"Unternehmen Barbarossa": Zum historischen Ort der deutsch-sowjetischen Beziehungen von 1933 bis Herbst 1941 [Reprint 2015 ed.] 9783486595710, 9783486559798

12 renommierte Historiker des In- und Auslandes greifen analysierend, strukturierend und bilanzierend die Frage nach Vor

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German Pages 188 Year 1993

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Table of contents :
Vorwort
Einführung
Hitlers doppeltes Kernstück
Der Kurswechsel der deutschen Polenpolitik nach Hitlers Machtergreifung
Das Zustandekommen und die Auswirkungen des Hitler-Stalin-Paktes
Die sowjetisch-deutschen Beziehungen vom August 1939 bis Juni 1941
Warum brauchte Hitler einen Nichtangriffspakt mit Stalin?
Die Sowjetunion im ökonomischen Kalkül des Dritten Reiches 1933—1941
Die militärische Planung des »Unternehmens Barbarossa«
Vichy und der deutsch-sowjetische Krieg: eine Chronik aus dem Untergrund
Die Anfangsphase des Krieges — das Jahr 1941
Das andere Gesicht des Krieges: Das »Unternehmen Barbarossa« als Eroberungsund Vernichtungskrieg
Die Wehrmacht und die nationalsozialistische Besatzungspolitik in der Sowjetunion
Der Überfall auf die Sowjetunion im Zusammenhang mit Hitlers diplomatischen und militärischen Gesamtplanungen
Die Autoren
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"Unternehmen Barbarossa": Zum historischen Ort der deutsch-sowjetischen Beziehungen von 1933 bis Herbst 1941 [Reprint 2015 ed.]
 9783486595710, 9783486559798

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»Unternehmen Barbarossa«

Beiträge zur Militärgeschichte Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Band 40

R. Oldenbourg Verlag München 1993

»Unternehmen Barbarossa« Zum historischen Ort der deutsch-sowjetischen Beziehungen von 1933 bis Herbst 1941

Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegeben von Roland G. Foerster

R. Oldenbourg Verlag München 1993

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme „Unternehmen Barbarossa" : zum historischen Ort der deutschsowjetischen Beziehungen von 1933 bis Herbst 1941 / im Auftr. des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Roland G. Foerster. - München: Oldenbourg, 1993 (Beiträge zur Militärgeschichte ; Bd. 40) ISBN 3-486-55979-6 NE: Foerster, Roland G. [Hrsg.]; GT

© 1993 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Maria-Elisabeth Marschalt, Militärgeschichtliches Forschungsamt, Freiburg i.Br. Druck und Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-55979-6

Inhalt

Vorwort

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Einführung

9

Eberhard Jäckel Hitlers doppeltes Kernstück

13

Gottfried Schramm Der Kurswechsel der deutschen Polenpolitik nach Hitlers Machtergreifung . . .

23

Günter Rosenfeld Das Zustandekommen und die Auswirkungen des Hitler-Stalin-Paktes

35

Aleksandr S. Orlov Die sowjetisch-deutschen Beziehungen vom August 1939 bis Juni 1941

55

Sergej Slutsch Warum brauchte Hitler einen Nichtangriffspakt mit Stalin?

69

Hans-Erich Volkmann Die Sowjetunion im ökonomischen Kalkül des Dritten Reiches 1933—1941 . . . Wilhelm Deist Die militärische Planung des »Unternehmens Barbarossa«

89 109

Marcel Spivak Vichy und der deutsch-sowjetische Krieg: eine Chronik aus dem Untergrund

123

Anatolij G. Chor'kov Die Anfangsphase des Krieges — das Jahr 1941

137

Jürgen Förster Das andere Gesicht des Krieges: Das »Unternehmen Barbarossa« als Eroberungsund Vernichtungskrieg

151

Theo J. Schulte Die Wehrmacht und die nationalsozialistische Besatzungspolitik in der Sowjetunion

163

Gerhard L. Weinberg Der Uberfall auf die Sowjetunion im Zusammenhang mit Hitlers diplomatischen und militärischen Gesamtplanungen

