […] immer auch zugleich ein Recht auf Institutionalisierung der Bedingungen [ist], die seine sichere Wahrnehmung garantieren“. So Friedrich 2004, S. 177. Von den oben genannten Autoren rekurriert allein Klemme 2011, S. 44– 46 richtigerweise auf die Menschheit in der eigenen Person (bzw. Persönlichkeit oder notwendigen Selbstzweckhaftigkeit), welche bei Kant auch in Ansehung der angeborenen Rechte den Staat als Rechtsdurchsetzungsinstanz erforderlich mache. Kersting 2004, S. 49 führt zwar das „Menschheitsrecht […] auf die Vernunft, Würde und Selbstzweckhaftigkeit“ des Einzelnen zurück, erklärt dann aber (ebd., S. 109 – 113) die Notwendigkeit des Staats mit der inhaltlichen Unbestimmtheit und Unsicherheit des Vernunftrechts im Naturzustand. Überdies findet sich bei König, Siegfried 1994, S. 239 f.; Höffe
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
Staatlichkeit die pragmatisch notwendige Realisationsbedingung zur Kompatibilisierung äußerer Willkürsphären. Die moralische Dimension von Staatlichkeit erfordert bei Kant jedoch eine autonomietheoretische Fundierung der Rechtslehre, deren wesentliche Schritte hier nochmals rekapituliert seien: – Erstens haben wir materielle Rechte und Pflichten nur in unserer Eigenschaft als autonome Vernunftwesen. Nur qua Persönlichkeit (welche Kant später als Menschheit in unserer Person ausweist) sind wir notwendig selbstzweckhafte Wesen und als solche zu respektieren. Gleichwohl ist der hierdurch generierte »moralische Schutzbereich« nicht absolut, sondern angesichts der Pluralität autonomer Vernunftwesen allgemeingesetzlich beschränkt: Recht formuliert daher die Möglichkeitsbedingungen für die Koexistenz von Personen und die grundsätzliche Befugnis, andere hierauf einzuschränken.⁴⁰ – Zweitens bedeutet Auto-Nomie als Selbst-Gesetzgebung richtig verstanden, dass ich mich jederzeit selbst als Urheber der Verbindlichkeit nach Gesetzen begreifen können muss. Dies betrifft nicht die Konstitution moralischer Gesetze, sondern die Nötigung (Begründung einer Verbindlichkeit) nach denselben. Daher entsteht für Kant im Naturzustand das genuin autonomietheoretische Problem, wie rechtliche Fremdverpflichtung (und damit letztlich äußerer Rechtszwang) als autonome Selbstverpflichtung begriffen werden kann.⁴¹ – Dieses löst Kant, drittens, durch die Vorstellung eines den Willen aller vereinigenden, gesetzgebenden Oberhaupts, welches in rechtlicher Hinsicht der Souverän ist. Kants Staatslehre führt damit konsequent die Vorstellung eines Reichs der Zwecke in rechtlicher Hinsicht aus. Folglich resultiert die moralische Pflicht zur Begründung eines bürgerlichen Rechtszustands daraus, dass Rechtsgesetze als gemeinschaftliche moralische Gesetze eine systematische Verbindung der Gesetzesunterworfenen erfordern, welche gleichwohl garantiert, dass sich ein jeder als selbstgesetzgebend begreifen kann.⁴²
1979a, S. 208 – 210; Kühl 1984, S. 163 f. und Friedrich 2004, S. 170 – 172 ein impliziter Rekurs auf empirische bzw. anthropologische Vorannahmen, wohingegen die autonomietheoretische Fundierung der Kantischen Staatsbegründung übergangen wird. Bspw. spricht sich Friedrich 2004, S. 44– 49 für eine grundsätzliche Unabhängigkeit des allgemeinen Rechtsgesetzes (und in Folge des Rechtsbegriffs) vom kritischen Prinzip der Grundlegungsschriften aus. In Folge fehlt Friedrich 2004, S. 55 f. und S. 165 – 181 daher gewissermaßen der verbindlichkeitstheoretische Boden, welcher eine kategorische Pflicht zur Staatsbegründung erklären könnte. Vgl. kritisch zu diesen alternativen Lesarten der Kantischen Staatsbegründung eingehend oben S. 214– 222 sowie S. 242– 244. Vgl. dazu oben S. 70 – 85 und S. 133 – 139. Vgl. dazu oben S. 222– 227. Vgl. dazu oben S. 227– 240.
6.2 Staatlichkeit und das innere Mein und Dein
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Dieses Verständnis der Kantischen Rechts- und Staatsphilosophie ist in zweierlei Hinsicht anspruchsvoll, vielleicht auch zumutungsreich: Zunächst legt es dar, dass Staatlichkeit Realisationsbedingung individueller Autonomie ist,⁴³ wodurch sie eine eigene moralische Dignität erlangt. Daher beschreibt Kant im Gemeinspruch die bürgerliche Verfassung als eine Verbindung, […] die an sich selbst Zweck ist (den ein jeder h a b e n s o l l ), mithin die in einem jeden äußeren Verhältnisse der Menschen überhaupt […] unbedingte und erste Pflicht ist: […] Der Zweck nun, der in solchem äußern Verhältniß an sich selbst Pflicht und selbst die oberste formale Bedingung (conditio sine qua non) aller übrigen äußeren Pflicht ist, ist das R e c h t der Menschen u n t e r ö f f e n t l i c h e n Z w a n g s g e s e t z e n , durch welche jedem das Seine bestimmt und gegen jedes Anderen Eingriff gesichert werden kann.⁴⁴
Recht unter öffentlichen Zwangsgesetzen, d. h. Staatlichkeit als solche, ist vernunftnotwendiger Zweck an sich und „oberste formale Bedingung (conditio sine qua non) aller übrigen äußeren Pflicht“. Dies führt zum zweiten anspruchsvollen wie zumutungsreichen Aspekt der Kantischen Staatsphilosophie: Wenn Staatlichkeit formale Realisationsbedingung aller äußeren⁴⁵ Pflichten ist, verweisen uns selbst die ursprünglichen Rechte und Rechtspflichten, welche jedem Einzelnen qua Menschheit zukommen, auf den bürgerlichen Rechtszustand. Zwar beziehen honeste vive, neminem laede und das korrespondierende angeborene Recht »Freiheit« ihre Verbindlichkeit – wie gezeigt –⁴⁶ aus der Menschheit bzw. Persönlichkeit der Rechtssubjekte und sind insofern geltungstheoretisch dem bürgerlichen Rechtszustand vorgelagert. Doch das Recht der Menschheit selbst verlangt von uns, die formalen Bedingungen seiner eigenen Wahrung aufzusuchen.⁴⁷ Daher ist die Geltendmachung ursprünglicher Rechte und Rechtspflichten nur unter Bedingungen von Staatlichkeit möglich.⁴⁸ Bereits honeste vive verpflichtet mich also darauf, einen rechtlichen Zustand anzustreben – nicht nur, weil dies die Verletzung meiner Persönlichkeit
Insofern ist Volkmann-Schluck 1974, S. 99 zuzustimmen, wenn er ausführt: „Man kann sagen: Kants Staatsauffassung beruht auf dem einen Gedanken, daß der Mensch […] sich nur dadurch als das Vernunftwesen, das er ist, behaupten kann, daß er eine politische Gemeinschaft errichtet.“ Gemeinspruch, AA VIII, S. 289. Vgl. zum Begriff der äußeren Rechtspflicht (unter den auch honeste vive zu fassen ist) oben S. 189 – 191. Vgl. oben S. 182– 186 und S. 204– 207. In die richtige Richtung weist daher Klemme 2011, S. 45: „Ich soll Bedingungen in der sozialen und politischen Welt aufsuchen und schaffen, unter denen ich meinen Status als Vernunftwesen erhalte und befördere.“ Vgl. im Ergebnis ähnlich auch Kersting 2004, S. 53. Dies betont im Ergebnis auch König, Siegfried 1994, S. 244, der dabei allerdings noch nicht zwischen dem Recht der Menschheit und dem angeborenen Recht »Freiheit« differenziert.
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
und Instrumentalisierung durch andere dauerhaft verhindert,⁴⁹ sondern auch, weil ich nur so legitimerweise meine Rechtspersönlichkeit gegenüber anderen behaupten kann. Ebenso kann die Pflicht des neminem laede sowie das eigene angeborene Recht »Freiheit« nur unter Bedingungen von Staatlichkeit angemessen erfüllt bzw. durchgesetzt werden, weil wechselseitige Fremdverpflichtung nur unter Wahrung individueller Autonomie moralisch zulässig ist.⁵⁰
6.2.2 Die Ableitung des bürgerlichen Rechtszustands in den praecepta iuris Die vorstehend erörterten Quellen belegen die hier vorgestellte autonomietheoretische Staatsbegründung, insoweit Kant in diesen Quellen Staatlichkeit ganz allgemein als Realisationsbedingung vernunftrechtlicher Rechtsverhältnisse begreift. Zwar ist man Person allein schon dadurch, dass man sittlich frei und daher als notwendiger Selbstzweck zu respektieren ist. Und insofern sind angeborene Rechte und die ihnen korrespondierenden Pflichten immer schon vorstaatlich konstituiert. Allerdings kann man sich erst unter den Bedingungen von Staatlichkeit wechselseitig als Rechtsperson erhalten, da erst dann die Geltendmachung und Durchsetzung dieser Rechte und Pflichten mit der Autonomie der verpflichteten Rechtssubjekte vereinbar ist. Es gilt allein noch zu zeigen, dass diese Argumentation auch der (oben vollständig zitierten)⁵¹ praecepta iuris-Passage zugrundeliegt und hiermit unmittelbar Eingang in die Rechtslehre gefunden hat. Innerhalb dieser Passage ist für die Staatslegitimation derjenige Textabschnitt zentral, der die logische Ableitungsbeziehung zwischen den drei Ulpianischen Formeln thematisiert: Also sind obstehende drei classische Formeln zugleich Eintheilungsprincipien des Systems der Rechtspflichten in i n n e r e , ä u ß e r e und in diejenigen, welche die Ableitung der letzteren vom Princip der ersteren durch Subsumtion enthalten.⁵²
Vgl. mit ähnlicher Stoßrichtung Kersting 2004, S. 57 und Klemme 2011, S. 45. Insoweit ist Klemme 2011, S. 45 zu kritisieren, wenn er das angeborene Recht nicht über die intersubjektive Anerkennung des jeweils anderen als autonomes Rechtssubjekt, sondern lediglich reflexiv als Möglichkeitsbedingung zur Erfüllung der inneren Rechtspflicht des honeste vive konzipieren möchte. Vgl. oben S. 253 f. RL, AA VI, S. 236 f.
6.2 Staatlichkeit und das innere Mein und Dein
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Allerdings wird die Bedeutung dieses logischen Ableitungsverhältnisses in der Kant-Forschung entweder gar nicht thematisiert⁵³ oder als unklar und nicht einschlägig stehen gelassen.⁵⁴ Und auch wenn z. B. eine Interpretation anhand der Kantischen Kategorientafel vorgeschlagen wird,⁵⁵ bleibt eine eingehende Untersuchung der Ableitungsbeziehung und ihrer Relevanz für Kants Staatsbegründung regelmäßig aus.⁵⁶ Von den wenigen tiefergehenden Interpretationen der Passage legt eine Deutung – erneut unter Orientierung anhand der Modalitätskategorien – die Ableitungsbeziehung so aus, dass Kant hiermit lediglich die Subsumtion rechtlich relevanter Tatsachen unter Rechtsgesetze durch einen öffentlichen Richter bzw. ein Gericht verstehe.⁵⁷ Jedoch geht diese Lesart zum einen von einer Interpretation des honeste vive und der korrespondierenden lex iusti aus, welche sich anhand der Kantischen Quellen so nicht rechtfertigen lässt.⁵⁸ Zum anderen überträgt sie Kants Z. B. Ripstein 2009; Ludwig 1988; Unruh 1993; Niebling 2005; Scholz 1972; Gregor 1963; Langer 1986 sowie Riley 1983. Vgl. jüngst Brandt 2012, S. 330: „Wie die Ableitung genau aussehen soll, muss wohl dunkel bleiben.“ Pippin 1999, S. 68 f. bezeichnet die Ableitung lediglich als „puzzling“. Höffe 2001, S. 157 geht nicht wesentlich über die Konstatierung eines logischen Syllogismus hinaus. Im Ergebnis gilt Gleiches für Kersting 1984, S. 108; Oberer 2004, S. 206; Schnepf 2004 und Baum 2004, S. 36. Vgl. im Anschluss an Reinhard Brandt (dieser zuletzt in Brandt 2012, S. 331) für eine Deutung nach den Relationskategorien Falcioni 1999, S. 159 und Höffe 2001, S. 154. Vgl. für eine Interpretation nach den Modalitätskategorien Ju 1990, S. 102– 107; Pinzani 2005, S. 81– 92 und Byrd und Hruschka 2011, S. 64; nach den Kategorien der Qualität Winkler 2010, S. 109 f. Diese Kritik soll nicht heißen, dass der öffentlich-rechtliche Bezug der Passage nicht gesehen wird. So schreibt z. B. Brandt 2012, S. 331 zu seiner Deutung nach den Relationskategorien: „Die Substanz des Rechtssubjekts ist bei der Pluralität dieser Subjekte verletzbar und bedarf des Verbots dieser kausalen Einwirkung, und dies wiederum ist nur realisierbar in einem wechselseitigen Bestimmungs- und Sicherungssystem des suum cuique.“ Vgl. ferner den öffentlichrechtlichen Bezug bei Ju 1990, S. 107 im Rahmen einer Interpretation nach den Modalitätskategorien. Problematisch ist hierbei vielmehr, dass die Orientierung an der Kantischen Kategorientafel – so plausibel sie auch sein mag – nichts zur Erklärung der logischen Ableitungsbeziehung und der moralischen Notwendigkeit des bürgerlichen Rechtszustands beiträgt, welche Kant in der Passage behauptet. Vgl. Byrd und Hruschka 2011, S. 63 f. Problematisch ist insbesondere die Verhältnisbestimmung der drei Ulpianischen Formeln, insofern Byrd und Hruschka 2011, S. 64 ausführen: „It is almost unnecessary to note that the internal legal duties, the external legal duties, and the duties of the third category are one and the same duties […] distinguished […] only on the basis of their modality.“ Damit wird die innere Rechtspflicht des honeste vive jedoch systemwidrig und entgegen der textlichen Belege bei Kant zu einer äußeren Rechtspflicht umgedeutet, vgl. Byrd und Hruschka 2011, S. 63: „Since the internal legal duties belong to the lex iusti, they are not duties that we have to fulfill. Most importantly, they are not legal duties a person has toward himself [!].“ Gleichzeitig schreiben sie (ebd.) dem Konzept innerer Rechtspflichten lediglich einen Übergangsstatus zu: „Kant occasionally toyed with the
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
Ausführungen zur Trias lex iusti, lex iuridica, lex iustitiae in § 41 der Rechtslehre fraglos auf die „Allgemeine Einteilung der Rechtspflichten“.⁵⁹ Zwar ist unbestritten, dass die Rechtsanwendung im bürgerlichen Zustand die Struktur eines praktischen Syllogismus hat, der sich an der besagten Trias orientiert.⁶⁰ Gleichwohl gilt es in der hier interessierenden Passage zu beachten, dass Kant über die praecepta iuris eine klassifikatorische Einteilung vornimmt: Kant will erklären, dass bestimmte Pflichten unter dem Prinzip einer anderen Klasse von Pflichten enthalten sind, nicht jedoch Pflichten als solche aus der Anwendung eines Gesetzes auf Tatsachen herleiten.⁶¹
idea that there were legal duties a person owed to himself. Still he sees at an early date that the (apparent) concept of a ‚legal duty to myself‘, which I can or cannot fulfill is self-contradictory.“ Diese Interpretation erscheint verfehlt: Es werden nicht nur die umfassendsten Ausführungen zum Konzept innerer Rechtspflichten bei Kant in der Vigilantiusmitschrift (vgl. dazu ausführlich oben S. 170 – 175) textlich unterbewertet, sondern auch die systematisch eindeutige Behandlung innerer Rechtspflichten ignoriert, wie sie Kant in der „Einteilung der Metaphysik der Sitten überhaupt“ (vgl. RL, AA VI, S. 239 f.) vornimmt. Letztere weist das Recht der Menschheit, auf welches auch honeste vive rekurriert, den vollkommenen Pflichten gegen sich selbst zu. Vgl. dazu oben S. 192– 198 mit Fn. 139. Die angeführten Gegenbeispiele, wonach Kant Rechtspflichten gegen sich selbst für unmöglich halte (vgl. die Verweise bei Byrd und Hruschka 2011, S. 63), datieren überdies vor 1790. Zu dieser Zeit verfügte Kant aber noch gar nicht über die Differenzierung zwischen homo noumenon und homo phaenomenon, die ihm erst Pflichten gegen sich selbst zu konzipieren erlaubte. Vgl. dazu oben S. 175 f. mit Fn. 42 sowie überzeugend Ju 1990, S. 61– 78, zusammenfassend S. 92 f. Schließlich beschränken Byrd und Hruschka 2011, S. 52– 62 mit Fn. 42 die dem honeste vive korrespondierende lex iusti unzulässigerweise auf den äußeren Freiheitsgebrauch. Die lex iusti beschreibt jedoch allgemein die gesetzliche Beschränkung der Freiheit, d. h. sowohl im inneren als auch im äußeren Gebrauch.Vgl. dazu noch eingehend unten S. 293 – 296 sowie i. Ü. Ju 1990, S. 95 – 114 m. w. N. Die gesamte Kommentierung der Rechtslehre hebt bei Byrd und Hruschka 2011, S. 23 – 43 mit der Interpretation des rechtlichen Zustands und des Postulats des öffentlichen Rechts an, welche in Folge als Leitfaden der weiteren Auslegung dient. Vgl. dazu unten S. 293 – 300 i. V. m. S. 320 – 322. Vgl. dazu ausführlich unten S. 268 – 271. Byrd und Hruschka 2011 scheinen m. E. nicht hinreichend zu beachten, dass Kant die drei Ulpianischen Formeln in doppelter Funktion verwendet. Einerseits drücken sie Pflichten aus, namentlich zur rechtlichen Selbsterhaltung, zur Vermeidung von Unrecht sowie zur Begründung eines bürgerlichen Rechtszustands. Diesen drei Pflichten korrespondieren die genannten drei leges (lex iusti, lex iuridica und lex iustitiae), und nur insofern besteht eine Parallelität zum späteren § 41 der Rechtslehre. Vgl. dazu ausführlich unten S. 293 – 300. Wenn Kant aber auf die Ableitungsbeziehung zu sprechen kommt, verwendet er die Ulpianischen Formeln nicht mehr zur Bezeichnung von Pflichten, sondern als Einteilungsprinzipien, mit denen lediglich bestimmte Klassen von Pflichten bezeichnet werden. So sagt er (RL, AA VI, S. 237, kursive Hervorhebung P.-A. H.) ausdrücklich, dass die „drei classische[n] Formeln zugleich Einteilungsprincipien des Systems der Rechtspflichten“ sind. Angesichts dieser Diffe-
6.2 Staatlichkeit und das innere Mein und Dein
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Näherliegend erscheint daher der Interpretationsansatz, suum cuique tribue (und insofern Staatlichkeit) gleichsam als Kollisionsregelung der potentiell konfligierenden Rechtspflichten honeste vive und neminem laede zu begreifen, welche sicherstellt, dass das Recht der Menschheit (als das Prinzip innerer Rechtspflichten) schlechthin garantiert wird; also weder in der eigenen noch in der Person anderer verletzt wird.⁶² Zutreffend ist, dass – betrachtet man die beiden Pflichten für sich genommen – die eine jeweils auf Kosten der anderen erfüllt werden kann⁶³ und suum cuique tribue die Bedingung formuliert, unter der beiden vorhergehenden Pflichten Genüge getan wird: Staatlichkeit dient nicht nur zur Erfüllung des neminem laede, indem anderen Sicherheit für ihr Recht verschafft wird, sondern gewährleistet gleichzeitig die Erfüllung des honeste vive, insofern eine mögliche Objektivierung meiner selbst verhindert wird. Richtig hieran erscheint, das Recht der Menschheit als das Prinzip innerer Rechtspflichten zu identifizieren. Nicht nur, dass Kant selbst honeste vive als „Verbindlichkeit aus dem R e c h t e der Menschheit in unserer eigenen Person“ qualifiziert.⁶⁴ Auch verweist das Recht der Menschheit auf unseren Status als Person bzw. als autonomes, notwendig selbstzweckhaftes Wesen. Personalität wiederum ist für Kant der letzte Grund für Notwendigkeit und Verbindlichkeit des Rechts, mithin deren oberstes Prinzip. Und es ist wie gezeigt die innere Rechtspflicht, welche die Tatsache sittlicher Verpflichtung (Faktum der Vernunft) mit der Konstitution dieses unbedingten, moralischen Selbstzwecks (Recht der Menschheit in der eigenen Person) verknüpft.⁶⁵ Das Problematische an dieser Interpretation ist jedoch, dass sie die Notwendigkeit des Staates lediglich über das Erfordernis einer gesetzlichen Wahrung
renzierung wäre es daher falsch, das Verhältnis der drei leges in § 41 mit der Ableitungsbeziehung zwischen den drei Ulpianischen Formeln als Einteilungsprinzipien gleichzusetzen. Vgl. erstmalig Tieftrunk 1797, S. 161– 168 und in Auseinandersetzung hiermit Friedrich 2004, S. 66 – 73. Tieftrunk 1797, S. 165 beansprucht dabei eine Erklärung der logischen Ableitungsbeziehung zu liefern, wohingegen Friedrich 2004, S. 59 diese als „dunkel“ bezeichnet und hiervon unabhängig argumentiert.Vgl. im Ergebnis ähnlich Geismann 2012, S. 49 f.; Ludwig 2013a, S. 68 f., Fn. 17 und in Ansätzen Hruschka 2003, S. 216 f. und Beyrau 2012, S. 105 – 113. Die Wahrung der eigenen Rechtspersönlichkeit, die honeste vive verlangt, ließe sich durch die rein egoistische Verletzung der Belange und Rechte anderer realisieren. Umgekehrt könnte der Pflicht des neminem laede auch durch vollständige Selbstaufopferung nachgekommen werden. Auf diesen Konflikt scheint auch Tieftrunk 1797, S. 163 f. abzustellen, denn neminem laede könne auch so erfüllt werden, dass man „das Leben selbst verlassen müsse“. Dies verstoße aber offensichtlich gegen honeste vive, denn „sein Daseyn selbst […] nicht gefährden oder aufheben, ist Rechtspflicht“. RL, AA VI, S. 236. Vgl. ausführlich oben S. 182– 186.
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materieller Rechte (bzw. Erfüllung innerer und äußerer Rechtspflichten) erklären möchte. Damit gelangt diese Interpretation zu dem, was bereits unabhängig von der praecepta iuris-Passage als Rechtssicherungsstaat qualifiziert wurde.⁶⁶ Wie dort gezeigt, erklärt der Hinweis auf Staatlichkeit als reziprok-universelle Sicherungsinstanz materiellen Rechts noch nicht, warum diese a priori sittlich geboten ist. Denn Staatlichkeit in diesem Sinne als Rechtssicherungsinstanz zu rechtfertigen, macht sie zum einen von der kontingenten, allenfalls a posteriori einsehbaren Beschaffenheit der Rechtssubjekte abhängig und lässt zum anderen die formell-rechtliche Frage der sittlichen bzw. moralischen Rechtsgeltung außer Acht. Staatlichkeit als Rechtsgeltungsinstanz antwortet hingegen auf das Problem, warum Recht im Naturzustand aus autonomietheoretischen Gründen a priori sittlich defizitär ist.⁶⁷ Dies lässt sich im Wege einer autonomietheoretischen Lesart auch anhand der praecepta iuris-Passage ausweisen. Hiernach enthält suum cuique tribue (genauer: die dritte Klasse von Rechtspflichten) die Ableitung der äußeren Rechtspflichten vom Prinzip der inneren Rechtspflichten, insofern erst unter Bedingungen von Staatlichkeit rechtliche Fremdverpflichtung (Gegenstand des neminem laede) als Selbstverpflichtung (Prinzip des honeste vive) begriffen werden kann. Wie lässt sich dies in Kants Text rekonstruieren? Primär geht es Kant um eine systematische Einteilung der Rechtspflichten, da die drei Formeln an dieser Stelle nicht Pflichten, sondern „zugleich Eintheilungsprincipien des Systems der Rechtspflichten“ darstellen.⁶⁸ Suum cuique tribue enthält als Pflichtenklasse die gleichen äußeren Rechtspflichten wie neminem laede, nur dass die äußeren Rechtspflichten zusätzlich unter dem Prinzip der inneren Rechtspflichten stehen. Die von Kant behauptete Ableitung konstituiert also nicht etwa inhaltlich neue Pflichten, sondern begründet eine andere Verfasstheit äußerer Rechtspflichten, die eine entsprechende Einteilung fordert. Unter suum cuique tribue werden die äußeren Rechtspflichten unter Bedingungen der öffentlichen Gesetzgebung eines bürgerlichen Zustands vorgestellt, wobei dieser Zustand garantiert, dass die äußeren Rechtspflichten dem Prinzip innerer Rechtspflichten genügen. Diese inhaltliche Bestimmung verschiedener Klassen von Rechtspflichten und ihr wechselseitiges Verhältnis werden von Kant nun in Form eines Vernunftschlusses präsentiert. Ein Vernunftschluss enthält die „Erkenntniß der Nothwendigkeit eines Satzes durch die Subsumtion seiner Bedingung unter eine ge-
Vgl. oben S. 242– 244 mit Fn. 130. Vgl. dazu ausführlich die kritische Auseinandersetzung oben S. 240 – 246 m. w. N. RL, AA VI, S. 237, kursive Hervorhebung P.-A. H. Vgl. hierzu oben Kap. 6, Fn. 61.
6.2 Staatlichkeit und das innere Mein und Dein
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gebene allgemeine Regel“.⁶⁹ Im Hinblick auf die in Frage stehende Ableitung heißt dies, dass äußere Rechtspflichten unter den Bedingungen eines bürgerlichen Rechtszustands unter dem Prinzip innerer Rechtspflichten stehen:⁷⁰ Propositio Maior:
Prinzip der inneren Rechtspflichten.
Propositio Minor:
Äußere Rechtspflichten unter den Bedingungen des bürgerlichen Zustands.
Conclusio:
Äußere Rechtspflichten stehen unter dem Prinzip innerer Rechtspflichten.
Bevor die Schritte dieses Vernunftschlusses im Einzelnen analysiert werden, gilt es zunächst festzuhalten, dass es sich hierbei nicht um einen praktischen Syllogismus handelt. Letzterer enthält bei Kant die Anwendung eines praktischen Prinzips auf mögliche oder geschehene Handlungen, bei der als conclusio wieder ein praktischer Satz steht.⁷¹ Vorliegend geht es aber nicht darum, ein praktisches Prinzip auf mögliche Handlungen anzuwenden, sondern durch einen theoretischen Syllogismus auszuweisen, dass äußere Rechtspflichten im bürgerlichen Rechtszustand unter dem Prinzip innerer Rechtspflichten stehen.⁷² Warum sich dies so verhält, lässt sich nun anhand der bisher gewonnen Ergebnisse zur autonomietheoretischen Staatsbegründung darlegen. Als Prinzip
Logik, AA XI, S. 120 f. Dabei versteht Kant unter Subsumtion „[d]ie Erkenntniß, daß die Bedingung (irgendwo) stattfinde“. Die Ableitung ergibt sodann den Schluss, d. h. „[d]ie Verbindung desjenigen, was unter der Bedingung subsumirt worden, mit der Assertion der Regel“. Auch Tieftrunk 1797, S. 165 analysiert das logische Ableitungsverhältnis so, wobei er allerdings nicht explizit zwischen der inneren Rechtspflicht und ihrem Prinzip differenziert: „Dieses dritte Rechtsgebot entspringt, indem wir die äußeren Rechtspflichten unter die innere Rechtspflicht subsumiren, folglich urtheilen, daß die äußren Rechtspflichten unter der innern enthalten sind […].“ Es ist also ein Schluss, der eine Handlungsanweisung ableitet und dadurch begründet. Z. B.: Obersatz (allgemeiner Handlungsgrundsatz): Man soll geliehenes Geld zurückzahlen. Untersatz (konkreter Fall): Ich habe mir Geld geliehen. Folgerung (Konklusion): Ich soll das Geld zurückzahlen. Insgesamt äußert sich Kant wenig zu Natur und Gegenstand des praktischen Vernunftschlusses. Am deutlichsten ist noch die Bestimmung des praktischen Vernunftschlusses in KpV, AA V, S. 90: Dieser beginnt mit dem „Allgemeinen im O b e r s a t z e (dem moralischen Princip)“ und geht „durch eine im U n t e r s a t z e vorgenommene Subsumtion möglicher Handlungen (als guter oder böser) unter jenen [sc. den Obersatz] zu dem S c h l u ß s a t z e , nämlich der subjectiven Willensbestimmung“ fort. Dieser Syllogismus ist prospektiv, insofern er eine normative Bestimmung für eine künftige Willensbestimmung enthält. Demgegenüber enthält ein retrospektiver Syllogismus die normative Bewertung einer bereits gefassten Willensbestimmung.Vgl. dazu MdSVigilantius, AA XXVII, S. 562 sowie hierzu Byrd und Hruschka 2011, S. 150 f. Vgl. zum praktischen Syllogismus desweiteren RL, AA VI, S. 313 und hierzu unten S. 320 – 322. Vgl. auch Kap. 6, Fn. 61 und 70.
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innerer Rechtspflichten wurde bereits das Recht der Menschheit in unserer Person identifiziert, welches der rechtsspezifische Ausdruck unserer Persönlichkeit ist und uns als absoluten, von anderen notwendig zu wahrenden Selbstzweck ausweist:⁷³ Heilig ist nichts auf der Welt als die Rechte der Menschheit in unserer Person und das Recht der Menschen. Die Heiligkeit besteht darin, daß wir sie niemals blos als Mittel brauchen, und das Verbot eines solchen Gebrauchs liegt in der freyheit und Persönlichkeit.⁷⁴
Formalisieren wir dieses Prinzip, um es in die Struktur eines logischen Syllogismus einzubetten, gelangen wir zum Autonomietheorem, da im „Verhältnisse vernünftiger Wesen zu einander“ bei jeder Handlung der Wille eines jeden „jederzeit zugleich als gesetzgebend betrachtet werden muß, weil es [sc. das handelnde vernünftige Wesen] sie [sc. die anderen vernünftigen Wesen] sonst nicht als Zweck an sich selbst denken könnte“.⁷⁵ Entsprechend besteht das Prinzip innerer Rechtspflichten darin, dass jeder „nur seiner eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzgebung“ unterworfen ist und nur verbunden ist, seinem eigenen, aber „allgemein gesetzgebenden Willen gemäß zu handeln“.⁷⁶ Nur dann wird er nicht als bloßes Mittel behandelt, sodass seine Rechtspersönlichkeit gewahrt ist. Ist dieses Prinzip in Ansehung äußerer Rechtspflichten im bürgerlichen Zustand (und gerade im Unterschied zum Naturzustand) gewahrt? Wie gezeigt, erfordert autonome Gesetzgebung, dass ich mich (besser: meine reine praktische Vernunft) als Urheber der Verbindlichkeit nach dem Gesetz begreife.⁷⁷ Äußere Rechtspflichten und die ihnen korrespondierenden Rechte sind jedoch Ausdruck äußerer Fremdverpflichtung. Im Naturzustand entsteht hierdurch das Problem, dass rechtliche Fremdverpflichtung bzw. Gesetzgebung nicht als autonome Selbstverpflichtung begriffen werden kann (d. h., dass auch die Gesetzgebung anderer als moralisch verbindlich anerkannt werden kann). Äußere Rechtspflichten im Naturzustand, d. h. unter der Formel des neminem laede, genügen daher nicht dem Prinzip innerer Rechtspflichten. Hingegen werden äußere Rechtspflichten im bürgerlichen Zustand, d. h. unter der Formel des suum cuique
Vgl. dazu oben insb. S. 182– 186 und S. 204 f. Refl. 7308, AA XIX, S. 308. Vgl. dazu auch oben S. 87– 90. GMS, AA IV, S. 434. GMS, AA IV, S. 432. Vgl. auch KpV, AA V, S. 87: Denn das Vernunftwesen ist „vermöge der Autonomie seiner Freiheit [heilig] […], es nämlich keiner Absicht zu unterwerfen, die nicht nach einem Gesetze, welches aus dem Willen des leidenden Subjects selbst entspringen könnte, möglich ist; also dieses niemals blos als Mittel, sondern zugleich selbst als Zweck zu gebrauchen.“ Vgl. hierzu schon oben S. 77– 79. Vgl. hierzu ausführlich oben S. 125 – 130 und insb. S. 222– 225.
6.2 Staatlichkeit und das innere Mein und Dein
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tribue, stets durch den Staat als den vereinigten gesetzgebenden Willen aller geltend gemacht. Da nunmehr rechtliche Verpflichtung als (mittelbare) Selbstverpflichtung begriffen werden kann, ist das Prinzip innerer Rechtspflichten gewahrt. So bestimmt, lässt sich das von Kant geschilderte Ableitungsverhältnis wie folgt darstellen: Propositio Maior:
Autonome Vernunftwesen sind notwendig selbstzweckhaft und dürfen als solche von anderen nicht als bloßes Mittel gebraucht werden. (Recht der Menschheit = Prinzip der inneren Rechtspflichten)
Zwischenurteil:
Dies ist genau dann gewährleistet, wenn rechtliche Verpflichtung auf den gesetzgebenden Willen des leidenden Subjekts zurückführbar ist.
Propositio Minor:
Im bürgerlichen Zustand ist äußere Gesetzgebung die Gesetzgebung des vereinigten Willens aller. Jede äußere Rechtsverpflichtung ist daher stets auch auf den Willen des Verpflichteten selbst zurückführbar.
Conclusio:
Äußere Rechtspflichten bzw. äußere Gesetzgebung genügt im bürgerlichen Zustand dem Prinzip innerer Rechtspflichten.
Kants Darstellung der praecepta iuris stellt mithin darauf ab, dass Rechtspflichten erst im bürgerlichen Zustand dem Prinzip innerer Rechtspflichten genügen, wonach rechtliche Fremdverpflichtung als autonome Selbstverpflichtung begriffen werden kann. Im Naturzustand (charakterisiert durch unilaterale Rechtsdurchsetzung) fehlt es gerade hieran, sodass Kant von einem „Zustand der Gewaltthätigkeit“⁷⁸ bzw. „der G e w a l t (violentia)“⁷⁹ spricht. Anders im bürgerlichen Zustand. Hier hat der Mensch seine „wilde, gesetzlose Freiheit gänzlich verlassen, um seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit […] wieder zu finden, weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt“.⁸⁰ Die Ableitungsbeziehung, die Kant zwischen den praecepta iuris herstellt, soll genau dies abbilden. Sie zeigt, dass der Staat als Inbegriff des vereinigten Willens aller erforderlich ist, um die Nötigung zur Befolgung des Rechtsgesetzes mittelbar auf den eigenen Willen des Verpflichteten zurückzuführen. Dies ist Kants autonomietheoretische Staatsbegründung – und sie gilt für Recht schlechthin (inneres wie äußeres Mein und Dein).
MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 591. RL, AA VI, S. 307. RL, AA VI, S. 315 f.
272
6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
6.3 Staatlichkeit und das äußere Mein und Dein Die vorstehend erläuterte Staatsbegründung in der praecepta iuris-Passage gilt für Recht schlechthin, da es um Staatlichkeit als Realisationsbedingung des Rechts geht. Hiervon sind angeborene und erworbene Rechte gleichermaßen betroffen, insofern beide aus autonomietheoretischen Gründen nur im bürgerlichen Rechtszustand geltend gemacht und durchgesetzt werden können. Allerdings findet sich bei Kant in den §§ 1– 9 der Rechtslehre ⁸¹ auch eine eigentumstheoretische Staatsbegründung, die die Notwendigkeit des bürgerlichen Rechtszustands – wie häufig in der Kant-Forschung betont wird –⁸² allein auf das äußere Mein und Dein zurückführt. Denn Kant schließt § 8 der Rechtslehre damit, dass es „dem Subject erlaubt sein [muß], jeden Anderen […] zu n ö t h i g e n , mit ihm zusammen in eine bürgerliche Verfassung zu treten“. Der Grund für die Staatsnotwendigkeit ist dabei laut Kant, dass „es nur im bürgerlichen Zustande ein äußeres Mein und Dein geben [kann]“.⁸³ Im Folgenden gilt es nun, diese eigentumstheoretische Staatsbegründung bei Kant zu verstehen und vor dem Hintergrund der hier behaupteten autonomietheoretischen Staatsbegründung zu verorten. Hierfür müssen wir zunächst einen Blick darauf werfen, wie Kant die Möglichkeit erworbener Rechte bzw. eines äußeren Mein und Dein erklärt.
6.3.1 Intelligibler Besitz und das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft Das rechtlich Meine ist laut Kant „dasjenige, womit ich so verbunden bin, daß der Gebrauch, den ein Anderer ohne meine Einwilligung von ihm machen möchte, mich lädiren würde. Die subjective Bedingung der Möglichkeit des Gebrauchs überhaupt ist der B e s i t z .“⁸⁴ Dabei geht es ihm jedoch nicht um den physischen Besitz eines Gegenstands,⁸⁵ sondern „[d]as äußere Meine ist dasjenige, in dessen
Vgl. RL, AA VI, S. 245 – 256. Von einer solchen eigentumstheoretischen Staatsbegründung bei Kant sprechen so oder ähnlich die oben in Kap. 6, Fn. 1 genannten Autoren. RL, AA VI, S. 256. RL, AA VI, S. 245. Ein Gegenstand im physischen Besitz ist nur insofern das rechtlich Meine, als dass ich durch unbefugten Gebrauch anderer in meinem angeborenen Recht verletzt würde, d. h. dem inneren und nicht dem äußeren Mein und Dein. Vgl. RL, AA VI, S. 247 f.: „Denn der, welcher mir im erstern Falle (des empirischen Besitzes) den Apfel aus der Hand winden, oder mich von meiner Lagerstätte wegschleppen wollte, würde mich zwar freilich in Ansehung des i n n e r e n Meinen (der Freiheit), aber nicht des äußeren Meinen lädiren, wenn ich nicht auch ohne Inhabung mich im Besitz des
6.3 Staatlichkeit und das äußere Mein und Dein
273
Gebrauch mich zu stören Läsion sein würde, o b i c h g l e i c h n i c h t i m B e s i t z d e s s e l b e n (nicht Inhaber des Gegenstandes) bin“.⁸⁶ Etwas Äußeres als das rechtlich Meine zu besitzen, erfordert daher einen intelligiblen Besitz, d. h. „ein[en] Besitz o h n e I n h a b u n g (detentio)“.⁸⁷ „[E]in i n t e l l i g i b l e r B e s i t z (possessio noumenon) [muß] als möglich vorausgesetzt werden, wenn es ein äußeres Mein oder Dein geben soll; der empirische Besitz (Inhabung) ist alsdann nur Besitz in der E r s c h e i n u n g (possessio phaenomenon)“.⁸⁸ Empirischer und intelligibler Besitz an einem äußeren Gegenstand können also auseinanderfallen.⁸⁹ Dabei unterscheidet Kant entsprechend der Relationskategorien⁹⁰ drei mögliche äußere Gegenstände der Willkür: „1) eine (körperliche) S a c h e außer mir; 2) die W i l l k ü r eines anderen zu einer bestimmten That (praestatio); 3) der Z u s t a n d eines Anderen in Verhältniß auf mich“.⁹¹ Um die Möglichkeit eines äußeren Mein und Dein nachzuweisen, muss Kant also zeigen, dass ein intelligibler, d. h. bloß-rechtlicher Besitz möglich ist. Aus dem angeborenen Recht bzw. inneren Mein und Dein (d. h. dem Begriff einer allgemeingesetzlich zu vereinbarenden Freiheit) lässt sich jedoch nur die Möglichkeit eines empirischen Besitzes analytisch ableiten:⁹² Der Rechtssatz a priori in Ansehung des e m p i r i s c h e n B e s i t z e s ist a n a l y t i s c h ; denn […] wenn ich Inhaber einer Sache (mit ihr also physisch verbunden) bin, [afficir[t] und schmäler[t]] [d]erjenige, der sie wider meine Einwilligung afficirt (z. B. mir den Apfel aus der Hand reißt), das innere Meine (meine Freiheit) […]. Der Satz von einem empirischen rechtmäßigen Besitz geht also nicht über das Recht einer Person in Ansehung ihrer selbst hinaus.⁹³
Da der bloß-rechtliche Besitz gerade von der tatsächlichen Innehabung abstrahiert, bedarf es zur Begründung der Möglichkeit eines intelligiblen Besitzes mithin einer synthetischen Erweiterung dieses Rechtsgrundsatzes. Kant muss zeigen, dass reine praktische Vernunft jenseits des allgemeinen Rechtsprinzips (bzw. des
Gegenstandes zu sein behaupten könnte; ich könnte also diese Gegenstände (den Apfel und das Lager) auch nicht mein nennen.“ RL, AA VI, S. 249. RL, AA VI, S. 246. RL, AA VI, S. 249. Nur daraus, dass man diese Differenzierung zwischen beiden Arten des Besitzes übergeht, entsteht laut Kant eine Antinomie der rechtlich-praktischen Vernunft, vgl. RL, AA VI, S. 254 f. Dies sind Substanz, Kausalität und Gemeinschaft, vgl. KrV, A 80/B 106. RL, AAVI, S. 247. Diese Differenzierung spielt vorliegend im ersten Hauptstück des Privatrechts noch keine Rolle, sondern wird erst im Rahmen des Erwerbsrechts relevant. Vgl. hierzu im Detail statt vieler Ludwig 1988, S. 108 f. und S. 127– 148 m. w. N. Vgl. ebenso Ludwig 1988, S. 104 f. und S. 110 sowie Friedrich 2004, S. 89 f. RL, AA VI, S. 250.
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
angeborenen Rechts als dessen subjektiv-rechtlicher Ausprägung)⁹⁴ fordert, dass äußere Gegenstände jederzeit möglicher Gegenstand eines Mein und Dein sein können. Dies ist das von Kant so bezeichnete „rechtlich[e] Postulat der praktischen Vernunft“: Es ist möglich, einen jeden äußern Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben; d.i.: eine Maxime, nach welcher, wenn sie Gesetz würde, ein Gegenstand der Willkür a n s i c h (objectiv) h e r r e n l o s (res nullius) werden müßte, ist rechtswidrig. Denn ein Gegenstand meiner Willkür ist etwas, was zu gebrauchen ich p h y s i s c h in meiner Macht habe. Sollte es nun doch r e c h t l i c h schlechterdings nicht in meiner Macht stehen, d.i. mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz nicht zusammen bestehen können (unrecht sein), Gebrauch von demselben zu machen: so würde die Freiheit sich selbst des Gebrauchs ihrer Willkür in Ansehung eines Gegenstandes derselben berauben, dadurch daß sie b r a u c h b a r e Gegenstände außer aller Möglichkeit des G e b r a u c h s setzte, d.i. diese in praktischer Rücksicht vernichtete und zur res nullius machte; obgleich die Willkür formaliter im Gebrauch der Sachen mit jedermanns äußeren Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmte. – Da nun die reine praktische Vernunft keine andere als formale Gesetze des Gebrauchs der Willkür zum Grunde legt und also von der Materie der Willkür, d.i. der übrigen Beschaffenheit des Objects, w e n n e s n u r e i n G e g e n s t a n d d e r W i l l k ü r i s t , abstrahirt, so kann sie in Ansehung eines solchen Gegenstandes kein absolutes Verbot seines Gebrauchs enthalten, weil dieses ein Widerspruch der äußeren Freiheit mit sich selbst sein würde. – Ein Gegenstand meiner W i l l k ü r aber ist das,wovon beliebigen Gebrauch zu machen ich das physische Ve r m ö g e n habe, dessen Gebrauch in meiner Macht (potentia) steht: wovon noch unterschieden werden muß, denselben Gegenstand in meiner Gewalt (in potestatem meam redactum) zu haben, welches nicht bloß ein Vermögen, sondern auch einen Act der Willkür voraus setzt. Um aber etwas bloß als Gegenstand meiner Willkür zu d e n k e n , ist hinreichend, mir bewußt zu sein, daß ich ihn in meiner Macht habe. – Also ist es eine Voraussetzung a priori der praktischen Vernunft einen jeden Gegenstand meiner Willkür als objectiv mögliches Mein oder Dein anzusehen und zu behandeln.⁹⁵
Kants Begründung des Postulats ist hier ein dreistufiges Argument, das vom allgemeinen Rechtsprinzip ausgeht und bei dem die Konklusion jeder Stufe (die Stufen sind im Druckbild durch Gedankenstriche ausgewiesen) eine der beiden Prämissen der nächsten Stufe bildet:⁹⁶
Vgl. zum Verhältnis von allgemeinem Rechtsprinzip und angeborenem Freiheitsrecht oben S. 64 f. RL, AA VI, S. 246. Diese Rekonstruktion entspricht weitgehend derjenigen bei Ludwig 1988, S. 111– 113. Sie legt überdies die von Ludwig – m. E. richtigerweise – vorgenommenen Texteingriffe im Hinblick auf die §§ 2, 3 und 6 zugrunde, vgl. dazu Ludwig 1988, S. 60 – 66. Vgl. zu früheren Rekonstruktionsversuchen nur die Nachweise bei Ludwig 1988, S. 111, Fn. 49 sowie in jüngerer Zeit eine solche Rekonstruktion kritisch reflektierend Friedrich 2004, S. 95 – 134 m. w. N. Auf eine eingehende kritische Auseinandersetzung mit jüngeren, anderslautenden Rekonstruktionsversuchen (vgl. etwa
6.3 Staatlichkeit und das äußere Mein und Dein
) Propositio Maior:
275
Jeder Willkürgebrauch, der mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, steht in meiner rechtlichen Macht, d. h. er ist rechtmäßig.
Propositio Minor:
Es gibt einige äußere Gegenstände der Willkür, die gebraucht werden können, bei denen die Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz weiterhin zusammen bestehen kann. (Z. B. physische Inbesitznahme herrenloser Dinge.)
Conclusio:
Es gibt einige äußere Gegenstände der Willkür, deren Gebrauch in meiner rechtlichen Macht steht, d. h. rechtmäßig ist.
) Propositio Maior:
Die formalen Gesetze der praktischen Vernunft gebieten so, dass der Willkürgebrauch in Ansehung äußerer Gegenstände der Willkür (unabhängig von deren materialer Beschaffenheit) entweder absolut verboten oder schlechthin erlaubt ist: Gibt es einige äußere Gegenstände, deren Gebrauch rechtlich möglich ist, dann ist der Gebrauch aller äußeren Gegenstände rechtlich möglich bzw. kann rechtmäßig sein.
Propositio Minor:
Es gibt einige äußere Gegenstände der Willkür, deren Gebrauch in meiner rechtlichen Macht steht, d. h. rechtmäßig ist.
Conclusio:
Also kann der Gebrauch jedes äußeren Gegenstands der Willkür in meiner rechtlichen Macht stehen, d. h. rechtmäßig sein.
) Propositio Maior:
Der Gebrauch jedes äußeren Gegenstands der Willkür kann in meiner rechtlichen Macht stehen, d. h. rechtmäßig sein.
Propositio Minor:
Äußerer Gegenstand der Willkür ist alles, was in meiner physischen Macht stehen kann.
Conclusio:
Also kann der Gebrauch jedes Gegenstands, der in meiner physischen Macht stehen kann, auch in meiner rechtlichen Macht stehen, d. h. rechtmäßig sein.
Ein äußerer Gegenstand, der in meiner rechtlichen Macht stehen kann, ist nun ein möglicher Gegenstand des äußeren Mein und Dein. Quod erat demonstrandum: Es ist möglich, jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben. Dabei lässt sich innerhalb dieses Arguments noch einmal nach den verschiedenen möglichen äußeren Gegenständen der Willkür differenzieren. So folgt die Rechtmäßigkeit des Gebrauchs von physisch herrenlosen Gegenständen (die in
Horn 2014, S. 199 – 216 m. w. N. in Fn. 27) wird verzichtet, da vorliegend hauptsächlich Kants Argumentation in den §§ 8 und 9 von Interesse ist.
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
niemandes physischem Besitz stehen) sowie a fortiori von Gegenständen, welche im eigenen physischen Besitz sind (die also schon tatsächlich in Besitz genommen worden sind), bereits analytisch aus dem moralischen Rechtsbegriff. D. h. aus dem Begriff einer äußeren allgemeingesetzlich zu vereinbarenden Freiheit, über den man nicht hinaus gehen muss,weil bei diesen Gegenständen der empirische Besitz anderer (und insofern deren inneres Mein und Dein) nicht in Frage steht. Diesbezüglich reicht Kants Argument der ersten Stufe aus. Weiterer Argumentationsbedarf besteht erst in Ansehung von Gegenständen, welche im tatsächlichen Besitz anderer stehen. Die Rechtmäßigkeit des Gebrauchs solcher Gegenstände lässt sich nur synthetisch über die Formalität moralischer Gesetze der praktischen Vernunft begründen, welche gerade von der Materie der Willkür, d. h. der tatsächlichen Beschaffenheit der Gegenstände (hier: deren tatsächlicher Innehabung) abstrahiert und so den bloß rechtlichen Gebrauch jedes Gegenstands der Willkür für rechtlich möglich erklärt (Stufe zwei). Auf Stufe drei wird dies dann über die Definition des Begriffs eines Gegenstands der Willkür wieder auf alle Gegenstände, die physisch in der eigenen Macht stehen können, zurückgeführt. Jedoch ist der Satz: „Es ist möglich, einen jeden äußern Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben“⁹⁷ keine bloß theoretische Aussage. Es ist ein Postulat⁹⁸, d. h. „ein praktischer, unmittelbar gewisser Satz oder ein Grundsatz, der eine mögliche Handlung bestimmt“.⁹⁹ Wir haben es also mit einer handlungsleitenden Rechtspflicht zu tun. Daher spricht Kant in einer späteren Formulierung des rechtlichen Postulats davon, „»daß es Rechtspflicht sei, gegen Andere so zu handeln, daß das Äußere (Brauchbare) auch das Seine von irgend jemanden werden könne«“.¹⁰⁰ Diese Pflicht ist unmittelbar gewiss, weil es eine implizite „Voraussetzung a priori der praktischen Vernunft“ ist,¹⁰¹ welche sich uns durch den kategorischen Imperativ als Pflicht ankündigt (Faktumlehre)¹⁰² und uns auf die unmittelbare, praktische Gewissheit des Sittengesetzes verweist. Daher darf es Kant zufolge auch […] niemand befremden, daß die t h e o r e t i s c h e n Principien des äußeren Mein und Dein sich im Intelligibelen verlieren und kein erweitertes Erkenntniß vorstellen: weil der Begriff der Freiheit, auf dem sie beruhen, keiner theoretischen Deduction seiner Möglichkeit fähig ist
RL, AA VI, S. 246. Vgl. so Kant explizit in RL, AA VI, S. 246 f. Logik, AA IX, S. 112. RL, AA VI, S. 252. RL, AA VI, S. 246. Kant spricht hier von Voraussetzung, weil sich das rechtliche Postulat synthetisch aus dem allgemeinen Rechtprinzip bzw. Rechtsgesetz, welches sich uns unmittelbar als Pflicht aufdrängt, beweisen lässt. Vgl. die dargestellte dreistufige Argumentation Kants. Vgl. dazu oben S. 46 – 48.
6.3 Staatlichkeit und das äußere Mein und Dein
277
und nur aus dem praktischen Gesetze der Vernunft (dem kategorischen Imperativ), als einem Factum derselben, geschlossen werden kann.¹⁰³
Aus der Denkmöglichkeit des Begriffs eines bloß intelligiblen Besitzes¹⁰⁴ und der durch das Postulat begründeten praktischen Notwendigkeit diesen anzunehmen, lässt sich nun auf die objektive Realität dieses Begriffs, d. h. auf die Möglichkeit eines bloß intelligiblen Besitzes, schließen: „Denn wenn es nothwendig ist, nach jenem Rechtsgrundsatz zu handeln, so muß auch die intelligibele Bedingung (eines bloß rechtlichen Besitzes) möglich sein.“¹⁰⁵ Mithin folgt die Möglichkeit eines intelligiblen Besitzes nicht aus einer theoretischen Erkenntnis, sondern muss „aus dem Postulat der praktischen Vernunft gefolgert werden“.¹⁰⁶ Hiervon ausgehend erlangt der Begriff eines bloß-rechtlichen Besitzes praktische Realität und muss damit auf Gegenstände der Erfahrung angewandt werden können. Dies erscheint zunächst problematisch, insofern letztere nur unter den Bedingungen der Anschauung (d. h. in Raum und Zeit) gegeben sind, von welchen der Begriff eines bloß-rechtlichen, intelligiblen Besitzes ja gerade abstrahiert.¹⁰⁷ Daher muss der Rechtsbegriff des intelligiblen Besitzes […] zunächst auf den reinen Verstandesbegriff eines B e s i t z e s überhaupt angewandt werden, so daß statt der I n h a b u n g (detentio), als einer empirischen Vorstellung des Besitzes, der von allen Raumes- und Zeitbedingungen abstrahirende Begriff des H a b e n s , und nur daß der Gegenstand als in m e i n e r G e w a l t (in potestate mea positum esse) sei, gedacht werde […].¹⁰⁸
Dabei meint äußerer Gegenstand nicht mehr eine von mir unterschiedene raumzeitliche Lokalisation, sondern lediglich, dass es sich um einen vom Subjekt unterschiedenen Gegenstand handelt.¹⁰⁹ In Ansehung dessen besagt der reine
RL, AAVI, S. 252. Das Postulat verdankt sich also einer rein praktischen Erkenntnis,vgl. RL, AAVI, S. 247– 252: „Die Vernunft will, daß dieses als Grundsatz gelte, und das zwar als p r a k t i s c h e Vernunft, die sich durch dieses ihr Postulat a priori erweitert. […] In einem t h e o r e t i s c h e n Grundsatze a priori müßte nämlich (zu Folge der Kritik der reinen Vernunft) dem gegebenen Begriff eine Anschauung a priori untergelegt, mithin etwas zu dem Begriffe vom Besitz des Gegenstandes h i n z u g e t h a n werden; allein in diesem praktischen wird umgekehrt verfahren […].“ Deren Nachweis geschieht durch die „Exposition des letzteren Begriffs [sc. des intelligiblen Besitzes], welcher das äußere Seine nur auf einen nicht-physischen Besitz gründet“ (RL, AA VI, S. 252). Dabei wird nur die die Widerspruchsfreiheit des Begriffs nachgewiesen, indem Kant auf die Unterscheidung von noumenaler und phaenomenaler Betrachtung abstellt. Vgl. dazu RL, AA VI, S. 247– 249. RL, AA VI, S. 252. RL, AA VI, S. 255. Vgl. RL, AA VI, S. 252 f. RL, AA VI, S. 253. Vgl. RL, AA VI, S. 253.
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
Verstandesbegriff des Habens dann nur so viel, als dass der äußere Gegenstand derart mit dem Subjekt verbunden wird, dass letzteres den Gegenstand zu gebrauchen vermag.¹¹⁰ Unter Vermittlung dieses reinen Verstandesbegriffs ist der Begriff eines bloß-rechtlichen Besitzes mittelbar auf Gegenstände der Erfahrung anwendbar: Einen äußeren Gegenstand (d. h. einen vom besitzenden Subjekt unterschiedenen Gegenstand) bloß-rechtlich zu besitzen, heißt danach, ihn derart mit dem Subjekt zu verbinden, dass letzteres den Gegenstand nach Freiheitsgesetzen zu gebrauchen vermag.¹¹¹ Diese Verbindung ist nur ein „intellectuelle[s] Verhältniß zum Gegenstande“, das darin besteht, dass „mein zu desselben [sc. des Gegenstandes] beliebigem Gebrauch sich bestimmender Wille dem Gesetze der äußeren Freiheit nicht widerstreitet“.¹¹² Dieser Begriff ist nun rein, weil sein Begriffsinhalt (eine den Gebrauch nach Freiheitsgesetzen ermöglichende Verbindung des Subjekts mit einem äußeren Gegenstand) frei von sinnlicher Beimischung (den Bedingungen von Raum und Zeit) ist: Die Art also, etwas außer mir als das Meine zu haben, ist die bloß rechtliche Verbindung des Willens des Subjects mit jenem Gegenstande, unabhängig von dem Verhältnisse zu demselben im Raum und in der Zeit, nach dem Begriff eines intelligibelen Besitzes.¹¹³
Dieser Begriff lässt sich aber weiterhin auf Gegenstände der Erfahrung anwenden, wie Kant im Folgenden anhand der in § 4 exponierten möglichen Gegenstände eines äußeren Mein und Dein expliziert. In Ansehung des rechtlichen Besitzes einer Sache sowie einer Person¹¹⁴ wird dabei vom Raum abstrahiert, und es kommt ungeachtet einer tatsächlichen Innehabung bzw. örtlichen Nähe allein auf ein Willensverhältnis an.¹¹⁵ Gleiches gilt im Hinblick auf Leistungsversprechen, bei denen jedoch von der Zeit abstrahiert wird.¹¹⁶ Vgl. RL, AA VI, S. 253 und S. 268. Vgl. RL, AA VI, S. 253. RL, AA VI, S. 253. RL, AA VI, S. 253 f. Ersteres betrifft Eigentumsverhältnisse an materiellen Gegenständen und Grundstücken, letzteres das auf dingliche Art persönliche Recht an Personen des Hausstandes (Ehefrau, Kinder, Gesinde). Vgl. jeweils auch RL, AA VI, S. 260 – 271 bzw. S. 276 – 284. Kant setzt sich dabei mit dem möglichen Gegeneinwand auseinander, dass es nur empirischen Besitz gebe. Diese Auffassung sei widersprüchlich, da sie entweder das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft ablehnen müsse oder behaupten müsse, man könne an zwei Orten zugleich sein. Vgl. RL, AA VI, S. 254. Die Abstraktion von Zeitbedingungen ermöglicht es Kant, den späteren Widerruf eines Leistungsversprechens für widersprüchlich und damit rechtlich unbeachtlich zu erklären.Vgl. RL, AA VI, S. 254.
6.3 Staatlichkeit und das äußere Mein und Dein
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6.3.2 Die Notwendigkeit des bürgerlichen Rechtszustands für ein peremptorisches Recht Bisher hat Kant gezeigt, dass es möglich sein muss, einen Gegenstand bloßrechtlich zu besitzen. Das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft ist also kein Gebots- oder Verbotsgesetz (wie z. B. das allgemeine Rechtsgesetz in § C der „Einleitung in die Rechtslehre“), sondern erlaubt es lediglich a priori, einen äußeren Gegenstand als das rechtlich Seine in Gebrauch zu nehmen. Deswegen bezeichnet Kant das Postulat auch als Erlaubnisgesetz: ¹¹⁷ Man kann dieses Postulat ein Erlaubnißgesetz (lex permissiva) der praktischen Vernunft nennen, was uns die Befugniß giebt, die wir aus bloßen Begriffen vom Rechte überhaupt nicht herausbringen könnten: nämlich allen andern eine Verbindlichkeit aufzulegen, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände unserer Willkür zu enthalten, weil wir zuerst sie in unseren Besitz genommen haben.¹¹⁸
Allerdings ist noch unklar, wie man von dieser Erlaubnis in sittlich zulässiger Weise Gebrauch machen kann. Denn durch Inbesitznahme unilateral eine rechtliche Verbindlichkeit gegenüber anderen zu begründen, widerspricht der Grundannahme des Autonomietheorems, wonach jede moralische Verpflichtung nur als Selbstverpflichtung möglich ist. Jede rechtsgesetzliche Einschränkung der Freiheit muss also auf den jeweils eigenen allgemein-gesetzgebenden Willen zurückgeführt werden. Da Kant den bloß-rechtlichen Besitz als eine „allgemeingeltende G e s e t z g e b u n g “ begreift, „weil allen andern dadurch eine Verbindlichkeit auferlegt wird, die sie sonst nicht hätten“,¹¹⁹ kann es Eigentum daher nur durch vereinigten, allgemein gesetz-
„Eine Handlung, die weder geboten noch verboten ist, ist bloß e r l a u b t ,weil es in Ansehung ihrer gar kein die Freiheit (Befugniß) einschränkendes Gesetz und also auch keine Pflicht giebt.“ Diesbezüglich diskutiert nun Kant, ob es für dieses Dürfen „außer dem Gebotgesetze (lex praeceptiva, lex mandati) und dem Verbotgesetze (lex prohibitiva, lex vetiti) noch ein[es] Erlaubnißgesetz[es] (lex permissiva)“ bedarf (RL, AA VI, S. 223).Vgl. auch VA TL, AA XXIII, S. 384. Allerdings sind Struktur und Systematik des Erlaubnisgesetzes umstritten: Brandt 1982, i. E. zustimmend Kersting 1984, S. 133 f.; Flikschuh 2006, S. 102– 104 und Ringkamp 2015 sehen hierin die gesetzliche Ausnahme zu einer an sich verbotenen Handlung. Dies kritisieren jedoch Oberer 1997, S. 197– 200; Friedrich 2004, S. 113; Byrd und Hruschka 2011, S. 94– 106 und Hruschka 2015, S. 48 – 63. Letztere sprechen von der moralischen Befugnis zu einer sittlich gleichgültigen Handlung.Vgl. hierzu stellungnehmend unten Kap. 6, Fn. 140. RL, AA VI, S. 247. RL, AA VI, S. 253.
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
gebenden Willen aller geben.¹²⁰ Dieser Zustand eines notwendig vereinigten Willens aller ist nun der bürgerliche Zustand, mithin der Staat: Nun kann der einseitige Wille in Ansehung eines äußeren, mithin zufälligen Besitzes nicht zum Zwangsgesetz für jedermann dienen, weil das der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen Abbruch thun würde. Also ist nur ein jeden anderen verbindender, mithin collectiv allgemeiner (gemeinsamer) und machthabender Wille derjenige, welcher jedermann jene Sicherheit leisten kann. – Der Zustand aber unter einer allgemeinen äußeren (d.i. öffentlichen) mit Macht begleiteten Gesetzgebung ist der bürgerliche. Also kann es nur im bürgerlichen Zustande ein äußeres Mein und Dein geben.¹²¹
Einerseits besteht also nach dem Erlaubnisgesetz die Befugnis eines jeden, äußeres Mein und Dein zu erwerben; andererseits ist dies nur im bürgerlichen Zustand des notwendig vereinigten Willens aller möglich. Daraus folgt: Ein jeder hat die Befugnis, zum Zwecke der Erwerbung eines äußeren Mein und Dein die anderen in einen bürgerlichen Zustand zu nötigen:
Erläuterungsbedürftig ist an dieser Stelle das Verhältnis von vereinigtem Willen und vereinigter Willkür. In § 14 (RL, AA VI, S. 263) führt Kant aus, dass der einseitige „Wille […] eine äußere Erwerbung nicht anders berechtigen [kann], als nur so fern er in einem a priori vereinigten (d.i. durch die Vereinigung der Willkür Aller, die in ein praktisches Verhältniß gegen einander kommen können) absolut gebietenden Willen enthalten ist“. Nun führt jeder rechtliche Besitz eines Gegenstandes zu einer Einschränkung der Willkür anderer, insofern hierdurch dieser Gegenstand der freien Verfügung anderer entzogen wird. Folglich muss zur Begründung eines bloß-rechtlichen Besitzes die Willkür aller Rechtssubjekte vereinigt werden, damit der rechtliche Besitzbegründung auf der einen Seite gleichzeitig ein Besitzverzicht (und damit eine Einschränkung der eigenen Willkür) auf der anderen Seite korrespondiert. Diese Vereinigung kann jedoch nur durch den vereinigten gesetzgebenden Willen aller bewirkt werden, weil nur so der Rechtsverzicht der NichtBesitzenden als autonome Selbstverpflichtung begriffen werden kann. I. E. ebenso Kühl 1984, S. 162– 166 und Rühl 2010, S. 91 f. Entgegen Ludwig 1988, S. 116 f. mit Fn. 61 und wohl auch Kersting 1984, S. 144– 149 bedarf es daher sowohl der Vereinigung der Legislativ- als auch der Exekutivvermögen. D. h., die Vereinigung der Willen ist Möglichkeitsbedingung für die Vereinigung der Willküren. Gleichwohl erkennt Kersting 2004, S. 70 zutreffend, dass die „Vereinigung der Willen aller […] genau die normative Prämisse [ist], die den empirischen Handlungen der Inbesitznahme und Deklaration des Besitzwillens […] Rechtsgültigkeit“ verleiht. Vgl. ähnlich auch Brandt 1974, S. 190 f. und Friedrich 2004, S. 130. RL, AAVI, S. 256.Vgl. auch RL, AAVI, S. 264: „Der Ve r n u n f t t i t e l der Erwerbung aber kann nur in der Idee eines a priori vereinigten (nothwendig zu vereinigenden) Willens aller liegen, welche hier als unumgängliche Bedingung (conditio sine qua non) stillschweigend vorausgesetzt wird; denn durch einseitigen Willen kann Anderen eine Verbindlichkeit, die sie für sich sonst nicht haben würden, nicht auferlegt werden. – Der Zustand aber eines zur Gesetzgebung allgemein wirklich vereinigten Willens ist der bürgerliche Zustand.“
6.3 Staatlichkeit und das äußere Mein und Dein
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F o l g e s a t z : Wenn es rechtlich möglich sein muß, einen äußeren Gegenstand als das Seine zu haben: so muß es auch dem Subject erlaubt sein, jeden Anderen, mit dem es zum Streit des Mein und Dein über ein solches Object kommt, zu n ö t h i g e n , mit ihm zusammen in eine bürgerliche Verfassung zu treten.¹²²
Laut Kant geht also mit dem Anspruch auf Eigentumsbegründung der Anspruch auf Staatsbegründung notwendig einher, da es nur im bürgerlichen Zustand Eigentum bzw. erworbene Rechte in einem vollumfänglichen Sinne geben kann. Bis zur Etablierung eines bürgerlichen Zustands ist aller Besitz an äußeren Gegenständen ein „Besitz in Erwartung und Vorbereitung eines solchen Zustandes, der allein auf einem Gesetz des gemeinsamen Willens gegründet werden kann, der also zu der M ö g l i c h k e i t des Letzteren zusammenstimmt“. Kant bezeichnet ihn
RL, AAVI, S. 256. Diese Befugnis, andere zur Begründung eines bürgerlichen Rechtszustands zu nötigen, ist innerhalb der Rechtslehre eine Besonderheit. Nur hier wird die sittliche Notwendigkeit der Staatsbegründung mit einem positiven Zwangsrecht verknüpft, während anderenorts (vgl. RL, AA VI, S. 236 f. und S. 307 f.) allenfalls von einer Pflicht zur Begründung des rechtlichen Zustands die Rede ist. Insofern hier also die Nötigungsbefugnis aus dem rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft folgt, scheint sie ausschließlich von der Begründung eines äußeren Mein und Dein abzuhängen. Jedoch trügt dieser Schein, zieht man vergleichend Kants Ausführungen zur (Nicht‐)Existenz eines Erlaubnisgesetzes in MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 513 – 516 heran. Trotz allen Schwankens in dieser Frage bejaht Kant ebd., S. 515 die Existenz eines Erlaubnisgesetzes, „[w]enn nämlich der Fall so ist, daß ohne Gewalt kein Recht gestiftet werden kann, so muß dem Recht die Gewalt vorausgehen, statt dessen der Regel nach das Recht die Gewalt begründen muß. Man nehme Menschen in statu naturali, sie sind exleges, in keinem rechtlichen Zustande, sie haben keine Gesetze, noch äußerliche Gewalt, die sie aufrecht erhält. Jeder exercirt seine eigene Willkür, ohne eine allgemeine Freiheit anzuerkennen. […] Sollte nun ein prohibitives Gesetz gegeben werden, vermöge dessen es nicht erlaubt wäre, Gewalt anzuwenden, damit die Menschen zum Genuß eines status civilis kämen, so würde dies den gesetzlosen Zustand vertheidigen, mithin einen Zustand, wo kein Gesetz vorhanden oder nicht anerkannt wäre: dies ist aber ein dem allgemeinen Imperativ der Sittlichkeit zuwiderlaufender Zustand, mithin muß man annehmen, daß die Natur es zulasse, in der Art, die freie Willkür der Menschen mit der allgemeinen Freiheit nach dem allgemeinen Gesetz in Uebereinstimmung zu bringen; und also ist hier ein natürliches Erlaubnißgesetz zu der angewandten Gewalt vorhanden.“ Hier wird das Naturzustandsproblem nicht in Begrenzung auf das äußere Mein und Dein entwickelt, im Gegenteil: In der Vigilantiusmitschrift bezieht Kant die Notwendigkeit des Staates sogar ausdrücklich auf das innere Mein und Dein (vgl. oben S. 211 f. und Kap. 6, Fn. 9). Kants Hinweis auf den „allgemeinen Imperativ der Sittlichkeit“ belegt damit, dass das Erlaubnisgesetz gegenüber der Unterscheidung von innerem und äußerem Mein und Dein indifferent ist. Jedes vernunftrechtlich legitimierte Recht (und nicht nur äußeres Mein und Dein) hat Staatlichkeit zur Realisationsbedingung. Daher begründen auch angeborene Rechte im Naturzustand ein Erlaubnisgesetz, andere zur Etablierung eines diese Rechte sichernden bürgerlichen Zustands zu nötigen. Die vorliegende Stelle aus § 8 des Privatrechts der Rechtslehre wendet dieses Prinzip lediglich explizit auf erworbene Rechte an. Vgl. ähnlich Friedrich 2004, S. 180.
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
als „p r o v i s o r i s c h - r e c h t l i c h e [ n ] Besitz, wogegen derjenige, der in einem solchen w i r k l i c h e n Zustande angetroffen wird, ein p e r e m t o r i s c h e r Besitz sein würde“.¹²³ Gleichwohl beschreibt Kant den Staat nur als […] de[n] rechtliche[n] Zustand […], durch welchen jedem das Seine nur gesichert, eigentlich aber nicht ausgemacht und bestimmt wird. – Alle Garantie setzt also das Seine von jemanden (dem es gesichert wird) schon voraus. Mithin muß vor der bürgerlichen Verfassung (oder von ihr a b g e s e h e n ) ein äußeres Mein und Dein als möglich angenommen werden und zugleich ein Recht, jedermann, mit dem wir irgend auf eine Art in Verkehr kommen könnten, zu nöthigen, mit uns in eine Verfassung zusammen zu treten, worin jenes gesichert werden kann.¹²⁴
Erkennt Kant mit dem provisorischen Besitz also doch bereits ein äußeres Mein und Dein im Naturzustand an? Nein, denn eine moralische Verbindlichkeit in Ansehung äußerer Gegenstände kann es erst im bürgerlichen Zustand durch die Gesetzgebung des vereinigten Willens aller geben. Dass im rechtlichen Zustand das Seine „nicht ausgemacht und bestimmt wird“, meint lediglich, dass zunächst Besitzverhältnisse vorgefunden werden müssen, damit diese im rechtlichen Zustand allgemein sanktioniert und rechtlich verbindlich gemacht werden können. Diese vorgefundenen Besitzverhältnisse sind es, welche Kant provisorisches Eigentum nennt. Dies lässt sich an Kants Unterscheidung von drei Momenten der ursprünglichen Erwerbung äußerer Sachen veranschaulichen.¹²⁵ Danach beginnt jede ursprüngliche Erwerbung mit der Apprehension, d. h. mit der „Besitznehmung des Gegenstandes der Willkür im Raum und der Zeit“,¹²⁶ welche nach dem Rechtsgesetz der äußeren Freiheit zulässig ist.¹²⁷ In einem zweiten Schritt ist die „B e z e i c h n u n g (declaratio) des Besitzes dieses Gegenstandes und des Acts meiner Willkür jeden Anderen davon abzuhalten“ erforderlich.¹²⁸ Dies ist nichts anderes als die nach dem rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft erlaubte einseitige Erklärung, dass der äußere Gegenstand rechtlich mein sein solle. Und schließlich
RL, AA VI, S. 257. RL, AA VI, S. 256. Die originäre Begründung von Eigentum an Sachen erfasst freilich nur einen Teil derjenigen Besitzverhältnisse, welche Kant in § 4 (RL, AA VI, S. 247 f.) vorstellt. Gleichwohl zeigt die Erwerbungslehre, inwiefern Kants provisorisch-rechtlicher Besitz mit der physischen Besitzbegründung anhebt und von dieser her zu entwickeln ist.Vgl. im Detail zur hier i. Ü. nicht weiter interessierenden Erwerbungslehre Kants nur Kersting 1984, S. 113– 196; Ludwig 1988, S. 125– 148 sowie besonders zum Sachenrecht Kühl 1984, S. 178– 221 und Friedrich 2004, S. 134– 156, jeweils m. w. N. RL, AA VI, S. 258. D. h., der Gegenstand darf in niemandes physischem Besitz stehen. Vgl. oben S. 272– 274. RL, AA VI, S. 258 f.
6.3 Staatlichkeit und das äußere Mein und Dein
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erfolgt die „Z u e i g n u n g (appropriatio) als Act eines äußerlich allgemein gesetzgebenden Willens (in der Idee), durch welchen jedermann zur Einstimmung mit meiner Willkür verbunden wird“.¹²⁹ Wie gezeigt ist dieser letzte Schritt begrifflich nur im bürgerlichen Zustand, d. h. in einem Zustand der äußeren Gesetzgebung des vereinigten Willens aller, möglich. Dabei knüpft die Zueignung jedoch notwendig an die vorigen Momente der Besitzbegründung an: Die Gültigkeit des letzteren Moments der Erwerbung, als worauf der Schlußsatz: der äußere Gegenstand ist mein, beruht, d.i. daß der Besitz als ein b l o ß r e c h t l i c h e r gültig (possessio noumenon) sei, gründet sich darauf: daß, da alle diese Actus r e c h t l i c h sind, mithin aus der praktischen Vernunft hervorgehen, und also in der Frage, was Rechtens ist, von den empirischen Bedingungen des Besitzes abstrahirt werden kann […].“¹³⁰
Für einen bloß-rechtlichen Besitz reicht nicht jede Besitzbegründung aus, sondern nur eine solche, bei der „alle diese Actus r e c h t l i c h sind“. Was Kant hier zur ursprünglichen Erwerbung im Sachenrecht ausführt, ist dabei bloß die Explikation des allgemeinen Prinzips jeder äußeren Erwerbung: Das Princip der äußeren Erwerbung ist nun: Was ich (nach dem Gesetz der äußeren F r e i h e i t ) in meine G e w a l t bringe, und wovon als Object meiner Willkür Gebrauch zu machen ich (nach dem Postulat der praktischen Vernunft) das Vermögen habe: endlich, was ich (gemäß der Idee eines möglichen vereinigten W i l l e n s ) will, es solle mein sein, das ist mein.¹³¹
Erstens muss der Gebrauch eines äußeren Gegenstandes der Willkür nach Freiheitsgesetzen zulässig sein. Hierdurch wird eine widerrechtliche Innehabung (z. B. gewaltsam begründeter physischer Besitz) ausgeschlossen. Zweitens muss die Erwerbung nach dem rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft erfolgen, d. h. man muss die Absicht bekunden, den Gegenstand nicht nur physisch, sondern auch rechtlich zu besitzen. Schließlich muss sie sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung des a priori vereinigten Willens qualifizieren. Das heißt, ich bekunde, einen bürgerlichen Zustand zum Zwecke der Erwerbung errichten zu wollen.¹³² Erst vor diesem Hintergrund lässt sich der Begriff eines provisorischen äußeren Mein und Dein angemessen verstehen. Er ist Ausdruck davon, dass die Begründung eines bloß-rechtlichen Besitzes ein mehraktiger Vorgang ist, der bereits im
RL, AA VI, S. 259. RL, AA VI, S. 259, fette Hervorhebung P.-A. H. RL, AA VI, S. 258. Daher definiert Kant in RL, AAVI, S. 267 provisorisches Eigentum im Naturzustand so, dass es „vor Gründung [sc. des bürgerlichen Zustands] und doch in Absicht auf denselben, d.i. p r o v i s o r i s c h , “ ist (kursive Hervorhebung, P.-A. H.).
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Naturzustand beginnt.¹³³ Provisorischer Besitz ist damit Voraussetzung für peremptorischen Besitz überhaupt:¹³⁴ Mit einem Worte: die Art, etwas Äußeres als das Seine im N a t u r z u s t a n d e zu haben, ist ein physischer Besitz, der die rechtliche P r ä s u m t i o n für sich hat, ihn durch Vereinigung mit dem Willen Aller in einer öffentlichen Gesetzgebung zu einem rechtlichen zu machen, und gilt in der Erwartung c o m p a r a t i v für einen rechtlichen.¹³⁵
Wenn Kant davon spricht, dass der provisorische Besitz komparativ als ein rechtlicher Besitz angesehen wird, so heißt das also nicht, bereits im Naturzustand einen bloß-rechtlichen Besitz anzuerkennen. Es geht lediglich darum, zu bestimmen, welcher Besitzanspruch ausreichend ist, um bei Eintritt in den bürgerlichen Zustand als äußeres Mein und Dein verbindlich gemacht zu werden. Käme es nämlich nur auf die faktische Innehabung an, so könnte diesen Anspruch z. B. auch derjenige erheben, der den physischen Besitz einer Sache widerrechtlich durch Gewalt von einem anderen erlangt hat. Den besseren Besitzanspruch hat jedoch stets derjenige, der den Gegenstand der Willkür nach dem oben erläuterten Prinzip der äußeren Erwerbung erlangt hat.¹³⁶ Insofern kann Kant davon sprechen, dass auch „jene provisorische dennoch eine wahre Erwerbung [ist]; denn nach dem Postulat der rechtlich-praktischen Vernunft ist die Möglichkeit derselben […] ein Princip des Privatrechts“.¹³⁷ Charakteristisch für provisorischen Besitz ist daher die rechtliche Präsumtion, durch die Vereinigung unter einer öffentlichen Gesetzgebung zu einem bloß-rechtlichen Besitz zu werden. Eine rechtliche Präsumtion ist keine bloße Vermutung in tatsächlicher Hinsicht, sondern eine „Voraussetzung nach Zwangsgesetzten (suppositio legalis)“.¹³⁸ Voraussetzung dafür, dass tatsächlicher Besitz in einen bloß-rechtlichen überführt werden kann, ist also, dass der physische Besitz nach dem rechtlichen Prinzip der äußeren Hieraus erklärt sich auch, warum „[d]as N a t u r r e c h t im Zustande einer bürgerlichen Verfassung […] durch die statutarischen Gesetze der letzteren nicht Abbruch leiden [kann] […]; denn bürgerliche Verfassung ist allein der rechtliche Zustand, durch welchen jedem das Seine nur gesichert, eigentlich aber nicht ausgemacht und bestimmt wird.“ (RL, AA VI, S. 256). Vgl. RL, AA VI, S. 314 f. und dazu gleich S. 290 f. RL, AA VI, S. 257. Deswegen stellt Kant in RL, AA VI, S. 257 beim „Prärogativ des Rechts aus dem empirischen Besitzstande“ nicht uneingeschränkt auf den physischen Besitz ab, sondern auf die Begründung nach dem Prinzip der äußeren Erwerbung. Der physische Besitz hat zwar die Vermutung für sich, hiernach begründet worden zu sein und entsprechend in einen rechtlichen überführt zu werden. Dies gilt allerdings nur, insofern „nicht ein älterer Besitz eines Anderen von ebendemselben Gegenstande dawider ist, also vorläufig“. RL, AA VI, S. 264. RL, AA VI, S. 292.
6.3 Staatlichkeit und das äußere Mein und Dein
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Erwerbung begründet wird. Nur insofern gilt der physische Besitz im Naturzustand auch komparativ für einen rechtlichen.¹³⁹
6.3.3 Das Verhältnis von eigentums- und autonomietheoretischer Staatsbegründung bei Kant Für die Schaffung peremptorischen Eigentums bedarf es mithin der Errichtung eines bürgerlichen Zustandes. Eigentumstitel schränken die Willkür anderer ein, da sie die Verpflichtung begründen, sich des Gebrauchs bestimmter Gegenstände zu enthalten. Soll daher die Begründung erworbener Rechte mit der Autonomie aller beteiligten Rechtssubjekte vereinbar sein, können erworbene Rechte nur durch positive Gesetze konstituiert werden, die Ausdruck des vereinigten ge Daher ist der Ansicht zu widersprechen, dass bereits im Naturzustand der provisorische Besitz die Qualität eines (wenn auch defizitären) rechtlichen Besitzes habe und dem Staat lediglich eine Rechtssicherungsfunktion zukomme (vgl. z. B. Unruh 1993, S. 97– 99; Friedrich 2004, S. 131– 133/175 f.; Rühl 2010, S. 92 f. und wohl auch Kühl 1984, S. 162– 164). Kant bestimmt den provisorischen Besitz ausdrücklich als „physische[n] Besitz“ (RL, AA VI, S. 257). Auch wenn er bereits auf eine künftige Verrechtlichung im und durch den Staat verweist, begründet er also kein Recht an bestimmten Gegenständen und ist mithin auch kein rechtlicher Besitz (vgl. die Bestimmung des rechtlichen Besitzes in RL, AA VI, S. 245 f. und S. 249 f.). Anschaulich spricht Kant in VA RL, AA XXIII, S. 324 (kursive Hervorhebung, P.-A. H.) im Hinblick auf den provisorischen Besitz auch nur davon, „den Besitz als intellectuell anzunehmen […] bis der vereinigte Wille und der Zustand der äußern Gesetzgebung eingetreten ist […] der gemäß dem ursprünglichen Gesamtbesitz jedem den seinigen bestimmt“. Die rechtliche Präsumtion, dass der physische Besitz hiernach für einen rechtlichen Besitz gilt, hat lediglich zwei Konsequenzen: Zum einen besteht insofern schon im Naturzustand die Befugnis, den provisorischen Besitz gegenüber anderen zwangsweise zu verteidigen. Jedoch bindet Kant diese Zwangsbefugnis an den Willen zur Begründung eines bürgerlichen Zustands, denn „[v]or dem Eintritt in diesen Zustand, zu dem das Subject bereit ist, widersteht er denen mit Recht, die dazu sich nicht bequemen und ihn in seinem einstweiligen Besitz stören wollen“ (RL, AA VI, S. 257). Diese Zwangsbefugnis folgt aber – entgegen bspw. Friedrich 2004, S. 132 – nicht aus einem Recht am äußeren Gegenstand, sondern aus dem (durch das Erlaubnisgesetz begründeten) Anspruch auf ein solches Recht.Vgl. ähnlich Ludwig 1988, S. 119. Zum anderen folgt hieraus, dass sich die staatliche Begründung von Eigentumsrechten an den vorgefundenen provisorischen Besitzverhältnissen zu orientieren hat. Daraus, dass erst der Staat Eigentumsrechte konstituiert und allgemeinverbindlich macht, darf daher – entgegen Brandt 1974, S. 193/200 f.; wohl auch Hespe 2002, S. 137 f. und Ludwig 1988, S. 116 – nicht geschlossen werden, dass diese inhaltlich bzw. epistemisch unterbestimmt seien. Dem Inhalt nach ist Eigentum bereits durch die provisorischen Besitzverhältnisse vorgezeichnet, welche eindeutige Vorgaben für die künftige eigentumsrechtliche (peremptorische) Zuordnung von Rechten und Gegenständen durch den Staat enthalten. Gleichwohl ist dies keine den Staat endgültig bindende Vorfestlegung. Letzterer hat vielmehr Möglichkeiten, gestaltend und regulierend einzugreifen. Vgl. dazu anschaulich Brocker 1987, S. 138 – 152.
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
setzgebenden Willens aller sind. Kein Eigentum ohne Staat! Die Stringenz der Staatsbegründung, so wie sie uns in den §§ 1– 9 der Rechtslehre präsentiert wird, mag dazu verleiten, die Notwendigkeit des bürgerlichen Zustands bei Kant allein aus dem äußeren Mein und Dein herzuleiten. Jedoch haben wir bereits gesehen, dass sich die besondere Stellung erworbener Rechte in der Rechtslehre aus deren Architektonik und Kants intensiver Auseinandersetzung mit der Ableitung des Eigentumsrechts erklären lässt. Kants Problem, um dessen Lösung es ihm zu Anfang des Privatrechts primär geht, ist also die Erklärung, wie erworbene Rechte bzw. ein äußeres Mein und Dein möglich sind. Darüber hinaus belegt die praecepta iuris-Passage der Rechtslehre, dass Staatlichkeit Realisationsbedingung jeglichen Rechts und damit auch des inneren Mein und Dein ist. Auch angeborene Rechte bedürfen zur Durchsetzung der staatlichen Ordnung. Dies wirft jedoch die Frage auf, wie sich Kants eigentumstheoretische Staatsbegründung zur hier vorgestellten autonomietheoretischen Staatsbegründung verhält. Bei genauer Betrachtung erweist sich die Argumentation, die in der Kant-Forschung häufig als eigentumstheoretische Staatsbegründung bezeichnet wird, lediglich als ein besonderer Anwendungsfall der eingangs dargestellten autonomietheoretischen Staatsbegründung in Bezug auf Gegenstände des äußeren Mein und Dein. Denn hier wie dort geht es darum, dass die Begründung rechtsgesetzlicher Verbindlichkeiten nur als autonome Selbstverpflichtung möglich ist. Die Besonderheit im Falle erworbener Rechte besteht allein darin, dass hier eine a priori bestehende rechtsgesetzliche Zuordnung äußerer Gegenstände fehlt. Demgegenüber sind angeborene Rechte metaphysisch notwendig, mithin a priori mit meinem Status als Person verbunden: Das natürliche Vernunftrecht legt die ursprünglichen, angeborenen Rechte a priori rechtsgesetzlich fest, und mir steht es folglich auch nicht frei, sie gegenüber anderen zu behaupten. Vielmehr bin ich hierzu qua innerer Rechtspflicht des honeste vive verpflichtet. Hingegen hängen erworbene Rechte von meiner willkürlichen Besitzbegründung ab, und durch das Erlaubnisgesetz ist – so Kant in den Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten – lediglich „[d]ie Möglichkeit des blos rechtlichen Besitzes […] a priori gegeben[,] die rechtliche Bestimmung desselben aber ist nicht durch jedes eigene Willkühr sondern nur durch äußere positive Gesetze also nur im bürgerlichen Zustande möglich“.¹⁴⁰
VA RL, AA XXIII, S. 260 f. Angesichts dessen stellt sich der oben genannte Streit (vgl. Kap. 6, Fn. 117), ob das Erlaubnisgesetz sittlich gleichgültige oder an sich verbotene Handlungen betrifft, zumindest in dieser Frage als Scheinproblem heraus. Denn beides ist zutreffend: Ex ante ist die Inbesitznahme äußerer Gegenstände zunächst sittlich gleichgültig, da es diesbezüglich noch an einer gesetzlichen Zuordnung fehlt. Jedoch impliziert jede Appropriation die Schaffung einer solchen gesetzlichen Zuordnung und damit die prima facie rechtlich unzulässige Einschränkung der Freiheit anderer. Ex post lässt sich insofern von einer an sich verbotenen Handlung sprechen.
6.3 Staatlichkeit und das äußere Mein und Dein
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Da es beim äußeren Mein und Dein an einer rechtsgesetzlichen Bestimmung a priori fehlt, enthält das Erlaubnisgesetz lediglich die Befugnis, eine solche Bestimmung durch positive Gesetze zu initiieren. Es bedarf also einer äußeren Gesetzgebung, die Eigentumstitel positivrechtlich ausweist, um überhaupt moralische Verbindlichkeiten in Ansehung äußerer Gegenstände begründen zu können. Dabei ist „das Gesetz positiv (zufällig) und willkürlich“, d. h. hier ist der Gesetzgeber gleichermaßen Urheber des Gesetzes und der Verbindlichkeit nach demselben. Demgegenüber sind angeborene Rechte vernunftnotwendig und entspringen unmittelbar natürlichen Gesetzen, bei denen der Gesetzgeber lediglich „Urheber (autor) der Verbindlichkeit nach dem Gesetze, aber nicht […] Urheber des Gesetzes [ist]“.¹⁴¹ Äußere Gesetzgebung im Hinblick auf inneres und äußeres Mein und Dein unterscheidet sich also nur hinsichtlich ihres Umfangs. Dies lässt sich angesichts der beiden Elemente jeder Gesetzgebung (Gesetz und Triebfeder)¹⁴² unschwer erklären: Inneres Mein und Dein ist bereits a priori durch ein vernunftnotwendiges Gesetz bestimmt, sodass sich Gesetzgebung allein in Ansehung der Triebfeder in der Begründung einer Verbindlichkeit nach dem Gesetz erschöpft. Der Gesetzgeber ist hier nur Urheber der Verbindlichkeit nach dem Gesetz, nicht jedoch Urheber des Gesetzes selbst.¹⁴³ Anders beim äußeren Mein und Dein: Hier fehlt es zunächst an einer gesetzlichen Bestimmung, sodass sich die Gesetzgebung nicht nur auf die Triebfeder, sondern (keine Gesetzgebung ohne Gesetz!) auch auf die Konstitution des Gesetzes selbst erstreckt. Dies zeigt in diesem Zusammenhang anschaulich erneut das Reinschriftfragment „Loses Blatt Krakau“: Der Zwang welcher Menschen von Anderen gesetzlich angethan werden kan ist gegen sie als der Rechte fähige Wesen nicht anders möglich als vermittelst einer Gesetzgebung zu welcher die so gehorchen sollen ihre Stimme gegeben haben oder vielmehr nur durch den vereinigten Willen zum Gesetz gemacht worden. ¹⁴⁴
In dieser Passage unterscheidet Kant deutlich zwischen einer Gesetzgebung, die sich in der Begründung von Verbindlichkeiten erschöpft („zu welcher die so gehorchen sollen ihre Stimme gegeben haben“), und einer solchen, die zudem das zugrundeliegende Gesetz allererst konstituiert („vielmehr nur durch den vereinigten Willen zum Gesetz gemacht worden ist“). Dies wird im Ergebnis von Kant auch 1797 so in die Metaphysik der Sitten übernommen:
Zum Ganzen: RL, AA VI, S. 227. Vgl. dazu oben S. 50 f. Vgl. oben S. 126 f. und S. 222 f. Reinschriftfragment „Loses Blatt Krakau“, abgedruckt in Weyand und Lehmann 1959/1960, S. 7, Hervorhebung P.-A. H. Vgl. zum Krakauer Entwurf auch oben Kap. 6, Fn. 30 m. w. N.
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Überhaupt heißen die verbindenden Gesetze, für die eine äußere Gesetzgebung möglich ist, äußere Gesetze (leges externae). Unter diesen sind diejenigen, zu denen die Verbindlichkeit auch ohne äußere Gesetzgebung a priori durch die Vernunft erkannt werden kann, zwar äußere, aber n a t ü r l i c h e Gesetze; diejenigen dagegen, die ohne wirkliche äußere Gesetzgebung gar nicht verbinden (also ohne die letztere nicht Gesetze sein würden), heißen p o s i t i v e Gesetze.¹⁴⁵
Nur bei positiven Gesetzen, durch die äußeres Mein und Dein allererst geschaffen wird, bezieht sich Gesetzgebung auch auf das Gesetz selbst. In jedem Fall aber (und damit auch bei natürlichen Gesetzen, die dem inneren Mein und Dein zugrundeliegen) bezieht sich äußere Gesetzgebung auf die Begründung der Verbindlichkeit nach dem Gesetz. Dass bei natürlichen Gesetzen die „Verbindlichkeit auch ohne äußere Gesetzgebung a priori durch die Vernunft erkannt werden kann“, heißt lediglich, dass sie schon im Naturzustand aus innerer Gesetzgebung befolgt werden können. Anschaulich sagt Kant in Moralphilosophie-Mrongovius II hierzu: Im Naturzustand haben wir nur „innere Gesetze; ist aber kein Recht und keine Gewalt da. Da kein Mensch verbunden ist. nach andrer Urtheil zu handeln; so muß äußeres Gericht, Gewalt und Gesetz da sein“.¹⁴⁶ Soll es also in Ansehung natürlicher Gesetze und damit angeborener Rechte eine äußere Gesetzgebung geben, so muss auch diese staatlich verfasst sein. Vor dem Hintergrund dieser Ambiguität des Gesetzgebungsbegriffs bei Kant lässt sich nun erklären, inwiefern die sogenannte eigentumstheoretische Staatsbegründung nur ein Sonderfall der hier vorgestellten autonomietheoretischen Staatsbegründung ist: Ob sich äußere Gesetzgebung auf angeborene oder erworbene Rechte bezieht, ist im Hinblick auf die verbindlichkeitstheoretische Frage der Rechtsgeltung (d. h. der Begründung der Verbindlichkeit nach dem Gesetz)¹⁴⁷ irrelevant. Jegliches Recht lässt sich gegenüber anderen nur geltend machen, wenn diese die rechtsgesetzliche Verpflichtung (d. h. die äußere Triebfederbestimmung) als Selbstverpflichtung begreifen können. Dies ist – wie eingangs gezeigt –¹⁴⁸ nur im bürgerlichen Zustand möglich. Da äußeres Mein und Dein aber zusätzlich dazu eine positiv-rechtliche Gesetzesbegründung erfordert, erstreckt sich die autonomietheoretische Staatsbegründung auch auf diesen zweiten (beim inneren Mein und Dein fehlenden) Aspekt der Gesetzgebung. Daraus folgt: Die sittliche Notwendigkeit der Staatsbegründung hebt primär darauf ab, dass Rechte nur im und durch den Staat geltend gemacht werden können, und ist unabhängig von der Frage, ob es sich dabei um angeborene oder erworbene Rechte handelt.
RL, AA VI, S. 224. Moralphilosophie-Mrongovius II, AA XXIX, S. 632. Vgl. dazu schon oben S. 220 f. Vgl. zum Geltungsbegriff erneut oben S. 211 mit Fn. 2. Vgl. dazu eingehend oben S. 222– 247.
6.3 Staatlichkeit und das äußere Mein und Dein
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Letzteres bestätigt auch Kants Auseinandersetzung mit Hobbes in der Religionsschrift, wenn er davon spricht, dass „äußer[e] und öffentlich[e] Gesetz[e]“ immer auch zur Erhaltung des Rechts erforderlich sind, indem er den rechtlichen „Zustand (status iuridicus)“ als „das Verhältniß, in und durch welches sie [sc. die Menschen] der Rechte (des Erwerbs oder der Erhaltung derselben) fähig sind“, definiert.¹⁴⁹ Selbst wenn es kein äußeres Mein und Dein gäbe, wäre die Etablierung eines bürgerlichen Rechtszustands damit immer noch nötig, um bestehende angeborene Rechte im Wege äußerer Gesetzgebung legitimerweise gegenüber anderen behaupten bzw. erhalten zu können. Dass Kants autonomietheoretische Staatsbegründung mithin letztlich gegenüber der Unterscheidung von innerem und äußerem Mein und Dein indifferent ist, zeigt sich außerdem in der Argumentation von § 8: Kant betont, dass Rechtsgesetze als gemeinschaftliche moralische Gesetze begrifflich eine systematische Verbindung der Gesetzesunterworfenen erfordern, welche gleichwohl garantiert, dass sich ein jeder als selbstgesetzgebend begreifen kann. Denn übt jemand die Befugnis nach dem Erlaubnisgesetz aus und begründet ein Recht an äußeren Gegenständen, so liegt darin […] das Bekenntniß: jedem Anderen in Ansehung des äußeren Seinen wechselseitig zu einer gleichmäßigen Enthaltung verbunden zu sein; denn die Verbindlichkeit geht hier aus einer allgemeinen Regel des äußeren rechtlichen Verhältnisses hervor. Ich bin also nicht verbunden, das äußere Seine des Anderen unangetastet zu lassen,wenn mich nicht jeder Andere dagegen auch sicher stellt, er werde in Ansehung des Meinigen sich nach ebendemselben Princip verhalten; welche Sicherstellung gar nicht eines besonderen rechtlichen Acts bedarf, sondern schon im Begriffe einer äußeren rechtlichen Verpflichtung wegen der Allgemeinheit, mithin auch der Reciprocität der Verbindlichkeit aus einer allgemeinen Regel enthalten ist. – Nun kann der einseitige Wille in Ansehung eines äußeren, mithin zufälligen Besitzes nicht zum Zwangsgesetz für jedermann dienen, […] [sondern, P.-A. H.] nur ein jeden anderen verbindender, mithin collectiv allgemeiner (gemeinsamer) und machthabender Wille.¹⁵⁰
Wenn Kant hier davon spricht, dass die wechselseitige Sicherstellung „schon im Begriffe einer äußeren rechtlichen Verpflichtung […] enthalten“ sei,¹⁵¹ so ist dies kein Spezifikum des äußeren Mein und Dein. Alle moralischen Gesetze verlangen – wie bereits dargelegt –¹⁵² begrifflich eine systematische Verbindung der Gesetzesunterworfenen angesichts der Reziprozität¹⁵³ und Allgemeingültigkeit der durch sie entstehenden Verpflichtungen. Folglich gilt dies auch schon für das
Religion, AA VI, S. 97, Fn. *. RL, AA VI, S. 255 f., vgl. auch oben S. 280. RL, AA VI, S. 256, kursive Hervorhebung P.-A. H. Vgl. oben S. 233 – 240. Diesen Aspekt betont – obgleich mit anderer Interpretation – Hodgson 2010a, S. 68 – 78.
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
innere Mein und Dein nach Rechtsgesetzen. Bestehen äußere rechtliche Verpflichtungen – gleich welcher Art –, so impliziert dies eo ipso die Notwendigkeit einer systematischen Verknüpfung der Rechtssubjekte. D. h., die Pflicht zur Begründung eines bürgerlichen Rechtszustands folgt analytisch aus dem Begriff einer äußeren rechtlichen Verpflichtung. Der staatliche Souverän (die Vorstellung des vereinigten, gesetzgebenden Willens aller) ist erforderlich, um von „ein[em] Recht überhaupt“ sprechen zu können: Derselbe Wille aber kann doch eine äußere Erwerbung nicht anders berechtigen, als nur so fern er in einem a priori vereinigten (d.i. durch die Vereinigung der Willkür Aller, die in ein praktisches Verhältniß gegen einander kommen können) absolut gebietenden Willen enthalten ist; […] dazu wird ein a l l s e i t i g e r, nicht zufällig, sondern a priori, mithin nothwendig vereinigter und darum allein gesetzgebender Wille erfordert; denn nur nach dieses seinem Princip ist Übereinstimmung der freien Willkür eines jeden mit der Freiheit von jedermann, mithin ein Recht überhaupt, und also auch ein äußeres Mein und Dein möglich.¹⁵⁴
Kant führt also die Notwendigkeit des Staates ausdrücklich auf das Recht schlechthin zurück und weist äußeres Mein und Dein lediglich als einen besonderen Anwendungsfall aus. In diesem Sinne lässt sich auch Kants Differenzierung provisorisch – peremptorisch der Sache nach auf angeborene Rechte übertragen. Klarerweise kann der Begriff eines peremptorischen äußeren Mein und Dein, insofern er sich auf die positivrechtliche Ausgestaltung von Besitzrechten bezieht, im Hinblick auf das innere Mein und Dein kein Gegenstück haben. Erworbene Rechte erhalten ihre Verbindlichkeit erst durch den Staat. Hingegen bestehen angeborene Rechte qua Menschheit und sind geltungstheoretisch der Staatlichkeit vorgelagert. Jedoch lässt sich – analog zur doppelten Betrachtung des Gesetzgebungsbegriffs –¹⁵⁵ vom genuin positivrechtlichen Aspekt der Unterscheidung provisorisch – peremptorisch abstrahieren, um hernach mit dieser Differenzierung allein die Frage der Verfasstheit von rechtsgesetzlichen Rechten und Pflichten in den Blick zu nehmen: Wollte man vor Eintretung in den bürgerlichen Zustand gar keine Erwerbung, auch nicht einmal provisorisch für rechtlich erkennen, so würde jener selbst unmöglich sein. Denn der Form nach enthalten die Gesetze über das Mein und Dein im Naturzustande ebendasselbe, was die im bürgerlichen vorschreiben […]: nur daß im letzteren die Bedingungen angegeben
RL, AA VI, S. 263, fette Hervorhebung P.-A. H. Vgl. zur begrifflichen Notwendigkeit auch RL, AA VI, S. 307, fette Hervorhebung P.-A. H.: „Der Grund davon [sc. der Notwendigkeit eines bürgerlichen Rechtszustands] läßt sich analytisch aus dem Begriffe des R e c h t s im äußeren Verhältniß im Gegensatz der G e w a l t (violentia) entwickeln.“ Vgl. dazu schon oben S. 216 f., 221 f. sowie ausführlich unten S. 300 – 305. Vgl. oben S. 287 f.
6.3 Staatlichkeit und das äußere Mein und Dein
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werden, unter denen jene zur Ausübung (der distributiven Gerechtigkeit gemäß) gelangen. – Es würde also, wenn es im Naturzustande auch nicht p r o v i s o r i s c h ein äußeres Mein und Dein gäbe, auch keine Rechtspflichten in Ansehung desselben, mithin auch kein Gebot geben, aus jenem Zustande herauszugehen.¹⁵⁶
Hiernach erschöpft sich Staatlichkeit nicht in der Konstitution von Eigentum durch positive Gesetze. Vielmehr enthält der bürgerliche Zustand überdies die Bedingungen, „unter denen jene zur Ausübung (der distributiven Gerechtigkeit gemäß) gelangen“. Wenn man auf die Geltendmachung von Rechten bzw. die Rechtsdurchsetzung abstellt, sichert Staatlichkeit im Wege äußerer Gesetzgebung angeborene wie erworbene Rechte gleichermaßen und macht sie damit peremptorisch. Im Naturzustand lässt sich insofern (wir gelangen hier an die Grenze der Interpretierbarkeit des Kantischen Textes) auch das innere Mein und Dein als provisorisch qualifizieren, denn für Kant ist „der letzte Zweck alles öffentlichen Rechts“ der bürgerliche Rechtszustand, „in welchem allein jedem das Seine p e r e m t o r i s c h zugetheilt werden kann“. Ohne diesen besteht „nur ein p r o v i s o r i s c h e s inneres Recht und kein absolut-rechtlicher Zustand der bürgerlichen Gesellschaft“.¹⁵⁷ Solange kein bürgerlicher Zustand besteht, ist alles Recht (gleichgültig, ob angeboren oder erworben) nur provisorisch. Eine indirekte Bestätigung dieser Lesart finden wir im Völkerrecht, wo die Unterscheidung provisorisch – peremptorisch auf das Recht allgemein bezogen wird, welches Kant vom äußeren Mein und Dein der Staaten unterscheidet: Da der Naturzustand der Völker eben so wohl als einzelner Menschen ein Zustand ist, aus dem man herausgehen soll, um in einen gesetzlichen zu treten: so ist vor diesem Ereigniß alles Recht der Völker und alles durch den Krieg erwerbliche oder erhaltbare äußere Mein und Dein der Staaten bloß p r o v i s o r i s c h und kann nur in einem allgemeinen S t a a t e n -
RL, AAVI, S. 312. Dass sich Kant hier allein auf das äußere Mein und Dein bezieht, erklärt sich daraus, dass es sich vorliegend um eine Anmerkung (s. die Einrückung im Text) handelt. Diesbezüglich hatte Kant in der „Vorrede“ (RL, AAVI, S. 205 f.) ausgeführt, dass „das Recht, was zum a priori entworfenen System gehört, in den Text, die Rechte aber, welche auf besondere Erfahrungsfälle bezogen werden, in zum Theil weitläuftige Anmerkungen“ gebracht werden. Daher ist die vorliegende Anmerkung lediglich als Exemplifizierung einer für Recht schlechthin gültigen Theorie zu bewerten, die sich an dieser Stelle deswegen nur auf das äußere Mein und Dein bezieht, weil das Öffentliche Recht insgesamt auf Grund der Architektonik der Rechtslehre stets hierauf bezogen ist (vgl. dazu oben S. 250 – 252). Mithin würde ohne ein provisorisches Äußeres Mein und Dein die Staatsnotwendigkeit nicht schlechthin entfallen, sondern – wie Kant ausdrücklich betont – nur „in Ansehung desselben“. Insofern widerspricht diese Passage daher nicht einer weitergehenden Anwendbarkeit der Theorie auch auf das innere Mein und Dein. RL, AA VI, S. 341.
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
v e r e i n (analogisch mit dem,wodurch ein Volk Staat wird) p e r e m t o r i s c h geltend und ein wahrer F r i e d e n s z u s t a n d werden.¹⁵⁸
Desweiteren knüpft Kant die sittliche Notwendigkeit des Staates schlechthin an das Vorhandensein naturrechtlicher Ansprüche. Nur weil es im Naturzustand schon angeborene Rechte (inneres Mein und Dein) bzw. die moralische Befugnis zur Besitzbegründung (provisorisches äußeres Mein und Dein) gibt, entsteht allererst die moralische Notwendigkeit einer systematischen Verfasstheit der Rechtssubjekte. Ohne diese würde es „auch kein Gebot geben, aus jenem Zustand herauszugehen“.¹⁵⁹ Dies trifft jedoch in Ansehung angeborener wie erworbener Rechte gleichermaßen zu. Im Ergebnis lässt sich mithin festhalten, dass Kants sogenannte eigentumstheoretische Staatsbegründung nicht im Widerspruch zur hier aufgezeigten autonomietheoretischen Staatsbegründung steht. Vielmehr stellt sie deren konsequente Erweiterung dar, insofern sie nicht nur die Geltendmachung bzw. Durchsetzung erworbener Rechte, sondern (im Unterschied zu angeborenen Rechten) bereits deren positiv-rechtliche Konstitution auf den Willen des verpflichteten Subjekts zurückführt. Damit bleibt der autonomietheoretische Grundgedanke in Kants Argumentation unverändert, sodass Kants Ausführungen in den §§ 8 und 9 der Rechtslehre die Richtigkeit der in Kapitel 5 systematisch rekonstruierten Konzeption sogar indirekt belegen.
6.4 Das öffentliche Recht und die autonomietheoretische Fundierung staatlicher Herrschaft Bisher konnte gezeigt werden, dass Kants Staatslegitimation sowohl in Ansehung angeborener als auch in Ansehung erworbener Rechte im Kern von einer autonomietheoretischen Argumentation getragen wird. Der rechtliche Zustand ist die notwendige Realisationsbedingung für die Koexistenz autonomer Vernunftwesen, weil sich jedes vernunftrechtlich legitimierte Recht (gleichgültig, ob angeboren oder erworben) nur im und durch den Staat geltend machen lässt. Nur unter Bedingungen von Staatlichkeit kann rechtliche Fremdverpflichtung als autonome Selbstverpflichtung begriffen werden, weil die Geltendmachung von Rechten durch den Staat als vereinigtem gesetzgebenden Willen aller erfolgt. Die eigentumstheoretische Staatsbegründung der §§ 8 und 9 der Rechtslehre dehnt diesen
RL, AA VI, S. 330, Hervorhebung P.-A. H. RL, AA VI, S. 312.
6.4 Das öffentliche Recht
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Gedanken lediglich auf die positiv-rechtliche Konstitution erworbener Rechte aus. Bei der nun folgenden Untersuchung des Öffentlichen Rechts, dem sich Kant ab § 41 der Rechtslehre widmet, gilt es nun zu zeigen, dass auch dieses von diesem autonomietheoretischen Grundgedanken bestimmt ist.
6.4.1 Kants Prinzip einer öffentlichen Gerechtigkeit Laut § 41 der Rechtslehre enthält der rechtliche Zustand die Bedingungen, unter denen Menschen im Verhältnis zueinander ihres Rechts teilhaftig werden können. Die öffentliche Gerechtigkeit ist nun „das formale Princip der Möglichkeit“ dieses rechtlichen Zustandes, d. h. ohne öffentliche Gerechtigkeit lässt sich kein rechtlicher Zustand etablieren. Dabei weist Kant die öffentliche Gerechtigkeit als „Idee eines allgemein gesetzgebenden Willens“ aus und unterteilt sie sodann in Bezug auf ein äußeres Mein und Dein nach den Modalitätskategorien (Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit) in: die b e s c h ü t z e n d e (iustitia tutatrix), die w e c h s e l s e i t i g e r w e r b e n d e (iustitia commutativa) und die a u s t h e i l e n d e G e r e c h t i g k e i t (iustitia distributiva) […]. – Das Gesetz sagt hiebei e r s t e n s bloß, welches Verhalten innerlich der Form nach r e c h t ist (lex iusti); z w e i t e n s , was als Materie noch auch äußerlich gesetzfähig, d.i. dessen Besitzstand r e c h t l i c h ist (lex iuridica); d r i t t e n s , was und wovon der Ausspruch vor einem Gerichtshofe in einem besonderen Falle unter dem gegebenen Gesetze diesem gemäß, d.i. R e c h t e n s ist (lex iustitiae) […].¹⁶⁰
Diese Passage – welche in der Kant-Forschung selten systematisch eingehend aufgearbeitet wird –¹⁶¹ beschreibt die Konstitutionsprinzipien von Staatlichkeit, wobei die beiden Dreiteilungen (einerseits drei Aspekte der öffentlichen Gerechtigkeit, andererseits drei leges als Ausprägungen des Gesetzes) aufeinander bezogen sind: Im bürgerlichen Rechtszustand bestimmt das Gesetz, unter welchen Bedingungen ein äußeres Mein und Dein möglich, wirklich und notwendig ist. Der Bezug dieser Dreiteilungen zur vorherigen Behandlung des äußeren Mein und Dein im Privatrecht lässt sich rasch finden: Kant verweist hiermit auf nichts anderes als das Prinzip einer jeden äußeren Erwerbung. Denn die Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit eines äußeren Mein und Dein lassen sich be-
Zum Ganzen: RL, AA VI, S. 306. Vgl. zum Ursprung des Begriffs öffentliche Gerechtigkeit und ihrer dreifachen Ausprägung bei Kant Hruschka 2015, S. 27– 31. Eine tiefergehende Behandlung findet sich lediglich bei Byrd und Hruschka 2011, S. 23 – 76. Im Übrigen wird die Passage nicht näher oder (z. B. bei Ludwig 1988, S. 154 f. und Friedrich 2004, S. 159 f.) allenfalls in Ansätzen untersucht.
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
stimmen durch das Axiom der äußeren Freiheit, das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft und die allgemeine Gesetzgebung unter dem vereinigten Willen aller.¹⁶² Verdeutlicht wird dies auch durch Kants Bestimmung der drei Gesetze (lex iusti, lex iuridica, lex iustitiae): Die lex iusti bezieht sich auf die Möglichkeit eines äußeren Mein und Dein und verlangt hierfür, dass das Verhalten der Form nach innerlich recht ist. Sie beschreibt damit lediglich das abstrakte Verhältnis der wechselseitigen Willkür, wie es a priori durch das allgemeine Rechtsprinzip bzw. Rechtsgesetz rein formell (d. h. ohne Ansehung eines bestimmten Gegenstands der Willkür) bestimmt wird. Es geht damit zunächst um das innere Mein und Dein, da dieses allein durch die allgemeingesetzliche Kompatibilität des äußeren Freiheitsgebrauchs definiert wird.¹⁶³ Wie gezeigt erfordert jedoch auch jede äußere Erwerbung (und damit jedes äußere Mein und Dein) als ersten Schritt, dass ich ein Objekt „(nach dem Gesetz der äußeren F r e i h e i t ) in meine G e w a l t bringe“.¹⁶⁴ Dies ist das von Kant im Privatrecht ausgewiesene Axiom des Rechts bzw. Axiom der äußeren Freiheit.¹⁶⁵ Folglich formuliert die lex
Vgl. dazu oben S. 282 f. Ludwig 1988, S. 154 f. möchte die drei Gerechtigkeiten bzw. leges auf die Architektonik des Privatrechts als solchem beziehen und daraus ableiten. Danach ist die lex iusti das Prinzip des ersten Hauptstücks („Bestimmung bzw. Sicherung des äußeren Mein und Dein durch den allgemein gesetzgebenden Willen“), die lex iuridica das Prinzip des zweiten („Regelung der Erwerbsmodalitäten in der wechselseitigen Beziehung der Rechtssubjekte“) sowie die lex iustitiae das Prinzip des dritten Hauptstücks („Rechtsspruch, der bestimmt, was im vorliegenden Falle rechtens ist“). Vgl. wohl ähnlich, ohne dies aber ausdrücklich auszuweisen, Byrd und Hruschka 2011, S. 39. Hiergegen spricht jedoch zum einen, dass Kant den vereinigten Willen eindeutig der iustitia distributiva und damit allenfalls dem Prinzip der lex iustitiae zuweist.Vgl. RL, AAVI, S. 267 und VA RL, AA XXIII, S. 281. Zum anderen bezieht Kant die lex iusti – der einheitlichen Verwendung in den Vorarbeiten nach zu schließen – im Rahmen der ursprünglichen Erwerbung eindeutig auf die Notwendigkeit einer physischen Besitzbegründung, die die allgemeingesetzliche Freiheit nicht verletzt. D. h., er bezieht sie nur auf das Axiom des Rechts bzw. das Axiom der äußeren Freiheit.Vgl. VA RL, AA XXIII, S. 249, 256 und S. 324 sowie indirekt auch RL, AA VI, S. 267. Ohne diesen Bezug lässt sich im Übrigen auch nicht erklären, warum Kant die lex iusti verbindlichkeitstheoretisch der inneren Rechtspflicht des honeste vive zugrundelegen kann (vgl. RL, AA VI, S. 236, vollständig zitiert oben S. 170). Daher lassen sich die drei leges nicht aus der Architektonik des Privatrechts als solchem herleiten. Entsprechend definiert Kant in RL, AA VI, S. 254 „meine äußere F r e i h e i t , mithin nur den Besitz meiner selbst,“ als „nur ein inneres Recht“. Ein äußeres Recht ist demgegenüber ein erworbenes Recht und liegt erst vor, wenn ein Gegenstand der Willkür intelligibel, ohne Ansehung des inneren Mein und Dein besessen wird. Vgl. auch oben S. 272 f. RL, AA VI, S. 258. Entgegen Byrd und Hruschka 2011, S. 10 f., 62– 67 und S. 80 f. gebraucht Kant die Termini Axiom des Rechts und Axiom der äußeren Freiheit synonym. Dies ergibt sich bereits aus der Definition des moralischen Rechtsbegriffs in § B sowie des allgemeinen Rechtsgesetzes in § C der „Einleitung in die Rechtslehre“ (vgl. RL, AA VI, S. 230 f. sowie hierzu oben S. 55 – 60). Hiernach ist
6.4 Das öffentliche Recht
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iusti das formale Prinzip und damit die Möglichkeitsbedingung jeden Rechts, nämlich: Freiheit muss allgemein-gesetzlich kompatibel sein. Demgegenüber bezieht sich die lex iuridica auf die Wirklichkeit eines äußeren Mein und Dein. Hier geht es nicht mehr um die Form der Willkür (genauer des wechselseitigen Willkürverhältnisses), sondern um die Materie der Willkür, d. h. um äußere Gegenstände.¹⁶⁶ Diese sind äußerlich gesetzfähig, wenn sie ein möglicher Gegenstand äußerer Gesetzgebung sind, d. h. in Form eines (äußeren) Zwangsrechts rechtlich besessen und erworben werden können.¹⁶⁷ Maßgeblich hierfür ist das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft, demzufolge bereits im Naturzustand ein wirkliches äußeres Mein und Dein begründet werden kann. Dieses ist vorerst nur provisorisch; und so spricht Kant auch nur davon, dass etwas der Materie nach äußerlich gesetzfähig ist: Hier fehlt es noch an einer positiv-gesetzlichen Bestimmung, obwohl bereits wirklich ein komparativ-rechtlicher Besitzstand äußerer Gegenstände der Willkür vorliegt. Schließlich beschreibt die lex iustitiae, dass allein im bürgerlichen Zustand des vereinigten gesetzgebenden Willens aller ein äußeres Mein und Dein als bloß-rechtlicher Besitz peremptorisch begründet werden kann. Denn erst hier liegt eine notwendige rechtliche Zuordnung äußerer Gegenstände vor, die ermöglicht, Recht allgemein verbindlich zu adjudizieren und festzustellen, was dem Gesetz nach im Einzelfall rechtens ist. Doch lassen sich Kants Ausführungen zu lex iusti, lex iuridica und lex iustitiae nicht nur auf das äußere, sondern auch auf das innere Mein und Dein beziehen? Die Einteilung der praecepta iuris aus der „Einleitung in die Rechtslehre“, welche genau die Trias (lex iusti, lex iuridica und lex iustitiae) aufweist, scheint dies nahezulegen.
Recht der Inbegriff der allgemeingesetzlichen Einschränkung des äußeren Freiheitsgebrauchs; eine Rechtsverletzung ist entsprechend jede Handlung, die nicht mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen bestehen kann. Außerdem verweist Kant im Rahmen der ursprünglichen Erwerbung mit dem Axiom der Freiheit in den §§ 16 f. (RL, AAVI, S. 267 f.) auf die Notwendigkeit einer physischen Besitzbegründung, die die allgemeingesetzliche Freiheit nicht verletzt. Ebendiese ist es jedoch, welche in § 6 (RL, AA VI, S. 250) das Axiom des Rechts ausmacht. Jede darüber hinausgehende Differenzierung, wie etwa von Byrd und Hruschka vorgeschlagen, lässt sich angesichts dessen textlich nicht rechtfertigen. Vgl. zu den möglichen äußeren Gegenständen der Willkür RL, AA VI, S. 247 und dazu oben S. 273. Vgl. auch VA RL, AA XXIII, S. 256, wonach die lex iuridica die Möglichkeit einer äußeren Gesetzgebung betrifft: „Der categorische Imperativ in Ansehung des äußeren Mein und Dein ist ein Rechtsgesetz (lex iuris) und sofern dieses auch äußerlich als ein solches gegeben werden kan ein rechtliches Gesetz (lex iuridica); dagegen der blos analytische Satz der nur auf die Nichtverletzung der Freyheit im äußern Gebrauch der Willkühr geht das Gesetz der Rechtmäßigkeit (lex iusti) genannt wird und unmittelbar nur das innere Mein und Dein betrift, und zwar die Bedingung a priori von aller Erweiterung des äußeren Mein und Dein enthält an sich selbst aber nicht erweiternd ist.“ (fette Hervorhebung, P.-A. H.).
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Sie bezieht sich auf das Recht schlechthin, ohne zwischen innerem und äußerem Mein und Dein zu differenzieren. Inwiefern geben nun die drei leges – nach Maßgabe des § 41 – die Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit von Recht überhaupt wieder? Bei der lex iusti lässt sich dies unschwer bestimmen, da sie auf das formale Prinzip und damit die Möglichkeitsbedingung jeden Rechts überhaupt verweist: Freiheit muss allgemein-gesetzlich kompatibel sein. Dies erfordert jedoch zum einen die innere Allgemeinheit des Freiheitsgebrauchs, die darin besteht, dass der eigene Freiheitsgebrauch mit sich selbst nach einem allgemeinen Gesetz übereinstimmt. Zum anderen ist die äußere Allgemeinheit des Freiheitsgebrauchs geboten, die darin besteht, dass der eigene Freiheitsgebrauch mit der Freiheit anderer übereinstimmt. Entsprechende Erwägungen Kants finden sich in einer Reflexion, in der es heißt: „Jene [sc.vollkommenen Pflichten] beruhen blos auf der form der handlungen, nemlich der freyheit, die in ihrer äußern und innern allgemeinheit betrachtet mit sich selbst bestehen kan.“¹⁶⁸ Überträgt man dies auf Kants Rechtsbegriff, insofern er eine allgemeingesetzliche Kompatibilität der Willkürfreiheit fordert, ist innere Allgemeinheit originärer Gegenstand innerer Rechtspflichten. Äußere Allgemeinheit ist Gegenstand äußerer Rechtspflichten, und zwar nicht nur im Hinblick auf angeborene Rechte (Wahrung des angeborenen Mein und Dein des anderen), sondern – wie oben für die Rechtslehre gezeigt wurde – auch bezüglich erworbener Rechte (als erster Schritt der Begründung eines äußeren Mein und Dein nach dem Axiom des Rechts).¹⁶⁹ Folglich lässt sich allgemein sagen: Recht ist überhaupt nur dort möglich, wo die Freiheit mit sich selbst (sei es in der eigenen Person oder der des anderen) nach einem allgemeinen Gesetz übereinstimmt. Dies ist die rein formelle Bestimmung dessen, was recht ist.¹⁷⁰ Ein Verhalten, was der Form nach recht ist, ist jedoch nicht deckungsgleich mit dem, was nach der lex iuridica äußerlich gesetzfähig ist. Äußerlich gesetzfähig ist nur, was Gegenstand äußerer Gesetzgebung sein kann. Dies ist gleichbedeutend mit dem, was möglicher Gegenstand eines äußeren rechtlichen Zwanges ist bzw. rechtlich äußerlich erzwungen werden kann.¹⁷¹ Die Rede von formaler Rechtmäßigkeit und äußerer Gesetzfähigkeit spiegelt damit den Unterschied wider, den Kant Refl. 7309, AA XIX, S. 308. Vgl. oben S. 282 f. sowie VA RL, AA XXIII, S. 256 (vollständig zitiert oben Kap. 6, Fn. 167). Hiermit bildet die lex iusti gleichzeitig den Bestand an Rechten ab, welcher – wie im Vorherigen ausgeführt (vgl. oben S. 204 f.) – unmittelbar aus dem Recht der Menschheit folgt. Diese ursprünglichen Rechte sind mithin der Staatlichkeit geltungstheoretisch vorgelagert. Insofern ist es verfehlt, wie Byrd und Hruschka 2011, S. 53 f. es tun, die lex iusti auch auf positives Recht zu beziehen. Die lex iusti beschreibt eben nicht das anwendbare Recht schlechthin, sondern die ursprüngliche Rechtsposition, die jedem Menschen qua Menschheit zukommt und als solche Möglichkeitsbedingung weiterer Rechtsbegründung (mithin positiver Gesetzgebung) ist. Vgl. zum Verhältnis von äußerer Gesetzgebung und äußerem Zwang auch unten S. 323 – 325.
6.4 Das öffentliche Recht
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in der Metaphysik der Sitten-Vigilantius mit der Unterscheidung von Rechtspflichten und rechtlichen Pflichten gemacht hat.¹⁷² Nicht jede Rechtspflicht (namentlich nicht die inneren Rechtspflichten) ist möglicher Gegenstand äußerer Gesetzgebung. Die lex iuridica, die Kant in § 41 und in der praecepta iuris-Passage erwähnt, weist also allgemein die moralisch möglichen Zwangspflichten aus, welche nach Kant einer äußeren Gesetzgebung bzw. Nötigung fähig sind, weil ihnen das (Zwangs‐)Recht eines anderen korrespondiert.¹⁷³ Und nur wo Zwang moralisch möglich ist, ist Recht (gleichgültig ob angeboren oder erworben) auch wirklich.¹⁷⁴ Schließlich besagt die lex iustitiae, dass für alle möglichen Zwangsrechte (d. h. für die Rechte, für die eine äußere Gesetzgebung möglich ist) eine wirkliche äußere Gesetzgebung etabliert wird. Diese erfolgt im Staat durch den vereinigten Willen aller und ermöglicht so nicht nur die Konstitution positiver Gesetze (mit Blick auf ein peremptorisches äußeres Mein und Dein), sondern auch die autonomietheoretisch zulässige Durchsetzung jeglichen Rechts, welche für eine notwendige
Vgl. oben S. 193 – 198. Freilich lässt sich hier wieder fragen, ob diese Unterscheidung bei Kant sachlich gerechtfertigt werden kann, vgl. dazu oben S. 198 – 203. Vgl. auch VA RL, AA XXIII, S. 257: „Rechtsgesetz (lex iuridica) ist das was als aus der Willkühr eines anderen Gesetzgebers entsprungen angesehen werden kann.“ Vgl. ebenso VA RL, AA XXIII, S. 256 (vollständig zitiert oben Kap. 6, Fn. 167) und S. 386: „Die Moral besteht aus der Rechtslehre (doctrina iusti) und der Tugendlehre (doctrina honesti) jene heißt auch ius im allgemeinen Sinne, diese Ethica in besondrer Bedeutung (denn sonst bedeutet auch Ethic die ganze Moral).“ Die hier angesprochene doctrina iusti beschreibt das, was Kant in der Rechtslehre die lex iusti nennt: Den Gesamtbestand der Rechte und Pflichten, die aus der allgemeingesetzlichen Einschränkung der Freiheit resultieren. D. h. das „ius im allgemeinen Sinne“, welches neben den erzwingbaren äußeren Rechtspflichten auch die nicht erzwingbaren inneren Rechtspflichten umfasst. Die lex iuridica meint hingegen ausschließlich die erzwingbaren äußeren Rechtspflichten. Nicht korrekt erscheint in diesem Zusammenhang die von Byrd und Hruschka 2011, S. 44– 62 vorgeschlagene Parallelisierung von lex iusti – lex iuridica mit der ursprünglich von Achenwall stammenden Differenzierung status originarius – status adventitius. Hiervon ausgehend argumentieren Byrd und Hruschka 2011, S. 52– 54: „[T]he distinction between the lex iusti and the lex iuridica is simply the distinction between the law, which defines what is legally relevant, and the legally relevant facts and circumstances themselves to which the law can be applied. […] The lex iuridica is thus what constitutes the adventitious state […].“ Zwar unterscheidet auch Kant status originarius und status adventitius am Kriterium eines factum iuridicum, vgl. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1338. Jedoch wird dabei nicht die Anwendung von Recht auf relevante Tatsachen beschrieben (so Byrd/Hruschka), sondern es werden lediglich angeborene von erworbenen Rechten abgegrenzt, vgl. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1338 – 1340: „Status originalis ist der, der vor allem facto juridico vorhergeht. Status adventitius ist das Recht, das aus einem facto juridico entspringt. […] Jura connata sind ante factum juridicum.“ Im status adventitius entstehen hingegen Rechte „entweder mir durch ein factum justum oder einem andern, durch ein factum injustum oder Laesion. – Da erwerbe ich mir Rechte oder kontrahire Pacta.“
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
Geltung¹⁷⁵ des Rechts (sei es angeboren oder erworben) erforderlich ist. Anschaulich zeigt dies eine Stelle aus den Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten: Zuerst der Rechtsbegrif. 1. Das R e c h t s e y n (regula iusti) die M ö g l i c h k e i t der Handlung nach Freyheitsgesetzen – die Formel der Gerechtigkeit (iustitiae) überhaupt. 2. Ein Recht (dergleichen es mehre geben kann) h a b e n die W i r k l i c h k e i t des Privatrechts jedes Einzelnen im Verhältnis gegen anderer äußeren Recht; also die Gerechtigkeit in statu naturali. (lex iuridica) 3. Im rechtlichen Zustande seyn lex iustitiae distributiuae das Erwerbrecht das Besitzrecht, die N o t h w e n d i g k e i t des Gebrauchs des Rechts durch den allgemeinen Willen lex iustitiae distributiuae. ¹⁷⁶
Kants Hinweis auf die „N o t h w e n d i g k e i t des Gebrauchs des Rechts durch den allgemeinen Willen“ macht deutlich, dass der bürgerliche Zustand gerade auch ¹⁷⁷ dazu dient, die Durchsetzung vernunftrechtlicher Ansprüche allgemein verbindlich zu machen. Im Naturzustand hing diese noch von der privaten Meinung des Einzelnen ab und war damit notwendig unilateral. Erst eine distributive Gerechtigkeit ermöglicht eine autonomietheoretisch zulässige äußere Gesetzgebung, nach der die Geltendmachung rechtsgesetzlicher Rechte und Pflichten in verfassungsmäßiger Form vom vereinigten Willen aller abhängt. Dabei sei an dieser Stelle noch angemerkt, dass Kant begrifflich zwischen der distributiven und der öffentlichen Gerechtigkeit differenziert: Zwar kann es distributive Gerechtigkeit nur als öffentliche Gerechtigkeit geben, d. h. sie entsteht erst durch Etablierung des bürgerlichen Rechtszustands. Gleichzeitig werden hierdurch aber auch die beiden anderen, bereits im Naturzustand bestehenden »Gerechtigkeitsprinzipien« transformiert, indem auch sie Teile einer öffentlichen Gerechtigkeit werden.¹⁷⁸ Daher hat Kant schon immer bereits im Naturzustand eine iustitia commutativa anerkannt und den Unterschied zum bürgerlichen Zustand über die iustitia distributiva bestimmt: „Das summum imperium hat nicht nöthig, sein Recht zu beweisen, weil kein forum ist, was darüber valide urtheilen
Vgl. zum Geltungsbegriff erneut oben S. 211 mit Fn. 2. VA RL, AA XXIII, S. 281. Wie gezeigt ist Staatlichkeit darüber hinaus für die Konstitution positiver Gesetze erforderlich, vgl. oben S. 285 – 288. Vgl. wohl ähnlich Friedrich 2004, S. 160. So wird in § 41 der Rechtslehre (RL, AAVI, S. 306) der „b ü r g e r l i c h e [Zustand] (status civilis)“ einerseits als Zustand einer „unter einer distributiven Gerechtigkeit stehenden Gesellschaft“ definiert. Andererseits macht ebendiese distributive Gerechtigkeit nur einen Teil der öffentlichen Gerechtigkeit aus, weil letztere „in die b e s c h ü t z e n d e (iustitia tutatrix), die w e c h s e l s e i t i g e r w e r b e n d e (iustitia commutativa) und die a u s t h e i l e n d e Gerechtigkeit (iustitia distributiva) eingetheilt werden kann“.
6.4 Das öffentliche Recht
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kann und ienes selbst erstlich iustitiam distributivam ausmacht. In statu naturali ist nur iustitia commutativa aber nicht distributiva.“¹⁷⁹ Es ist im Naturzustand also nicht etwa so, dass es keinen Gesetzgeber und Richter gäbe. Im Gegenteil: Jeder ist Gesetzgeber und Richter in eigener Person.¹⁸⁰ Die Etablierung einer austeilenden Gerechtigkeit durch den bürgerlichen Zustand transformiert lediglich die private Rechtsgeltung in eine öffentliche, die intersubjektive Gültigkeit beanspruchen kann, weil sie eine äußere Gesetzgebung des vereinigten Willens aller ist. So heißt es in der Rechtslehre: Der nicht-rechtliche Zustand, d.i. derjenige, in welchem keine austheilende Gerechtigkeit ist, heißt der natürliche Zustand (status naturalis). Ihm wird nicht der gesellschaftliche Zustand […], sondern der b ü r g e r l i c h e (status civilis) einer unter einer distributiven Gerechtigkeit stehenden Gesellschaft entgegen gesetzt […]. Man kann den ersteren und zweiten Zustand den des P r i v a t r e c h t s , den letzteren und dritten aber den des ö f f e n t l i c h e n R e c h t s nennen. Dieses enthält nicht mehr oder andere Pflichten der Menschen unter sich, als in jenem gedacht werden können; die Materie des Privatrechts ist eben dieselbe in beiden. Die Gesetze des letzteren betreffen also nur die rechtliche Form ihres Beisammenseins (Verfassung), in Ansehung deren diese Gesetze nothwendig als öffentliche gedacht werden müssen.¹⁸¹
Die Rechtsgeltung hängt im Naturzustand (sowohl im status naturalis originalis als auch im status naturalis adventitius)¹⁸² von der privaten Beurteilung des Einzelnen ab, sodass hier vom Zustand des Privatrechts gesprochen wird. Erst mit Staatserrichtung und der Etablierung einer distributiven Gerechtigkeit kann man von einem öffentlichen Recht bzw. einer öffentlichen Gerechtigkeit sprechen, wonach die ehemals private Geltung von Rechten sowohl in Ansehung äußerer Rechts-
Refl. 7903, AA XIX, S. 3545. Vgl. auch Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1337 und S. 1390. Auch in der Rechtslehre (RL, AA VI, S. 302) definiert Kant das, „was (im Naturzustande) unter Menschen nach Principien der Gerechtigkeit im Verkehr derselben untereinander […] a n s i c h Rechtens sei“ als „iustitia commutativa“.Vgl. implizit ebenso RL, AAVI, S. 297 und S. 306. Insofern hat schon Dulckeit 1973, S. 38 zutreffend darauf hingewiesen, dass die „austeilende Gerechtigkeit […] beim Recht im Naturzustande fehlt, während die beiden anderen vorhanden sind“. Gegenläufige Kritik von Ludwig 1988, S. 160, Fn. 128 (ähnlich wohl Byrd und Hruschka 2011, S. 32 f.) ist mithin zurückzuweisen. Vgl. nur Kants Schilderung des Naturzustands in RL, AAVI, S. 312; MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 589 f. sowie in Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1337 und S. 1381 f. RL, AA VI, S. 306. Kant unterscheidet in Auseinandersetzung mit einer Achenwall’schen Distinktion innerhalb des Naturzustands zwischen angeborenen und erworbenen Rechten und bezeichnet ersteren als ursprünglichen Zustand (status originalis) und letzteren als gesellschaftlichen Zustand (status adventitius). Beide sind daher als nicht-rechtliche Zustände dem bürgerlichen Zustand gegenübergestellt.Vgl. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1338 – 1340, teilw. zitiert oben Fn. 174, sowie zu dieser Frage auch Byrd und Hruschka 2011, S. 48 – 51.
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
pflichten (lex iuridica nach dem Prinzip neminem laede) als auch innerer Rechtspflichten (lex iusti und honeste vive als einschränkende Bedingungen äußerer Rechtsausübung und Prinzipien positivrechtlicher Gesetzgebung) nunmehr öffentlich-rechtlich und allgemeinverbindlich ausgestaltet wird.
6.4.2 Das Postulat des öffentlichen Rechts Die eigentliche Begründung, warum der Übergang vom nicht-rechtlichen Naturzustand in den bürgerlichen Rechtszustand moralisch geboten ist, erfolgt in § 42 der Rechtslehre. Kant spricht diesbezüglich von einem Postulat des öffentlichen Rechts: Aus dem Privatrecht im natürlichen Zustande geht nun das Postulat des öffentlichen Rechts hervor: du sollst im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins mit allen anderen aus jenem heraus in einen rechtlichen Zustand, d.i. den einer austheilenden Gerechtigkeit übergehen. – Der Grund davon läßt sich analytisch aus dem Begriffe des R e c h t s im äußeren Verhältniß im Gegensatz der G e w a l t (violentia) entwickeln.¹⁸³
6.4.2.1 Das Postulat als Ausdruck der autonomietheoretischen Staatsbegründung Kants Allgemein bestimmt Kant ein Postulat als „ein[en] praktische[n], unmittelbar gewisse[n] Satz oder ein Grundsatz, der eine mögliche Handlung bestimmt“.¹⁸⁴ Von einem Postulat spricht Kant aber auch, insofern sich der Gebotscharakter eines solchen praktischen Imperativs (Postulat erster Ordnung) auch auf dessen Bedingungen erstreckt, die (gleichsam in zweiter Ordnung) ebenso postuliert werden: Wenn nun entweder, daß etwas sei oder geschehen solle, ungezweifelt gewiß, aber doch nur bedingt ist: so kann doch entweder eine gewisse bestimmte Bedingung dazu schlechthin nothwendig sein, oder sie kann nur als beliebig und zufällig vorausgesetzt werden. Im ersteren Falle wird die Bedingung postulirt (per thesin), im zweiten supponirt (per hypothesin).¹⁸⁵
RL, AA VI, S. 307. Logik, AA IX, S. 112. KrV, A 633/B 661. Vgl. explizit auf den kategorischen Imperativ bezugnehmend auch Refl. 6109, AA XVIII, S. 457: „Es Giebt aber absolute practische postulate des Wollens, und das sind die moralische. […] Was immer in Ansehung gewisser obiecte nothwendig diesem postulat gemäß angenommen werden muß, ist auch ein practisches postulat.“ Vgl. im Ergebnis ähnlich zwischen Postulaten erster und zweiter Ordnung (als deren Möglichkeitsbedingung) unterscheidend KdU, AA V, S. 470; KpV, AA V, S. 46 und Verkündigung ZeF, AA VIII, S. 418.
6.4 Das öffentliche Recht
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In diesem Sinne ist es nun zu interpretieren, wenn Kant in § 42 von einem Postulat des öffentlichen Rechts spricht, das analytisch aus dem Begriff des Rechts folgt: Das Recht ist als moralisches Gesetz selbst ein Postulat (erster Ordnung), insofern es sich uns als unmittelbar gewisser praktischer und zugleich kategorischer Imperativ aufdrängt.¹⁸⁶ Sein oberstes Prinzip besteht in der „Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, in so fern diese nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist“.¹⁸⁷ Realisationsbedingung für diese rechtsgesetzlich geforderte Zusammenstimmung ist jedoch – wie bereits erörtert –¹⁸⁸ eine äußere Gesetzgebung des vereinigten Willens aller. Entsprechend bestimmt Kant im Gemeinspruch das öffentliche Recht als den „Inbegriff der äußeren Gesetze, welche eine solche durchgängige Zusammenstimmung möglich machen“.¹⁸⁹ Folglich ist es ein Postulat (zweiter Ordnung), in den bürgerlichen Rechtszustand einzutreten. Kurzum: Die Notwendigkeit eines rechtlichen Zustands folgt unmittelbar aus dem moralischen Begriff des Rechts. Die Gründe, warum dieses Postulat des öffentlichen Rechts unmittelbarer Ausdruck der autonomietheoretischen Staatsbegründung Kants ist, kennen wir bereits. Sie wurden zu Anfang des vorherigen Kapitels erörtert, als wir uns – gewissermaßen spiegelbildlich – mit dem Naturzustandsproblem bei Kant auseinandersetzten.¹⁹⁰ Um den Anschluss an den Text der Rechtslehre herzustellen, beziehen wir sie nun nochmals direkt auf § 42. Dort begründet Kant das Postulat äußerst kurz: „Der Grund davon [sc. dieser Pflicht] läßt sich analytisch aus dem Begriffe des R e c h t s im äußeren Verhältniß im Gegensatz der G e w a l t (violentia) entwickeln.“¹⁹¹ Die Fragen, die sich im Anschluss an diese Begründung stellen, sind zwei: Erstens, worin liegt die analytische Entwicklung aus dem Begriff des Rechts im äußeren Verhältnis? Und zweitens, was meint Kant hier mit Gewalt? Beginnend mit der zweiten Frage, liegt die Gewalt bzw. Gewalttätigkeit des vorstaatlichen Naturzustands laut § 42 darin, dass er ein „Zustan[d] äußerlich gesetzloser Freiheit“ ist bzw. dass er „kein rechtlicher [Zustand] ist, d.i. in dem Niemand des Seinen wider Gewaltthätigkeit sicher ist“.¹⁹² Dass es Kant hierbei Vgl. zum Rechtsgesetz als „ein Postulat, welches gar keines Beweises weiter fähig ist“ (RL, AA VI, S. 231) oben S. 101– 106 mit Fn. 126. Gemeinspruch, AAVIII, S. 289 – 290.Vgl. in diesem Sinne auch den moralischen Rechtsbegriff in § B bzw. das allgemeine Rechtsprinzip in § C der „Einleitung in die Rechtslehre“ (RL, AA VI, S. 230 und dazu oben S. 55 – 60) sowie MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 539. Vgl. oben S. 233 – 247. Gemeinspruch, AA VIII, S. 290. Vgl. oben S. 220 – 227. RL, AA VI, S. 307. RL, AA VI, S. 307 f.
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
nicht bloß um ein Sicherungsproblem und damit die faktische Wahrung individueller Rechte geht, wurde bereits ausführlich erörtert.¹⁹³ § 42 widerlegt dies auch durch Kants Behauptung, dass Menschen – wollen sie im Naturzustand bleiben – „e i n a n d e r auch gar nicht unrecht [thun], wenn sie sich untereinander befehden“.¹⁹⁴ Dies bestätigt § 44, der das Postulat näher erläutert.¹⁹⁵ Danach ist es „nicht etwa ein Factum [sc. der Erfahrung menschlicher Gewalttätigkeit], welches den öffentlich gesetzlichen Zwang nothwendig macht“.¹⁹⁶ Vielmehr liegt die Gewalttätigkeit des Naturzustandes laut Kants Bestimmung in §§ 42 und 44 in der Gesetzlosigkeit dieses Zustands.¹⁹⁷ Denn im Naturzustand ist jedem erlaubt, „aus jedes seinem eigenen Recht zu thun, w a s i h m r e c h t u n d g u t d ü n k t , und hierin von der Meinung des Anderen nicht abzuhängen“. Will man daher „nicht allen Rechtsbegriffen entsagen“, so muss man „sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange […] unterwerfen, also in einen Zustand treten, darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, g e s e t z l i c h bestimmt und durch hinreichende M a c h t (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist) zu Theil wird“.¹⁹⁸ Dieses Defizit lässt sich aber – so Kant unmissverständlich in § 47 – nur durch die Idee eines „u r s p r ü n g l i c h e [ n ] C o n t r a c t [ s ] “ überwinden, […] nach welchem […] der Mensch im Staate […] die wilde, gesetzlose Freiheit gänzlich verlassen [hat], um seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit, d.i. in einem rechtlichen Zustande, unvermindert wieder zu finden, weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt. ¹⁹⁹
Hierin liegt nun der unmittelbare Beleg von Kants autonomietheoretischer Staatslegitimation in § 42: Nach der Vernunftidee des Rechts darf die Geltung rechtlicher Verbindlichkeiten nicht von der Privatmeinung eines anderen abhängen, sondern muss sich auf den allgemein gesetzgebenden Willen aller zu Der Staat ist nicht bloß Rechtssicherungsinstanz, er ist Rechtsgeltungsinstanz, vgl. oben S. 240 – 246 m. w. N. RL, AA VI, S. 307. Vgl. zum argumentativen Zusammenhang von § 42 und § 44 zutreffend Ludwig 1988, S. 78 und S. 155 – 158. RL, AA VI, S. 312. Vgl. auch Kants Aussage in RL, AA VI, S. 307: „[E]s ist nicht nöthig, die wirkliche Feindseligkeit abzuwarten; er [sc. das Rechtssubjekt, P.-A. H.] ist zu einem Zwange gegen den befugt, der ihm schon seiner Natur nach damit droht. (Quilibet praesumitur malus, donec securitatem dederit oppositi.)“ Dass Kant hiermit nicht auf eine anthropologisch bedingte Gefährlichkeit des Naturzustands abhebt, wurde bereits eingehend erörtert. Vgl. oben S. 211– 218. Vgl. so auch schon in Religion, AA VI, S. 97 sowie ZeF, AA VIII, S. 349, Fn. *. Zum Ganzen: RL, AA VI, S. 312. RL, AA VI, S. 315 f., kursive Hervorhebung P.-A. H. Vgl. noch eingehend zu dieser Passage sowie zum ursprünglichen Kontrakt unten S. 311– 319.
6.4 Das öffentliche Recht
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rückführen lassen. Im Unterschied zur Gesetzlosigkeit des Naturzustands, deren Überwindung das Postulat des öffentlichen Rechts verlangt, realisiert erst der rechtliche Zustand die gesetzliche Freiheit eines jeden, weil in diesem der Mensch von seinem eigenen gesetzgebenden Willen abhängig ist. Dass Kant hiermit in der Rechtslehre keine neue theoretische Erklärung liefert, sondern eine im Kern bereits Anfang der 1790er Jahre entwickelte Staatsbegründung aufgreift, beweist der Gemeinspruch. Auch hier geht Kant vom „R e c h t “ als „Einschränkung der Freiheit eines jeden […] nach einem allgemeinen Gesetze“ aus und konstatiert das Problem, dass „jede Einschränkung der Freiheit durch die Willkür eines Anderen Z w a n g heißt: so folgt, daß die bürgerliche Verfassung ein Verhältniß freier Menschen ist, die […] doch unter Zwangsgesetzen stehen“.²⁰⁰ Damit aber hierin die Realisation einer gesetzlichen Freiheit eines jeden gesehen werden kann, bedarf es auch hier des „u r s r p ü n g l i c h e n Ve r t r a g [ e s ] “, welcher „nur aus dem allgemeinen (vereinigten) Volkswillen entspringen kann“, weil „kein besonderer Wille für ein gemeines Wesen gesetzgebend sein [kann]“.²⁰¹ Hieran schließt sich die andere Frage aus § 42 der Rechtslehre an: Inwiefern folgt dies alles analytisch aus dem Begriff des Rechts im äußeren Verhältnis? Auch diese Antwort kennen wir bereits:²⁰² „[D]as Vermögen, andere zu verpflichten, d.i. der Begriff des Rechts,“²⁰³ steht unter Naturzustandsbedingungen im Widerspruch zum Anspruch der (jeweils anderen) Person, „keinen anderen Gesetzen, als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst giebt, unterworfen“ zu sein.²⁰⁴ Da beide Vermögen bzw. Ansprüche notwendige Bestimmungen der Menschen als Vernunftwesen sind, folgt aus beiden zusammengenommen analytisch das Postulat des öffentlichen Rechts. Denn nur unter Bedingungen von Staatlichkeit lässt sich eine systematische Verbindung nach Rechtsgesetzen und damit – im Unterschied zur Gewalt – ein dem Rechtsgesetz konformer, autonomietheoretisch zulässiger durchgängiger wechselseitiger Zwang realisieren.²⁰⁵ Wenn Kant hierzu in § 42 als weitere Begründung anführt, niemand sei „verbunden, sich des Eingriffs in den Besitz des Anderen zu ent Gemeinspruch, AA VIII, S. 289 f. Gemeinspruch, AA VIII, S. 295. Vgl. oben S. 222– 227. RL, AA VI, S. 239. RL, AA VI, S. 223. Das Öffentliche Recht ist damit Realisationsbedingung jeglichen Rechts. Letzteres drängt sich uns unmittelbar in Form des allgemeinen Rechtsgesetzes auf, ersteres (insofern in zweiter Ordnung) »nur« als Möglichkeitsbedingung der Rechtsdurchsetzung. Das Postulat des öffentlichen Rechts ist daher mit der – ebenfalls gegenüber innerem und äußerem Mein und Dein indifferenten – Formel des suum cuique tribue (vgl. dazu ausführlich oben S. 264– 271) identisch.Vgl. trotz anderer Begründung i. E. ebenso Friedrich 2004, S. 169.
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
halten, wenn dieser ihm nicht gleichmäßig auch Sicherheit giebt, er werde eben dieselbe Enthaltsamkeit gegen ihn beobachten“,²⁰⁶ so taucht hier wieder die gleiche Begründungsstruktur auf, wie sie schon in § 8 der Rechtslehre zu finden war.²⁰⁷ Wie dort die Notwendigkeit der Sicherstellung durch den „collectiv allgemeine[n] (gemeinsame[n]) und machthabende[n] Wille[n]“ bereits aus dem Begriff einer äußeren rechtlichen Verbindlichkeit gefolgert wird,²⁰⁸ so folgt sie hier aus dem Begriff eines Rechts im äußeren Verhältnis. Kants Redeweise vom Recht im äußeren Verhältnis darf man dabei nicht nur auf erworbene Rechte beziehen, weil bereits auch angeborene Rechte ein äußeres Willkürverhältnis betreffen, d. h. äußere Rechtspflichten begründen.²⁰⁹ Die Notwendigkeit eines bürgerlichen Zustands,welcher einen gesetzlichen äußeren Zwang unter dem vereinigten gesetzgebenden Willen aller herstellt, folgt also bereits begrifflich aus der Vernunftidee des Rechts schlechthin.²¹⁰ Nur in diesem ist es möglich, sich legitimerweise auf sein Recht zu berufen. Habe ich im Naturzustand ein Recht (sei es inneres Mein und Dein oder provisorisches äußeres Mein und Dein), so habe ich angesichts dessen Anspruch auf Übergang in ein Gemeinwesen, in dem sich dieses vernunftrechtlich legitimierte Recht geltend machen lässt. Das Verharren im Naturzustand stellt also eine Rechtsverletzung dar, und zwar allein RL, AA VI, S. 307. Vgl. oben S. 289 f. RL, AA VI, S. 255 f. und dazu oben S. 289. Wenn Kant betont, dass das Postulat des öffentlichen Rechts „[a]us dem Privatrecht im natürlichen Zustande“ hervorgeht (RL, AA VI, S. 307), so ist daran zu erinnern, dass Kant die privatrechtliche Verfasstheit des Rechts auch auf das innere Mein und Dein bezieht, vgl. oben S. 211 f. sowie S. 251 f. Entsprechend darf das Postulat nicht verengend allein auf das äußere Mein und Dein zurückgeführt werden. So aber Ludwig 1988, S. 156 f.; Unruh 1993, S. 102 f.; ehemals Kersting 1984, S. 212 f. und mit Einschränkungen wohl auch Byrd und Hruschka 2011, S. 138– 141 sowie Ripstein 2009, S. 176 – 181. Rechtsverhältnisse schlechthin (mithin auch angeborene Rechte) begründen ein äußeres Rechtsverhältnis und damit die Notwendigkeit eines bürgerlichen Rechtszustands. Vgl. VA RL, AA XXIII, S. 278, wo Kant die Notwendigkeit einer öffentlichen Gesetzgebung allgemein auf das Rechtsverhältnis zwischen Personen zurückführt: „Daß unter Menschen die im äußeren Verhältnis ihrer Willkühr stehen ein Recht seyn müsse (und zwar ein öffentliches) d.i. daß sie wollen müssen es solle ein solches seyn und man also diesen Willen bey ihnen voraussetzen kann liegt im Begriffe des Menschen als einer Person gegen die meine Freyheit eingeschränkt ist und der ich die ihrige sicher stellen muß.“ Auch Kühl 1984, S. 163 f.; neuerdings Kersting 2004, S. 110 – 112; Friedrich 2004, S. 169 – 173; Laschet 2011, S. 239 f. und Geismann 2012, S. 47 f. und S. 52– 56 beziehen das Postulat des öffentlichen Rechts auf das Recht schlechthin, jedoch ohne den autonomietheoretischen Gehalt der Kantischen Staatsbegründung zu erkennen. Vgl. zu den hierzu scheinbar widersprüchlichen Ausführungen Kants in RL, AA VI, S. 312 f. oben Kap. 6, Fn. 156. So bezieht Kant in Über ein vermeintes Recht, AA VIII, S. 429 das „P o s t u l a t des äußeren öffentlichen G e s e t z e s , als vereinigten Willens Aller“ auf jegliches Recht, da anderenfalls „keine Freiheit von Jedermann [sc. nach einem allgemeinen Gesetze] Statt haben würde“.
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schon angesichts der Vernunftidee des Rechts. Gemeint ist nicht erst die konkrete Verletzung einer Rechtsposition. Vielmehr geht es allein um die formale Notwendigkeit einer äußeren Gesetzgebung unter dem Souverän als vereinigtem, gesetzgebenden Willen aller, welcher allererst dem Mein und Dein Rechtsgeltung verschafft.
6.4.2.2 Die grundlegende Unterscheidung zwischen formellem Recht und materiellem Recht Um dies zu präzisieren, muss man bei Kant zwischen materiellem und formellem Recht bzw. Unrecht unterscheiden.²¹¹ Materielles Unrecht liegt vor, wenn ein anderer in seiner vernunftrechtlich geschützten Rechtsposition verletzt bzw. geschädigt wurde. Formelles Unrecht meint hingegen nicht die Verletzung einer konkreten Rechtsposition, sondern besteht – ungeachtet einer solchen Verletzung –²¹² bereits darin, dass das eigene Verhalten nicht dem Postulat des öf-
Die Unterscheidung zwischen Recht formaliter und Recht materialiter ist bei Kant in dem hier untersuchen Zeitraum durchgehend belegt. So findet sie sich – jenseits zahlreicher Reflexionen – beispielsweise in der Naturrechtsvorlesung Feyerabend, im Gemeinspruch sowie in der Rechtslehre und in Über ein vermeintes Recht. Allerdings scheint die Unterscheidung schon aus vorkritischer Zeit zu stammen, insoweit sie bereits in Reflexionen erwähnt wird, die – sofern zutreffend datiert – aus der Zeit vor 1780 stammen. Vgl. etwa Refl. 6732, AA XIX, S. 144 (zitiert in Kap. 6, Fn. 213); Refl. 7067, AA XIX, S. 241; Refl. 7004, AA XIX, S. 224 sowie Refl. 7696, AA XIX, S. 492. Angesichts dessen spricht vieles dafür, dass es sich bei dieser Differenzierung um Traditionsgut handelt, dessen Ursprung vorliegend allerdings nicht ermittelt werden konnte. Gleichwohl lässt sich zeigen, dass die Unterscheidung zwischen formellem Recht und materiellem Recht (trotz ihres vorkritischen Ursprungs) in der Folge eine genuin kritische, autonomietheoretische Begründung durch Kant erfahren hat. Dass formelles und materielles Unrecht nicht zusammenfallen müssen, zeigt anschaulich Über ein vermeintes Recht, AA VIII, S. 429. Derjenige, der eine unschädliche Lüge ausspricht, verletzt zwar keine materielle Rechtsposition des anderen, wohl hingegen das formale Rechtsprinzip: „Nur muß man hier nicht die Gefahr (zufälligerweise) zu s c h a d e n , sondern überhaupt U n r e c h t z u t h u n verstehen: […] obgleich ich durch eine gewisse Lüge in der That niemanden Unrecht thue, doch das Princip des Rechts in Ansehung aller unumgänglich nothwendigen Aussagen ü b e r h a u p t verletze (formaliter, obgleich nicht materialiter, Unrecht thue): welches viel schlimmer ist als gegen irgend Jemanden eine Ungerechtigkeit begehn, weil eine solche That nicht eben immer einen Grundsatz dazu im Subjecte voraussetzt.“ Vgl. mit weiteren Beispielen Kants zu formaliter, aber nicht materialiter unrechten Handlungen Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1352 sowie zur besonderen Problematik der unschädlichen Lüge stellvertretend Weinrib 2008. Ein entsprechendes Gegenbeispiel von materiellem, aber nicht formellem Unrecht findet sich in Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1344 f. Hiernach verletzt jemand, der sich gutgläubig eine fremde Sache aneignet, die tatsächliche Rechtsposition eines anderen (d. h.
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fentlichen Rechts genügt. D. h., der kategorischen Forderung des moralischen Rechtsgesetzes bzw. Rechtsprinzips nach einer systematischen Verbindung der Rechtssubjekte widerspricht.²¹³ Formaliter verlangt Recht nichts anderes als das praktische Ideal einer synthetischen Einheit aller freien Willkür,²¹⁴ d. h. eine äußere Zwangsordnung unter dem Souverän als vereinigtem, gesetzgebenden Willen aller. Ist Staatlichkeit als Realisationsbedingung jeglichen Rechts kategorisch geboten, ist es – unangesehen einer tatsächlichen Läsion eines anderen – bereits formaliter unrecht, im Naturzustand zu verharren: Bei dem Vorsatze, in diesem Zustande äußerlich gesetzloser Freiheit zu sein und zu bleiben, thun sie e i n a n d e r auch gar nicht unrecht, wenn sie sich untereinander befehden; denn was dem Einen gilt, das gilt auch wechselseitig dem Anderen, gleich als durch eine Übereinkunft (uti partes de iure suo disponunt, ita ius est): aber überhaupt thun sie im höchsten Grade daran unrecht* in einem Zustande sein und bleiben zu wollen, der kein rechtlicher ist, d.i. in dem Niemand des Seinen wider Gewaltthätigkeit sicher ist. * Dieser Unterschied zwischen dem, was bloß formaliter, und dem, was auch materialiter unrecht ist, hat in der Rechtslehre mannigfaltigen Gebrauch. Der Feind, der, statt seine Capitulation mit der Besatzung einer belagerten Festung ehrlich zu vollziehen, sie bei dieser ihrem Auszuge mißhandelt, oder sonst diesen Vertrag bricht, kann nicht über Unrecht klagen, wenn sein Gegner bei Gelegenheit ihm denselben Streich spielt. Aber sie thun überhaupt im höchsten Grade unrecht, weil sie dem Begriff des Rechts selber alle Gültigkeit
handelt materialiter unrecht). Da er dabei jedoch putativ nach Rechtsprinzipien verfährt, handelt er laut Kant nicht formaliter unrecht. Vgl. hierzu ausführlich oben Kap. 3, Fn. 341. Vgl. Refl. 6732, AA XIX, S. 144: „Materialiter Unrecht ist, was der Materie (dem obiecte des Willens andrer), formaliter, was den Bedingungen des reciproqven Willens überhaupt wiederstreitet. Daher bey dem letzten die handlung nicht allein kein Gegenstand des Willens aller seyn kan, sondern auch [allgemein] unter einer allgemeinen Regel genommen unmoglich ist.“ Vgl. ähnlich auch Refl. 7004 und 7067, AA XIX, S. 224 bzw. S. 241 sowie MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 539. Daher gibt es formaliter auch nur ein einziges Recht, materialiter hingegen viele, vgl. VA RL, AA XXIII, S. 274: „Das Recht überhaupt als bloße Form der Willkühr nach Gesetzen der Freyheit ist nur eines – Aber ein Recht (ius quoddam) deren es mehr giebt ist das Recht der materie nach und was man besitzen veräußern etc. etc. kann.“ Vgl. auch Gemeinspruch, AA VIII, S. 292, wonach das Recht, „welches als der Ausspruch des allgemeinen Willens nur ein einziges sein kann,“ lediglich „die Form Rechtens, nicht die Materie oder das Object, worin ich ein Recht habe, betrifft“. Vgl. ähnlich VA RL, AA XXIII, S. 218 und S. 276 f. – Vgl. im Ergebnis ähnlich Fulda 1997, S. 279 und S. 282 f.; Geismann 2012, S. 16 und S. 53 f. und Horn 2014, S. 97 und S. 136. Vgl. VA RL, AA XXIII, S. 330: „Das Recht (formaliter) ist eine Idee der der correspondirende Gegenstand garnicht in der Erfahrung gegeben werden kann […]. – Diese Idee aber hat objective Realität in Ansehung äußerer Verhältnisse nach Gesetzen der Freyheit blos dadurch daß sie gedacht wird. – Die synthetische Einheit der Willkühr als freye äußere Willkühr so fern sie (diese Einheit) als Bedingung der Möglichkeit der Unterscheidung des Mein und Dein betrachtet wird ist der Grund der Rechtsbestimmung. – Das ius purum geht als ideal voran das ius applicatum geht auf den empirischen Besitz so fern er unter jenem steht.“
6.4 Das öffentliche Recht
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nehmen und alles der wilden Gewalt gleichsam gesetzmäßig überliefern und so das Recht der Menschen überhaupt umstürzen.²¹⁵
Diese Stelle aus § 42 der Rechtslehre verdeutlicht das zuvor Gesagte: Staatlichkeit ist Rechtsgeltungsinstanz. Im Naturzustand zu verharren, ist formal unrecht, weil die Etablierung einer äußeren gesetzlichen Zwangsordnung Realisationsbedingung des Rechts ist. Hiermit bringt Kant die autonomietheoretische Staatsbegründung auf einen Begriff, da formelles Recht gerade auf den Anspruch des Einzelnen reagiert, nur im Wege der Selbstverpflichtung moralisch obligiert werden zu können. Zwar sind angeborene materielle Rechte bereits vorstaatlich begründet, weil sie dem Einzelnen in seiner Eigenschaft als Person zukommen. Jedoch bedarf es iure formaliter zu deren Verwirklichung stets des Staates als Repräsentanten des vereinigten Volkswillens. Diese Unterscheidung zwischen materiellem und formellem Recht bzw. Unrecht stellt dabei keineswegs eine Marginalie dar, die Kant bloß in einer Fußnote zu § 42 erwähnt. Vielmehr liegt sie schlechthin Kants Begriffsbestimmung des öffentlichen Rechts zugrunde. Denn Kant sagt ja – um die Passage aus § 41 erneut zu zitieren –,²¹⁶ dass das Recht im bürgerlichen Zustand […] nicht mehr oder andere Pflichten der Menschen unter sich [enthält], als in jenem [sc. dem Naturzustand] gedacht werden können; die Materie des Privatrechts ist eben dieselbe in beiden. Die Gesetze des letzteren [sc. des bürgerlichen Zustands] betreffen also nur die rechtliche Form ihres Beisammenseins (Verfassung), in Ansehung deren diese Gesetze nothwendig als öffentliche gedacht werden müssen.²¹⁷
Die hier angesprochene „Materie des Privatrechts“ ist nichts anderes als das zuvor beschriebene Recht materialiter. Und die „rechtliche Form ihres Beisammenseins (Verfassung)“ ist das Recht formaliter, d. h. die Verfasstheit der Menschen (und ihrer Rechte) durch äußere öffentliche Gesetze. Nur angesichts dieser Differenzierung kann Kant in § 44 begrifflich zwischen „U n g e r e c h t i g k e i t (iniustus)“, d. h. Verletzung des ius materialiter, und einem „Zustand der R e c h t l o s i g k e i t (status iustitia vacuus)“, d. h. Fehlen eines ius formaliter, unterscheiden.²¹⁸ Ebenso tritt in der Rechtslehre auch deutlich zutage, dass formelles Recht Realisationsbedingung materiellen Rechts ist, wenn Kant in § 43 sagt, dass Menschen „des rechtlichen Zustandes unter einem sie vereinigenden Willen, einer Ve r f a s s u n g
RL, AA VI, S. 307 f. mit Fn. *, fette Hervorhebung P.-A. H. Vgl. bereits oben S. 208 f., 244, 251 und S. 299. RL, AA VI, S. 306, kursive Hervorhebung P.-A. H. RL, AA VI, S. 312.
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
(constitutio), bedürfen, um dessen, was Rechtens ist, theilhaftig zu werden“.²¹⁹ Und schon 1793 ist im Gemeinspruch davon die Rede, dass „das R e c h t der Menschen u n t e r ö f f e n t l i c h e n Z w a n g s g e s e t z e n“ die „oberste formale Bedingung (conditio sine qua non) aller übrigen äußeren Pflicht ist“.²²⁰ All dies zeigt mithin, dass die Unterscheidung zwischen formellem Recht und materiellem Recht – obgleich sie terminologisch nur in § 42 verwandt wird – der Sache nach das Öffentliche Recht der §§ 41 ff. durchzieht und für das Verständnis des Postulats des öffentlichen Rechts grundlegend ist. Zuletzt ist noch eine vermeintliche Unstimmigkeit in § 42 auszuräumen: Dort ist davon die Rede, dass die wechselseitige Verletzung im Naturzustand – unter dem Vorsatz, im selbigen zu verbleiben – materialiter kein Unrecht darstellt. Doch steht dies nicht im Widerspruch zu dem in § 41 Gesagten, wonach bereits im Naturzustand die Materie des Privatrechts dieselbe sei wie im bürgerlichen Zustand, also schon hier Rechte und Pflichten bestehen?²²¹ Gibt es nach § 42 nun doch kein (provisorisches) Recht im Naturzustand? Diese Schlussfolgerung zu ziehen, wäre aus zwei Gründen verfehlt: Zum einen widerspricht sie gerade dem Postulat des öffentlichen Rechts. Denn gäbe es im Naturzustand überhaupt keine Rechte, so könnte auch formaliter kein Unrecht geschehen. Formelles Recht besteht ja gerade darin, dass Staatlichkeit als Realisationsbedingung materiellen Rechts vernunftnotwendig gefordert ist. Gäbe es im Naturzustand keine materiellen Rechte (d. h. angeborene Rechte und zumindest provisorisch-rechtlichen Besitz), so fiele hiermit auch die Notwendigkeit für diese Zwangsordnung, mithin das Postulat des öffentlichen Rechts, weg.²²² Zum anderen liegt dem scheinbaren Widerspruch die verfehlte Annahme zugrunde, das Fehlen materialen Unrechts sei gleichbedeutend mit dem Nichtbestehen von Rechten.Vorliegend möchte Kant nämlich nicht behaupten, dass die Einzelnen im Naturzustand keine (angeborenen) Rechte haben, sondern nur, dass – falls diese Rechte angetastet werden – dem Einzelnen materialiter kein Unrecht geschieht, wenn er der Gewalt als Verfahren der Rechtsdurchsetzung durch das Verbleiben im Naturzustand zustimmt. Hilfreich ist hier ein Vergleich
RL, AA VI, S. 311. Gemeinspruch, AA VIII, S. 289. Dies gilt zumindest für angeborene Rechte und den provisorischen Besitz, insofern er ein komparativ-rechtlicher ist (vgl. dazu oben Kap. 6, Fn. 139). Mit Blick auf ein peremptorisches äußeres Mein und Dein fehlt es im Naturzustand zugegebenermaßen jedoch an einer materiellen Rechtsposition, die verletzt werden könnte. Vgl. in diesem Sinne VA RL, AA XXIII, S. 211. Dies ist auch die Quintessenz von Kants Anmerkung in RL, AA VI, S. 312 f. Vgl. (vollständig zitiert) oben S. 290 f. mit Fn. 156.
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mit Kants Ausführungen zum ius ad bellum im Völkerrecht.²²³ Danach ist Krieg im Verhältnis zwischen Staaten die von ihnen gewählte Form der Rechtsdurchsetzung im Naturzustand, wenn diese den letzteren nicht zugunsten einer kosmopolitischen Republik verlassen wollen:²²⁴ Im natürlichen Zustande der Staaten ist das R e c h t z u m K r i e g e (zu Hostilitäten) die erlaubte Art, wodurch ein Staat sein Recht gegen einen anderen Staat verfolgt, nämlich, wenn er von diesem sich lädirt glaubt, durch eigene G e w a l t : weil es durch einen P r o c e ß (als durch den allein die Zwistigkeiten im rechtlichen Zustande ausgeglichen werden) in jenem Zustande nicht geschehen kann. […] [W]eil, wenn man einmal ein Recht im Kriegszustande finden will, etwas Analogisches mit einem Vertrag angenommen werden muß, nämlich A n n a h m e der Erklärung des anderen Theils, daß beide ihr Recht auf diese Art suchen wollen.²²⁵
§ 56 des Völkerrechts wie auch der vorgenannte § 42 bringen zum Ausdruck, dass Recht formaliter ein geregeltes, die Autonomie aller Beteiligten wahrendes Verfahren der Rechtsdurchsetzung erfordert. Hier wie dort ist der Naturzustand dadurch gekennzeichnet, dass es an einem solchen Verfahren fehlt (in § 42 spricht Kant vom Recht im äußeren Verhältnis, in § 56 von der Rechtsdurchsetzung durch einen Prozess).Wer nun im Naturzustand verbleiben will (gleichgültig ob Individuen oder Staaten), willigt dadurch konkludent ein, dass Konflikte nicht nach Maßgabe des formellen Rechts, d. h. einer öffentlichen Gerechtigkeit, sondern durch einseitige Gewalt geregelt werden. Daher spricht Kant in § 56 von einer Analogie zu einem Vertrag bzw. in § 42 vom Rechtsgrundsatz uti partes de iure suo disponunt, ita ius est.²²⁶ Kant interpretiert also den Vorsatz im Naturzustand zu verharren so, dass man dadurch das unilaterale Privaturteil anderer über das Bestehen oder Nicht-Bestehen einer materiellen Rechtsverbindlichkeit als für sich bindend akzeptiert. Gleiches gilt vice versa. Folglich kann man schon e suppositione nicht durch Handlungen anderer Rechtsprätendenten in seinen Rechten verletzt werden, weil die Konfliktparteien ihre materiellen Rechtspositionen freiwillig zur eigenmächtigen Disposition des
In der zitierten Passage, RL, AA VI, S. 307 f. mit Fn. *, hatte sich Kant mit dem Belagerungsszenario bereits eines völkerrechtlichen Beispiels bedient. Vgl. ähnlich auch Refl. 7067, AA XIX, S. 241. Entgegen einer verbreiteten Auffassung (vgl. etwa Horn 2014, S. 279 – 299; Eberl und Niesen 2011, S. 235 – 242; Ripstein 2009, S. 225 – 230; Höffe 1995, S. 121– 127; Gerhardt 1995, S. 93 – 97 und Carson 1988, S. 176 – 179) ist für Kant die Etablierung einer kosmopolitischen Republik das praktische Ideal des Völkerrechts und der Völkerbund lediglich eine notwendige Zwischenstufe. Vgl. hierzu nur Kleingeld 2006 und ausführlich von meiner Seite Hirsch 2012b, insb. S. 492– 499 m. w. N. RL, AA VI, S. 346. „Was die Parteien über ihr Recht verfügen, das ist Recht.“ (Übersetzung P.-A. H.).