177

Die Autoren

187

Vorwort

Das »Unternehmen Barbarossa«, das den Angriff des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion und damit Hitlers eigentlichen Weltkrieg einleitete, gehört zu den Ereignissen unseres Jahrhunderts, die die Welt verändert haben. Das Militärgeschichtliche Forschungsamt widmete seine jährliche Internationale Tagung Militärgeschichte diesem epochalen Ereignis, das wie kaum ein anderes in vielen Abhandlungen ebenso apologetisch wie kontrovers dargestellt und nicht selten mit Mythen und mit Legenden umgeben wurde. Demgegenüber sah diese Tagung ihre vordringlichste Aufgabe in der wissenschaftlichen Aufarbeitung und Bewertung des deutsch-sowjetischen Krieges. In dieser Absicht konnte an die Ergebnisse des vierten Bandes »Der Angriff auf die Sowjetunion« des Reihenwerkes »Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg« (1983) angeknüpft werden und darüber hinaus neue Forschungsergebnisse vorgestellt werden. Das breite Spektrum der Themen reichte von der Wahl des sinnbildlichen Kennworts »Unternehmen Barbarossa«, das als Hinweis auf den Kreuzzugcharakter des Feldzuges gedeutet werden kann, über den Kampf der europäischen Mächte um die Vorherrschaft in Europa bis hin zu dem Aufeinanderprallen zweier antagonistischer Weltanschauungen, dem Nationalsozialismus und dem Bolschewismus-Kommunismus. Das MGFA dankt den in- und ausländischen Historikern, die sich als Referenten zur Verfügung stellten und mit ihrer Kompetenz zum Erfolg der Tagung entscheidend beitrugen. Des weiteren gilt der Dank dem Oberbürgermeister der Stadt Freiburg, der durch seine Schirmherrschaft wesentliche Voraussetzungen für den internationalen Rahmen der Tagung schuf.

Dr. Günter Roth Brigadegeneral und Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes

Einführung

Folgt man der ebenso geistreichen wie einleuchtenden These Donald Cameron Watts von sechs Entwicklungsphasen, die die Historiographie einer bestimmten geschichtlichen Epoche nach und nach durchläuft 1 , so befindet sich die Geschichtsschreibung zum Zweiten Weltkrieg heute in ihrem fünften und damit vorletzten Stadium. Es ist eine Phase, in der die Historiker im N a m e n eines historischen Realismus versuchen, all jene Mythen und Fehlinterpretationen wegzuräumen, die frühere Darstellungen aufgrund unzureichender Q u e l l e n und einer zeitbedingt verengten Sicht hinterlassen haben. Vor allem aber beginnt die Forschung, das Geschehen der Vergangenheit nicht mehr ausschließlich retrospektiv, also von der Gegenwart her, zu betrachten; vielmehr entwickeln sich bei einem solchen Ansatz geschichtliche Zusammenhänge und Beziehungsgeflechte auch aus einer Periode, die vor den Ereignissen des Untersuchungszeitraums liegt. Solche Überlegungen veranlassen das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA), bereits vorliegende Forschungsergebnisse auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen gelegentlich erneut zur Debatte zu stellen und die Erträge der Fragen zu einem bestimmten historischen Kernthema in Darstellungen und Aufsatzsammlungen zu publizieren. Auch das Thema des hier vorgelegten Bandes, der Angriff des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, unter dem Decknamen »Unternehmen Barbarossa« weithin bekannt, ist bereits besonders intensiv untersucht und dargestellt worden. Das trifft für die Veröffentlichungen des M G F A und seiner Mitarbeiter ebenso zu 2 wie für eine kaum noch zu überblickende Literatur des In- und Auslandes. Warum also eine weitere Veröffentlichung? D e r Band mit Beiträgen ausgewiesener Wissenschaftler ist nicht allein als weitere Ergänzung und Erweiterung des Forschungsstandes der bisher erschienenen Literatur gedacht. Die zwölf Aufsätze sind vielmehr Ergebnis einer vom M G F A veranstalteten Tagung, in 1

Donald Cameron Watt, Bemerkungen mit dem Ziel einer Synthese, in: Die westliche Sicherheitsgemeinschaft 1948—1950. Gemeinsame Probleme und gegensätzliche Nationalinteressen in der Gründungsphase der Nordatlantischen Allianz. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Norbert Wiggershaus und Roland G. Foerster, Boppard a.Rh. 1988 ( = Militärgeschichte seit 1945, Bd 8), S. 343 ff., sowie ders., The Historiography of Appeasement, in: Crisis and Controversy. Essays in Honour of A . J . P. Taylor, London 1976.

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Der Uberfall Deutschlands auf die Sowjetunion im Sommer 1941 wurde nicht nur im Rahmen des Werkes Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, in B d 4 : Der Angriff auf die Sowjetunion, Stuttgart 1983, 2 1991, auf breiter Quellenbasis dargestellt. Es erschienen darüber hinaus eine ganze Reihe von Monographien von Mitarbeitern des Hauses, von denen nur genannt werden sollen: Hartmut Schustereit, Vabanque. Hitlers Angriff auf die Sowjetunion, Herford 1988; Der Zweite Weltkrieg. Analysen — Grundzüge — Forschungsbilanz. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Wolfgang Michalka, München, Zürich 1989; und zuletzt die von Bernd Wegner herausgegebene umfangreiche Aufsatzsammlung Zwei Wege nach Moskau. Vom Hitler-Stalin-Pakt zum »Unternehmen Barbarossa«, München 1991.