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jeweils anderen stellen.²²⁷ Möchte man im Naturzustand verbleiben, kann man untereinander materialiter kein Unrecht tun, weil insofern – was das bilaterale Verhältnis anbelangt – die jeweiligen Privatwillen übereinstimmen.²²⁸ Formaliter ist dies jedoch unrecht, „denn der […] doppelseitige, aber doch b e s o n d e r e Wille […] kann nicht jedermann eine Verbindlichkeit auflegen“.²²⁹ Die formell-rechtlich geforderte synthetische Einheit aller freien Willkür kann nur dadurch hergestellt werden, dass äußere Gesetzgebung auf den Willen aller Gewaltunterworfenen zurückgeführt wird. Erst Staatlichkeit (in den Worten der Vorarbeiten zur Rechtslehre „[d]er allgemeine Wille des Volks […] d.i. der gemeinschaftliche Wille der f ü r a l l e b e s c h l i e ß t also die bloße Idee der bürgerlichen Einheit“)²³⁰ hebt die gesetzlose Gewalt des Naturzustandes auf. Autonomie als Prinzip verlangt angesichts der Reziprozität und Allgemeingültigkeit moralischer Gesetze eine systematische Verbindung der Rechtssubjekte, die bewirkt, dass äußere Rechtsdurchsetzung gesetzmäßig ist. Einem jeden müssen Recht und Unrecht so bestimmt werden, dass in jedem Fall alle über alle beschließen. Dies ist jedoch nur in einem bürgerlichen Zustand möglich. Daher tun diejenigen, die sich auf das Verharren im Naturzustand verständigt haben, formaliter Unrecht, auch wenn sie materialiter ihre Rechtspositionen wechselseitig nicht verletzen können. Der einzige Zwang, der im Naturzustand formell-rechtlich zulässig ist, ist lediglich derjenige, welcher in der Absicht vorgenommen wird, einen bürgerlichen Rechtszustand zu begründen.²³¹
Auch Fulda 1997, S. 278 f. spricht – obgleich mit einer anderen Begründung – von einem „Rechtstitel […], seinerseits vorbeugenden Rechtszwang zu üben“. Die Gewalt, die man sich wechselseitig antue, sei daher „nur Folge der Wahrnehmung von Rechten, welche die einander Befehdenden sich wechselseitig erteilt haben“. Vgl. Refl. 6667, AA XIX, S. 128: „Recht ist (zwischen zweyen), was durch ihren gemeinschaftlichen Willen möglich ist. […] Ein Recht hat [der] einer in ansehung des Andern (affirmative), [in so fern] wenn sein privatwille als einerley mit dem gemeinschaftlichen angesehen werden kan. Die Nothwendigkeit einer Handlung um der [allg] Regel des Rechts willen heißt formale Schuldigkeit, um des Rechts der andern willen aber materiale Schuldigkeit.“ RL, AA VI, S. 263. VA RL, AA XXIII, S. 351. Vgl. hierzu bereits ausführlich oben Kap. 6, Fn. 122. Dabei sei an dieser Stelle noch einmal betont, dass diese Zwangsbefugnis kein Spezifikum der Besitz- und Eigentumslehre ist (so aber bspw. Ludwig 1988, S. 156 f. mit Fn. 123), sondern als Postulat allgemein aus dem Begriff des Rechts folgt: Weil sich uns das Rechtsgesetz als kategorischer Imperativ a priori aufdrängt, wird auch der bürgerliche Rechtszustand als Realisationsbedingung desselben notwendig postuliert. Haben wir also materielle Rechte, haben wir eo ipso die Befugnis, andere in den iure formaliter gebotenen Zustand einer öffentlichen Gerechtigkeit zu nötigen.
6.4 Das öffentliche Recht
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6.4.3 Der kritische Liberalismus in Kants Staatsrecht Mithin unterscheidet sich der rechtliche Zustand vom natürlichen Zustand primär durch die Form, d. h. die Verfasstheit der Rechtssubjekte in Ansehung ihrer subjektiven Rechte und Pflichten. Erst unter Bedingungen von Staatlichkeit hängt die Rechtsgeltung nicht mehr vom privaten Willen einzelner, sondern in verfassungsmäßiger Form vom vereinigten Willen aller ab. Der Inbegriff der Gesetze, die dies garantieren, ist nun das öffentliche Recht: Der Inbegriff der Gesetze, die einer allgemeinen Bekanntmachung bedürfen, um einen rechtlichen Zustand hervorzubringen, ist das ö f f e n t l i c h e R e c h t . – Dieses ist also ein System von Gesetzen für ein Volk, d.i. eine Menge von Menschen, oder für eine Menge von Völkern, die, im wechselseitigen Einflusse gegen einander stehend, des rechtlichen Zustandes unter einem sie vereinigenden Willen, einer Ve r f a s s u n g (constitutio), bedürfen, um dessen, was Rechtens ist, theilhaftig zu werden. Dieser Zustand der Einzelnen im Volke in Verhältniß untereinander heißt der b ü r g e r l i c h e (status civilis) und das Ganze derselben in Beziehung auf seine eigene Glieder der S t a a t (civitas) […].²³²
Vorliegend ist nicht die öffentlich-rechtliche Verfasstheit von Völkern von Interesse,²³³ sondern die von Menschen, welche einen Staat bilden. Letzeren definiert Kant auch als „die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“.²³⁴ Doch wie gestaltet Kant die so bestimmte Staatlichkeit genau aus? Hiermit ist nicht nur nach Kants Staatsrechtdogmatik gefragt, sondern auch danach, inwiefern das Kantische Staatsrecht inhaltlich der hier vorgestellten autonomietheoretischen Staatsbegründung folgt.
6.4.3.1 Staat in der Idee und Staat in der Erscheinung – Der ursprüngliche Kontrakt und Kants Staatsformenlehre Um diesen Fragen nachzugehen, ist es unumgänglich, zunächst mit Kants Unterscheidung zwischen dem Staat in der Idee und dem Staat in der Erscheinung zu beginnen. Denn zu Anfang des Staatsrechts differenziert Kant in § 45 zwischen der aus „Gesetze[n] a priori nothwendig […] folgend[en] […] Form eines Staates überhaupt, d. i. de[m] Staat i n d e r I d e e , wie er nach reinen Rechtsprincipien sein soll,“ und dem Staat in der Erscheinung, d. h. der „wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen.“ Dabei diene der Staat in der Idee allen wirklichen Gemeinwesen „zur
RL, AA VI, S. 311. Vgl. dazu von meiner Seite ausführlich Hirsch 2012b. RL, AA VI, S. 313.
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
Richtschnur (norma)“.²³⁵ Die gleiche Unterscheidung taucht wenig später in § 51 wieder auf, wenn Kant die „reine Idee von einem Staatsoberhaupt“ als „nur ein (das gesamte Volk vorstellendes) G e d a n k e n d i n g “ bezeichnet und begrifflich von der „physischen Person“ unterscheidet, „welche die höchste Staatsgewalt vorstellt, und dieser Idee Wirksamkeit auf den Volkswillen verschafft“.²³⁶ Es dauert allerdings noch bis 1798 bis Kant diese Unterscheidung auf den kritischen Begriff bringt und im Streit der Fakultäten zwischen der respublica noumenon und der respublica phaenomenon differenziert. Erstere ist dort „[d]ie Idee einer mit dem natürlichen Rechte der Menschen zusammenstimmenden Constitution“ und ist „die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt“. Letztere ist lediglich „die Darstellung derselben [sc. dieser Idee] nach Freiheitsgesetzen durch ein Beispiel in der Erfahrung“.²³⁷ Und obwohl in der Rechtslehre noch nicht die genuin kritische Terminologie von noumena und phaenomena auftaucht, so artikuliert Kant diese Differenzierung der Sache nach auch schon hier, wenn er im Anhang zur zweiten Auflage der Rechtslehre ausführt: [W]as zu den I d e e n gezählt werden muß, denen adäquat kein Gegenstand in der Erfahrung gegeben werden kann, dergleichen eine vollkommene r e c h t l i c h e Ve r f a s s u n g unter Menschen ist, das ist das Ding an sich selbst. Wenn dann nun ein Volk, durch Gesetze unter einer Obrigkeit vereinigt, da ist, so ist der Idee der Einheit desselben ü b e r h a u p t unter einem machthabenden obersten Willen gemäß als Gegenstand der Erfahrung gegeben; aber freilich nur in der Erscheinung; d. i. eine rechtliche Verfassung im allgemeinen Sinne des Worts ist da […].²³⁸
Warum ist diese Unterscheidung zwischen dem Staat in der Idee (respublica noumenon) und dem Staat in der Erscheinung (respublica phaenomenon) so bedeutsam? Zunächst ist sie für die Architektonik der Rechtslehre maßgeblich. Denn in der Rechtslehre liegt diese Differenzierung strukturell Kants Darstellung des Staatsrechts zugrunde, da sich die §§ 45– 49 der Rechtslehre dem Staat in der Idee widmen, die §§ 51, 52 hingegen hauptsächlich der Bestimmung des Staats in der Erscheinung gelten.²³⁹ Vor allem aber ist diese Unterscheidung essentiell für eine zutreffende Bestimmung der Kantischen Gewaltenteilungs- und Staatsformenlehre sowie seines Verständnisses von Volkssouveränität. Dies gilt es nun zu erörtern. Der Staat in der Idee ist inhaltlich wesentlich über Kants Lehre vom ursprünglichen Vertrag bestimmt. Dieser beschreibt keinen realen Vertragsschluss,
Zum Ganzen: RL, AA VI, S. 313. RL, AA VI, S. 338. Streit, AA VII, S. 90. RL, AA VI, S. 371 f. Vgl. dazu eingehend Ludwig 1999, S. 173 – 176 mit Fn. 1.
6.4 Das öffentliche Recht
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sondern ist – genauso wie der Naturzustand –²⁴⁰ eine gedankliche Fiktion, die notwendig jedem real existierenden Staat zugrundegelegt werden muss:²⁴¹ Der Act, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat constituirt, eigentlich aber nur die Idee desselben, nach der die Rechtmäßigkeit desselben allein gedacht werden kann, ist der u r s p r ü n g l i c h e C o n t r a c t , nach welchem alle (omnes et singuli) im Vo l k ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d.i. des Volks als Staat betrachtet (universi), sofort wieder aufzunehmen, und man kann nicht sagen: […] der Mensch im Staate habe einen T h e i l seiner angebornen äußeren Freiheit einem Zwecke aufgeopfert, sondern er hat die wilde, gesetzlose Freiheit gänzlich verlassen, um seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit, d.i. in einem rechtlichen Zustande, unvermindert wieder zu finden, weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt.²⁴²
Der ursprüngliche Vertrag leistet hiernach zweierlei:²⁴³ Zum einen konstituiert er das Gemeinwesen, den Staat als Zustand legitimer äußerer Gesetzgebung.²⁴⁴ Er ermöglicht dem Einzelnen, die äußere staatliche Gesetzgebung als Ausdruck des eigenen gesetzgebenden Willens zu interpretieren, „weil diese [sc. gesetzliche] Abhängigkeit [sc. der eigenen Freiheit] aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt“.²⁴⁵ Damit löst der ursprüngliche Vertrag aus Sicht des Gewaltunterworfenen Volkssouveränität ein,²⁴⁶ da er äußere Gesetzgebung mit der sittlichen Autonomie der Gewaltunterworfenen vereinbart.²⁴⁷ Folglich ist Kants Lehre vom
Vgl. hierzu ausführlich oben S. 211– 227. Für Kant ist der Ausgangspunkt für Staatsbildung die faktische Unterwerfung unter einen Machthabenden. Der ursprüngliche Vertrag ist nur eine praktisch notwendige Vernunftidee, die wir als Gründungs- und Leitprinzip von Staatlichkeit den vorgefundenen Gewaltverhältnissen zugrundelegen müssen. Vgl. zu dieser Thematik ausführlich nur Unruh 1993, S. 108 – 111; Kersting 1984, S. 217– 221, erneut Kersting 2004, S. 114– 116 und Ripstein 2009, S. 198 – 202. Vgl. dazu auch unten S. 371 mit Fn. 161 sowie S. 403 f. RL, AA VI, S. 315 f. Hiermit werden zwei Elemente klassisch-kontraktualistischer Staatsbegründung aufgegriffen, vgl. dazu Kersting 1983b; Unruh 1993, S. 108 – 116 und aufschlussreich Geismann 1982. Vgl. Gemeinspruch, AAVIII, S. 297; Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1382;VA RL, AA XXIII, S. 351 und Refl. 7974, AA XIX, S. 568. Hierbei sei erneut betont, dass es nicht um die historischfaktische Staatsgründung geht.Vielmehr ist der ursprüngliche Vertrag nur insofern konstitutiv, als die Vertragsidee notwendig ist, um die vorgefundenen Gewaltverhältnisse überhaupt als legitime Staatlichkeit begreifen zu können. Vgl. so auch Geismann 2012, S. 70 – 73. RL, AA VI, S. 316. Vgl. zur Volkssouveränität bei Kant sogleich unten S. 328 – 334. In diesem Sinne hat schon Sandermann 1989, S. 211 f. zutreffend darauf hingewiesen, dass Kant den „Übergang vom Verständnis der Person als autonomes Individuum zu seinem Verständnis als autonomes Mitglied einer Rechtsgemeinschaft […] über die Vertragsfigur des ‚contractus originarius‘ vermittelt“. Vgl. eingehend ebd., S. 209 – 218 und S. 268 – 277. Vgl. auch zustimmend Unruh 1993, S. 115 f.
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
ursprünglichen Vertrag im Staatsrecht der Anknüpfungspunkt für seine autonomietheoretische Staatsbegründung und bestätigt diese: Sittliche Autonomie verlangt, dass äußere Gesetzgebung auf die jeweils eigene Gesetzgebung zurückgeführt werden kann.²⁴⁸ Zum anderen weist der ursprüngliche Vertrag den vereinigten Willen aller als maßgebliches Prinzip der Herrschaft aus.²⁴⁹ Insofern richtet er sich an den Herrschenden und schreibt diesem als politisches Leitprinzip im rechtlichen Zustand vor, dass man sich „[a]lle Gesetze in einer bürgerlichen Gesellschaft […] vorstellen [muß], als gegeben durch die Stimmung aller“.²⁵⁰ Gleichwohl erfahren wir zur detaillierten Ausgestaltung dieses Leitprinzips bei Kant wenig: Kant bezeichnet die staatsbürgerlichen Attribute (Freiheit, Gleichheit, Selbstständigkeit) zumindest im Gemeinspruch auch als Prinzipien, „nach denen allein eine Staatserrichtung reinen Vernunftprincipien des äußeren Menschenrechts überhaupt gemäß möglich ist“.²⁵¹ Im Übrigen bleibt es bei der abstrakten Formel (hier beispielhaft aus Naturrecht-Feyerabend zitiert): „Das imperium erstreckt sich so weit, als ein Volk über sich selbst beschließen kann. Denn imperans ist immer repraesentant des Volks.“²⁵² Über diesen Gedanken werden etwa ungleiche
Vgl. zur autonomietheoretischen Notwendigkeit des Staates oben S. 222– 227 und S. 240 f. Vgl. RL, AA VI, S. 340; Gemeinspruch, AA VIII, S. 299 und S. 304 f.; ZeF, AA VIII, S. 344 und S. 350 f. mit Fn. * sowie Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1382. Dabei ist er nicht nur Beurteilungskriterium, sondern kategorisch verpflichtendes Handlungsprinzip staatlicher Herrschaft. Vgl. auch Kersting 1984, S. 222– 224; Unruh 1993, S. 112 f.; Ripstein 2009, S. 202– 204; Laschet 2011, S. 241 f. und Geismann 2012, S. 74– 78. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1382. Vgl. ähnlich Nachtrag zur Rechtslehre, veröffentlicht in Reicke II 324 f. (vgl. Stark 1993, S. 247 f.): „Also um bürgerlich frey zu seyn muß das Gesetz wiederum so beschaffen seyn daß es als der allgemeine Wille angesehen werden kann: nicht als der synthetisch-vereinigte Wille aller; denn alsdann würde es wieder ein einzelner Wille sondern so daß ein jeder es für alle mithin auch alle für einen jeden als gültig ansehen kann“. Gemeinspruch, AA VIII, S. 290. Man kann daher die staatsbürgerlichen Attribute mit Unruh 1993, S. 116 als „Prinzipien des ursprünglichen Kontrakts“ bezeichnen und sie sind zweifelsohne Konstitutionsprinzipien des status civilis (vgl. ebenso nur Kersting 1984, S. 232, Kersting 2004, S. 123 und Laschet 2011, S. 242 f.). Allerdings werden sie in der Rechtslehre im Rahmen des Staates in der Idee formal allein der gesetzgebenden Gewalt zugeordnet und sind insofern gesondert zu besprechen. Vgl. dazu ausführlich unten S. 328 – 334. Refl. 7436, AA XIX, S. 374. Vgl. ebenso Was ist Aufklärung?, AA VIII, S. 39 f.: „Was aber nicht einmal ein Volk über sich selbst beschließen darf, das darf noch weniger ein Monarch über das Volk beschließen; denn sein gesetzgebendes Ansehen beruht eben darauf, daß er den gesammten Volkswillen in dem seinigen vereinigt.“ Was darüber hinausgehend Inhalt des ursprünglichen Vertrags ist, lässt sich einem Brief Kants an Heinrich Jung-Stilling, AA XXIII, S. 495 entnehmen: „Es frägt sich eigentlich, wie Gesetze in einer schon vorausgesetzten bürgerlichen Gesellschaft gegeben werden sollen und da glaube ich, köne man nach der Ordnung der Categorien sagen: 1mo der Q v a n t i t ä t nach, müssen sie so
6.4 Das öffentliche Recht
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Steuerprivilegien oder staatlichen Religionszwang als unzulässig ausgewiesen.²⁵³ Allerdings spiegeln sich die Vorgaben des ursprünglichen Vertrags nicht in spezifischen, real existierenden Institutionen und politischen Organisationformen wider: Die Staatsformen sind nur der B u c h s t a b e (littera) der ursprünglichen Gesetzgebung im bürgerlichen Zustande, und sie mögen also bleiben, so lange sie, als zum Maschinenwesen der Staatsverfassung gehörend, durch alte und lange Gewohnheit (also nur subjectiv) für nothwendig gehalten werden. Aber der G e i s t jenes ursprünglichen Vertrages (anima pacti originarii) enthält die Verbindlichkeit der constituirenden Gewalt, die R e g i e r u n g s a r t
beschaffen seyn, als ob einer für alle und alle für einen sie beschlossen hätte; daß sie 2do der Q v a l i t ä t nach, nicht den Z w e c k der Bürger (jedes seine Glückseligkeit, die man jeden nach seiner Neigung und Vermögen selbst kan besorgen lassen), sondern nur die F r e y h e i t eines jeden und die Einschränkung derselben durch den Zwang, auf die Bedingungen, unter denen sie mit jedes andern Freyheit zusammen bestehen kan, betreffen müssen. Daß sie, was 3tio die R e l a t i o n der Handlungen des Bürgers betrift, nicht diejenige betreffen müssen, welche er gegen sich selbst ausübt, oder unmittelbar in Ansehung Gottes zu verrichten vermeynt, sondern nur die äußere Handlungen, dadurch er anderer Mitbürger Freyheit einschränkt. Daß 4to der M o d a l i t ä t nach, die Gesetze (als Zwangsgesetze) um der allgemeinen Freyheit halber nicht anders als so fern sie n o t h w e n d i g zu dieser erforderlich sind und nicht als willkührliche und zufällige Gebote, um beliebiger Zwecke willen, gegeben werden müssen.“ Kant systematisiert hier das politische Leitprinzip der reinen Republik nach der Ordnung der Kategorientafel. Unter Quantität finden wir das schon bekannte, rein formale Prinzip der Volkssouveränität, wonach die äußere Gesetzgebung im bürgerlichen Zustand auf das beschränkt ist, was das Volk über sich selbst beschließen kann. Das zweite Erfordernis der Qualität richtet sich gegen einen obrigkeitlichen Paternalismus. Es verweist den Staat allein auf die Garantie allgemeingesetzlicher Freiheit der Bürger und verbietet, darüber hinaus deren Privatzwecke zu reglementieren. Vgl. ebenso Gemeinspruch, AAVIII, S. 290 f. Drittens besteht der Relation nach das Erfordernis, dass allein die intersubjektiven Willkürsphären der Bürger gesetzlicher Bestimmung unterworfen sind. Darunter fallen nicht Handlungen, die das Verhältnis zu sich selbst oder gegen Gott betreffen. Damit wird nicht nur staatlicher Religionszwang ausgeschlossen, sondern es werden auch die Gegenstandsbereiche der bürgerlichen Gesetzgebung entzogen, die den vollkommenen Tugendpflichten gegen sich selbst unterliegen. Vgl. zur Berechtigung dieser Begrenzung jedoch oben S. 198– 203. Schließlich wird der Modalität nach das Gebot gesetzgeberischer Sparsamkeit aufgestellt. Die äußere Gesetzgebung im bürgerlichen Zustand soll nur die Rahmenbedingungen schaffen, die für ein friedliches Zusammenleben notwendig sind. Vgl. zum Ganzen ähnlich Ju 1990, S. 147– 149. Die Rechtslehre von 1797 lässt eine solche unmittelbare Bestimmung des ursprünglichen Vertrags vermissen. Gleichwohl sind die Bestimmungen aus dem Brief Kants an Jung-Stilling impliziter Gegenstand der staatsbürgerlichen Attribute, mit denen Kant in RL, AA VI, S. 313 f. die gesetzgebende Gewalt näher qualifiziert.Vgl. hierzu Gemeinspruch, AAVIII, S. 290 – 296 sowie sogleich ausführlich zu den staatsbürgerlichen Attributen unten S. 330 – 334. Vgl. Gemeinspruch, AA VIII, S. 297 mit Fn. * und RL, AA VI, S. 327.
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
jener Idee angemessen zu machen und so sie, wenn es nicht auf einmal geschehen kann, allmählich und continuirlich dahin zu verändern, daß sie mit der einzig rechtmäßigen Verfassung, nämlich der einer reinen Republik, i h r e r W i r k u n g n a c h zusammenstimme, und jene alte empirische (statutarische) Formen, welche bloß die U n t e r t h ä n i g k e i t des Volks zu bewirken dienten, sich in die ursprüngliche (rationale) auflösen, welche allein die F r e i h e i t zum Princip, ja zur Bedingung alles Z w a n g e s macht, der zu einer rechtlichen Verfassung im eigentlichen Sinne des Staats erforderlich ist und dahin auch dem Buchstaben nach endlich führen wird.²⁵⁴
Die reine Republik, von der hier die Rede ist und welche den Geist des ursprünglichen Vertrags verkörpert, konstituiert ein praktisches Ideal, welches anzustreben die moralische Pflicht eines jeden Staates ist. Das heißt, es ist stets zwischen dem (durch den ursprünglichen Vertrag ausgewiesenen) Vernunftideal einer systematischen Verbindung nach Rechtsgesetzen und dem tatsächlichen Staat als approximative Annäherung an dieses Ideal zu differenzieren.²⁵⁵ Kant verwendet in der Rechtslehre den Terminus reine Republik und benennt damit ein praktisch-politisches Vernunftideal, das er – wie eingangs gezeigt – im Streit der Fakultäten unter dem Begriff der respublica noumenon erneut aufgreift. Die Idee einer mit dem natürlichen Rechte der Menschen zusammenstimmenden Constitution: daß nämlich die dem Gesetz Gehorchenden auch zugleich, vereinigt, gesetzgebend sein sollen, liegt bei allen Staatsformen zum Grunde, und das gemeine Wesen, welches, ihr gemäß durch reine Vernunftbegriffe gedacht, ein platonisches Ideal heißt (respublica noumenon), ist nicht ein leeres Hirngespinst, sondern die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt und entfernt allen Krieg. Eine dieser gemäß organisirte bürgerliche Gesellschaft ist die Darstellung derselben nach Freiheitsgesetzen durch ein Beispiel in der Erfahrung (respublica phaenomenon) […];²⁵⁶
Kant charakterisiert den vereinigten gesetzgebenden Willen aller als Ideal der praktischen Vernunft. Als solches ist der vereinigte Volkswille in der Erfahrung niemals präsent und für real existierende Staaten prinzipiell unerreichbar. Dieses
RL, AA VI, S. 339 – 341. Gleiches gilt im Übrigen für die systematische Verbindung nach Tugendgesetzen. Hier ist das Reich der Tugend bzw. die unsichtbare Kirche (vgl. zu dieser Gleichsetzung oben Kap. 5, Fn. 85) das Ideal der reinen praktischen Vernunft, zu dem sich die sichtbare Kirche lediglich als approximative Annäherung verhält. So spricht Kant in Religion, AAVI, S. 131 von „eine[r] continuirliche[n] Annäherung zu derjenigen alle Menschen auf immer vereinigenden Kirche […], die die sichtbare Vorstellung (das Schema) eines unsichtbaren Reiches Gottes auf Erden ausmacht“. Vgl. ähnlich ebd., S. 101 und hierzu eingehend Stangneth 2000, S. 139 – 153; Rajiva 2005, S. 92; Wood 2011, S. 135 f. sowie teilweise kritisch Klar 2007, S. 202– 206. Streit, AA VII, S. 90 f.
6.4 Das öffentliche Recht
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Ideal ist lediglich die noumenale praktische Vorgabe:²⁵⁷ Die respublica noumenon ist eine Idee, welcher sich der Staat in der Erscheinung, die respublica phanomenon, annähern soll.²⁵⁸ „Der Staat i n d e r I d e e , wie er nach reinen Rechtsprincipien sein soll, […] [dient] jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen […] zur Richtschnur (norma) […].“²⁵⁹ Der ursprüngliche Vertrag enthält also keine institutionellen Vorgaben für in der Erfahrung anzutreffende Organisationsformen des politischen Zusammenlebens, sondern stellt die Idee eines vereinigten Volkswillens lediglich als a priori gebotenes politisches Leitprinzip realer Herrschaft vor, oder anders gesagt: Geboten ist eine bestimmte Regierungsart, nicht jedoch eine bestimmte Staatsform. Der Grund hierfür ist, dass jede Form von Staatlichkeit dieses Vernunftideal repräsentieren kann. Der vereinigte Volkswille stellt das Staatsoberhaupt nur nach dem Ideal der respublica noumenon vor. Es hat – als praktisches Ideal der reinen Vernunft – laut Kant „objective praktische Realität“, gleichwohl ist „[d]ieses Oberhaupt (der Souverän) aber […] so fern nur ein (das gesammte Volk vorstellendes) G e d a n k e n d i n g , als es noch an einer physischen Person mangelt, welche die höchste Staatsgewalt vorstellt und dieser Idee Wirksamkeit auf den Volkswillen verschafft“.²⁶⁰ Diese physische Person bzw. »physische Staatsgewalt« (d. h. der Staat in der Erscheinung) repräsentiert den Souverän (d. h. den vereinigten Volkswillen des Staats in der Idee) ungeachtet der Frage, ob eine einzelne Person, ein Kollegium oder das Volk als Ganzes herrscht:
Hierin liegt m. E. der zentrale Unterschied zur Rousseau’schen Konzeption im contrat social. Auch bei Rousseau wird der Souverän durch den Gesellschaftsvertrag als Ausdruck des Gemeinwillens konstituiert. Der Staat ist die sittliche Gesamtkörperschaft, die sämtliche Einzelpersonen vereinigt. Vgl. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, I, 6 und 7. Allerdings unterscheidet Rousseau – im Gegensatz zu Kant – nicht zwischen Staat in der Idee und Staat in der Erscheinung. Für Rousseau muss der Gemeinwille realiter gegeben sein, sonst ist der bürgerliche Zustand eo ipso aufgehoben.Vgl. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, III, 1 und 10. Bei Kant ist der vereinigte Wille aller hingegen eine Bestimmung des Staates in der Idee. Insofern ist das Vorliegen legitimer Staatlichkeit für Kant unabhängig davon, ob der vereinigte Wille tatsächlich wirkmächtig ist. Reale Staatlichkeit ist immer nur approximative Annäherung an eine noumenale Vorgabe bzw. ein praktisches Ideal. Vgl. zur reinen Republik bzw. zum Staat in der Idee als Vernunftideal im Ergebnis ebenso Ludwig 1988, S. 167 f., ausführlich Ludwig 1999, S. 173 – 176; Kersting 2004, S. 115 – 118; Dreier 2004, S. 750 – 752; Byrd und Hruschka 2011, S. 143 – 145, S. 168 – 171 und S. 184– 187; Laschet 2011, S. 241– 245 sowie Eisfeld 2015, S. 234– 239. RL, AA VI, S. 313. RL, AA VI, S. 338. Auch in VA RL, AA XXIII, S. 347 spricht Kant von „der Idee eines gemeinschaftlichen Willens[,] […] nur daß der declarirte Wille einer wirklichen Person beygelegt werden muß“.
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
Das Verhältniß der ersteren [sc. der Staatsgewalt] zum letzteren [sc. dem Volk] ist nun auf dreierlei verschiedene Art denkbar: entweder daß E i n e r im Staate über alle, oder daß E i n i g e , die einander gleich sind,vereinigt, über alle andere, oder daß A l l e zusammen über einen jeden, mithin auch über sich selbst gebieten, d.i. die S t a a t s f o r m ist entweder a u t o k r a t i s c h , oder a r i s t o k r a t i s c h , oder d e m o k r a t i s c h .²⁶¹
Dabei charakterisieren die drei verschiedenen Staatsformen nicht bloß mögliche Organisationsformen der Exekutive.²⁶² Vielmehr stellen sie jeweils Organisationsformen der Souveränität selbst dar, insofern die Idee eines vereinigten Volkswillens (und damit alle drei Gewalten prinzipiell umfassend) durch ein physisches Oberhaupt realisiert wird.²⁶³ Die Staatsform ist daher in jeder der drei Ausprägungen notwendig repräsentativ, weil die Staatsgewalt in jeder Form der Idee einer respublica noumenon zu faktischer Wirksamkeit im Volkswillen verhilft. Staatlichkeit impliziert damit bereits begrifflich das Verhältnis eines „G e b i e t e n d e n (imperans) gegen den G e h o r s a m e n d e n (subditus)“²⁶⁴, welche extensional nicht identisch sein können, da anderenfalls die Notwendigkeit, der Idee Realität zu verschaffen, wegfiele. Demgegenüber beschreibt die Regierungsart, inwiefern die tatsächliche Oberherrschaft – ungeachtet der Frage, ob sie autokratisch, aristokratisch oder demokratisch strukturiert ist – dem Ideal der respublica noumenon, mithin der Idee eines vereinigten Volkswillens entspricht. Wird der Staat in der Erscheinung diesem Ideal gerecht, so ist die Regierungsart republikanisch. Realisiert der Staat in der Erscheinung hingegen nicht den vereinigten Volkswillen, sondern bestimmt sich allein nach dem Privatwillen des bzw. der Herrschenden, handelt es sich um eine despotische Regierungsart. Folgerichtig kann jede Staatsform, z. B. auch eine autokratische absolute Monarchie, republikanisch wie auch despotisch regiert werden:²⁶⁵
RL, AA VI, S. 338. Dies sah Kant lange Zeit anders. Schon in Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1383 und S. 1389 bezieht er die verschiedenen Staatsformen allein auf die Ausgestaltung der Exekutive. Diese Position hält Kant auch noch in ZeF, AA VIII, 351– 353 aufrecht. Vgl. hierzu ausführlich Ludwig 1999, S. 180 – 187 und hilfreich auch Byrd und Hruschka 2011, S. 176 – 179. Vgl. Ludwig 1999, S. 177 f. Dies zeigt auch Kants ausdrücklicher Hinweis, im Hinblick auf die Staatsformenlehre von Autokratie und nicht Monarchie reden zu wollen, da „[d]er Ausdruck m o n a r c h i s c h statt autokratisch […] nicht dem Begriffe, den man hier will, angemessen [ist]; denn M o n a r c h ist der, welcher die h ö c h s t e , A u t o k r a t o r aber oder S e l b s t h e r r s c h e r der, welcher a l l e Gewalt hat; dieser ist der Souverän, jener repräsentirt ihn bloß“ (RL, AA VI, S. 338 f.). RL, AA VI, S. 315. Vgl. im Ergebnis ebenso Langer 1986, S. 105 – 109; Kersting 1984, S. 288 – 295, erneut Kersting 2004, S. 138 f.; Dreier 2004, S. 751 f.; Ludwig 1999, S. 179 f. und Byrd und Hruschka 2011, S. 180 f., wobei allein die letzen beiden zutreffend berücksichtigen, dass Kant in der Rechtslehre eine ge-
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[M]ithin ist es Pflicht in eine solche [sc. gemäß dem Ideal der respublica noumenon organisierte bürgerliche Gemeinschaft] einzutreten, vorläufig aber (weil jenes nicht so bald zu Stande kommt) Pflicht der Monarchen, ob sie gleich a u t o k r a t i s c h herrschen, dennoch r e p u b l i c a n i s c h (nicht demokratisch) zu regieren, d.i. das Volk nach Principien zu behandeln, die dem Geist der Freiheitsgesetze (wie ein Volk mit reifer Vernunft sie sich selbst vorschreiben würde) gemäß sind, wenn gleich dem Buchstaben nach es um seine Einwilligung nicht befragt würde.²⁶⁶
Kants Bestimmung von Regierungsart und Staatsform hat zur Folge, dass sich das Erfordernis einer äußeren Gesetzgebung, welche mit der sittlichen Autonomie des Einzelnen vereinbar ist, ausschließlich auf die Regierungsart, nicht jedoch auf die Staatsform bezieht. Mit anderen Worten: Die Demokratie als Staatsform wird der sittlichen Autonomie des Einzelnen nicht notwendig gerechter als etwa eine Aristokratie. Gleichwohl lässt sich bei Kant eine Entwicklung dahingehend feststellen, dass er die Demokratie als Staatsform – aus rein probabilistischen Gründen – einer republikanischen Regierungsart am zuträglichsten erachtet.²⁶⁷
genüber früheren Schriften (vgl. Kap. 6, Fn. 262 und 267) neue Konzeption von Staatsformenlehre und Regierungsart hat. Streit, AA VII, S. 91. In der Rechtslehre (RL, AA VI, S. 339) scheint Kant sich dafür auszusprechen, dass die Demokratie – wohlgemerkt aus pragmatischen, nicht moralischen Gründen – dem Republikanismus am zuträglichsten sei: „Was die H a n d h a b u n g des Rechts im Staat betrifft, so ist freilich die einfachste [sc. Staatsform] auch zugleich die beste, aber, was das R e c h t selbst anlangt, die gefährlichste fürs Volk in Betracht des Despotismus, zu dem sie so sehr einladet. Das Simplificiren ist zwar im Maschinenwerk der Vereinigung des Volks durch Zwangsgesetze die vernünftige Maxime: wenn nämlich alle im Volk passiv sind und Einem, der über sie ist, gehorchen; aber das giebt keine Unterthanen als S t a a t s b ü r g e r .“ Die Ausübung der Herrschaft ist in der Autokratie am einfachsten, weil das Oberhaupt nur durch eine Person vorgestellt wird, mithin „nur Einer der Gesetzgeber ist“ (RL, AA VI, S. 339). Jedoch betont er, dass gerade aufgrund dessen hier die größte Gefahr einer Despotie besteht, indem der Herrscher seinen Privatwillen als Allgemeinwillen setzt. Hingegen stellt die Demokratie das Staatsoberhaupt „der Person nach“ durch „die ganze Volkszahl, de[n] demokratische[n] Verein“ vor (RL, AA VI, S. 341), sodass es allein wegen der damit einhergehenden Herrschaftsverteilung schwerer wird, den Privatwillen zum Allgemeinwillen zu setzen. Vgl. ähnlich Langer 1986, S. 104. Mit dieser Position grenzt sich Kant deutlich gegenüber früheren Äußerungen in ZeF ab. Ebd., AAVIII, S. 352 f. hatte Kant noch davor gewarnt, dass „[u]nter den drei Staatsformen […] die der D e m o k r a t i e im eigentlichen Verstande des Worts nothwendig ein D e s p o t i s m [ist], weil sie eine exekutive Gewalt gründet, da alle über und allenfalls auch wider Einen […] beschließen; welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist.“ Diese unterschiedliche Bewertung der demokratischen Staatsform ist jedoch darauf zurückzuführen, dass Kant in der Friedensschrift die Staatsformenlehre allein auf die Zusammensetzung der Exekutive bezieht und diese wiederum auf Ebene des Staates in der Erscheinung den vereinigten gesetzgebenden Willen repräsentiert. Daher fallen in der Demokratie Gesetzgebung und ausführende Gewalt notwendig despotisch zusammen. Entsprechend sind
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6.4.3.2 Kants Gewaltenteilungslehre – Die trias politica des Staates in der Idee Die eben besprochene Unterscheidung zwischen Staat in der Idee und Staat in der Erscheinung ermöglicht auch allererst das richtige Verständnis der Kantischen Gewaltenteilungslehre. Auch wenn Kant gesetzgebende, vollziehende und rechtsprechende Gewalt unterscheidet, verkörpern diese zusammen „den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica)“.²⁶⁸ Folglich verortet Kant die Gewaltenteilungslehre im Kontext des Staates in der Idee (respublica noumenon), und es geht ihm gerade nicht um eine institutionelle Aufspaltung bzw. Aufteilung der Staatsmacht auf der Ebene des Staates in der Erscheinung (respublica phaenomenon). Insofern sie das Vernunftideal einer republikanischen Regierungsart konkretisiert, handelt es sich also um eine rein funktionelle Gewaltenteilung.²⁶⁹ Diese ist laut Kant aus Vernunftgründen erforderlich, denn die drei Gewalten entsprechen […] den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluß: dem Obersatz, der das Gesetz jenes Willens, dem Untersatz, der das Gebot des Verfahrens nach dem Gesetz, d.i. das Princip der Subsumtion unter denselben, und dem Schlußsatz, der den Rechtsspruch (die Sentenz) enthält, was im vorkommenden Falle Rechtens ist.²⁷⁰
Kants Interpretation der Gewaltenteilung als praktischer Vernunftschluss ist weder einem übertriebenen Rationalismus und Drang zur Logifizierung zuzu-
nicht alle Staatsformen gleich repräsentativ, sondern „je größer dagegen die Repräsentation derselben, desto mehr stimmt die Staatsverfassung zur Möglichkeit des Republikanism, und sie kann hoffen, durch allmähliche Reformen sich dazu endlich zu erheben“ (ZeF, AAVIII, S. 353).Vgl. ähnlich VA ZeF, AA XXIII, S. 166. Dies ändert sich mit der Rechtslehre, da die physische Staatsgewalt auf Ebene der respublica phaenomenon nun nicht mehr eine Bestimmung der Exekutive ist. Vielmehr repräsentiert sie ungeachtet der Staatsform insgesamt den selbst schon gewaltenteilig verfassten (und damit die Exekutive umfassenden) vereinigten Volkswillen des Staates in der Idee. Vgl. hierzu schon oben S. 317 f. sowie ausführlich m. w. N. Ludwig 1999, S. 180 – 189 und Byrd und Hruschka 2011, S. 175 – 181. RL, AA VI, S. 313. Vgl. ebenso RL, AA VI, S. 315 und S. 338. Damit ist Kant im Rahmen der zeitgenössischen Diskussion Theoretikern wie Hobbes, Locke und Rousseau zuzuordnen, die sich – freilich inhaltlich unterschiedlich – für eine funktionelle Gewaltenteilungskonzeption unter Beibehaltung einer einheitlichen Staatsgewalt aussprachen. Davon sind materiale Gewaltenteilungskonzeptionen – etwas die Montesquieus – zu unterscheiden, die auf eine institutionelle Aufspaltung der Staatsgewalt im Sinne von checkes and balances abzielten. Vgl. dazu überblicksartig nur Kersting 1984, S. 260 – 262 und Unruh 1993, S. 159 – 162, jeweils m. w. N. RL, AA VI, S. 313.
6.4 Das öffentliche Recht
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schreiben,²⁷¹ noch handelt es sich lediglich um eine sachlich nicht notwendige Analogisierung.²⁷² Vielmehr macht Kant hiermit deutlich, dass die Geltendmachung von Rechten bzw. Rechtspflichten vernunftnotwendig die logische Unabhängigkeit der Gesetzgebung von Subsumtionsregel und Sentenz erfordert.²⁷³ Um rechtsgesetzlich bestimmte Pflichten und Rechte in gesetzmäßiger Weise auf Lebenssachverhalte anzuwenden (d. h. um sagen zu können: Im Hinblick auf den konkreten Sachverhalt X findet das Gesetz Anwendung und erwächst Dir die gesetzlich bestimmte Rechtspflicht Y!), bedarf es von Vernunft wegen dreier Schritte: Erstens bedarf es einer Gesetzgebung, die kategorische Rechte und Rechtspflichten aufstellt (propositio maior). Zweitens bedarf es eines geregelten Verfahrens, welches diese Rechte und Pflichten auf Lebenssachverhalte anwendet und durch äußere Zwangshandlungen einlöst (propositio minor). Und schließlich bedarf es drittens eines Urteils, welches die vorgebliche Rechtsanwendung als gesetzmäßig ausweist (conclusio).²⁷⁴ Zu diesem Dreischritt führt Kant in den Vorarbeiten zum Streit der Fakultäten konzis aus: Staatsverfassung Enthält 1) eine gesetzgebende Gewalt als Bedingung 2) eine regierende Gewalt als das Bedingte nämlich nach Gesetzen jedem seine Pflicht zu bestimmen durchs gouvernement und Magistrate 3) eine richterliche Gewalt welche auf die Consequentz des Bedingten aus jener Bedingung d.i. suum cuiqve zu bestimmen hinausgeht.²⁷⁵
Diesem Aufbau eines Vernunftschlusses entsprechend bezeichnet Kant in der Rechtslehre die drei Gewalten als beigeordnet, untergeordnet sowie erst in Vereinigung „jedem Unterthanen sein Recht ertheilend“.²⁷⁶ Letztere Bestimmung Diesen Vorwurf erhebt z. B. Böckenförde 1958, S. 96. Vgl. so z. B. Shell 1980, S. 163; Kersting 1984, S. 264 und wohl auch Unruh 1993, S. 163. Vgl. so schon richtig Ludwig 1988, S. 159 f.; Ludwig und Herb 1994, S. 436 – 442 sowie i. E. auch Byrd und Hruschka 2011, S. 157– 161. Diese führen die Gewaltenteilung auf das Privatrecht zurück, da zur Begründung eines äußeren Mein und Dein die logische Unabhängigkeit von Gesetz, Subsumtionsregel und Sentenz notwendig sei. Dies ist im Ergebnis zutreffend, verengt den Blick jedoch unnötig auf das äußere Mein und Dein. Jede Geltendmachung von Rechten erfordert die Subsumtion der Bedingung des subjektiven Rechts unter eine allgemeine, rechtsgesetzliche Regel. Folglich ist auch für die Geltendmachung angeborener Rechte die logische Unabhängigkeit von Gesetz, Subsumtionsregel und Sentenz notwendig. Vgl. VA ZeF, AA XXIII, S. 166: „Die dritte rechtliche Gewalt ist diejenige welche die Austheilung des Seinen eines jeden nach der Übereinstimmung der Regierung mit der Gesetzgebung bestimmt (iustitia distributiva) und ist der Gerichtshof der Rechtspflege (potestas iudiciaria) welche Autorität gleichsam das letzte Glied eines Vernunftschlußes ausmacht […].“ VA Streit, AA XXIII, S. 425. Vgl. RL, AAVI, S. 316. Die Gewalten sind beigeordnet, insofern jede Gewalt logisch ihr eigenes Prinzip hat und „in ihrem Funktionsbereich uneingeschränkt herrscht“ (Kersting 1984, S. 259).
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
macht deutlich, dass für Kant der öffentlich-rechtliche Zustand notwendig gewaltenteilig verfasst ist.²⁷⁷ Daher korrespondiert die Gewaltenteilung seiner Einteilung der öffentlichen Gerechtigkeit in iustitia tutatrix, iustitia commutativa und iustitia distributiva, insofern hierdurch Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit eines Mein und Dein gewährleistet werden.²⁷⁸ Im Staatsrecht der Rechtslehre weist Kant die drei Gewalten entsprechend ihrer syllogistischen Funktion als Ausprägungen des vereinigten Volkswillens in dreifacher Person aus: [D]ie H e r r s c h e r g e w a l t (Souveränität) in der des Gesetzgebers, die v o l l z i e h e n d e G e w a l t in der des Regierers (zu Folge dem Gesetz) und die r e c h t s p r e c h e n d e G e w a l t (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz) in der Person des Richters (potestas legislatoria, rectoria et iudiciaria) […].²⁷⁹
Dabei kommt der gesetzgebenden Gewalt als Souverän das Primat zu. Dies lässt sich zum einen aus der Struktur des Syllogismus erklären, wonach die Gesetzgebung als Obersatz fungiert.²⁸⁰ Zum anderen hat die Vorrangstellung der Gesetzgebung einen inhaltlichen Grund, der uns auf die autonomietheoretische Staatsbegründung Kants zurückführt: Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Denn da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muß sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht thun k ö n n e n . Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen A n d e r e n verfügt, immer möglich, daß er ihm dadurch unrecht thue, nie aber in dem, was er über sich selbst
Gleichzeitig sind die Gewalten im Verhältnis zueinander untergeordnet, weil Rechte und Pflichten primär durch die rechtsgesetzliche Regel (propositio maior) der gesetzgebenden Gewalt bestimmt werden und Exekutive wie auch Judikative hieran gebunden sind. Zu Recht weisen Unruh 1993, S. 163 und Geismann 2012, S. 105 f. daher der Legislative innerhalb der Gewalten-Trias eine privilegierte Stellung zu. Vgl. Religion, AA VI, S. 140, wonach bereits „in dem Begriffe eines Volks als eines gemeinen Wesens […] eine solche dreifache obere Gewalt (pouvoir) jederzeit gedacht werden muß“. Dies gilt nach Kant sowohl für das juridische wie auch für das ethische Gemeinwesen. Allerdings entsprechen im ersteren den drei Gewalten drei moralische Personen, im letzteren sind sie in Gott als moralischem Oberhaupt vereinigt.Vgl. RL, AA VI, S. 316 und Religion, AA VI, S. 139 f. sowie hierzu Kersting 1984, S. 262 f. und Unruh 1993, S. 164. Vgl. RL, AA VI, S. 305 f. und dazu oben S. 293– 300. Recht ist überhaupt nur möglich, wo eine rechtliche Gesetzgebung besteht; wirklich, wo diese äußerlich erzwingbar ist; und notwendig, wo die Gesetzmäßigkeit des Rechtszwangs garantiert ist. Eine ähnliche Verbindung ziehen – mit im Detail unterschiedlicher Interpretation – auch Ludwig 1988, S. 160 sowie Byrd und Hruschka 2011, S. 147. RL, AA VI, S. 313. Die anderen Gewalten sind an die Gesetzgebung als Bedingung gebunden, vgl. oben Kap. 6, Fn. 276.
6.4 Das öffentliche Recht
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beschließt (denn volenti non fit iniuria). Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille Aller, so fern ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein.²⁸¹
Äußere Gesetzgebung ist nur dann sittlich zulässig, wenn sie der Einzelne als Selbstverpflichtung begreifen kann. Dies ist der Grund für die sittliche Notwendigkeit des Staates, der als Ideal des vereinigten gesetzgebenden Willens aller genau diese Vermittlungsleistung erbringt – so die Quintessenz der autonomietheoretischen Staatsbegründung.²⁸² Kants Bestimmung der gesetzgebenden Gewalt stellt sich als die konsequente staatsrechtliche Ausgestaltung dessen dar. Dies gilt zunächst offenkundig für erworbene Rechte, da ein äußeres Mein und Dein erst durch die positiv-rechtliche Gesetzgebung des vereinigten Volkswillens peremptorisch zustande kommt.²⁸³ Aber auch angeborene Rechte, die als inneres Mein und Dein eigentlich durch natürliches Vernunftrecht a priori feststehen, bedürfen einer weitergehenden positiv-rechtlichen Bestimmung; und zwar im Hinblick auf die Nötigung zu der gemäß dem natürlichen Rechtsgesetz a priori notwendigen Handlung. Hierfür muss man erneut hervorheben, dass diese Nötigung für Kant Teil der Gesetzgebung ist. Denn Kant versteht unter dem Gesetzgeber denjenigen, der den Willen zur Gesetzesbefolgung bestimmt; oder in der Terminologie der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ ausgedrückt: Rechtliche Gesetzgebung umfasst neben der Konstitution eines Gesetzes auch die Aufstellung einer äußeren Triebfeder zur Befolgung des Gesetzes. Gemeint ist äußere Nötigung, da Kants Rede von äußeren Triebfedern darauf verweist, freiwillig auf eine erwogene Handlung zu verzichten, um negative Folgen zu vermeiden, die andere (insofern äußerlich) im Falle der Handlung in Aussicht gestellt haben.²⁸⁴ Damit geht es Kant hier letztlich um das staatliche Sanktionssystem, insbesondere um die staatliche Strafandrohung. Diese besteht nicht in physischem Zwang i. S. v. vis absoluta, also der faktischen Einschränkung/Nötigung durch einen anderen, sondern lediglich in der positivrechtlichen Sanktionsandrohung, die den Verpflichteten zu legalem Verhalten anhalten soll, mithin vis compulsiva.²⁸⁵ Staatliche Strafandrohung ist Teil der Ge-
RL, AA VI, S. 313. Vgl. hierzu eingehend oben S. 210 – 247. Vgl. oben S. 272– 285. Vgl. oben Kap. 2, Fn. 70. Dass Nötigung in diesem Sinne Teil der Gesetzgebung ist, ergibt sich schon aus Kants Pflichtbegriff, auf welchen sich der Gesetzgebungsbegriff gerade bezieht: „Der P f l i c h t b e g r i f f ist an sich schon der Begriff von einer N ö t h i g u n g (Zwang) der freien Willkür durchs Gesetz; dieser Zwang mag nun ein ä u ß e r e r oder ein S e l b s t z w a n g sein.“ (TL, AA VI, S. 379).Vgl. dazu ausführlich oben S. 117– 123. Mithin fällt bei äußerer, staatlicher Gesetzgebung die gesetzlich
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
setzgebung. Es bedarf also stets eines positiv-rechtlich ausgeformten Sanktionssystems, um von einer äußeren Gesetzgebung sprechen zu können. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um angeborene oder erworbene Rechte bzw. Pflichten handelt, die äußerlich abgenötigt werden.²⁸⁶ Insofern kann man davon sprechen, dass jedes Vernunftrecht einer Positivierung durch staatliche äußere Gesetzgebung bedarf.²⁸⁷ Da Kant auch diese Gesetzgebung dem vereinigten Willen des Volkes
bestimmte Sanktionsandrohung mit Zwang im Sinne von vis compulsiva zusammen. Man zwingt bzw. nötigt jemanden durch das Gesetz, indem man mit der gesetzlich geforderten Handlung eine äußere Triebfeder verbindet. Damit bewegt sich Kant in gewohnten Bahnen der Schulphilosophie. So erklärt etwa Wolff, Vernünftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, § 8 die Verbindlichkeit des Diebstahlverbots durch die gesetzliche Nötigung vermittels der obrigkeitlichen Strafandrohung: „Einen verbinden etwas zu thun, oder zu lassen, ist nichts anders als einen Bewegungs-Grund des Wollens oder Nicht-Wollens damit zu verknüpfen. Z. E. Die Obrigkeit verbindet die Unterthanen den Diebstahl zu unterlassen durch die darauf gesetzte Straffe des Stranges. Da nun durch ihre Macht und Gewalt diese Straffe mit dem Diebstahle verknüpffet wird, und gewiß erfolget, daß derjenige an den Galgen kommet, der des Diebstahles überführet wird, dergestalt, daß er ihn nicht leugnen kann; […] bekommet er [sc. derjenige, der einen Diebstahl erwägt] vor dem Diebstahle einen Abscheu […], folgends verbindet die Obrigkeit die Unterthanen den Diebstahl zu unterlassen, indem sie einen Bewegungs-Grund des Nicht-Wollens mit dieser Handlung verknüpffet.“ Anfänglich scheint Kant von Gesetzgebung nur im Hinblick auf die Konstitution positiver Gesetze gesprochen zu haben. Damit schied eine äußere Gesetzgebung hinsichtlich natürlicher Gesetze von vornherein aus: „Die positive[n] Gesetze sind es allein, welche den Unterthan äußerlich obligiren, in Ansehung der natürlichen gilt keine äußerliche Gerechtigkeit.“ (Refl. 7445, AA XIX, S. 380). Diese Auffassung korrigiert Kant jedoch im Laufe der Zeit, wie RL, AA VI, S. 224 deutlich zeigt: „Überhaupt heißen die verbindenden Gesetze, für die eine äußere Gesetzgebung möglich ist, äußere Gesetze (leges externae). Unter diesen sind diejenigen, zu denen die Verbindlichkeit auch ohne äußere Gesetzgebung a priori durch die Vernunft erkannt werden kann, zwar äußere, aber n a t ü r l i c h e Gesetze; diejenigen dagegen, die ohne wirkliche äußere Gesetzgebung gar nicht verbinden (also ohne die letztere nicht Gesetze sein würden), heißen p o s i t i v e Gesetze.“ Hier bezieht Kant die Möglichkeit einer äußeren Gesetzgebung gleichermaßen auf natürliche wie positive Gesetze. Dies hat nur dann einen Sinn, wenn sich äußere Gesetzgebung nicht nur in der Konstitution positiver Gesetze erschöpft, sondern auch die Nötigung bzw. Begründung rechtsgesetzlicher Verbindlichkeiten schlechthin umfasst. Insoweit ist Kersting 2004, S. 110 – 112 zuzustimmen, welcher richtig erkennt, dass es den Staat auch in Ansehung des inneren Mein und Dein braucht. Es bedarf jedoch einer Präzisierung, wenn er das Vernunftrecht als „ein Recht […], das auf den Staat und damit auf Positivierung hindrängt“, qualifiziert. Vgl. auch Kersting 1984, S. 108, wo er von einer „Selbstpositivierung des Vernunftrechts“ spricht, sowie dem wohl beipflichtend Friedrich 2004, S. 157– 159 und S. 169 f.; Byrd und Hruschka 2011, S. 34 und Laschet 2011, S. 233. Positive Gesetze sind bei Kant begrifflich als willkürliche Gesetze definiert, deren Existenz und Geltung allein auf der Autorität des Gesetzgebers beruht (vgl. nur RL, AA VI, S. 224, zitiert oben Kap. 6, Fn. 286). Natürliche Gesetze sind hingegen vernunftnotwendig und können daher schon begrifflich nicht positiviert werden. Es sind vielmehr die Strafen, die seitens des Gesetzgebers mit dem natürlichen Gesetz verbunden werden,
6.4 Das öffentliche Recht
325
zuschreibt, ist gewährleistet, dass die äußere Geltendmachung von Rechten im Staat stets auf den Willen des jeweils Verpflichteten zurückgeführt wird. Allerdings benötigt – wie sich systematisch unschwer aus der syllogistischen Struktur der Gewaltenteilung ergibt – die so bestimmte Gesetzgebung für ihre praktische Wirksamkeit und Notwendigkeit die beiden anderen Gewalten als Anwendungsprinzipien.²⁸⁸ So kann man ohne vollziehende Gewalt nicht von einer „mit Macht verbundenen Gesetzgebung“²⁸⁹ sprechen. Denn ohne potente Exekutive fehlt es bereits an der wirksamen Setzung einer äußeren Triebfeder: Für mich als Verpflichteten existiert ja erst dadurch eine äußere Triebfeder, dass die gesetzliche Sanktionsandrohung durch eine obrigkeitliche Zwangsordnung glaubhaft gemacht wird. Ohne physisch wirksame Zwangsordnung im Sinne von vis absoluta kann von keiner Zwangsandrohung gesprochen werden,welche im Sinne von vis compulsiva für eine effektive äußere Triebfederbestimmung, mithin äußere Gesetzgebung, hinreicht. Gleichzeitig ist hiermit bereits der Überschritt von bloßer Sanktionsandrohung zu physisch-wirksamen Zwangsmaßnahmen getan.²⁹⁰ Jedoch muss hierfür garantiert
welche als willkürlich und insofern positiv qualifiziert werden können.Vgl. dazu MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 545 f. und indirekt Pädagogik, AA IX, S. 494. Darüber hinaus finden sich auch entsprechende Textbelege, die dies untermauern, etwa Refl. 8051, AA XIX, S. 594: „[E]s ist kein äußeres Gesetz, ohne daß ein competenter Richter constituirt sey, welcher darnach richte[,] und eine Gewalt, jederman demselben Gemäs zu zwingen.“ Vgl. teilweise ähnlich Refl. 7940, AA XIX, S. 561 und Praktische Philosophie Powalski, AA XXVII, S. 161. Gemeinspruch, AA VIII, S. 292 f. Um diese Exekutivfunktion erfüllen zu können, schreibt Kant dem Regenten verschiedene Befugnisse zu. Er ist „der A g e n t des Staats, der die Magisträte einsetzt, dem Volk die Regeln vorschreibt, nach denen ein jeder in demselben dem Gesetze gemäß (durch Subsumtion eines Falles unter demselben) etwas erwerben, oder das Seine erhalten kann“. Seine „B e f e h l e an das Volk und die Magisträte und ihre Obere (Minister)“ sind „Verordnungen, D e c r e t e (nicht Gesetze)“. Denn die Exekutive steht dabei „unter dem Gesetz und wird durch dasselbe folglich von einem A n d e r e n , dem Souverän, verpflichtet“ (RL, AA VI, S. 316 f.). Kant meint hiermit lediglich Vorschriften zur Rechtsausübung, die das Verfahren bzw. das wie des Erwerbs neuer und der Durchsetzung bestehender Rechte betreffen. Es geht jedoch nicht um das ob, d. h. weder um die Gesetzgebung noch um die richterliche Entscheidung. Dass der ausführenden Gewalt auch die Bereitstellung eines Verfahrens zur Rechtsanwendung zukommt, ist Kants syllogistischer Konzeption der Gewaltenteilung geschuldet. Denn während die Legislative die gesetzliche Pflicht als abstrakt generelles Gebot aufstellt und die Judikative die gesetzmäßige Anwendung desselben im konkreten Fall feststellt, kommt der Exekutive im Rahmen des praktischen Vernunftschlusses die Aufgabe zu, die Rechtsanwendung zu vollziehen. Dies umfasst neben der eigentlichen Rechtsvollstreckung die Bereitstellung von Verfahren, wie Rechte erworben und gesichert werden können. Vgl. hierzu auch oben S. 320 f. sowie Refl. 7986, AA XIX, S. 573. Auf den Rechtserwerb bezogen stellt der Regent in dieser Funktion z. B. Marktregeln auf oder unterhält Grundbücher (vgl. hierzu Ludwig 1988, S. 163 f.; Ludwig und Herb 1994, S. 440 f.; Hruschka 2015, S. 32 f. und aus-
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sein, dass die Zwangsmaßnahmen der gesetzlichen Sanktionsandrohung entsprechen; d. h., dass Zwang notwendigerweise gesetzlich ist. Hierfür bedarf es zum einen der Trennung von gesetzgebender und ausführender Gewalt. Anderenfalls gäbe es keine Rechtsanwendung, sondern Exekutivhandeln wäre eo ipso Rechtssetzung und mithin nicht gesetzlich gebunden.²⁹¹ Zum andern bedarf es einer rechtsprechenden Gewalt: Der Judikative kommt die Adjudikationsfunktion zu,²⁹² eine gesetzmäßige Rechtsanwendung in jedem Fall sicherzustellen.²⁹³ Sie muss als selbstständige Gewalt vorliegen, damit staatliche Gesetzgebung notwendig gilt. Denn fiele die Judikative mit der Exekutive zusammen, wäre Rechtsanwendung rechtlich weder bestimm- noch überprüfbar und damit nicht mehr dem Gesetz unterworfen. Fiele sie umgekehrt mit
führlich Byrd und Hruschka 2011, S. 149 – 157). Allerdings darf man die exekutive Gewalt – anders als die vorgenannten Autoren – nicht ausschließlich auf die Begründung eines äußeren Mein und Dein beziehen, will man nicht deren originäre Funktion der Rechtsdurchsetzung aus dem Blick verlieren. Letztere bezieht sich gleichermaßen auf angeborene und erworbene Rechte und steht bei Kant sogar teilweise im Vordergrund (vgl. z. B. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 590; Gemeinspruch, AAVIII, S. 292). Auch in der Rechtslehre (RL, AAVI, S. 317 f.) betont Kant, dass der Exekutive „zu oberst das Vermögen dem Gesetze gemäß zu z w i n g e n zusteht“ und Gerichtsurteile nach Verkündung „vermittelst der ausführenden Gewalt“ vollstreckt werden. Vgl. auch Byrd und Hruschka 2011, S. 163 f. Den eigentlich judikativen Akt vollzieht die Jury, welche als Repräsentant des Volks für jedes einzelne Urteil durch freie Wahl bestimmt wird. Diese trifft das Urteil über das Bestehen oder NichtBestehen der Verbindlichkeit nach dem Gesetz und damit über die Legitimität bzw. Notwendigkeit der Rechtsanwendung. In einem zweiten Schritt ordnet dann der Richter, welcher als Magistrat von der Exekutive bestimmt ist, die nach dem Gesetz bestimmte Rechtsfolge an und veranlasst die entsprechende Rechtsdurchsetzung (teilt einem jeden das Seine zu). Vgl. RL, AA VI, S. 317. Vgl. VA ZeF, AA XXIII, S. 164, wonach die „[r]ichterliche Autorität […] durch ihren Spruch den gegebenen Fall der Regierung aus der allgemeinen Regel der Gesetzgebung ableitet“. Aus moderner Perspektive lassen sich hierunter sowohl Gerichtsentscheidungen fassen, welche die Rechtmäßigkeit von Exekutivhandeln überprüfen, als auch solche, die Exekutivhandeln anordnen. In der Rechtslehre steht m. E. letzteres im Vordergrund, da Kant betont, dass bei der „Ausmittelung der That in der Klagsache nun der Gerichtshof das Gesetz anzuwenden und vermittelst der ausführenden Gewalt einem jeden das Seine zu Theil werden zu lassen die richterliche Gewalt hat“. Allerdings ist es – entgegen Ludwig 1988, S. 166 und Kersting 1984, S. 270, Fn. 130 – gerade auf Grund der Gewaltenteilung möglich, dass Exekutivhandeln nicht dem Gesetz entspricht. Da das Urteil hierüber wiederum nur die Judikative treffen kann, scheint somit – neben der Jurisdiktionsfunktion in privatrechtlichen Streitigkeiten – die gerichtliche Überprüfbarkeit von Verwaltungshandeln möglich: „Der oberste Richter urtheilt über die Verhältnisse der Bürger gegen einander und des Regenten gegen das Volk.“ (Refl. 7905, AA XIX, S. 549). Vgl. ähnlich Refl. 7725, AA XIX, S. 500; Refl. 8051, AA XIX, S. 594; Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1384 sowie Nachtrag zur Rechtslehre, veröffentlicht in Reicke II 324– 325 (vgl. Stark 1993, S. 247 f.)
6.4 Das öffentliche Recht
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der Legislative zusammen, gäbe es keine abstrakt-generelle und allgemeingültige Gesetzgebung mehr, sondern nur noch dezisionistische Einzelfallentscheidungen.²⁹⁴ Exekutive und Judikative müssen mithin – der Struktur eines praktischen Syllogismus entsprechend – gegenüber der gesetzgebenden Gewalt logisch selbstständig sein. Gleichwohl sind sie ihr als Anwendungsprinzipien äußerer Gesetzgebung untergeordnet.²⁹⁵ Dementsprechend sind auch sie als Ausdruck des gesetzgebenden Willens aller zu begreifen, denn es geht jeweils darum, das Gesetz des vereinigten Volkswillens auszuführen bzw. hiernach zu richten.²⁹⁶ Hierdurch kommt dem vereinigten Willen aller in Ansehung der rechtlichen Zwangshandlungen (d. h. der Exekutive als dem Verfahren der Rechtsanwendung) eine Monopolisierungs- und Sicherungsfunktion zu. Dem Einzelnen steht es nicht mehr frei, seinen Rechtsanspruch selber durchzusetzen, denn im rechtlichen Zustand wird „durch das [Staatsoberhaupt] aller rechtliche Zwang allein ausgeübt“ und „keiner [kann] irgend jemanden anders zwingen […], als durch das öffentliche Gesetz (und den Vollzieher desselben, das Staatsoberhaupt)“.²⁹⁷ In der respublica noumenon (dem Staat in der Idee) ist Rechtsanwendung durch die Exekutive mithin nichts anderes als externalisierter Selbstzwang, weil ich mich stets – auch in Zwangshandlungen gegenüber mir selbst – als im vereinigten Volkswillen mitbestimmend betrachten kann. Im Hinblick auf die Judikative zeigt sich die Rückführung auf den vereinigten Volkswillen in der Rechtslehre – zugegebenermaßen systematisch schief –²⁹⁸ darin, dass sich laut Kant das Volk selbst […] durch diejenigen ihrer Mitbürger [richtet], welche durch freie Wahl, als Repräsentanten desselben […] ernannt werden[,] […] und [das Urteil, P.-A. H.], ob s c h u l d i g oder n i c h t s c h u l d i g , über seine Mitbürger ausspr[icht] […]. Also kann nur das Vo l k durch seine von
Rechtsgesetze gelten nicht mehr reziprok und allgemein, wenn sie stets als Adjudikation im konkreten Fall aufzufassen sind, da sie dann prinzipiell von Fall zu Fall willkürlich geändert werden könnten. Vgl. auch Geismann 2012, S. 108 f. Vgl. oben S. 321 f. mit Fn. 276 sowie auch Byrd und Hruschka 2011, S. 161. Vgl. so auch Geismann 2012, S. 104 f. Gemeinspruch, AAVIII, S. 291 f.Vgl. ähnlich Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1383 (hierzu allerdings einschränkend Kap. 6, Fn. 305). Umgekehrt sind Zwangshandlungen gegen die Exekutive unmöglich, „denn das wäre wiederum ein Act der ausübenden Gewalt, der zu oberst das Vermögen dem Gesetze gemäß zu z w i n g e n zusteht, die aber doch selbst einem Zwange unterworfen wäre; welches sich widerspricht“ (RL, AA VI, S. 317). Kants Ausführungen zu einer Repräsentation des Volks durch die Jury, die den Schuldspruch trifft, sind insofern schief, als der Staat in der Idee gerade nicht repräsentativ ist. Vgl. so auch Ludwig und Herb 1994, S. 465, Fn. 138 und dazu gleich ausführlich S. 328 f. Von Repräsentation kann man daher eigentlich erst auf der Ebene der respublica phaenomenon sprechen.
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ihm selbst abgeordnete Stellvertreter (die Jury) über jeden in demselben, obwohl nur mittelbar, richten.²⁹⁹
Das Urteil über einen jeden aus dem Volk muss daher durch den vereinigten Volkswillen (hier vorgestellt durch die Jury) getroffen werden. Anderenfalls wäre „ein jeder im Volk diesem Verhältnisse nach (zur Obrigkeit) bloß passiv“.³⁰⁰
6.4.3.3 Volkssouveränität und die staatsbürgerlichen Attribute Souveränität realisiert sich in der respublica noumenon durch die gesetzgebende Gewalt, unter der Kant den vereinigten gesetzgebenden Willen aller versteht. Die beiden anderen Gewalten sind ihr gegenüber als selbstständige Anwendungsprinzipien äußerer Gesetzgebung beigeordnet, gleichwohl logisch sowie auch inhaltlich untergeordnet. Sie sind notwendig zur Realisation des vereinigten Volkswillens, dabei aber an die vorhergehende Gesetzgebung gebunden. Daher klassifiziert Kant in der reinen Republik die gesetzgebende Gewalt funktional als Souverän gegenüber der Exekutive und der Judikative. Gleichwohl realisiert sich in allen drei Gewalten der vereinigte Volkswille, sodass die reine Republik stets nichtrepräsentative „Selbstherrschaft des Volkes sensu stricto“³⁰¹ ist. Der vereinigte Volkswille ist der „gemeinschaftliche Wille der f ü r a l l e b e s c h l i e ß t also die bloße Idee der bürgerlichen Einheit“.³⁰² Gewaltenteilig verfasst bildet er „eine reine Idee von einem Staatsoberhaupt“.³⁰³ Davon ausgehend ist Volkssouveränität auf der Ebene des Staates in der Idee die konsequente politische Ausgestaltung sittlicher Autonomie. In der reinen Republik ist staatliche Herrschaft unmittelbar die Herrschaft des vereinigten Willens aller Gewaltunterworfenen und allein dadurch mit individueller Autonomie vereinbar. Nur so lässt sich äußere Nötigung im Staat als die jeweils eigene Gesetzgebung begreifen. Diese Einsicht hatte schon Tieftrunk im ersten Kommentar zu Kants Rechtslehre, wenn er zum Staat ausführt: „Dieser macht-habende Wille ist zwar durch eigne Zustimmung errichtet, mithin in so fern innerliche Gesetzgebung, aber doch durch eigne Zustimmung als äußerlich-mächtig konstituiert, mithin auch äußere Gesetzgebung.“³⁰⁴ Von diesem funktionalen Souveränitätsbegriff auf der Ebene des Staates in der Idee ist der personale Souveränitätsbegriff auf der Ebene des Staates in der Erschei-
RL, AA VI, S. 317. RL, AA VI, S. 317. Ludwig und Herb 1994, S. 465. VA RL, AA XXIII, S. 351. RL, AA VI, S. 338. Tieftrunk 1797, S. 220.
6.4 Das öffentliche Recht
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nung zu unterscheiden. In der respublica noumenon ist die gesetzgebende Gewalt im Verhältnis zu den anderen Gewalten lediglich funktional der Souverän, und es findet – da wir uns im Staat in der Idee befinden – keine Repräsentation statt.³⁰⁵ Vielmehr sind hier „[d]ie drei Gewalten im Staat […] Verhältnisse des vereinigten […] Volkswillens und eine reine Idee von einem Staatsoberhaupt“. Als praktisches Vernunftideal ist dieses „Oberhaupt (der Souverän)“ lediglich „ein (das gesammte Volk vorstellendes) G e d a n k e n d i n g “. Für faktische Staatsherrschaft auf der Ebene des Staates in der Erscheinung bedarf es daher noch „einer physischen Person […], welche die höchste Staatsgewalt vorstellt und dieser Idee Wirksamkeit auf den Volkswillen verschafft“.³⁰⁶ In der respublica phaenomenon ist Kants Souveränitätsbegriff personal und repräsentativ: Das Staatsoberhaupt stellt als Souverän – alle drei Gewalten umfassend – den vereinigten Volkswillen gegenüber dem Volk als Untertan vor.³⁰⁷ Das physische Oberhaupt repräsentiert also den vereinigten Volkswillen unabhängig von der spezifischen Staatsform und einer fraglichen institutionellen Gewaltenteilung. Jede Form staatlicher Herrschaft ist – weil sie einen rechtlichen Zustand begründet – „nach der Idee eines allgemein gesetzgebenden Willens betrachtet“ Ausdruck der „öffentliche[n] Gerechtigkeit“³⁰⁸ und damit vom Individuum als Repräsentation bzw. approximative Annäherung an das Vernunftideal einer reinen Republik zu interpretieren.³⁰⁹ Vgl. RL, AA VI, S. 313, 317 und S. 319. Zwar wird die gesetzgebende Gewalt auch schon in früheren Quellen als Souverän ausgewiesen, vgl. nur Gemeinspruch, AA VIII, S. 294, Fn. *; Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1382– 1386; Reflexionen, AA XIX, S. 545 – 594 sowie ähnlich VA Religion, AA XXIII, S. 109 und VA ZeF, AA XXIII, S. 159 und S. 166. Allerdings wird sie dabei auf Ebene der respublica phaenomenon durch den Regenten, d. h. die Exekutive, repräsentiert. Nach dem Konzept der Rechtslehre ist die Exekutive hingegen Element der Gewaltenteilung des Staates in der Idee. Folglich repräsentiert sie nicht den Volkswillen, sondern ist eine Ausprägung des vereinigten Volkswillens. Vgl. dazu auch oben Kap. 6, Fn. 267. Zum Ganzen: RL, AA VI, S. 338, kursive Hervorhebung P.-A. H. Vgl. ebenso VA RL, AA XXIII, S. 347. Vgl. zum Verhältnis von Oberhaupt und Untertan RL, AA VI, S. 306 f. und S. 315. RL, AA VI, S. 306. Daher ist der häufig anzutreffenden Auffassung (vgl. etwa Sydow 1976, S. 382; Kersting 1984, S. 305 – 307, differenzierend Kersting 2004, S. 125 f.; 136 – 141; Ju 1990, S. 145 f.; Gerhardt 1991, S. 323 f.; teilw. Maus 1992, S. 191– 202; Unruh 1993, S. 176 f.; Laschet 2011, S. 242– 244; Varden 2010, S. 348 f. und wohl auch Maliks 2014, S. 103 f.) zu widersprechen, wonach Kants Republikanismus auf Ebene der respublica phaenomenon eine (repräsentative) Demokratie als Staatsform verlange. Zwar ist nach RL, AA VI, S. 341 „[a]lle wahre Republik […] nichts anders […] als ein r e p r ä s e n t a t i v e s S y s t e m des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputirten) ihre Rechte zu besorgen“. Jedoch kann die hier benannte Repräsentation in allen drei Staatsformen realisiert werden, da jedwede Herrschaftsform des Staates in der Erscheinung den vereinigten Volkswillen des Staates in der Idee repräsentiert. Daher kann auch bei einer Adelsherrschaft davon gesprochen werden, dass die Aristokraten als Deputierte den vereinigten Willen repräsentieren. Vgl. hierzu nur Ludwig 1999, S. 178 f. und aus-
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Dass der Staat in der Idee demzufolge keine institutionellen oder organisatorischen Vorgaben für den Staat in der Erscheinung enthält, zeigt sich auch in der Frage einer möglichen Beteiligung der Individuen am politischen Prozess: Die zur Gesetzgebung vereinigten Glieder einer solchen Gesellschaft (societas civilis), d.i. eines Staats, heißen S t a a t s b ü r g e r (cives), und die rechtlichen, von ihrem Wesen (als solchem) unabtrennlichen Attribute derselben sind gesetzliche F r e i h e i t , keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat; bürgerliche G l e i c h h e i t , keinen Oberen im Volk in Ansehung seiner zu erkennen, als nur einen solchen, den er eben so rechtlich zu verbinden das moralische Vermögen hat, als dieser ihn verbinden kann; drittens das Attribut der bürgerlichen S e l b s t s t ä n d i g k e i t , seine Existenz und Erhaltung nicht der Willkür eines Anderen im Volke, sondern seinen eigenen Rechten und Kräften als Glied des gemeinen Wesens verdanken zu können, folglich die bürgerliche Persönlichkeit, in Rechtsangelegenheiten durch keinen Anderen vorgestellt werden zu dürfen.³¹⁰
Insofern diese Bestimmungen die gesetzgebende Gewalt näher qualifizieren, beziehen sie sich auf den Staat in der Idee. Demnach handelt es sich nicht um zwingende Vorgaben für eine tatsächliche Beteiligung der Bürger am Gesetzgebungsprozess. Vielmehr stellen die staatsbürgerlichen Attribute (Freiheit, Gleichheit und Selbstständigkeit) die inhaltlichen Minimalanforderungen einer idealtypischen äußeren Gesetzgebung heraus. Damit dienen sie letztlich der Bestimmung des ursprünglichen Vertrags als idealem Leitprinzip jeder republikanischen Regierungsart:³¹¹ Die gesetzliche Freiheit erklärt nur eine solche Gesetzgebung für moralisch zulässig, zu der man seine Beistimmung gegeben haben kann. ³¹² Dadurch wird die Gesetzgebung inhaltlich auf die Wahrung der Freiheit führlich Byrd und Hruschka 2011, S. 176 – 181, aber auch Eisfeld 2015, S. 237– 242 und kritisch Hanisch 2016. Vgl. zu Kants Bewertung der Demokratie als Staatsform auch oben Kap. 6, Fn. 267. RL, AA VI, S. 314. Vgl. dazu schon oben S. 314 f. mit Fn. 251 und 252. Trotz des entgegenstehenden Wortlauts („keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat“) kommt es bei der Freiheit nicht auf die tatsächliche Beistimmung (so jedoch etwa Byrd und Hruschka 2011, S. 145), sondern nur auf die prinzipielle Möglichkeit zur Beistimmung an. Diese Lesart wird zum einen durch VA RL, AA XXIII, 293 nahegelegt: „Die Freyheit eines Staatsgliedes […] er muß können Gesetzgeber seyn und ist es in potentia […].“ Zum anderen lässt sich nur so ein sachlicher Unterschied zur Selbstständigkeit ausmachen. Wenn Freiheit nämlich schon tatsächliche Stimmgebung voraussetzte, wäre nur frei, wer selbstständig ist. Dies zeigt Kants Erläuterung der Selbstständigkeit in RL, AA VI, S. 314 f., kursive Hervorhebung P.-A. H.: „Nur die Fähigkeit der Stimmgebung macht die Qualification zum Staatsbürger aus; jene aber setzt die Selbstständigkeit […] im Volk voraus […]. Die letztere Qualität macht […] die Unterscheidung des a c t i v e n vom p a s s i v e n Staatsbürger nothwendig […].“ Letztere können zwar fordern, „nach Gesetzen der natürlichen Freiheit und Gleichheit als passive Theile des Staats behandelt zu werden“. Sie haben jedoch „nicht das Recht, auch als a c t i v e
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der Bürger nach allgemeinen Gesetzen beschränkt; eine darüber hinausgehende Reglementierung der Privatzwecke ist verboten.³¹³ Bürgerliche Gleichheit garantiert, dass man innerhalb des Gemeinwesens nur ein Oberhaupt als Souverän anzuerkennen hat.³¹⁴ Alle anderen Personen sind als Untertanen gesetzlich ebenso gestellt wie man selbst und haben als solche prinzipiell³¹⁵ die gleichen Rechte, Befugnisse und Pflichten. Mithin ist eine gestufte Hierarchie, etwa in Form eines Erbadels, vernunftwidrig.³¹⁶ Schließlich legt die bürgerliche Selbstständigkeit fest, dass für eine positive (Mit‐)Gesetzgebung „bürgerliche Persönlichkeit“ erforderlich ist. Das heißt, beim Erlass positiver Gesetze sind nur diejenigen als mitgesetzgebend zu berücksichtigen, die „in Rechtsangelegenheiten durch keinen
Glieder den Staat selbst zu behandeln, zu organisiren oder zu Einführung gewisser Gesetze mitzuwirken“. Das „jene“ (vgl. die kursive Hervorhebung) ist auf „Stimmgebung“ zu beziehen, denn allein die tatsächliche Stimmgebung setzt Selbstständigkeit voraus. Bezöge man „jene“ jedoch fälschlicherweise auf „Fähigkeit“, so fielen Freiheit und Selbständigkeit zusammen. Es könnte mithin keine Passivbürger ohne bürgerliche Selbstständigkeit, jedoch mit gesetzlicher Freiheit geben. Genau dies behauptet Kant jedoch in o. g. Passage.Vgl. hierzu auch Kap. 6, Fn. 320 sowie i. Ü. erhellend zum staatsbürgerlichen Attribut der Freiheit Ju 1990, S. 165 – 172. Vgl. Gemeinspruch, AA VIII, S. 290: „Die F r e i h e i t als Mensch, deren Princip für die Constitution eines gemeinen Wesens ich in der Formel ausdrücke: Niemand kann mich zwingen auf seine Art […] glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit Anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, […] nicht Abbruch thut.“ Vgl. ebenso Kersting 1984, S. 233 – 236, erneut Kersting 2004, S. 123 f.; Geismann 2012, S. 82– 85 sowie erhellend zwischen Staat in der Idee und in der Erscheinung differenzierend Unruh 1993, S. 125 – 133. Vgl. auch oben Kap. 6, Fn. 252. Vgl. Gemeinspruch, AA VIII, S. 291 f.: „Die G l e i c h h e i t als Unterthan, deren Formel so lauten kann: Ein jedes Glied des gemeinen Wesens hat gegen jedes andere Zwangsrechte, wovon nur das Oberhaupt desselben ausgenommen ist […]. Aber d e m R e c h t e nach (welches als der Ausspruch des allgemeinen Willens nur ein einziges sein kann, und welches die Form Rechtens, nicht die Materie oder das Object, worin ich ein Recht habe, betrifft) sind sie dennoch als Unterthanen alle einander gleich: weil keiner irgend jemanden anders zwingen kann, als durch das öffentliche Gesetz (und den Vollzieher desselben, das Staatsoberhaupt) […].“ Vgl. ähnlich VA RL, AA XXIII, S. 293. Eine willkürliche Privielegierung bzw. Diskriminierung ist damit ausgeschlossen, nicht jedoch eine rechtlich gebotene (Un‐)Gleichbehandlung. Vgl. dazu Geismann 2012, S. 91 f. Vgl. ebenso nur Kersting 1984, S. 240 – 242, Kersting 2004, S. 126 f. und Unruh 1993, S. 138 f. Dabei geht es vorliegend nur um die bürgerliche bzw. politische Gleichheit,von der – trotz gewisser Interdependenz – die angeborene Gleichheit (vgl. RL, AA VI, S. 237 und schon Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1339) zu unterscheiden ist.Vgl. dazu oben Kap. 2, Fn. 148 sowie Unruh 1993, S. 136 – 139 und Ju 1990, S. 173 f. Ferner ist umstritten, inwiefern das staatsbürgerliche Attribut der Gleichheit sozialstaatliche Implikationen hat. Vgl. dazu kontrovers Kersting 1984, S. 242– 248, eingehend Kersting 2001; Ju 1990, S. 176 f.; Unruh 1993, S. 139 – 141; Ludwig 1993, S. 230 – 253; entfernt Merle 1999 sowie Ripstein 2009, S. 267– 295.
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
anderen vorgestellt werden“ brauchen.³¹⁷ Wer in diesem Sinne selbstständig ist, erläutert Kant in der anschließenden Anmerkung, die im Druckbild eingerückt ist. Dabei gilt es zu beachten, dass Kant ab hier nicht mehr den Staat in der Idee näher bestimmt, sondern das praktische Vernunftideal bürgerlicher Selbstständigkeit auf die respublica phaenomenon anwendet.³¹⁸ Hiernach ist bürgerlich selbstständig, wer (wirtschaftlich oder natürlich) ein unabhängiges Glied des Gemeinwesens, „d.i. aus eigener Willkür in Gemeinschaft mit anderen handelnder Theil desselben“, ist.³¹⁹ Diese Personen qualifiziert Kant als aktive Staatsbürger im Gegensatz zu bloß passiven Staatsbürgern bzw. Schutzgenossen.³²⁰ Doch kann Kant eine ganze Klasse von Menschen legitimerweise von der tatsächlichen Mitbestimmung ausschließen? Diese Frage wird in der Kant-Forschung seit jeher äußerst kontrovers diskutiert.³²¹ Gleichwohl werden dabei häufig zwei Problemkomplexe nicht hinreichend deutlich auseinandergehalten. Zum einen: Ist es bei Kant innersystematisch konsistent, bestimmte Personen aus der
RL, AA VI, S. 314. Dass die bürgerliche Selbstständigkeit ausschließlich für die positivrechtliche Gesetzgebung relevant ist, ergibt sich deutlich aus RL, AA VI, S. 315, da sie das Recht gibt, „als a c t i v e Glieder den Staat selbst zu behandeln, zu organisiren oder zu Einführung gewisser Gesetze mitzuwirken“. Sie hat jedoch keine Auswirkung für den Anspruch, „nach Gesetzen der natürlichen Freiheit und Gleichheit als p a s s i v e Theile des Staats behandelt zu werden“. Insoweit ist die bürgerliche Selbstständigkeit auch von der herrschaftsrechtlichen Selbstständigkeit (sein eigener Herr zu sein (sui iuris)) unterschieden, vgl. oben Kap. 2, Fn. 148. Vgl. RL, AA VI, S. 205 f., wonach Kant „das Recht, was zum a priori entworfenen System gehört, in den Text, die Rechte aber, welche auf besondere Erfahrungsfälle bezogen werden, in zum Theil weitläuftige Anmerkungen […] bringen“ möchte. RL, AA VI, S. 314. Vgl. illustrativ auch VA RL, AA XXIII, S. 293: „Glied ist das was nicht blos Werkzeug eines lebenden Wesens ist sondern selbst Leben hat“ Letztere sind wenn auch nicht Glied, so doch Teil des Gemeinwesens. Daher beeinträchtigt ihre „Abhängigkeit von dem Willen Anderer und Ungleichheit […] keinesweges d[ie] Freiheit und Gleichheit derselben als M e n s c h e n“; mithin nicht die Rechtspersönlichkeit. Daher sind Freiheit und Gleichheit der passiven Staatsbürger – obwohl sie sich nicht aktiv an der Gesetzgebung beteiligen können (vgl. Kap. 6, Fn. 317) – die Bedingungen, denen „gemäß dieses Volk ein Staat werden und in eine bürgerliche Verfassung eintreten [sc. kann]“. Entsprechend dürfen die zu erlassenden positiven Gesetze „der Freiheit und der dieser angemessenen Gleichheit Aller im Volk, sich nämlich aus diesem passiven Zustande zu dem activen empor arbeiten zu können, nicht zuwider sein“. Vgl. zum Ganzen: RL, AA VI, S. 315. Häufig wird das staatsbürgerliche Attribut der Selbstständigkeit als systemwidrig und nicht rechtfertigbar kritisiert.Vgl. – freilich im Detail unterschiedlich – etwa Sandermann 1989, S. 307 f.; Kersting 1984, S. 248 – 257, erneut Kersting 2004, S. 131– 134; Unruh 1993, S. 156 f.; Zotta 2000, S. 133 – 138; Horn 2014, S. 88 – 91 und James 2016, S. 306 – 311. Vgl. jedoch differenzierend Ludwig 1988, S. 162 f. und Pinkard 1999, S. 165 – 168 sowie das Attribut der Selbstständigkeit rechtfertigend Ebbinghaus 1986a-1994, S. 274– 279 und Schild 1981, S. 142– 154. Vgl. i. Ü. die anschauliche Darstellung von Problematik und Diskussion bei Unruh 1993, S. 141– 157.
6.4 Das öffentliche Recht
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positivrechtlichen Mitgesetzgebung auszuschließen, weil ihnen die bürgerliche Persönlichkeit abgeht? Zum anderen: Ist Kants Auslegung davon, wer in diesem Sinne unselbstständige Personen (mithin passive Staatsbürger) sind, zwingend? Die erste Frage betrifft allein den Staat in der Idee, d. h. die ideale rechtliche Verfasstheit eines Gemeinwesens (respublica noumenon). In dieser ist der Souverän der vereinigte gesetzgebende Wille aller. Dieses Souveränitätsverständnis geht davon aus, dass die Fähigkeit zur Stimmgebung prima facie jeder Person zukommt. Denn ante facto iuridico ist jeder Mensch rechtlich frei, gleich und unabhängig.Vor der Vornahme von Rechtsgeschäften kann also jeder Mensch aus eigener Willkür handeln. Die bürgerliche Selbstständigkeit trägt nun dem Umstand Rechnung, dass Personen ihre Willkür auch in Form eines persönlichen Rechts an andere veräußern können bzw. auf Grund eines auf dingliche Art persönlichen Rechts in einem rechtlichen Abhängigkeitsverhältnis stehen können. Kant sieht hierin allem Anschein nach nicht nur einen teilweisen Verzicht auf den selbstbestimmten Willkürgebrauch. Vielmehr kann der andere hierdurch insgesamt über meine Willkür (wohlgemerkt, nicht über mich) verfügen.³²² Damit ist man jedoch von der Mitgesetzgebung auszuschließen, denn letztere verlangt, dass die eigene Willkür der freien Bestimmung durch den eigenen Willen fähig ist.³²³ Es ist daher konsequent, wenn Kant im Staat in der Idee diejenigen Personen, die nicht zum selbstbestimmten Willkürgebrauch fähig sind, von der idealen Stimmgebung ausschließt.³²⁴ Eine ganz andere Frage ist es jedoch, ob Kant diese Bestimmung der respublica noumenon zutreffend auf den Staat in der Erscheinung (respublica phaenomenon) anwendet, d. h., die Idee bürgerlicher Selbstständigkeit unter empirischen Bedingungen angemessen interpretiert. Dies ist letzten Endes eine rechtspolitische Frage, welche nicht unmittelbar die Konsistenz und Überzeugungskraft der dahinterstehenden Theorie in Frage stellt. Hier kann man mit guten Gründen Kants Auslegung bürgerlicher Selbstständigkeit im Sinne von wirtschaftlicher bzw. natürlicher Unabhängigkeit kritisieren, insofern Kants Argumentation (zum Teil theorieimmanent) auf falschen Prämissen zu beruhen
Vgl. dazu sogleich ausführlich Kap. 6, Fn. 325. Hierin scheint auch ein Fairness-Argument Kants zu liegen: Vorausgesetzt Selbstständige könnten über die Willkür Unselbstständiger verfügen (z. B. das Familienoberhaupt über die der Kinder und Hausangestellten), lässt sich mit Blick auf die Stimmgebung nur durch den Ausschluss Unselbstständiger eine Akkumulation der Stimmen bei den Selbstständigen verhindern. Der Ausschluss unselbstständiger Personengruppen bewährt sich auch noch an der Erfahrung gegenwärtiger Rechtsordnungen. So sind gemeinhin Kinder, Geisteskranke, Unmündige etc. von der Gesetzgebung und politischen Mitbestimmung ausgeschlossen,weil sie ihren Willen nicht frei bilden können.
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
scheint.³²⁵ Nichtsdestoweniger bleibt das Kriterium bürgerlicher Selbstständigkeit als Bestimmung des Staates in der Idee haltbar und lässt sich theorieimmanent rechtfertigen: Bei der Mitgesetzgebung abstimmungsberechtigt kann nur sein, wer aus eigener, d. h. selbstbestimmter Willkür heraus handeln kann.
Unselbstständig sind laut Kant solche Personen, deren „Existenz […] gleichsam nur Inhärenz“ ist, weil sie „blos Handlanger des gemeinen Wesens, weil sie von anderen Individuen befehligt oder beschützt werden müssen, mithin keine bürgerliche Selbstständigkeit besitzen“ (RL, AA VI, S. 314– 315). Kant führt damit bürgerliche Unselbstständigkeit auf abhängige Beschäftigungsverhältnisse (wirtschaftliche Abhängigkeit) sowie (die Schutzbedürftigkeit von Hausgenossen, etwa der (Ehe‐)Frau (natürliche Abhängigkeit) zurück. In beiden Fallgruppen scheint Kants Argumentation jedoch auf falschen Prämissen zu beruhen: Bei der wirtschaftlichen Abhängigkeit hat Kant Verträge im Auge, welche zu einer praestatio operarum führen, d. h. einer vollständigen Verdingung der Arbeitskraft. In RL, AA VI, S. 285 qualifiziert er sie als „Ve r d i n g u n g s v e r t r a g (locatio conductio)“ in Form des „L o h n v e r t r a g [ s ] (locatio operae), d.i. die Bewilligung des Gebrauchs meiner Kräfte an einen Anderen für einen bestimmten Preis (merces). Der Arbeiter nach diesem Vertrage ist der Lohndiener (mercennarius).“ Vgl. hierzu mit einer exemplarischen Aufzählung Gemeinspruch, AA VIII, S. 295, Fn. *. Gleichzeitig führt der Erwerb persönlicher Rechte nach Kant zum „Besitz der Willkür eines Anderen, als Vermögen sie durch die meine nach Freiheitsgesetzen zu einer gewissen That zu bestimmen, (das äußere Mein und Dein in Ansehung der Causalität eines Anderen)“ (RL, AA VI, S. 285). Daher hat der Lohnvertrag einen vollständigen Verlust des selbstbestimmten Willkürgebrauchs zur Folge. Dies muss dann auch in Ansehung der Mitgesetzgebung gelten. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass selbst bei einem umfassenden Dienstvertrag de facto nur ein Recht auf ein bestimmtes Leistungsspektrum erworben wird. Daher geht hiermit auch nur ein teilweiser Erwerb der Willkür des anderen einher. Kants Prämisse, dass wirtschaftlich abhängige Beschäftigung mit einer vollständigen Aufgabe des freiverantwortlichen, selbstbestimmten Willkürgebrauchs einhergeht, ist folglich bei lebensnaher Auslegung nur schwer haltbar. Und auch aus systematischen Gründen verpflichtet Kants Theorie persönlicher Rechte nicht zur Annahme dieser Prämisse. Mithin ist die Identifikation von wirtschaftlich abhängiger Beschäftigung mit dem Verlust der bürgerlichen Selbstständigkeit – entgegen Kants Auffassung – nicht zwingend. Entsprechendes gilt für die Aberkennung der bürgerlichen Selbstständigkeit von (Ehe‐)Frauen, die Kant auf eine natürliche Abhängigkeit der Frau zurückführen möchte. Zwar konstruiert Kant die Ehe als wechselseitige Erwerbung von Mann und Frau und betont sogar die Gleichheit des hieraus resultierenden wechselseitigen Besitzes, vgl. RL, AA VI, S. 278 f. Jedoch rechtfertigt er eine gleichwohl bestehende Asymmetrie der Ehepartner mit dem Hinweis auf „die natürliche Überlegenheit des Vermögens des Mannes über das weibliche in Bewirkung des gemeinschaftlichen Interesses des Hauswesens und des darauf gegründeten Rechts zum Befehl“ (ebd., S. 279). Diese natürliche Überlegenheit des Mannes ist freilich eine Kants traditionellem Geschlechtsverständnis geschuldete Prämisse, die heute nicht mehr zu halten ist. Über eine natürliche Abhängigkeit lässt sich heute allenfalls die Unselbstständigkeit von minderjährigen Kindern rechtfertigen. Eine bürgerliche Unselbstständigkeit der Frau ist so jedoch nicht begründbar, vgl. so auch Geismann 2012, S. 100 f.
6.5 Der Staat als vernunftrechtliche Koexistenzordnung
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6.5 Der Staat als vernunftrechtliche Koexistenzordnung In diesem Kapitel konnten wir sehen, dass sich die autonomietheoretische Staatsbegründung Kants, die in Kapitel 5 zunächst systematisch entwickelt wurde, auch durchgehend am Text der Rechtslehre ausweisen lässt. Gleichzeitig wird hierdurch in der Rechtslehre zum ersten Mal eine kohärente Interpretation aller einschlägigen Passagen zur Staatslegitimation möglich, die ansonsten unvermittelt nebeneinander zu stehen scheinen. Denn ohne den übergreifenden autonomietheoretischen Interpretationsansatz lässt sich im Einzelnen nicht erklären,wie die Staatslegitimation in der praecepta iuris-Passage der „Einleitung in die Rechtslehre“, die sogenannte eigentumstheoretische Staatslegitimation in den §§ 8 und 9 des Privatrechts sowie schließlich das Postulat des öffentlichen Rechts in § 42 der Rechtslehre inhaltlich zusammenhängen und Teil einer konsistenten Staatsbegründung Kants sind. Rückblickend lässt sich daher nunmehr sagen: Sämtliche Ausführungen Kants zur Staatslegitimation wie auch seine staatsrechtliche Ausgestaltung des bürgerlichen Zustands sind von dem Gedanken getragen, dass der Staat als vernunftrechtliche Koexistenzordnung aus autonomietheoretischen Gründen erforderlich ist. Individuelle Freiheitsrechte (seien sie angeboren oder erworben) sind so gesehen immer schon auf Staatlichkeit hin ausgerichtet und verlangen den Übergang in ein sie sicherndes Gemeinwesen: Rechtliche Freiheit ist bei Kant immer schon eine Freiheit zum Staat! Zahlreiche Äußerungen Kants belegen, dass Kant die Notwendigkeit des bürgerlichen Zustands bereits auf ursprüngliche (mithin angeborene) Rechte und Rechtspflichten bezieht. Denn Autonomie verlangt, dass jegliche rechtliche Verpflichtung als Selbstverpflichtung zu begreifen ist. Daher ist Staatlichkeit als Realisationsbedingung sowohl in Ansehung der Rechte anderer (äußerer Rechtspflichten) als auch des Rechts der Menschheit in der eigenen Person (innerer Rechtspflichten) erforderlich. Dieser Gedanke findet Eingang in Kants Darstellung der praecepta iuris in der „Einleitung in die Rechtslehre“. Die Ableitungsbeziehung, die Kant zwischen den Ulpianischen Formeln herstellt, weist auf die Notwendigkeit hin, dass Rechtspflichten stets öffentlich-rechtlich verfasst sein müssen, um die Nötigung zur Befolgung des Rechtsgesetzes mittelbar auf den eigenen Willen des Verpflichteten zurückführen zu können. Denn nur wenn Recht durch den Staat als dem vereinigten gesetzgebenden Willen aller geltend gemacht wird, kann rechtliche Verpflichtung als (mittelbare) Selbstverpflichtung begriffen werden. Vor diesem Hintergrund hat sich auch gezeigt, dass die vielfach behauptete eigentumstheoretische Staatsbegründung bei Kant nur ein besonderer Anwendungsfall der hier vertretenen autonomietheoretischen Staatsbegründung ist. Erworbene Rechte unterscheiden sich gegenüber angeborenen Rechten lediglich
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6 Kants autonomietheoretische Staatsbegründung in der Rechtslehre
dahingehend, dass diese des Staates nicht nur für die Geltung des Rechts – d. h. zur autonomietheoretisch zulässigen Begründung von Verbindlichkeiten nach Rechtsgesetzen – bedürfen, sondern überdies für die Konstitution des Gesetzes selbst, d. h. die Begründung erworbener Rechte durch positive Gesetze. Im Staatsrecht findet die autonomietheoretische Staatsbegründung schließlich ihren unmittelbaren Ausdruck im Postulat des öffentlichen Rechts. Diesem liegt im Kern die Unterscheidung zwischen materiellem und formellem Recht bzw. Unrecht zugrunde. Materielle Rechte sind die vernunftrechtlich geschützten Rechtspositionen, die dem Einzelnen in seiner Eigenschaft als autonomem Vernunftwesen zukommen. Formelles Recht reagiert demgegenüber auf den Anspruch des Einzelnen, nur im Wege der Selbstverpflichtung moralisch obligiert werden zu können, und verlangt, dass die Geltendmachung und Durchsetzung von Rechten stets durch den Staat als Repräsentanten des vereinigten Volkswillens erfolgt. Daher besteht formelles Unrecht – ungeachtet der Frage einer Verletzung materieller Rechtspositionen – bereits darin, dass dem Postulat des öffentlichen Rechts zuwidergehandelt wird. Ferner konnte dargelegt werden, dass sich diese Staatsbegründung in der Ausgestaltung der Konstitutionsprinzipien des öffentlichen Rechts fortsetzt, durch die Kant den Staat in der Idee (d. h. die respublica noumenon als Idealtyp einer politischen Ordnung) näher bestimmt. Dabei ist es Kants Lehre vom ursprünglichen Vertrag, der die äußere Gesetzgebung auf den vereinigten Volkswillen zurückführt und diesen als maßgebliches Prinzip der Herrschaft ausweist. In der reinen Republik ist staatliche Herrschaft daher die unmittelbare Herrschaft des vereinigten Willens aller Gewaltunterworfenen und allein dadurch mit individueller Autonomie vereinbar. Demgegenüber ist das physische Oberhaupt des Staates in der Erscheinung – unabhängig von der spezifischen Staatsform und einer fraglichen institutionellen Gewaltenteilung – lediglich Repräsentant des vereinigten Volkswillens. Fraglich ist allein, wie nach Kant mit dem Fall umzugehen ist, dass die reale Herrschaft nicht diesen Anforderungen gerecht wird. Wie ist also mit ungerechter Herrschaft umzugehen, die dem ursprünglichen Vertrag zuwider handelt und die Konstitutionsprinzipien einer öffentlichen Gerechtigkeit verletzt? Damit ist Kants Lehre vom Widerstandsrecht angesprochen, um dessen Untersuchung es im Folgenden geht.
7 Das Problem des Widerstandsrechts Doch hat unseres Wissens noch kein Philosoph […] den paradoxesten aller paradoxen Kantischen Sätze anerkannt, den Satz, daß die blos[e] I d e e der Oberherrschaft mich nöthigen soll, Jedem, der sich zu meinem Herrn aufwirft, als meinem Herrn zu gehorchen, ohne zu fragen, wer ihm das Recht gegeben, mir zu befehlen.¹
Für den Rezensenten der Rechtslehre Friedrich Bouterwek ist die unbedingte staatsbürgerliche Gehorsamspflicht (und damit letztlich auch das kategorische Widerstandsverbot) schlichtweg paradox. So paradox, dass sie – so erkennt Kant in seiner Replik immerhin an – „die Vernunft des Rec[ensenten] zu empören [scheint]“. Gleichwohl hofft Kant, „hiebei die P a r a d o x i e eingeräumt“, dass seine Lehre vom Widerstandsrecht, „näher betrachtet, doch wenigstens der H e t e r o d o x i e nicht überwiesen werden“ kann.² Und in der Tat: Blicken wir auf die Ergebnisse der bisherigen Untersuchung zurück, so scheint sich Kants Position (zumindest innersystematisch) rechtfertigen zu lassen: Wir sahen, dass das moralische Rechtsgesetz inhaltlich die Möglichkeitsbedingungen für die Koexistenz autonomer Vernunftwesen ausformuliert und hiernach jeder Person ursprüngliche Freiheitsrechte zukommen. Wir sahen ferner, dass Staatlichkeit die formal notwendige Realisationsbedingung jeglicher Rechte (angeborener wie erworbener) ist, indem sie gemäß dem praktischen Ideal der respublica noumenon äußere Gesetzgebung durch die Vereinigung des Volkswillens auf die sittliche Autonomie des Einzelnen zurückführt. Wir sahen schließlich, dass die faktisch bestehende Oberherrschaft der respublica phaenomenon vernunftnotwendig als Darstellung dieses praktischen Ideals zu interpretieren ist, und zwar unabhängig von der jeweiligen Staatsform und der damit verbundenen institutionellen Ausgestaltung politischer Prozesse. Wenn wir Kant bis zu diesem Punkt folgen und „durch einen Salto mortale“³ die Kluft zwischen Staat in der Idee und Staat
Bouterwek-Rezension von Kants Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, AA XX, S. 453. RL, AA VI, S. 371. Schlegel, Versuch über den Begriff des Republikanismus, S. 16. Schlegel scheint hier Kants Unterscheidung von Staat in der Idee und Staat in der Erscheinung zu antizipieren und hierbei gerade dem Gedanken beizupflichten, der Bouterwek später nicht einleuchten will: „Das Einzelne und das Allgemeine ist überhaupt durch eine unendliche Kluft voneinander geschieden, über welche man nur durch einen Salto mortale hinüber gelangen kann. Es bleibt hier nichts übrig, als durch eine Fiktion einen empirischen Willen als Surrogat des a priori gedachten absolut allgemeinen Willens gelten zu lassen; und da die reine Auflösung des politischen Problems unmöglich ist, sich mit der Approximation dieses praktischen x zu begnügen. Da nun der politische Imperativ kategorisch ist, und nur auf diese Weise (in einer endlosen Annäherung) wirklich gemacht werden kann: so ist diese höchste fictio juris nicht nur gerechtfertigt, sondern auch praktisch notwendig […].“ DOI 10.1515/9783110530070-007
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7 Das Problem des Widerstandsrechts
in der Erscheinung derart überwinden, so scheint die staatsbürgerliche Gehorsamspflicht notwendig zu folgen. Doch ist Kants Haltung in Ansehung seiner eigenen Rechtsphilosophie wirklich widerspruchsfrei vertretbar? Gilt das Widerstandsverbot wirklich auch im Falle ungerechter (gar tyrannischer) Gewaltherrschaft, die die Prinzipien des Kantischen Vernunftrechts in eklatanter Weise verletzt? Derartige Bedenken wurden und werden in der Kant-Forschung – wie eingangs ausführlich gezeigt –⁴ vielfach geäußert. Nicht wenige halten die Ablehnung eines Widerstandsrechts für inkonsistent, will sie sich doch nicht recht in das Bild von Kant als liberalem Denker einfügen. Demgegenüber sollen im Folgenden Kants Position und die ihr zugrunde liegende Argumentation verteidigt und als systematisch konsistent ausgewiesen werden. Dabei wird sich zeigen, dass die vorangegangene intensive Auseinandersetzung mit der Kantischen Rechts- und Staatsbegründung erforderlich war, um Kants Lehre vom Widerstandsrecht – gleichsam als Schlussstein – systematisch richtig zu verorten: Wenn man Kants Rechtsphilosophie (notwendigerweise) als Teil seiner kritischen Moralphilosophie begreift und Kants Staatsverständnis autonomietheoretisch fundiert, wird deutlich, dass es gerade die Anerkennung sittlicher Autonomie von Vernunftwesen ist, die die unbedingte staatsbürgerliche Gehorsamspflicht einfordert. Dies – und da mag man Bouterwek beipflichten – klingt paradox, ist aber von Kant nur konsequent. Dabei ist zunächst ein Blick auf Kants Darstellung der Widerstandsproblematik sowie seine Begründung für den Ausschluss eines Widerstandsrechts zu werfen. Hierbei ist auch darzulegen, welche Formen von Widersetzlichkeit nicht diesem Widerstandsverbot unterliegen (7.1). Davon ausgehend lässt sich in einem zweiten Schritt zeigen, dass sich Kants kategorisches Widerstandsverbot systematisch rechtfertigen lässt und mithin nicht im Widerspruch zu seiner Anerkennung vernunftrechtlicher Freiheitsreche steht (7.2). Drittens gilt es, aus Kantischer Perspektive auf das Problem des Unrechtsregimes einzugehen. Dabei zeigt sich, dass auch gegenüber extrem ungerechter Herrschaft kein moralisches Recht zum Widerstand besteht, obgleich für Kant eine Entschuldigung freiheitlichen Widerstands im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Notstands (ius in casu necessitatis) in Betracht kommt (7.3). Zuletzt soll Kants Lehre vom Widerstandsrecht anhand seiner Behandlung der Französischen Revolution veranschaulicht werden, wobei auch auf die geltungstheoretische Funktion der Geschichtsphilosophie im Rahmen der Widerstandsproblematik einzugehen ist (7.4).
Vgl. dazu die Nachweise oben S. 13 f.
7.1 Kants Darstellung der Widerstandsproblematik
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7.1 Kants Darstellung der Widerstandsproblematik Wie Gemeinspruch und Rechtslehre belegen,⁵ lässt sich in Kants Druckschriften seit 1793 eine eindeutig ablehnende Haltung gegenüber einem Widerstandsrecht bzw. einem Recht auf gewaltsame (revolutionäre) Änderung des politischen Systems finden.⁶ Dies betrifft primär das tätliche Aufbegehren der Untertanen gegen die Obrigkeit. Gleichwohl betont Kant, dass „dem Volk gegen das Staatsoberhaupt nie ein Zwangsrecht (Widersetzlichkeit in Worten oder Werken) zukomme“.⁷ Kants Widerstandsverbot betrifft also nicht nur den gewaltsamen Widerstand, sondern umfasst auch gewisse Beschränkungen der Meinungsfreiheit.⁸ Positiv gewendet korrespondiert dem Widerstandsverbot damit eine umfassende und unbedingte staatsbürgerliche Gehorsamspflicht gegenüber jedweder bestehenden Obrigkeit. Demnach muss […] dem, welcher sich im Besitz der zu oberst gebietenden und gesetzgebenden Gewalt über ein Volk befindet, […] gehorcht werden und zwar so juridisch-unbedingt, daß auch nur nach dem Titel dieser seiner Erwerbung öffentlich zu f o r s c h e n , also ihn zu bezweifeln, um sich bei etwaniger Ermangelung desselben ihm zu widersetzen, schon strafbar, daß es ein ka-
Im Vergleich hierzu sind in ZeF, AA VIII, S. 382 f. Kants Ausführungen zum Widerstandsverbot marginal und beschränken sich im Ergebnis auf die Affirmation der schon im Gemeinspruch vertretenen Position,vgl. dazu unten Kap. 7, Fn. 17. Ferner lassen sich nach fast einhelliger Meinung zwischen Gemeinspruch (1793) und Rechtslehre (1797) keine wesentlichen Unterschiede in der Behandlung des Widerstandsrechts feststellen.Vgl. jedoch Berkemann 1972 und Scheffel 1982, die hier eine inhaltliche Weiterentwicklung Kants erblicken. Hierzu besteht bereits ein umfangreicher Forschungsstand, vgl. nur die Nachweise in Kap. 1, Fn. 12. Wir können uns daher vorliegend auf eine Rekapitulation der wesentlichen Argumentationslinien Kants beschränken. Der Fokus wird im Folgenden vielmehr auf der (bisher nicht hinreichend berücksichtigten) autonomietheoretischen Fundierung dieser Argumente liegen. Gemeinspruch, AA VIII, S. 302, Hervorhebung P.-A. H. Dabei geht es Kant vor allem um das aufrührerische Gefährdungspotential von öffentlicher Herrschaftskritik. So spricht Kant vom Verbot „alle[r] Aufwiegelung, um Unzufriedenheit der Unterthanen thätlich werden zu lassen“ (Gemeinspruch, AA VIII, S. 299). Dies reicht soweit, dass man nicht einmal über Ursprung und historische Legitimität der Herrschaft „werkthätig v e r n ü n f t e l n“ darf (RL, AA VI, S. 318) und Nachforschungen in dieser Hinsicht „anzustellen, um allenfalls die jetzt bestehende Verfassung mit Gewalt abzuändern, […] sträflich [ist]“ (RL, AA VI, S. 340). Dem korrespondierend bewegt sich auch das Recht, Beschwerden gegen die tatsächliche Regierungsführung vorzubringen (Freiheit der Feder) lediglich „in den Schranken der Hochachtung und Liebe für die Verfassung“ (Gemeinspruch, AA VIII, S. 304). Kritik darf sich also allenfalls systemimmanent vollziehen, es darf jedoch nicht die staatliche Ordnung als solche in Frage gestellt werden. Vgl. dazu sogleich unten S. 345 – 347 m. w. N. Vgl. im Übrigen hierzu nur Kersting 1984, S. 324 f.; Unruh 1993, S. 197 f.; Winkler 2010, S. 139 f.; Zotta 2000, S. 234 f. mit Fn. 264; Mandt 1974, S. 120 f. sowie und Niebling 2005, S. 170.
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7 Das Problem des Widerstandsrechts
tegorischer Imperativ sei: G e h o r c h e t d e r O b r i g k e i t (in allem, was nicht dem inneren Moralischen widerstreitet), d i e G e w a l t ü b e r e u c h h a t […].⁹
7.1.1 Kants Argumentation zur Ablehnung eines Rechts auf gewaltsamen Widerstand Kants Begründung dieses strikten Widerstandsverbots offenbart eine im Wesentlichen einheitliche Argumentation, die allerdings verschiedene Ausprägungen aufweist.¹⁰ Kants zentraler Argumentationstopos ist dabei im Gemeinspruch wie auch in der Rechtslehre seine Souveränitätskonzeption, genauer: Die faktische Oberherrschaft repräsentiert als Staatsoberhaupt alleinig und notwendig das Ideal eines vereinigten Volkswillens in allen drei Gewalten. Dabei steht zunächst eine Variante des – schon bei Hobbes zu findenden –¹¹ Quis-Iudicabit-Arguments im Vordergrund: Im Streit zwischen Herrscher (Souverän) und Volk (Untertan) um die Rechtmäßigkeit der Regierungsführung und vice versa eines Widerstands bedürfte es eines kompetenten Richters. Auf Grund seines einheitlichen Souveränitätsbegriffs liegt die Adjudikationskompetenz für Kant jedoch beim Herrscher. In einem bestehenden rechtlichen Zustand repräsentiert der Herrscher den vereinigten Volkswillen stets in allen drei Gewalten, mithin auch als Richter.¹² Folglich kann es für Kant schon konzeptionell kein Widerstandsrecht gegen den Souverän geben, weil es keinen kompetenten Richter in dieser Frage geben kann:¹³ [B]ei einer schon subsistirenden bürgerlichen Verfassung [hat] das Volk kein zu Recht beständiges Urtheil mehr, zu bestimmen: wie jene solle verwaltet werden. Denn man setze: es habe ein solches und zwar dem Urtheile des wirklichen Staatsoberhaupts zuwider; wer soll entscheiden, auf wessen Seite das Recht sei? Keiner von beiden kann es als Richter in seiner
RL, AA VI, S. 371. Die Ausdifferenzierung der Kantischen Argumentation wird in der Kant-Forschung unterschiedlich bewertet. So macht etwa Kersting 1984, S. 320 f. ein „schlüssige[s], leicht nachvollziehbare[s] logische[s] Argument“ aus, nimmt aber in der Folge inhaltliche Nuancierungen vor. Bei Unruh 1993, S. 199 – 204 finden sich schon fünf Hauptargumente mit vier Unterargumenten und schließlich kennt Winkler 2010, S. 154– 164 gar mindestens 13 Argumente. Vgl. zur weiteren Literaturdebatte nur die Nachweise bei den genannten Autoren. M. E. können im Gemeinspruch und in der Rechtslehre durchaus verschiedene Argumentationslinien auseinandergehalten werden. Allerdings scheinen diese Teil einer im Wesentlichen einheitlichen Argumentation zu sein. Vgl. ferner zur systematischen Rechtfertigung der Kantischen Position sogleich S. 352– 361. Vgl. Hobbes, Leviathan, XVIII, § 4. Vgl. dies erneut aufgreifend Locke, Second Treatise, § 168. Vgl. oben S. 328 f. Umgekehrt: Gäbe es ihn, so wäre es eben kein Streit mehr zwischen Volk und Souverän, sondern schlicht ein Streit zwischen Privaten.
7.1 Kants Darstellung der Widerstandsproblematik
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eignen Sache thun. Also müßte es noch ein Oberhaupt über dem Oberhaupte geben, welches zwischen diesem und dem Volk entschiede: welches sich widerspricht.¹⁴
Es handelt sich letztlich um den gleichen Einwand, wenn Kant die Widersprüchlichkeit eines konstitutionellen Widerstandsrechts herausstellt.Wenn eine Verfassung öffentlich ein Recht zum Widerstand gewährte,¹⁵ so würde sie „eine ö f f e n t l i c h c o n s t i t u i r t e Gegenmacht enthalten […], mithin noch ein zweites Staatsoberhaupt“ konstituieren, wodurch die Verfassung „in offenbaren Widerspruch mit sich selbst“ versetzt würde.¹⁶ Dieser Widerspruch resultiert jedoch nur daraus, dass die Verfassung wegen Kants einheitlichem Souveränitätsbegriff den Anspruch auf Konstitution einer einzigen, allzuständigen Staatsmacht erheben muss.¹⁷ Argumentativ wird das einheitliche Souveränitätsverständnis erneut aufgegriffen, wenn Kant darauf hinweist, „daß, ehe der allgemeine Wille da ist, das Volk gar kein Zwangsrecht gegen seinen Gebieter besitze, weil es nur durch diesen
Gemeinspruch, AA VIII, S. 299 f. Vgl. ebenso RL, AA VI, S. 318 – 320. Nach Kant bedarf jegliches Recht – mithin auch ein fragliches Widerstandsrecht – der Publizität, denn „[k]ein Recht im Staate kann durch einen geheimen Vorbehalt gleichsam heimtückisch verschwiegen werden […]. Es müßte also, wenn die Constitution Aufstand erlaubte, diese das Recht dazu, und auf welche Art davon Gebrauch zu machen sei, öffentlich erklären.“ (Gemeinspruch, AA VIII, S. 303, Fn. *). Gemeinspruch, AA VIII, S. 303. Vgl. ebenso RL, AA VI, S. 319 f. und S. 372. Allerdings lassen einige Reflexionen der 1780er Jahre vermuten, dass Kant zwischenzeitlich ein konstitutionelles Widerstandsrecht anerkannt haben könnte. Danach sei Widerstand statthaft, wenn er im pactum fundamentale festgeschrieben sei, rein restaurativ als Reaktion auf einen Vertragsbruch des Herrschers erfolge, das Volk zuvor an der Herrschaft repräsentativ beteiligt gewesen sei sowie hierdurch kein Herrschaftsvakuum entstehe.Vgl. Refl. 8043 – 8046, AA XIX, S. 590 f. und dazu nur Kersting 1984, S. 314 f.; Pfordten 2009d, S. 99 f.; Losurdo 1987, S. 64 und Henrich 1976, S. 360. Diese Überlegungen Kants scheinen m. E. jedoch eher der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Theorien geschuldet zu sein, als das Ergebnis originär Kantischer Theoriebildung (so auch Kersting 1984, S. 315 f.). Denn die Feyerabend-Nachschrift belegt, dass Kant seine ablehnende Haltung zum Widerstandsrecht bereits 1784 weitgehend entwickelt hatte, vgl. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1391 f. Schon hier finden sich in nuce Kants zentrale Argumente gegen ein Widerstandsrecht (Quis-iudicabit-Argument, Argument vom Rückfall in den Naturzustand sowie das Argument von der Widersprüchlichkeit eines öffentlichen bzw. konstitutionellen Widerstandsrechts). Vgl. dazu unten S. 380 – 385. Die gleiche Argumentation findet sich im Ergebnis auch in ZeF, AAVIII, S. 382 f. Danach würde eine Staatsverfassung unter der Bedingung, „in gewissen vorkommenden Fällen gegen das Oberhaupt Gewalt auszuüben“, das „transscendentale Princip der Publicität des öffentlichen Rechts“ verletzen. Auch hier ist eine öffentlich geäußerte Maxime zum Widerstand gemäß der „t r a n s s c e n d e n t a l e [ n ] F o r m e l des öffentlichen Rechts“ (ebd., S. 381) nur deswegen widersprüchlich, weil Kants Souveränitätsbegriff ein in jeder Hinsicht uneingeschränktes Staatsoberhaupt impliziert.
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rechtlich zwingen kann“.¹⁸ Weil der Herrscher den vereinigten Willen in allen drei Gewalten repräsentiert, kann es weder eine Adjudikation noch eine Exekution von Rechten gegen den Herrscher geben. Gleichzeitig kommt hierdurch – als selbstständige Argumentationslinie – die Notwendigkeit des Staats aus der Sicht des gewaltunterworfenen Individuums in den Blick: Es kann seine Rechte (gleichgültig gegen wen) nur im und durch den Staat in rechtlich zulässiger Weise durchsetzen. Der Untertan, der meint, sich mit Recht gegen die Obrigkeit zu erheben, begeht also gewissermaßen einen performativen Widerspruch. Denn durch sein Handeln hebt er gerade die Instanz auf, die ihm überhaupt die Geltendmachung von Rechten ermöglicht. Der repräsentative Charakter der Kantischen Souveränitätskonzeption tritt in den Vordergrund, wenn Kant Widerstand gegen die Staatsgewalt als Rückfall in den Naturzustand kritisiert. Rechtsbegründung und -durchsetzung ist für Kant nur legitim, sofern sie den vereinigten Volkswillen repräsentiert. Daher ist es laut Kant klar, dass […] das Volk doch durch diese Art ihr Recht zu suchen im höchsten Grade Unrecht gethan habe: weil dieselbe (zur Maxime angenommen) alle rechtliche Verfassung unsicher macht und den Zustand einer völligen Gesetzlosigkeit (status naturalis), wo alles Recht aufhört, wenigstens Effect zu haben, einführt.¹⁹
Widerstand gegen die Staatsgewalt bewirkt den Naturzustand nicht etwa als Folge, sondern ist eo ipso ein Rückfall in den Naturzustand. Grund hierfür ist, dass der rechtliche Zustand gerade dadurch definiert ist, dass die Rechtsbegründung und Rechtsdurchsetzung durch den Souverän, d. h. das Staatsoberhaupt als Repräsentant des vereinigten Volkswillens, erfolgt. E contrario ist jegliche Geltendmachung von Rechten gegen den Herrscher notwendig gewalttätig, was – wie anderenorts gezeigt – konstitutiv für den status naturalis ist.²⁰ Zugleich spiegelt sich hierin die Kantische Unterscheidung zwischen dem, was materialiter und was formaliter recht bzw. unrecht ist, wider:²¹ Laut Kant haben Untertanen gegenüber dem Oberhaupt durchaus Rechte im materiellen Sinne, wenn er „diese[m] [sc. dem
Gemeinspruch, AA VIII, S. 318. Gemeinspruch, AA VIII, S. 301. Vgl. auch ebd., AA VIII, S. 299 sowie – jedoch ohne den Naturzustand namentlich zu erwähnen – RL, AA VI, S. 320: „Widerstand wider die höchste Gesetzgebung [muß] selbst niemals anders als gesetzwidrig, ja als die ganze gesetzliche Verfassung zernichtend gedacht werden […].“ Vgl. oben S. 220 – 227 und S. 300 – 310. Daher kritisiert Kant in RL, AA VI, S. 322 die formale Hinrichtung Ludwig XVI. während der Französischen Revolution dahingehend, dass „so die Gewaltthätigkeit mit dreuster Stirn und nach Grundsätzen über das heiligste Recht erhoben wird“. Vgl. dazu oben S. 305 – 308 m. w. N. Vgl. auch sogleich unten S. 354– 358.
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Volk] gleichfalls seine unverlierbaren Rechte gegen das Staatsoberhaupt“ zuerkennt. Er fügt jedoch hinzu: „obgleich diese keine Zwangsrechte sein können“.²² Hiermit sagt Kant, dass die zwangsweise Durchsetzung dieser materiellen Rechte stets formaliter unrecht ist, da sie sich niemals in den Bahnen des rechtlichen Zustands vollziehen kann, sondern als „Widerstand wider die höchste Gesetzgebung selbst niemals anders als gesetzwidrig, ja als die ganze gesetzliche Verfassung zernichtend gedacht werden muß“.²³ So erklärt sich auch, warum Kant sagen kann, dass „der Herrscher im Staat […] gegen den Unterthan lauter Rechte und keine (Zwangs‐)Pflichten“ hat.²⁴ Schließlich führt Kant – seiner Souveränitätskonzeption entsprechend – die Idealität des ursprünglichen Vertrags für die Vernunftwidrigkeit eines Widerstandsrechts an: Der ursprüngliche Vertrag ist ein praktisches Vernunftideal, welches die respublica noumenon als rechtlichen Idealzustand ausweist.²⁵ Als solches ist er eben keine Anspruchsgrundlage, auf welche sich ein »ideelles Widerstandsrecht« stützen ließe, sondern lediglich ein praktisches Auslegungsprinzip staatlicher Herrschaft auf der Ebene der respublica phaenomenon. ²⁶ Zum einen begründet dies für den Herrscher die Pflicht zu einer republikanischen Regierungsart und weitergehend die Pflicht, „die ihm [sc. dem Staat] anhängenden Gebrechen […] durch Reformen, die er an sich selbst verrichtet, allmählig“ zu beheben.²⁷ Zum anderen heißt dies für den Untertanen, dass für ihn jegliche tatsächliche Herrschaft die Repräsentation der Idee „des vereinigten, a priori aus der Vernunft abstammenden Volkswillens“ darstellt.²⁸ Als solche ist sie für ihn die annäherungsweise Realisation der „I d e e einer Staatsverfassung überhaupt“. Diese Idee, „welche zugleich absolutes Gebot der nach Rechtsbegriffen urtheilenden praktischen Vernunft für ein jedes Volk ist, ist h e i l i g und unwiderstehlich“.²⁹ Mit anderen Worten: Reine praktische Vernunft weist gerade auch die (nach Vernunftmaßstäben) defektive Herrschaft als Approximation einer reinen
Gemeinspruch, AA VIII, S. 303. Vgl. auch ebd., S. 304. RL, AA VI, S. 320. RL, AA VI, S. 319, kursive Hervorhebung P.-A. H. Vgl. hierzu oben S. 311– 319. Vgl. Gemeinspruch, AA VIII, S. 302, wo Kant Befürworter eines Widerstandsrechts gerade dahingehend kritisiert, dass sie den ursprünglichen Vertrag als etwas betrachten, das „w i r k l i c h geschehen sein müsse“, um „so dem Volke immer die Befugnis [sc. zum Widerstand, P.-A. H.] zu erhalten“, anstatt die „Idee des Socialcontracts […] nicht als Factum“ anzusehen, „sondern nur als Vernunftprincip der Beurtheilung aller öffentlichen rechtlichen Verfassung überhaupt“. RL, AA VI, S. 372. Vgl. auch ebd., S. 321 und S. 340 sowie im Ergebnis ähnlich Gemeinspruch, AA VIII, S. 304 f. RL, AA VI, S. 338. Vgl. dazu ausführlich oben S. 317 f. (dort auch vollständig zitiert). RL, AA VI, S. 372.
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Republik und damit als vernunftnotwendig aus. Ist es jedoch moralische Pflicht, in einen idealen rechtlichen Zustand einzutreten, ist es ebenso moralische Pflicht, tatsächliche Realisationsformen von Staatlichkeit als Darstellung desselben anzuerkennen. „[E]ine vollkommene r e c h t l i c h e Ve r f a s s u n g unter Menschen […] ist das Ding an sich selbst.“ Daher kann sie „nur durch reine Vernunft vorgestellt werden“ und muss „zu den I d e e n gezählt werden […], denen adäquat kein Gegenstand in der Erfahrung gegeben werden kann“. Wenn dann nun ein Volk, durch Gesetze unter einer Obrigkeit vereinigt, da ist, so ist der Idee der Einheit desselben ü b e r h a u p t unter einem machthabenden obersten Willen gemäß als Gegenstand der Erfahrung gegeben; aber freilich nur in der Erscheinung; d.i. eine rechtliche Verfassung im allgemeinen Sinne des Worts ist da; und obgleich sie mit großen Mängeln und groben Fehlern behaftet sein und nach und nach wichtiger Verbesserungen bedürfen mag, so ist es doch schlechterdings unerlaubt und sträflich, ihr zu widerstehen […].³⁰
Der ursprüngliche Vertrag konstituiert mithin ein „praktisches Vernunftprincip […]: der jetzt bestehenden gesetzgebenden Gewalt gehorchen zu sollen, ihr Ursprung mag sein, welcher er wolle“.³¹ Ein Widerstandsrecht kann hierauf nicht gegründet werden. Während Kant also – nach dem bisher Gesagten – ein Widerstandsrecht im Wesentlichen ausgehend von seiner Souveränitätskonzeption zurückweist, findet sich im Gemeinspruch noch ein weiteres Argument, das von diesem Argumentationstopos abweicht. Ein Widerstandsrecht lässt sich – so Kant dort – auch nicht angesichts einer potentiellen Unglückseligkeit der Untertanen rechtfertigen, da sich nicht a priori angeben lässt, „worin jemand seine Glückseligkeit setzt“. Dies mache „alle feste[n] Grundsätze unmöglich und zum Princip der Gesetzgebung für sich allein untauglich“, sodass hierauf ein Recht auf Widerstand zu gründen ausfalle.³²
RL, AA VI, S. 371 f. RL, AA VI, S. 319. Gemeinspruch, AA VIII, S. 298. Vgl. ebenso (unter kritischem Bezug auf Achenwall) ebd., S. 301 f. Dieses »Glückseligkeitsargument« fällt angesichts der übrigen Argumentation aus dem Rahmen, da es sich nicht spezifisch gegen ein vermeintliches Widerstandsrecht richtet. Vielmehr handelt es sich lediglich um eine Affirmation des generellen Einwands, dass Glückseligkeit als empirisches Prinzip nicht zur Begründung a priori und universell gültiger moralischer Gesetze (und dementsprechend moralischer Rechte) taugt.Vgl. so RL, AA VI, S. 215 f. Daher kann dieses so nur im Gemeinspruch zu findende Argument in der weiteren Betrachtung des Kantischen Widerstandsverbots außen vor gelassen werden.
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7.1.2 Widersetzlichkeit unterhalb der Schwelle des Widerstandsverbots Nach dem bisher Gesagten schließt Kant unzweifelhaft ein Recht auf Widerstand gegen die Staatsgewalt kategorisch aus. Gleichwohl scheint es für Kant Formen von Widersetzlichkeit zu geben, die nicht diesem Widerstandsverbot unterliegen.
7.1.2.1 Freiheit der Feder, negativer Widerstand, passiver Widerstand Kant selbst nennt hier zunächst die „F r e i h e i t d e r F e d e r “. Sie ist die Befugnis des Untertanen, „seine Meinung über das,was von den Verfügungen desselben [sc. des Oberherrn] ihm ein Unrecht gegen das gemeine Wesen zu sein scheint, öffentlich bekannt zu machen“.³³ Jedoch begrenzt Kant die Freiheit der Feder dahingehend, dass sie sich „in den Schranken der Hochachtung und Liebe für die Verfassung“ zu bewegen hat.³⁴ Kritik darf sich also allenfalls systemimmanent vollziehen, d. h. weder die Legitimität der Oberherrschaft, noch die Gehorsamspflicht der Gewaltunterworfenen in Frage stellen.³⁵ Gleichzeitig scheint die Befugnis zu öffentlicher Kritik gegenständlich auf fragliche Verletzungen des ursprünglichen Vertrags beschränkt zu sein:³⁶ So spricht Kant vom „Unrecht gegen das gemeine Wesen“ bzw. Verletzungen der „unverlierbaren Rechte“³⁷ sowie von Ungerechtigkeit „wider das Gesetz der Gleichheit in der Verteilung der Staatslasten“.³⁸ Diese Begrenzung auf fragliche Verletzungen des ursprünglichen Vertrags leuchtet ein, da nur insofern die Recht- bzw. Unrechtmäßigkeit staatlicher Maßnahmen a priori beurteilbar ist. Folglich ist Kritik in Fragen empirischer Staatsklugheit nicht von der Freiheit der Feder umfasst und moralisch geschützt.³⁹ Dies lässt auch Rückschlüsse auf die Funktion der Freiheit der Feder zu, wobei die Perspektiven von Souverän einerseits und Untertanen andererseits zu unter-
Gemeinspruch, AA VIII, S. 304. Vgl. entsprechend RL, AA VI, S. 319. Gemeinspruch, AA VIII, S. 304. Vgl. bereits oben Kap. 7, Fn. 8 m. w. N. Hierfür scheint auch Niesen 2008, S. 144– 146 zu argumentieren. Gemeinspruch, AA VIII, S. 304. RL, AA VI, S. 319. Vgl. auch Gemeinspruch, AA VIII, S. 297 f., Fn. *: Wenn nach dem ursprünglichen Vertrag „ein ganzes Volk […] zu einem […] Gesetz nicht zusammenstimmen“ kann, ist es „befugt, wider dasselbe wenigstens Vorstellungen zu thun, weil es diese ungleiche Austheilung der Lasten nicht für gerecht halten kann“. Gleichwohl ist der Herrscher gut beraten – aber eben nicht moralisch verpflichtet –, auch in diesen Fragen eine kritische Öffentlichkeit zuzulassen, um eine bessere Regierungsführung zu ermöglichen. Vgl. so etwa Kants Hinweis in ZeF, AA VIII, S. 368 f. und S. 381– 386, die Philosophie öffentlich zu Rate zu ziehen sowie die Regierungsführung nach dem Prinzip der Publizität des öffentlichen Rechts auszurichten. Vgl. zum letzteren auch Streit, AA VII, S. 89 f.
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scheiden sind. Insofern der ursprüngliche Vertrag als politisches Leitprinzip den Souverän zu republikanischer Regierungsart und entsprechender Reformtätigkeit verpflichtet,⁴⁰ hilft die Freiheit der Feder dabei, ebendieser Verpflichtung nachzukommen. Denn der Herrscher muss erst von bestehenden Missständen Kenntnis erlangen, bevor er entsprechende Reformen einleiten kann.⁴¹ Umgekehrt ist die Freiheit der Feder für den Untertan die einzige Möglichkeit, seine im ursprünglichen Vertrag gesicherten Rechte gegenüber dem Herrscher geltend zu machen. Insofern dies die unverlierbaren Rechte einer jeden Person sind,⁴² ist die Freiheit der Feder damit letztlich auch das einzige zulässige Mittel, um der inneren Rechtspflicht des honeste vive nachzukommen, wenn der Herrscher gerade diese Rechte des Untertans zu verletzen droht.⁴³ Schließlich gilt es zu beachten, dass Kant die Freiheit der Feder bewusst nur als Befugnis ausweist. Als solche ist sie lediglich ein Recht im weiteren Sinne, d. h. „e i n Recht, als B e f u g n i ß (facultas moralis generatim) betrachtet“. Daher kommt dem Souverän zwar eine entsprechende Pflicht zur Anerkennung der Freiheit der Feder zu, „aber nicht aller Pflicht correspondiren Rechte eines Anderen (facultas iuridica) jemand zu zwingen; sondern diese heißen besonders R e c h t s p f l i c h t e n“.⁴⁴ Anders gesagt: Die Freiheit der Feder ist kein Zwangsrecht, denn „der Herrscher im Staat hat gegen
Vgl. oben S. 314– 319 und S. 343 f. Das Fehlen der Freiheit der Feder würde dem Herrscher – so Kant in Gemeinspruch, AA VIII, S. 304 –, „alle Kenntniß von dem entziehen, was, wenn er es wüßte, er selbst abändern würde, und ihn mit sich selbst in Widerspruch setzen“. Vgl. ähnlich Was ist Aufklärung?, AA VIII, S. 41 sowie vertieft und kritisch hierzu Niesen 2008, S. 150 – 158. Vgl. Gemeinspruch, AA VIII, S. 304. Vgl. wohl ähnlich Brandt 1993, S. 40 und Brandt 2012, S. 348. Honeste vive verpflichtet den Einzelnen zur Wahrung des Kernbestands an Rechten, die unmittelbar mit der sittlichen Persönlichkeit verknüpft sind, vgl. oben S. 170 – 175. Dem Schutz dieser „unverlierbaren Rechte gegen das Staatsoberhaupt […], die er nicht einmal aufgeben kann, wenn er auch wollte“, dient laut Gemeinspruch, AA VIII, S. 303 f. auch die Freiheit der Feder, da „das Unrecht […], welches ihm seiner Meinung nach widerfährt, nach jener Voraussetzung nur aus Irrthum oder Unkunde gewisser Folgen aus Gesetzen der obersten Macht geschieht“. Damit ist die Freiheit der Feder im Verhältnis Herrscher-Untertan der notwendige staatsrechtliche Annex zur Pflicht des honeste vive. Dass Kant hierbei auf die Benevolenz des Herrschers baut und davon ausgeht, dass Unrecht lediglich auf Grund von Unkenntnis geschieht, marginalisiert freilich das rechtsphilosophische Problem ungerechter Herrschaft. TL, AAVI, S. 383.Vgl. diesbezüglich auch Kants überholte Unterscheidung von Rechtspflichten und erzwingbaren rechtlichen Pflichten, oben S. 193 – 198.
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den Unterthan […] keine (Zwangs‐)Pflichten“.⁴⁵ Die Nichtanerkennung dieser Befugnis durch den Staat ist mithin praktisch folgenlos.⁴⁶ Eine andere Art der Widersetzlichkeit jenseits des Widerstandsverbots ist „n e g a t i v e r Widerstand, d.i. We i g e r u n g des Volks (im Parlament)“, welcher es erlaubt, „jener [sc. der Regierung] in den Forderungen, die sie zur Staatsverwaltung nöthig zu haben vorgiebt, nicht immer zu willfahren“.⁴⁷ Dieses »negative Widerstandsrecht« ist nicht mit dem von Kant kritisierten konstitutionellen Widerstandsrecht zu verwechseln.⁴⁸ Letzteres wird von Kant als unvereinbar mit seinem Souveränitätsbegriff zurückgewiesen, weil es zur gewaltsamen Opposition gegen den Herrscher berechtigt.⁴⁹ Das negative Widerstandsrecht tut dies jedoch nicht: In einer Staatsverfassung, die so beschaffen ist, daß das Volk durch seine Repräsentanten (im Parlament) jener [sc. der Regierung] und dem Repräsentanten derselben (dem Minister) gesetzlich widerstehen kann – welche dann eine eingeschränkte Verfassung heißt –, ist gleichwohl kein activer Widerstand (der willkürlichen Verbindung des Volks die Regierung zu einem gewissen thätigen Verfahren zu zwingen, mithin selbst einen Act der ausübenden Gewalt zu begehen) […].⁵⁰
Während ein konstitutionelles Widerstandsrecht die Befugnis zur gewaltsamen, aktiven Aufhebung der Oberherrschaft einräumt, ist der negative Widerstand gleichsam nur eine organisatorische Selbstbeschränkung, die jedoch niemals die Oberherrschaft als solche in Frage stellt. Insofern hierdurch also kein zweiter Souverän konstituiert wird, ist diese Form der Widersetzlichkeit für Kant nicht vernunftwidrig.⁵¹
RL, AAVI, S. 319.Vgl. ähnlich schon Refl. 7989, AA XIX, S. 574, wonach das Volk „nur das Recht der remonstration“ hat, „welches kein Recht ist zu wiederstehen sondern zu imploriren, welches kein strenges Recht ist, und vom Souverain auch genommen werden kann.“ So im Ergebnis auch Pogge 1988, S. 426; Hancock 1975, S. 173; Zotta 2000, S. 234 f. mit Fn. 264 und Horn 2014, S. 80 f. Folglich stellt – entgegen Arendt 1985, S. 69; Scheffel 1982, S. 203 f. und wohl auch Maus 1992, S. 96 f. sowie Niesen 2008, S. 161 f. – das positivrechtliche Verbot der Freiheit der Feder mitnichten die Legitimität der Herrschaft in Frage. RL, AA VI, S. 322. RL, AA VI, S. 320. Dieser Eindruck entsteht aber bei Winkler 2010, S. 170 f.; Maus 1992, S. 139 f. und Henrich 1967, S. 26 f. Vgl. oben S. 341 mit Fn. 16. RL, AA VI, S. 322. Die eingeschränkte Staatsverfassung ist also nur eine besondere Form der respublica phaenomenon, in der die Ausübung der Staatsverwaltung an die Zustimmung des Parlaments gekoppelt ist. Dies konstituiert keinen »zweiten Souverän«, sondern macht die Ausübung der Staatsgewalt (in etwa vergleichbar mit der Personenmehrheit einer Aristokratie) lediglich vom Willen mehrerer abhängig. Vgl. ähnlich auch Hirsch 2004, S. 154 und Kater 1999, S. 79. Trotz teils kritischer Äußerungen zu einer solchen Verfassung (vgl. RL, AA VI, S. 320 und Refl. 8077, AA XIX, S. 610) hält Kant in RL, AA VI, S. 322 den Verzicht auf die Ausübung eines bestehenden negativen Wider-
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Die praktisch wohl wichtigste Form zulässiger Widersetzlichkeit ist schließlich passiver Widerstand. Es handelt sich um eine Art zivilen Ungehorsams durch bloße Nicht-Befolgung bestimmter staatlicher Vorgaben: „G e h o r c h e t d e r O b r i g k e i t (in allem, was nicht dem inneren Moralischen widerstreitet) […].“⁵² Dieser letzte Zusatz erklärt sich daraus, dass die Befugnis des Souveräns zur äußeren Gesetzgebung nach dem ursprünglichen Kontrakt nur soweit reicht, wie das intersubjektive Willkürverhältnis der Bürger betroffen ist. Der gesetzlichen Bestimmbarkeit unterliegen also nicht die Handlungen, die das Verhältnis zu sich selbst oder in Ansehung Gottes betreffen.⁵³ Kant nennt in einer Reflexion hier explizit „[R]eligionszwang. Zwang zu unnatürlichen Sünden: Meuchelmord etc.“.⁵⁴ Dabei steht passiver Widerstand in diesen Fällen nicht im Ermessen des Einzelnen, sondern es besteht eine Pflicht zum zivilen Ungehorsam.⁵⁵ Obwohl passiver Widerstand hiernach eine praktisch erhebliche Bedeutung erhalten kann, ist er unter systematischen Gesichtspunkten in zweierlei Hinsicht problematisch. Zum einen ist fraglich, inwieweit der Einzelne rechtsverbindlich beurteilen kann, was dem inneren Moralischen unterliegt. Denn eine Berufung auf das passive Widerstandsrecht ist nur in den Fällen möglich, „welche gar nicht in die unionem civilem kommen können“.⁵⁶ Was jedoch nach dem ursprünglichen Vertrag standsrechts für „ein sicheres Zeichen, daß das Volk verderbt, seine Repräsentanten erkäuflich und das Oberhaupt in der Regierung durch seinen Minister despotisch, dieser selber aber ein Verräther des Volks sei“. Vgl. hierzu auch Refl. 8077, AA XIX, S. 606: „Der [sc. Monarch] aber, welcher zuvörderst bey dem Volk öffentliche Anfrage thun muß, ob es einwillige, daß Krieg sey, und wenn dieses sagt, e s s o l l n i c h t K r i e g s e y n , alsdann auch kein Krieg ist, der ist ein b e s c h r ä n k t e r Monarch, und ein solches Volk ist wahrhaftig frey.“ RL, AA VI, S. 371. Dabei entspricht Kants Anerkennung eines passiven Widerstandsrechts der klassischen Naturrechtslehre, vgl. Kersting 1984, S. 330 – 332 m. w. N. Vgl. Brief an Heinrich Jung-Stilling, AA XXIII, S. 495, wonach die „Gesetze in einer schon vorausgesetzten bürgerlichen Gesellschaft“ nicht diejenigen Handlungen betreffen dürfen, „welche er [sc. der Bürger] gegen sich selbst ausübt, oder unmittelbar in Ansehung Gottes zu verrichten vermeynt, sondern nur die äußere Handlungen, dadurch er anderer Mitbürger Freyheit einschränkt“. Vgl. hierzu ausführlich oben Kap. 6, Fn. 252. Ein passives Widerstandsrecht besteht daher lediglich angesichts widersprechender Pflichten gegen sich selbst oder gegen Gott, da diese jenseits der staatlichen Normierungsbefugnis liegen. Damit geht es – entgegen Steigleder 2002, S. 214 und Winkler 2010, S. 173/176 – allenfalls mittelbar um das intersubjektive Verhältnis der Bürger bzw. die Rechte anderer. Vgl. so wohl auch Kersting 1984, S. 330 f. Refl. 8051, AA XIX, S. 595. Vgl. auch Refl. 7975, AA XIX, S. 569. Vgl. Religion, AAVI, S. 99, Fn. *, kursive Hervorhebung P.-A. H.: „Der Satz »man muß Gott mehr gehorchen, als den Menschen« bedeutet nur, daß, wenn die letzten etwas gebieten, was an sich böse (dem Sittengesetz unmittelbar zuwider) ist, ihnen nicht gehorcht werden darf und soll.“ Vgl. ebenso ebd., S. 153 f., Fn. * sowie diese Interpretation teilend Steigleder 2002, S. 247 und Winkler 2010, S. 173. Refl. 8051, AA XIX, S. 594 f.
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der Normierungskompetenz des Souveräns unterliegt, ist zumindest auch eine äußerlich-rechtliche Frage und müsste insofern der alleinigen Beurteilungskompetenz des Souveräns anheimgestellt sein: Könnte der Einzelne stets für alle rechtlich verbindlich auf das Primat seines Gewissens pochen, würde durch die Hintertür des passiven Widerstands gerade wieder jener Zustand fehlender Rechtsgeltung herbeigeführt, welchem der rechtliche Zustand mit der Alleinentscheidungskompetenz des Souveräns eigentlich abhelfen soll.⁵⁷ Die Lösung dieser Problematik hält Kants Unterscheidung zwischen materiellem Recht und formellem Recht bereit: Die materiellrechtliche Grenze des inneren Moralischen kann nicht die formelle äußere Rechtsverbindlichkeit aufheben. Auch wenn dem Einzelnen materialiter passiver Widerstand erlaubt ist, besteht formaliter die äußere Rechtsverbindlichkeit fort, und er wird zu Recht für seine Insubordination bestraft.⁵⁸ In einer Reflexion bringt Kant dies wie folgt auf den Punkt: „Der blos passive Gehorsam geht auf das erdulden nicht auf das Thun. Dem Monarchen ist darum nicht alles an sich erlaubt aber doch externo iure.“⁵⁹ Diese Überzeugung Kants spiegelt sich ersichtlich auch im Gemeinspruch wider,wenn er einerseits eine Form von Religionszwang nach dem ursprünglichen Vertrag als (materiell) unrechtmäßig ausweist,⁶⁰ dann aber unmittelbar im Anschluss betont, dass dies die Gehorsamspflicht, mithin die formelle Rechtsverbindlichkeit desselben, nicht aufhebe.⁶¹
Freilich kann man vice versa den Einwand erheben, dass der Souverän durch seine Definitionshoheit, was eine rechtliche Angelegenheit sei, den Rahmen seiner Normierungskompetenz nicht beliebig ausdehnen dürfe. Letzteres ist jedoch eine rein materiell-rechtliche Frage (Was ist Recht?) und von der formell-rechtlichen (gewissermaßen prozessualen) Frage (Wer entscheidet rechtsverbindlich?) zu unterscheiden. Nur wenn man diese doppelte Betrachtung des Rechts bei Kant berücksichtigt, lässt sich ein Widerspruch vermeiden. Damit ist sowohl den Interpreten zu widersprechen, die die Anerkennung des passiven Widerstandsrechts angesichts des Quis-iudicabit-Einwands für widersprüchlich halten (so Unruh 1993, S. 211), als auch denen, die hierin einen Beleg für das Primat individueller Gewissensentscheidung gegenüber dem staatlichen Beurteilungsmonopol sehen (so etwa Ricken 2013, S. 175; Ludwig 1999, S. 190 und Winkler 2010, S. 176).Vgl. zur doppelten Rechtsbetrachtung Kants bereits oben S. 305 – 310 sowie sogleich ausführlich S. 354– 358, 384– 387 und S. 392 f. Refl. 7814, AA XIX, S. 524. In Gemeinspruch, AA VIII, S. 304 f. fragt Kant, „ob ein Gesetz, das eine gewisse einmal angeordnete kirchliche Verfassung für beständig fortdaurend anbeföhle,“ zulässiger Gegenstand äußerer Gesetzgebung sei und verneint dies, da „ein ursprünglicher Contract des Volks, welcher dieses zum Gesetz machte, an sich selbst null und nichtig sein würde: weil er wider die Bestimmung und Zwecke der Menschheit streitet“. Vgl. Gemeinspruch, AA VIII, S. 305, wonach, „wenn etwas gleichwohl doch von der obersten Gesetzgebung so verfügt wäre, […] zwar allgemeine und öffentliche Urtheile darüber gefällt, nie aber wörtlicher oder thätlicher Widerstand dagegen aufgeboten werden [können]“.
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Damit bleiben dem Einzelnen in den Fällen des passiven Widerstandsrechts – und dies ist der zweite problematische Punkt – nur zwei Möglichkeiten: entweder die rechtlichen Konsequenzen seines Ungehorsams stillschweigend zu ertragen oder ins Exil zu gehen.⁶² Während die letztere Option systematisch keinerlei Schwierigkeiten bereitet,⁶³ wirft der leidende Ungehorsam das systematische Problem auf, ob hierdurch die innere Rechtspflicht, sich als Rechtsperson zu erhalten (honeste vive), verletzt wird.⁶⁴ Ohne die ausführliche Behandlung dieser Problematik vorwegzunehmen,⁶⁵ lässt sich an dieser Stelle zumindest schon sagen, dass Kant die leidende Selbstaufopferung um des inneren Moralischen für moralisch zulässig zu halten scheint.⁶⁶
7.1.2.2 Zulässigkeit aktiven Widerstands jenseits des Widerstandsverbots? Doch lässt sich jenseits dieser drei Fälle, die Kant selbst explizit vom Widerstandsverbot ausnimmt, auch noch aktiver Widerstand in begrenzter Form als zulässig erweisen? Teilweise wird angeführt, das Widerstandsverbot bei Kant beziehe sich nur auf Widerstand gegen den Gesetzgeber, Widerstand gegen die Exekutive sei hingegen unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Ohne das Widerstandsverbot grundsätzlich in Frage zu stellen, lasse sich so bei Kant in vielen Fällen aktiver Widerstand rechtfertigen.⁶⁷ Diese Interpretation beruht jedoch auf
So auch Kersting 1984, S. 332 und Unruh 1993, S. 205. Vgl. Kants Hinweis auf das Recht des Untertans zur Auswanderung in RL, AA VI, S. 338. So steht – etwa im Falle einer bei Todesstrafe befohlenen Handlung wider das innere Moralische – die eigene Rechtssubjektivität im Verhältnis zum Staat als anderer moralischer Person in Rede. Dies ist – entgegen Winkler 2010, S. 176 – ein rechtlich relevanter Konflikt von honeste vive und staatsbürgerlicher Gehorsamspflicht, der jedoch unzulässiger Weise verschleiert wird, wenn man – wie Brandt 1997, S. 241 f. – bereits honeste vive als Pflicht zum leidenden Ungehorsam interpretiert. Vgl. dazu ausführlich unten S. 380 – 387 und S. 392– 399. So schildert Kant in § 6 der Kritik der praktischen Vernunft den erdachten Fall eines Mannes, dem „sein Fürst […] unter Androhung derselben unverzögerten Todesstrafe zumuthete, ein falsches Zeugniß wider einen ehrlichen Mann, den er gerne unter scheinbaren Vorwänden verderben möchte, abzulegen“. In diesem Fall wird eine Pflicht zum leidenden Ungehorsam eindeutig von Kant bejaht, wenn er sagt: „Ob er es [sc. kein falsches Zeugnis ablegen] thun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen. Er urtheilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll […].“ (KpV, AA V, S. 30, kursive Hervorhebung P.-A. H.). Vgl. auch Refl. 7680, AA XIX, S. 486 f. und Refl. 7810, AA XIX, S. 523 sowie zur Zulässigkeit der leidenden Selbstaufopferung bei Kant nur Kersting 1984, S. 331; Zotta 2000, S. 228 mit Fn. 247 und Brandt 1997, S. 242. Vgl. Maus 1992, S. 98 – 101 und ähnlich Pfordten 2009d, insb. S. 87– 93. Beide argumentieren, dass Kant nur die Herrschergewalt des Gesetzgebers als Souverän ausweise (vgl. z. B. RL, AA VI,
7.1 Kants Darstellung der Widerstandsproblematik
351
einem verfehlten Verständnis des Kantischen Souveränitäts- und Gewaltenteilungsbegriffs. Kant bezieht die Gewaltenteilung lediglich auf den Staat in der Idee (respublica noumenon) und weist dort die gesetzgebende Gewalt funktional als Souverän aus. Von diesem funktionalen Souveränitätsbegriff auf der Ebene des Staates in der Idee ist der personale Souveränitätsbegriff auf der Ebene des Staates in der Erscheinung zu unterscheiden. In der respublica phaenomenon repräsentiert das physische Oberhaupt den vereinigten Volkswillen insgesamt, d. h. alle drei Gewalten umfassend, und stellt ihn als Souverän gegenüber dem Volk als Untertan vor.⁶⁸ Eine institutionelle bzw. personelle Gewaltenteilung ist hiernach nicht erforderlich. Und selbst wenn der Staat in der Erscheinung eine solche aufweist, tritt dem Einzelnen die Staatsgewalt (den vereinigten Willen in allen drei Gewalten repräsentierend) notwendig als einheitliche gegenüber. Anderenfalls könnte der Staat seine einheitsstiftende Funktion nicht erfüllen.⁶⁹ Von daher lässt sich das Widerstandsverbot unmöglich nur auf den Gesetzgeber beziehen und die Exekutive hiervon ausnehmen. Gleiches gilt auch für den Versuch, bei Kant die Zulässigkeit eines konstitutionellen Widerstandsrechts gegen einzelne Exekutivmaßnahmen zu rechtfertigen.⁷⁰ Überdies trägt diese Lesart – selbst wenn man Kants Gewaltenteilungsbegriff institutionell verstünde – in der Widerstandsfrage nicht weit: Hiermit ließe sich allenfalls ein „gerichtsförmig unterstützte[r]“⁷¹ bzw. angeordneter Widerstand rechtfertigen. Dieser Fall ist jedoch praktisch nahezu irrelevant und hilft gegen ein den gesamten Staatsapparat korrumpierendes Regime nicht weiter. Denn ein wirklicher Widerstand des Volks, der nicht durch die, sondern gegenüber der Staatlichkeit erklärt wird, scheitert weiterhin am Quis iudicabit-Einwand.⁷² Die grundlegende Differenzierung zwischen Staat in der Idee und Staat in der Erscheinung wird auch übersehen, wenn man versucht, bei Kant ein Widerstandsrecht im Falle des Rückschritts hinter eine historisch bereits erreichte de-
S. 313) und Widerstand nur „[w]ider das gesetzgebende Oberhaupt des Staates“ (RL, AA VI, S. 320) ausgeschlossen sei. Mithin sei Widerstand nur insofern gesellschaftszersetzend und infolgedessen als unzulässig zu qualifizieren. Demgegenüber habe Widerstand gegen die Exekutive nicht die Aufhebung des status civilis zur Folge und sei daher grundsätzlich erlaubt, sofern er der Aufrechterhaltung eines freiheitlich-gesetzlichen Zustands diene. Vgl. oben S. 328 f. Vgl. zu dieser Funktion oben S. 233 – 240. Vgl. so Gerhardt 1995, S. 179, Fn. 39. Doch genauso wie auf der Ebene der respublica phaenomenon ein Widerstandsrecht nicht gegen einen Teil der notwendig einheitlichen Staatsgewalt gerechtfertigt werden kann, geht dies a fortiori nicht gegen einzelne Exekutivmaßnahmen. Maus 1992, S. 100. Vgl. hierzu oben S. 340 f.
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7 Das Problem des Widerstandsrechts
mokratische Staatsverfassung auszumachen.⁷³ Zwar weist Kant die Republik als „die einzige bleibende Staatsverfassung“ aus und bestimmt sie „als ein r e p r ä s e n t a t i v e s S y s t e m des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputirten) ihre Rechte zu besorgen“. Jedoch ist dies eine Bestimmung des Staats in der Idee, die für alle Staatsformen des Staates in der Erscheinung maßgeblich ist, „(es mag […] König, Adelstand, oder die ganze Volkszahl, der demokratische Verein [sein])“.⁷⁴ Jede empirische Staatsform ist mit Blick auf das Ideal der respublica noumenon repräsentativ, und Kants Republikanismus enthält mithin keine Privilegierung der Demokratie.⁷⁵ Dies gilt auch im Hinblick auf Kants Aussage, dass [d]as Recht der obersten Gesetzgebung im gemeinen Wesen […] kein veräußerliches, sondern das allerpersönlichste Recht [ist]. Wer es hat, kann nur durch den Gesammtwillen des Volks über das Volk, aber nicht über den Gesammtwillen selbst, der der Urgrund aller öffentlichen Verträge ist, disponiren.⁷⁶
Wer auch immer sich als Souverän konstituiert, kann hiernach gerade auf Grund seiner Souveränität weder vertraglich noch anderweitig rechtlich verbunden sein, über die Souveränität, d. h. den vereinigten Willen selbst, zu verfügen (z. B. ihn abzutreten). Diese Einschränkung ist dem Kantischen Souveränitätsbegriff inhärent und damit unabhängig von der Frage, in welcher Staatsform (z. B. Demokratie oder Autokratie) sich die Souveränität konstituiert. Es wäre daher falsch, hieraus eine Privilegierung der Demokratie sowie die Zulässigkeit eines postdemokratischen Widerstandsrechts abzuleiten.
7.2 Die systematische Rechtfertigung der Kantischen Position Es bleibt also beim grundsätzlichen Verbot aktiven Widerstands gegen die Staatlichkeit. Doch wie lässt sich dieses Verbot im Falle ungerechter Staatsherr-
Vgl. Maus 1992, S. 111– 113. Ebd., S. 112: „Wenn Kant erklärt, daß die historisch einmal erreichte gesetzgebende Souveränität des Volkes nicht wieder »veräußerlich« ist, daß über den Gesamtwillen des Volkes nicht mehr zu »disponieren« ist, der folglich nicht an den Monarchen oder irgendeinen Regenten zurückfallen darf – wenn also Kant in diesem normativen Sinne die Republik »die einzige bleibende Staatsverfassung« nennt, so ist dieser Intention zufolge jede postdemokratische Regierung absolut ins Unrecht gesetzt.“ RL, AA VI, S. 341. Vgl. so deutlich VA Streit, AA XXIII, S. 432 sowie Anthropologie, AA VII, S. 331. Vgl. dazu oben S. 311– 319 mit Fn. 267. RL, AA VI, S. 342.
7.2 Die systematische Rechtfertigung der Kantischen Position
353
schaft rechtfertigen? Widerspricht es nicht dem ursprünglichen Vertrag, der die Wahrung individueller Freiheitsrechte festschreibt? Und konterkariert es damit nicht Kants Staatslegitimation, derzufolge Staatlichkeit allererst zur Sicherung ebendieser vernunftrechtlichen Ansprüche eingeführt wurde – und zwar unabhängig davon, ob es sich um angeborene oder erworbene Rechte handelt? Vor dem Hintergrund dieser Fragen ist Kants Widerstandsverbot schon häufig die systematische Konsistenz unter Hinweis auf den unbedingten Geltungsanspruch des Vernunftrechts abgesprochen worden: Es könne nicht sein, dass die vom Kantischen System geforderte Höherrangigkeit des Vernunftrechts gegenüber positivrechtlichen Maßnahmen der Staatlichkeit in der Widerstandsfrage einfach außer Kraft gesetzt werde.⁷⁷
7.2.1 Positivrechtliche Überformung vernunftrechtlicher Ansprüche Um die Tragweite dieser Kritik auszumessen, ist allerdings zunächst zu erörtern, in welchen Bereichen vernunftrechtliche Ansprüche überhaupt unabhängig von positivrechtlicher, staatlicher Gesetzgebung bestehen. Denn nur dort ließe sich sinnvoll über ein Widerstandsrecht auf Grund der Höherrangigkeit des Vernunftrechts diskutieren. Hieran fehlt es etwa im Falle erworbener Rechte: Denn rein systematisch betrachtet wird peremptorisches Eigentum überhaupt erst im und durch den Staat positivrechtlich konstituiert.⁷⁸ Bei Kant bestehen Eigentumsrechte materialiter immer nur innerstaatlich, und es bedarf erst der „nothwendige[n] Vereinigung des Privateigenthums aller im Volk unter einem öffentlichen allgemeinen Besitzer zu Bestimmung des besonderen Eigenthums […] nach […] dem nothwendigen formalen Princip der E i n t h e i l u n g […] nach Rechtsbegriffen“.⁷⁹ Folglich können Eigentumstitel immer nur unter Staatsbürgern desselben Staats, nie jedoch jenseits der Staatlichkeit geltend gemacht werden.⁸⁰
Vgl. repräsentativ Dulckeit 1973, S. 56 f.: „[W]enn eine Rechtspflicht (des Naturrechts) unter einem kategorischen Imperativ (als Pflicht zu einer notwendigen Handlung) verbindlich sein soll […], so ist es schlechterdings unbegreiflich, wie es ein Vernunftgesetz sein kann, einem mit der Rechtsidee offenkundig in Widerspruch stehenden positiven Recht zu gehorchen.“ Vgl. m. w. N. oben Kap. 1, Fn. 39. Vgl. oben S. 281 f. und S. 285 – 288. Vgl. mit ähnlichem Hinweis Geismann 2012, S. 143. RL, AA VI, S. 323 f. So betont Kant in RL, AA VI, S. 264 und S. 266, dass „[d]ie p e r e m t o r i s c h e Erwerbung […] nur im bürgerlichen Zustande statt[findet]“ und folglich ein nationalstaatlich bestehender Eigentumstitel nicht international gültig ist. Daher wird die Erwerbung „doch immer nur provisorisch bleiben“, wenn sich „der ursprüngliche Vertrag […] nicht aufs ganze menschliche Geschlecht erstreckt“.
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7 Das Problem des Widerstandsrechts
Wenn also erst der Staat positivrechtlich bestimmt, was Eigentum ist und wem konkrete Eigentumstitel zukommen, so kann man sich nicht auf ebendiese Titel zur Aufhebung der staatlichen Ordnung berufen, ohne eine Art performativen Widerspruch zu begehen. Nun könnte man dagegenhalten, dass doch zumindest eine Verletzung des provisorischen (vorstaatlichen) Eigentums in Betracht komme und hierauf ein Widerstandsrecht zu stützen sei. Dies wäre jedoch in zweierlei Hinsicht systematisch fehlerhaft. Zum einen hört provisorisches Eigentum im Moment der Etablierung des staatlichen Zustands auf zu existieren, weil es in peremptorisches Eigentum überführt wird.⁸¹ Mithin lässt sich hierauf post festum kein rechtlicher Anspruch gründen. Zum anderen besteht provisorisches Eigentum überhaupt nur im Hinblick auf die Gründung des Staates, d. h. sofern es mit der Absicht des Besitzenden zur Errichtung eines bürgerlichen Zustands verbunden ist.⁸² Ein Widerstandsrecht zur Aufhebung der Staatlichkeit hierauf zu gründen, liefe dem zuwider. Schwieriger stellt sich die Lage im Falle angeborener Rechte dar, da diese – im Gegensatz zu erworbenen Rechten – nicht erst durch den Staat begründet werden. Eingedenk dessen erscheint es zumindest möglich, hierauf ein überpositives Widerstandsrecht zu gründen. Allerdings ist zu beachten, dass angeborene Rechte – obgleich sie schon vorstaatlich bestehen – nicht vollkommen der positivrechtlichen, staatlichen Ausgestaltung entzogen sind. Denn in dem Maße, in dem das Individuum über seine angeborene Freiheit verfügen kann (z. B. durch einen Dienstvertrag, bei dem über die eigene Willkür vertraglich verfügt wird), ist das angeborene innere Mein und Dein potentieller Gegenstand des erworbenen äußeren Mein und Dein.⁸³ Folglich unterliegt es auch insoweit positivrechtlicher Gesetzgebung und hängt (nach erstmaliger Verfügung hierüber) in verbindlichkeitstheoretischer Hinsicht vom Staat ab. Wenn es unter diesen Voraussetzungen zu einer staatlichen Verletzung dieser Rechte kommt, greifen also auch hier die oben genannten Argumente für die Konsistenz des Kantischen Widerstandsverbots.
7.2.2 Materiell-rechtliche Höherrangigkeit unveräußerlicher Rechte und das formell-rechtliche Primat staatlicher Rechtsdurchsetzung Als mögliche Anspruchsgrundlage für ein überpositives Widerstandsrecht verbleibt damit nur der unverfügbare Kernbereich des inneren Mein und Dein: die Vgl. so deutlich ZeF, AA VIII, S. 348, Fn. * und VA ZeF, AA XXIII, S. 157, aber auch RL, AA VI, S. 256 f. und S. 264 f. S. hierzu auch oben S. 281– 285. Vgl. oben S. 282 f. mit Fn. 132. Vgl. hierzu Ludwig 1988, S. 118 f.
7.2 Die systematische Rechtfertigung der Kantischen Position
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„unverlierbaren Rechte […], die er [sc. der Mensch] nicht einmal aufgeben kann, wenn er auch wollte“.⁸⁴ Es sind dies die Rechte, denen die innere Rechtspflicht des honeste vive korrespondiert und die nach dem ursprünglichen Vertrag jenseits der staatlichen Normierungsbefugnis liegen.⁸⁵ Werden diese unverfügbaren Rechte durch den Staat verletzt, so scheint es eine Befugnis zum Widerstand geben zu müssen, will man nicht die Höherrangigkeit des Vernunftrechts gegenüber dem positiven Recht preisgeben. Dieser Einwand wäre zweifellos richtig, wenn die materielle Betrachtung des Rechts alleinig ausschlaggebend wäre. Jedoch kennt Kant neben Recht/Unrecht im materiellen Sinne auch noch Recht/Unrecht im formellen Sinne. Wie bereits ausführlich erörtert, betrifft materielles Unrecht die Frage der Verletzung einer vernunftrechtlich geschützten Rechtsposition. Formelles Unrecht besteht – ungeachtet einer solchen Verletzung – hingegen darin, dass dem Postulat des öffentlichen Rechts zuwider gehandelt wird. Das heißt, Recht verlangt formaliter nichts anderes als die Etablierung und Aufrechterhaltung eines rechtlichen Zustands.⁸⁶ Widerstand und Revolution verletzen demnach keine konkreten Rechtspositionen (materielles Recht, das Recht der Menschen), sondern das höchste Prinzip jeder Geltendmachung von Rechten (formelles Recht, Recht der Menschheit),⁸⁷ dessen Sachwalter der jeweilige Gewalthaber ist: Verletzt der Herrscher Rechte, die nach dem ursprünglichen Vertrag zugesichert sind, handelt er materialiter unrecht und folgerichtig geschieht ihm (im Falle entsprechenden Widerstands) kein Unrecht im materiellen Sinne.⁸⁸ Gleichwohl hebt jede Form von Widerstand notwendig die synthetische Einheit aller freien Willkür auf, denn als Rechtsdurchsetzung gegen den Herrscher kann sie formaliter niemals Ausdruck des vereinigten Willens aller sein, den der Herrscher ja gerade repräsentiert. Dass demnach das Widerstandsproblem nicht in der Verletzung der Rechte des Herrschers liegt, sondern in der Verletzung des formellen Rechts qua Zersetzung eines rechtlichen Zustands, hat Kant – wie entsprechende Reflexionen zeigen – schon früh erkannt:
Gemeinspruch, AA VIII, S. 304. Unveräußerlichkeit betrifft die Frage der freiwilligen Aufgabe solcher Rechte. Hiervon zu unterscheiden ist die Verwirkbarkeit durch strafbare Verbrechen, bei der Kant keine entsprechende Begrenzung kennt. Vgl. RL, AA VI, S. 329 f. und dazu Horn 2014, S. 72 f. Vgl. dazu oben S. 170 – 175 und zu den entsprechenden Grenzen des ursprünglichen Vertrags bereits Kap. 6, Fn. 252 und Kap. 7, Fn. 53. Vgl. oben S. 300 – 310. Vgl. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 342 f. Vgl. auch schon oben S. 342 f.
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7 Das Problem des Widerstandsrechts
Der summus imperans thut Unrecht und könte mit gewalt gezwungen werden. Die Unterthanen* haben Recht aber keine erlaubte Gewalt und bedienen sie sich ihrer eignen, so thun sie nicht dem imperanti unrecht, sondern es ist formaliter unrecht. Sie handeln wieder die form des gemeinen wesens und ihren Vertrag. Der Wiederstand der Unterthanen wiederspricht sich selbst und der geduldige Gehorsahm ihrer Glükseeligkeit, ienes entscheidet. * (sie können sich niemals wiedersetzen aber doch wiederstehen, d.i. weigern, das an sich moralisch unmögliche zu thun und darüber alles erdulden. […])⁸⁹
Dass Kant auch in der Folge hieran festhält und das Widerstandsverbot unter Rekurs auf die Unterscheidung zwischen materiellem Recht und formellem Recht rechtfertigt, belegt der Gemeinspruch. Dort führt Kant zur Brabanter Revolution⁹⁰ aus, dass „durch eine solche Empörung dem Landesherrn (der etwa eine joyeuse entrée als einen wirklichen zum Grunde liegenden Vertrag mit dem Volk verletzt hätte) kein Unrecht geschähe, – das Volk doch durch diese Art ihr Recht zu suchen im höchsten Grade Unrecht gethan habe“.⁹¹ Im höchsten Grade Unrecht tun, ist für Kant formaliter Unrecht tun.⁹² Hierdurch wird die Frage einer materiellen Rechtsverletzung (in diesem Fall sogar seitens des Herrschers durch die Verletzung der joyeuse entrée) überhaupt nicht tangiert. Der Grund hierfür ist, dass durch die Unterscheidung von materiellem Recht und formellem Recht⁹³ verschiedene Ansprüche reflektiert werden, die jeweils aus der sittlichen Autonomie des Einzelnen folgen: Als autonomes Vernunftwesen bin ich notwendig Zweck an sich und habe insofern unveräußerliche angeborene Rechte gegenüber anderen Personen. Dies ist die vernunftrechtliche Gewährleistung im materiellen Sinne.⁹⁴ Gleichzeitig habe ich als autonomes Vernunftwesen den Anspruch, nur im Wege der Selbstverpflichtung moralisch obligiert werden zu können. Demnach kann angesichts einer Pluralität von Vernunftwesen die Geltendmachung und Durchsetzung von Rechten nur durch den Staat als Repräsentant des vereinigten
Refl. 7680, AA XIX, S. 486 f.Vgl. i. E. ähnlich Refl. 7696, AA XIX, S. 492. Diese Quellen – insofern zutreffend auf das Jahr 1772 datiert – stammen zwar noch aus Kants vorkritischer Phase. Gleichwohl hält Kant in der Folge an der Differenzierung zwischen materiellem Recht und formellem Recht fest und gibt ihr eine kritische Begründung. Vgl. dazu bereits oben S. 305 f. mit Fn. 211. Nachdem Kaiser Joseph II. die in der sog. joyeuse entrée gewährten Standesprivilegien Brabants verletzt hatte, ließen die Stände von Brabant 1789 ihre Unabhängigkeit proklamieren und erklären, Joseph II. habe seine Souveränitätsrechte verloren. Gemeinspruch, AAVIII, S. 301.Vgl. ebenso ZeF, AAVIII, S. 380 und S. 382 sowie MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 592. Vgl. nur Über ein vermeintes Recht, AAVIII, S. 429; RL, AAVI, S. 307 f. mit Fn. * und S. 344 sowie hierzu oben S. 306 f. Vgl. im Ergebnis ähnlich Refl. 8050, AA XIX, S. 593 f.; Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1352 f. und S. 1391 f.; in Ansätzen auch RL, AA VI, S. 321 f. Vgl. ausführlich oben S. 70 – 77.