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Einführung

deren Rahmen die vorgetragenen Thesen im Sinne des weiter oben Gesagten außerhalb der Werkstatt des Historikers am runden Tisch eingehend diskutiert werden sollten. Wenn Bernd Wegner feststellt, daß die Darstellung historischer Forschung »stets eine Reduktion von Komplexität«3 bedeutet, so hat er damit die Intention dieser Tagung und des vorliegenden Bandes verdeutlicht: Die neuesten Forschungsergebnisse zum Thema sollten analysierend, strukturierend und bilanzierend kompakt und durchaus provokativ dargeboten, diskutiert und einem breiten Leserkreis zugänglich gemacht werden. In diesem Zusammenhang erwies sich die Möglichkeit, auch russische Historiker zu Wort kommen zu lassen, für den wissenschaftlichen Meinungsaustausch während der Tagung als atmosphärisch wie wissenschaftlich sehr anregend und fruchtbar. Damit ist es zum ersten Mal im Rahmen einer Tagung gelungen, auf internationaler Ebene die 1990 beschlossene wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen dem MGFA und dem Militärgeschichtlichen Institut der Russischen Föderation, aber auch der Kooperation mit der Russischen Akademie der Wissenschaften, durch gemeinsame Grundlagenarbeit auf Quellenbasis in die Praxis umzusetzen. Es hat sich dabei herausgestellt, daß mit Blick auf gemeinsame Forschung noch sehr viel Arbeit zu leisten sein wird; denn trotz tiefgreifender politischer und administrativer Veränderungen in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten ist der Zugang zu den Quellen der Kriegsjahre in den Archiven der Russischen Föderation bisher nur wenig erleichtert worden, selbst für einheimische Historiker. Trotzdem steht zu hoffen, daß die Einbeziehung von Forschern aus der früheren Sowjetunion in eine freimütige wissenschaftliche Diskussion für die Beantwortung vieler noch offener Fragen zu Ursache und Ablauf des Zweiten Weltkrieges in Zukunft rasche Fortschritte machen wird. Die Auswahl der Beitragsthemen durch den Herausgeber war Ergebnis des Versuchs, trotz aller Zeitknappheit während der Tagung ein möglichst breit gefächertes Bild der Vorgeschichte und der aus ihr sich konsequent entwickelnden Geschichte des »Unternehmens Barbarossa« zu bieten. Es sollten im Sinne einer umfassend ansetzenden Militärgeschichte die politischen, diplomatischen, wirtschaftlichen, sozialen, militärischen und ideologischen Zusammenhänge dieser Periode verdeutlicht und damit das volle Ausmaß der Verblendung Hitlers und seiner politischen und militärischen Umgebung erkennbar werden, unter den gegebenen Voraussetzungen die rassenideologischen Eroberungs- und Vernichtungspläne des NS-Staates in die Tat umzusetzen. Zu zwei Problemkreisen, die in den Beiträgen angesprochen werden und noch immer zu heftigen Kontroversen führen, soll kurz Stellung genommen werden. Da ist zum einen die sogenannte Präventivkriegsthese, daß Hitler mit dem Überfall auf die Sowjetunion einem sowjetischen Angriff zuvorgekommen sei. Nach begründeter Auffassung einer überwältigenden Mehrzahl von Historikern des In- und Auslandes ist diese These allein schon deshalb ad absurdum geführt, weil die Argumentations- und Motivationskette der deutschen Entscheidungsträger für einen Krieg gegen die Sowjetunion, an ihrer Spitze Adolf Hitler, nahezu lückenlos nachgewiesen werden kann. Nicht an einer Stelle wird dabei mit unmittelbaren Bedrohungsvorstellungen des Reiches argumentiert, wobei man mit der 3

Bernd Wegner, ebd., S. XII.