7.2 Die systematische Rechtfertigung der Kantischen Position
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Volkswillens erfolgen. Dies ist die vernunftrechtliche Gewährleistung im formellen Sinne.⁹⁵ Angesichts dessen kann der vorgebrachte Einwand, das Kantische Widerstandsverbot hebe die Höherrangigkeit des Vernunftrechts gegenüber dem positiven Recht auf, nicht greifen. Denn dies hieße, die Unterscheidung zwischen materiellem und formellem Unrecht zu nivellieren und einseitig die materiellrechtliche Seite in den Blick zu nehmen. So würde nicht nur verkannt, dass Recht im formellen Sinne moralisch verpflichtend ist, sondern auch, dass es – insofern es zur der Geltendmachung jeder materiellen Rechtsposition sittlich erforderlich ist – notwendig das Primat haben muss:⁹⁶ Ohne einen bürgerlichen Zustand, der Recht formaliter garantiert, kann ich mich nicht in sittlich zulässiger Weise auf meine materiellen Rechte berufen. Dies ist, wie nachgewiesen, der Kern der autonomietheoretischen Staatsbegründung Kants. Folglich kann die Frage der sittlich zulässigen Rechtsdurchsetzung nicht vom materiellen Recht – und sei es auch ein natürliches, unverlierbares Vernunftrecht – getrennt werden: Jeder rechtliche Anspruch ist analytisch mit Staatlichkeit als sittlich notwendiger Realisationsbedingung verknüpft.⁹⁷ Die oben genannten Argumente, die Kant zur Rechtfertigung des Widerstandsverbots anführt, sind also nicht rein formalistisch.Vielmehr sind sie genuin moralischer Natur, da sie dem aus der sittlichen Autonomie des Einzelnen folgenden Anspruch auf eine äußere Gesetzgebung durch den vereinigten Willen aller Rechnung tragen.⁹⁸ Pointiert formuliert: Der Erhalt der Staatsgewalt, die den vereinigten Volkswillen repräsentieret, ist juridisch unbedingt notwendig, weil das Individuum sich nur im und durch den Staat als Rechtssubjekt behaupten kann. Diese systematisch zwingende Konsequenz der Kantischen Position wird auch durch einschlägige Reflexionen Kants bestätigt: „Menschen [können] nur in einer Gesellschaft unter Gesetzen rechtlich existiren […] (dies ist der Status der Menschen) […].“⁹⁹ Indem ich mich auf meine unver-
Vgl. ausführlich oben S. 220 – 247. Daher versteht Kant in RL, AA VI, S. 307 unter formellem Unrecht, dass man „im höchsten Grade […] unrecht [thut]“, kursive Hervorhebung P.-A. H. Vgl. ebenso Refl. 7067, AA XIX, S. 241. Folglich ist Kants Argumentation für das Widerstandsverbot im Ergebnis das Spiegelbild derjenigen, die das Postulat des Öffentlichen Rechts in § 42 trägt: Dort folgt die Notwendigkeit eines bürgerlichen Zustands analytisch aus dem moralischen Begriff des Rechts, da nur so eine systematische Verbindung nach Rechtsgesetzen realisiert werden kann (vgl. oben S. 300 – 305). Hier nun folgt die Vernunftwidrigkeit des Widerstandsverbots daraus, dass durch Widerstand ebendieser bürgerliche Zustand aufgehoben wird. Insofern kann man mit Kersting 1984, S. 342 durchaus davon sprechen, dass „das Menschenrecht […] für den geschichtlichen Menschen in erster Linie [besagt], daß er ein Recht auf Staat hat“. Refl. 8046, AA XIX, S. 592.
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7 Das Problem des Widerstandsrechts
äußerlichen Rechte berufe und dadurch der inneren Rechtspflicht des honeste vive Folge leiste, bin ich schon auf Staatlichkeit als rechtliche Daseinsform verwiesen. „Ein einzelner Mensch, weil er keine andere Sicherheit wegen künftiger Beleidigungen leisten kann, ist iuridisch nur accidens, welches nur existiren kan inhaerendo. Ein bürgerliches Ganze ist Substanz.“¹⁰⁰ Auch wenn die unveräußerlichen Rechte der Staatlichkeit materialiter vorgelagert sind, so kann formaliter der Einzelne – in den Worten dieser Reflexionen – nur durch den Staat juridisch existieren.¹⁰¹ Zur Wahrung seiner Rechte ein Widerstandsrecht gegen den Staat einzufordern, kommt folglich einem performativen Widerspruch gleich.
7.3 Freiheit oder Staatlichkeit? – Kants Umgang mit dem Problem des Unrechtsregimes Wie wir im vorigen Abschnitt gesehen haben, lässt sich Kants Widerstandsverbot systematisch rechtfertigen; doch um welchen Preis? Staatlichkeit mag ein praktisches Vernunftideal sein, dessen wir notwendig bedürfen, um Rechte gegenüber anderen in sittlich zulässiger Weise geltend machen zu können. Doch ist Kants Theorie damit blind gegenüber der empirischen Realität, in der Staaten bei der Erfüllung dieses Staatszwecks versagen oder ihn gar pervertieren? Wie ist Kants Rechts- und politische Philosophie im Umgang mit ungerechter Herrschaft und Unrechtsregimen zu bewerten, die die unveräußerlichen Rechte des Einzelnen in zum Teil eklatanter Weise verletzen?
7.3.1 Despotische Herrschaft und ihre geltungstheoretische Unabhängigkeit von materiellen Gerechtigkeitsstandards Wie gezeigt führt Kant durch die Unterscheidung zwischen dem, was Recht materialiter und was Recht formaliter ist, zwei juridische Maßstäbe für die Bewertung von Rechtsverhältnissen ein. Diese Differenzierung ist nun auf einer abstrakteren Betrachtungsebene konstitutiv für das Spannungsverhältnis zwischen Idealstaat und empirischer Realität: Wenn Kant in § 44 der Rechtslehre einen „Zustand der U n g e r e c h t i g k e i t (iniustus)“ von einem „Zustand der R e c h t l o s i g k e i t
Refl. 8065, AA XIX, S. 600. Entgegen Ludwig 1999, S. 190 f. hat also nicht nur das Volk, welches überhaupt erst durch das Staatsoberhaupt zum Träger eines politischen Willens wird, seine juridische Existenz dem rechtlichen Zustand zu verdanken. Staatlichkeit ist auch für das autonome Individuum zumindest formaliter die juridisch einzig mögliche Daseinsform.
7.3 Kants Umgang mit dem Problem des Unrechtsregimes
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(status iustitia vacuus)“ unterscheidet,¹⁰² so kann man sagen, dass die Frage der Wahrung des Rechts im materiellen Sinne einen Zustand zu einem gerechten Zustand, hingegen das Vorhandensein einer wirklichen äußeren Gesetzgebung (d. h. formelles Recht) einen Zustand zu einem rechtlichen Zustand macht. Die respublica noumenon als praktisches Vernunftideal der Staatlichkeit wäre freilich erst erreicht, wenn beide moralischen Forderungen eingelöst werden. Gleichwohl erfüllt jeder real existierende Staat (respublica phaenomenon) auch unter ungerechter Herrschaft zumindest die Forderung nach einer äußeren Gesetzgebung, d. h. einem rechtlichen Zustand. Folglich ist auch eine Despotie – d. h. eine Herrschaft, die inhaltlich ungerecht ist, weil die äußere Gesetzgebung nicht dem ursprünglichen Vertrag, sondern dem Privatwillen des Herrschers folgt –¹⁰³ ein Staat, dem gegenüber jeder Widerstand verboten ist. Dementsprechend kann auch die Frage, ob ein rechtlicher Zustand vorliegt oder nicht, kriteriologisch nicht von der Wahrung materieller Rechte bzw. Gerechtigkeitsstandards abhängen. Erforderlich ist nur das Vorhandensein einer „wirkliche[n] äußere[n] Gesetzgebung“,¹⁰⁴ die den Machthaber als aktuellen Repräsentanten des (gedachten) vereinigten Volkswillens ausweist. Die legitimatorische Ebene staatlicher äußerer Gesetzgebung ist damit von ihrer inhaltlichen Ausgestaltung abgekoppelt und knüpft allein an die faktische, gesetzliche Herrschaftsgewalt an.¹⁰⁵ Folglich sind Interpretationen zurückzuweisen, die bei Kant die Geltung des Widerstandsverbots vom Vorliegen eines republikanischen Zustands, insbesondere der Wahrung vernunftrechtlich begründeter Freiheitsrechte und Rechtsstaatlichkeit der Herrschaft, abhängig machen wollen. Fehle es hieran, so ist nach dieser Lesart Gewalt zur Wiedererrichtung eines bürgerlich-republikanischen Zustands erlaubt.¹⁰⁶ Jedoch nicht nur, dass sich diese Lesart textlich
RL, AA VI, S. 312. Vgl. nur Kants Begriffsbestimmung in ZeF, AAVIII, S. 352 und Refl. 8009, AA XIX, S. 581 sowie bereits oben S. 317– 319 m. w. N. RL, AA VI, S. 224, kursive Hervorhebung P.-A. H. Vgl. hierzu die Nachweise unten S. 371 f. mit Fn. 161 sowie S. 403 f. Vgl. so insbesondere jüngst Byrd und Hruschka 2011, S. 90 f. und S. 181– 184, die das Widerstandsverbot nur für eine Republik, die rechtsstaatliche Grundsätze wahrt (hierzu eingehend Hruschka 2015, S. 13 – 47), anerkennen. Dementsprechend sei aktiver Widerstand gegen eine despotische Herrschaft zur (Wieder‐)Errichtung eines rechtlichen bzw. republikanischen Zustands erlaubt. Ähnlich äußern sich Pfordten 2009d, S. 93 f. unter Verweis auf die Notwendigkeit einer institutionellen Trennung der Gewalten sowie Scheffel 1982, S. 203 f. und Sassenbach 1992, S. 62 f., die auf die Wahrung der Freiheit der Feder abstellen. Zum selben Ergebnis kommen auch van der Linden 1988, S. 180 – 182 und Sandermann 1989, S. 322 f., die hiermit jedoch eigentlich Kants widerstandsfeindliche Position als inkonsistent kritisieren wollen.Vgl. schließlich Westphal 1998,
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kaum rechtfertigen lässt.¹⁰⁷ Vor allem nivelliert sie die systematisch zentrale Unterscheidung zwischen einem rechtlichen und einem gerechten Zustand.¹⁰⁸ Kant hebt ausdrücklich darauf ab, dass der rechtliche Zustand die Bedingungen enthält, unter „denen allein jeder seines Rechts t h e i l h a f t i g werden kann“,¹⁰⁹ weil es einen „competente[n] Richter“ gibt, um „rechtskräftig den Ausspruch zu thun“.¹¹⁰ Es geht beim rechtlichen Zustand also allein um die formale Möglichkeit der äußeren Adjudizierbarkeit und Durchsetzbarkeit von Rechten, mithin formelles Recht. Hier die tatsächliche, mithin materielle Wahrung individueller Rechte zu verlangen, hieße zum einen, die Pointe der Kantischen Staatsbegründung sowie die Unterscheidung zweier verschiedener juridischer Maßstäbe für die Bewertung von Rechtsverhältnissen zu übergehen. Zum anderen würde hierdurch Kants ausdrückliche Betonung des Primats des formellen Rechts konterkariert.¹¹¹ Da er die einzig sittlich zulässige Form der Rechtsdurchsetzung bereithält, ist ein rechtlicher Zustand gegenüber einem gerechten Zustand notwendig vorrangig: Keine Gerechtigkeit ohne öffentliches Recht! Annäherung an den gerechten Idealstaat kann es immer nur innerstaatlich geben, und folgerichtig konstituiert das Ideal der respublica noumenon lediglich eine Reformpflicht des Souveräns, mitnichten aber ein Recht zum gewaltsamen Widerstand.¹¹² S. 199 f., der allerdings kein moralisches, sondern lediglich ein pragmatisches »Recht« zum Widerstand anerkennen will.Vgl. in Ansätzen wohl auch schon Atwell 1971 und Seebohm 1981, S. 579. Immerhin bewertet Kant doch auch eine tyrannische Gewaltherrschaft eindeutig als Staat, dem gegenüber jeglicher Widerstand verboten ist (vgl. nur RL, AA VI, S. 320; Gemeinspruch, AAVIII, S. 299; Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1391; Refl. 7500, AA XIX, S. 417 und Refl. 7982, AA XIX, S. 572). Außerdem erscheint es widersprüchlich, Kant die oben erwähnte Argumentation zuzuschreiben, wenn er doch Achenwall ausdrücklich für eine solche Rechtfertigung eines Widerstandsrechts kritisiert. Vgl. Gemeinspruch, AA VIII, S. 301 und dazu ausführlich sogleich S. 366 f. und S. 381– 385 m. w. N. Als fatal erweist sich somit bei Byrd und Hruschka 2011, S. 25 – 28 die Gleichsetzung des rechtlichen Zustands bei Kant mit Rechtsstaatlichkeit. Denn hierdurch wird Kants eigene Unterscheidung zwischen einem rechtlichen Zustand und einem rechtmäßigen bzw. gerechten Zustand unterschlagen und auf der Basis dieses Irrtums der Depotie die Gehorsamspflicht abgesprochen. Vgl. mit zutreffender Kritik Geismann 2012, S. 141 f. mit Fn. 593. Dieselbe Problematik findet sich bei Westphal 1998, S. 193, wenn er ausführt, dass „die Sphäre des pflichtmäßigen Gehorsams mit derjenigen der legitimen positiven Gesetzgebung identisch“ sei. Kant so zu lesen, heißt formelles Recht und materielles Recht schlichtweg gleichzusetzen. RL, AA VI, S. 305 f., kursive Hervorhebung P.-A. H. RL, AA VI, S. 312. Vgl. RL, AA VI, S. 307 sowie Refl. 7067, AA XIX, S. 241 und hierzu oben S. 357 mit Fn. 96. Vgl. RL, AA VI, S. 321 f. und S. 355; ZeF, AA VIII, S. 373, Fn. *; VA Gemeinspruch, AA XXIII, S. 130 f. sowie in diesem Zusammenhang Langer 1986, S. 82. Vor diesem Hintergrund ist auch der Einwand zurückzuweisen, es bestehe ein Konflikt zwischen dem moralisch verpflichtenden Ideal eines gerechten Staates und der unbedingten Gehorsamspflicht gegenüber einem ungerechten
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Angesichts der Vernunftnotwendigkeit eines rechtlichen Zustands ist der Herrscher durch praktische Vernunft autorisiert, „durch seine bloße Willkür“ andere moralisch zu verpflichten.¹¹³ Daher haben seine positiven Gesetze eo ipso den Status moralischer Gesetze. Zwar mag die Verletzung vernunftrechtlicher Standards staatliche Maßnahmen materialiter als ungerecht ausweisen, jedoch hebt dies nicht die formale äußere Rechtsverbindlichkeit und damit die staatsbürgerliche Gehorsamspflicht auf. Ob die positivrechtlichen Maßnahmen des Herrschers mit den inhaltlichen Anforderungen des natürlichen Rechts übereinstimmen, ist folglich geltungstheoretisch irrelevant. Im Falle einer Divergenz zwischen dem positiven Recht und den vernunftrechtlichen Vorgaben sind die einzigen rechtlich zulässigen Mittel die bereits diskutierten Formen von Widersetzlichkeit unterhalb der Schwelle des Widerstandsverbots.¹¹⁴ Es bleibt dabei: Staatlichkeit und damit das Widerstandsverbot sind für Kant in geltungstheoretischer Hinsicht von der Wahrung materieller Gerechtigkeitsstandards unabhängig. Auch eine Despotie ist, sofern sie eine wirkliche äußere Gesetzgebung darstellt, ein rechtlicher Zustand im Sinne Kants, dessen Gesetze formaliter moralische Verbindlichkeit haben und gegen die kein aktiver Widerstand erlaubt ist.
7.3.2 Widerstand jenseits von Staatlichkeit? – Das Kantische Widerstandsverbot angesichts von Tyrannei und Barbarei Eine ganz andere Frage ist, wann bei Kant überhaupt von Staatlichkeit, d. h. dem Vorhandensein einer „wirkliche[n] äußere[n] Gesetzgebung“¹¹⁵, gesprochen werden kann. Vielfach wird behauptet, hieran fehle es in staatsverderbenden Unrechtsregimen, wenn der Herrscher zum hostis populi werde. So sei beispielsweise die NS-Diktatur lediglich eine willkürliche und staatszerstörende Gewaltherrschaft gewesen und daher – nach Kantischen Prinzipien – nicht mehr als rechtlicher Zustand zu qualifizieren.¹¹⁶ Liege aber nur ein „gewaltunterworfene[r]
Staat, welcher Raum für Widerstand gegen ungerechte Herrschaft lasse.Vgl. so jedoch (freilich im Detail unterschiedlich) Beck 1971, S. 420 f.; Wit 1999, S. 304 und Korsgaard 1997, S. 316 – 321. Vgl. in RL, AA VI, S. 224 Kants Definition der „Autorität des Gesetzgebers“ als „Befugniß, durch seine bloße Willkür andere zu verbinden“. Vgl. oben S. 345 – 352. RL, AA VI, S. 224. Vgl. Kersting 1984, S. 336 f.; Klemme 2011, S. 52 f.; Ripstein 2009, S. 337 f.; zustimmend Maliks 2013, S. 29 – 37; erneut Maliks 2014, S. 139 – 142; Geismann 2012, S. 143 – 157 und unter Verweis auf den Begriff der Tyrannis auch schon Pfordten 2009d, S. 94 und S. 97. Vgl. demgegenüber kritisch jedoch Joerden 1995, S. 258 mit Fn. 11.
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Naturzustand“¹¹⁷ vor, werde demzufolge das Kantische Widerstandsverbot gegenstandslos. Nach dieser Interpretation folgt ein Widerstandsrecht also nicht aus der – nach vernunftrechtlichem Maßstab – inhaltlichen Ungerechtigkeit staatlicher Gesetzgebung. Vielmehr sei Widerstand erlaubt, weil es bereits formal an einer solchen staatlichen Gesetzgebung – d. h. nach dem hier Gesagten: formellem Recht – fehle. Als textlicher Anknüpfungspunkt dieser Lesart dient häufig eine Passage zur Staatstypologie aus Kants Anthropologie: F r e i h e i t und G e s e t z (durch welches jene eingeschränkt wird) sind die zwei Angeln, um welche sich die bürgerliche Gesetzgebung dreht. – Aber damit das letztere auch von Wirkung und nicht leere Anpreisung sei: so muß ein Mittleres hinzu kommen, nämlich G e w a l t , welche, mit jenen verbunden, diesen Principien Erfolg verschafft. – Nun kann man sich aber viererlei Combinationen der letzteren mit den beiden ersteren denken: A. Gesetz und Freiheit ohne Gewalt (Anarchie). B. Gesetz und Gewalt ohne Freiheit (Despotism). C. Gewalt ohne Freiheit und Gesetz (Barbarei). D. Gewalt mit Freiheit und Gesetz (Republik). Man sieht, daß nur die letztere eine wahre bürgerliche Verfassung genannt zu werden verdiene; wobei man aber nicht auf eine der drei Staatsformen (Demokratie) hinzielt, sondern unter R e p u b l i k nur einen Staat überhaupt versteht […].¹¹⁸
Eine schier willkürliche Gewaltherrschaft, die weder die Freiheit der Untertanen wahre noch in ihrer Regierung gesetzmäßig verfahre, qualifiziere Kant als Barbarei. Insofern dies ein Zustand der Gesetzlosigkeit sei, könne man nicht von einem rechtlichen Zustand sprechen, da es gerade an einer äußeren Gesetzgebung, d. h. der formalen Allgemeingesetzlichkeit und Durchsetzbarkeit des Rechts, fehle.¹¹⁹ Der Naturzustand erlaube nun aber Gewalt zur (Wieder‐)Errichtung eines bürgerlichen Zustands.¹²⁰
Kersting 1984, S. 336. Anthropologie, AA VII, S. 330 f., vgl. hierzu erläuternd Joerden 1995, S. 256 – 259. Während die Despotie inhaltlich ungerecht sei, aber gleichwohl gesetzlich nach dem Privatwillen des Herrschers verfahre, sei die Barbarei ein Zustand, welche noch nicht einmal die Forderung äußerer Gesetzlichkeit der Herrschaft erfülle. Vgl. im Rekurs auf diese Passage z. B. Klemme 2011, S. 52 f.; Ripstein 2009, S. 336 – 343; Geismann 2012, S. 143 mit Fn. 610.
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7.3.2.1 Zur Staatsqualität von Barbarei und Tyrannei Jedoch lässt sich diese Argumentation zur Rechtfertigung eines aktiven Widerstandsrechts angesichts der Quellenlage nur schwerlich Kant zuschreiben. Denn Kants Äußerungen zur Staatsqualität der Barbarei, die sich größtenteils nur unveröffentlichten Quellen entnehmen lassen, sind alles andere als eindeutig. Richtig ist, dass es eine Vielzahl von Passagen gibt, in denen Kant Barbarei durch das Fehlen einer äußeren Gesetzgebung und Zwangsordnung zu charakterisieren scheint.¹²¹ Gleichwohl finden sich ebenso Passagen, in denen Kant Barbarei als eine (zugegebenermaßen äußerst defizitäre) Form eines bürgerlichen Zustands ausweist, ihr also Staatsqualität zuschreibt. So spricht Kant davon, dass eine „Gesetzgebung selber aber (mithin auch die bürgerliche Verfassung) […] barbarisch und unausgebildet“ sein kann.¹²² Anderenorts ist von „eine[r] barbarische[n] bürgerliche[n] Verfassung“ die Rede.¹²³ Teilweise wird die Barbarei auch als besondere Regierungsform bezeichnet und mithin auf Staatlichkeit bezogen.¹²⁴ Für die Staatsqualität der Barbarei spricht im Kontext der oben zitierten Staatstypologie aus Kants Anthropologie außerdem folgende Passage: Der bürgerliche Zustand besteht: 1. Aus Freiheit, 2. aus Gesetz, 3. aus Gewalt. Soll Freiheit gesichert sein, so wird Gesetz erfordert. Dieses aber ist eine bloße Idee, die der Mensch befolgen kann, wenn er will. Also muß auch Gewalt damit verbunden sein, daß er es befolgt. Es gibt viererlei Verfassungen: 1. F r e i h e i t o h n e G e s e t z und ohne rechtmäßige Gewalt ist der Zustand der Wildheit oder eine völlige Anarchie. 2. F r e i h e i t u n d G e s e t z , aber ohne Gewalt, z.E. die polnische Freiheit. 3. G e w a l t o h n e G e s e t z und Freiheit ist Tyrannei, Despotismus. 4. G e s e t z m i t G e w a l t , aber ohne Freiheit (monarchisch). Die Vollkommenheit der bürgerlichen Verfassung beruht darauf, wie Freiheit, Gesetz, Gewalt vereinigt werden können.¹²⁵
Vgl. ZeF, AAVIII, S. 357, Fn. *;VA ZeF, AA XXIII, S. 162; RL, AAVI, S. 351; Anthropologie, AAVII, S. 326; Idee, AAVIII, S. 26; Refl. 1416, AA XV, S. 617; Refl. 1453, AA XV, S. 634; Refl. 649, AA XV, S. 649; Refl. 1501, AA XV, S. 790 sowie Refl. 7825, AA XIX, S. 527. RL, AA VI, S. 337. Anthropologie, AA VII, S. 304. Vgl. Refl. 1468, AA XV, S. 647; Refl. 1522, AA XV, S. 893 und Refl. 7700, AA XIX, S. 494. Anthropologie Dohna-Wundlacken, hrsg. von Arnold Kowalewski, S. 371 f.
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Dieser Abschnitt aus einer Anthropologievorlesung der Jahre 1791– 1793 enthält kriteriologisch bereits die gleiche Typisierung, wie sie Kant später in der Anthropologie 1796/1797 vornimmt. Was in letzterer jedoch nicht deutlich ausgesprochen wird, tritt hier explizit zutage: Kant spricht von „viererlei Verfassungen“ und bezieht die graduelle Abstufung zwischen ihnen lediglich auf „[d]ie Vollkommenheit der bürgerlichen Verfassung“.¹²⁶ Folglich stellt auch eine Gewaltherrschaft ohne Freiheit und Gesetz eine – wenn auch defizitäre – Form bürgerlicher Verfasstheit dar. Interpretiert man in diesem Lichte Kants Staatstypologie aus der Anthropologie, so liegt es nahe, Kants dortige Redeweise von „viererlei Combinationen“ ebenfalls nur als graduelle Abstufung im Hinblick auf „eine wahre bürgerliche Verfassung“¹²⁷ zu interpretieren. Defizitäre Formen von Herrschaft haben demnach immer noch Staatsqualität. Diese Überlegungen lassen sich auch durch ein systematisches Argument untermauern: Wenn Kant die Barbarei in der Anthropologie in einem Atemzug mit Despotie und Republik nennt, dann ist sie ebenso wie die beiden letztgenannten als Bestimmung der Regierungsart zu qualifizieren. Als solche beschreibt sie lediglich das Wie einer staatlichen Herrschaftsausübung¹²⁸ und setzt folglich das Bestehen eines Staates implizit voraus.¹²⁹ Hierfür spricht auch, dass Kant in der Passage aus der Anthropologie die „G e w a l t “ als „ein Mittleres“ zwischen „F r e i h e i t und G e s e t z “ bezeichnet, das den letztgenannten „Principien [sc. der bürgerlichen Verfassung] Erfolg verschafft“.¹³⁰ Demzufolge meint Kant mit Gewalt die im bürgerlichen Zustand für die Rechtsdurchsetzung erforderliche Staatsgewalt. Angesichts dessen erscheint wenig plausibel, dass Kant bei Republik und Despotie zunächst von Staatsgewalt spricht, dann aber innerhalb der Klassifikation die Begriffsbedeutung ändert und mit Barbarei die den Naturzustand kennzeichnende Gewalttätigkeit meint.¹³¹ Nimmt man all dies zusammen, ist es mithin bereits textlich fragwürdig, unter dem Begriff der Barbarei Unrechtsregimen bzw. Gewaltherrschaft die Staatlichkeit abzuerkennen. Dieser Eindruck erhärtet sich, wenn man zusätzlich Kants Behandlung der Tyrannei mit in die Betrachtung einbezieht. Was genau Kant staatstypologisch unter Tyrannei versteht, lässt sich textlich schwer feststellen. Im Verhältnis zur Barbarei ist unklar, ob die Barbarei eine besondere Form der Tyrannei ist oder ein
Ebd., kursive Hervorhebung P.-A. H. Anthropologie, AA VII, S. 330 f., kursive Hervorhebung P.-A. H. Vgl. oben S. 317– 319. Vgl. auch Kap. 7, Fn. 124. Vgl. differenzierend jedoch Joerden 1995, S. 258, Fn. 11. Anthropologie, AA VII, S. 330, vollständig zitiert oben S. 362. Vgl. so auch Joerden 1995, S. 257 f. mit Fn. 11, der zutreffend darauf verweist, dass Kant bewusst zwischen Staatsgewalt und Gewalttätigkeit unterscheidet, bspw. in RL, AA VI, S. 312 f.
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aliud darstellt.¹³² Im Verhältnis zur Despotie scheint sich die Tyrannei gerade dadurch zu unterscheiden, dass sie gesetzlos – mithin nur gewalttätig – verfährt.¹³³ Anderenorts scheint Kant den Tyrannen als besonderen Typus eines Despoten anzusehen.¹³⁴ Ungeachtet dessen wird jedoch wiederholt deutlich, dass Kant unter Tyrannei – darin übrigens der traditionellen Terminologie entsprechend –¹³⁵ gerade die staatsverderbende Gewaltherrschaft verhandelt, um die es vorliegend geht: Tyrann ist ein Herrscher, der unter „Mißbrauch seiner Gewalt“ vorgeht.¹³⁶ Kant qualifiziert ihn als „summus Imperans dessen Regierung vorsetzlich zum Untergange des gemeinen Wesens ist“, „wo kein Bürger seines Staats seiner Güter und seines Landes sicher ist“.¹³⁷ „Der Despot ist ein Tyrann, wenn er wieder die Gesetze und ungeachtet der Gesetzmäßigkeit der Handlungen die Freyheit raubt, die mit dem Gesetze wohl zusammenstimmt.“¹³⁸ Sofern wir die Verletzung grundlegender Freiheits- und Eigentumsrechte sowie eine gesetzlose, willkürliche Gewaltherrschaft, die zum Untergang des Gemeinwesens führt und den Herrscher zum hostis populi werden lässt, als Kennzeichen moderner Unrechtsregime (z. B. der NS-Herrschaft)¹³⁹ ansehen, sind Kants Äußerungen zur Tyrannei maßgeblich für seine staatstheoretische Qualifikation
Die Quellenlage hierzu ist unzureichend: In Refl. 7700, AA XIX, S. 494 werden sie von Kant als unterschiedliche Regierungsformen ausgewiesen, hingegen stellt die Barbarei in Refl. 8020, AA XIX, S. 584 eine besondere Ausprägung der Tyrannei dar. Vgl. z. B. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1392 sowie Refl. 7982, AA XIX, S. 572. Vgl. z. B. Refl. 6188, AA XVIII, S. 483 und Refl. 7982, AA XIX, S. 572. Allerdings handelt es sich um keine vollständige inhaltliche Gleichsetzung, wie sie bei anderen Autoren vor Kant durchaus anzutreffen war. Vgl. hierzu Mandt 1974, S. 66 – 101. Vgl. beispielhaft die Verwendung bei Achenwall, Iuris naturalis pars posterior, §§ 204 f. Dieser bezeichnet den Herrscher, der durch exzessive, ungerechte Gewaltausübung die Herrschaft pervertiert, als tyrannus exercitio. Auf diese tradierte Terminologie rekurriert auch Kant, wenn er etwa in ZeF, AA VIII, S. 382 den „Tyrannen (non titulo, sed exercitio talis)“ thematisiert. RL, AA VI, S. 320. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1391 f. Refl. 7982, AA XIX, S. 572.Vgl. unter Verweis auf eine Verletzung des ursprünglichen Vertrags auch Refl. 7500, AA XIX, S. 417. Sicherlich stellen die Verbrechen des NS-Regimes ein vorher so noch nie da gewesenes Ausmaß staatlichen Unrechts dar. Gleichwohl stellt dies nicht die qualitative staatstypologische Qualifikation des NS-Herrschaft (oder des Stalinismus) als Tyrannei in Frage. Denn trotz des graduell unterschiedlichen Ausmaßes des staatlichen Unrechts war Kant die Pervertierung staatlicher Herrschaft (sei es durch die Exzesse absolutistischer Herrschaft oder die Willkürherrschaft des terreur im revolutionären Frankreich) wohl bekannt. Daher sind auch Versuche (vgl. etwa Reiss 1956, S. 190 f. oder Kriele 1997, S. 82 f.), das Kantische Widerstandsverbot allein aus der Unvorhersehbarkeit moderner Diktaturen für Kant zu erklären, abzulehnen.
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solcher Regime.¹⁴⁰ Dies gilt insbesondere im Vergleich zur Barbarei. Während letztere nie im Zusammenhang mit der Widerstandsproblematik erwähnt wird, verhandelt Kant die Tyrannei ausdrücklich im Hinblick auf vernunftrechtswidrige Herrschaft und die damit zusammenhängende Frage eines Widerstandsrechts.¹⁴¹ Dabei lässt Kant jedoch keinen Zweifel daran, dass auch in einer Tyrannei das Widerstandsverbot seine volle Geltung behält. Es gibt kein Widerstandsrecht gegen den Herrscher „unter dem Vorwande des Mißbrauchs seiner Gewalt (tyrannis)“.¹⁴² Auch wenn der Herrscher „die Regierung bevollmächtigt, durchaus gewaltthätig (tyrannisch) zu verfahren, [bleibt] dennoch dem Unterthan kein Widerstand als Gegengewalt erlaubt“.¹⁴³ Selbst eine Tyrannei büßt die Staatsqualität nicht ein. Folglich kann ein Widerstandsrecht gegenüber Unrechtsregimen bzw. Gewaltherrschaft (in Kantischer Terminologie: Tyranneien) nicht damit begründet werden, dass es in diesen Fällen an der Staatsqualität der Herrschaft mangele und ein Rückfall in den Naturzustand vorliege. Gerade hierin liegt die Pointe der Kantischen Position gegenüber der traditionellen, naturrechtlich begründeten Widerstandslehre des 17. und 18. Jahrhunderts. Denn trotz grundsätzlichem Widerstandsverbot erkennen Autoren wie Grotius, Pufendorf, Wolff und schließlich auch Achenwall eine Berechtigung zum Widerstand allein im Falle eines Tyrannen an, der zum hostis populi wird und den Staatszweck pervertiert. Pikanterweise begründen diese Naturrechtstheoretiker das Widerstandsrecht gegen den Tyrannen regelmäßig nicht innerstaatlich, sondern betrachten den Widerstand außerstaatlich als Reflex auf einen Rückfall in den Naturzustand, welcher bereits durch die Pervertierung der Herrschaft zustande kommt: Die Legitimität staatlicher Herrschaft ist bei diesen Autoren an den Staatszweck (in der Regel Wahrung des Gemeinwohls und der öffentlichen Ordnung) gebunden. Überschreitet der Herrscher diese Grenze evidentermaßen, indem er als Tyrann den Untergang des Gemeinwesens bewirkt, handelt er als Privatmann, gegen den gewaltsame Selbstverteidigung als Ausdruck der natürlichen Freiheit zulässig ist. Durch die Pervertierung der Herrschaft wird eo ipso der Rechtsanspruch auf Herrschaft verwirkt.¹⁴⁴ Kant Hierfür spricht auch die oben zitierte Passage aus Anthropologie Dohna-Wundlacken, hrsg. von Arnold Kowalewski, S. 371 f., in der Kant einen Zustand der Gewalt ohne Gesetz und ohne Freiheit nicht – wie in der Anthropologie von 1798 – als Barbarei, sondern als Tyrannei definiert. Vgl. RL, AA VI, S. 320; Gemeinspruch, AA VIII, S. 299 und S. 301 sowie insb. die ausführliche Behandlung in Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1391 f. RL, AA VI, S. 320. Gemeinspruch, AA VIII, S. 299. Vgl. Grotius, De jure belli ac pacis, I, 4, §§ 7, 11; Pufendorf, De jure naturae et gentium, VII, 2, § 10; Wolff, Jus naturae, VIII, 6, §§ 1046 f., 1060 – 1062 sowie Achenwall, Iuris naturalis pars posterior, §§ 91 und 204 f. Vgl. zur Argumentation der genannten Autoren nur Link 1983, S. 31, Behme 1995, S. 154– 157 m. w. N., Bachmann 1977, S. 187 f. sowie grundsätzlich zur damaligen Entwicklung
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wendet sich jedoch ausdrücklich gegen eine solche Rechtfertigung aktiven Widerstands, wenn er Herrschaftsanspruch und korrespondierende Gehorsamspflicht auch in der Tyrannei fortbestehen lässt. Dies zeigt im Gemeinspruch auch Kants Kritik an Achenwall, der sich in der Widerstandsfrage in den Bahnen Grotius‘, Pufendorfs und Wolffs bewegt. Gegenüber der klassischen Naturrechtslehre besteht in der Widerstandsfrage die Spitze der Kantischen Position darin, selbst im Falle tyrannischer Unrechtsregime und Herrschaftspervertierung gerade nicht einen Rückfall in den Naturzustand anzunehmen. Tyrannei und Barbarei sind staatliche Zustände, und es ist immer erst die Widersetzlichkeit der Untertanen, die den Rückfall in den status naturalis bewirkt.¹⁴⁵
7.3.2.2 Das Vorliegen von Staatlichkeit als Rechtsproblem Textlich spricht mithin alles dafür, dass Kant an der Staatsqualität von Tyrannei und Barbarei festhielt. Dieser Befund lässt sich systematisch damit erklären, dass Kant das Vorliegen von Staatlichkeit als Rechtsproblem behandelt. D. h., ob ein rechtlicher Zustand vorliegt oder nicht, ist selbst eine rechtliche Frage. Wer nun die Beurteilungskompetenz in dieser Angelegenheit hat, hängt entscheidend von den Ausgangsbedingungen ab. Nach Kants Naturzustandskonzeption liegt diese Kompetenz im status naturalis beim Individuum, insofern der Einzelne nach dem Erlaubnisgesetz der reinen Vernunft befugt ist, andere in einen rechtlichen Zustand zu nötigen.¹⁴⁶ Diese Befugnis erfordert notwendig das vorhergehende Urteil des Einzelnen über das Vorhandensein einer staatlichen Ordnung, d. h. darüber,
der Widerstandslehre Wolzendorff 1968, S. 247– 305; Link 1979, S. 193 – 201 und Maliks 2014, S. 114– 120 und S. 123 – 130. Vgl. anschaulich auch den Beitrag von Gentz Über das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis in der Berlinischen Monatszeitschrift, wo er sich (ebd., S. 105) Kants Lehre vom Widerstandsrecht im Grundsatz anschließt und „das Lieblingssystem unserer Zeiten“ kritisiert, bei welchem „man einen Kontrakt zwischen dem Oberhaupt und den Untertanen annimmt“, in dem nach Gentz auch der Fall geregelt sein muss, „wo man ihm [sc. dem Oberhaupt] nicht mehr gehorchen darf oder, mit anderen Worten, wo es nichts mehr geben wird, wodurch man rechtlich zwingen kann, das heißt die Möglichkeit gänzlicher Gesetzlosigkeit (Anarchie) konstituiert“ ist. Selbstverständlich gab es aber schon zuvor eine Vielzahl an Theoretikern, die in dieser Frage anders dachten und – wie Kant und Gentz – ein Widerstandsrecht ganz generell ablehnten, bspw. Thomasius, Boehmer und Leibniz. Vgl. hierzu die Nachweise bei Link 1979, S. 198 f., Fn. 38. Vgl. Gemeinspruch, AA VIII, S. 301 sowie Kants Auseinandersetzung mit Achenwall in Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1392. Vgl. hierzu die ausführliche Auseinandersetzung unten S. 380 – 387 mit Fn. 209 sowie zu Achenwall Streidl 2003, S. 257– 262. Kants Opposition zu Autoren wie Achenwall wird so erst begreiflich. Während nach klassischer Naturrechtslehre der ultra vires handelnde Tyrann nicht mehr durch den Herrschaftsvertrag legitimiert war und als außerstaatlich handelnder Privatmann den Anspruch auf Gehorsam verlor, hält Kant genau hieran fest. Vgl. oben S. 280 f. mit Fn. 122. Vgl. insofern zutreffend Maliks 2013, S. 40.
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noch im Naturzustand und mithin nicht im bürgerlichen Zustand zu sein. Diese Ausgangsbedingungen ändern sich jedoch, wenn bereits ein rechtlicher Zustand begründet worden ist und es nunmehr um die Frage geht, ob dieser noch fortbesteht. Denn das Erlaubnisgesetz, das im Naturzustand die Beurteilungskompetenz des Individuums impliziert, dient allein der Errichtung von Staatlichkeit. Ziel der Erlaubnis ist, erstmalig einen rechtlichen Zustand und damit die Abhängigkeit der Rechtsgeltung vom vereinigten Volkswillen (d. h. formelles Recht) herzustellen. Folglich wird das Erlaubnisgesetz mit erstmaliger Etablierung der Staatlichkeit gegenstandslos, sodass hiermit auch die Urteilskompetenz des Einzelnen über den status naturalis bzw. civilis entfällt:¹⁴⁷ Die Frage, wer ein Recht zum summo imperio habe, ist denn gantz rechtmäßig, wenn das volk noch keinen summum imperantem hat. hat es aber einen, so ist schon ein status civilis da und nur kraft desselben kann bestimmt werden, wer summus imperans sey und dieser kann nur sprechen, also kann der summus imperans sich selbst nicht aufheben, ohne in den statum naturalem zurükzufallen.¹⁴⁸
Ist ein rechtlicher Zustand einmal errichtet, dann kann – dieser Reflexion zufolge – nur kraft des status civilis bestimmt werden, wer summus imperans ist. Da der status civilis zugleich durch das Verhältnis zwischen Staatsoberhaupt (imperans) und Untertanen (subditi) konstituiert wird,¹⁴⁹ ist folglich der summus imperans nach erstmaliger Etablierung der Staatlichkeit notwendig Richter in eigener Sache. Ein rechtskräftiges Urteil über Gesetzmäßigkeit und Legitimität seiner Herrschaft ist dem Volk nicht mehr möglich. Diese Lesart findet eine Bestätigung im Gemeinspruch. Auch wenn sich der Herrscher „des Rechts, Gesetzgeber zu sein“, durch seine tyrannische Regierungsführung „nach dem Begriff des Unterthans verlustig gemacht“ haben sollte, so kann diese Volksmeinung – wie Kant dort ausdrücklich betont – formaliter niemals Rechtscharakter haben. Denn das Volk hat „bei einer schon subsistirenden bürgerlichen Verfassung […] kein zu Recht beständiges Urtheil mehr […], zu bestimmen: wie jene solle verwaltet werden.“¹⁵⁰ Widerstand gegen den Tyrannen kann niemals durch ein rechtliches Urteil legitimiert werden, sondern erfolgt stets nur „unter dem Vorwande des Mißbrauchs seiner Gewalt“.¹⁵¹ Das Volk darf nicht mehr über den Herrscher urteilen und einseitig den Rückfall in den Naturzustand ausrufen, da – so Kant anderenorts – „in der Überlassung der
Dies verkennt jedoch Maliks 2013, S. 40 – 42, erneut Maliks 2014, S. 140 – 142, der daher auch im bürgerlichen Zustand fraglos an der individuellen Urteilskompetenz festhält. Refl. 7970, AA XIX, S. 567. Vgl. RL, AA VI, S. 315 und dazu oben S. 239 f. und S. 317 f. Gemeinspruch, AA VIII, S. 299 f., kursive Hervorhebung P.-A. H. So Kant in RL, AA VI, S. 320, kursive Hervorhebung P.-A. H.
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Allgewalt […] schon die renunciation auf alle Befugnisse der Wiedersetzung enthalten [ist]“.¹⁵² Nur durch den Staat können sowohl das Vorhandensein, wie auch die Legitimität der Staatlichkeit bestimmt werden. Ein Rückfall in den Naturzustand ist mithin nur durch Selbstaufhebung möglich, d. h. durch explizite Aufgabe der obersten Gesetzgebung seitens des Herrschers.¹⁵³ Doch wie lässt sich rechtfertigen, dass dem Individuum nach Staatskonstitution keinerlei Beurteilungskompetenz über das Vorhandensein von Staatlichkeit verbleibt? Hierfür gibt es aus Kantischer Sicht zwei Gründe: Zum einen steht dem Einzelnen gar kein Kriterium zur Verfügung, wonach er die Frage der Existenz eines rechtlichen Zustands beantworten könnte. Teilweise wird zwar argumentiert, dass man nur dann von einem Staat sprechen könne, wenn die Obrigkeit zumindest den Anspruch verfolge, den gesetzgebenden Willen aller zu repräsentieren. Würden einem bestimmten Teil der Bevölkerung sämtliche Rechte, das Existenzrecht eingeschlossen, willkürlich aberkannt (etwa den Juden in NSDeutschland), fehle es genau hieran.¹⁵⁴ Dieser Einwand wäre bei Kant aber nur dann zutreffend, wenn es bei ihm intersubjektiv gültige, jedem unmittelbar einsichtige Kriterien für die Willkür oder Ungesetzlichkeit der Herrschaft gäbe. Der staatlichen Maßnahme müsste dann gleichsam auf die Stirn geschrieben sein, Refl. 8049, AA XIX, S. 593. Daher analysiert Kant die Französische Revolution in RL, AA VI, S. 341 f. konsequenterweise als zweiaktigen Vorgang, wonach durch Abtretung der Steuergesetzgebung an die Generalstände zunächst das summum imperium, „mithin die Herrschergewalt des Monarchen[,] gänzlich verschwand“ und sodann „aufs Volk überging“, indem die „Nationalversammlung“ beschloss, sich neu „zur Souveränität zu constituiren“. Ausdrücklich ist dies keine unmittelbare Übertragung, da „[d]as Recht der obersten Gesetzgebung im gemeinen Wesen […] kein veräußerliches, sondern das allerpersönlichste Recht“ ist und hierüber nicht verfügt werden kann. Vgl. dazu oben S. 352 sowie im Folgenden S. 400 mit Fn. 273. Vgl. ebenso RL, AA VI, S. 320 f., Fn. *. Anschaulich ist auch Refl. 8049, AA XIX, S. 593: „Wenn aber der monarch als Souverain sich selbst unvermögend fühlt, den Staat zu erhalten und beruft das Volk durch seine repraesentanten den Staat zu erhalten, so ist dieses wiederum kein contract sondern, da er nur Stellvertreter des Volks war, eine Niederlegung seiner Würde.“ Vgl. ähnlich Refl. 8055, AA XIX, S. 595 f. sowie implizit auch Refl. 7989, AA XIX, S. 575. Entscheidend ist bei alledem, dass ein expliziter Akt der Herrschaftsaufgabe durch den Souverän vorliegt. Nur dann ist die Niederlegung der Herrschaft nicht erneut Gegenstand rechtlichen Streits. Es gehe dabei nicht um Rechtsunsicherheit (d. h. die Frage der inhaltlichen Richtigkeit der Gesetzgebung und Rechtsanwendung), sondern – da es an einer auch nur im Mindesten rechtssichernden Staatlichkeit fehle – um evidente Rechtlosigkeit. Dies müsse in der Beurteilungskompetenz des Einzelnen liegen, so Ripstein 2009, S. 343. Ripstein beruft sich dabei auch auf die These von Radbruch 1946, S. 107, dass dort, „wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, […] das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges‘ Recht [ist]“, sondern „vielmehr […] überhaupt der Rechtsnatur [entbehrt]“.
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dass sie willkürlich und ungesetzlich ist. Jedoch gibt es bei Kant keine obrigkeitlichen Maßnahmen, die schon als solche unmöglich Ausdruck des vereinigten Volkswillens sein können bzw. verifizieren, dass es an einer äußeren, regelhaftallgemeingültigen Gesetzgebung fehlt. So erkennt Kant dem Souverän die Strafbefugnis sowohl hinsichtlich der Todesstrafe¹⁵⁵ als auch hinsichtlich der Verbannung (Aberkennung jeglicher Bürgerrechte) und der Landesverweisung (Ächtung und Entzug allen (rechtlichen) Schutzes) zu.¹⁵⁶ Insofern sind diese Maßnahmen möglicher Ausdruck des gesetzgebenden Willens aller. Für Kant ist also die Aberkennung des Lebensrechts oder der rechtlichen Schutzwürdigkeit mit dem Bestehen eines rechtlichen Zustands iure formaliter vereinbar. Ob diese Maßnahmen im Hinblick auf Strafgrund und Strafmaß willkürlich bzw. ungerecht sind, ist jedoch wieder eine rein materiell-rechtliche Frage, die keinen Einfluss auf die Qualifikation der Herrschaft als rechtlichen Zustand hat.¹⁵⁷ Gibt es aber keine Maßnahmen, die der Souverän als Souverän iure formaliter nicht treffen kann, gibt es auch keine äußeren und individuell einsehbaren Kriterien, anhand derer der Einzelne das Bestehen eines rechtlichen Zustands beurteilen könnte.¹⁵⁸ Zum anderen würde eine solche Beurteilungskompetenz Kants Souveränitätsbegriff konterkarieren. Denn so würde durch die Hintertür der Frage Liegt ein Staat oder ein gewaltunterworfener Naturzustand vor? gerade wieder jener Zustand fehlender Rechtsgeltung herbeigeführt, welchem der rechtliche Zustand eigentlich abhelfen soll. Dann könnte prinzipiell ein jeder gegen jede staatliche Maßnahme einseitig ein Widerstandsrecht mit der Begründung geltend machen, dass die Obrigkeit durch diese Maßnahme die Staatsqualität eingebüßt habe. Es kann aber
Vgl. RL, AA VI, S. 331– 337. Vgl. RL, AA VI, S. 338. Daher ist auch der Auffassung von Klemme 2001, S. 187 f. zu widersprechen, wonach „[a]us dem angeborenen Mein und Dein […] sich der Sache nach ein Recht auf Widerstand ableiten [lässt]“. Nach ihm begründet das angeborene Recht einen „ursprünglichen Rechtsanspruch auf einen Platz in der Welt“, sodass „keine Regierung der Welt […] von mir Gehorsam verlangen [kann], wenn ich ohne Rechtsgrund willkürlich getötet werden soll“. Jedoch ist ein Zustand, sobald sich jemand erfolgreich mit dem Anspruch oberster Gesetzgeber zu sein behaupten kann, rein formal betrachtet ein rechtlicher Zustand. Dies gilt unabhängig davon, ob diese Herrschaft willkürlich, ungerecht oder gar Teil einer menschenverachtenden Ideologie ist. Hier ist nicht der Ort, um die geschichtliche bzw. staatstheoretische Frage zu beantworten, wie moderne Unrechtsregime wie z. B. das NS-Regime oder die stalinistische Gewaltherrschaft angesichts dessen zu bewerten sind. Dennoch müsste man nach Kantischen Prinzipien auch dem Dritten Reich Staatlichkeit zuerkennen, da es ungeachtet der himmelschreienden materiellen Ungerechtigkeit gleichwohl – und hierin besteht auch der Schrecken dieser Herrschaft – eine formaliter systematisch-rechtsförmige Organisation dieses Unrechts bereithielt. So wohl auch kritisch Kühl 1990, S. 92 f. und Kräft 2011, S. 82 f.
7.3 Kants Umgang mit dem Problem des Unrechtsregimes
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keinen obersten Gesetzgeber, Richter etc. geben, welcher zur Disposition dessen steht, der eigentlich selbst unterworfenes Subjekt dieser Gesetzgebung bzw. Jurisdiktion sein soll. Systematisch folgt dies zwingend aus Kants Souveränitätsverständnis. Er selbst formuliert es in einer Reflexion wie folgt: Es ist keine Möglichkeit, sich eine Constitution zu denken, worin daß Volk gesetzmäßig ein recht bekäme, den Souverain zu beurtheilen, zu richten und ihn abzusetzen, ja auch nur ihn im Mindesten einzuschränken. Denn da mußten sie auch dazu eine Gewalt haben, und da nur ein Souverain seyn kann, so wäre der erstere nicht souverain. ¹⁵⁹
Mithin schließt es Kants Verständnis von Souveränität aus, dass der Einzelne selbst darüber befindet, ob die machthabende Obrigkeit den allgemeingesetzgebenden Willen aller repräsentiert (mithin Souverän ist) oder nicht. Jedes individuelle Urteil hierüber ist notwendig formaliter unrecht, da „es nicht nach dem Urtheil eines öffentlichen Richters geschieht“.¹⁶⁰ Man könnte sogar so weit gehen und auf einer rein theoretischen Betrachtungsebene anerkennen, dass eine ungesetzliche Gewaltherrschaft kein Staat ist. Wir müssten dann sagen, dass eine Barbarei im Gegensatz zu einer Despotie kein Staat mehr ist, weil – rein deskriptiv betrachtet – nur die Despotie eine gesetzliche (wenn auch ungerechte) Form der Herrschaft darstellt. Und auch der Untertan könnte diese deskriptive Unterscheidung theoretisch nachvollziehen. Gleichwohl wäre dies für den Untertanen – und das ist in der Widerstandsfrage allein maßgeblich – praktisch vollkommen irrelevant. Es fehlt ihm nicht nur an intersubjektiv validen Beurteilungskriterien für die Existenz eines rechtlichen Zustands. Er kann sich auch keine Beurteilungskompetenz anmaßen, ohne eo ipso die Möglichkeit eines rechtlichen Zustands zu hintertreiben. Obgleich also eine gesetzliche Herrschaft von einer ungesetzlichen staatstypologisch unterscheidbar sein mag, kann es hierüber praktisch keine Urteilsbefugnis des Untertanen geben. Dies ist letztlich eine notwendige Kehrseite der Idealität des ursprünglichen Vertrags. Aus ihr folgt, dass alle empirischen Formen von Staatlichkeit immer nur approximative Annäherungen an das Ideal der respublica noumenon sind. In praktischer Hinsicht unterscheidet sich jegliche Form obrigkeitlicher Herrschaft im Hinblick hierauf nur quantitativ, büßt aber niemals die Staatsqualität ein.¹⁶¹ Daher ist selbst eine Refl. 7992, AA XIX, S. 575, kursive Hervorhebung P.-A. H. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1392. Kant lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass sich der Einzelne stets in bestimmten Gewaltverhältnissen wiederfindet und diese als Repräsentation des Vernunftideals eines bürgerlichen Zustands zu interpretieren hat. „[D]ie höchste Gewalt steht zugleich dem Rechte vor.“ (Refl. 8018, AA XIX, S. 583). Vgl. außerdem nur RL, AA VI, S. 339 f.; Gemeinspruch, AA VIII, S. 297; ZeF, AAVIII, S. 371; MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 515; Refl. 8046, AA XIX, S. 592; Refl. 7734, AA XIX,
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willkürliche Gewaltherrschaft (gleichgültig, ob man sie unter dem Begriff der Tyrannei oder der Barbarei fassen möchte) für den Einzelnen als Annäherung an das Vernunftideal zu interpretieren. Pointiert führt Kant hierzu in NaturrechtFeyerabend aus: Wenn der Mensch am höchsten das Recht der Menschheit schützt, so wird er lieber alle Tyranney erdulden, als sich widersetzen. […] Durch die Empörung geschieht ein status naturalis,welcher bellum omnium contra omnes ist. Es muß also passiver Gehorsam seyn,wenn eine daurende [sic!] Regierungsform seyn soll. In der größten Tyranney ist doch eine Gerechtigkeit.¹⁶²
7.3.3 Freiheitlicher Widerstand jenseits des Rechts? – Widerstand als favor necessitatis „In der größten Tyranney ist doch eine Gerechtigkeit“ – ein moralisches Recht zum aktiven Widerstand kann es nach Kant unter keinen Umständen geben. Doch ist damit aus Kantischer Sicht noch nicht alles zum Widerstand gesagt. Denn in der Metaphysik der Sitten führt Kant zur Französischen Revolution aus: „[S]o hat das Verbrechen des Volks, welches sie erzwang, doch noch wenigstens den Vorwand des N o t h r e c h t s (casus necessitatis) für sich, niemals aber das mindeste Recht […].“¹⁶³ Und auch in der Naturrechtsvorlesung von 1784 heißt es schon: „Wenn das Volk einen Tyrannen hat, so ist das ein casus neceßitatis. Ein Recht, das ich habe in Ansehung dessen aber kein öffentliches möglich ist, ist favor neceßitatis.“¹⁶⁴ Diese Quellen belegen, dass Kant freiheitlichen Widerstand als favor necessitatis wertet und ihm den Status eines Notrechts zuschreibt. Da Kant das Notrecht aus der eigentlichen Rechtslehre ausschließt,¹⁶⁵ eröffnet dies einen neuen Blick auf die Widerstandsproblematik: Nach der Rechtslehre ist ein moralisches Recht zum Widerstand ausgeschlossen. Als Notrecht scheint Kant jedoch Raum für eine außerrechtliche und damit nicht-moralische Rechtfertigung freiheitlichen Widerstands gegen ungerechte bzw. tyrannische Herrschaft zu sehen.
S. 503 sowie dazu bereits oben Kap. 6, Fn. 241. Entsprechend beschreibt Kants Naturzustandstheorem kein reales Szenario, sondern stellt lediglich eine Fiktion zur Beurteilung von Rechtsverhältnissen a priori dar, vgl. dazu oben Kap. 5, Fn. 1. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1392.Vgl. im Ergebnis ähnlich RL, AAVI, S. 320 und ZeF, AA VIII, S. 373, Fn. *. RL, AA VI, S. 321, Fn. *. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1391. Vgl. nur RL, AA VI, S. 233 f. und dazu oben S. 63 f. mit Fn. 138.
7.3 Kants Umgang mit dem Problem des Unrechtsregimes
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7.3.3.1 Der casus necessitatis als unechte moralische Pflichtenkollision Um zu sehen, wie weit dieser Ansatz in der Widerstandsproblematik trägt, ist es zunächst erforderlich, Kants Verständnis des Notrechts näher zu beleuchten. In der Rechtslehre definiert er das Notrecht als „Befugniß […], im Fall der Gefahr des Verlusts meines eigenen Lebens einem Anderen, der mir nichts zu Leide that, das Leben zu nehmen“.¹⁶⁶ Obgleich er sich im Folgenden zwar eingehend der moralisch-rechtlichen Qualifikation des Notrechts widmet,¹⁶⁷ erfahren wir wenig über die hierbei zugrundeliegende Situation. Deutlicher wird Kant im Gemeinspruch, wo er zunächst das „Nothrecht (ius in casu necessitatis) […] als ein vermeintes R e c h t , in der höchsten (physischen) Noth U n r e c h t zu thun“, bestimmt.¹⁶⁸ In der Fußnote hierzu heißt es dann: „Es giebt keinen Casus necessitatis, als in dem Fall, wo Pflichten, nämlich u n b e d i n g t e und (zwar vielleicht große, aber doch) b e d i n g t e P f l i c h t , gegen einander streiten […].“¹⁶⁹ Mithin liegt dem Notrecht nicht etwa ein Widerstreit zwischen moralischer Pflicht und dem rein physischen Selbsterhaltungstrieb zugrunde, sondern ein innermoralischer Konflikt widerstreitender Pflichten. Ähnlich lässt sich Kant in den Vorarbeiten zur Rechtslehre ein: „Das Nothrecht entspringt nicht aus der physischen Noth im Gegensatze gegen Pflicht sondern der moralischen Nothwendigkeit, die einer größeren nachstehen muß, z. B. Eltern umkommen zu lassen, um seine Kinder zu erhalten.“¹⁷⁰ Gleichwohl stellt Kant in der Rechtslehre klar, dass es sich hierbei nicht um eine echte Pflichtenkollision handeln kann: Ein W i d e r s t r e i t d e r P f l i c h t e n (collisio officiorum s. obligationum) würde das Verhältniß derselben sein, durch welches eine derselben die andere (ganz oder zum Theil)
RL, AA VI, S. 235. Vgl. dazu ausführlich unten S. 387– 391. Gemeinspruch, AA VIII, S. 300. Vgl. Kants Behandlung des Notrechts in Rechtslehre und Gemeinspruch gegenüberstellend Küper 1999, S. 22– 24. Gemeinspruch, AA VIII, S. 300, Fn. *. VA RL, AA XXIII, S. 255. Mithin geht es Kant beim Notrecht um einen rein moralischen Konflikt. Auch wenn Kant vereinzelt die bloß physische Not oder das Glückseligkeitsstreben des Menschen thematisiert (vgl. Refl. 7473, AA XIX, S. 397), ist maßgeblich, ob dem eine moralische bzw. pflichtentheoretische Problematik zugrunde liegt. Vgl. so auch Refl. 7808, AA XIX, S. 522; Refl. 7813, AA XIX, S. 524; Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg. von Werner Stark, S. 229 sowie Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1391. Dabei scheint Kants Haltung – entgegen Höffe 1999a, S. 61 – im Grundsatz der Lehrtradition zu entsprechen. So spricht etwa Wolff, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, I, 2, §§ 63 – 65 beim Notrecht von der Gewährung einer Ausnahme (exceptio) von naturrechtlichen Gesetzen und Pflichten. Pufendorf, De officio hominis et civis, I, 5, § 18; Darjes, Observationes iuris naturalis,Vol. II, Obs. LI und Achenwall/Pütter, Elementa iuris naturae, §§ 203 – 206 sowie Achenwall, Prolegomena iuris naturalis, § 143 erörtern den Notstand als Kollision vollkommener Pflichten mit der Selbsterhaltungspflicht.
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aufhöbe. – Da aber Pflicht und Verbindlichkeit überhaupt Begriffe sind, welche die objective praktische N o t h w e n d i g k e i t gewisser Handlungen ausdrücken, und zwei einander entgegengesetzte Regeln nicht zugleich nothwendig sein können, […] so ist eine C o l l i s i o n von P f l i c h t e n und Verbindlichkeiten gar nicht denkbar (obligationes non colliduntur). Es können aber gar wohl zwei G r ü n d e der Verbindlichkeit (rationes obligandi), deren einer aber oder der andere zur Verpflichtung nicht zureichend ist (rationes obligandi non obligantes), in einem Subject und der Regel, die es sich vorschreibt, verbunden sein, da dann der eine nicht Pflicht ist. – Wenn zwei solcher Gründe einander widerstreiten, so sagt die praktische Philosophie nicht: daß die stärkere Verbindlichkeit die Oberhand behalte (fortior obligatio vincit), sondern der stärkere Ve r p f l i c h t u n g s g r u n d behält den Platz (fortior obligandi ratio vincit).¹⁷¹
Da Pflicht der Inbegriff einer moralisch-praktisch notwendigen Handlung ist, ist eine echte Pflichtenkollision schon begrifflich ausgeschlossen. Kollidieren können allenfalls Verpflichtungsgründe,¹⁷² d. h. mögliche, moralgesetzliche Bestimmungsgründe der Willkür.¹⁷³ Verpflichtungsgrund ist mithin jedes moralische Gesetz, nach dessen Tatbestand im konkreten Fall eine entsprechende Pflicht (d. h. Nötigung zur moralgesetzlich bestimmten Handlung)¹⁷⁴ begründet werden kann. ¹⁷⁵ Kant nennt dies ratio obligandi. Ist eine ratio obligandi – unerachtet mehrerer, widersprechender Verpflichtungsgründe – zur Verpflichtung tatsächlich hinreichend, handelt es sich um eine ratio obligans. ¹⁷⁶ In diesem Sinne äußert sich Kant auch in der Vigilantiusmitschrift:
RL, AA VI, S. 224. Vgl. ebenso MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 493 und S. 508 f. sowie Metaphysik-Dohna, AA XXVIII, S. 678. Diese Differenzierung unterscheidet Kant von klassisch schulphilosophischen Positionen, etwa Wollfs und Baumgartens, die echte Pflichtenkollisionen kannten und zugunsten der jeweils stärkeren Pflicht auflösten. Vgl. nur Baumgarten, Initia philosophiae practicae primae, §§ 16 – 23 und Wolff, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, I, 2, §§ 63 – 65.Vgl. hierzu m. w. N. Annen 1997, S. 200 – 206. Verpflichtungsgründe sind damit von bloß sinnlichen Bestimmungsgründen (rationes impellentes) unterschieden. Vgl. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 509 und Refl. 7225, AA XIX, S. 290. Vgl. RL, AA VI, S. 222 f. Verpflichtungsgründe sind daher nicht nur bloße Tatsachen (so Herman 1993, S. 167), sondern normative Handlungsgründe, die der Einzelne für die Bildung seiner Handlungsmaxime im konkreten Fall als moralisch relevant bzw. einschlägig behandeln muss. Vgl. ähnlich O’Neill 2002b, S. 341– 343 und Timmermann 2013b, S. 48 – 50. Mit Timmermann 2013b, S. 42 f. kann man auch von einer Unterscheidung zwischen types und tokens sprechen. Rationes obligandi sind lediglich Typen moralischer Verpflichtung (duty types), womit aber noch nicht ausgemacht ist, ob besondere Umstände das tatsächliche Vorkommnis einer entsprechenden moralischen Verpflichtung (token obligation) verhindern. Nur wenn dem nicht der Fall ist, erstarkt der Verpflichtungsgrund zu einer ratio obligans.
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[D]ie Pflicht enthält jederzeit rationem obligantem oder einen zur Pflichthandlung zureichenden verpflichtenden Grund, diesem aber ist gerade entgegengesetzt ratio obligandi, d.i. jeder, wie wohl unzureichende, Grund, und der Satz bey der Collision: causa moralis potior vincit, heißt nichts mehr, als: der Grund der Obligation, der nicht zureichend ist, giebt noch keine Verbindlichkeit.¹⁷⁷
Obgleich also nur eine ratio obligans tatsächlich obligiert, hebt das die moralische Relevanz der unterlegenen ratio obligandi nicht auf. „[D]ie Pflichten bleiben auch, wenn sie gleich nicht erfüllt werden, weil, wie gesagt, Gesetze und Regeln sich nie widersprechen können […]“. Allerdings sind die moralgesetzlichen Bestimmungsgründe im Verhältnis zueinander bedingt, weil „eine Gegenwirkung der Gründe einer Pflicht gegen diejenigen der andern da [ist], und dies macht, daß Beide nicht zusammen bestehen können, weil der Grund der einen stärker bindet, als der Grund der andern“.¹⁷⁸ Welcher Verpflichtungsgrund dabei eine ratio obligans bzw. lediglich eine ratio obligandi ist, bestimmt sich laut Kant nach der Stärke des moralischen Grundes. Letztere hängt – Kants Bestimmung im Gemeinspruch entsprechend – davon ab, ob das moralische Gesetz bedingt oder unbedingt obligiert. So heißt es in Naturrecht-Feyerabend: Alle Obligationen können nicht größer als die andern seyn, aber ihre motivae können fortiores seyn. Ein Gesetz kann nur unter Bedingungen statt finden. Es ist daher ein Grund zur Obligation, aber es ist noch nicht zureichend, wenn nur ein Gesetz hinzukömmt, das unbedingt ist, so ist es fortior.¹⁷⁹
Diese Kollision von bedingten mit unbedingten Verpflichtungsgründen ist das,was im Folgenden als unechte Pflichtenkollision bezeichnet wird.¹⁸⁰ Dabei scheint Kant dieses Bedingungsverhältnis unterschiedlich auszugestalten, wie – mangels näherer Bestimmung in Rechtslehre oder Gemeinspruch – anschaulich die Vigilantiusmitschrift zeigt: Im praktisch wichtigsten Fall ist für ihn der Charakter der Pflicht maßgeblich: Da vollkommene Pflichten strikt zu einer a priori bestimmbaren Handlung/Unterlassung verpflichten, haben sie stets Vorrang vor unvollkommenen Pflichten, die MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 508. Zum Ganzen: MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 537 f. Daher sind Einwände zurückzuweisen, wonach der unterlegene Verpflichtungsgrund (und damit seine normative Relevanz) im Konfliktfall gänzlich verschwinde. Dies behaupten etwa Donagan 1984, S. 294 f.; zustimmend Nussbaum 1986, S. 31 f. und Herman 1993, S. 165, wohl auch schon Herman 1985, S. 421 f. sowie Gowans 1987, S. 6 f. Dass ein Verpflichtungsgrund nicht zur tatsächlichen Verpflichtung hinreicht, hebt seine generelle moralische Relevanz im konkreten Fall nicht auf. Vgl. mit ähnlicher Kritik Louden 1992, S. 108 – 111 und Timmermann 2013b, S. 51 f. und S. 55 – 60. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1332. Vgl. mit teils ähnlicher Qualifikation Küper 1999, S. 23 mit Fn. 46.
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unmittelbar nur eine vernunftbestimmte Zwecksetzung gebieten, was einen Spielraum hinsichtlich der hiernach gebotenen Handlungen eröffnet.¹⁸¹ Laut der Metaphysik der Sitten-Vigilantius gilt „[d]aher: unvollkommene Pflichten unterliegen allzeit den vollkommenen Pflichten […]“.¹⁸² Demnach sind Rechtspflichten stets vorrangig gegenüber unvollkommenen Tugendpflichten: Ist eine Handlung rechtlich verboten, ist sie gewissermaßen moralisch unmöglich und scheidet damit für die Umsetzung widerstreitender Tugendpflichten aus.¹⁸³ Mithin steht die Erfüllung von Tugendpflichten unter dem Vorbehalt der Rechtmäßigkeit. „Die Formel eines unbedingten Pflichtgebots (dictamen rationis stricte obligantis) ist der categorische Imperativ des Rechts – late obligantis ist die des Wohlwollens (benevolentiae) unter welcher Art die Dankbarkeit die stärkste ist.“¹⁸⁴ Sind die Pflichten jedoch gleichartig, lässt sich das Bedingungsverhältnis (und damit der stärkere Verpflichtungsgrund) nicht länger über den Pflichtcharakter bestimmen. Kollidieren etwa verschiedene unvollkommene Pflichten, so macht keine von ihnen eine bestimmte Handlung unbedingt notwendig. In diesem Fall lässt Kant in der Vigilantiusmitschrift die Anzahl der widerstreitendenden Verpflichtungsgründe entscheiden, denn „mehrere unvollkommene Pflichten überwiegen eine einzelne“ unvollkommene Pflicht.¹⁸⁵ Ist die Anzahl gleich,
Vgl. so auch Timmermann 2013b, S. 45 f. sowie zur Unterscheidung von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten oben, S. 53 f. und S. 120 – 122. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 537. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei nochmals betont, dass es Kant stets nur um die Kollision von Verpflichtungsgründen geht, obgleich hierbei der Pflichtcharakter maßgeblich sein kann, d. h. ob unmittelbar Handlungen (vollkommene Pflichten) oder Zwecksetzungen (unvollkommene Pflichten) geboten sind. Kant ist jedoch selbst nicht immer terminologisch präzise und spricht häufig nur vom Verhältnis verschiedener Pflichten. Obgleich Kant eine eigene und neue Begründung hierfür liefert, finden sich der Sache nach entsprechende Gedanken schon bei Wolff, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, I, 2, § 64: „Weil das Verboth das,was das Geboth fordert, in dem Falle moralisch unmöglich macht […], so muß das Verboth dem Geboth vorgezogen werden […].“ Vgl. hierzu auch Timmermann 2013b, S. 57 f. Opus postumum, AA XXII, S. 50.Vgl. ähnlich schon Moralphilosophie-Mrongovius II, AA XXIX, S. 633. Prima facie hat dies die (harte) Konsequenz, dass selbst eine Rechtspflicht aus einem Gefälligkeitsvertrag (z. B. das Versprechen, dem Freund beim Umzug zu helfen), im Konfliktfall Vorrang vor der allgemeinen Hilfeleistungspflicht hat (z. B. wenn man auf dem Weg zum Freund auf einen hilfsbedürftigen schwer Verletzten trifft). Die Hilfeleistungspflicht ist Ausdruck der Tugendpflicht, fremde Glückseligkeit zu befördern, und folglich gegenüber jeglicher Rechtspflicht nachrangig. Diese Härte lässt sich jedoch unschwer bewältigen, indem man die vertragliche Abrede ausdrücklich oder stillschweigend unter eine einschränkende Bedingung stellt. Dies scheint auch Kants Lösung zu sein, vgl. ZeF, AA VIII, S. 348 und dazu bereits oben S. 106 f. mit Fn. 145. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 537. Kants Begründung könnte erneut Vorbilder in der Schulphilosophie haben, denn schon Wolff, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, I, 2, § 65
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scheinen allgemeine Kriterien wie Konkretheit/Abstraktheit der Pflicht oder individuelle Leistungsfähigkeit maßgeblich zu sein, ohne dass man jedoch von einer klaren Entscheidungskriteriologie Kants sprechen könnte.¹⁸⁶ Schwieriger stellt sich die Situation im Falle vollkommener Pflichten dar. Hier bietet es sich an, zwischen Rechtspflichten und vollkommenen Tugendpflichten zu unterscheiden: Vollkommene Tugendpflichten gegen sich selbst haben stets die Wahrung der eigenen Persönlichkeit zum Gegenstand.¹⁸⁷ Daher ist eine Kollision vollkommener Tugendpflichten untereinander begrifflich ausgeschlossen, weil sie alle dasselbe Schutzgut haben.¹⁸⁸ Anders verhält es sich bei einer Kollision vollkommener Tugendpflichten mit Rechtspflichten gegenüber anderen. Hierzu führt Kant im Gemeinspruch aus, „[s]ein Leben zu erhalten, ist nur bedingte Pflicht (wenn es ohne Verbrechen geschehen kann)“.¹⁸⁹ Obwohl die Pflicht zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit strikt zu einer a priori bestimmbaren Handlung/Unterlassung verpflichtet,¹⁹⁰ ist sie durch die Wahrung der Rechte anderer bedingt. Hierin kommt zum Ausdruck, dass die Schutzwürdigkeit der eigenen Persönlichkeit durch die Schutzwürdigkeit der Persönlichkeit anderer nach einem all-
betont, dass „die Verbindlichkeit, die aus einer zwiefachen Ursache, oder aus mehrern entsteht, stärker wird“. Vgl. diesbezüglich Kants Überlegungen in MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 537 und hierzu zutreffend Timmermann 2013b, S. 52– 55. Interessant ist auch Kants Bemerkung hierzu in VA TL, AA XXIII, S. 419: „Da aber ethische Pflichten […] weite Pflichten sind wo es der Urtheilskraft oft schweer wird zu unterscheiden was in vorkommenden Fällen der Collision der Verbindlichkeitsgründe Pflicht sey so wird die Ethik noch eine Casuistik hinzuthun welche den Verstand in Beurtheilung der Pflichten schärft.“ Kant spricht hier also von einer Entscheidung der Urteilskraft. Letztere ist jedoch nicht – wie es für eine eindeutige Kriteriologie erforderlich wäre – „einer Belehrung und Ausrüstung durch Regeln fähig“, sondern ist vielmehr „ein besonderes Talent […], welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will“ (KrV, A 133/B 172). Vgl. nur Kants Darstellung in TL, AA VI, S. 422– 437 sowie schon MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 601– 607 und S. 627– 630. Besteht beispielsweise der einzige Weg, sein Leben zu erhalten, darin, sich anderen gegenüber zu erniedrigen, besteht keine Selbsterhaltungspflicht. Laut Kant würde nämlich nur die physische Existenz gewahrt, die Wahrung der eigenen Persönlichkeit ist jedoch durch einen Akt der Erniedrigung niemals möglich.Vgl. in diesem Sinne etwa Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg. von Werner Stark, S. 221 f. Durch solche Erwägungen dürften zum Teil auch die kasuistischen Fragen motiviert sein, die Kant zum Selbstmordverbot in TL, AA VI, S. 423 f. anspricht; etwa die Frage, ob man sich im Krieg für das Vaterland opfern dürfe. Gemeinspruch, AA VIII, S. 300, Fn. *. Kant spricht hier das berühmte Brett des Karneades an, bei dem ein Schiffbrüchiger einen anderen von einer rettenden Planke stößt, um sich selbst zu erhalten. Vgl. auch RL, AA VI, S. 235. Vgl. TL, AA VI, S. 422, wonach der Mensch „zur Erhaltung seines Lebens […] verbunden sei und hierin eine (und zwar strenge) Pflicht gegen sich selbst anerkennen müsse“ (kursive Hervorhebung, P.-A. H.). Vgl. i. E. ähnlich MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 601– 603 und S. 627– 629.
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gemeinen Gesetz begrenzt ist. Vollkommene Tugendpflichten gegen sich selbst stehen mithin unter einem Rechtmäßigkeitsvorbehalt.¹⁹¹ Schließlich ist fraglich, inwiefern Rechtspflichten untereinander kollidieren können. Hier ist angesichts der bisherigen Ergebnisse eine differenzierte Betrachtung angezeigt: Nimmt man Rechtspflichten ausschließlich materialiter in den Blick, ist ein Widerstreit begrifflich ausgeschlossen. Recht ist der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die allseitige Willkür nach einem allgemeinen Gesetz bestehen kann. Daher hört das Recht des einen auf, wo das Recht des anderen anfängt. Eine Kollision korrespondierender Pflichten kommt mithin von vornherein nicht in Betracht.¹⁹² Dies gilt allerdings nur auf der Ebene des materiellen Rechts. Denkbar ist eine Kollision vollkommener Rechtspflichten daher immer noch zwischen Geboten des materiellen Rechts und des formellen Rechts, mithin zwischen Privatrecht und Öffentlichem Recht. Diese Möglichkeit folgt daraus, dass – wie bereits dargelegt wurde –¹⁹³ iure materialiter und iure formaliter jeweils Rechtspflichten eigener Art bestehen. Erstere folgen aus der materiellen Rechtsposition einer Person, letztere aus der Notwendigkeit eines bürgerlichen Zustands für die Rechtsgeltung. Sobald es nun um die Gegenwehr gegen staatliche Verletzung individueller Rechtspositionen geht, treten diese rechtlichen Verpflichtungen in Konflikt zueinander. Diese systematische Herleitung einer genuin rechtlichen Pflichtenkollision findet aber auch in einigen Reflexionen Kants eine textliche Bestätigung: „Der casus necessitatis findet […] in dem streit zwischen dem natürlichen und bürgerlichen Rechte statt […]. Die Ursache ist, weil man sich um der Gerechtigkeit
Diese Erwägung dürfte auch hinter Kants kasuistischer Frage in TL, AA VI, S. 423 f. stehen, ob die Selbstaufopferung zur Wahrung der Rechte anderer zulässig sei. Dass hiermit ein Konflikt zweier vollkommener und damit strikt obligierender Pflichten thematisiert wird, widerlegt die von Timmermann 2013b, S. 43 – 47 mit Fn. 23 behauptete Beschränkung moralischer Dilemmata auf den Bereich unvollkommener, weiter Pflichten. Nach Kant können auch reine Unterlassungspflichten kollidieren, wenn – ohne eigenes Verschulden – eine Situation vorliegt, in der die Wahrung der Rechte anderer nur durch Aufgabe der eigenen Rechtspersönlichkeit möglich ist.Vgl. hierzu insb. sogleich S. 380 – 387. Dies wird jedoch zum Teil übersehen. So behaupten z. B. Aune 1979, S. 195 – 197 oder Wood 1999, S. 32, dass ein Konflikt zweier Rechtspflichten vorliege, wenn bspw. zwei widersprechende Leistungsversprechen abgegeben würden. Es ist jedoch offenkundig, dass nach erstmaliger Verfügung über einen Gegenstand des äußeren Mein und Dein eine erneute Verfügung hierüber unmöglich ist, da das alleinige Recht hieran nun beim ersten Begünstigten liegt. Mangels Berechtigung können daher durch erneute Verfügung keine Rechte beim zweiten »Begünstigten« und damit keine potentiell konfligierenden Rechtspflichten entstehen. Dieser Gedanke findet sich so auch schon bei Hobbes, Leviathan, XIV, § 28. Vgl. oben S. 305 – 308 m. w. N.
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willen einer in potentia Ungerechten Regirung unterwerfen muß.“¹⁹⁴ Kurz danach heißt es: „Das Volk hat nur als multitudo ein Recht gegen den Oberherrn, mithin nur ein privatrecht aber kein öffentliches Recht. Nun ist der casus necessitatis, daß die iura in statu naturali den principiis fundamentalibus in statu civili weichen müssen, also etc etc.“¹⁹⁵ In diesen frühen Reflexionen bezieht Kant den casus necessitatis auf einen Widerstreit zwischen natürlichem und bürgerlichem Recht bzw. den Rechten im Naturzustand und den Konstitutionsprinzipien des rechtlichen Zustands. Wenn Kant nun dem jeweils letzteren den Vorrang einräumt, kommt hierin ein Gedanke zum Ausdruck, der schon für Kants Staatsbegründung zentral war: Der status civilis ist formale Realisationsbedingung jeglicher Rechte und Pflichten, die materialiter nach dem status naturalis bestehen. Anders gesagt: Die Geltung des Vernunftrechts hängt vom Vorhandensein einer öffentlichen Gerechtigkeit ab:¹⁹⁶ [O]hne eine iustitia distributiva [kann] es keine commutativam geben […], d.i., […] niemand [hat] ein Recht […] einem andern freyheit einzuschränken, wenn der andere nicht zugleich unter derselben Bedingung seine freyheit einschränkt, […] niemand [kann] ein Recht fodern […], wenn er nicht dem andern seine Rechte sichert.¹⁹⁷
Die Geltendmachung vernunftrechtlicher Ansprüche ist durch die Etablierung und Wahrung des status civilis bedingt. Daher kommt letzterer im Konfliktfall notwendig das Primat zu: Die souverainetät ist das oberste principium der öffentlichen gerechtigkeit; alles daher ist äußerlich Recht, ohne welches das erste principium der öffentlichen Gerechtigkeit nicht kann erlangt werden. Daher alles privatrecht, weil es ohnedem ohne jenes nicht kann ausgeführt werden, nur unter jener Hypothesi möglich ist und ihm weichen muß.¹⁹⁸
Hiermit ist nichts anderes als das Primat des formellen Rechts angesprochen,¹⁹⁹ wenn Kant Souveränität als das „oberste principium der öffentlichen gerechtigkeit“ ausweist und privatrechtliche Ansprüche (d. h. materielles Recht) „nur unter jener Hypothesi möglich“ sind. Zwar kommt es hier im Idealfall zu keinem Konflikt
Refl. 7808, AA XIX, S. 522. Refl. 7813, AA XIX, S. 524. Vgl. ausführlich oben S. 240 – 247. Refl. 7933, AA XIX, S. 559. Refl. 7473, AA XIX, S. 396 f. Dass die hier zitierten Reflexionen teilweise Kants vorkritischer Phase entstammen, ist hinsichtlich der darin zum Ausdruck kommenden Differenzierung zweier verschiedener Betrachtungsebenen des Rechts unbeachtlich. Vgl. dazu oben Kap. 7, Fn. 89 und S. 305 – 308 mit Fn. 211.
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zwischen formellem Recht und materiellem Recht, falls der Staat seine Aufgabe angemessen wahrnimmt und die öffentliche Gerechtigkeit der Wahrung privatrechtlicher Ansprüche dient. Wenn die Herrschaft jedoch vom Ideal abweicht, kann es hier zu einem Widerstreit kommen. In diesem Fall hat die Aufrechterhaltung des rechtlichen Zustands notwendig Vorrang, und folgerichtig liegt der korrespondierenden staatsbürgerlichen Gehorsamspflicht der stärkere Verpflichtungsgrund zugrunde. Sie gilt mithin unbedingt.²⁰⁰ Mithin kennt Kant zwei rechtserhebliche Konfliktsituationen, die konstitutiv für einen casus necessitatis sind: Zum einen die Kollision von Rechts- und Tugendpflichten, bei der stets die Rechtspflicht ratio obligans ist.²⁰¹ Zum anderen besteht die Möglichkeit eines rein innerrechtlichen Konflikts von materiellen Rechten und Pflichten mit den formalen Konstitutionsprinzipien der öffentlichen Gerechtigkeit.
7.3.3.2 Das Widerstandsproblem als Kollision von staatsbürgerlicher Gehorsamspflicht und der Pflicht zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit Die letztgenannte Konfliktsituation macht nun im Kern die eigentliche Widerstandsproblematik bei Kant aus. Allerdings werden erworbene Rechte und der veräußerliche Bestand angeborener Rechte materialiter erst im und durch den Staat positivrechtlich bestimmt bzw. ausgestaltet.²⁰² Daher kann nur der unverfügbare Kernbereich des inneren Mein und Dein, der nach dem ursprünglichen
Wie im Folgenden deutlich wird, gilt dies etwa in einem Konflikt mit der vollkommenen Rechtspflicht zur Selbsterhaltung. Daher ist Timmermann 2013b, S. 45 zu widersprechen, der ausführt: „Kant has ruled out the possibility of unavoidable rights violations in cases of conflict. By contrast […] [e]thical duties are imperfect and ‚conditional‘ in that they apply only when the action does not violate a command of strict juridical duty […].“ Diese Aussage ist lediglich auf einer rein materiell-rechtlichen Betrachtungsebene zutreffend (vgl. dazu S. 376 und S. 378). Timmermann bedenkt jedoch nicht, dass das für eine Kollision von Verpflichtungsgründen maßgebliche Bedingungsverhältnis auch darin bestehen kann, dass materielle Rechtspflichten durch Staatlichkeit als Realisationsbedingung (d. h. iure formaliter) bedingt sind. Dabei ist unbeachtlich, ob die kollidierende Rechtspflicht materialiter oder formaliter besteht: Kants Standardfall für ersteres ist das bereits erwähnte Brett des Karneades, vgl. dazu Kap. 7, Fn. 189. Unzulässig ist aber auch, einem in Not Geratenen unter Verletzung von Rechtspflichten zu helfen, vgl. etwa MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 537. Eine Tugendpflicht kann schließlich auch gegenüber einer formaliter bestehenden Rechtspflicht zurücktreten. Vgl. Gemeinspruch, AA VIII, S. 300, Fn. *, wonach der eigene Vater trotz bestehender Fürsorgepflicht wegen eines begangenen Staatsverbrechens der staatlichen Strafverfolgung zu übergeben ist. Vgl. dazu ausführlich oben S. 353 f. Ein Widerstandsrecht scheitert hier bereits materialiter am Fehlen einer vernunftrechtlichen Anspruchsgrundlage, die unabhängig von staatlicher Gesetzgebung besteht.
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Vertrag materialiter der staatlichen Gesetzgebung entzogen ist, mit den Konstitutionsprinzipien der öffentlichen Gerechtigkeit in Konflikt geraten.²⁰³ Weil diesem unverfügbaren Kernbereich die innere Rechtspflicht des honeste vive korrespondiert, lässt sich der Konflikt auch pflichtentheoretisch als Widerstreit zwischen der Pflicht zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit (honeste vive) und der staatsbürgerlichen Gehorsamspflicht begreifen. Diese Konfliktlage lässt sich systematisch in der Rechtslehre rekonstruieren. Im Vorhinein bietet es sich jedoch an, diese Interpretation anhand Kants ausführlicher Behandlung der Problematik in Naturrecht-Feyerabend zu veranschaulichen. Die Naturrechtsvorlesung Feyerabend belegt, dass Kant die Widerstandsproblematik im Falle der Verletzung unveräußerlicher Freiheitsrechte durch tyrannische Herrschaft als (unechte) Pflichtenkollision auffasst, bei der einerseits die staatsbürgerliche Gehorsamspflicht und andererseits die Pflicht zur Erhaltung seiner selbst konfligieren: Kann ein Volk dann, wenn es durch den Summus Imperans zu Grunde gerichtet wird, gegen ihn Gewalt brauchen? Ein summus Imperans dessen Regierung vorsetzlich zum Untergange des gemeinen Wesens ist, ist ein Tyrann. Da keiner im Volke valide decidiren kann, und er das Oberhaupt der öffentlichen Gerechtigkeit ist, so steht er unter keinen Zwangsgesetzen […]. Das Volk müßte erst oberster Richter sein und oberste Gewalt haben, welches aber nicht ist. […] Wenn das Volk einen Tyrannen hat, so ist das ein casus neceßitatis. Ein Recht, das ich habe in Ansehung dessen aber kein öffentliches möglich ist, ist favor neceßitatis. Es ist unmöglich ein Gesetz zu machen, das den Fürsten zwingen kann: das ist contradictio. Aber es ist doch Noth und Pflicht, daß der Unterthan sich selbst erhalte. Es ist auch kein Gesetz dawider [sc. die Selbsterhaltung der Untertanen, P.-A. H.] möglich, denn dieses Contradizirt sich selbst, denn sie können den Tod bloß drohen.²⁰⁴
Eine ungerechte Gewaltherrschaft (Tyrannei) begründet für Kant einen Notstand (casus necessitatis). Ausgangspunkt dieser Einschätzung ist ersichtlicherweise, dass gegen den Tyrannen als summum imperantem kein öffentliches Zwangsrecht möglich ist, da er selbst das Oberhaupt der öffentlichen Gerechtigkeit ist und diese allererst ermöglicht. Ein moralisches Recht zum gewaltsamen Widerstand gegen den tyrannischen Herrscher (wie auch jedes Urteil über die Rechtmäßigkeit der Herrschaft) ist mithin ausgeschlossen. Dem Staatsbürger obliegt insofern eine unbedingte Gehorsamspflicht. Gleichwohl erkennt Kant an, dass es doch „Noth und Pflicht“ des Untertanen sei, sich selbst zu erhalten. Kants Bewertung der Widerstandsproblematik hat damit die oben ausgewiesene Struktur einer notrechtlichen Pflichtenkollision: Erstens, darf ich mich vom tyrannischen Herrscher
Vgl. dazu bereits oben S. 354– 358. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1391 f.
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(bspw. durch willkürliche Exekution) zum bloßen Mittel degradieren lassen? Nein, denn dies liefe meiner Pflicht zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit zuwider. Zweitens, bin ich berechtigt, mich gegen solche Verletzungshandlungen zu wehren? Nein, da ich gegenüber dem Tyrannen als Oberhaupt der öffentlichen Gerechtigkeit zu unbedingtem staatsbürgerlichem Gehorsam verpflichtet bin. Fraglich ist allein, was die Konsequenz dieses moralischen Dilemmas ist. Kants Antwort ist auf den ersten Blick ambivalent: Aber ein Tyrann ist der, wo kein Bürger seines Staats seiner Güter und seines Landes sicher ist. Hier sind von beiden Seiten keine Gesetze möglich. Der Mensch ist in Gesetzlosigkeit und im statu naturali. Straft das Volk seine Obern, so wird er laedirt, weil es nicht nach dem Urtheil eines öffentlichen Richters geschieht. Da kann das Volk angreifen, aber der Monarch auch Gewalt brauchen. Alter jure aggreditur, alter jure resistit.Wenn der Mensch am höchsten das Recht der Menschheit schützt, so wird er lieber alle Tyranney erdulden, als sich widersetzen. […] Durch die Empörung geschieht ein status naturalis, welcher bellum omnium contra omnes ist. Es muß also passiver Gehorsam seyn, wenn eine daurende Regierungsform seyn soll. In der größten Tyranney ist doch eine Gerechtigkeit.²⁰⁵
Kants Auflösung dieser Problematik erscheint widersprüchlich. Zunächst scheint es so, als ob bereits die Pflichtenkollision als solche einen Rückfall in den gesetzlosen Naturzustand bewirkt: „Hier sind von beiden Seiten keine Gesetze möglich. Der Mensch ist in Gesetzlosigkeit und im statu naturali.“ Demgegenüber wird jedoch im Folgenden betont, dass erst „durch die Empörung […] ein status naturalis [geschieht]“. Daher verlange das Recht der Menschheit, „lieber alle Tyranney [sc. zu] erdulden“, damit eine dauerhafte Regierung möglich sei. Die Ambivalenz dieser Passage klärt sich jedoch auf, wenn man sie in den Kontext von Achenwalls Elementa Iuris Naturae stellt, auf die sich Kant hier bezieht. Auch nach Achenwall ist aktiver Widerstand gegen die Staatsgewalt grundsätzlich ausgeschlossen. Denn zum einen besteht nach dem Gesellschaftsvertrag (pactum unionis) zwischen den Bürgern die Verpflichtung zur Wahrung des Gemeinwohls und der öffentlichen Ruhe.²⁰⁶ Zum anderen gehen Zweifel an der Rechtmäßigkeit obrigkeitlicher Maßnahmen zu Lasten des Untertanen, da gemäß dem Unterwerfungsvertrag (pactum subjectionis) allein dem Herrscher sowohl Ausführung als auch Deutungshoheit hinsichtlich der Maßnahmen zukommen, die zur Erfüllung des Staatszwecks notwendig sind.²⁰⁷ Jedoch schreibt Achenwall
Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1392. Vgl. Achenwall, Iuris naturalis pars posterior, §§ 91, 201– 203. Vgl. ebd., §§ 201– 203 sowie §§ 98 f.
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in dem Abschnitt, auf den sich Kant vorliegend bezieht,²⁰⁸ dass das Volk aktiv widerstehen dürfe, sobald die Gefahr für das Gemeinwesen, die aus der fortgesetzten Duldung der obrigkeitlichen Gewaltmaßnahmen folge, größer sei, als diejenige, die bei einer Auflehnung gegen den Herrscher drohe. Grund sei, dass durch die tyrannische Herrschaft der Staatszweck (Wahrung des Gemeinwohls) pervertiert werde. Hierdurch habe der Tyrann seinen Herrschaftsanspruch nach dem Unterwerfungsvertrag verwirkt und sei im Verhältnis zum Volk in den Stand eines Privatmannes zurückgekehrt.²⁰⁹ Laut Achenwall steht es dem Volk nun frei, den Tyrannen entweder wieder gewaltsam in die Schranken einer rechtmäßigen Herrschaft zurückzuzwingen oder ihn zu entthronen.²¹⁰ Genau zu dieser entscheidenden Konklusion Achenwalls merkt Kant in einer Reflexion an: „subditi non possunt aliud facere, nisi se subducere imperio tyranni, ne ipsi inserviant instrumenta.“²¹¹ Kants Wortwahl zeigt zunächst, dass hier die Wahrung der eigenen moralischen Persönlichkeit in Rede steht (und nicht etwa nur die Erhaltung der physischen Existenz). Vor allem wird aber deutlich, dass die Untertanen laut Kant zur leidenden Untätigkeit verdammt sind,wenn ihnen nicht der Ausweg in das Exil gelingt. Sie haben also unter keinen Umständen die rechtliche Befugnis, den Tyrannen zu zwingen.²¹² Folglich kann die Kantische Position nicht sein, dass die
In Naturrecht-Feyerabend beziehen sich Kants Ausführungen zu den modis jus suum prosequendi in republica auf die §§ 191– 207 aus Achenwalls Iuris naturalis pars posterior; vorliegend sind insb. die §§ 203 – 207 von Bedeutung. Dies ergibt sich eindeutig aus Achenwalls Argumentation: Laut § 203 folgt das Recht zum Widerstand nämlich gerade nicht aus einem Recht gegen den Herrscher, sondern gründet sich auf die zwischen den Bürgern bestehende Verpflichtung nach dem Gesellschaftsvertrag. Es geht mithin nicht um die Durchsetzung der Gemeinwohlverpflichtung des Herrschers aus dem Unterwerfungsvertrag (vgl. zu dieser ebd., § 103), sondern um die Rekonstitution von legitimer Herrschaft für das Gemeinwesen (vgl. ebd., 205). Achenwalls Pointe besteht also darin, angesichts der Pervertierung der Herrschaft die Aufhebung des Unterwerfungsvertrags und entsprechend – insofern der Tradition Grotius‘, Pufendorfs und Wolffs folgend – eine Rückkehr in einen herrschaftsfreien Zustand anzunehmen, in dem der ehemalige Herrscher nur noch Privatmann bzw. Teil des Volks ist. Vgl. so auch Streidl 2003, S. 257– 262 und Maliks 2014, S. 117 f. Nur aus diesem Grund kann Achenwall ebd., § 206 dem Machiavellismus wie auch dem Monarchomachismus gleichermaßen einen Irrtum unterstellen, weil diese beiden Traditionen – freilich unter unterschiedlichen Vorzeichen – die Widerstandsfrage über die absolute bzw. bedingte Übertragung der Macht im Unterwerfungsvertrag beantworten wollten. Vgl. ebd., § 204. Refl. 7497, AA XIX, S. 415 („Die Untertanen können nichts anderes machen, außer sich der Herrschaft des Tyrannen zu entziehen, damit sie selbst nicht als [bloße] Mittel dienen.“, Übersetzung P.-A. H.). Ähnliche Kritik an Achenwalls Anerkennung eines Widerstandsrechts äußert Kant in Refl. 7494, AA XIX, S. 414; Refl. 7680, AA XIX, S. 486 f. und Refl. 8050, AA XIX, S. 593 f. (dabei auch
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Kollision von staatsbürgerlicher Gehorsamspflicht und der Pflicht zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit dazu führt, dass wechselseitiger Zwang unter Naturzustandsbedingungen (nach dem Grundsatz »Alter jure aggreditur, alter jure resistit.«) rechtlich zulässig ist. In der oben zitierten Passage ist die Redeweise von Gesetzlosigkeit und Naturzustand vielmehr als paraphrasierende Auseinandersetzung mit Achenwall zu bewerten, der tatsächlich allein hierauf abstellt. Kants eigene, sich davon pointiert absetzende Position folgt erst im Anschluss: Die Aufrechterhaltung einer einmal etablierten Staatlichkeit hat formaliter selbst im Falle der Tyrannei rechtlichen Vorrang vor der materiell-rechtlichen Pflicht zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit.²¹³ Dass Kant hierbei wirklich zwischen zwei Betrachtungsebenen des Rechts differenziert, zeigt erneut seine Wortwahl: „Bei der Empörung geschieht ihm kein Unrecht, aber das Volk thut unrecht, denn das hat nicht das Recht dazu.“²¹⁴ Kants Argumentation reflektiert die Unterscheidung zwischen formellem Recht und materiellem Recht:²¹⁵ Obgleich der Tyrann den Untertanen materiell-rechtlich Un-
schon den Gegensatz von materiellem Recht und formellem Recht widerspiegelnd) sowie Refl. 7812, AA XIX, S. 523 f. Dies korrespondiert mit den entsprechenden Reflexionen zu Achenwalls Naturrecht. So scheint etwa Refl. 7809, AA XIX, S. 522 nur die Achenwall’sche Position zu paraphrasieren,wonach es „[m]it dem iure necessitatis […] so bewandt [ist], daß es einen statum naturalem voraussetzt wenigstens virtualiter und daß der eine absqve iniustitia angreift der andre aber iure wiedersteht und straft. Es setzt dieses das Ende des status civilis voraus und die Gewalt, welche einen andern statum civilem regenerirt.“ Die anschließende Refl. 7810, AA XIX, S. 523 enthält jedoch eine dem widersprechende Kommentierung, die so nicht von Achenwall stammen kann und daher Kants eigene Position wiedergeben muss: „Die Selbstvertheidigung im statu naturali ist der einzige casus necessitatis ad agendum (permissionis), aber in statu civili ist er niemals wozu anders als ad patiendum. Die höchste obligation ist gegen das corpus civile. Wenn der Monarch in seinen Handlungen dasselbe nicht mehr repräsentirt, so hat das Volk ein Recht gegen ihn, wenn es ein corpus civile ohne ihn ausmachte. Da in einer souverainen Regirung dieses nicht ist, so hat die multitudo gar kein Recht und jeder einzelne thut dem Volke unrecht, den Grund der unionis civilis anzufechten. Daher hat zwar der Souverain als einzelne person kein Recht, einen tyrannen vorzustellen, die Unterthanen aber haben gegen ihn auch kein Zwangsrecht und werden von ihm im Falle einer Empörung oder eines complots vermöge des Rechts als Oberhaupt des Staats oder als Regent gestraft. Es ist ein status necessitatis, der Zustand des Zwangsrechts in statu civili; daher alsdenn alle Selbsthülfe des Rechts aufhörete.“ Hiernach bleibt das corpus civile auch im Falle der Herrschaftspervertierung durch Tyrannei unantastbar. Aus Sicht des Untertanen begründet dies zwar einen status necessitatis, dieser gibt jedoch unter Bedingungen des status civilis kein Zwangsrecht.Vgl. im Ergebnis ebenso Kants Kritik an Achenwall in Gemeinspruch, AAVIII, S. 300 f. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1392, kursive Hervorhebung P.-A. H. Vgl. ähnlich differenzierend Refl. 7680, AA XIX, S. 486 f. sowie Refl. 8050, AA XIX, S. 593 f. Mit dieser Differenzierung setzt sich Kant erneut von Achenwall ab, wie seine Bewertung von Machiavellismus und Monarchomachismus zeigt. Achenwall hatte beiden Positionen Fehler-
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recht tut und entsprechender Widerstand materialiter legitim wäre, ist Widerstand gegen die Obrigkeit stets formaliter unrecht, da er nicht als öffentliches Gesetz bzw. gemäß dem Urteil eines öffentlichen Richters denkbar ist.²¹⁶ Der staatsbürgerlichen Gehorsamspflicht korrespondiert mithin nicht ein besonderes Recht des Herrschers (dieser handelt ja gerade materialiter unrecht),²¹⁷ sondern die Gehorsamspflicht ist Ausdruck der unbedingten Notwendigkeit eines status civilis, der allererst eine legitime Geltendmachung von Rechten ermöglicht. Kants Auseinandersetzung mit der Widerstandsproblematik in Naturrecht-Feyerabend bewegt sich damit konzeptionell in dem oben aufgezeigten Rahmen eines öffentlichen Notstandes (casus necessitatis), bei dem die Durchsetzung materieller Rechte und Pflichten formaliter durch die Aufrechterhaltung des status civilis bedingt ist. Auch in der Rechtslehre bewertet Kant die Widerstandsproblematik als Notstandssituation und spricht vom „Vorwand des N o t h r e c h t s (casus necessitatis)“.²¹⁸ Gleichwohl wird nicht aufgelöst, welche Konfliktsituation dem zugrunde liegt. Aus systematischer Sicht lässt sich diese jedoch rekonstruieren: Wird in einem Unrechtsregime der unverfügbare Kernbereich des inneren Mein und Dein angetastet, so sind dies die Rechte, die jenseits der staatlichen Normierungsbefugnis nach dem ursprünglichen Vertrag liegen und denen die innere Rechtspflicht des honeste vive korrespondiert. Wie bereits ausführlich dargelegt, handelt es sich bei honeste vive um eine echte Rechtspflicht, sodass es zulässig ist, sie im Rahmen einer unechten Pflichtenkollision in Stellung zu bringen.²¹⁹ Auch bestehen keine grundsätzlichen Einwände, diese Pflicht auf öffentlich-rechtliche Verhältnisse zu
haftigkeit unterstellt, da der Unterwerfungsvertrag im Falle der Herrschaftspervertierung gegenstandslos werde, im herrschaftsfreien Zustand jedoch fraglos eine Befugnis zum Widerstand bestehe (vgl. oben Kap. 7, Fn. 209). Kant hingegen kritisiert diese beiden Traditionen von einem anderen Standpunkt aus: Im Ergebnis habe Machiavellismus in der Bewertung der Widerstandsfrage zwar recht, jedoch nehme er dabei fälschlicherweise an, „daß ein Fürst ein Recht hat, tyrannisch zu verfahren, welches aber falsch ist. Bei der Empörung geschieht ihm kein Unrecht, aber das Volk thut unrecht, denn das hat nicht das Recht dazu.“ Demgegenüber bejaht der Monarchomachismus aus Kantischer Perspektive zwar zu Recht eine Rechtsverletzung durch den Herrscher. Gleichwohl bleibe Widerstand rechtswidrig, weil „bei Rebellionen […] nur ein Theil des Volks rebellisch“ sei. Laut Kant entbehrt gewaltsamer Widerstand stets einer rechtlichen Grundlage, da er formal niemals Ausdruck des vereinigten Volkswillens sein könne. Kants Kritik an Machiavellismus und Monarchomachismus beruht mithin darauf, dass diese Traditionen entweder nur allein auf das materielle Recht oder das formelle Recht abstellen. Vgl. die Ähnlichkeit zu Kants Formulierung in § 42 in RL, AAVI, S. 307 f. (und dazu oben S. 306 f.). Vgl. so schon Refl. 7696, AA XIX, S. 492, wonach Verbrechen gegen den Staat öffentliche Delikte genannt würden, weil sie formaliter das Majestätsrecht verletzten, nicht jedoch weil sie materialiter in Widerspruch zum Recht stünden. Vgl. RL, AA VI, S. 321, Fn. * und dazu oben S. 372 sowie eingehend unten S. 401 f. Vgl. dazu auführlich oben S. 186 – 203.
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beziehen.²²⁰ Zwar spricht Kant nicht explizit von einer Kollision obrigkeitlicher Maßnahmen mit der inneren Rechtspflicht, wohl aber von einem möglichen Widerstreit mit dem Recht der Menschheit in der eigenen Person, welches der Pflicht des honeste vive zugrunde liegt.²²¹ So widerspricht staatliche Religionsgesetzgebung dem Recht der Menschheit.²²² Ebenso ist es dem Recht der Menschheit zuwider, wenn der Staat Menschen als bloße Kriegsmaschinen gebraucht.²²³ Schließlich wird die republikanische Verfassung als dem Recht der Menschheit alleinig angemessen ausgewiesen.²²⁴ Angesichts dessen erscheint es zulässig, honeste vcive auch auf öffentlich-rechtliche Verhältnisse zu beziehen. Überdies ist auch der Staat als moralische Person im Sinne der Formel des honeste vive ein »anderer«, dem gegenüber man sich nicht zum bloßen Mittel machen soll.²²⁵ Legt man dies zugrunde, so ist das Individuum auch nach Kants Metaphysik der Sitten von 1797 im Falle einer tyrannischen Herrschaft – welche die unverfügbaren Rechte, mithin die Rechtspersönlichkeit in Frage stellt – genauso einer rechtlichen Pflichtenkollision ausgesetzt, wie es in der Naturrechtsvorlesung Feyerabend von 1784 der Fall war.²²⁶ Angesichts der absoluten Notwendigkeit des bürgerlichen Zustands für die Geltendmachung von Rechten und Pflichten, ist der Einzelne formaliter zum Gehorsam verpflichtet, obgleich dies materialiter der inneren Rechtspflicht des honeste vive zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit widerstreitet. Auch die innere Rechtspflicht ist durch die staatsbürgerliche Gehorsamspflicht bedingt: Die Erhal-
Diese Einschätzung teilen insb. auch Oberer und Brandt. Vgl. die Nachweise in Kap. 1, Fn. 13 und 14, aber auch Kap. 1, Fn. 22. Vgl. dazu oben S. 182– 186. Vgl. RL, AA VI, S. 327. Vgl. ZeF, AA VIII, S. 345. Vgl. VA ZeF, AA XXIII, S. 164. Vgl. zur moralischen Persönlichkeit des Staates nur ZeF, AA VIII, S. 344 sowie RL, AA VI, S. 316, 343 und S. 347. Demensprechend lässt sich die Formel des honeste vive in RL, AA VI, S. 236 auch auf den Staat beziehen, wenn es dort heißt, „im Verhältniß zu Anderen seinen Werth als den eines Menschen zu behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: »Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck.«“. Ebenso wirft Brandt 1987, S. 216 die zulässige Frage auf, ob diese Konfliktsituation nicht zu „ein[em] Revolutionsgebot im Sinn eines gewaltsamen Umsturzes“ führe, und verwirft dies richtigerweise als „unkantisch“. Gleichwohl übersieht er dabei die Kants Position zugrundeliegende Differenzierung zwischen formellem Recht und materiellem Recht sowie das Lehrstück vom casus necessitatis. Auch Oberer 2004, S. 207– 210 thematisiert eine solche Konfliktsituation. Jedoch betont er in Bezug auf honeste vive einseitig die „fundamentale Rechtsvorbehaltspflicht“, der die „einzige allgemeinste Rechtspflicht“ des Staates, „das ursprüngliche Freiheitsrecht der Menschen zu sichern“, entspreche. Da hierdurch die formaliter unbedingte Notwendigkeit von Staatlichkeit zur Rechtsdurchsetzung verkannt wird, gelangt er fälschlicherweise zur „Legitimität eines bürgerlichen Widerstandsrechts“. Vgl. ähnlich argumentierend schon Eppeneder 1980, S. 270 – 273.
7.3 Kants Umgang mit dem Problem des Unrechtsregimes
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tung der eigenen Rechtspersönlichkeit ist nur innerhalb des Staates möglich, Widerstand ist notwendigerweise formaliter unrecht.
7.3.3.3 Freiheitlicher Widerstand: nicht unsträflich, aber unstrafbar? Insofern der Widerstandsproblematik eine unechte Pflichtenkollision im oben geschilderten Sinne zugrunde liegt, ist Widerstand zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit gegenüber tyrannischer Gewaltherrschaft als casus necessitatis, d. h. als öffentlicher Notstand, zu qualifizieren. Kant kann ihn als solchen nach den Regeln des Notrechts und somit differenziert behandeln: Denn in der Rechtslehre – aber auch anderenorts –²²⁷ unterscheidet Kant zwischen der objektiven Gesetzeswidrigkeit einer Handlung nach moralischen Gesetzen und ihrer subjektiven Strafbarkeit vor einem Gerichtshof. Hierüber rechtfertigt er nun die Straflosigkeit der gewaltsamen Selbsterhaltung: Also ist die That der gewaltthätigen Selbsterhaltung nicht etwa als u n s t r ä f l i c h (inculpabile), sondern nur als u n s t r a f b a r (impunibile) zu beurtheilen, und diese s u b j e c t i v e Straflosigkeit wird durch eine wunderliche Verwechselung von den Rechtslehrern für eine o b j e c t i v e (Gesetzmäßigkeit) gehalten. Der Sinnspruch des Nothrechts heißt: »Noth hat kein Gebot (necessitas non habet legem)«; und gleichwohl kann es keine Noth geben, welche, was unrecht ist, gesetzmäßig machte.²²⁸
Was Kant hier am Beispiel des Brett des Karneades (ein Ertrinkender rettet sich, indem er einen anderen von einer Planke stößt, die nur einen tragen kann) schildert,²²⁹ gilt ebenso für freiheitlichen Widerstand als Ausübung eines öf Weitgehend entsprechende Ausführungen finden sich in Gemeinspruch, AA VIII, S. 300 mit Fn. *; Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1387, 1391 f.; MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 599 f.; Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg. von Werner Stark, S. 229 und Refl. 7812, AA XIX, S. 523 f. RL, AA VI, S. 235 f. Verfehlt wäre es, Kant hier mit Blick auf den Ausspruch „Noth hat kein Gebot (necessitas non habet legem)“ einen Irrtum vorzuwerfen und die Straflosigkeit in Notlagen schlicht positivistisch damit zu erklären, dass hierfür das positive Gesetz bereits keine materiale Geltung beanspruche (so aber Merle 2015, S. 48 – 55). Denn bei Kant ist angesichts der moralischen (und damit überpositiven) Rechtsgesetze auch eine Notlage gerade kein rechtsfreier Zustand. Wie unter Naturzustandsbedingungen so bestehen auch in Fällen der Not nach Maßgabe des natürlichen Rechts materialiter stets wechselseitige Rechte und Rechtspflichten, deren Verletzung grundsätzlich strafwürdig (culpabile) ist. Vgl. zur erstmaligen Erwähnung dieses Falles in der Antike Lactantius, Divinarum Institutionum,V, 16 und weitere Nachweise bei Küper 1999, S. 30. Dabei geht es hier und im Folgenden um die Situation, dass jemand bereits im Besitz der Planke war und nun von einem anderen heruntergestoßen wird. Gegenstand ist also nicht der Fall, dass noch keiner der Ertrinkenden im Besitz der Planke war und beide nun hierum kämpfen. Vgl. dazu Brandt 1982, S. 244– 246 und ausführlich Küper 1999, S. 33 – 43.
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fentlichen Notrechts: Gewaltsamer Widerstand ist unter moralischen Gesichtspunkten stets rechtswidrig und sträflich, jedoch positivrechtlich (d. h. nach Maßgabe staatlicher Jurisdiktion) zu entschuldigen und mithin unstrafbar.
7.3.3.3.1 Der casus necessitatis als Entschuldigungsgrund Um diese Auflösung der Widerstandsproblematik zu verstehen, ist zunächst zu fragen: Was bewirkt der Notstand? Bleiben wir vorerst beim Brett des Karneades. Dass Kant die Notstandshandlung als culpabile (sträflich) qualifiziert, macht deutlich, dass der Notstand (hier die akute Bedrohung des eigenen Lebens durch Ertrinken) nicht die moralische Zurechenbarkeit der Notstandshandlung aufhebt. Anders gesagt: Der Grundsatz »ultra posse nemo obligatur« greift hier nicht, der Ertrinkende hätte anders handeln können.²³⁰ Die Notstandshandlung ist mithin „T h a t “ und steht „unter Gesetzen der Verbindlichkeit“. Entsprechend wird der Notstandstäter als „U r h e b e r der Wirkung betrachtet, und diese zusammt der Handlung selbst können ihm z u g e r e c h n e t werden“.²³¹ Allerdings differenziert Kant in der Folge innerhalb der Zurechnungsfrage, wenn er die Notstandshandlung als sträflich, aber gleichwohl inpunibile (unstrafbar) ausweist: Z u r e c h n u n g (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das U r t h e i l , wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann That (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird; welches, wenn es zugleich die rechtlichen Folgen aus dieser That bei sich führt, eine rechtskräftige (imputatio iudiciaria s. valida), sonst aber nur eine b e u r t h e i l e n d e Zurechnung (imputatio diiudicatoria) sein würde. – Diejenige (physische oder moralische) Person, welche rechtskräftig zuzurechnen die Befugniß hat, heißt der R i c h t e r oder auch der Gerichtshof (iudex s. forum).²³²
Kant unterscheidet zwischen der rein beurteilenden und der rechtskräftigen Zurechnung.²³³ Erstere enthält lediglich die Feststellung, dass eine zurechenbare Tat vorliegt. Dies ist das Urteil über die Pflichtwidrigkeit bzw. Pflichtgemäßheit der Handlung und impliziert die Anwendbarkeit des moralischen Gesetzes (kraft Unmögliche Handlungen können nicht zugerechnet werden. Sie sind laut MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 563 „eventus inevitabiles […]: nämlich 1) sie gehen über die Kräfte eines Menschen, oder 2) der Mensch hat sie nicht vorhersehen können, oder 3) sie doch nicht hindern können, 4) oder es war ihm moralisch nicht erlaubt, oder er nicht befugt, sie zu hindern; von allen diesen Umständen gilt die Regel: ultra posse nemo obligatur, und sie sind nicht imputabel.“ Vgl. dazu eingehend auch Hruschka 2015, S. 161– 165. Zum Ganzen: RL, AA VI, S. 223. RL, AA VI, S. 227. Vgl. zur Zurechnungslehre Pufendorffs und Darjes‘ als mögliche Vorbilder der Kantischen Position ausführlich Hruschka 1991, S. 6 – 8 und Hruschka 1998, S. 184– 192.
7.3 Kants Umgang mit dem Problem des Unrechtsregimes
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dessen eine Verbindlichkeit besteht) auf den vorliegenden Fall. Hingegen enthält die rechtskräftige Zurechnung zusätzlich ein darüber hinausgehendes Urteil und bedarf hierfür eines kompetenten Richters. In der Vigilantiusmitschrift präzisiert Kant diesen zweiten Schritt wie folgt: Die Sentenz selbst bestehet nun in der conclusion eines episyllogismi imputatorii. Es enthält das Erkenntniß zwei syllogismos, wobey das Gesetz majorem, das factum minorem und die Form des Erkenntnisses conclusionem macht, nämlich der erste Schluß: das Gesetz, die subsumtio facti, und der Schluß, ob das factum als Erfüllung oder als Uebertretung des Gesetzes unter ihm gehöre. Der zweite Schluß: das Gesetz, das factum, und die Folgen, die aus dem angewandten Gesetz und den darin enthaltenen Bestimmungen abzuleiten oder anzuwenden sind.²³⁴
Die rechtskräftige Zurechnung erfolgt durch das richterliche Urteil (die Sentenz)²³⁵ und enthält eine zweistufige Schlussfolge. Der erste Schluss ist das Urteil über die Pflichtwidrigkeit bzw. Pflichtgemäßheit der Handlung (beurteilende Zurechnung, s. oben). Der zweite Schluss ist das hieran anknüpfende Urteil über die Anwendung der daraus resultierenden Folgen bzw. Effekte. So heißt es anderenorts: Die Imputatio valida […] ist dasjenige woraus ein effectus juridicus entspringt. Ein effectus juridicus ist die Handlung, die das Recht einer Handlung angehet. Wenn die Menschen so urtheilen, daß ihre Urtheile einem andern Schaden zufügen können, so haben ihre Urtheile einen effectum, weil sie das Recht anderer betreffen. Derjenige imputirt valide, der das Recht hat mit effectu zu imputiren, und die Person heißt schon wie gesagt ein Richter.²³⁶
Der rechtliche Effekt, von dem Kant hier spricht, ist nun nichts anders als die gesetzlich vorgesehene Sanktion bei Pflichtübertretung, d. h. die Strafe, die nur von einem kompetenten Richter valide zugerechnet werden kann.²³⁷ Aber genau dieser zweite Schritt der rechtskräftigen Zurechnung entfällt im Falle eines casus necessitatis: Die Tat ist zwar pflichtwidrig und zurechenbar, insofern sie ein Verschulden des Täters darstellt (d. i. die beurteilende Zurechnung).²³⁸ Gleichwohl entfällt die Strafbarkeit, d. h. eine rechtskräftige Zurechnung der gesetzlich be MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 573. Vgl. dazu auch Hruschka 2015, S. 157 f. Vgl. auch die identische Wortwahl in RL, AA VI, S. 235, vollständig zitiert unten S. 390. Praktische Philosophie Powalski, AA XXVII, S. 160. Kants Bestimmung des effectus iuridicus deckt sich mit seinem Verständnis von Strafe als freiheitseinschränkendem Zwang, der in der Zufügung eines Übels besteht. Vgl. etwa RL, AA VI, S. 331 oder Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1333 sowie näher zum Begriff des rechtlichen Effekts auch Hruschka 2000, S. 191 f. Vgl. in diesem Sinne auch Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1333: „Factum est actio libera, die unterm Gesetz steht. Ein Factum ist culpabile, wenn es dem Gesetz nicht gemäß ist oder inculpabile.“
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stimmten Sanktionen ist nicht möglich. Das ius in casu necessitatis ist mithin ein entschuldigender Notstand.²³⁹ Die zweite, sich hieran anschließende Frage ist nun: Warum hat der Notstand diese entschuldigende Wirkung? Kant begründet sie in der Rechtslehre am Beispiel des Brett des Karneades wie folgt: Es ist klar: daß diese Behauptung [sc. das Notrecht] nicht objectiv, nach dem, was ein Gesetz vorschreiben, sondern bloß subjectiv, wie vor Gericht die Sentenz gefällt werden würde, zu verstehen sei. […] Denn die durchs Gesetz angedrohte Strafe könnte doch nicht größer sein, als die des Verlusts des Lebens […]. Nun kann ein solches Strafgesetz die beabsichtigte Wirkung gar nicht haben; denn die Bedrohung mit einem Übel, was noch ungewiß ist, (dem Tode durch den richterlichen Ausspruch) kann die Furcht vor dem Übel, was gewiß ist, (nämlich dem Ersaufen) nicht überwiegen. […] Man sieht: daß […] nach […] dem Nothrechte […] die D o p p e l s i n n i g k e i t (aequivocatio) aus der Verwechselung der objectiven mit den subjectiven Gründen der Rechtsausübung (vor der Vernunft und vor einem Gericht) entspringt, da dann, was jemand […] selbst an sich als unrecht beurtheilen muß, von eben demselben [sc. einem Gerichtshof] Nachsicht erlangen kann: weil der Begriff des Rechts […] nicht in einerlei Bedeutung ist genommen worden.²⁴⁰
Kant rechtfertigt hier die Straflosigkeit im Notstandsfall über die Differenzierung zwischen den objektiven und subjektiven Gründen der Rechtsausübung. Diese Rechtfertigung lässt sich am besten unter Rückgriff auf die beiden Elemente einer jeden Gesetzgebung erklären:²⁴¹ Soll eine Gesetzgebung verpflichtend sein, so bedarf sie erstens eines Gesetzes, welches eine Handlung als objektiv notwendig vorstellt, und zweitens einer Triebfeder, welche den Verpflichteten zur moralisch geschuldeten Handlung motiviert. Nun ist im Falle einer Notstandshandlung klar, dass diese objektiv – d. h. allein nach moralgesetzlichem Maßstab – gesetzeswidrig ist. Diese Gesetzeswidrigkeit ist jedoch praktisch folgenlos, solange die gesetzlich geforderte Handlung nicht auch für mich Pflicht ist. Subjektiv verpflichtend wird das Gesetz also erst durch die Verknüpfung mit einer tauglichen Triebfeder. Da juridische Gesetzgebung vermittels pathologischer Bestimmungsgründe (vornehmlich So auch Hruschka 2000, S. 194 f. und demgegenüber kritisch Merle 2015, S. 49 – 51. Kants Unterscheidung zwischen beurteilender und rechtskräftiger Zurechnung nimmt damit – aus strafrechtlicher Perspektive – die heutige Unterscheidung zwischen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen (vgl. dazu statt vieler Kühl 2012, S. 379 – 381) vorweg. Das ius in casu necessitate hat so gesehen nur entschuldigende, jedoch keine rechtfertigende Wirkung (vgl. jedoch kritisch Küper 1999, S. 47– 49). Deutlich wird dies insbesondere, wenn Kant das Notrecht in RL, AA VI, S. 235 vom Notwehrrecht (ius inculpatae tutelae) abgrenzt. Während ersteres ein an sich rechtswidriges, aber entschuldbares Verhalten betrifft, beschreibt letzteres die nach den §§ C, D der „Einleitung in die Rechtslehre“ rechtmäßige Reaktion auf einen rechtswidrigen Angriff. RL, AA VI, S. 235 f. Vgl. mit ähnlicher Argumentation die Nachweise in Kap. 7, Fn. 227. Vgl. dazu oben S. 50 f.
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Furcht angesichts obrigkeitlicher Strafandrohung) erfolgt, kann ich rechtlich nur verpflichtet werden, wenn das durch die Strafandrohung in Aussicht gestellte Übel stärker nötigt als der Vorteil, der aus der gesetzeswidrigen Handlung entspringt. Prägnant heißt es in diesem Sinne bereits in einer frühen Reflexion: „Juridische Gesetze obligiren nicht durch die innere Beschaffenheit der Handlung, sondern dieser zwar gemäß, aber durch Zwang. Wenn nun ein Größerer Zwang zum Gegentheil ist [und zwar billiger], so kan ich vom Gesetz nicht mehr necessitirt werden.“²⁴² Genauso verhält es sich im casus necessitatis, wenn die Erhaltung der eigenen Person zur Debatte steht, da laut Kant keine gesetzlich angedrohte Strafe stärker nötigen kann als die eigene Lebensgefahr.²⁴³ Vor einem äußeren Gerichtshof muss die Notstandstat daher straflos bleiben, da coram foro externo keine mich rechtlich bindende Gesetzgebung besteht.²⁴⁴ Die rechtskräftige Zurechnung der Strafe kann nicht stattfinden. Gleichwohl tangiert – bildlich gesprochen – die Straffreiheit vor weltlichen Gerichten nicht die Verantwortung vor Gott. Da eine objektiv notwendige Handlung stets auch im Wege ethischer Gesetzgebung geboten ist (Rechtspflicht als indirekt-ethische Pflicht), bleibt die Notstandstat weiterhin vor dem eigenen Gewissen (coram foro interno) zurechenbar.²⁴⁵
Refl. 7156, AA XIX, S. 259. Vgl. ähnlich auch MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 599 f. Vgl. auch Refl. 7192, AA XIX, S. 268: „Nemlich man kan nicht gezwungen werden, dies [sc. die Selbsterhaltung] zu unterlassen, weil die Strafe, vor die man sich scheuen soll, nicht größer sein kan als das, was zu entfliehen er die handlung thut, und das letztere nahe ist. Auch ist nur die Erhaltung des Lebens die Bedingung vom Casu necessitatis, weil die große Kraft des Strafgesetzes in der Lebensstrafe besteht.“ Vgl. ebenso Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg. von Werner Stark, S. 229. Vgl. mit ähnlicher Argumentation – so zutreffend Hruschka 2000, S. 194 – schon Hobbes, Leviathan, XXVII, § 25. Jedoch ist mehr als fraglich, ob Kants Annahme sachlich gerechtfertigt ist. Sicherlich wird man im Hinblick auf das eigene Leben die fernere Todesgefahr der näheren vorziehen. Gleichwohl ist denkbar, dass bspw. angedrohte Sippenhaft (etwa die nächsten Verwandten zu exekutieren) sinnlich stärker motivieren kann als die Sorge um das eigene Leben. Vgl. ebenso nur Byrd 1989, S. 188 – 193; Hruschka 1991, S. 9 f. und Hruschka 2000, S. 193 f.; Ripstein 2009, S. 321 f. sowie Baiasu 2016, S. 13 f. Vgl. MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 575: „Ein Gewissen besteht nun in dem Vermögen, sich sein eigenes factum durch das Gesetz selbst zuzurechnen, und die Fertigkeit hierzu ist Gewissenhaftigkeit.Wer sich selbst auf sein Gewissen wozu verbindet,verstärkt zwar nicht die obligation, da sie schon vorher da war, objective, jedoch die Erfüllung derselben subjective: es involvirt diese provocation auf sein Gewissen den Gedanken, daß er die ganze Bestimmung seiner Handlung seiner Pflichtmäßigkeit angemessen mache, und er verknüpft die Uebertretung oder Verletzung seines Gewissens mit der Idee von dem Verlust seines ganzen moralischen Werthes.“ Dies hat freilich zur Folge, dass die entschuldigende Wirkung des ius in casu necessitatis auf die äußere, rechtliche Gesetzgebung und das forum externum begrenzt ist. Zu Recht spricht Hruschka 2000, S. 195 daher lediglich von „eine[r] ‚Quasi-Entschuldigung‘ für die Ebene des ‚forum externum‘. Sie ist eine Entschuldigung für das Strafrecht.“
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7.3.3.3.2 Das Problem tyrannischer Gewaltherrschaft als öffentlicher Notstand Kant gelingt es nun, diese Notstandskonzeption für den Umgang mit grob ungerechter Gewaltherrschaft (Tyrannei) fruchtbar zu machen. Wir sahen bereits, dass laut Kant eine tyrannische Gewaltherrschaft einen Notstand (casus necessitatis) begründet.²⁴⁶ Dass dieser nun im Widerstandsfall entschuldigende Wirkung hat, lässt sich – zunächst als Interpretationshypothese – anschaulich anhand von Naturrecht-Feyerabend zeigen. Im Widerspruch zu der in der Naturrechtslehre anerkannten Doktrin verneint dort Kant ein ius eminens des Herrschers, „einige Bürger zum Besten des Staats auf[zu]opfern“ und hierzu über deren Rechte zu verfügen.²⁴⁷ Tut er dies, handelt er notwendigerweise materialiter unrecht. Gleichwohl kann es für das unschuldige Staatsopfer formaliter kein Recht zum Widerstand geben. Es bleibt also allein ein öffentlicher, entschuldigender Notstand: Homo perducit in casum neceßitatis, wenn die Erhaltung seines Lebens nicht anders möglich ist als durch Abbruch der Rechte eines andern. Hier hört alles Recht auf. Die Handlung aber ist immer unrecht, denn der laesus kann sich widersetzen. Sie ist aber jure externe rechtsmäßig, weil sie durch keine Strafgesetze gezwungen werden kann. Denn Strafgesetze sind hier unmöglich, weil sie mich doch an nichts als am Leben strafen können, und ich auch hier in Lebensgefahr bin, das Uebel also dem ich entgehe, nicht kleiner ist, als die Strafe. Es ist eigentlich nicht recht, und darum heißts favor necessitatis. Es ist lächerlich zu sagen: Du sollst künftig dein Leben verliehren,wenn du es jetzt nicht verliehren willst. Die gegenwärtige Gefahr ist größer als die künftige. Durch kein Gesetz kann einem unschuldigen verbothen werden, alle ersinnliche Mittel zu brauchen, sein Leben zu retten.²⁴⁸
Widerstand zur Erhaltung der eigenen Person bleibt nach strengem Recht betrachtet unrecht, gleichwohl kann dieser Widerstand nicht iure externo – z. B. durch Androhung der Todesstrafe – verboten werden. Grund ist, dass im Konfliktfall die staatliche Strafandrohung keine abschreckende bzw. nötigende Wirkung entfalten kann, sodass coram foro externo eine rechtskräftige Zurechnung ausgeschlossen ist. Mithin liegt ein entschuldigender Notstand vor. Diese Lösung gilt laut Kant nicht nur beim vermeintlichen ius eminens des Herrschers,²⁴⁹ son-
Vgl. oben S. 380 – 387. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1387. Das ius eminens ist etwa schon bei Grotius, De jure belli ac pacis, I, 1, § 6; Pufendorf, De jure naturae et gentium,VIII, 5, § 7 und Wolff, Jus naturae,VIII, 4, § 960 anerkannt. Vgl. schließlich auch Achenwall, Prolegomena iuris naturalis, § 145 f., auf den sich Kant vorliegend bezieht. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1387. Auch Refl. 7911, AA XIX, S. 551 ist hier einschlägig, dabei aber in der rechtlichen Qualifikation der Selbstverteidigungshandlung zugegebenermaßen uneindeutig.
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dern – wie eine frühe Reflexion zeigt – ganz allgemein für den Fall, dass Gewaltherrschaft die eigene Persönlichkeit zu annihilieren droht: Wenn ein jeder im Volk seinen Untergang besorgen muß, so ist dieses der casus necessitatis und hat favorem necessitatis vor dem Urtheil der Vernunft*; aber es laedirt doch den imperantem und dieser kan mit recht resistiren. Durch ein Gesetz kann dieses Recht nicht eingeführt werden. * (g Denn es kan dieser Wiederstand nicht verboten werden, weil doch nur eben ein so großes Übel gedroht werden könnte.)²⁵⁰
Diese in den unveröffentlichten Quellen belegte Behandlung tyrannischer Herrschaft durch Kant findet – wie wir im nächsten Kapitel sehen werden –²⁵¹ auch Eingang in die Rechtslehre. Denn übertragen wir diese Lesart dort auf Kants Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution, so können wir nunmehr erklären, warum Kant die Revolution für rechtswidrig und doch unter dem „Vorwand d e s N o t h r e c h t s (casus necessitatis)“²⁵² für entschuldbar erachtet. Wie wir anhand von Naturrecht-Feyerabend sehen konnten, ist und bleibt Widerstand gegen die Staatsgewalt für Kant auch im Falle ungerechter Gewaltherrschaft rechtswidrig: Nicht etwa, weil hierdurch ein materielles Recht des Herrschers verletzt wäre (ein Recht zur ungerechten Gewaltherrschaft kann es nicht geben), sondern weil Widerstand gegen die Staatlichkeit notwendig formaliter unrecht ist. Es gibt nach Maßgabe des strikten Rechts keine Rechtfertigung freiheitlichen Widerstands, selbst wenn durch obrigkeitliche Maßnahmen die eigene Rechtspersönlichkeit aufgehoben zu werden droht. Der casus necessitatis hält aber ein gänzlich anderes System von Entschuldigungsregeln bereit.²⁵³ Wenn Kant freiheitlichen Widerstand als Notrecht (favor necessitatis) entschuldigt, so steht dies folglich in keinem Widerspruch zu seiner übrigen Rechtsphilosophie. Das System der Entschuldigungsgründe hat seine eigene Rationalität und existiert
Refl. 7812, AA XIX, S. 523 f., Einfügung (g) Kants. Diese Reflexion bezieht sich auf Achenwalls Ausführungen zum Widerstandsrecht im Falle von Tyrannei und steht damit im gleichen Kontext wie die oben (S. 381– 385) dargelegten Ausführungen Kants in Naturrecht-Feyerabend. Vgl. sogleich unten S. 400 – 402. RL, AA VI, S. 321, Fn. *. Vgl. so auch Hruschka 1991, S. 9: „[J]eder Entschuldigungsgrund steht außerhalb des Systems der Gebots-, Verbots- und Erlaubnisnormen […]. Entschuldigungsregeln bilden mithin auch nach Kant ein eigenes System.“ Ebenso schreiben Scheffel 1982, S. 197– 204 und Maus 1992, S. 113 f. dem Notrecht einen außerrechtlichen Charakter zu, verkennen dabei jedoch die systematische Einbettung in ein selbstständiges System von Entschuldigungsgründen. Küper 1999, S. 49 – 55 sieht das Kantische Notrecht hingegen als Teil des Rechts, stellt es aber als empirisches Praxisrecht dem Vernunftrecht gegenüber.
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selbstständig neben dem Regelsystem des Rechts: Man kann von einer eigenständigen, nicht-moralischen Vernunftlegitimation freiheitlichen Widerstands sprechen, die „vor dem Urtheil der Vernunft“ Bestand hat. Gleichwohl begründet diese Selbstständigkeit keine gänzliche Unabhängigkeit von der übrigen Moralphilosophie, insofern eine genuin moralische Konfliktsituation, namentlich der Widerstreit bedingter und unbedingter Pflichten, für die Notstandssituation konstitutiv ist. Das Notrecht (favor necessitatis) entschuldigt also nur solche Widerstandshandlungen, für die sich immerhin eine ratio obgligandi, d. h. ein zur moralischen Pflichtkonstitution nicht hinreichender Verpflichtungsgrund, anführen lässt.²⁵⁴ Nur so lässt sich auch Kants Behandlung der Todesstrafe erklären, wo eine solche ratio obligandi gerade fehlt.²⁵⁵ Inwieweit dieser Umgang mit der Widerstandsproblematik eine genuine Leistung Kants ist und inwieweit sie an vorhergehende Ansätze der Naturrechtslehre anknüpft, lässt sich vorliegend nicht abschließend klären.²⁵⁶ Unbe-
Daher ist Maus 1992, S. 114 entschieden zu widersprechen, insofern sie behauptet, im Rahmen des Notrechts könnten „überhaupt keine normativen Aussagen [über die Anwendung von Gewalt] gemacht werden […]. Jede Rechtfertigung einer bestimmten Gewalthandlung würde zu einer Typisierung und Standardisierung führen, die die Ausnahmeerscheinung der Gewalt zur Normalität hin entgrenzte.“ Ebenso ist die Ansicht von Küper 1999, S. 49 zurückzuweisen, wonach die „Straflosigkeit […] für Kant nicht auf einer normativen ‚Bewertung‘ des Täterverhaltens bzw. der Tatmotivation [beruht]“. Kants Rechtfertigung der Todesstrafe kann vorliegend nicht eingehend erörtert und problematisiert werden. Hier muss der Hinweis genügen, dass die Todesstrafe nach Kant Ausdruck der eigenen „reine[n] rechtlich-gesetzgebende[n] Vernunft (homo noumenon) [sc. ist, P.-A. H.], die mich als einen des Verbrechens Fähigen, folglich als eine andere Person (homo phaenomenon) sammt allen übrigen in einem Bürgerverein dem Strafgesetze unterwirft“ (RL, AA VI, S. 335). Sich einer materialiter rechtmäßigen Todesstrafe zu unterwerfen, ist mithin Ausdruck und nicht Verletzung der eigenen Rechtspersönlichkeit. Eine Entschuldigung unter Hinweis auf die moralische Selbsterhaltungspflicht scheidet insofern aus. Dies ist im Übrigen auch die entscheidende Pointe gegenüber Hobbes, welcher diese moralische Differenzierung nicht anstellen kann, weil bei ihm letztlich alles allein auf den rationalen Selbsterhaltungswillen zurückgeführt wird. Vgl. Hobbes, Leviathan, XIV, §§ 29 f. und XXI, §§ 11– 15. Kant war sicher nicht der erste, der die Notstandsproblematik thematisierte und mit der Zurechnungslehre verband. Notstandsfälle sind schon früh belegt,vgl. etwa Lactantius, Divinarum Institutionum,V, 16; Aristoteles, Nikomachische Ethik, III, 1; Thomas von Aquin, Summa theologica, I–II, Q 96 a 6c und II–II Q 120 a 1c; Francisco Suarez, Tractatus de legibus ac deo legislatore,VI, 7, § 3 und vor allem Grotius, De jure belli ac pacis, I, 3, § 4, Nr. 3; II, 2, §§ 6, 8, 10; II, 16, § 26, Nr. 2; III, 11, § 4, Nr. 7. Die erste systematische Behandlung dieser Thematik findet sich jedoch bei Pufendorf und wurde in der Folge vor allem von Darjes entscheidend weiterentwickelt. Vgl. Pufendorf, De jure naturae et gentium, II, 6 und I, 5, §§ 6, 9 sowie Darjes, Institutiones iurisprudentiae universalis, „Introductionis […] generalis“, §§ 213, 218, 219 und Darjes, Observationes iuris naturalis, Vol. II, Obs. XLII, § 21 und Obs. LI. Während Pufendorf nur absoluten Notstand (Fehlen einer zure-
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streitbar ist jedoch, dass die Qualifikation freiheitlichen Widerstands als favor necessitatis Kant die Möglichkeit eröffnet, einen systematischen Platz für Widerstand gegen tyrannische Gewaltherrschaft zu finden, der den grundsätzlichen Ausschluss eines moralischen Rechts zum Widerstand nicht in Frage stellt. Angesichts dessen darf es nicht verwundern, dass sich der Kant-Schüler Friedrich
chenbaren Handlung im Falle von vis absouta) und eingeschränktem Notstand (grds. fortbestehende Zurechenbarkeit angesichts willentlicher Handlung bei vis compulsiva) unterschied, differenziert Darjes innerhalb des eingeschränkten Notstands zwischen einer exceptio secundum und einer exceptio contra leges instituta. Erstere wirkt rechtfertigend, letztere gibt nur einen Entschuldigungsgrund. Dies scheint nun genau die Konzeption zu sein, auf die Kant aufbaut. Es ist daher zumindest wahrscheinlich, dass Kant auf diese Vorarbeiten direkt oder zumindest vermittelt zurückgreift. Vgl. hierzu die umfassenden und luziden Untersuchungen von Hruschka 1991, Hruschka 1998 sowie Hruschka 2000. Obgleich die einschlägigen Autoren der naturrechtlichen Tradition vor Kant vorliegend nur in äußerst beschränktem Rahmen hierauf überprüft werden konnten, scheint die genuine Leistung Kants darin zu bestehen, die Notstandslehre zur Entschuldigung freiheitlichen Widerstands bei tyrannischer Gewaltherrschaft heranzuziehen. Im öffentlich-rechtlichen Kontext bemühte die klassische Naturrechtslehre die Figur des casus necessitatis vor allem zur Begründung eines ius eminens, also des Staatsnotstandes. Vgl. in Ansätzen schon bei Grotius, De jure belli ac pacis, I, 1, § 6 und Pufendorf, De jure naturae et gentium, VIII, 5, § 7 und dann insb. Wolff, Jus naturae, VIII, 1, §§ 111 ff. und 4, § 960; Darjes, Institutiones iurisprudentiae universalis, § 700 sowie Achenwall, Iuris naturalis pars posterior, §§ 145 – 147. Zwar ist der casus necessitatis daneben auch als privatrechtlicher Notstand zur Selbsterhaltung anerkannt. Bspw. erörtern Pufendorf, De officio hominis et civis, I, 5, § 18; Darjes, Observationes iuris naturalis, Vol. II, Obs. LI und Achenwall/Pütter, Elementa iuris naturae, §§ 203 – 206 sowie Achenwall, Prolegomena iuris naturalis, § 143 den Notstand als Kollision vollkommener Pflichten mit der Selbsterhaltungspflicht, wobei in der Regel der Selbsterhaltungspflicht das Primat zugeschrieben wird, da sie aus dem höchsten Gebot des perfice te folgt. Gleichwohl wird diese Konstruktion nicht auf öffentlich-rechtliche Verhältnisse übertragen: Laut Pufendorf, De officio hominis et civis, I, 5, § 18 enthalten positive Gesetze für den Fall des Notstandes normalerweise Ausnahmen oder verlieren ihre moralische Verbindlichkeit, wenn ihre Befolgung der Selbsterhaltung zuwiderliefe. Achenwall/Pütter, Elementa iuris naturae, § 564 erkennen immerhin an, dass, „[s]oweit […] das gemeinschaftliche Gut mit der Erhaltung des Gesellschafters überhaupt kollidiert, […] der Gesellschafter wegen des Notstandes seine gesellschaftlichen Pflichten vernachlässigen [darf], um nicht selbst unterzugehen“. Jedoch betrifft dies die Pflichten gegen andere nach dem Gesellschaftsvertrag, nicht aber das Verhältnis zum Herrscher nach dem Unterwerfungsvertrag. Vgl. ähnlich wohl auch Wolff, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, I, 2, §§ 63 f. Dieser Befund lässt sich mutmaßlich damit erklären, dass Konflikte mit der Selbsterhaltungspflicht im Rahmen der Tyrannis-Lehre auf andere Weise gelöst werden. Die meisten der genannten Autoren bejahen nämlich im Falle tyrannischer Gewaltherrschaft eine Verwirkung des Herrschaftsanspruchs, sodass sich die Frage eines Konflikts zwischen staatsbürgerlicher Gehorsamspflicht und der Pflicht zur Selbsterhaltung von vornherein nicht stellt. Vgl. dazu schon oben S. 366 f. m. w. N. Anschaulich zeigt dies Kants Auseinandersetzung mit Achenwall in NaturrechtFeyerabend. Dort führt Kant den öffentlich-rechtlichen Notstand genau da an, wo Achenwall die Lehre vom Großtyrannen in klassischer Weise behandelt. Vgl. oben S. 381– 385 m. w. N.
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Gentz in seiner Auseinandersetzung mit dem Widerstandsrecht genau in diesen von Kant vorgezeichneten Bahnen bewegt. Und es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass uns hiermit letztlich eine genuin Kantische Lösung der Widerstandsfrage präsentiert wird:²⁵⁷ [D]ie reine Theorie des Rechts hat wirklich keine Stelle, wo der Begriff einer Rebellion geduldet werden könnte. […] So oft und unter so mannigfaltigen Umständen uns daher in der Geschichte die Beispiele von kleineren und größeren, spezielleren oder allgemeineren Volksempörungen begegnen möchten, können wir, ohne alle Gefahr zu irren, immer sicher annehmen, daß das Recht dabei verletzt worden sei. Die Verschiedenheit der Lagen, in welchen rebellierende Völker sich befanden, wirkt bloß eine Verschiedenheit in den Entschuldigungsgründen für die widerrechtliche Handlung. Denn so, wie der Entschluß, einen Feind, mit dem man sich im Schiffbruch auf einem schmalen Brette befände, lieber in die See zu stoßen, als unvermeidlich selbst unterzugehen, zwar nie gerechtfertigt werden, wohl aber (weil in der äußersten Not schon Heldenmut dazu gehört, sich bloß von Pflichtbegriffen leiten
Friedrich Gentz studierte – auf Betreiben Kants – von 1783 bis 1785 an der Königsberger Universität, wo er Kants Vorlesungen besuchte und sogar in den engeren Studentenkreis Kants aufgenommen wurde. Vgl. Kants Äußerung im Brief an Moses Mendelsohn, AA X, S. 344 sowie Zimmermann 2012, S. 22– 24 und Sweet 1970, S. 6 f. m. w. N. Gentz wird daher nicht nur Kants Vorlesung über das „Naturrecht nach Achenwall“ aus dem Sommer 1784 gehört haben, sondern vielleicht sogar bei Mittagsrunden oder im persönlichen Gespräch die Kantischen Naturrechtskonzeption kennengelernt haben. Es ist eben jene Naturrechtskonzeption der Feyerabendnachschrift, in der Kant die Widerstandsproblematik als casus necessitatis ausweist. Dass Gentz sich dieser Konzeption verschrieben hat, zeigt nicht zuletzt die Verteidigung der Kantischen Position gegenüber Justus Möser in seiner ersten Publikation von 1791, vgl. Gentz, Über den Ursprung und die obersten Prinzipien des Rechts und hierzu Pirler 1980, S. 6 – 13; Mann 1972, S. 25 und Vorländer 1964, S. XXXII. Es ist daher wahrscheinlich, dass Gentz die Lehre vom Notrecht (so zustimmend Hruschka 1991, S. 10 mit Fn. 35) und deren Anwendung auf das Problem tyrannischer Gewaltherrschaft von Kant übernahm. Dies wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass Gentz unter Einfluss von Burke hernach kritisch gegenüber Kant argumentierte. Denn zum einen stand Gentz in Nachfolge Burkes als heftiger Gegner eines Widerstandsrechts der Revolutionsbewegung noch kritischer gegenüber als Kant (vgl. Gentz, Über die Moralität der Staatsrevolutionen und dazu Pirler 1980, S. 56 – 63). Zum anderen mahnt Gentz‘ vorliegende Replik auf Kants Gemeinspruch (Gentz, Über das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis) vor allem eine stärkere Bedeutung der Erfahrung für die politische Praxis an und wandte sich hiermit gegen eine rein rationale Rechts- und Staatsbegründung, vgl. hierzu nur Henrich 1967, S. 20 – 25, Zimmermann 2012, S. 81– 85 und Pirler 1980, S. 56 – 63 sowie S. 72– 88. Wenn Gentz nun das Kantische Widerstandsverbot damit verteidigt, dass „die reine Theorie des Rechts […] wirklich keine Stelle [hat], wo der Begriff einer Rebellion geduldet werden könnte“ (ebd., S. 105), so pflichtet er hierin Kant ausschließlich bei. Seine Kritik an Kant ist hiermit noch gar nicht in Anschlag gebracht. Diese erfolgt erst später, wenn er als Prinzip politischer Erfahrung fordert, dass ein Staat so eingerichtet werden müsse, dass gar nicht erst das Bedürfnis nach einer Revolution entstehe. Vgl. ebd., S. 107– 109 und dazu Henrich 1967, S. 23 f. Mithin spricht vieles dafür, dass uns durch Gentz in der nachfolgenden Passage eine genuin Kantische Position überliefert ist.
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zu lassen) Entschuldigung finden wird, ebenso bleibt es zwar immer unrechtmäßig, kann aber für sehr verzeihlich gelten, wenn eine durch Tyrannei aufs äußerste gebrachte Nation ihr Joch durch einen Aufstand abschüttelt. Da jedoch das, was man der Menschheit nachsieht, nie zur Regel in einem System der Rechte werden kann, dem Begriff des Rechts aber in der ganzen Staatstheorie nichts widersprechen darf, so muß es schlechterdings dabei bleiben: daß eine Rebellion gegen das rechtmäßige Oberhaupt, wäre sie gleich durch die unmenschlichste Bedrückung und durch die blutigste Tyrannei veranlaßt, eine unerlaubte Handlung ist.²⁵⁸
Fraglich bleibt allein, welche praktischen Konsequenzen all dies zeitigt: Was heißt es konkret, dass Widerstand „zwar immer unrechtmäßig [bleibt], […] aber für sehr verzeihlich gelten [kann]“? Müssen Revolutionäre nun stets vor Gerichten ungestraft bleiben, oder ist dies in das Belieben der Obrigkeit gestellt? Unzweifelhaft stehen nach Kant auf Widerstand gegen die Staatsgewalt im schlimmsten Fall Höchststrafen, insbesondere die Todesstrafe.²⁵⁹ Allerdings differenziert Kant hierbei nicht zwischen schlechthin unentschuldbarem Widerstand und Fällen eines möglichen casus necessitatis. Daher lässt sich die Zulässigkeit der Todesstrafe bei restriktiver Interpretation durchaus allein auf erstere Fälle beziehen, sodass es bei der grundsätzlichen Straffreiheit in Fällen entschuldigenden öffentlichen Notstands bleibt.²⁶⁰ Hier muss der Herrscher den Notstand anerkennen und den freiheitlichen Widerstand ungestraft lassen.²⁶¹ Freilich bleibt hierbei stets Gentz, Über das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis, S. 105 – 107. Vgl. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1391; ZeF, AA VIII, S. 382 sowie RL, AA VI, S. 319 f. und S. 334 f., wo neben der Todesstrafe auch die Möglichkeit der Landesverweisung (vgl. dazu ebd., S. 338) erwähnt wird. Hierfür spricht, dass Kant in Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1391 f. die Todesstrafe auf Widerstandshandlungen zunächst für zulässig erklärt („Todesstrafen würden nur auf Mord und auf laedirung des Imperantis fallen“), dann aber gerade im Fall öffentlich-rechtlichen Notstands gegen Tyrannei davon spricht, dass gegen die Selbsterhaltung „kein Gesetz […] möglich [ist], denn dieses Contradizirt sich selbst, denn sie können den Tod bloß drohen“. Jenseits dieser Fälle, in denen es nach den Notstandsregeln zu einer Entschuldigung und mithin Straflosigkeit kommen muss, scheint bei Kant das Begnadigungsrecht zusätzlichen Raum für eine fakultative Straffreiheit in Widerstandsfällen zu bieten. Zwar besteht bei Kant grundsätzlich eine Bestrafungspflicht, Amnestie ist daher unzulässig. Vgl. nur Kants eindringliches Beispiel in RL, AA VI, S. 333, wonach selbst im Falle der Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft zuvor alle verhängten Todesstrafen vollstreckt werden müssen. Vgl. zum Ausschluss der Begnadigung auch RL, AAVI, S. 337; Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1391; Refl. 7958, AA XIX, S. 565; Refl. 8093 und 8094, AA XIX, S. 588 f. Ausgenommen sind hiervon jedoch Majestätsdelikte (crimines laesae majestatis), also die Bestrafung von Verbrechen gegen den Herrscher. „Wo […] die Person des Gesetzgebers und sein Privatinteresse allein verletzt werden, mithin das privat-Interesse und nicht das Interesse des Staats concurrirt, da kann der Gesetzgeber nach seinem Willen die Verbindlichkeit erlassen, die er auferlegt.“ (MdS-Vigilantius, AA XXVII, S. 553). Steht nur die Verletzung eigener, statutarischer (und insofern willkürlicher) Rechte des Herrschers in Rede, so kann dieser auf seine Genugtuung durch die Strafe verzichten. Geht es hingegen um die Rechte
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die Obrigkeit selbst die maßgeblich Entscheidungsinstanz für die Anerkennung des entschuldigenden Notrechts.²⁶² Dennoch wird es hierdurch zumindest möglich – und das ist wohl der praktisch wichtigste Anwendungsfall –, im Falle einer gelungenen Staatsumwälzung die Straflosigkeit derjenigen Revolutionäre zu erklären, die sich zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit widersetzten.²⁶³ Dies ist von erheblicher Bedeutung, insofern es Kant hierdurch möglich wird, nachträglich im Rahmen der Strafbarkeit zwischen entschuldbaren und unentschuldbaren Widerstandshandlungen zu differenzieren. Der Widerständler, der für seine Handlung die moralische Selbsterhaltungspflicht (honeste vive) und damit immerhin eine ratio obligandi anführen kann, ist anders zu bestrafen, als der Widerständler, der allein aus Machtstreben oder anderen moralisch irrelevanten Motiven handelt. De facto wird dies freilich nur bei einer erfolgreichen Revolution relevant werden.²⁶⁴ Gleichwohl besteht zumindest theoretisch auch bei einer gescheiterten Revolution die Notwendigkeit, vor Gericht den entschuldigenden öffentlichen Notstand in den genannten Fällen anzuerkennen. In allen denkbaren Fällen ist jedoch einschränkend zu sagen, dass es sich hierbei niemals um eine moralische Notwendigkeit handelt.²⁶⁵ Außerdem ist Straflosigkeit nur dann zu gewähren, wenn die angedrohte Strafe der unmittelbar bevorstehenden Gefahr entspricht oder geringer ausfällt. Damit wird der Anwendungsbereich des öffentlichen Notstands erheblich eingeschränkt. Er kommt nur in Betracht, wenn bspw. der beim Tode verbotene Widerstand zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit erfolgt, hingegen nicht, wenn er nur der Erhaltung des eigenen Eigentums dient.²⁶⁶ Insbesondere würden häufig auch diejenigen Fälle ausscheiden, in denen der Widerstand zum Schutze Dritter erfolgt. Privater oder die Sicherheit des Volks, kann er die Bestrafung als notwendigen Ausdruck des vereinigten Volkswillens nicht unilateral aussetzen. Insofern ist eine Begnadigung von Widerstandshandlungen gegen einzelne positive Gesetze (insbesondere wenn diese ungerecht sind) zulässig, da diese allein die Person des Herrschers und sein Privatinteresse betreffen. So auch Unruh (1993), S. 200, der hieraus jedoch fälschlicherweise auf die Irrelevanz des Notrechts-Gedankens für die Widerstandsproblematik schließt. Vgl. dazu auch oben S. 393 f. Misslingt die Revolution, wird ein ungerecht herrschender Tyrann wohl kaum ein Notrecht anerkennen. Wie gezeigt stellt der Notstand ausschließlich eine nicht-moralische Vernunftlegitimation freiheitlichen Widerstands dar. Kommt es gleichwohl zur Bestrafung (z. B. mit dem Tode), so ist dies also weiterhin moralisch zulässig. Die Inkonsistenz bzw. die Unmöglichkeit einer äußeren Strafandrohung im Falle des casus necessitatis besteht zwar vor dem Urteil der Vernunft, ist aber kein moralisches Gültigkeits- oder Zulässigkeitskriterium. Anders verhielte es sich im letztgenannten Fall erst dann wieder, wenn die angedrohte Strafe dem Eigentumsverlust entspricht (etwa gewaltsame Enteignung) oder geringer ausfällt (z. B. Zahlung einer weniger belastenden Geldstrafe).
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Beispielhaft lässt sich hier Widerstand zugunsten von Schutzbefohlenen²⁶⁷ oder hilfsbedürftigen Dritten²⁶⁸ anführen, wo Kant trotz unechter Pflichtenkollision die Strafandrohung für die eigene Person regelmäßig wohl für hinreichend erachten würde.²⁶⁹ Letztlich muss jedoch die Antwort auf viele der hiermit angesprochenen Probleme spekulativ bleiben, da schlichtweg eine hinreichend belastbare Textgrundlage fehlt, um sämtliche Implikationen von Kants Lösung der Widerstandsproblematik über das Notrecht systematisch auszuarbeiten.
7.4 Zwischen Widerstandsverbot und „Enthusiasm der Rechtsbehauptung“ – Das Beispiel der Französischen Revolution Die Volksempörung, die Kant, Gentz und ihre Zeitgenossen gewiss am meisten bewegte, war sicherlich die Französische Revolution. Ihre Bedeutung für die Entwicklung der Kantischen Philosophie, gerade auch mit Blick auf Kants Lehre vom Widerstandsrecht, ist bereits Gegenstand umfangreicher Untersuchungen gewesen.²⁷⁰ Daher soll es vorliegend nicht darum gehen, Kants Haltung zur Französischen Revolution erneut grundlegend aufzuarbeiten, sondern sie als beispielhaft für seine Behandlung der Widerstandsproblematik, so wie sie bisher dargelegt wurde, auszuweisen.²⁷¹
Bei einer Bedrohung von Ehepartnern, Kindern und Gesinde kollidiert die Gehorsamspflicht mit materiell-rechtlichen Schutzpflichten aus auf dingliche Art persönlichen Rechten, vgl. RL, AA VI, S. 276 – 290. Hier kollidiert die Gehorsamspflicht mit der Tugendpflicht zur Beförderung fremder Glückseligkeit. Hierzu dürfte auch der in Gemeinspruch, AAVIII, S. 300, Fn. * geschilderte Fall zu zählen sein, wo es um die Auslieferung des eigenen Vaters geht, der eines Verbrechens gegen den Staat schuldig ist. Vgl. dazu oben S. 390 f. mit Fn. 243. Zuvorderst sind hier noch immer die Arbeiten von Burg 1974 und Losurdo 1987 zu nennen.Vgl. aber auch die einschlägigen Beiträge in Batscha 1976b und Karl-Marx-Haus 1988 sowie in jüngerer Zeit die überblicksartigen Darstellungen bei Unruh 1993, S. 28 – 34 und S. 206 f. und Winkler 2010, S. 165 – 168 sowie Kapitel 3 der Monographie von Langan 2012, jeweils m. w. N. Damit wird auch beansprucht, Kants Haltung zur Französischen Revolution systematisch erklären zu können. Interpretationen (insb. Losurdo 1987), die diese vordringlich auf eine inhaltliche Selbstbeschränkung Kants aus Rücksicht auf die preußische Zensur zurückführen, ist daher eine Absage zu erteilen. Es ist bei Kant allenfalls von einer „Praxis der Vorsicht“ (Unruh 1993, S. 36) auszugehen, die jedoch nicht die Authentizität und systematische Lauterkeit seiner Einlassungen zu dieser Thematik in Frage stellt. Vgl. dazu eingehend oben S. 29 – 31 m. w. N.
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7.4.1 Eine Revolution, die keine war, und eine Hinrichtung zum Zweck der Selbsterhaltung – Kants rechtliche Bewertung der Französischen Revolution In der Rechtslehre scheint Kant mit Blick auf das Widerstandsverbot überhaupt kein sonderliches Problem in der Französischen Revolution zu sehen; – nach Kant war sie nämlich gar keine Revolution: Es war also ein großer Fehltritt der Urtheilskraft eines mächtigen Beherrschers zu unserer Zeit, sich aus der Verlegenheit wegen großer Staatsschulden dadurch helfen zu wollen, daß er es dem Volk übertrug, diese Last nach dessen eigenem Gutbefinden selbst zu übernehmen und zu vertheilen; da es denn natürlicherweise nicht allein die gesetzgebende Gewalt in Ansehung der Besteurung der Unterthanen, sondern auch in Ansehung der Regierung in die Hände bekam […] mithin die Herrschergewalt des Monarchen gänzlich verschwand (nicht bloß suspendirt wurde) und aufs Volk überging, dessen gesetzgebenden Willen nun das Mein und Dein jedes Unterthans unterworfen wurde.²⁷²
Kant interpretiert hier die Abtretung der Steuergesetzgebung an die Generalstände als Abdankung des Königs. Laut Kant kam es mithin gar nicht zu einer Machtergreifung seitens des Volks, sondern zu einer Neukonstitution staatlicher Herrschaft durch die Nationalversammlung.²⁷³ Dies darf jedoch nicht als Zeichen Kantischer Revolutionsfreundlichkeit gedeutet werden. Kant ist angesichts der Französischen Revolution kein Iota von seinem Widerstands- und Revolutionsverbot abgerückt. Denn zum einen findet sich im Gemeinspruch und Zum ewigen Frieden keine solche Bewertung der Geschehnisse in Frankreich; vielmehr spricht Kant noch im Streit der Fakultäten explizit von der „Revolution eines geistreichen Volks“ und verurteilt „Elend und Greuelthaten“, die damit verbunden seien.²⁷⁴ Zum anderen stellt Kants Ablehnung eines konstitutionellen Widerstandsrechts eine unmittelbare Kritik an der – sonst hochgelobten –²⁷⁵ französischen Verfassung dar, die erstmals ein solches Widerstandsrecht einführte.²⁷⁶ Deutlichster
RL, AA VI, S. 341. Vgl. dazu ausführlich oben Kap. 7, Fn. 153 m. w. N. Vgl. statt vieler ebenso Henrich 1976, S. 363 f.; Kersting 1984, S. 327 sowie Unruh 1993, S. 206 f. Streit, AAVI, S. 85. Auch in Refl. 8077, AA XIX, S. 604 ist von einer Revolution und dem „damit verbundenen schrecklichen Übel und Greuel“ die Rede. Die französische Verfassung (und nicht mehr die englische) kommt für Kant dem republikanischen Ideal am nächsten, vgl. nur Gemeinspruch, AA VIII, S. 303 und Refl. 8077, AA XIX, S. 604– 607. Sowohl die Verfassung von 1791 (dort Art. 2), als auch die Verfassung von 1793 (dort Art. 35) räumten den Bürgern im Falle der Unterdrückung bzw. Rechtsverletzung durch die Regierung das Recht zum Widerstand ein. Letztere sprach sogar von einer Revolutionspflicht,vgl. dazu Hartmann
7.4 Das Beispiel der Französischen Revolution
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Beleg für Kants kritische Haltung gegenüber der Französischen Revolution ist jedoch seine Anmerkung zum Widerstandsverbot in der Rechtslehre. Auch hier gesteht er zu, dass „die E n t t h r o n u n g eines Monarchen doch auch als freiwillige Ablegung der Krone und Niederlegung seiner Gewalt mit Zurückgebung derselben an das Volk gedacht werden kann“. Gleichwohl hebt dies für ihn nicht die Verwerflichkeit revolutionärer Handlungen auf, denn Kant spricht vom „Verbrechen des Volks, welches sie [sc. die Abdankung] erzwang“. Dieses hat zwar: […] noch wenigstens den Vorwand d e s N o t h r e c h t s (casus necessitatis) für sich, niemals aber das mindeste Recht ihn, das Oberhaupt, wegen der vorigen Verwaltung zu strafen: weil alles, was er vorher in der Qualität eines Oberhaupts that, als äußerlich rechtmäßig geschehen angesehen werden muß […].²⁷⁷
Jede Anmaßung des Volks, über die Rechtmäßigkeit der Herrschaft zu urteilen und demgemäß zu strafen, ist und bleibt – vor wie nach einer Abdankung –²⁷⁸ kategorisch verboten. Jedoch ist bemerkenswert, dass Kant ausdrücklich vom „Vorwand d e s N o t h r e c h t s (casus necessitatis)“ spricht und vor diesem Hintergrund die Hinrichtung Ludwig des XVI. bewertet: Rechtlich ist es die „formale H i n r i c h t u n g “, welche „die mit Ideen des Menschenrechts erfüllte Seele mit einem Schaudern ergreift“, da sie „moralisch, der gänzlichen Umkehrung aller Rechtsbegriffe“ gleichkommt.²⁷⁹ Das eigentliche Rechtsproblem ist dabei nicht die Tötung des Königs als solche.²⁸⁰
2003, S. 66. Auch Kant hatte noch in den 1780er Jahren ein konstitutionelles Widerstandsrecht unter gewissen Bedingungen für möglich gehalten.Vgl. Refl. 8043, Refl. 8044 und Refl. 8046, XIX, S. 590 f. sowie Refl. 8051, AA XIX, S. 594 und dazu eingehend oben Kap. 7, Fn. 16. Dies ändert sich jedoch mit Beginn der Französischen Revolution. Nun hält Kant in sämtlichen Druckschriften wie auch nachgelassenen Notizen ein solches Widerstandsrecht für unmöglich. Da Kants Staatstheorie maßgeblich durch die Verfassungen von 1791 und 1793 beeinflusst worden zu sein scheint (vgl. dazu Burg 1974 und Losurdo 1987, S. 143 – 148), ist es nicht unwahrscheinlich, dass auch die Ablehnung eines konstitutionellen Widerstandsrechts als Auseinandersetzung mit und kritische Distanzierung von den französischen Revolutionsverfassungen zu sehen ist. Vgl. so auch Henrich 1976, S. 360 und wohl zustimmend Unruh 1993, S. 196 f., kritisch hierzu aber Berkemann 1972, S. 204– 230 und Kersting 1984, S. 318, Fn. 219. Zum Ganzen: RL, AA VI, S. 320 f., Fn. *. Wenn Kant in der zitierten Passage „das Verbrechen des Volks, welches sie [sc. die Abdankung] erzwang“ als rechtswidrig qualifiziert, so umfasst das Widerstandsverbot nicht nur die nachträgliche Bestrafung des Herrschers, sondern auch das vorhergehende Aufbegehren des Volks. RL, AA VI, S. 321, Fn. *. Vgl. ähnlich Spaemann 1976, S. 351 und Unruh 1993, S. 207.
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Der Grund des Schauderhaften bei dem Gedanken von der förmlichen Hinrichtung eines Monarchen d u r c h s e i n Vo l k ist also der, daß der M o r d nur als A u s n a h m e von der Regel, welche dieses sich zur Maxime machte, die H i n r i c h t u n g aber als eine völlige U m k e h r u n g der Principien des Verhältnisses zwischen Souverän und Volk […] gedacht werden muß, und so die Gewaltthätigkeit mit dreuster Stirn und nach Grundsätzen über das heiligste Recht erhoben wird […]. Man hat also Ursache anzunehmen, daß die Zustimmung zu solchen Hinrichtungen wirklich nicht aus einem vermeint-rechtlichen Princip, sondern aus Furcht vor Rache des vielleicht dereinst wieder auflebenden Staats am Volk herrührte, und jene Förmlichkeit nur vorgenommen worden, um jener That den Anstrich von Bestrafung, mithin eines r e c h t l i c h e n Ve r f a h r e n s (dergleichen der Mord nicht sein würde) zu geben […].²⁸¹
Kants Ausführungen zur Hinrichtung Ludwig des XVI. im Zuge der Französischen Revolution bewegen sich damit ersichtlich in den Bahnen der oben entwickelten Notstandslehre: Ein Recht zum Widerstand und mithin zur Bestrafung des Herrschers für materialiter begangenes Unrecht kann es nicht geben, weil dies – iure formaliter – dem Prinzip einer öffentlichen Gerechtigkeit gänzlich widersprechen würde. Gleichwohl ist die Hinrichtung insofern entschuldbar, als dass man sich „vorstellen [kann], sie geschehe vom Volk aus Furcht, er [sc. der König] könne, wenn er am Leben bleibt, sich wieder ermannen und jenes die verdiente Strafe fühlen lassen, und solle also nicht eine Verfügung der Strafgerechtigkeit, sondern bloß der Selbsterhaltung sein“.²⁸² Ohne dass hier explizit eine Unstrafbarkeit der Hinrichtung genannt würde, zeigt Kants Rede vom Vorwand des Notrechts sowie seine Argumentation über die Erhaltung der eigenen Person als Motiv des Widerstands, dass Kant die Situation als öffentlichen Notstand qualifiziert.²⁸³ Obgleich also für Kant die Einberufung der Generalstände eine Form legitimer Machtaufgabe bzw. -übertragung gewesen sein mag, unterliegen andere Revolutionshandlungen weiterhin dem Widerstandsverbot: Die formale Hinrichtung des Königs ist und bleibt nach striktem Recht verboten. Gleichwohl ist diese als Akt zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit Ausdruck eines casus necessitatis und unterliegt mithin den Regeln des entschuldigenden Notstands.
RL, AA VI, S. 322, Fn. *. RL, AA VI, S. 321. Auch Maus 1992, S. 110 rückt diese Passage zutreffend in den Kontext der Lehre vom casus necessitatis. Gleiches gilt für Scheffel 1982, S. 197– 204, der jedoch das Notrecht (m. E. systemwidrig) als ethisches Recht ausweist.
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7.4.2 „Übrigens, wenn eine Revolution einmal gelungen und eine neue Verfassung gegründet ist“ Übrigens, wenn eine Revolution einmal gelungen und eine neue Verfassung gegründet ist, so kann die Unrechtmäßigkeit des Beginnens und der Vollführung derselben die Unterthanen von der Verbindlichkeit, der neuen Ordnung der Dinge sich als gute Staatsbürger zu fügen, nicht befreien, und sie können sich nicht weigern, derjenigen Obrigkeit ehrlich zu gehorchen, die jetzt die Gewalt hat.²⁸⁴
Kant scheint hier einer erfolgreichen Revolution „postume Legitimität“²⁸⁵ zu verleihen, was freilich auch als eine indirekte Unterstützung der französischen Revolutionsregierung gedeutet werden kann.²⁸⁶ Allerdings kann eine Revolution als formaliter unrechtmäßiger Weg der Rechtsdurchsetzung niemals legitim sein. Was Kant hier zum Ausdruck bringen möchte, ist daher vielmehr, dass sich Staatlichkeit durch ein Gewaltmonopol und die damit verbundene Fähigkeit zur Rechtssicherung konstituiert. Legitimer Herrscher ist stets, wer die „u n w i d e r s t e h l i c h e Obergewalt“ besitzt, denn wer „nicht Macht genug hat, einen jeden im Volk gegen den andern zu schützen, [hat] auch nicht das Recht […], ihm zu befehlen“.²⁸⁷ Die Gehorsamspflicht der Untertanen besteht daher gegenüber der gegenwärtig vorhandenen Obrigkeit. Folglich schlägt sie in dem Moment um, in dem die alte Herrschaft entmachtet ist und sich die revolutionären Kräfte gleichzeitig als faktische Machthaber etablieren können. Mithin ist die Genese der Herrschaft für die staatsbürgerliche Gehorsamspflicht geltungstheoretisch irrelevant.²⁸⁸ Dies ist aus Kantischer Sicht nur konsequent: Wenn die Legitimität staatlicher Herrschaft und das entsprechende Widerstandsverbot von materiellen Gerechtigkeitsstandards unabhängig sind,²⁸⁹ kann nur nach Maßgabe des gegenwärtigen Gewaltmonopols bestimmt werden, gegenüber wem die staatsbürgerliche Gehorsamspflicht besteht. Kants indirekte Anerkennung der französischen Revolutionsregierung lässt sich mithin rein systematisch erklären. Denn nach erstmaliger Machtsicherung sind die
RL, AA VI, S. 323. Unruh 1993, S. 206. Vgl. so auch Spaemann 1976, S. 449 und Kersting 1984, S. 326 f. mit Fn. 229. ZeF, AA VIII, S. 382 f. Vgl. ebenso die Nachweise in Kap. 7, Fn. 161. Schon Hobbes, Leviathan, Review and Conclusion, §§ 8 f. spricht sich gegen eine historische Legitimation von Herrschaft aus, da dies für die Gehorsamspflicht irrelevant sei. Und auch nach Kant (RL, AA VI, S. 339 f.) ist es vergeblich, „[d]er G e s c h i c h t s u r k u n d e dieses Mechanismus nachzuspüren“. Denn für ihn ist klar, dass Staatlichkeit „mit der Gewalt angefangen haben“ wird. Vgl. im Ergebnis ebenso Kersting 1984, S. 325 f.; Steigleder 2002, S. 213 f. und Ripstein 2009, S. 334 f. Vgl. dazu ausführlich oben S. 358 – 372.
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revolutionären Kräfte der aktuelle Repräsentant des vereinigten Volkswillens, denen daher staatsbürgerlicher Gehorsam zu leisten ist. Umso befremdlicher erscheint dann allerdings Kants folgende Äußerung zur rechtlichen Stellung des gestürzten Monarchen. „Dem „entthronte[n] Monarch (der jene Umwälzung überlebt)“ stehe es frei: […] als Prätendent das Abenteuer der Wiedererlangung desselben [sc. des Staats], es sei durch ingeheim angestiftete Gegenrevolution, oder durch Beistand anderer Mächte, zu bestehen. Wenn er aber das letztere vorzieht, so bleibt ihm, weil der Aufruhr, der ihn aus seinem Besitz vertrieb, ungerecht war, sein Recht an demselben unbenommen.²⁹⁰
Diese Passage bereitet interpretatorische Probleme und wird – sofern sie überhaupt problematisiert wird –²⁹¹ von Kant-Interpreten nicht von ungefähr mit heftiger Kritik aufgenommen:²⁹² Wie kann es für den entthronten Monarchen ein Recht zur Restauration geben, wenn doch die neu etablierte Herrschaft unbedingten Gehorsam beanspruchen kann? Zugegebenermaßen wäre es ein zu eklatanter Widerspruch zum vorher Gesagten, wenn Kant hier dem entthronen Monarchen schlechthin die Restauration erlauben würde. Denn nicht nur in der Rechtslehre weist Kant die einmal etablierte, revolutionäre Herrschaft als legitim aus, sondern erklärt auch schon in Zum ewigen Frieden Restaurationsbemühungen explizit für unzulässig: „Wenn auch durch den Ungestüm einer von der schlechten Verfassung erzeugten Revolution unrechtmäßigerweise eine gesetzmäßigere errungen wäre, so würde es doch auch alsdann nicht mehr für erlaubt gehalten werden müssen, das Volk wieder auf die alte zurück zu führen […].“²⁹³ Dieses Restaurationsverbot bezieht sich jedoch nur auf den Fall einer vollständigen Staatsumwälzung, bei der die revolutionären Kräfte sämtliche Staatsmacht an sich reißen konnten. Hiervon zu
RL, AA VI, S. 323. Häufig fehlt erstaunlicherweise eine nähere Auseinandersetzung mit dieser Passage, vgl. etwa Byrd und Hruschka 2011, Ripstein 2009, Ludwig 1999 oder Westphal 1998 in den jeweils einschlägigen Abschnitten. Vgl. Unruh 1993, S. 206: „Als Inkonsistenz ist es hingegen zu werten, wenn Kant dem im Gefolge des legalen Machtübergangs entthronten Monarchen ein Recht auf Gegenaufruhr zur Wiedererlangung seiner Stellung zugesteht.“ Beinahe verzweifelt klingt die Aussage von Kersting 1984, S. 326 f., Fn. 229: „Diese Sätze stehen quer zu den ganzen übrigen staatsrechtlichen Äußerungen Kants; es ist unbegreiflich, wie Kant so etwas hat schreiben können.“ Vgl. kritisch auch Burg 1974, S. 200 f. und Zotta 2000, S. 220, Fn. 216. ZeF, AA VIII, S. 372. Vgl. auch ebd., S. 383: „[W]enn der Aufruhr dem Volk gelänge, [müsste] jenes Oberhaupt in die Stelle des Unterthans zurücktreten, eben sowohl keinen Wiedererlangungsaufruhr beginnen […].“
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unterscheiden ist es jedoch, „wenn ein Staat sich durch innere Veruneinigung in zwei Theile spaltete, deren jeder für sich einen besondern Staat vorstellt, der auf das Ganze Anspruch macht“.²⁹⁴ In dieser Passage aus Zum ewigen Frieden äußert sich Kant eigentlich zur Zulässigkeit von Interventionen fremder Staaten im Falle innerer Unruhen. Gleichwohl wird deutlich, dass Revolutionen letztlich auch zu einem Nebeneinander zweier selbstständiger Teil-Staaten führen können, die beide Anspruch auf die Alleinherrschaft über den Gesamtstaat erheben. Es ist dies auch der einzige Fall, „wo einem derselben [sc. der zwei Staaten, P.-A. H.] Beistand zu leisten einem äußern Staat nicht für Einmischung in die Verfassung des andern (denn es ist alsdann Anarchie) angerechnet werden könnte“. Wenn zwar teilweise von der Neugründung eines Staates, mit Bezug auf die Gesamtherrschaft jedoch von einem fortdauernden Bürgerkrieg gesprochen werden kann, scheint Kant so etwas wie ein Herrschaftsvakuum zu kennen. Davor und danach (d. h., wenn eine der streitenden Parteien die faktische Gesamtherrschaft noch bzw. schon erfolgreich beanspruchen kann) ist jegliche „Einmischung äußerer Mächte Verletzung der Rechte eines nur mit seiner innern Krankheit ringenden, von keinem andern abhängigen Volks“.²⁹⁵ Angesichts dessen erscheint der in der Rechtslehre geschilderte Fall zulässiger Restauration eindeutig bestimmbar und eng begrenzt. In der eingangs zitierten Passage räumt Kant dem Thronprätendenten zum Zwecke der Wiederherstellung der alten politischen Verhältnisse einerseits die Gegenrevolution, anderseits aber den „Beistand anderer Mächte“ ein.²⁹⁶ Letzterer ist jedoch – nach Maßgabe der Ausführungen in Zum ewigen Frieden – allein zulässig, insofern sich in Folge der anfänglichen Revolution ein zwischenzeitliches Nebeneinander zweier selbstständiger Teil-Staaten ergeben hat. Nur zu diesem Zeitpunkt eines Kräfte-Patts der Kontrahenten (gleichsam ein Interregnum) ist dem entthronten Monarchen die Rückeroberung der ursprünglichen Gesamtherrschaft erlaubt. Folglich bleibt es im Falle einer vollständigen, erfolgreichen Staatsumwälzung auch hier beim strikten Restaurationsverbot.
ZeF, AA VIII, S. 346. Zum Ganzen: ZeF, AA VIII, S. 346. Vgl. ähnlich RL, AA VI, S. 344, wonach sich Staaten „einander nicht in die einheimische Mißhelligkeiten derselben“ mischen dürfen. RL, AA VI, S. 323.
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7.4.3 Die Französische Revolution als Ausdruck der moralischen Anlage im Menschen? Unabhängig von Kants rechtlicher Bewertung der Französischen Revolution scheint sein kategorisches Widerstandsverbot in jedem Fall in einem deutlichen Spannungsverhältnis zu seiner allgemeinen Sympathie für die Geschehnisse in Frankreich zu stehen. Seine grundlegende Zustimmung zu den politischen wie rechtlichen Idealen der Französischen Revolution wird nicht nur durch viele Aussagen Kants, sondern auch durch die systematischen und programmatischen Parallelen seiner Rechtsphilosophie belegt.²⁹⁷ Beispielsweise lobt Kant die Französische Republik als Organisation, in der „jedes Glied […] nicht bloß Mittel, sondern zugleich auch Zweck“ ist,²⁹⁸ und spricht mit Blick auf die Revolution vom „Enthusiasm der Rechtsbehauptung“ als Ausdruck „eine[r] moralische[n] Anlage im Menschengeschlecht“.²⁹⁹ Es erscheint daher unbegreiflich, wie Kant einerseits Revolutionen als moralisch verwerflichen Widerstand gegen die Obrigkeit qualifizieren, sich dann aber andererseits für die Französische Revolution – gerade auch in moralischer Hinsicht – so begeistern kann.
7.4.3.1 Verbietet die Moral die Revolution und treibt dennoch dazu an? Liegt hierin ein innerer Widerspruch in Kants Denken? Oder hat sich seine ablehnende Haltung zu freiheitlichem Widerstand angesichts der Französischen Revolution geändert? Letzteres erscheint angesichts der bisherigen Ergebnisse ausgeschlossen (oder zumindest äußerst unwahrscheinlich). Textlich belegen das Kants Ausführungen in Gemeinspruch, Zum ewigen Frieden sowie in der Rechtslehre, die zeitlich nach der Französischen Revolution datieren und in denen Kant das kategorische Widerstandsverbot ausdrücklich aufrechterhält. Dabei offenbart Kants Argumentation eine erstaunliche inhaltliche Kontinuität in seinem Rechtsdenken. Bereits in vorkritischer Zeit unterscheidet Kant zwischen formellem Recht und materiellem Recht,³⁰⁰ unterlegt dieser Differenzierung in der Folge eine genuin autonomietheoretische Begründung und rekurriert hierauf zur
Dies ist bereits vielfach untersucht worden, vgl. nur die einschlägigen Passagen bei den oben (Kap. 7, Fn. 270) genannten Autoren. Einen konzisen Überblick liefern insbesondere Fetscher 1976, S. 272– 276 sowie Unruh 1993, S. 28 – 34, jeweils m. w. N. KdU, AA V, S. 375, Fn. *. Streit, AAVII, S. 85 f. mit Fn. **.Vgl. auch Kants beifällige Äußerung in Religion, AAVI, S. 188, Fn. *. Vgl. die Nachweise in Kap. 6, Fn. 211 und Kap. 7, Fn. 89.
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Rechtfertigung des kategorischen Widerstandsverbots.³⁰¹ Daher sind die unbedingte Notwendigkeit des Staates und – korrespondierend – das strikte Widerstandsverbot derart eng mit dem Kantischen Autonomietheorem verwoben,³⁰² dass sie als zentrale Theorieelemente von Kants politisch-praktischer Philosophie zu qualifizieren sind. Mithin beruhen sie auf theoretischen Erwägungen Kants, die sich nicht nur über einen Zeitraum von 30 Jahren nachzeichnen lassen, sondern gerade angesichts der Französischen Revolution ihre Bekräftigung finden.³⁰³ Nicht zuletzt wird dies dadurch belegt, dass der Notrechtsgedanke erstmals 1784 in der Naturrechtsvorlesung Feyerabend als Entschuldigungsgrund auftaucht und dann in der Rechtslehre von 1797 gerade im Hinblick auf die Französische Revolution wieder aufgegriffen wird. Wenn Kants Begeisterung für die Französische Revolution also nicht mit einer Abkehr vom Widerstandsverbot einhergeht, wie lässt sie sich dann – gerade auch in moralischer Hinsicht – erklären? Wegweisend ist hierbei Kants Aussage im Streit der Fakultäten: Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greuelthaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie zum zweitenmale unternehmend glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde, – diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemüthern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine T h e i l n e h m u n g dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann.³⁰⁴
Den Enthusiasmus der Zuschauer der Französischen Revolution bewertet Kant als Geschichtszeichen, welches die moralische Tendenz des Menschengeschlechts beweist und Indiz für den geschichtlichen Fortschritt hin zum Besseren ist.³⁰⁵ Stellen wir die geschichtsphilosophische Dimension für einen Moment hintan,³⁰⁶ stellen sich im Hinblick auf die Französische Revolution zunächst zwei Fragen: Was ist die moralische Anlage? Und durch welche Handlungen drückt sie sich aus
Vgl. oben S. 354– 358. Vgl. hierzu eingehend oben S. 222– 227. Auch die Reflexionen, in denen Kant zwischenzeitlich ein konstitutionelles Widerstandsrecht in engen Grenzen anerkennt, stellen dies nicht in Frage. Denn gerade nach Ausbruch der Französischen Revolution nimmt Kant wieder von solchen Erwägungen zugunsten eines strikten Widerstandsverbots Abstand. Vgl. dazu oben Kap. 7, Fn. 16 und 276. Streit, AA VII, S. 85. Vgl. Streit, AA VII, S. 79 und S. 84– 89. Vgl. dazu sogleich unten S. 413 – 419.
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bzw. realisiert sie sich? Im Streit der Fakultäten bezieht Kant die moralische Anlage auf das gesamte Menschengeschlecht, was hier allerdings allein an der geschichtsphilosophischen Fragestellung nach dem Fortschritt der Menschheit liegt.³⁰⁷ Zweifellos ist die moralische Anlage laut Kant auch individuell instanziiert, obgleich sie jeweils unterschiedlich stark ausfallen mag.³⁰⁸ Dabei betrifft die moralische Anlage nicht die Sittlichkeit schlechthin.³⁰⁹ Vielmehr verweist Kant hiermit – gerade auch im Hinblick auf die Französische Revolution – auf das Recht und das notwendige Bedürfnis der Menschen, unter republikanischen Verhältnissen zu leben: Diese moralische einfließende Ursache ist zwiefach: erstens die des R e c h t s , daß ein Volk von anderen Mächten nicht gehindert werden müsse, sich eine bürgerliche Verfassung zu geben, wie sie ihm selbst gut zu sein dünkt; zweitens die des Z w e c k s (der zugleich Pflicht ist), daß diejenige Verfassung eines Volks allein an sich r e c h t l i c h und moralisch-gut sei, […] welche keine andere als die republicanische Verfassung, wenigstens der Idee nach, sein kann […].³¹⁰
Wie Kants Zusatz, „wenigstens der Idee nach“, deutlich macht, steht dabei das praktische Ideal einer respublica noumenon im Vordergrund und nicht der tatsächliche Staat als approximative Annäherung an dieses Ideal. Die moralische Anlage bezieht sich also primär auf das Recht auf bzw. das Bedürfnis nach einer republikanischen Regierungsart.³¹¹ Deutlich schwieriger ist die Antwort auf die zweite Frage nach den Handlungen, durch welche die moralische Anlage ihren Ausdruck findet. Im Streit der Fakultäten nennt Kant hier lediglich die Anteilnahme des Publikums an der Vgl. Streit, AA VII, S. 84 f. Kants pragmatischer Grund hierfür ist, dass eine individuelle Betrachtungsweise „eine nicht zu beendigende Aufzählung und Berechnung abgeben [würde]“. Vgl. Streit, AA VI, S. 84, wonach der Einzelne „[b]ei der Mischung des Bösen aber mit dem Guten in der Anlage, deren Maß er [sc. der Mensch] nicht kennt, […] selbst nicht [weiß], welcher Wirkung er sich davon gewärtigen könne“. Vgl. zur moralischen Anlage im Einzelnen auch Religion, AA VI, S. 36 und S. 44– 53 sowie im Hinblick auf rechtliche und politische Verhältnisse ZeF, AAVIII, S. 355 und S. 375, Fn. *. In TL, AAVI, S. 435 und S. 438 wird sie sogar mit dem individuellen Gewissen gleichgesetzt. Vgl. diesbezüglich insb. Religion, AA VI, S. 36 und S. 44– 53. Streit, AA VII, S. 85 f. Vgl. Streit, AA VII, S. 90 f. und deutlich aus Perspektive der Bürger ebd., AA VII, S. 87, Fn. **: „Autokratisch h e r r s c h e n und dabei doch republicanisch, d. h. im Geiste des Republicanism und nach einer Analogie mit demselben, r e g i e r e n , ist das, was ein Volk mit seiner Verfassung zufrieden macht.“ Gleichwohl scheint Kant auch die Demokratie als Staatsform – wohlgemerkt aus pragmatischen, nicht moralischen Gründen – zu favorisieren, vgl. dazu ausführlich oben Kap. 6, Fn. 267.Vgl. i. Ü. zum Unterscheid zwischen Staat in der Idee und Staat in der Erscheinung oben S. 311– 319.
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Französischen Revolution, das „nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt“ ist.³¹² Bei genauer Betrachtung resultiert diese Beschränkung jedoch allein daraus, dass als „G e s c h i c h t s z e i c h e n (signum rememorativum, demonstrativum, prognostikon)“³¹³ nur ein solches empirisches Ereignis in Betracht kommt, bei welchem keine Zweifel an der moralischen Lauterkeit der Handelnden bestehen. D. h., bei dem es keine plausible, allein auf sinnlichen Beweggründen beruhende Erklärung für das Handeln gibt. Aus gewissermaßen rein epistemischen Gründen scheidet daher die Revolution selbst als Beweis der moralischen Anlage im Menschengeschlecht aus, denn die Revolutionäre könnten auch durch ein rein sinnliches Glückseligkeitsstreben motiviert sein.³¹⁴ Einen sicheren Hinweis auf die moralische Anlage können wir also nur bei unbeteiligten Zuschauern der Französischen Revolution erwarten, kurz: dem Publikum in Preußen. Sinnliche Motive für die Revolutionsbegeisterung scheiden hier aus, da diesem Publikum kein Vorteil erwächst.³¹⁵ Im Gegenteil, ihre Revolutionsbegeisterung ist mit Gefahr verbunden, sodass diese „keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann“.³¹⁶ Im Streit der Fakultäten erfahren wir damit lediglich, dass unter einer rein geschichtsphilosophischen Fragestellung die Revolution als solche kein sicheres Geschichtszeichen für eine moralische Anlage im Menschen sein kann. Ob die Revolution gleichwohl selbst moralisch motiviert sein kann, ist also noch nicht ausgemacht. Immerhin erfahren wir im sogenannten Reinschriftfragment „Loses
Streit, AA VII, S. 85, vollständig zitiert oben S. 407. Streit, AA VII, S. 84. Dieses ist eine erfahrbare Begebenheit, welche auf eine moralische Anlage zum geschichtlichen Fortschritt schließen lässt. Das Geschichtszeichen verweist auf ein Vermögen des Menschengeschlechts, „U r s a c h e [sc. und Urheber] von dem Fortrücken desselben zum Besseren […] zu sein“, und erlaubt dadurch, „auf das Fortschreiten zum Besseren als unausbleibliche Folge“ (ebd.) zu schließen. Vgl. Refl. 8077, AA XIX, S. 611 f., kursive Hervorhebung P.-A. H.: „Die (g Tendentz zum continuirenden) Fortschritt des Menschengeschlechts zum Besseren [ist also eine moralisch-practische Vernunftidee, deren objective Realität daß ihre Ausführung statthaft sey] kann also [erstlich] nur dann als wirklich eingetreten angenommen werden, wenn (g e r s t e n s :) hinreichende Zeichen da sind, daß gantze Völker innerlich zu Gründung einer Verfassung streben […]. Zweytens: wenn bewiesen werden kann, daß das Streben zu diesem Zweck nicht etwa bloße Wirkung der Naturanlage, nämlich (g auf) dem Verlangen zur Glückseeligkeit, (g gegründet) sonder Entwickelung der moralischen Anlage im menschlichen Geschlechte sey, welche jenen als Zweck a[n] sich selbst (nicht in der Qualität eines bloßen Mittels zu anderen Zwecken) zum Grunde hat.“ Glückseligkeitsstreben als leitendes Motiv ist damit ausgeschlossen. Kant betont in Streit, AA VII, S. 86, Fn. * vielmehr die Zufriedenheit des heimischen Publikums mit der Preußischen Verfassung und spricht sogar von „Liebe für dieselbe“. Inwiefern dies einer Zurückhaltung gegenüber der Preußischen Zensur geschuldet ist, mag dahingestellt bleiben. Streit, AA VII, S. 85, vgl. vollständig zitiert oben S. 407. Vgl. ebenso Recki 2005, S. 243.
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Blatt Krakau“, dass man zumindest in einer post-revolutionären Konstellation die Gelegenheit gleichsam beim Schopfe zu packen und aktiv auf eine Republikanisierung hinzuwirken habe. Laut Kant können „durch zufällige Anlässe moralische Anlagen zu Ideen[,] die in Menschen verborgen lagen[,] zur Thätigkeit aufgeweckt“ werden, welche dann „in Thätigkeit zu bessern Handlungen zu Annehmung Erweiterung und Stärkung besserer Grundsätze rege“ machen.³¹⁷ Sobald „sich Umstände eräugnen unter welchen sie Theilnahme an der Gesetzgebung in ihre Gewalt bekommen“, werden die Menschen „diesen Zustand begierig ergreifen und ihn festhalten und zwar aus moralischen Gründen weil er nicht allein Pflicht gegen Andere sondern eine noch höhere Pflicht gegen sich selbst (die Menschheit in ihrer Person) ist“.³¹⁸ Folglich kann sich die moralische Anlage im Menschen – jenseits einer rein geschichtsphilosophischen Betrachtung – nicht nur im unbeteiligten Zuschauer als Enthusiasmus ausdrücken. Sie enthält vielmehr die Pflicht, auf eine Republikanisierung hinzuwirken, wenn es durch zufällige Umstände bereits zu einer Staatsumwälzung gekommen ist. Liegt das Gemeinwesen ohnehin in Trümmern, so ist jeder verpflichtet, es in Kantischer Manier neu zu errichten. Wie Kants Verweis auf die Pflicht aus der Menschheit in der eigenen Person zeigt, begegnet uns hier wieder die innere Rechtspflicht des honeste vive. Als rechtlicher Mensch beweise ich mich gerade dadurch, dass ich die Republik verwirkliche.³¹⁹ Jedoch findet diese Pflicht zur Republikanisierung ihre Grenze im Widerstandsverbot, wie Kant allenthalben betont.³²⁰ Heißt dies aber auch, dass die moralische Anlage hier ihre Grenze findet? In einer ausführlichen Vorarbeit zum Streit der Fakultäten fragt Kant: „Was ist die Ursache dieses Zujauchssens zu den Siegen jener Nation? Daß diese auf dem Wege ist, diejenige constitution zu gründen, in der alle Nachbarn Friede […] zu erwarten haben und diesen Zustand […] als den einzig rechtlichen über alles hochschätzen […].“ In der Folge beschränkt sich Kant – anders als im Streit der Fakultäten – aber nicht auf die Revolutionsbegeisterung Außenstehender, sondern scheint das Aufkommen von Revolutionen selbst als Ausdruck der moralischen Anlage zu begreifen: Reinschriftfragment „Loses Blatt Krakau“, abgedruckt in Weyand und Lehmann 1959/1960, S. 5, kursive Hervorhebung P.-A. H. Reinschriftfragment „Loses Blatt Krakau“, abgedruckt in Weyand und Lehmann 1959/1960, S. 7, kursive Hervorhebung P.A.H, vollständig zitiert oben S. 259. Vgl. zum Krakauer Entwurf auch oben Kap. 6, Fn. 30 m. w. N.Vgl. ferner mit ähnlicher Bewertung der vorliegenden Passage Weyand und Lehmann 1959/1960, S. 9. Auch Brandt 1987, S. 216 spricht von einer Pflicht zur Republikanisierung im Falle einer bereits stattgefundenen Revolution.Vgl. hierzu unter Bezugnahme auf den Krakauer Entwurf auch Brandt 2003, S. 133 – 139 sowie jüngst in ausführlicher Auseinandersetzung mit honeste vive Brandt 2012, S. 345 – 352. Vgl. etwa Streit, AA VII, S. 86 f., Fn. ** a. E., vollständig zitiert unten S. 415.
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Man kan nicht voraussagen, daß es gelingen werde [aber doch] sondern nur, daß sie es versuchen und so oft versuchen werden, bis daß es doch einmal gelingen muß. Es ist in der menschlichen Natur eine Moralische Anlage für den Rechtsbegriff als eine über das Menschengeschlecht in seiner Verbindung herrschende, zu oberst Gebietende Gewalt. vor der sich alles zuletzt beugen muß. Es ist hier nicht von einer Person sondern von der [Idee des der natu] in der moralischen Anlage des Menschen befindlichen [Anlage] Idee des über alle Menschen (g innere) Gewalthabenden Rechts die Rede, und auch das nur darum, weil sie eine rechtliche Verfassung Gründet, dadurch der Krieg nach Grundsätzen verhindert wird, die ein bestandiges Fortschreiten zum Bessern wegen der republicanischen Verfassung begründet.³²¹
Während an dieser Stelle noch unklar bleibt, ob sich die innerlich gewalthabende Rechtsidee durch die Revolution selbst ausdrückt oder nur bei veranlassender Gelegenheit derselben zum Tragen kommt, werden etwaige Zweifel am ersteren kurze Zeit später eindeutig ausgeräumt. Kant betont, dass die Kriegsgräuel³²² „nicht von unten nach oben sondern von oben [herab abwerts] herabkommen und die Kriegssucht der Beherrscher, nicht die Wiederspenstigkeit des Unterthans, sie herbey führte“, und stellt dann klar: Diese aber und ihre Anmaßungen abzuwehren, ist nicht anders möglich als durch eine bessere aufs natürliche Recht innerlich im Staate (g selbst) getroffene Verfassung, weil, man mag (g den Einflus) der moralischen Anlage im Menschen (wie der Politiker pflegt) noch so niedrig anschlagen, [so ist] doch der Anspruch desselben [auf aus] auf Achtung für sein angebohrnes Recht so mächtig und unbezwinglich ist, daß er nicht ermangeln wird, bey vorkommender, ihm günstigen Gelegenheit Gewalt gegen Gewalt zu versuchen, ob er zwar sonst willig seyn möchte, das äußere bürgerliche [Gesetz] (aber nicht ganz willkührliche) Gesetz gehorsam zu befolgen. Diese Wiedersetzlichkeit entspringt selbst aus der moralischen Anlage im Menschen; aber statt den Fortschritt zum Moralisch-Besseren zu befördern, bringt sie (weil sie nur durch Veranlassende Gelegenheit aufgeregt worden) gewöhnlichermaßen den Rückgang ins Schlimmere hervor. ³²³
Diese belastbaren³²⁴ Äußerungen Kants scheinen prima facie in eklatantem Widerspruch zum kategorischen Widerstandsverbot zu stehen: Die Revolution bzw. die „Wiedersetzlichkeit entspringt selbst aus der moralischen Anlage im Men Zum Ganzen: Refl. 8077, AA XIX, S. 609, Einfügungen (g) und Durchstreichungen [ ] Kants. Es ist an dieser Stelle unklar, ob sich die von Kant benannten Gräuel auf den Krieg oder (kumulativ/alternativ) auf den zuvor genannten Verfall von Moralität und Staat beziehen. Zum Ganzen: Refl. 8077, AA XIX, S. 611, Einfügungen (g) und Durchstreichungen [ ] Kants; kursive Hervorhebung P.-A. H. Refl. 8077 umfasst 8 Seiten (vgl. AA XIX, S. 604– 612) und stellt, wie die fast durchgehende Ähnlichkeit in Inhalt und Argumentationsführung beweist, eine unmittelbare Vorarbeit zum Streit der Fakultäten dar. Sie gibt mithin nicht nur flüchtige Gedanken oder Anmerkungen Kants wieder, sondern ist – wie Kants Einfügungen (g) und Durchstreichungen [ ] belegen – Ergebnis mehrfacher theoretischer Reflexion und Überarbeitung.
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schen“! Hier ist weder von der wohlgefälligen Anteilnahme unbeteiligter Dritter noch von post-revolutionären Republikanisierungsbestrebungen die Rede. Der Widerstand selbst, der von Kant doch als schlechthin rechtswidrig charakterisiert wird, ist Ausdruck der moralischen Anlage im Menschen. Kant führt ihn sogar ausdrücklich auf das angeborene Recht des Menschen und den damit verbundenen Achtungsanspruch zurück. Die vermeintliche Widersprüchlichkeit zum Kantischen Widerstandsverbot lässt sich jedoch angesichts der bisherigen Ergebnisse auflösen. Das Widerstandsverbot ist Ausdruck der unbedingten Notwendigkeit eines bürgerlichen Zustands zur Rechtsdurchsetzung. Widerstandsverbot und korrespondierende staatsbürgerliche Gehorsamspflicht bestehen folglich iure formaliter. Die zur Widersetzlichkeit antreibende moralische Anlage ist hingegen nichts anderes als die innere Rechtspflicht des honeste vive, die mich als Rechtssubjekt nötigt, meine Rechtspersönlichkeit gegenüber anderen (d. h. auch gegenüber dem Staat) hochzuhalten und nicht widerspruchslos verletzen zu lassen.³²⁵ Dies ist die ursprüngliche, unveräußerliche Rechtsposition, die dem Menschen iure materialiter zukommt. Dass Ansprüche bzw. Pflichten des formellen und des materiellen Rechts kollidieren können, haben wir schon in der Behandlung der Widerstandsproblematik als casus necessitatis gesehen. Hier zeigte sich, dass materielle Rechte laut Kant stets durch das formalrechtliche Primat staatlicher Rechtsdurchsetzung bedingt sind.³²⁶ Wenn die innere Rechtspflicht und die staatsbürgerliche Gehorsamspflicht kollidieren, ist dies gleichwohl als entschuldigender, öffentlicher Notstand zu qualifizieren. Diese zweifache Bewertung freiheitlichen Widerstands findet nun eine indirekte Bestätigung in Kants Betrachtung der moralischen Anlage: Obgleich Widerstand gegen die Staatsgewalt formaliter stets rechtswidrig ist, kann er materialiter Ausdruck der moralischen Anlage des Menschen sein, d. h. seines Anspruchs (und seiner Verpflichtung), als rechtlicher Mensch in rechtlichen Verhältnissen zu leben und respektiert zu werden.³²⁷
Der Kant-Schüler Johann Benjamin Erhard (vgl. zu Person und Werk oben Kap. 6, Fn. 20) möchte hierüber sogar eine Pflicht zum Widerstand bzw. zur Revolution herleiten, vgl. Erhard, Über das Recht des Volks zu einer Revolution, S. 27, 48 und S. 50. Gleiches behaupten Oberer 2004, S. 207– 210 sowie Eppeneder 1980, S. 270 – 273 für Kant. Sie alle gehen damit jedoch über Kants eigene Theorie hinaus, insofern sie das formell-rechtliche Primat des Staates und die hieraus folgende Lösung der Widerstandsproblematik über das Notrecht übersehen. Vgl. ausführlich oben S. 372– 387. Eine unechte Pflichtenkollision hebt nicht die moralische Relevanz bzw. den moralischen Charakter des unterlegenen Verpflichtungsgrundes auf (vgl. S. 375 mit Fn. 178). Auch wenn dieser nicht zur Verpflichtung und damit zur konkreten Handlungsbestimmung hinreicht, ist er für die moralisch-praktische Handlungsbewertung relevant. Wenn Timmermann 2013b, S. 55 – 60 bei Konflikten zwischen Tugendpflichten zutreffend von einem „practical residue“ (praktischen
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7.4.3.2 Die geltungstheoretische Funktion der Geschichtsphilosophie Bisher ließen wir noch die geschichtsphilosophische Dimension außer Betracht. Jedoch eröffnet Kants Geschichtsphilosophie für sich genommen, aber gerade auch mit ihren Implikationen für das Kantische Rechtsdenken ein zu weites Feld, um vorliegend umfassend behandelt werden zu können.³²⁸ Mit Blick auf die Realisierung der moralischen Anlage im Menschen soll daher nur ein besonderer Aspekt im Fokus stehen: die geltungstheoretische Funktion der Geschichtsphilosophie. Kants fortschrittsoptimistische³²⁹ Geschichtsphilosophie weist „eine vollkommene bürgerliche Verfassung“ als Ziel des geschichtlichen Fortschritts aus. Diese ist „das äußerste Ziel der Cultur“,³³⁰ da nur im liberalen Verfassungsstaat Kantischer Prägung die größtmögliche Realisierung der menschlichen Naturanlagen möglich ist.³³¹ Fraglich ist dabei allein, wodurch sich dieser Fortschritt realisiert. Zum einen nennt Kant die „u n g e s e l l i g e G e s e l l i g k e i t der Menschen“,³³² d. h. den Naturantagonismus selbstsüchtiger, widerstreitender Zwecksetzungen, der ähnlich der Smith’schen invisible hand sukzessive zur Ausbildung von Kultur und Recht führt.³³³ Zum anderen ist der geschichtlich vorhersehbare Fortschritt nicht etwas, das dem Menschen rein äußerlich geschieht und ihn nolens volens zum bloßen Objekt der Geschichte macht. Wie Kant im Streit der Fakultäten pointiert formuliert, ist das Menschengeschlecht selbst „U r s a c h e von dem Fortrücken desselben zum Besseren und (da dieses die That eines mit Freiheit begabten Wesens sein soll) U r h e b e r desselben.“³³⁴ Der geschichtliche Fortschritt geschieht – insofern es Urheber ist – durch das Menschengeschlecht selbst und zwar – dies zeigt Kants Hinweis auf die Freiheitsbegabung – nach morali-
Überrest) genuin moralischer Natur spricht, so gilt dies in abgewandelter Form auch vorliegend: Obgleich Widerstand moralisch verboten ist, geht der Drang hierzu auf unterlegene, gleichwohl als Residuum verbleibende genuin moralische Gründe zurück. An dieser Stelle sei hierzu auf die Untersuchungen von Langer 1986; Kater 1999; Zotta 2000 und Horn 2014, S. 238 – 299 (jeweils m. w. N.) verwiesen, die sich gezielt dieser Fragestellung widmen. Vgl. zu Kants Betrachtung möglicher geschichtsphilosophischer Standpunkte Streit, AA VII, S. 81 f. Zum Ganzen: Anfang, AA VIII, S. 116 f., Fn. *. Vgl. ähnlich Idee, AA VIII, S. 22; KdU, AA V, S. 432 f. und Streit, AA VII, S. 87 f. und S. 90 f. Vgl. so auch Recki 2005, S. 233 f. und Unruh 1993, S. 57. Idee, AA VIII, S. 20. Vgl. nur Idee, AA VIII, S. 20 – 22; Gemeinspruch, AA VIII, S. 310 – 312 und Zum ewigen Frieden, AA VIII, S. 363 – 367. Streit, AA VII, S. 84.
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schen Gesetzen.³³⁵ Wie sich diese beiden Momente, Fortschritt durch naturkausale Entwicklung antagonistischer Neigungen und Fortschritt durch Freiheit nach moralischen Gesetzen, zueinander verhalten und ob sie sich überhaupt in eine einheitliche geschichtsphilosophische Konzeption integrieren lassen, kann vorliegend nicht beantwortet werden.³³⁶ In jedem Fall hat aber die Geschichtsphilosophie eine geltungstheoretische Funktion im Hinblick auf die Republikanisierung der rechtlichen Verhältnisse: Idealiter wird dem Leitbild einer respublica noumenon durch kontinuierliche Reformtätigkeit und republikanische Regierungsführung seitens des Souveräns Genüge getan. Wird dies jedoch versäumt, so wird sich im Laufe der Zeit die Republikanisierung als Ausdruck der moralischen Anlage des Menschen durch Revolution Bahn brechen. Doch zunächst eine kurze Rekapitulation des idealtypischen Falls, der sich weitestgehend schon aus dem bisher Gesagten ergibt: Die Idealität des ursprünglichen Vertrags, der die respublica noumenon als rechtlichen Idealzustand ausweist, konstituiert für den Herrscher die Pflicht zur Reform, d. h. zur sukzessiven Annährung der tatsächlichen Rechtsverhältnisse an den Idealtypus einer bürgerlichen Verfassung.³³⁷ Gleichwohl besteht hierbei aus Gründen der Staatsklugheit ein gewisser Ermessensspielraum, insofern äußere, kontin-
Dies scheint Kants Position insb. im Streit der Fakultäten zu sein.Vgl. ähnlich ebd., S. 83,wenn Kant von der „Vorhersagung freier Handlungen“ spricht, oder ebd., S. 85 f., wo die Rede von der „moralische[n] einfließende[n] Ursache“ und dem Enthusiasmus ist, der „immer aufs I d e a l i s c h e und zwar rein Moralische geht, dergleichen der Rechtsbegriff ist“. Gleichwohl lässt sich auch die Naturgarantie in ZeF an einigen Stellen in diesem Sinne lesen, vgl. etwa ebd., AA VIII, S. 368. Diese Frage wird in der Kant-Forschung äußerst kontrovers diskutiert. Bspw. spricht Deggau 1983, S. 300 f. von einer Aporie in Kants Denken. Gowans 1987, S. 134 meint, allein die Natur bewirke den Fortschritt, und Horn 2014, S. 276 spricht von einem „Geschichtsmechanismus“, der „einer invisible hand-Logik folgt und nicht der Moralität“. Umgekehrt nimmt Brandt 2003, S. 127– 140 an, Kant habe mit dem Streit der Fakultäten die naturteleologische Fortschrittskonzeption seiner vorherigen Schriften zugunsten einer moralischen aufgegeben. Vgl. hierzu jedoch kritisch Recki 2005. M. E. scheint Kant im Streit der Fakultäten beide Momente integrieren zu wollen, wenn er den Enthusiasmus für die Französische Revolution als Geschichtszeichen qualifiziert, das „eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren“ aufdeckt. Denn diese „allein [vereinigt] Natur und Freiheit, nach inneren Rechtsprincipien im Menschengeschlechte […], [konnte] aber, was die Zeit betrifft, nur als unbestimmt und Begebenheit aus Zufall verheißen“ (Streit, AA VII, S. 88, kursive Hervorhebung P.A.H). Vgl. Streit, AA VII, S. 92 f. mit Fn. *; RL, AA VI, S. 372 und S. 321 sowie im Ergebnis ähnlich Gemeinspruch, AAVIII, S. 304 f.Vgl. hierzu ferner oben S. 343 sowie stellvertretend nur Saage 1973, S. 46 – 53; Langer 1986, S. 81– 85 und Unruh 1993, S. 203.
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gente Umstände einer unmittelbaren Reform entgegenstehen können.³³⁸ Aber auch in diesem Fall verbleibt für den Herrscher stets die Pflicht zu einer republikanischen Regierungsführung.³³⁹ Der Reformpflicht des Herrschers entspricht spiegelbildlich eine Pflicht der Untertanen, an der Republikanisierung mitzuwirken.³⁴⁰ Diese erschöpft sich nicht im unbedingten staatsbürgerlichen Gehorsam, sondern gebietet, die durch den ursprünglichen Vertrag gesicherten Individualrechte nach Maßgabe der Freiheit der Feder gegenüber dem Herrscher geltend zu machen.³⁴¹ Insofern sich der Einzelne hierdurch gegenüber der Staatlichkeit als Rechtssubjekt behauptet, ist der Ruf nach Republikanisierung der Rechtsverhältnisse nicht nur ein natürliches Bedürfnis, sondern Ausdruck der inneren Rechtspflicht des honeste vive: ³⁴² Denn mit Freiheit begabten Wesen gnügt nicht der Genuß der Lebensannehmlichkeit, die ihm auch von Anderen (und hier von der Regierung) zu Theil werden kann; sondern auf das P r i n c i p kommt es an, nach welchem es sich solche verschafft. […] Ein mit Freiheit begabtes Wesen kann und soll also im Bewußtsein dieses seines Vorzuges vor dem vernunftlosen Thier nach dem f o r m a l e n Princip seiner Willkür keine andere Regierung für das Volk, wozu es gehört, verlangen, als eine solche, in welcher dieses mit gesetzgebend ist […]. Aber dieses Recht ist doch immer nur eine Idee, deren Ausführung auf die Bedingung der Zusammenstimmung ihrer M i t t e l mit der Moralität eingeschränkt ist, welche das Volk nicht überschreiten darf; welches nicht durch Revolution, die jederzeit ungerecht ist, geschehen darf.³⁴³
Wie Kants proviso zeigt, bleibt die Revolution stets unzulässiges Mittel der Rechtsbehauptung und Republikanisierung. Ungerechte Verhältnisse dürfen angemahnt werden, sind aber zu dulden. Dies ist angesichts des Umsetzungsermessens des Herrschers im Rahmen seiner Reformpflicht auch nur konsequent. Für beide Seiten, Herrscher und Untertan, ist daher mit Kant von „Erlaubnißgesetze[n] der Vernunft“ zu sprechen, „den Stand eines mit Ungerechtigkeit behafteten öffentlichen Rechts noch so lange beharren zu lassen, bis zur völligen Umwälzung alles entweder von selbst gereift, oder durch friedliche Mittel der Reife
Vgl. ZeF, AA VIII, S. 372: „Da nun die Zerreißung eines Bandes der staats- oder weltbürgerlichen Vereinigung, ehe noch eine bessere Verfassung an die Stelle derselben zu treten in Bereitschaft ist, aller hierin mit der Moral einhelligen Staatsklugheit zuwider ist, so wäre es zwar ungereimt, zu fordern, jenes Gebrechen müsse sofort und mit Ungestüm abgeändert werden […].“ Später (ebd., S. 373) wird dieser Gedanke auch auf das äußere Staatenverhältnis bezogen. Vgl. ähnlich Streit, AA VII, S. 85, Fn. * und Refl. 8077, AA XIX, S. 604. Vgl. ZeF, AA VIII, S. 372 und Streit, AA VII, S. 90 f. sowie hierzu bereits oben S. 314– 319. So auch Kersting 2004, S. 57. Vgl. dazu ausführlich oben S. 345 f. m. w. N. Dies zeigte auch schon die Bestimmung der moralischen Anlage, vgl. oben S. 410 f. Streit, AA VII, S. 86 f., Fn. **.
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nahe gebracht worden“ ist.³⁴⁴ Kommt es jedoch – ungeachtet des Erlaubnisgesetzes – überhaupt nicht zu einer freiwilligen, sukzessiven Annäherung der Herrschaft an das Leitbild der respublica noumenon (sei es durch Reform oder zumindest durch republikanische Regierungsart), weist Kants Geschichtsphilosophie aus, dass es zu einer Umwälzung der Verhältnisse wird kommen müssen: „Die Natur w i l l unwiderstehlich, daß das Recht zuletzt die Obergewalt erhalte. Was man nun hier verabsäumt zu thun, das macht sich zuletzt selbst, obzwar mit viel Ungemächlichkeit.“³⁴⁵ Jedoch ist es keineswegs nur der Antagonismus widerstreitender, eigennütziger Interessen, der dies bewirkt. Wie gezeigt kann auch die „Wiedersetzlichkeit […] selbst aus der moralischen Anlage im Menschen“ entspringen, weil der Anspruch auf Achtung individueller Freiheitsrechte unbezwingbar ist.³⁴⁶ Unabhängig davon, was letztlich zur Revolution antreiben mag, gelingt es Kant so, rechtliche Missstände à la longue in geschichtsphilosophischer Dimension einzuholen: Die Rechtsidee beansprucht unbedingte Geltung und wird sich nötigenfalls über kurz oder lang von selbst realisieren. Zum einen hat dies zur Folge, dass für den Herrscher nun neben die ohnehin bestehende moralische Pflicht zusätzlich pragmatische Gründe für eine Reformtätigkeit und republikanische Regierungsführung treten. Denn Kant spricht von „einer von der schlechten Verfassung erzeugten R e v o l u t i o n“.Wenn daher Revolutionen durch „die Natur von selbst herbei[ge]führt“ werden, sind sie laut Kant ein „Ruf der Natur […], eine auf Freiheitsprincipien gegründete gesetzliche Verfassung, als die einzige dauerhafte, durch gründliche Reform zu Stande zu bringen“.³⁴⁷ Auch Politik als reine Kunstaufgabe, die „viel Kenntniß der Natur erfordert, um ihren Mechanism […] zu benutzen“,³⁴⁸ kann nicht an der geschichtlichen Vorsehung vorbeiregieren. Will der Politiker Revolutionen vermeiden, so gebietet jenseits aller Pflicht allein die Staatsklugheit, das Volk mit seiner Verfassung bzw. seiner Regierungsart zufrie-
ZeF, AA VIII, S. 373, Fn. *. Auch hier zeigt sich die Bedeutung der doppelten Rechtsbetrachtung (formaliter/materialiter): Es muss erlaubt sein, materielles staatliches Unrecht zu ertragen, weil ansonsten das Primat des formellen Rechts (unbedingte Staatsnotwendigkeit und Ausschluss jeglicher Rechtsdurchsetzung gegen den Staat) nicht eingehalten werden könnte. Dieser Aspekt wird jedoch in den einschlägigen Beiträgen zum Erlaubnisgesetz übersehen. Vgl. zum Erlaubnisgesetz bereits oben Kap. 6, Fn. 117 und 140. ZeF, AA VIII, S. 367. Refl. 8077, AA XIX, S. 611 und dazu ausführlich oben S. 410 – 412. ZeF, AA VIII, S. 372 f. mit Fn. *. ZeF, AA VIII, S. 377.
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den zu machen.³⁴⁹ Eine „oberste bloß nach Klugheitsregeln verfahrende Gewalt“ ist daher nicht klug beraten, despotisch zu verfahren, denn [w]enn nicht etwas ist, was durch Vernunft unmittelbar Achtung abnöthigt (wie das Menschenrecht), so sind alle Einflüsse auf die Willkür der Menschen unvermögend, die Freiheit derselben zu bändigen; aber wenn neben dem Wohlwollen das Recht laut spricht, dann zeigt sich die menschliche Natur nicht so verunartet, daß seine Stimme von derselben nicht mit Ehrerbietung angehört werde.³⁵⁰
Zum anderen erlaubt die geltungstheoretische Funktion, die Kant der Geschichte für die Republikanisierung zumisst, einen neuen Blick auf die Widerstandsproblematik. Die Geschichte wird für Kant zum Vermittlungsmedium zwischen ungerechter Herrschaft und der Annäherung an das Ideal der respublica noumenon. ³⁵¹ Allerdings wird das strikte Widerstandsverbot hierdurch nicht abgemildert, da der geschichtliche Fortschritt zum liberalen Verfassungsstaat Kantischer Prägung nur der Gattung verheißen ist: „Nicht die indiuidua sondern die Gattung schreitet fort.“³⁵² Damit löst sich das rechtliche Ideal der Republik ein Stück weit von den sie eigentlich konstituierenden und legitimierenden individuellen Freiheitsrechten. Denn der Gattungsfortschritt lässt die konkrete Verletzung von Individualrechten unberührt und hilft dem Einzelnen in der Widerstandsfrage insofern nicht weiter.³⁵³ Allerdings scheint dies gerade die Pointe der Kantischen Position zu sein. Der moralische Fortschritt kann nicht auf die Widerstandshandlungen als solche ab-
Vgl. Streit, AA VII, S. 86, Fn. **, wonach allein „republicanisch […] r e g i e r e n , […] das [ist], was ein Volk mit seiner Verfassung zufrieden macht“. Vgl. i. E. ähnlich Refl. 8077, AA XIX, S. 611. Hierbei sei erneut auf den Wandel in Kants Staatsformenlehre hingewiesen. Erst seit der Rechtslehre betrachtet Kant jegliche Herrschaft ungeachtet ihrer Organisationsform als repräsentativ, sodass eine Staatsform bzw. Verfassung dem Leitbild der respublica noumenon nicht notwendig gerechter wird, als eine andere. Daher wirkt sich die Forderung nach einer Republikanisierung in Zum ewigen Frieden noch unmittelbar in einer Verfassungsänderung aus, wohingegen sie sich im Streit der Fakultäten lediglich auf eine republikanische Regierungsart bezieht. Vgl. dazu ausführlich oben S. 311– 320 mit Fn. 267. Gemeinspruch, AAVIII, S. 306. Aus diesem Grund kann Kant in ZeF, AAVIII, S. 370 – 386 auch die Einhelligkeit von Moral und Politik verteidigen, denn (ebd., S. 380) „[d]ie wahre Politik kann also keinen Schritt thun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben, und obzwar Politik für sich selbst eine schwere Kunst ist, so ist doch Vereinigung derselben mit der Moral gar keine Kunst; denn diese haut den Knoten entzwei, den jene nicht aufzulösen vermag, sobald beide einander widerstreiten. Dies ist eine in der Forschung häufig geteilte Überzeugung, vgl. die Nachweise in Kap. 1, Fn. 44. Opus postumum, AA XXII, S. 621. Vgl. ebenso Streit, AA VII, S. 83 – 85 und auch schon Idee, AA VIII, S. 18 f.; Gemeinspruch, AA VIII, S. 307– 310 sowie implizit ZeF, AA VIII, S. 360 – 368. Dies kritisieren etwa Klemme 2011, S. 50 f.; Recki 2006, S. 87 f.; Brandt 2007, S. 217 f. und Zotta 2000, S. 237.
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zwecken, wenn die Moral (i. e. das Widerstandsverbot) ebendiese verbietet. Anderenfalls wäre Kants Geschichtsphilosophie keine Philosophie der „S i t t e n g e s c h i c h t e “,³⁵⁴ welche die Reform nach moralischen Gesetzen als eigentlichen Weg der Rechtsentwicklung betrachtet. Erst indem bei Revolutionen der moralische Fortschritt auf die Gattung bezogen und damit jenseits der moralischen Bewertung individueller Widerstandshandlungen gedacht wird, lässt sich beides zusammenbringen. Denn hierdurch kommt es zu einem gewissen Grad zu einer Entindividualisierung und Entmoralisierung der Widerstandsproblematik: Obgleich die einzelnen Widerstandshandlungen der Revolutionäre moralisch verwerflich sind, kann Kant eine so etablierte bürgerliche Verfassung (ja sogar die Revolution selbst)³⁵⁵ im Hinblick auf die Gattung als natürliche Entwicklung der moralischen Anlage im Menschen begreifen. Diese Betrachtung auf Gattungsebene ist damit gleichsam das Komplement zur individuellen Entschuldbarkeit freiheitlichen Widerstands als casus necessitatis. Denn auch hier ist die iure formaliter eigentlich moralisch verwerfliche Widerstandshandlung auf einer anderen Betrachtungsebene (nämlich iure materialter) Ausdruck der moralischen Anlage, genauer der Pflicht zur Erhaltung der Rechtspersönlichkeit. Mithin bezieht sich die moralische Anlage im Menschen, die Kant im Hinblick auf die Französische Revolution in Anschlag bringt, letztlich auf nichts anderes als die dem Menschengeschlecht (und damit jedem Menschen) innewohnende Rechtsidee und das damit einhergehende Bedürfnis nach einer republikanischen Regierungsart. Mit Sicherheit (und damit als taugliches Geschichtszeichen) können wir von dieser moralischen Anlage nur sagen, dass sie im Enthusiasmus des unbeteiligten Publikums der Französischen Revolution zum Ausdruck kommt. Gleichwohl kann es sein, dass sie auch post-revolutionären Republikanisierungsbestrebungen und gar der Widersetzlichkeit der Revolutionäre selbst zugrundeliegt. Dies steht nicht im Widerspruch zum Kantischen Widerstandsverbot, sondern ist notwendige Folge von Kants doppelter Betrachtung des Rechts als formelles bzw. materielles Recht. Insofern sich die moralische Anlage im geschichtlichen Fortschritt entwickelt, fügt Kant der Widerstandsproblematik eine geschichtsphilosophische Dimension hinzu, die allein die menschliche Gattung in den Blick nimmt. Hierbei kommt der Geschichtsphilosophie für die Etablierung eines liberalen Verfassungsstaats Kantischer Prägung eine geltungstheoretische Funktion zu: Idealiter wird sich der moralische Fortschritt durch kontinuierliche Reformtätigkeit und eine republikanische Regierungsart des Herrschers realisieren. Geschieht dies jedoch nicht, weist Kants Geschichtsphilosophie gleichzeitig die revolutionäre Etablierung
Streit, AA VII, S. 79. Vgl. hierzu oben S. 410 – 412.
7.5 Kants Lehre vom Widerstandsrecht
419
einer bürgerlichen Verfassung als notwendige Entwicklung der Geschichte aus. Nur so kann Kant – allein mit Blick auf die Gattung – die Revolution als Ausdruck der moralischen Anlage im Menschengeschlecht begreifen.
7.5 Kants Lehre vom Widerstandsrecht Blicken wir zusammenfassend noch einmal auf Kants Haltung in der Widerstandsproblematik zurück: Die Untersuchung hat gezeigt, dass Kants Lehre vom Widerstandsrecht im Wesentlichen von einer einheitlichen Argumentation getragen ist. Denn obgleich Kant mehrere Argumente gegen ein Recht zum aktiven Widerstand anführt, rekurriert er dabei letztlich stets auf seine Souveränitätskonzeption. Danach kann die Begründung und Geltendmachung von Rechten ausschließlich durch den vereinigten Volkswillen erfolgen, deren Repräsentant die jeweils machthabende Herrschaft ist. Ein moralisches Recht zum aktiven Widerstand gegen den Herrscher verbietet sich danach. Gleichwohl kennt Kant mit der Freiheit der Feder, dem negativen sowie dem passiven Widerstandsrecht Formen der Widersetzlichkeit, die sich unterhalb der Schwelle des Widerstandsverbots bewegen und moralisch zulässig sind. Ferner konnten Zweifel an der Konsistenz der Kantischen Position hinsichtlich der Höherrangigkeit des Vernunftrechts gegenüber dem positiven Recht ausgeräumt werden: Dort wo Individualrechte positivrechtlich allererst konstituiert bzw. nachträglich überformt werden (erworbene Rechte und angeborene Rechte, sofern sie veräußerlich sind), lässt sich hierauf ein Widerstandsrecht nicht sinnvoll stützen, da diese Individualrechte in verbindlichkeitstheoretischer Hinsicht ohnehin vom Staat abhängen. Anders verhält es sich zwar bei den unveräußerlichen Rechten, d. h. dem unverfügbaren Kernbereich des inneren Mein und Dein. Doch obgleich diese Rechte materialiter vorstaatlich bestehen und in verbindlichkeitstheoretischer Hinsicht der staatlichen Normierungsbefugnis entzogen sind, hängt ihre formelle Geltung nichtsdestoweniger vom Staat ab. Ohne einen bürgerlichen Zustand, der Recht formaliter garantiert, kann ich mich – mit Blick auf die Kantische Souveränitätskonzeption – nicht in sittlich zulässiger Weise auf meine materiellen Rechte berufen. Hierin liegt keine Preisgabe der Höherrangigkeit des Vernunftrechts, vielmehr ist Staatlichkeit als Realisationsbedingung jeglichen Rechts selbst eine vernunftrechtliche Vorgabe. Letzteres behält auch im Fall (extrem) ungerechter Herrschaft seine Gültigkeit. Widerstandsverbot und korrespondierende staatsbürgerliche Gehorsamspflicht beziehen sich auf das formell-rechtliche Primat staatlicher Rechtsdurchsetzung. Ein rechtlicher Zustand liegt daher vor, sobald ein Herrscher die formale Möglichkeit der äußeren Adjudizierbarkeit und Durchsetzbarkeit von Rechten be-
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7 Das Problem des Widerstandsrechts
reitstellt. Hierfür ist allein das Bestehen einer faktischen Herrschergewalt maßgeblich, nicht jedoch die Wahrung materieller Gerechtigkeitsstandards (dies wäre nach Kant ein gerechter Zustand). Gegenteilige Überlegungen, wonach Formen extrem ungerechter Herrschaft eo ipso einen Rückfall in den Naturzustand bewirkten und Gewalt zur Wiedererrichtung eines rechtlichen Zustands erlaubten, konnten demgegenüber zurückgewiesen werden. Zum einen lässt sich eine solche Lesart textlich nicht rechtfertigen, da Kant sogar Tyrannei und Barbarei (als Formen extrem ungerechter Gewaltherrschaft) nicht die Staatsqualität abspricht und am Widerstandsverbot ihnen gegenüber festhält. Zum anderen sind das Vorhandensein wie auch die Legitimität der Staatlichkeit selbst genuin rechtliche Fragen, die – nach erstmaliger Etablierung eines bürgerlichen Zustands – ausschließlich durch den Staat bestimmt werden können. Ein individuelles Urteil des Untertanen hierüber wäre notwendig unilateral und formaliter unrecht. Auch wenn aktiver Widerstand hiernach in jedem Fall moralisch unzulässig ist, so sagt dies noch nichts über dessen Zulässigkeit als außerrechtliches Phänomen aus. Hier konnte gezeigt werden, dass Kant gerade in den Fällen (extrem) ungerechter Herrschaft eine unechte Pflichtenkollision zwischen der unbedingten staatsbürgerlichen Gehorsamspflicht und der bedingten Rechtspflicht zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit bejaht. Eine solche unechte Pflichtenkollision definiert Kant als Notstand (casus necessitatis) und wertet in diesem die gewaltsame Selbsterhaltung gegenüber tyrannischer Herrschaft als Ausübung eines Notrechts (ius in casu necessitatis), welchem Kant zwar den strikten Rechtscharakter abspricht, das aber entschuldigende (und somit strafbefreiende) Wirkung hat. Damit gelingt es Kant, die Widerstandsproblematik systematisch konsistent einer zweifachen Lösung zuzuführen: Strengrechtlich ist ein Recht auf gewaltsamen Widerstand auf dem Boden seiner Rechtslehre ausgeschlossen. Durch den Verweis auf einen casus necessitatis und das Vorliegen eines Notrechts behandelt Kant jedoch gleichzeitig freiheitlichen Widerstand als im strikten Sinne außerrechtliches Phänomen. Bestes Beispiel für die Plausibilität dieser Rekonstruktion der Kantischen Lehre vom Widerstandsrecht ist seine Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution. Sie zeigt zum einen, dass für Kant die Legitimität der Herrschaft allein am faktischen Gewaltmonopol hängt, nicht jedoch an der Genese der Herrschaft oder der Wahrung von Gerechtigkeitsstandards. Denn obgleich eine Revolution an sich rechtswidrig und moralisch verwerflich ist, weist Kant eine revolutionäre Herrschaft als legitim aus, sobald sie sich etablieren und das Gewaltmonopol beanspruchen kann. Zum anderen differenziert Kant am Beispiel der Französischen Revolution zwischen der Rechtswidrigkeit nach strengem Recht und der Entschuldbarkeit nach Maßgabe eines Notrechts: Kant kritisiert die Hinrichtung Ludwig des XVI. als rechtswidrige und moralisch verwerfliche Widerstands-
7.5 Kants Lehre vom Widerstandsrecht
421
handlung. Gleichwohl weist er sie als Akt des Volkes zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit aus, dem der Status eines Notrechts zukommt. Danach ist die Tötung des Monarchen zwar strengrechtlich verboten, aber dennoch aus Sicht Kants Ausdruck eines casus necessitatis und unterliegt mithin den Regeln des entschuldigen Notstands. Hieran fügt sich Kants Rede von der moralischen Anlage im Menschen an, die er im Hinblick auf die Französische Revolution in Anschlag bringt. Sie verdeutlicht zum einen die geltungstheoretische Funktion der Geschichtsphilosophie für die Etablierung eines liberalen Verfassungsstaats Kantischer Prägung. Zum anderen bestätigt sie indirekt den Notrechtsgedanken in der Widerstandsproblematik: Wenn die moralische Anlage auch post-revolutionären Republikanisierungsbestrebungen und gar der Widersetzlichkeit der Revolutionäre selbst zugrundeliegt, dann sind diese Ausdruck der inneren Rechtspflicht zur Wahrung der eigenen Rechtssubjektivität gegenüber ungerechter Herrschaft. Kollidiert diese mit der staatsbürgerlichen Gehorsamspflicht, ist dies laut Kant als entschuldigender, öffentlicher Notstand zu qualifizieren.
8 Resümee und Ausblick Nunmehr können wir zu der Frage zurückkehren, mit der diese Untersuchung ihren Anfang genommen hat: Kein Staat ohne Freiheit oder keine Freiheit ohne Staat? Und wir können mit Kant eine eindeutige Antwort auf diese Frage geben: Kants politische Philosophie ist in ihrem Kern liberal, denn jedem Menschen kommen auf Grund seiner Personalität, d. h. in seiner Eigenschaft als autonomes Vernunftwesen, ursprüngliche und unveräußerliche Freiheitsrechte zu. Gleichwohl ist der politische Liberalismus Kants staatlich gebunden, denn diese Freiheitsrechte können nur im und durch den Staat realisiert werden. Staatlichkeit ist daher als Koexistenzordnung autonomer und freier Wesen vernunftnotwendig geboten. Damit ist umgekehrt auch Kants Widerstandsverbot die konsequente Ausgestaltung seines eigenen liberalen Selbstverständnisses. Keine Freiheit ohne Staat! Im Folgenden möchte ich die wesentlichen Schritte rekapitulieren, die uns zu diesem Untersuchungsergebnis geführt haben: Kants Fundierung der Rechtslehre als Teil seiner kritischen Moralphilosophie (8.1 – Kapitel 3 und 4), seine hierauf aufbauende autonomietheoretische Staatsbegründung (8.2 – Kapitel 5 und 6) sowie Kants kategorische Ablehnung eines Widerstandsrechts als konsequente Ausgestaltung dieses kritischen Rechts- und Staatsverständnisses (8.3 – Kapitel 7). Im Anschluss hieran wird schließlich ein Ausblick auf die systematischen Implikationen dieser Kant-Interpretation gewagt, indem beispielhaft aufgezeigt wird, wie sich ein Recht auf Staatszugehörigkeit kantianisch begründen lässt (8.4).
8.1 Kants kritische Rechtsbegründung, oder: Der kategorische Imperativ als Prinzip des Rechts (Kapitel 3 und 4) Kants Sichtweise auf Gründe und Grenzen staatlicher Herrschaft lässt sich nur verstehen, wenn man Kants Rechts- und politische Philosophie als Teil seiner kritischen Moralphilosophie begreift. Ohne diese verliert Kants Rechts- und Staatsverständnis seinen verbindlichkeitstheoretischen Boden. Daher ist für die Verhältnisbestimmung von Freiheit und Staatlichkeit bei Kant die vorhergehende Verhältnisbestimmung von Recht und Ethik unumgänglich: Recht ist für Kant der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die freie Willkür des einen mit der aller anderen nach einem allgemeinen Gesetz vereinigt werden kann. Dem korrespondiert als subjektiv-rechtliche Ausprägung das angeborene Recht »Freiheit« „(Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes
DOI 10.1515/9783110530070-008
8.1 Der kategorische Imperativ als Prinzip des Rechts
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Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“.¹ Dieser rein begrifflichen Bestimmung des Rechts fehlt jedoch ohne eine autonomietheoretische Fundierung jegliche moralische Verbindlichkeit. Letztere resultiert erst aus dem Achtungsanspruch autonomer und damit notwendig selbstzweckhafter Vernunftwesen (Personen). Die „F r e y h e i t als M e n s c h nach dem angebohrnen Recht“ ist daher nichts anderes als der Anspruch, „nicht der Willkühr Anderer blos als Mittel unterworfen zu seyn“.² Erst durch diesen Rekurs auf die – aus der Autonomie von Personen resultierende – Selbstzweckhaftigkeit lassen sich innerhalb eines Kantischen Bezugssystems die kategorische Verbindlichkeit und apriorische Notwendigkeit des Rechts erklären. Als autonomes Vernunftwesen ist der Mensch Person. Seine Personalität (oder synonym: die Menschheit in seiner Person) begründet damit einen unbedingten Achtungsanspruch, der in ursprünglichen Rechten und Pflichten seinen Ausdruck findet: Honeste vive verpflichtet uns als innere Rechtspflicht dazu, ebendiese Personalität nicht aufzugeben und deren Wahrung von anderen einzufordern. Dies ist das ursprüngliche Recht der Menschheit in unserer Person. Umgekehrt gilt es auch, die Personalität des jeweils anderen zu wahren. Dies ist das ursprüngliche Recht der Menschen, namentlich oben genannte Freiheit. Sie in der Person des anderen zu achten, verlangt von uns das allgemeine Rechtsgesetz (neminem laede). Recht verlangt somit nichts anderes als die Zweckformel des kategorischen Imperativs, insofern dieser gebietet, „d i e M e n s c h h e i t […] e i n e s j e d e n a n d e r n […] n i e m a l s b l o ß a l s M i t t e l “ zu gebrauchen. Rechtliche Gebote und Pflichten formulieren damit die notwendigen Bedingungen für die Achtung der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen. Die hinreichenden Bedingungen werden erst durch die Gebote der Tugendlehre eingelöst, insofern erst diese verlangen, „d i e M e n s c h h e i t [ … ] j e d e r z e i t z u g l e i c h a l s Z w e c k “ zu gebrauchen.³ Diese Differenzierung lässt sich auf den kategorischen Imperativ in der Allgemeingesetz-Formel übertragen: Beim Recht (Wahrung der Selbstzweckhaftigkeit) geht es nur um die notwendigen Bedingungen für eine allgemeingesetzliche Maximenbestimmung. Der kategorische Imperativ als Prinzip des Rechts fordert daher lediglich die Tauglichkeit bzw. Eignung der Maxime zum allgemeinen Gesetz. Hierdurch werden keine bestimmten Maximen vorgeschrieben, sondern lediglich – insofern negativ – alle Handlungen ausgeschlossen, deren Maxime allgemeingesetzlich widersprüchlich ist. Erst in Ansehung von Tugendpflichten (Beförderung der Selbstzweckhaftigkeit) werden hinreichende Bedingungen für
RL, AA VI, S. 237. VA Gemeinspruch, AA XXIII, S. 136. Zum Ganzen: GMS, AA IV, S. 429.
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8 Resümee und Ausblick
eine allgemeingesetzliche Maximenbestimmung formuliert. Der kategorische Imperativ wird hierbei erweitert, insofern vernunftbestimmte Zwecksetzungen geboten sind. Er verlangt nun eine bestimmte Maxime in Ansehung der Zwecke zu verfolgen, die zu haben für jeden ein allgemeines Gesetz sein kann. Die in der Kant-Forschung häufig formulierten Bedenken gegen eine solche kritische Rechtsbegründung und eine Rückführung des Rechts auf den kategorischen Imperativ konnten im Laufe der Untersuchung zurückgewiesen werden. Gleichwohl möchte ich diesbezüglich nochmals zwei Punkte angesichts ihrer allgemeinen Bedeutung für die Kantische Philosophie herausstellen. Erstens: Der kategorische Imperativ verlangt nicht notwendig ein Handeln aus Pflicht bzw. aus Achtung für das Gesetz. Richtig ist vielmehr, dass er Pflichtbefolgung unangesehen des Handlungsmotivs verlangt. Dies kann ein Handeln um der Pflicht willen implizieren, muss es aber nicht. Dies wird deutlich, wenn man bedenkt, dass »autonom« bei Kant kein Handlungsprädikat ist. Es gibt keine autonomen Handlungen, weil Autonomie kein Prinzip der Pflichtenexekution durch reine praktische Vernunft ist (dies bezeichnet Kant mit Autokratie). Vielmehr ist »autonom« – insofern es sich auf den Willen bezieht – ein Prädikat von Gesetzgebungen. Autonomie und damit auch der kategorische Imperativ (als Prinzip der Autonomie) erschöpfen sich folglich allein in der Konstitution kategorischer Pflichten. Im Wesentlichen besteht der kategorische Imperativ also im Gebot: Tue X und zwar unabhängig davon, was Deine Handlungsmotivation ist! Damit ist Pflichtbefolgung kategorisch geboten, nicht jedoch eine sittliche Gesinnung. Zur Pflichtbefolgung gibt es nun verschiedene moralisch mögliche Formen der Nötigung bzw. Zwangsarten, da Kant den Pflichtbegriff als Nötigung (Zwang) zur Überwindung widerstrebender Neigungen bestimmt. Hiernach ist nur bei Tugendpflichten ein Handeln aus Pflicht erforderlich, da die Pflichterfüllung (Setzung des vernunftbestimmten Zwecks) notwendig moralischen Selbstzwang beinhaltet. Umgekehrt ist bei Rechtspflichten als Handlungspflichten zusätzlich äußerer Zwang durch pathologische Bestimmungsgründe der Willkür moralisch möglich. Angesichts des spezifischen Charakters von Rechtspflichten ist der kategorische Imperativ folglich gegenüber dem Handlungsmotiv indifferent, und folgerichtig lassen sich auch zwangsbewehrte Rechtsgebote aus dem kategorischen Imperativ ableiten. – Zweitens: Auch die physische Zwangsbefugnis beim Recht (i. S. v. vis absoluta) wird seit jeher als eines der Hauptargumente gegen eine kritische Rechtsbegründung Kants angeführt. Jedoch wird Zwang erst dadurch zu einem moralischen Problem, dass Kant die Rechtssubjektivität auf die Selbstzweckhaftigkeit der Person und damit auf seine kritische Moralphilosophie zurückführt. Sachen können beliebig gebraucht werden, jedoch allein gegenüber Personen als autonomen und notwendig selbstzweckhaften Vernunftwesen ist Zwang prima facie unzulässig. Recht formuliert die notwendigen Bedingungen zur Wahrung dieser
8.2 Warum autonome Wesen den Staat als Koexistenzordnung benötigen
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Selbstzweckhaftigkeit und bestimmt hierdurch einen »moralischen Schutzbereich«. Dieser ist durch das Recht jedoch nicht nur gewährleistet, sondern gleichzeitig auch allgemeingesetzlich eingeschränkt, sodass jenseits dieses Schutzbereichs die schützenswerte Persönlichkeit endet, Zwang mithin moralisch unproblematisch ist und keiner Begründung bedarf. Schließlich lässt sich vor diesem Hintergrund die hier vertretene Lesart gegenüber anderen Interpretationen abgrenzen: Abgelehnt wird zunächst jegliche unabhängigkeitstheoretische Lesart der Kantischen Rechtsphilosophie, da Kants Rechtsbegriff nach dem Gesagten nicht nur von seiner kritischen Moralphilosophie her verstanden werden kann, sondern ausgehend hiervon verstanden werden muss. Abgelehnt wird ferner auch eine moralteleologische Rechtsinterpretation, die das Recht des Einzelnen lediglich als Befugnis zur ethischen Pflichterfüllung versteht. Hiervon unterscheidet sich die vorgeschlagene Lesart deutlich, weil hiernach das Recht einen moralischen Schutzbereich schafft, ohne zu bestimmen, wie dieser Schutzbereich durch das Rechtssubjekt genutzt wird. Es verlangt bloß, den anderen nicht als Mittel zu gebrauchen, damit sich dieser nach seinen eigenen, mitunter auch kontingenten Zwecken bestimmen kann. Es lässt sich somit eher von einer verbindlichkeitstheoretischen Abhängigkeit des Rechts von Kants kritischer Moralphilosophie sprechen. Im Gegensatz zu anderen Vertretern einer solchen Lesart wird aber eine grundlegende „Trennung zwischen Moral und Recht“, welche „ein[em] immanente[n] Übergang von der Moralphilosophie zur Rechtsphilosophie“ entgegenstehe,⁴ bestritten. Vielmehr zeige ich die Einheit der kritischen Moralphilosophie Kants: Seine kritische praktische Philosophie hat zwar mit Rechts- und Tugendlehre zwei distinkte Disziplinen, jedoch rekurrieren diese gleichermaßen auf den kategorischen Imperativ als oberstes praktisches Prinzip.
8.2 Freiheit zum Staat – Warum autonome Wesen den Staat als Koexistenzordnung benötigen (Kapitel 5 und 6) Recht ist mithin Möglichkeitsbedingung für die Koexistenz von Personen, insofern es allgemeingesetzlich einen zu wahrenden, moralischen Schutzbereich formuliert. Gleichwohl bedarf es jenseits dessen noch der Etablierung eines bürgerlichen Rechtszustands, weil Staatlichkeit die sittlich notwendige Realisationsbedingung dieses Schutzbereichs ist. Denn im Naturzustand ist die Geltendmachung von Rechten aus autonomietheoretischen Gründen sittlich defizitär: Als autonome Person bin ich notwendig Zweck an sich und habe insofern materialiter unver-
So stellvertretend Kersting 1984, S. 30.
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8 Resümee und Ausblick
äußerliche, angeborene Rechte gegenüber anderen Personen. Gleichzeitig kann ich als autonomes Vernunftwesen den Anspruch erheben, formaliter nur im Wege der Selbstverpflichtung moralisch obligiert werden zu können. Nun ist das Recht laut Kant „das Vermögen, andere zu verpflichten“,⁵ mithin der Inbegriff der Fremdverpflichtung. Will ich nun unter Naturzustandsbedingungen mein Recht gegenüber anderen geltend machen, also ihnen gegenüber eine entsprechende Verbindlichkeit deklarieren, so können diese die rechtliche Verpflichtung nicht als autonome Selbstverpflichtung begreifen. Im Naturzustand ist rechtliche Fremdverpflichtung immer heteronom und damit moralisch defizitär. Die Lösung dieses Problems sieht Kant in der Etablierung eines bürgerlichen Zustands, insofern Kant den Staat in der Idee als den „vereinigten, a priori aus der Vernunft abstammenden Volkswillen“ vorstellt. Als Teil dieses vereinigten gesetzgebenden Willens aller legt sich das verpflichtete Rechtssubjekt stets mittelbar selbst die rechtliche Verbindlichkeit auf und findet hierdurch seine Freiheit „in einer gesetzlichen Abhängigkeit […] unvermindert wieder […], weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt“.⁶ Dabei beweist die Kantische Staatslegitimation erneut die Abhängigkeit von seiner kritischen Moralphilosophie, weil der Inbegriff einer systematischen Verbindung autonomer Vernunftwesen nach moralischen Gesetzen für Kant das Reich der Zwecke ist. Und genauso wie die Kantische Rechtsbegründung auf den negativen Aspekt der Zweckformel des kategorischen Imperativs zurückgeht, liegt dem Erfordernis einer systematischen Verbindung nach Rechtsgesetzen (d. h. Staatlichkeit) das Ideal eines »Reich des Rechts« zugrunde. Dies ist nichts anderes als das praktische Ideal einer respublica noumenon,verstanden als negative Implikation eines Reichs der Zwecke. Allerdings verlangt eine systematische Verbindung nach gemeinschaftlichen moralischen Gesetzen nach einer Instanz, welche zwischen der individuellen Autonomie und der intersubjektiven Verpflichtung durch allgemeingültige und reziproke Gesetze vermittelt. Im Reich der Zwecke leistet dies die Vorstellung eines Oberhaupts, d. i. eines einheitsstiftenden Gesetzgebers. Dieser ist für die respublica noumenon bzw. das »Reich des Rechts« nichts anderes als das staatliche „Oberhaupt (der Souverän)“, d. h. „ein (das gesammte Volk vorstellendes) G e d a n k e n d i n g “,⁷ welches durch den jeweiligen Machthaber des Staates in der Erscheinung (respublica phaenomenon) repräsentiert wird. Mithin entwickelt Kant den Gedanken, das autonomietheoretische Defizit des Naturzustands durch Etablierung eines bürgerlichen Zustands zu überwinden, im
RL, AA VI, S. 239. RL, AA VI, S. 316 RL, AA VI, S. 338.
8.2 Warum autonome Wesen den Staat als Koexistenzordnung benötigen
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Rekurs auf ein klassisches Lehrstück seiner kritischen Moralphilosophie. Entgegen anders lautender Interpretationen ist das Problem des Naturzustandes damit weder die anthropologisch anzunehmende Bosheit des Menschen noch die epistemische Unterbestimmtheit des Rechts noch eine a priori bestehende Rechtsunsicherheit. Vielmehr haben wir es bei Kant mit einer genuin moralischkritischen, autonomietheoretischen Staatsbegründung zu tun. Hiernach verlangt jedes vernunftrechtlich legitimierte Recht den Übergang in ein bürgerliches Gemeinwesen, da Rechte gegenüber anderen legitimerweise nur im und durch den Staat geltend gemacht werden können. Dass dies für angeborene und erworbene Rechte gleichermaßen gilt, zeigt eine genaue Analyse des Kantischen Gesetzgebungsbegriffs: Dessen Untersuchung macht deutlich, dass Kant mit dem Begriff Gesetzgeber primär nicht auf den Urheber des Gesetzes, sondern auf den Urheber der Verbindlichkeit nach dem Gesetz verweist. Gesetzgeber ist insofern, wer die Pflicht gegenüber dem Verpflichteten vorstellt und ihn zur Erfüllung der geschuldeten Pflicht bestimmt bzw. nötigt. Da nun – wie Kant vielfach betont – ausschließlich positive Gesetze einen Urheber haben, natürliche moralische Gesetze (seien sie Rechts- oder Tugendgesetze) hingegen nicht, kann das Autonomietheorem mit Blick auf moralische Gesetze nicht auf den Ursprung dieser Gesetze, sondern nur auf die Begründung der Verbindlichkeit bezogen werden. Selbstgesetzgebung bzw. autonome Gesetzgebung meint bei moralischen Gesetzen daher ausschließlich die Nötigung durch die eigene, reine praktische Vernunft, d. h. autonome Selbstverpflichtung. So verstanden ist Gesetzgebung im Naturzustand bereits in Ansehung angeborener Rechte sittlich defizitär. Denn macht ein anderer mir gegenüber sein angeborenes Recht »Freiheit« geltend, d. h. deklariert mir gegenüber die Pflicht und nötigt mich, diese zu wahren, so liegt eine äußere Gesetzgebung vor, die ich nicht als autonome Selbstgesetzgebung begreifen kann. Folglich verlangt bereits die Geltendmachung ursprünglicher, angeborener Freiheitsrechte und -pflichten nach einem bürgerlichen Zustand, der äußere Gesetzgebung im Staat – gemäß der Idee des vereinigten gesetzgebenden Willens aller – mittelbar als Selbstgesetzgebung begreifbar macht. Diesen Gedanken legt Kant auch in der Rechtslehre zugrunde, wie seine Darstellung des bürgerlichen Rechtszustands in den Ulpianischen praecepta iuris zeigt. Die in der Kant-Forschung häufig behauptete eigentumstheoretische Staatsbegründung stellt demgegenüber keine eigenständige, neue Argumentation vor. Vielmehr wendet Kant hier lediglich die allgemeine autonomietheoretische Staatsbegründung auf den besonderen Fall erworbener Rechte an. Hier wie dort geht es darum, dass die Begründung rechtsgesetzlicher Verbindlichkeiten nur als autonome Selbstverpflichtung möglich ist. Die Besonderheit im Falle erworbener Rechte besteht allein darin, dass hier eine a priori bestehende rechtsgesetzliche Zuordnung äußerer Gegenstände fehlt. Äußere Ge-
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8 Resümee und Ausblick
setzgebung erschöpft sich daher nicht in der Begründung einer Verbindlichkeit nach dem Gesetz, sondern erstreckt sich – zusätzlich – auf die Konstitution des Gesetzes selbst, da erworbene Rechte allererst positivrechtlich durch den Staat begründet und ausgewiesen werden müssen. Mithin kann man Kants Staatslegitimation nur richtig verstehen, wenn man die autonomietheoretischen Fundamente seiner Rechts- und politischen Philosophie freilegt. Diese manifestieren sich – wie sich anhand des Postulats des öffentlichen Rechts in § 42 der Rechtslehre zeigt – letztlich in Kants Unterscheidung zwischen materiellem und formellem Recht, durch die zwei verschiedene, vernunftrechtlich begründete Ansprüche zum Ausdruck kommen, die jeweils aus der sittlichen Autonomie des Einzelnen folgen: Als autonomem Vernunftwesen kommen einem unveräußerliche angeborene Rechte gegenüber anderen Personen zu. Dies ist die vernunftrechtliche Gewährleistung im materiellen Sinne. Gleichzeitig können autonome Vernunftwesen nur im Wege der Selbstverpflichtung moralisch obligiert werden. Angesichts einer Pluralität von Vernunftwesen bedarf die Geltendmachung und Durchsetzung von Rechten daher des Staates als Repräsentanten des vereinigten Volkswillens. Dies ist die vernunftrechtliche Gewährleistung im formellen Sinne, welche durch Kants Ausführungen zum Staatsrecht ihre systematische Entfaltung findet. Iure formaliter kann rechtliche Fremdverpflichtung danach nur unter Bedingungen von Staatlichkeit als autonome Selbstverpflichtung begriffen werden. Daher besteht formelles Unrecht – ungeachtet der Frage einer Verletzung materieller Rechtspositionen – bereits darin, dass dem Postulat des öffentlichen Rechts zuwidergehandelt wird. Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn Staatlichkeit (als die notwendige Bedingung für die formell-rechtlich geforderte synthetische Einheit aller freien Willkür) gewaltsam aufgehoben wird. Recht verlangt formaliter folglich nichts anderes als die Etablierung und Aufrechterhaltung eines rechtlichen Zustands. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich Kants Lehre vom Widerstandsrecht angemessen erklären.
8.3 „In der größten Tyranney ist doch eine Gerechtigkeit.“ – Warum Widerstand rechtswidrig ist und doch entschuldigt werden kann (Kapitel 7) Ein Rückbezug auf die Grundlagen der Kantischen Rechts- und politischen Philosophie ist für das richtige Verständnis des kategorischen Widerstandsverbots mithin unumgänglich: Gewaltsamer Widerstand ist nach Kant deswegen kategorisch verboten, weil jede Form von Staatlichkeit, selbst »ungerechte« staatliche Herrschaft, Realisationsbedingung und damit Ausdruck individueller Autonomie ist. Kommen dem Einzelnen aufgrund seiner sittlichen Autonomie Freiheitsrechte
8.3 Warum Widerstand rechtswidrig ist und doch entschuldigt werden kann
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zu, sind diese für Kant stets nur als Freiheit zum und Freiheit im Staat denkbar. Das Widerstandsverbot ist somit gerade durch Kants kritisches Verständnis von Recht und Staat vernunftnotwendig gefordert. Dabei lässt sich Kants Begründung des Widerstandsverbots auf seine Souveränitätskonzeption als zentralem Argumentationstopos zurückführen, genauer: auf die Notwendigkeit der Begründung und Geltendmachung von Rechten durch den vereinigten Volkswillen, deren Repräsentant die jeweils machthabende Herrschaft ist. Dabei ist im Detail zwischen veräußerlichen und unveräußerlichen Rechten zu differenzieren. Veräußerliche Rechte sind (potentieller) Gegenstand des äußeren Mein und Dein und hängen – insoweit sie positivrechtlich ausgestaltet werden müssen – in verbindlichkeitstheoretischer Hinsicht ohnehin vom Staat ab. Dies trifft nicht nur auf erworbene Rechte zu (z. B. Eigentumsrechte), sondern auch auf das angeborene Mein und Dein, insofern hierüber vertraglich verfügt werden kann (z. B. über den eigenen Willkürgebrauch im Rahmen eines Dienstvertrages).Wenn Staatlichkeit für die Begründung und Ausgestaltung dieser veräußerlichen Rechte notwendig ist, lässt sich hierauf schon e suppositione kein Widerstandsrecht gegen ebendiese Staatlichkeit stützen. Anders sieht es beim unveräußerlichen Kernbereich des inneren Mein und Dein aus, d. h. den „unverlierbaren Rechte[n] […], die er [sc. der Mensch] nicht einmal aufgeben kann, wenn er auch wollte“.⁸ Es sind dies die Rechte, denen die innere Rechtspflicht des honeste vive korrespondiert und die nach dem ursprünglichen Vertrag jenseits der staatlichen Normierungsbefugnis liegen. Diese Rechte bestehen allein qua Menschheit und sind insofern der Staatlichkeit verbindlichkeitstheoretisch vorgelagert. Allerdings betrifft dies nur die Frage der materiell-rechtlichen Begründung unveräußerlicher Rechte, nicht jedoch die Frage ihrer formell-rechtlichen Geltung. Denn wie im Rahmen der Kantischen Staatsbegründung deutlich wird, ist Staatlichkeit stets erforderlich, um sich in sittlich zulässiger Weise auf ebendiese materiellen Rechte berufen zu können, da eine äußere, rechtliche Gesetzgebung iure formaliter nur durch den vereinigten Willen aller autonomietheoretisch zulässig ist. Trotz der materiell-rechtlichen, vorstaatlichen Begründung natürlicher unverlierbarer Rechte besteht ein formellrechtliches Primat staatlicher Rechtsdurchsetzung. Anders gesagt: Der Erhalt der Staatsgewalt, die den vereinigten Volkswillen repräsentiert, ist juridisch unbedingt notwendig und muss im Konfliktfall Vorrang haben, weil das Individuum sich nur im und durch den Staat als Rechtssubjekt behaupten kann. Zur Wahrung seiner Rechte ein Widerstandsrecht gegen den Staat einzufordern, kommt folglich einem performativen Widerspruch gleich.
Gemeinspruch, AA VIII, S. 304.
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8 Resümee und Ausblick
Kants Lehre vom Widerstandsrecht erweist sich somit – entgegen häufiger Kritik – nicht nur in Ansehung seiner Vernunftrechtskonzeption als systematisch konsistent, sondern behält auch im Falle extrem ungerechter Herrschaft seine Gültigkeit. Anderslautende Interpretationen, wonach die Pervertierung der Herrschaft eo ipso einen Rückfall in den Naturzustand bewirke und Gewalt zur Wiedererrichtung eines rechtlichen Zustands erlaube, scheitern bereits textlich daran, dass Kant sogar Tyrannei und Barbarei (als Formen extrem ungerechter Gewaltherrschaft) nicht die Staatsqualität abspricht und am Widerstandsverbot ihnen gegenüber festhält. Dieser Befund lässt sich systematisch damit erklären, dass Kant das Vorliegen von Staatlichkeit selbst als Rechtsproblem behandelt. Ob ein rechtlicher Zustand gegeben ist oder nicht, ist daher eine genuin rechtliche Frage, sodass – nach erstmaliger Etablierung eines bürgerlichen Zustands – das Vorhandensein wie auch die Legitimität der Staatlichkeit ausschließlich durch den Staat bestimmt werden können. Nicht nur, dass es für ein individuelles Urteil des Untertanen hierüber an validen Entscheidungskriterien fehlt.Vor allem würde ein Urteil darüber, ob die machthabende Obrigkeit den allgemeingesetzgebenden Willen aller repräsentiert (mithin Souverän ist) oder nicht, notwendig formaliter unrecht sein und das Kantische Souveränitätsverständnis konterkarieren, da „es nicht nach dem Urtheil eines öffentlichen Richters geschieht“.⁹ Jegliche faktisch bestehende Herrschaft, ja selbst eine willkürliche Gewaltherrschaft, ist mithin formell-rechtlich als Repräsentation „des vereinigten, a priori aus der Vernunft abstammenden Volkswillens“¹⁰ zu interpretieren. „Wenn der Mensch am höchsten das Recht der Menschheit schützt, so wird er lieber alle Tyranney erdulden, als sich widersetzen. […] In der größten Tyranney ist doch eine Gerechtigkeit.¹¹ Dass Kant Widerstand gegen die Staatsgewalt als schlechthin rechtswidrig ausweist, sagt jedoch noch nichts über die Bewertung von Widerstand als außerrechtliches Phänomen aus. Wie gezeigt gelingt es Kant, das Notrecht als Entschuldigungsgrund für an sich rechtswidriges (und damit moralisch verwerfliches) Verhalten in der Widerstandsproblematik fruchtbar zu machen: Hiernach bleibt Gewalt zur Erhaltung der eigenen Person rechtlich verboten und kann dem Grunde nach beim Tode verboten werden. Da es aber „ein ungereimtes Gesetz [wäre], jemande[m] den Tod an[zu]drohen, wenn er sich in gefährlichen Umständen dem Tode nicht freiwillig überlieferte“,¹² muss Widerstand zur Erhaltung der eigenen Person als Notrecht entschuldigt werden. D. h., die Widerstandstat muss in einem solchen Fall aus nicht-moralischen Vernunftgründen ungestraft Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1392. RL, AA VI, S. 338. Naturrecht-Feyerabend, AA XXVII, S. 1392. Gemeinspruch, AA VIII, S. 300, Fn. *.
8.3 Warum Widerstand rechtswidrig ist und doch entschuldigt werden kann
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bleiben. Kant unterscheidet dabei zwischen dem Notrecht (ius in casu necessitatis bzw. favor necessitatis) und dem zugrundeliegenden Notstand (casus necessitatis), welchen er als unechte Pflichtenkollision zwischen bedingten und unbedingten Pflichten definiert. Genau eine solche Konstellation liegt in der Widerstandsproblematik beim Konflikt der Pflicht zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit (honeste vive) mit der unbedingten staatsbürgerlichen Gehorsamspflicht in all den Fällen vor, in denen die Integrität der eigenen Rechtspersönlichkeit entweder durch staatliche Gewaltherrschaft aufgehoben oder von ihr nicht mehr gewährleistet wird. Daher ist Widerstand zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit gegen den Tyrannen aus nicht-rechtlichen bzw. nicht-moralischen Vernunftgründen als Notrecht zu entschuldigen. Dies bestätigt sich schließlich in Kants Behandlung der Französischen Revolution, bei der er auch vom „Vorwand des Notrechts“ spricht.¹³ Sie bleibt nach striktem Recht moralisch verboten, obgleich die Revolution bzw. die „Wiedersetzlichkeit […] selbst aus der moralischen Anlage im Menschen [entspringt]“, weil der Anspruch des Menschen „auf Achtung für sein angebohrnes Recht so mächtig und unbezwinglich ist“.¹⁴ Wenn die innere Rechtspflicht zur Wahrung der eigenen Rechtssubjektivität und die staatsbürgerliche Gehorsamspflicht kollidieren, ist dies laut Kant als entschuldigender, öffentlicher Notstand zu qualifizieren. Jedoch machten Kants Ausführungen zur Französischen Revolution noch etwas Weiteres deutlich: Der Geschichtsphilosophie kommt mit Blick auf die Realisierung republikanischer Verhältnisse eine geltungstheoretische Funktion zu. Danach ist in geschichtlicher Perspektive gewiss: Die Rechtsidee wird über kurz oder lang Wirklichkeit werden. Kant setzt dabei – in Entsprechung zu seinem strikten Widerstandsverbot – eindeutig auf eine Rechts- und Staatsveränderung von oben, d. h. durch Reformen. Es ist vordringlich die moralische Pflicht des Herrschers auf die Realisierung der respublica noumenon (zumindest in seiner Regierungsführung) hinzuwirken. Doch ist er überdies auch klug beraten, so zu verfahren. Versäumt der Herrscher die moralisch gebotene Reform des Staatswesens, dann wird sich der Freiheitsanspruch der Bürger – so Kants Gewissheit in geschichtlicher Hinsicht – durch Revolution gewaltsam Bahn brechen. Mithin gelingt es Kant, die Widerstandsproblematik systematisch konsistent einer zweifachen Lösung zuzuführen. Dass das Widerstandsverbot rechtlich auch gegenüber ungerechter Gewaltherrschaft gilt, stellt daher – wie man aus heutiger Sicht vermuten könnte – kein Manko der Kantischen Theorie dar.Vielmehr eröffnet dies allererst den Spielraum, um die Widerstandsproblematik angesichts mut-
RL, AA VI, S. 320 f., Fn. *. Refl. 8077, AA XIX, S. 611.
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maßlich ungerechter Herrschaft einer differenzierten Behandlung zuzuführen. Die Grenze zwischen Freiheitskämpfer und Terrorist bzw. zwischen illegitimer Gewaltherrschaft und unvollkommener Staatlichkeit ist in den wenigsten Fällen klar bestimmbar, geschweige denn gerichtlich adjudizierbar. Das kategorische Widerstandsverbot Kants trägt daher genau dem Umstand Rechnung, dass es – zumindest noch –¹⁵ an einer rechtgültigen, omnilateral verbindlichen Entscheidbarkeit in diesen Fragen fehlt und die rechtliche Letztverantwortlichkeit weiterhin auf nationalstaatlicher Ebene liegt. Die Entschuldbarkeit freiheitlichen Widerstands zieht demgegenüber eine weitere Beurteilungsebene ein, da es für die Frage des Vorliegens eines Notrechts maßgeblich auf die Perspektive des gewaltunterworfenen Subjekts ankommt. Im Unterschied zur rechtlichen Unentscheidbarkeit der Widerstandsproblematik bemisst sich die Entschuldbarkeit und die Frage der Straflosigkeit alleine danach, ob für den Einzelnen im Staat angesichts seiner Pflicht zur Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit eine wirksame, rechtliche Gesetzgebung vorliegt oder nicht.
8.4 Das »Recht auf Rechte« nach Kant. Staatenlose und das Menschenrecht auf Staatszugehörigkeit – Ein Ausblick in systematischer Absicht Die vorliegende Untersuchung hat – wie auch eingangs angekündigt – den Anspruch, eine philosophiehistorische Arbeit zu sein.Vordringliches Ziel ist und war es, eine neue Rekonstruktion von Kants Rechts- und politischer Philosophie unter besonderer Berücksichtigung seiner Haltung in der Widerstandsproblematik vorzulegen. Nun waren Kants Gedanken seit jeher fruchtbar für eine Fülle systematischer Ansätze und Theorien (die sich daher nicht selten selbst als kantianisch verstehen). Angesichts dessen böte auch die hier vorgelegte Kant-Interpretation – insofern sie ein neues Bild von Kants Rechts- und politischer Philosophie zeichnet – genügend Stoff für eine umfassende Ausarbeitung der hierin zum Ausdruck kommenden systematischen Implikationen. Dies kann vorliegend nicht geleistet werden. Gleichwohl möchte ich einen Aspekt herausgreifen, an dem sich – wie mir scheint – eine systematische Implikation der hier vorgeschlagenen
Anders verhielte es sich freilich beim Bestehen einer effektiven Weltgerichtsbarkeit, die (bspw. im Unterschied zum IStGH) allgemein anerkannt ist und (im Unterschied zum stark politisch interessengelenkten UN-Sicherheitsrat) eine gesetzmäßige Entscheidung in jedem Fall bereithält. Erst dann wäre den Kantischen Anforderungen an einen rechtlichen Zustand auf globaler Ebene insoweit Genüge getan.
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Lesart Kants exemplarisch veranschaulichen und für gegenwärtige Debatten fruchtbar machen lässt. Auf den ersten Blick mag es als illiberaler Zug von Kants politischer Philosophie wirken, dass der Einzelne nur im und durch den Staat als Rechtssubjekt existieren kann. Auf den zweiten Blick folgt hieraus jedoch gleichzeitig ein Recht auf Staatszugehörigkeit. Häufig wird Kant abgesprochen, ein solches Recht anzuerkennen.¹⁶ Weder aus dem Kantischen Weltbürgerrecht noch aus dem angeborenen Recht »Freiheit« lasse sich ein Anspruch auf Staatzugehörigkeit herleiten: Ersteres stelle lediglich ein Besuchsrecht dar, letzteres begründe allenfalls Abwehrrechte, jedoch keine positiven Ansprüche. So gesehen, scheint bei Kant so etwas wie ein »Recht, Rechte zu haben« im Sinne Hannah Arendts zu fehlen.¹⁷ D. h. ein moralischer Anspruch auf Staatszugehörigkeit, kraft deren dem Individuum allererst positive Rechte zukommen. Angesichts der Ergebnisse dieser Untersuchung ist diese Sichtweise jedoch zurückzuweisen. Ein individuelles Recht auf Staatszugehörigkeit ist seit jeher Teil der Kantischen Rechtsphilosophie: Das Postulat also […] ist: Alle Menschen, die auf einander wechselseitig einfließen können, müssen zu irgend einer bürgerlichen Verfassung gehören. Alle rechtliche Verfassung aber ist, was die Personen betrifft, die darin stehen, 1) die nach dem Staatsbürgerrecht der Menschen in einem Volke (ius civitatis), 2) nach dem Völkerrecht der Staaten in Verhältniß gegen einander (ius gentium), 3) die nach dem Weltbürgerrecht, so fern Menschen und Staaten, in äußerem auf einander einfließendem Verhältniß stehend, als Bürger eines allgemeinen Menschenstaats anzusehen sind (ius cosmopoliticum).¹⁸
Alle Menschen müssen sich – sei es auf nationalstaatlicher oder globaler Ebene – in einem bürgerlichen Zustand befinden. Mit Blick auf nationale Staatszugehörigkeit ist dies nichts anderes als das eingehend erörterte Postulat des öffentlichen Rechts.¹⁹ Wie wir sehen konnten, liegt diesem wesentlich Kants Unterscheidung zwischen materiellem und formellen Recht zugrunde: „Materialiter Unrecht ist, was der Materie (dem obiecte des Willens andrer), formaliter, was den Bedingungen des reciproqven Willens überhaupt wiederstreitet.“²⁰ Materialiter begründet Recht Ansprüche auf Dinge oder berechtigt zu bestimmten Handlungen. Formaliter kann ich von diesen Rechten bzw. Berechtigungen aber nur Gebrauch
Vgl. stellvertretend insb. Benhabib 2004, S. 27 f., 38 f. und S. 65 f. Vgl. dazu Arendt 2008, S. 601– 625. ZeF, AA VIII, S. 349, Fn. *, fette Hervorhebung P.-A. H. Vgl. dazu oben S. 300 – 310. Refl. 6732, AA XIX, S. 144.
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machen, wenn dies nicht den Bedingungen des reziproken Willens widerspricht, d. h. den „Bedingungen […], unter denen allein jeder seines Rechts theilhaftig werden kann“ und zwar „nach der Idee eines allgemein gesetzgebenden Willens“.²¹ Dies trifft auch auf das angeborene Recht »Freiheit« zu: Da ich das angeborene Recht auf Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür nach allgemeinen Gesetzen (materielles Recht) nur innerhalb eines bürgerlichen Zustands geltend machen kann (formelles Recht), impliziert das angeborene Recht bereits den Anspruch auf Zugehörigkeit zu diesem Zustand. Es ist somit das angeborene Recht »Freiheit« (und nicht etwa das Weltbürgerrecht),²² auf das sich bei Kant ein Anspruch auf Staatszugehörigkeit gründen lässt. Mithin ist das angeborene Menschenrecht insofern immer schon ein »Recht, Rechte zu haben«. Denn es begründet einen moralischen Anspruch auf Staatszugehörigkeit, durch welche allererst von Individualrechten Gebrauch gemacht werden kann. Gleichwohl ist es als solches nicht erzwingbar, da hierin ja gerade erst der Anspruch auf Errichtung derjenigen Bedingungen liegt, unter denen Rechte geltend gemacht und durchgesetzt werden können. Außerdem kommt dieser Anspruch nur staatenlosen Menschen zu, die keiner politischen Gemeinschaft angehören. Es ist daher weder ein Anspruch auf Zugehörigkeit zu einer bestimmten Staatsform (z. B. zu einer Demokratie), noch kommt dieser Anspruch bspw. Wirtschaftsflüchtlingen zu. Hervorzuheben ist, dass sich die Rechtfertigung eines solchen Anspruchs auf Staatszugehörigkeit auch jenseits eines genuin Kantischen Begründungsrahmens formulieren lässt: Wenn Menschenrechte anerkannt werden, kommt es nicht darauf an, ob dem eine politische, biologische, religiöse oder metaphysische Begründung zugrunde liegt. Denn sobald wir Menschenrechte allein qua Menschsein zuschreiben, erkennen wir Personen – aus welchen Gründen auch immer – einen bestimmten Status als Freie und Gleiche zu: Alle Menschen können einen rechtlichen Schutzbereich beanspruchen, der ihnen als Freien eine gewisse Unabhängigkeit²³ von äußerer Fremdbestimmung garantiert. Da dieser Schutzbereich allen qua Menschsein zukommt, können sie dies als Gleiche tun, also verlangen, dass jeder in dieser Eigenschaft als Mensch gleich behandelt wird. Allerdings bleiben diese materiellrechtlichen Gewährleistungen ein bloßes Lippenbekenntnis, solange hierfür keine
RL, AA VI, S. 305 f. Kant geht beim Weltbürgerrecht davon aus, dass Menschen bereits nationalstaatliche Staatsbürgerschaft genießen. Daher bezeichnet er das Weltbürgerrecht auch nur als „nothwendige Ergänzung des ungeschriebenen Codex sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt“ (ZeF, AA VIII, S. 360). Die Anerkennung nationalstaatlicher Staatsbürgerschaft ist – wie ZeF, AA VIII, S. 349, Fn. * (s. oben S. 433) zeigt – demgegenüber vorgelagert. Wie weit diese Unabhängigkeit reicht, ist dabei sekundär. Hinreichend wäre insofern bereits die Anerkennung eines basalen Lebensrechts.
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Realisierungsbedingungen geschaffen werden, die diesem Status gerecht werden. Nicht nur, dass man erst als Mitglied einer politischen Gemeinschaft Rechte effektiv durchsetzen kann. Vor allem löst erst Staatszugehörigkeit den Anspruch reziproker Gleichheit ein. Denn Menschen werden in Ansehung der Rechte, die ihnen allen qua Menschsein zukommen, nicht gleich behandelt, wenn einigen diese Rechte als Staatsbürger gewährt werden, anderen hingegen als staatenlose Schutzempfänger. Denn erstere befinden sich – um mit Kant zu sprechen – in einem Verhältnis reziproker Abhängigkeit zueinander. Sie sind insofern strukturell bzw. formal-rechtlich frei, d. h. unabhängig von Fremdbestimmung, „weil diese Abhängigkeit aus [ihrem] eigenen gesetzgebenden Willen entspringt“.²⁴ Letztere befinden sich demgegenüber – selbst wenn ihre Menschenrechte de facto gewahrt werden – stets in einer einseitigen Abhängigkeit, da ihre Freiheit letztlich vom Wohlwollen des Schutz gewährenden Staates abhängt. Wenn mithin Staaten Menschenrechte materiell-rechtlich anerkennen, so legt sie diese Selbstverpflichtung im Umgang mit Staatenlosen iure formaliter darauf fest, diesen Personen Staatszugehörigkeit einzuräumen. Am Beispiel des Rechts auf Staatszugehörigkeit lässt sich skizzenhaft aufzeigen, wie die Ergebnisse dieser Untersuchung dazu führen können, Kant in gegenwärtigen Debatten der Rechts- und politischen Philosophie in neuem Licht zu sehen und systematisch fruchtbar zu machen. Für jede Aktualisierung des Kantischen Rechtsdenkens ist es jedoch unumgänglich, Kants eigene Position zunächst freizulegen sowie historisch und systematisch korrekt zu rekonstruieren. Die vorliegende Untersuchung hatte genau dieses zum Ziel: Es ging um den Nachweis, dass Kants Rechts- und politische Philosophie nicht nur ein Seitenstück seiner kritischen Moralphilosophie ist, sondern vielmehr deren integraler Bestandteil. Wir können Kant nur richtig verstehen, wenn wir seine Rechtsbegründung und die Notwendigkeit eines bürgerlichen Zustands auf die Grundpfeiler seiner kritischen praktischen Philosophie (namentlich in besonderem Maße das Autonomietheorem) zurückführen. Dann erweist sich bei Kant auch das vermeintliche Spannungsverhältnis zwischen der Wahrung ursprünglicher Freiheitsrechte und der unbedingten staatsbürgerlichen Gehorsamspflicht als konsequente Ausgestaltung seines liberalen Selbstverständnisses.
RL, AA VI, S. 316.
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Personenregister Achenwall, Gottfried 30, 52, 126, 161, 198, 297, 299, 344, 360, 365 – 367, 373, 382 – 384, 392 f., 395 f. Allison, Henry E. 40, 95 Ameriks, Karl 47 Andrieu, Bernard 13 Annen, Martin 374 Arendt, Hannah 347, 433 Aristoteles 394 Arnoldt, Emil 24 Atwell, John 360 Aune, Bruce 378 Bachmann, Hanns-Martin 366 Baiasu, Sorin 68, 114, 117, 391 Bambauer, Christoph 93, 229 Baron, Marcia 89, 115 Bartuschat, Wolfgang 148, 218 Batscha, Zwi 30, 399 Baum, Manfred 10 f., 56, 69, 84, 98, 109, 111, 130, 147 – 149, 265 Baumann, Peter 39 Baumanns, Peter 83 Baumgarten, Alexander Gottlieb 52, 126, 222, 374 Baumgartner, Hans M. 38 – 40, 236 Beck, Jacob S. 124 Beck, Lewis W. 13, 48, 109, 140, 361 Behme, Thomas 366 Benhabib, Seyla 433 Berkemann, Jörg 339, 401 Beyrau, Michael 117, 218, 267 Bittner, Rüdiger 43 Böckenförde, Ernst W. 321 Böhmer, Georg Ludwig 367 Bojanowski, Jochen 140 Brandt, Reinhard 8, 11 – 13, 15, 32, 42, 46 – 48, 56, 75, 83, 158, 170, 185, 188, 218, 236, 249 f., 265, 279 f., 285, 346, 350, 386 f., 410, 414, 417 Brinkmann, Walter 43 Brocker, Manfred 219, 285 Burg, Peter 30, 399, 401, 404 Burkard, Franz-Peter 34
Busch, Werner 24, 32 Buttermann, Ralf 48 Byrd, B. Sharon 9 – 11, 13 f., 73, 125, 130, 179, 213 f., 220, 243, 261, 265 f., 269, 279, 293 – 297, 299, 304, 317 f., 320 – 322, 324, 326 f., 330, 359 f., 391, 404 Carson, Thomas 309 Clohesy, William 214 Cohen, Hermann 133 Cramer, Konrad 42 Darjes, Joachim Georg 373, 388, 394 f. Deggau, Hans-Georg 13, 56, 214, 230, 414 Delfosse, Heinrich P. 71 Denis, Lara 174, 194 Denker, Rolf 30 Donagan, Alan 375 Dreier, Horst 317 f. Dreier, Ralf 81 f., 84, 96, 109, 122, 168, 230 Dulckeit, Gerhard 13, 68, 86, 299, 353 Durán Casas, Vicente 174 f., 178, 194 f. Düsing, Klaus 42, 47 f. Ebbinghaus, Julius 9, 12 f., 69, 93, 147 – 149, 185, 206, 332 Eberl, Oliver 309 Ebert, Theodor 44 Eisfeld, Jens 74, 317, 330 Eisler, Rudolf 229 Engström, Stephen 148 Eppeneder, Ralf 8 – 11, 195, 386, 412 Erhard, Johann Benjamin 252 f., 255 – 257, 412 Esser, Andrea M. 236 Falcioni, Daniela 11, 265 Fetscher, Iring 30, 406 Flikschuh, Katrin 73, 91, 97, 104, 111, 232, 241, 279 Forkl, Markus 89, 178 f., 236 Forschner, Maximilian 94 Förster, Eckart 236 f., 239
462
Personenregister
Friedrich, Rainer 9 f., 12 f., 66, 216, 219, 243, 254, 257, 261 f., 267, 273 f., 279 – 282, 285, 293, 298, 303 f., 324 Friedrich Wilhelm II. 30 Fulda, Hans F. 97, 243, 306, 310 Geismann, Georg 9 – 11, 13, 39, 51, 61, 69, 73, 93, 101, 115, 140, 143, 147 – 149, 215, 221, 232, 242, 267, 304, 306, 313 f., 322, 327, 331, 334, 353, 360 – 362 Gentz, Friedrich 367, 396 f., 399 Gerhardt, Volker 10, 14, 309, 329, 351 Gesang, Bernward 47 Gowans, Christopher 375, 414 Gregor, Mary J. 10 f., 13, 49, 68, 71, 73, 75, 80 – 82, 84, 89, 93, 109, 124 f., 144, 146, 152, 167 f., 218, 230, 265 Grotius, Hugo 366 f., 383, 392, 394 f. Gulyga, Arsenif V. 32 Guyer, Paul 39, 68, 75, 104, 107, 111, 114 f., 121, 130, 133, 167 Haasis, Hellmut 256 Haensel, Werner 12 f., 61, 68, 86 Hancock, Roger 347 Hanisch, Christopher 330 Hartmann, Peter C. 400 Hasanbegovic, Jasminka 12 Heimsoeth, Heinz 40, 229, 232 Henrich, Dieter 12 f., 47, 341, 347, 396, 400 f. Herb, Karlfriedrich 12 f., 250, 321, 325, 327 f. Herbst, Tobias 77 Herman, Barbara 374 f. Hespe, Franz 64, 218, 251, 285 Hinske, Norbert 71 Hirsch, Alfred 347 Hirsch, Philipp-Alexander 17, 24 f., 29, 32, 38, 42, 48 – 50, 53, 56, 58, 60 – 66, 70 f., 73, 76, 110, 118, 135, 140, 145, 148, 162, 174, 188, 201, 208, 233, 242, 309, 311 Hobbes, Thomas 17, 19, 212, 215 f., 220, 289, 320, 340, 378, 391, 394, 403 Hodgson, Louis-Philippe 73, 289 Höffe, Ottfried 9 – 13, 24, 34, 38, 41 f., 44, 46, 55 f., 59, 61 f., 64, 66, 71, 73, 83,
92 f., 100, 109, 111, 114 f., 121, 141, 148 f., 162, 243, 250, 261, 265, 309, 373 Hoffmann, Thomas S. 236 Horn, Christoph 12 f., 41, 43 f., 61, 69, 73 – 75, 93, 109, 115, 133, 149, 157 f., 214, 228, 232 f., 249 f., 275, 306, 309, 332, 347, 355, 413 f. Hruschka, Joachim 9 – 11, 13 f., 73, 76, 111, 125, 130, 179, 213 f., 220, 243, 261, 265 – 267, 269, 279, 293 – 297, 299, 304, 317 f., 320 – 322, 324 – 327, 330, 359 f., 388 – 391, 393, 395 f., 404 Hüning, Dieter 215, 218 Iustinian I.
64
James, David 332 Joerden, Jan C. 9, 11, 14, 205 f., 361 f., 364 Joseph II. 356 Ju, Gau-Jeng 9 – 11, 170, 176, 188 f., 194, 205 f., 265 f., 315, 329, 331 Kain, Patrick 111, 126 – 128, 130 Kalscheuer, Fiete 14, 52, 61, 86, 127, 162 Kater, Thomas 347, 413 Kaulbach, Friedrich 10, 68, 73, 75 f., 128, 167 f., 207, 232 Kerstein, Samuel J. 178 Kersting, Wolfgang 9 – 14, 29, 34, 39, 41, 44, 54 – 59, 61 – 63, 66, 68 f., 74 – 76, 83, 86, 96, 98, 101, 109, 116, 119 – 121, 124 f., 130, 132 f., 143 – 145, 150, 156, 158, 162, 167, 185, 188, 207, 211, 216, 218, 225, 242 f., 249, 251, 254, 261, 263 – 265, 279 f., 282, 304, 313 f., 317 f., 320 – 322, 324, 326, 329, 331 f., 339 – 341, 348, 350, 357, 361 f., 400 f., 403 f., 415, 425 Kiehl, Betty 11 Klar, Samuel 148, 230 – 233, 237 – 239, 316 Klein, Ernst Ferdinand 256 Kleingeld, Pauline 14, 309 Klemme, Heiner F. 9 – 15, 205 f., 261, 263 f., 361 f., 370, 417 Köhl, Harald 42, 50, 60, 94 f. König, Peter 113, 119 König, Siegfried 11 – 14, 261, 263
Personenregister
Korsgaard, Christine M. 95, 127, 361 Kräft, David 158, 214, 218, 370 Kriele, Martin 365 Krüger, Gerhard 232 Kühl, Kristian 12 f., 68, 72, 75, 86, 150, 167 f., 216, 230, 242 f., 261 f., 280, 282, 285, 304, 370, 390 Kühnemund, Burkhard 10, 12 Küper, Wilfried 64, 373, 375, 387, 390, 393 f. Lactantius, Caelius Firminianus 387, 394 Langan, Jeffrey 30, 399 Langer, Claudia 10, 13 f., 265, 318 f., 360, 413 f. Langthaler, Rudolf 81, 83, 111, 121, 154 f., 158, 168, 230, 232 Larenz, Karl 68, 86 Laschet, Oliver 42 – 45, 47 – 49, 71 f., 75, 77, 83 f., 93, 145, 162, 167, 185, 232, 242, 258, 304, 314, 317, 324, 329 Lehmann, Gerhard 70 f., 171, 259, 287, 410 Leibniz, Gottfried Wilhelm 228, 367 Link, Christoph 366 f. Lisser, Kurt 13 Locke, John 3, 20, 218, 320, 340 Losurdo, Domenico 13, 30 f., 341, 399, 401 Louden, Robert B. 375 Ludwig, Bernd 10 – 13, 29, 32, 34, 40 f., 43, 45, 47, 51 – 54, 56 f., 59, 61, 63, 66, 68, 76, 96, 105, 111, 114, 117, 136, 138, 150, 152 – 154, 167, 185, 191, 195, 205 f., 216, 218 f., 249 f., 252, 265, 267, 273 f., 280, 282, 285, 293 f., 299, 302, 304, 310, 312, 317 f., 320 – 322, 325 – 329, 331 f., 342, 349, 354, 358, 404 Ludwig, Ralf 61, 167 Ludwig der XVI. 401 f., 420 Luf, Gerhard 12 f. Lutz-Bachmann, Matthias 233, 236 Maiwald, Manfred 75 Malibabo, Balimbanga 56, 230 Maliks, Reidar 73, 218, 243, 329, 361, 367 f., 383 Mandt, Hella 13, 339, 365 Mann, Golo 396
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Manthe, Ulrich 64 Matthews, Richard 14 Maus, Ingeborg 14, 329, 347, 350 – 352, 393 f., 402 Merle, Jean-Christophe 331, 387, 390 Meyer, Herbert 152 Mieth, Corinna 41, 43 f., 93, 115, 228, 232 Mohr, Georg 258 Mosayebi, Reza 34, 94, 96, 102, 105, 117 f., 125, 167, 232 Mulholland, Leslie 11 f., 80 Müller, Andreas 86 Müller, Christian 61, 167 Nagl, Ludwig 158 Nance, Michael 54, 75, 97 Niebling, Christian 10 – 12, 265, 339 Niesen, Peter 11, 157 f., 214, 309, 345 – 347 Nussbaum, Martha C. 375 Oberer, Hariolf 8 – 13, 15, 61, 68, 71, 74, 117, 148, 154, 158, 167, 185, 265, 279, 386, 412 O’Neill, Onora 54, 92, 111, 374 Pasini, Dino 73, 158, 214, 232 Paton, Herbert J. 42, 48 f., 71, 101, 109, 115, 232 Pauer-Studer, Herlinde 68, 73 Pfordten, Dietmar von der 14, 34, 45, 52, 73, 75, 79, 214, 341, 350, 359, 361 Pinkard, Terry 230, 332 Pinzani, Alessandro 9 – 11, 265 Pippin, Robert B. 9 f., 104, 144, 207, 254, 265 Pirler, Philipp 396 Pogge, Thomas 69, 133, 147 – 149, 157, 347 Porcheddu, Rocco 93 Prechtl, Peter 34 Psychopedis, Kosmas 214 Pufendorf, Samuel von 82, 366 f., 373, 383, 392, 394 f. Pütter, Johann Stephan 126, 198, 373, 395 Radbruch, Gustav 369 Rajiva, Suma 316 Rapic, Smail 116, 121, 144
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Personenregister
Rawls, John 127 Reath, Andrews 93, 127, 177 f. Recki, Birgit 15, 39 f., 409, 413 f., 417 Reich, Klaus 149 Reiss, H. S. 14, 365 Richter, Arthur 256 Ricken, Friedo 60, 80 – 82, 85, 154 – 156, 230, 236 f., 349 Riley, Patrick 10, 13, 265 Ringkamp, Daniela 279 Ripstein, Arthur 10 f., 13 f., 69, 97, 102, 109, 133, 147, 159 – 161, 163, 185, 206, 218, 242, 265, 304, 309, 313 f., 331, 361 f., 369, 391, 403 f. Ritter, Christian 12, 24 Röd, Wolfgang 42 Rosen, Allen D. 12 f. Rousseau, Jean Jaques 16 f., 19 – 21, 317, 320 Rühl, Ulli 185, 219, 251, 280, 285 Saage, Richard 30, 214, 219, 414 Sadun Bordoni, Gianluca 71 Sala, Giovanni 232 Sandermann, Edmund 13 f., 211, 226, 313, 332, 359 Sassenbach, Ulrich 14, 359 Scarano, Nico 43 f., 93, 115, 228, 232 Schadow, Steffi 50, 52, 54, 97, 111, 118, 125, 147 Scheffel, Dieter 14, 339, 347, 359, 393, 402 Schild, Wolfgang 332 Schiller, Friedrich 252 f. Schlegel, Friedrich 337 Schmidt, Hajo 14 Schmucker, Josef 126 Schnepf, Robert 265 Schnoor, Christian 43, 71, 83, 100 f., 109 Scholz, Gertrud 10, 44, 51 f., 55, 57 f., 60 f., 68, 96, 98, 100 f., 109, 130, 143, 167 f., 265 Schönecker, Dieter 41, 45, 89, 101, 143, 228, 232 Schopenhauer, Arthur 29 Schreckenberger, Waldemar 133 Schreiber, Hans-Ludwig 68, 86 Schröer, Christian 126, 129
Schubert, Friedrich W. 21 Schwartländer, Johannes 232 Schwartz, Maria 44, 50, 57, 94 f. Schwarz, Gerhard 236 Seebohm, Thomas 14, 360 Seel, Gerhard 68, 97, 107 f., 114, 160, 162, 167 Sensen, Oliver 89, 93 Shell, Susan M. 13 f., 321 Siep, Ludwig 50 Simmons, John 13 Spaemann, Robert 401, 403 Städtler, Michael 14, 236 f. Stangneth, Bettina 231, 233, 236 – 239, 316 Stark, Werner 21, 32, 52, 114, 119, 127 f., 131, 135, 162, 174, 200, 207, 223, 232, 259, 314, 326, 373, 377, 387, 391 Steigleder, Klaus 81, 84, 91 f., 101, 109, 111, 147, 168, 348, 403 Stephani, Heinrich 52 Strawson, Peter F. 39 Streidl, Paul 367, 383 Suárez, Francisco 394 Sweet, Paul R. 396 Sydow, Eckart von 329 Täschner, Anna 83 Teichmann, Albert 256 Thomas von Aquin 394 Thomasius, Christian 367 Thurnherr, Urs 94 f. Tieftrunk, Johann H. 52, 185, 206, 267, 269, 328 Timmermann, Jens 42 f., 45, 92, 127, 130, 140, 175, 177 – 179, 228, 374 – 378, 380, 412 Timmons, Mark 44 Tretter, Friedrich 73 f., 143, 150, 152, 154, 158, 167 Uleman, Jennifer 200 Unruh, Peter 8, 10 f., 13 f., 29 – 31, 33, 211, 216, 249, 265, 285, 304, 313 f., 320 – 322, 329, 331 f., 339 f., 349 f., 398 – 401, 403 f., 406, 413 f. van der Linden, Harry
13, 359
Personenregister
Varden, Helga 218, 243, 329 Volkmann-Schluck, Karl-Heinz 263 Vorländer, Karl 3 f., 396 Waldron, Jeremy 218, 243 Watkins, Eric 39 f. Wawrzinek, Cora 8, 13 f., 219 Weber, Max 35 Weinrib, Jacob 305 Westphal, Kenneth R. 12, 14, 359 f., 404 Weyand, Klaus 259, 287, 410 Wildt, Andreas 80, 83, 125 Willaschek, Marcus 48, 68 f., 73, 79 f., 91, 102, 104 f., 107 – 109, 111, 133, 135, 137 – 139, 162 Williams, Howard L. 14 Williams Holtman, Sarah 14 Wimmer, Reiner 43, 232
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Winkler, Tanja 8 – 14, 219 f., 265, 339 f., 347 – 350, 399 Wit, Ernst-Jan C. 13, 361 Wolff, Christian von 38, 43, 52, 124, 126, 129, 222, 324, 366 f., 373 f., 376, 383, 392, 395 Wolff, Ernst A. 214 Wolff, Michael 47 f., 103 Wolzendorff, Kurt 367 Wood, Allen W. 42 f., 45, 50, 53, 69, 75, 101 f., 105, 109, 128, 133, 140 f., 143 f., 228, 231 – 233, 236 f., 239, 316, 378 Zimmermann, Harro 396 Zimmermann, Stephan 148 Zippelius, Reinhold 211 Zotta, Franco 12 – 15, 214, 332, 339, 347, 350, 404, 413, 417 Zylberman, Ariel 243
Sachregister Ableitung 10, 25, 42, 46, 69, 84, 101 – 104, 133, 145, 147, 159, 171, 208, 252 – 255, 264 – 269, 271, 286, 335 – Ableitung des bürgerlichen Rechtszustands in den praecepta iuris 10, 171, 208, 253 – 255, 264 – 269, 271, 335 – Ableitung des Prinzips der Tugendlehre 104 – Ableitung des Rechtsprinzips 69, 101 f., 104, 147, 159, 165 Allgemeinheit des Gesetzes, Allgemeingesetzlichkeit 50, 58, 100, 289, 362 Analytizität, analytisch 9, 47, 62, 85, 99, 105 f., 110, 117, 137, 139, 165, 201, 217, 221 f., 237, 241, 244 f., 273, 276, 290, 300 f., 303, 357 Aristokratie, aristokratisch 318 f., 347 Autokratie 111 – 113, 130, 143, 223, 318 f., 352, 424 – Autokratie als Staatsform 318 f., 352 – moralische, sittliche Autokratie 111 – 113, 130, 143, 223, 424 Autonomie 15 – 17, 22, 42, 44 – 46, 68, 70, 73 f., 77 – 79, 86, 93, 111 – 113, 130, 133, 135 f., 142 – 144, 146, 148 f., 151 f., 154, 156, 159, 164, 204, 210 f., 222 – 227, 234 – 236, 245 f., 248, 259, 261, 263 f., 270, 285, 309 f., 313 f., 319, 328, 335 – 338, 356 f., 423 f., 426, 428 – autonome Gesetzgebung 112, 222 f., 226 f., 234, 270, 427 – (autonome) Selbstverpflichtung 18, 177, 210, 223, 226, 240, 245 f., 248, 258 f., 262, 268, 270 f., 279 f., 286, 288, 292, 307, 323, 335 f., 356, 426 – 428, 435 – autonomes Vernunftwesen → Vernunftwesen, Vernunftnatur – Autonomietheorem 11, 22, 41, 44 – 46, 68 – 70, 86, 111 f., 126 f., 133, 135, 139, 142, 145, 147, 165 – 167, 206, 222 f., 226, 228, 248, 270, 279, 407, 427, 435 – autonomietheoretisch 18 f., 21 f., 28, 210, 221, 226 f., 241, 245 – 249, 252, 255, 261 f., 264, 268 f., 271 f., 285 f., 288,
292 f., 297 f., 300 – 305, 307, 311, 314, 322 f., 335 f., 338 f., 357, 406, 422 f., 425 – 429 – autonomietheoretische Staatsbegründung → Staatsbegründung Axiom 63, 198, 242, 294, 296 – Axiom der äußeren Freiheit 294 – Axiom des Rechts 294, 296 – drittes Axiom Newtons 63, 242 Barbarei, barbarisch 14, 361 – 367, 371 f., 420, 430 Befolgung 51, 54, 85, 95, 113, 116, 128 f., 156, 184, 221, 225, 227, 271, 323, 335, 395 (s. auch → Pflichtbefolgung) Begehrungsvermögen 39, 50, 57, 140 f., 143, 153, 224 Begnadigung 397 f. Besitz 89, 145, 249, 272 f., 276 – 286, 289, 294 f., 303, 306, 308, 310, 334, 339, 387, 404 – empirischer, physischer Besitz 272 f., 276 – 278, 283 f., 306 – intelligibler, bloß rechtlicher Besitz 145, 272 f., 277 – 280, 283 f., 295 – peremptorischer Besitz 219, 284 f., 290, 295, 297, 308, 323, 353 f. – provisorischer Besitz 219, 282 – 285, 291 f., 304, 308, 354 – Verstandesbegriff des Besitzes 277 f. Bestimmungsgrund 47, 49 f., 52, 59 f., 117, 122 f., 125, 140, 189, 224 (s. auch → Handlungsmotiv, Handlungsmotivation) Billigkeit 63 f. bürgerlicher Zustand (status civilis) → Rechtszustand Deduktion → Ableitung Demokratie, demokratisch 318 f., 329 f., 352, 362, 408, 434 Despotie, despotisch 3 f., 8, 318 f., 348, 359, 361 f., 364 f., 371, 417
Sachregister
Eigentum, Eigentumsrecht 71, 76, 108, 171, 250, 252 f., 279, 281 – 283, 285 f., 291, 353 f., 365, 398, 429 – provisorisches vs. peremptorisches Eigentum → Besitz Einheit 41, 135, 174, 195, 228, 240, 306, 310, 312, 328, 344, 355, 425, 428 – bürgerliche Einheit 240, 310, 328 – Einheit aller freien Willkür 306, 310, 355, 428 (s. auch → Willkür) entschuldigender Notstand 390 – 392, 397 f., 402, 412, 420 f., 431 (s. auch → Notstand (casus necessitatis)) Entschuldigungsgrund 388, 390, 393, 395 f., 407, 430 Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit, rechtliche Selbsterhaltungspflicht 6 f., 10, 15 f., 22 f., 27, 173 – 175, 184, 186, 193, 200, 267, 377 f., 380 – 382, 384, 386 f., 394, 398, 402, 418, 420 f., 430 – 432 (s. auch → honeste vive; s. auch → Pflicht, innere Rechtspflicht; s. auch → Selbsterhaltung) Erlaubnisgesetz 8, 279 – 281, 285 – 287, 289, 367, 415 f. Erwerbung 135, 280, 282 – 284, 290, 293 – 295, 334, 339, 353 Ethik 9 f., 34, 50, 52, 60, 67 – 69, 77 – 80, 85 f., 97 f., 112, 119, 123 – 125, 129, 164, 167, 170, 187, 190, 215, 225, 230, 236, 238, 377, 394, 422 ethisches Gemeinwesen → Reich der Tugend Exekutive 3, 14, 318 f., 322, 325 – 329, 350 f. Faktum der Vernunft → Vernunftfaktum Formelles Recht → Recht formaliter Fortschritt 407, 409, 411, 413 f., 417 f. Freiheit – angeborene Freiheit 212, 354 (s. auch → Rechte, angeborene) – äußere Freiheit 18, 59, 72 – 75, 82, 87, 105, 168, 261, 274, 278, 282 f., 294, 313 – bürgerliche Freiheit 314 f., 330 f. – Freiheit als Schutzgut → Schutzgut des Rechts
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– Freiheit der Feder 339, 345 – 347, 359, 415, 419 – Freiheit der Willkür → Willkür – innere Freiheit 73 – 75, 178, 190 – positive/negative Freiheit vs. positiver/negativer Begriff der Freiheit 141, 147 f., 150 – 152, 166 – praktische Freiheit 25, 39 f., 147 f., 150, 152 – 154 – psychologische Freiheit 73, 86, 144, 147, 153, 156 (s. auch → Freiheit, praktische) – transzendentale Freiheit 38 – 40, 45 – 48, 73, 86, 142 – 146, 148, 150, 157 f., 162 f., 167, 176 Freiheitsgesetz 157, 168, 241 f., 278, 283, 312, 316, 319, 334 (s. auch → Gesetze) Freiheitsrechte 3, 6 – 8, 11, 16 f., 20 – 23, 33, 67, 74, 242, 244, 251, 261, 274, 335, 337, 353, 359, 381, 386, 416 f., 422, 427 f., 435 (s. auch → Rechte) Fremdverpflichtung 18, 22, 210, 221, 227, 240, 245 f., 248, 254, 258 f., 262, 264, 268, 270 f., 292, 426, 428 Gehorsam 4 – 6, 10, 30, 349, 367, 370, 372, 382, 386, 404, 415 – passiver Gehorsam 372, 382 Gehorsamspflicht 10, 13 f., 20, 23, 27, 337 – 339, 345, 349 f., 360 f., 367, 380 f., 384 – 386, 395, 399, 403, 412, 419 – 421, 431, 435 (s. auch → Widerstandsverbot) Geltung – formale Rechtsgeltung 19, 22, 211, 213, 221 f., 240, 242, 244 f., 247 f., 261, 268, 288, 298 f., 302, 305, 307, 311, 336, 349, 361, 368, 370, 378 f., 419, 429 – materialer Geltungsgrund von Rechten und (Rechts)pflichten 11, 67, 72, 75, 156, 160, 162, 165, 182, 184, 203, 204 f., 209, 211, 263, 290 – Rechtsgeltungsstaat → Staat als Rechtsgeltungsinstanz vs. Staat als Rechtssicherungsinstanz Gerechtigkeit 5, 14, 17, 19 f., 260, 298 f., 324, 329, 358 – 361, 369, 372, 378, 382, 403, 420, 428, 430
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Sachregister
– distributive (austeilende) Gerechtigkeit 208, 217, 291, 293, 298 – 300 – öffentliche Gerechtigkeit 293, 298 f., 309 f., 322, 336, 379 – 382, 402 Gericht, Gerichtshof 107, 236, 265, 288, 321, 326, 387 f., 390 f., 397 f. (s. auch → Richter) Geschichte, geschichtlich 8, 11, 15, 357, 370, 396, 407, 409, 413, 416 – 419 Geschichtsphilosophie, geschichtsphilosophisch 8, 14, 338, 407 – 409, 413 f., 416, 418, 421, 431 Gesellschaft 19, 207 f., 216, 231 f., 240, 253, 256, 291, 298 f., 314, 316, 330, 348, 357, 397 Gesellschaftsvertrag 17, 19, 317, 382 f., 395 (s. auch → ursprünglicher Vertrag) Gesetze (moralische) – gemeinschaftliche Gesetze 46, 228, 231, 234, 240, 248, 262, 289 (s. auch → Reich) – natürliche moralische Gesetze, Vernunftgesetze 34, 40 – 45, 47, 50, 55 f., 73 f., 81, 102 f., 111 f., 115, 124 – 127, 132, 142 – 145, 153 f., 161 f., 165, 180, 183, 186, 200, 211, 222 – 226, 228 – 232, 245 – 247, 260, 301, 324, 387, 411, 414, 418, 426 f. – positive, statutarische Gesetze 13, 55, 64, 107, 126, 132, 223, 284 – 288, 291, 296, 324, 336, 353, 355, 357, 361, 369, 395, 397 f., 419, 427 – Sittengesetz, das moralische Gesetz 11, 38, 40 – 43, 46 – 48, 95, 102 f., 106, 110, 113, 115, 117, 142 – 144, 149, 151 f., 154, 167, 183 f., 223, 228, 236, 256 f., 276, 348 Gesetzgeber (legislator) 14, 34, 51 f., 55, 64, 125 – 128, 190, 212, 222, 227, 234 – 239, 246, 259, 287, 297, 299, 319, 322 – 324, 330, 350 f., 361, 368, 370 f., 397, 426 f. (s. auch → Urheber des Gesetzes vs. Urheber der Verbindlichkeit nach dem Gesetz) Gesetzgebung – äußere Gesetzgebung 22, 52 f., 55, 59 f., 123, 125, 128 – 133, 166, 168, 185, 190, 192, 196, 202, 221 f., 225 – 227, 238, 259 f., 271, 283, 287 – 289, 291, 295 –
299, 301, 305, 310, 313 – 315, 319, 323 – 325, 327 f., 330, 336 f., 348 f., 357, 359, 361 – 363, 427 f. – ethische Gesetzgebung 51 – 53, 68, 73, 123 – 125, 128, 131 f., 166, 189 f., 225, 236, 238, 391 – innere Gesetzgebung 53, 122 f., 125, 128 – 130, 132, 166, 221 f., 225 f., 235 f., 238, 288 – juridische (rechtliche) Gesetzgebung 50 – 53, 56, 62, 68, 123 – 125, 129 – 133, 166, 189, 191, 202, 227, 258, 322 f., 332, 390 f., 429, 432 – Selbstgesetzgebung → Autonomie, autonome Gesetzgebung Gesetzlosigkeit, gesetzlos 19, 271, 281, 301 – 303, 306, 310, 313, 342, 362, 365, 367, 382, 384 Gesinnung 109, 115, 122, 125, 130, 168, 424 Gewalt, gewaltsam 4 – 8, 13 f., 19, 21, 51, 112, 117, 134, 166, 212 f., 216 f., 220 – 222, 245, 259, 271, 274, 277, 281, 283 f., 288, 290, 294, 300 f., 303, 307 – 310, 314 f., 318 – 330, 339 – 341, 344, 347, 351, 356, 359 f., 362 – 366, 368, 371, 381 – 388, 394, 400 f., 403, 410 f., 417, 420, 428, 430 f. – Gewaltmonopol 18, 35, 403, 420 – Staatsgewalt 18, 213, 312, 317 f., 320, 329, 342, 345, 347, 351, 357, 364, 382, 393, 397, 412, 429 f. – vis absoluta vs. vis compulsiva → Zwang Gewaltenteilung, gewaltenteilig 3, 320 – 322, 325 f., 329, 336, 351 Gewaltherrschaft → Herrschaft Gewalttätigkeit, gewalttätig 213, 215, 217 f., 271, 301 f., 306, 342, 364 f., 402 Gleichheit – angeborene Gleichheit 65 f., 82, 331 – bürgerliche Gleichheit 259, 314, 330 – 332, 435 – Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung 63, 241 f. (s. auch → Axiom, drittes Axiom Newtons) Gott, göttlich 38, 40, 43, 103, 124, 126 f., 129, 150 f., 230, 235 – 240, 315, 322, 348, 391
Sachregister
Handlung – äußere Handlung 34, 52, 60, 73, 75, 82, 115, 121, 124, 142, 160 f., 185, 190 – 192, 201, 225, 315, 348 – innere Handlung 34, 52, 73, 113, 115, 121, 189 f. – zurechenbare Handlung unter einem Gesetz, Tat (factum) 43, 57, 388 f., 391, 395, 413 Handlungsmotiv, Handlungsmotivation 60 f., 63, 109, 112, 114 – 117, 120, 128, 144, 160, 402, 409, 424 Handlungszweck 58 f., 75, 121 Herrschaft (staatliche) 3 f., 11, 13, 17 – 21, 31, 33, 154, 233, 241, 292, 314, 317, 319, 328 f., 336, 338 f., 341, 343, 346 f., 358 f., 361 f., 364 – 366, 368 – 372, 380 f., 383, 386, 393, 400 f., 403 f., 416 f., 419 – 422, 428 – 430, 432 – Gewaltherrschaft, Unrechtsregime 6, 14, 17, 20, 338, 358, 360 – 362, 364 – 367, 370 – 372, 381, 385, 387, 392 f., 395 f., 420, 430 – 432 homo noumenon vs. homo phaenomenon 54, 76, 155, 175 – 182, 185 f., 197, 205 f., 266, 394 honestas iuridica (rechtliche Ehrbarkeit) 170, 253 honeste vive 6 – 11, 15 f., 22, 27, 64, 75, 169 – 171, 174 f., 183 – 187, 189, 191 – 196, 201 – 203, 205, 207 f., 253 – 255, 263 – 265, 267 f., 286, 294, 300, 346, 350, 355, 358, 381, 385 f., 398, 410, 412, 415, 423, 429, 431 (s. auch → Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit; s. auch → Pflicht, innere Rechtspflicht) Ideal (praktisches, regulatives) 16, 18 – 21, 46, 177, 180, 188, 228 – 233, 241, 248, 306, 309, 316 – 320, 323, 329, 332, 337, 340, 343, 352, 358 – 360, 371 f., 380, 400, 408, 417, 426 Idealismus (transzendentaler) 11, 39 f., 148, 176, 179 f., 206 Imperativ – hypothetischer Imperativ 43, 117
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– kategorischer Imperativ 15, 41 – 46, 61, 70 f., 77, 79, 90 – 96, 98 – 102, 104 – 106, 108 – 119, 122 – 124, 127, 132 f., 139, 159, 161, 164 – 166, 169, 183, 187, 229 f., 301, 310, 340, 422 – 424, 426 (s. auch → Zweckformel) Ius → Recht Judikative
3, 322, 325 – 328
Klugheit – Klugheitskalkül, Klugheitsregel 19, 40, 82, 156 – 159, 166, 214, 216, 417 – Staatsklugheit 345, 414 – 417, 431 Koexistenz 22, 56, 82, 87, 89, 159, 162, 164, 187, 210, 215, 230, 233, 246, 258, 260, 262, 292, 337, 425 – Koexistenzbedingungen 81, 83, 137, 169, 210 – Koexistenzordnung 76, 335, 422, 425 Läsion → Rechtsverletzung Legalität, legal (Pflichtgemäßheit, pflichtgemäß) 34, 43, 46, 48 f., 51, 81, 110 f., 116, 118, 121, 232, 238 f., 323, 388 f., 404 Legislative 3, 322, 325, 327 Legitimität 3 f., 7 f., 17, 19 f., 23, 215, 326, 339, 345, 347, 366, 368 f., 386, 403, 420, 430 lex iuridica 207, 253, 266, 293 – 298, 300 lex iusti 170 f., 185, 206, 253, 265 f., 293 – 297, 300 lex iustitiae 253, 266, 293 – 295, 297 f. Liberalismus, liberal 3 – 5, 7, 15 – 17, 20 f., 30, 311, 338, 413, 417 f., 421 f., 435 Materielles Recht → Recht materialiter Maxime 43 – 47, 51, 54, 59 f., 78 f., 83 f., 91 – 100, 107, 109 – 113, 121, 129 f., 140 f., 158 – 161, 164, 166, 192, 217, 224 f., 229 f., 234, 274, 319, 341 f., 402, 423 – Maxime in Anbetracht der Handlungen vs. Maxime in Anbetracht der Zwecke 93 – 97, 99, 139, 164 – 166, 424
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Sachregister
Mein und Dein – äußeres Mein und Dein 64, 145, 212, 218 f., 248 – 253, 261, 271 – 273, 275 f., 278, 280 – 284, 286 – 297, 303 f., 308, 321, 323, 326, 334, 354, 378, 429 (s. auch → Besitz; s. auch → Eigentum) – das rechtlich Meine 272 f., 282 – inneres, angeborenes Mein und Dein 14, 64 f., 207, 212, 218, 248 f., 251, 254 f., 273, 276, 281, 286, 288, 290 – 292, 294 – 296, 304, 323 f., 354, 370, 380, 385, 419, 429 (s. auch → Rechte, angeborene) Menschenrecht 11 – 13, 15, 357, 417, 432, 434 f. Menschheit 6 – 9, 11 f., 17, 22, 37, 54, 65 f., 72, 74 f., 77 f., 80 f., 83 – 85, 89 f., 155, 169 – 188, 193, 195, 197, 199, 202 – 209, 229, 233, 253 f., 258 f., 261 – 263, 266 f., 270 f., 290, 296, 335, 349, 355, 372, 382, 386, 397, 408, 410, 423, 429 f. – Recht der Menschheit 7, 9, 11, 22, 54, 89 f., 155, 169 – 173, 175, 182 – 186, 188, 195, 197, 199, 202 – 206, 209, 258, 260, 263, 267, 270 f., 335, 355, 372, 382, 386, 423, 430 – Zweck der Menschheit 54, 89, 193, 197, 205 Moral 29, 34, 62, 87, 91, 93, 112, 116, 121, 127, 145, 148, 153, 167 f., 194 f., 236 f., 245, 297, 406, 415, 417 f., 425 (s. auch → Sittenlehre) moralische Anlage 406 – 416, 418 f., 421, 431 moralischer Rechtsbegriff, moralischer Begriff des Rechts 16, 21, 37 f., 42, 49, 54 – 59, 62 – 65, 68, 76, 86, 95, 104, 129, 134, 141, 144 f., 154, 175, 185, 192, 194 – 198, 201, 204, 216 f., 221 f., 225, 241 f., 244, 254, 262, 276 f., 294, 296, 301, 303, 306, 310, 357, 390, 397, 411, 414, 425 Moralität 34, 37, 43, 46, 48 f., 51, 81, 86 f., 109 – 113, 115, 121, 174, 200, 229, 231 f., 237 f., 396, 411, 414 f.
– Handeln aus Pflicht 43, 51, 86 f., 109 – 113, 115 – 117, 119 – 122, 124 f., 130, 132, 143, 165 f., 229, 424 Moralphilosophie (kritische) 15 – 17, 21 – 25, 31, 34, 38, 41 f., 46, 49, 52, 62, 67 – 70, 77, 85 f., 90, 98, 101 f., 112, 114, 118 – 120, 127 f., 131, 134 f., 140, 142, 144 f., 147 – 149, 159, 162, 167 – 169, 174, 200 f., 207 f., 210, 223, 228, 232, 248, 288, 338, 373, 376 f., 387, 391, 394, 422, 424 – 427, 435 moralteleologische Rechtsinterpretation 68, 86 f., 167, 425 Motiv, Motivation → Handlungsmotiv, Handlungsmotivation Naturrecht (klassisches, vorkantisches), Naturrechtslehre 30, 62, 82, 348, 366 f., 373, 392, 394 f. (s. auch → Schulphilosophie) Naturzustand (status naturalis) 13 f., 17 – 19, 22, 28, 35, 64, 189, 208, 210 – 215, 217 – 222, 226 f., 239 f., 242, 244 – 246, 248, 251 f., 254, 257, 261 f., 268, 270 f., 281 – 285, 288, 291 f., 295, 298 – 304, 306 – 309, 313, 341 f., 362, 364, 366 – 368, 370, 372, 379, 382, 384, 387, 420, 425 – 427, 430 – Rechtspflicht, den Naturzustand zu verlassen (exeundum) 19, 157, 210, 212, 216 f., 240, 257, 262 Neigung 40, 42 – 44, 51, 95, 110, 112 f., 115, 117 f., 120 f., 124, 130, 133, 141, 155, 157, 213 – 215, 217, 315, 414, 424 neminem laede 10, 64, 170, 188 f., 194, 207 – 209, 219, 253 f., 263, 267 f., 270, 300, 423 Nötigung (moralische) 11, 43, 74, 79, 114, 117 f., 128, 133, 148, 163, 165 f., 217, 223 – 227, 258, 262, 271, 297, 323 f., 328, 335, 374, 424, 427 (s. auch → Zwang) Notrecht (favor necessitatis, ius in casu necessitatis) 14, 23, 26 f., 33, 63 f., 338, 372 f., 381, 387 f., 390 – 396, 398 f., 402, 412, 420 f., 430 – 432
Sachregister
Notstand (casus ne-cessitatis) 26 f., 338, 372 f., 378 – 381, 384 – 398, 401 f., 412, 418, 420 f., 431 (s. auch → entschuldigender Notstand) Oberhaupt (s. auch → Souverän) – moralisches Oberhaupt, Oberhaupt nach moralischen Gesetzen 210, 233 – 235, 237 – 241, 245 f., 248, 260, 262, 312, 317, 319, 322, 327 – 329, 331, 358, 426 – physisches Oberhaupt, Obrigkeit 4 – 6, 312, 317 f., 324, 328 f., 331, 336, 339 – 342, 344, 346, 348, 351, 367 – 371, 381 f., 384 f., 397 f., 401, 403 f., 406, 430 Öffentliches Recht, öffentlich-rechtlich 8, 10, 15, 19, 23, 26 f., 33, 49, 65, 118, 194, 212, 217, 221, 239, 242 f., 245, 248, 250 f., 258, 265 f., 291 f., 299 – 301, 303 f., 306 – 308, 311, 322, 335 f., 338, 341, 345, 355, 357, 360, 379, 385 f., 395, 397, 415, 428, 433 peremptorisch vs. provisorisch → Besitz; → Recht Person 6 f., 11 f., 17, 22, 26 f., 43, 54 – 57, 70 f., 74 – 80, 82, 84 f., 87, 90, 108, 128, 134 – 139, 144, 154 f., 159, 162 – 166, 169 – 188, 190 f., 193 f., 197, 199, 202 f., 205 – 207, 209 f., 222, 225 – 227, 229 f., 239, 248, 253, 255 f., 258 f., 261 f., 264, 267, 270, 273, 278, 286, 296, 299, 303 f., 307, 312 f., 317, 319 f., 322, 329, 331 – 335, 337, 346, 350, 356, 378, 386, 388 f., 391 f., 394, 397, 399, 402, 410 – 412, 423 – 426, 428, 430, 433 – 435 (s. auch → Vernunftwesen, Vernunftnatur) Persönlichkeit, Personalität 16, 54, 56, 74 – 78, 87 – 90, 134 – 137, 139, 154 f., 162 f., 166, 169, 173 – 183, 185 f., 192, 195, 197, 200, 203 – 206, 209, 225 f., 254, 258, 261 – 263, 267, 270, 330 f., 333, 346, 377, 383, 386, 393, 422 f., 425 (s. auch → homo noumenon) Pflicht – Begriff der Pflicht, Pflichtbegriff 42, 109 f., 117, 120, 129, 165, 170, 178 f., 185, 217, 237, 254, 323, 396, 424
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– ethische Pflicht (direkt-ethisch vs. indirektethisch) 52 – 54, 60, 73, 120 – 123, 125, 132, 236, 238, 377, 391 – Handlungspflicht, Unterlassungspflicht 50, 80, 85, 95, 98, 106, 165 f., 194, 197, 378, 424 – innere Rechtspflicht 6 f., 9 – 11, 15, 22, 27, 64, 75, 169 – 173, 183 – 189, 192 – 196, 199 – 203, 205 – 207, 254 f., 257, 264 f., 267 – 269, 271, 294, 297, 346, 350, 355, 358, 381, 385 f., 410, 412, 415, 421, 423, 429, 431 – Rechtspflicht (allgemein) 7 – 10, 16, 19, 21 f., 25, 34, 49 f., 53 f., 57, 59, 63 – 65, 67, 72, 77, 81, 83, 85 – 90, 92, 94, 96 – 98, 100, 107, 112, 116 f., 119 – 123, 125, 129 f., 132 f., 137, 142, 156 – 158, 162, 165 – 172, 174 f., 182 f., 185 – 210, 212, 216, 221 f., 225 – 227, 230 – 232, 238, 245 f., 249, 252 – 255, 257 f., 260, 263 – 271, 276, 286, 291, 296 f., 300, 304, 321, 335, 338, 346, 353, 358, 376 – 378, 380, 385 – 387, 391, 396, 420, 422, 424 f., 428, 431 f., 435 – Tugendpflicht 9, 53 f., 57 – 60, 73, 77, 81, 84 f., 87 – 89, 98, 100, 113, 116 f., 120 – 123, 125, 129 f., 132, 163, 165 f., 185, 190, 193, 195 – 197, 199 f., 202 f., 222, 225 f., 237, 315, 376 – 378, 380, 399, 412, 423 f. – Tugendverpflichtung 122 – unvollkommene Pflicht 54, 79, 100, 193, 195 – 197, 375 f. – vollkommene Pflicht 9, 44, 53, 71 f., 77, 89, 94, 100, 121, 171, 175, 188, 192 – 203, 266, 296, 315, 375 – 378, 380 – Zwangspflicht, erzwingbare Pflicht, rechtliche Pflicht 63, 125, 132, 161, 192 – 194, 198, 201 – 203, 257, 297 – Zwecksetzungspflicht 95, 166 (s. auch → Pflichtzweck) Pflichtbefolgung 109 f., 115 f., 119, 121, 128, 132, 143, 165, 183, 424 (s. auch → Befolgung) Pflichtenkollision 6, 10, 23, 26, 373 – 378, 380 – 382, 384 – 387, 395, 399, 412, 420, 431 Pflichtexekution 112, 130, 133, 143, 223
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Sachregister
Pflichtkonstitution 48, 111, 156, 166, 168, 394 Pflichtzweck 84, 98, 101, 104, 120 f., 166, 193, 196 Postulat 39, 41, 68, 101 – 106, 159, 163, 165, 217, 221, 245, 266, 272, 274, 276 – 279, 281 – 284, 294, 300 – 305, 308, 310, 335 f., 355, 357, 428, 433 – Postulat des öffentlichen Rechts 217, 221, 245, 266, 300 f., 303 f., 306, 308, 335 f., 355, 428, 433 – Postulat erster Ordnung vs. Postulat zweiter Ordnung 103, 300 f., 303 – rechtliches Postulat der praktischen Vernunft 272, 274, 276 – 279, 281 – 284, 294 f. praecepta iuris → ulpianische Formeln Privatrecht, privatrechtlich 10, 15, 23, 64, 107, 194, 208, 212, 217, 239, 244, 248, 250 f., 261, 273, 281, 284, 286, 293 f., 298 – 300, 304, 307 f., 321, 335, 378 – 380, 395 Recht – natürliches Recht → Gesetze, natürliche; → Vernunftrecht – peremptorisches Recht 22, 279, 284 f., 290 f., 295, 297, 308, 323, 353 f. – positives Recht → Gesetze, positive – provisorisches Recht 8, 219, 282 – 285, 290 – 292, 295, 304, 308, 353 f. – Recht als Möglichkeitsbedingung 7, 84, 99, 103, 149, 183, 187, 203, 210, 230, 246, 258, 262, 264, 280, 295 f., 300, 303, 337, 425 – Recht formaliter 161, 244, 268, 305 – 310, 336, 342, 349, 354 f., 357 – 361, 368, 370, 378 – 380, 384 – 386, 392, 402, 412, 416, 418 f., 428 – 430, 433 – 435 – Recht materialiter 161, 242, 244, 246, 255, 262, 268, 305 – 308, 310, 342, 349, 353, 355 – 358, 360 f., 370, 378 – 381, 384 – 387, 392 – 394, 399, 402, 406, 412, 416, 418 f., 425, 429, 433 – 435 – striktes Recht 62 f., 85, 103, 393, 420 Recht der Menschheit → Menschheit
Rechte – angeborene, ursprüngliche Rechte 3, 6 – 8, 11 – 13, 15, 18, 22 f., 33, 37, 64 – 67, 72, 74 f., 80, 108, 162, 169, 185 f., 201, 203 – 207, 211 f., 219, 227, 249, 251, 253 – 255, 257, 261, 263 f., 272 – 274, 281, 286 – 290, 292, 296, 304, 308, 321, 323, 335, 337, 354, 356, 370, 380, 386, 412, 419, 422 f., 426 – 428, 433 – 435 – auf dingliche Art persönliche Rechte 171, 278, 333, 399 – äußere vs. innere Rechte → Mein und Dein – erworbene Rechte 33, 64 f., 162, 207, 212, 248 – 250, 252, 254, 272, 281, 285 f., 288, 291 – 294, 296 f., 299, 304, 323 f., 326, 336, 353 f., 380, 419, 427 – 429 – persönliche Rechte 107, 333 – subjektive Rechte, subjektiv-rechtlich 11, 37, 64 – 66, 204, 274, 321, 422 – unveräußerliche Rechte 7, 11, 356, 358, 412, 419, 422, 426, 428 f. Rechtsbegriff → moralischer Rechtsbegriff Rechtsbegründung 15, 67, 69 – 71, 87, 91, 101, 106, 110, 134, 139, 141, 145, 147, 150, 154, 157, 159 – 162, 165, 187, 232, 296, 342, 422, 424, 426, 435 Rechtsdeduktion → Ableitung des Rechtsprinzips Rechtsgemeinschaft 17 f., 28, 63, 210 f., 233, 237 – 240, 242, 248, 252, 313 Rechtsgeltung → Geltung – Rechtsgeltungsstaat → Staat als Rechtsgeltungsinstanz vs. Staat als Rechtssicherungsinstanz Rechtsgesetze, rechtsgesetzlich 18, 22, 35, 74, 82, 117, 137, 144, 154, 160, 224, 226 f., 231 – 233, 237 – 240, 248, 258, 262, 265, 279, 286 – 290, 298, 301, 303, 311, 316, 321 f., 324, 327, 336, 357, 387, 426 f. – Allgemeines Rechtsgesetz 11, 59 – 61, 63, 65 f., 68, 86, 96, 103 – 106, 109, 112, 114, 116, 119, 124, 138, 142, 144, 146, 149, 164 f., 167 – 169, 204, 207, 226, 245, 262, 271, 276, 279, 282, 294 f., 297, 301, 303, 306, 310, 323, 335, 337, 423
Sachregister
Rechtsordnung 63, 231 f. Rechtspflicht → Pflicht Rechtsprinzip (allgemeines) 59 – 61, 94, 96, 98, 102, 105, 141, 163, 201, 207, 273 f., 294, 301, 305 f. Rechtssicherung 222, 243 f., 403 Rechtsstaatlichkeit, rechtsstaatlich 3, 35, 359 f. Rechtssubjektivität 8, 11, 165, 209, 350, 421, 424, 431 (s. auch → Persönlichkeit, Personalität) Rechtsverletzung 8, 20, 71 f., 89, 137, 160 – 162, 192, 194, 197, 199, 201, 203, 212, 216, 220, 243 f., 263, 267, 273, 295, 304 – 308, 336, 345, 354 – 356, 361, 365, 378, 380 f., 385, 387, 391, 394, 397, 400, 405, 417, 428 Rechtszustand, rechtlicher Zustand (status iuridicus) 13 f., 18, 22, 35, 64, 149, 208 – 214, 216 – 222, 227 f., 240 – 252, 254 f., 257, 259, 262 – 266, 268 – 272, 279 – 286, 288 – 291, 293, 295, 298 – 301, 304, 307 f., 310 f., 314 f., 327, 329, 335, 340, 344, 351, 353 f., 357 – 364, 367 f., 370 f., 378 f., 384 – 386, 412, 419 f., 425 – 427, 430, 432 – 435 (s. auch → Staatlichkeit) Reform, Reformtätigkeit 320, 343, 346, 414, 416, 418, 431 Reformpflicht 14, 20, 360, 415 Regierung 5, 8, 14, 321, 326, 347 f., 352, 362, 365 f., 370, 381 f., 400, 415 Regierungsart, Regierungsführung 18, 315, 317 – 320, 330, 339 f., 343, 345 f., 364, 368, 408, 414 – 418, 431 Reich 4, 39, 45 f., 56, 78 f., 83, 149, 228 – 237, 239 f., 246, 248, 262, 316, 370, 426 – Reich der Tugend 231 – 233, 235, 237 – 240, 316 – Reich der Zwecke 39, 45 f., 56, 78 f., 83, 228 – 235, 237, 240, 246, 248, 262, 426 Repräsentation, repräsentativ 318, 320, 327 – 329, 341 – 343, 352 f., 371, 417, 430 Republik, republikanisch 8, 12, 16, 21, 31, 233, 261, 309, 315 – 320, 328 – 330, 336, 343 f., 346, 352, 359, 362, 364, 386, 400, 406, 408, 410, 414 – 418, 431
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Republikanisierung 410, 414 f., 417 respublica noumenon vs. respublica phaenomenon → Staat Revolution, revolutionär 8, 13 f., 20, 26, 31, 256, 339, 355 f., 365, 393, 396, 398, 400 f., 403 – 407, 409 – 412, 414 – 416, 418 – 421, 431 (s. auch → Widerstand) – Französische Revolution 8, 23, 26 f., 30 f., 33, 256, 338, 342, 369, 372, 393, 399 – 403, 406 – 409, 414, 418, 420 f., 431 Reziprozität, reziprok 13, 55 – 58, 63, 79, 89, 103, 139, 157, 162, 175, 192, 194 f., 211 f., 216, 229, 234, 238 f., 241 – 246, 250, 258 f., 264 f., 268, 289, 293 – 295, 298, 303, 306, 308, 310 f., 327, 334, 384, 387, 426, 433 – 435 Richter 107, 212 f., 220, 227, 238, 256, 265, 299, 322, 325 f., 340, 360, 368, 371, 381 f., 385, 388 f., 430 (s. auch → Gericht, Gerichtshof) Schulphilosophie 34, 124, 126, 129, 198, 222, 324, 374, 376 (s. auch → Naturrecht (klassisches, vorkantisches)) Schutzgut des Rechts, moralischer Schutzbereich des Rechts 72 – 75, 86 f., 137 f., 166, 199 f., 204, 258, 262, 377, 425, 434 Selbsterhaltung 5, 158, 180, 186, 201, 257, 266, 380 f., 387, 391, 395, 397, 400, 402, 420 (s. auch → Erhaltung der eigenen Rechtspersönlichkeit) Selbstmord (Suizid) 172 f., 175, 199 – 201 Selbstständigkeit (bürgerliche) 314, 330 – 334 Selbstverpflichtung → Autonomie Selbstzweckhaftigkeit (selbstzweckhaftig), Selbstzweck 15, 22, 27, 46, 70 f., 73 – 89, 91 – 93, 99, 104, 135 – 139, 164 f., 168 f., 174, 184, 186 f., 203 – 205, 209, 211, 226 – 230, 232 f., 235, 259, 261 f., 264, 267, 270, 423 – 425 (s. auch → Zweck an sich) Sittengesetz → Gesetze Sittenlehre 34, 37, 49 f., 73, 90, 94, 99 f., 103 f., 120, 145, 257 f. (s. auch → Moral) Sittlichkeit 45 f., 86 f., 92, 96, 101, 104, 109, 281, 408
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Sachregister
Souverän 6, 12, 14, 19 f., 233, 239 f., 245 f., 262, 290, 305 f., 317 f., 322, 325, 328 f., 331, 333, 340, 342, 345, 347 – 352, 360, 369 – 371, 402, 414, 426, 430 (s. auch → Oberhaupt) Souveränität 3, 20, 312 f., 315, 318, 322, 328 f., 340 – 344, 347, 351 f., 369 – 371, 379, 419, 429 – funktionaler vs. personaler Souveränitätsbegriff 328 f. Staat 3 – 5, 7 f., 10, 12 – 14, 16 – 20, 22, 30, 35, 37, 76, 136, 157 f., 210, 212, 214 – 220, 231, 233, 240, 242, 244, 246, 248 f., 255, 260 f., 271, 280, 282, 285 f., 288, 290, 292, 297, 302, 309, 311 – 313, 315 – 320, 324 f., 327 – 333, 335 – 337, 342 f., 346, 350 – 357, 359 – 362, 365, 369 – 371, 380, 382, 384 – 386, 392, 396 f., 399, 402, 404 f., 408, 411 f., 416, 419 f., 422, 425 – 427, 429 f., 432 – 434 – Staat als Realisationsbedingung 16, 21 f., 210, 227, 241 f., 246, 249, 255, 259 – 261, 263 f., 272, 281, 286, 292, 301, 303, 306 – 308, 310, 335, 337, 357, 379 f., 419, 425, 428 – Staat als Rechtsgeltungsinstanz vs. Staat als Rechtssicherungsinstanz 242 f., 247, 261, 268, 302 – Staat in der Erscheinung (respublica phaenomenon) 233, 311 f., 316 – 320, 327, 329 f., 332 f., 336 – 338, 343, 347, 351 f., 359, 408, 426 – Staat in der Idee (respublica noumenon) 232 f., 237, 241, 311 f., 314, 316 – 320, 327 – 334, 336 f., 343, 351 f., 359 f., 371, 408, 414, 416 f., 426, 431 Staatlichkeit 3 – 5, 7 f., 14, 16, 21 – 23, 35, 37, 67, 210, 214 – 216, 218, 227, 239, 241 f., 245 f., 248 – 250, 255, 257 – 261, 263 f., 267 f., 272, 281, 286, 290 – 293, 296, 298, 303, 306 – 308, 310 f., 313, 317 f., 335, 337, 344, 351 – 353, 357 – 359, 361, 363 f., 367 – 371, 380, 384, 386, 393, 403, 415, 419 f., 422, 425 f., 428 – 430, 432 (s. auch → Rechtszustand)
Staatsbegründung, Staatslegitimation 3, 10, 13, 15 – 17, 19, 22, 28, 33, 35, 211, 214, 216 f., 233, 243 f., 247, 249 – 255, 257, 262, 264 f., 272, 281, 286, 288 f., 292, 302 – 304, 313, 335 f., 338, 353, 360, 379, 396, 426, 428 f. – anthropologische Staatsbegründung 214 – 217, 244 – autonomietheoretische Staatsbegründung 248 f., 252, 255, 264, 269, 271 f., 285 f., 288, 292, 300 f., 307, 311, 314, 322 f., 335 f., 357, 422, 427 – eigentumstheoretische Staatsbegründung 272, 280 f., 285 f., 288, 292, 335, 427 – epistemische Staatsbegründung 218, 220 Staatsbürger 13, 76 f., 319, 329 f., 332 f., 352 f., 381, 403, 435 Staatsform 315 – 320, 329 f., 336 f., 352, 362, 408, 417, 434 Staatsgewalt → Gewalt Staatsklugheit → Klugheit Staatsoberhaupt → Oberhaupt Strafbarkeit, strafbar 339, 387, 389, 398 Strafe 49, 51, 116, 118, 227, 239, 324, 389 – 392, 397 f., 402 (s. auch → Todesstrafe) Strafgesetz 26, 390, 392, 394 Straflosigkeit, straflos, unstrafbar 387 f., 390 f., 394, 397 f., 402, 432 suum cuique tribue 10, 64, 170, 207 – 209, 216, 218, 253 f., 267 f., 271, 303 Synthetizität, synthetisch 47, 99, 105 f., 109, 165, 273, 276, 306, 310, 314, 355, 428 System 4, 13, 37, 49 f., 70, 82, 84, 87 f., 129, 136, 171, 178, 208, 224, 227, 229 f., 232, 253, 264, 266, 268, 291, 311, 329, 332, 339, 352 f., 393, 397 Tugendpflicht → Pflicht Tugendverpflichtung → Pflicht Todesstrafe 350, 370, 392, 394, 397 Tyrann, Tyrannei (tyrannis), tyrannisch 3 – 5, 338, 360 f., 363 – 368, 372, 381 – 387, 392 f., 395 – 398, 420, 428, 430 ulpianische Formeln (praecepta iuris) 64, 170, 188, 207 f., 249, 253 – 255, 264 – 268, 271 f., 286, 295, 297, 335, 427
Sachregister
Unabhängigkeitsthese, unabhängigkeitstheoretische Rechtsauffassung 69, 101, 105, 108, 133, 147 – 149, 152, 155, 161, 187, 425 Ungehorsam 7, 348, 350 Universalität, universell 206, 242 – 244, 268 Unrecht, unrecht 8, 14, 19, 55, 59, 61 f., 82, 134, 138, 161, 199 – 201, 203, 207 f., 212 f., 219, 244, 253, 256 f., 266, 274, 302, 305 – 308, 310, 322, 336, 342, 345 f., 352, 355 – 357, 365, 370, 373, 384 f., 387, 390, 392, 402, 416, 433 – im höchsten Grade unrecht tun, formaliter unrecht tun 244, 305 – 307, 310, 336, 342 f., 355 – 357, 371, 385, 387, 392 f., 402 f., 412, 418, 420, 428, 430, 433 Unterwerfungsvertrag 382 f., 385, 395 Urheber des Gesetzes vs. Urheber der Verbindlichkeit nach dem Gesetz 51, 125 – 128, 222 – 224, 226 f., 262, 270, 287, 427 (s. auch → Gesetzgeber) ursprünglicher Vertrag (contractus originarius) 3, 18 f., 312 – 317, 330, 336, 343 – 346, 348 f., 353, 355, 359, 365, 371, 381, 385, 414 f., 429 (s. auch → Gesellschaftsvertrag) Verbindlichkeit 6, 11, 13, 23, 47 f., 50 – 52, 54 – 56, 60 f., 63, 67 f., 82, 86, 91 – 93, 103, 113 f., 116, 118 f., 123 – 127, 129, 131 f., 139, 142 – 144, 153 f., 156 f., 159 – 165, 167, 169 f., 172, 175 f., 178 f., 182 – 184, 188, 190 – 192, 194, 206, 219, 222 – 224, 226, 235, 243, 246, 249, 253, 256, 258, 262 f., 267, 270, 279 f., 282, 286 – 290, 302, 304, 310, 315, 324, 326, 336, 361, 374 f., 377, 388 f., 395, 397, 403, 423, 426 – 428 – Urheber der Verbindlichkeit → Urheber des Gesetzes vs. Urheber der Verbindlichkeit nach dem Gesetz Verbrechen 12, 256, 355, 365, 372, 377, 385, 397, 401 vereinigter Volkswille, vereinigter Wille aller 18 – 21, 210, 241, 248, 259, 285, 287, 294, 297 f., 307, 311, 314, 316 – 318, 320,
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322 – 324, 327 – 329, 336, 340, 342, 351 f., 357, 359, 368, 370, 385, 398, 404, 419, 428 f. (s. auch → Wille, allgemein gesetzgebender) Verfassung 14, 21, 35, 156, 209, 215 f., 219, 231, 238, 244, 251, 263, 272, 281 f., 284, 299, 303, 307, 311 f., 315 f., 320 f., 332, 339 – 345, 347, 349, 352, 362 – 364, 368, 386, 400 f., 403 f., 408 f., 411, 413 – 419, 433 Verletzung → Rechtsverletzung Vernunft – reine praktische Vernunft 42, 56, 73, 79, 84 – 86, 91 f., 99, 102 – 104, 109 – 113, 118 – 121, 124 – 128, 134, 140 – 143, 148, 151, 155 f., 158 f., 162 – 165, 167 f., 177, 179, 181 f., 184, 217, 223 – 226, 229, 231, 235 – 238, 241, 270, 273 f., 316, 424, 427 – technisch-praktische Vernunft, empirisch bedingte praktische Vernunft 42, 103, 119 f., 136, 141, 144, 147 f., 152 f., 155 – 159, 163, 166 Vernunftfaktum 25, 46 – 48, 102 – 104, 109, 142, 144, 151, 163, 165, 183 f., 186, 254, 267, 276 Vernunftgesetze → Gesetze Vernunftrecht 13, 218 – 220, 249, 261, 286, 323 f., 338, 353, 355, 357, 379, 393, 419 Vernunftwesen, Vernunftnatur 11, 17, 22, 42 – 46, 56, 70 f., 74 f., 79, 81 – 87, 89, 92 f., 98 f., 104, 111, 114, 135 – 137, 139, 141, 149, 154, 158, 162 – 164, 166, 168 f., 174, 176, 179, 181 f., 184, 187, 203, 205 f., 209 f., 228 – 230, 233 – 237, 246, 255, 258, 260, 262 f., 270 f., 292, 303, 336 – 338, 356, 422 – 424, 426, 428 (s. auch → Person) verpflichtender Grund (ratio obligans) 374 f., 380 Verpflichtung 10 f., 21, 34, 47, 68, 82, 93, 95, 103 f., 113, 115, 124, 139, 142 f., 146 f., 151, 158, 160 f., 163, 175, 177 – 179, 182 – 186, 190 – 192, 195, 201, 203, 209, 216, 226, 234, 236, 245 f., 248, 254, 259, 267, 271, 279, 285, 288 – 290, 335, 346, 374 f., 378, 382 f., 412, 426
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Sachregister
Verpflichtungsgrund (ratio obligandi) 374 – 376, 380, 394, 398 Vertrag, vertragliches Versprechen 71 f., 104 f., 107, 112, 116, 125, 203, 303, 306, 309, 356, 376 Volk 5, 18 – 20, 35, 136, 156, 158, 214 f., 220, 237 f., 240 – 242, 246, 261, 292, 311 – 315, 317 – 319, 325 – 330, 332, 339 – 345, 347 f., 351 – 353, 356, 358, 368 f., 371 f., 379, 381 – 385, 393, 400 – 404, 408, 415 – 417, 426 – Volk von Teufeln 136, 156 – 158, 214 f., 261 Volkssouveränität → Souveränität Volkswille → vereinigter Volkswille Wechselseitigkeit, wechselseitig → Reziprozität, reziprok Widerstand 4 f., 7 f., 14, 20, 23, 26, 59, 117, 138, 203, 338 – 345, 347 – 352, 355, 357, 359 – 362, 366 – 368, 370, 372, 381 – 383, 385, 387 f., 392 f., 395, 397 f., 400, 402, 406, 412 f., 419 f., 428, 430 – freiheitlicher Widerstand 4 f., 8, 16 f., 23, 338, 372, 387, 393 – 395, 397 f., 406, 412, 418, 420, 432 Widerstandsrecht 4 – 8, 12, 15, 17, 22, 24, 30 f., 336 – 341, 343 f., 348, 351 – 354, 358, 360, 362 f., 366 f., 370, 380, 383, 386, 393, 396, 399 – 401, 419 f., 422, 428 – 430 – Freiheit der Feder → Freiheit der Feder – konstitutionelles Widerstandsrecht 14, 341, 347, 351, 400 f., 407 – negatives Widerstandsrecht 347, 419 – passives Widerstandsrecht (ziviler Ungehorsam) 348 – 350, 419 – Widerstand als Notrecht → Notrecht (favor necessitatis, ius in casu necessitatis) Widerstandsverbot 7, 12 – 17, 19, 21 – 23, 27, 31, 337 – 339, 345, 350 f., 353, 356 – 359, 361 f., 365 f., 396, 399 – 403, 406 f., 410 – 412, 417 – 420, 422, 429 – 432 (s. auch → Gehorsamspflicht) Wille 3, 18 f., 22, 25, 28 f., 35, 38 f., 42 – 45, 47 f., 64, 70 – 72, 78 f., 81, 84 f., 87, 94, 96 f., 100, 103, 105 f., 110 – 112, 118, 126 – 130, 132, 136, 138 – 143, 146,
148 f., 152, 154, 157 f., 163, 184, 214, 220 f., 223 – 225, 227 f., 231, 234 – 236, 238 – 241, 245 f., 248, 259 f., 262, 270 f., 278 – 286, 289 f., 292 – 295, 298 f., 301 – 307, 310 – 314, 316 f., 319 f., 323, 325, 327 – 329, 331 – 333, 335 – 337, 341, 344, 347, 355, 358, 369 – 371, 397, 400, 424, 426 f., 430, 433 – 435 – allgemein gesetzgebender Wille 3, 241, 246, 259, 270 f., 280, 283, 286, 290, 292 – 295, 302, 304, 316, 319, 323, 328 f., 335, 371, 426 f., 430, 434 (s. auch → vereinigter Volkswille) – Allgemeinwille 20, 319 Wille als legislative vs. Willkür als exekutive Instanz 94, 111, 140 f., 224 f. Willkür 17, 25, 37, 39, 50 – 52, 55 – 60, 62 f., 65 f., 72 – 74, 76, 80, 82, 86, 94, 98, 103, 107, 111, 116 f., 121, 123 – 125, 129, 131, 135, 139 – 143, 146, 148, 151 – 156, 169, 175, 189, 191 f., 204, 207, 212, 218 f., 224 f., 242, 253, 273 – 276, 279 – 285, 290, 294 f., 303, 323, 330, 332 – 334, 354, 361, 369, 374, 378, 415, 417, 422, 424, 434 – Freiheit der Willkür, freie Willkür (arbitrium liberum) 41, 50 f., 54, 58 f., 67, 73 f., 96, 111, 124, 138 – 141, 143, 147, 150 – 154, 163, 165, 179, 201, 224, 228, 281, 422 – synthetische Einheit der Willkür → Einheit – tierische Willkür (arbitrium brutum) 141 – Willkürgebrauch 11, 37, 62, 65 f., 74, 79, 81 f., 94 f., 99, 116, 136 f., 149, 169, 172, 191 f., 194, 200 f., 258, 275, 333 f., 429 – Willkürverhältnis 55, 57 f., 89, 175, 294 f., 304, 348 Würde 3, 45, 70, 75 f., 89, 126, 132, 135, 174, 259, 261, 369 Zurechnung 56 f., 144, 153 – 155, 161, 165, 388, 390 – beurteilende Zurechnung 388 – 390 – rechtskräftige Zurechnung 388 f., 391 f. Zurechnungsfähigkeit 57, 154 f., 176, 178 f. Zustand – bürgerlicher, rechtlicher Zustand → Rechtszustand
Sachregister
– gesellschaftlicher Zustand (status adventitius) 299 – natürlicher Zustand → Naturzustand (status naturalis) Zwang 4, 13, 53, 62 f., 105, 117 – 119, 123, 128, 130 f., 133 – 136, 138, 144, 157, 161, 165 – 168, 191 – 194, 196, 198, 200 f., 203, 217, 233, 241 f., 258 – 260, 287, 296 f., 302 f., 310, 315, 323, 326 f., 343, 347 f., 384, 389, 391, 424 – äußerer Zwang, Fremdzwang 53 f., 118 f., 121 – 123, 128, 130, 132, 165 f., 192, 233, 238 – 240, 304, 424 – innerer Zwang, Selbstzwang 9 f., 53, 117 – 123, 128 – 130, 132, 165 f., 193, 323, 327, 424 – moralischer Zwang 118 f., 121 – 123, 129 – 132, 165 f., 226, 424 – pathologischer Zwang 118 – 120, 122 f., 132, 165 f. – physischer Zwang (vis absoluta) vs. psychischer Zwang (vis compulsiva) 62, 118, 133 – 135, 323 – 325, 395 Zwangsarten, moralisch mögliche 117, 119 f., 122 – 124, 129, 166, 424
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Zwangsbefugnis 9, 61 f., 64, 99, 105, 133 f., 137 f., 165 f., 192 – 194, 198 f., 201 f., 241, 258, 260, 285, 310, 424 Zwangsordnung 63, 232, 242, 306 – 308, 325, 363 Zwangspflicht → Pflicht Zweck 6, 11, 24, 43, 45 f., 50, 53 f., 58 – 60, 70 – 72, 74 – 81, 83 – 89, 91 – 101, 105, 112, 115, 117, 120 – 122, 129 f., 135 f., 138, 148 f., 153, 155, 164 – 166, 169 f., 184, 187, 191 – 193, 197, 204 f., 216, 224, 226, 228 – 232, 234, 253, 263, 270, 280, 283, 291, 313, 315, 331, 349, 356, 386, 400, 405 f., 408 f., 423 – 425 – Pflichtzweck → Pflichtzweck – Reich der Zwecke → Reich – Zweck an sich 45 f., 74 – 76, 78, 80 f., 83 f., 87, 91 f., 98, 184, 228, 231, 263, 270, 356, 425 (s. auch → Selbstzweckhaftigkeit (selbstzweckhaftig), Selbstzweck) Zweckformel 15, 77 – 81, 83, 90, 92, 133, 138, 169, 187, 229 f., 423, 426 (s. auch → Imperativ, kategorischer)