Einführung

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Erfindung von Begründungen, die für einen Angriff auf die Sowjetunion sprachen, wahrhaftig nicht zimperlich oder gar phantasielos war. Demzufolge war nach jahrelanger Vorbereitung das uneingeschränkte Ziel dieses Krieges die Durchsetzung der NS-Rassenideologie und die Gewinnung von Lebensraum im Osten; Bedrohungsvorstellungen spielten dabei keine ursächliche Rolle. Die vor kurzem aufgetauchten Indizien dafür, daß Stalin und der Generalstab der Roten Armee möglicherweise doch einen Schlag gegen das Deutsche Reich zu führen beabsichtigten 4 , ändern an dieser Erkenntnis nichts. Abgesehen davon stehen für eine Erhärtung einer solchen These noch immer unzureichende sowjetische Quellen zur Verfügung. Das zweite Problem ist die Beurteilung der Verstrickung der Wehrmacht in Kriegsverbrechen. Es kann aufgrund einer enormen Zahl von dokumentarischen Beweisen, die teilweise erst in den letzten Jahren durch die Öffnung von Archiven in der Russischen Föderation und vor allem in der früheren Tschechoslowakei gefunden wurden, keinen Zweifel daran geben, daß einzelne Angehörige, aber auch ganze Einheiten der Wehrmacht, an Kriegsverbrechen beteiligt waren oder sie auch selbstverantwortlich begangen haben. Dies gilt auch angesichts der Tatsache, daß das Kriegsvölkerrecht einen sehr weiten Spielraum für Repressalien bot. Dieses schreckliche Faktum kann und darf nicht verschwiegen werden, es ist Teil des historischen Gesamtprozesses und bedarf der eingehenden Untersuchung. Es besteht jedoch ebensowenig Zweifel daran, daß sich Millionen von deutschen Soldaten aller Dienstgrade keiner Verbrechen gegen die Menschenrechte und keines Verrates ihres christlich-abendländischen Ethos schuldig gemacht haben. Die Tatsache, daß die Wehrmacht als Ganzes Instrument des Krieges war, den das Deutsche Reich gegen die Sowjetunion führte, reicht zu einer moralischen Verurteilung des einzelnen Soldaten nicht aus. Schuld kann ethisch allein jeder für sich auf sich laden, juristisch muß sie individuell nachgewiesen werden. Als Historiker würde sich unglaubwürdig machen, wer die schweren Verbrechen verschweigt, die von Angehörigen der Wehrmacht in der Sowjetunion begangen wurden. Es gilt jedoch, mit Vorsicht und Takt differenzierend abzuwägen und zu urteilen. Die Analysen von Jürgen Förster und Theo Schulte können hierzu einen wichtigen Beitrag leisten. Es ist mir ein Anliegen als Herausgeber, allen Autoren und Teilnehmern, die sich der wissenschaftlichen Herausforderung der Freiburger Tagung gestellt und an diesem Band mitgewirkt haben, für die gute Zusammenarbeit herzlich zu danken. Mein besonderer Dank gilt all jenen Mitarbeitern, die mich bei der Herausgabe dieses Buches unterstützt haben.

Dr. Roland G. Foerster Oberst i. G.

4

Siehe W. Danilow, Hat der Generalstab der Roten Armee einen Präventivschlag gegen Deutschland vorbereitet?, in: Osterreichische Militärische Zeitschrift, 31. Jg (1993), Η. 1, S. 41 ff.

Eberhard Jäckel

Hitlers doppeltes Kernstück

Am Mittwoch, dem 16. Juli 1941 — es war der 25. Tag des Krieges gegen die Sowjetunion, die militärischen Erfolge schienen einen deutschen Sieg in greifbare Nähe zu rücken —, hielt Hitler in seinem Führerhauptquartier mit dem von einem Raubtier abgeleiteten Decknamen »Wolfsschanze« bei Rastenburg in Ostpreußen eine Besprechung ab. Sie dauerte fünf Stunden. Sie »begann«, wie es in dem darüber angefertigten Aktenvermerk von Martin Bormann heißt, »um 15 Uhr und dauerte mit einer Kaffeepause bis gegen 20 Uhr«. Vordergründig ging es um mehrere Erlasse über die Verwaltung der neu besetzten Ostgebiete, die am folgenden Tag ausgefertigt wurden. Geladen war in erster Linie Alfred Rosenberg, der als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete vorgesehen war. Anwesend waren ferner der Chef der Reichskanzlei, Heinrich Lammers, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, die die Erlasse mitunterzeichnen sollten, sowie Reichsmarschall Göring, der am 29. Juni noch einmal als Nachfolger Hitlers bestätigt worden war und dem am selben Tage die Wirtschaftsverwaltung in den neuen Ostgebieten übertragen worden war, und schließlich Bormann, der Leiter der Parteikanzlei. Es war eine der für diesen Führerstaat charakteristischen Ressortbesprechungen. Es gab ja im Unterschied zu anderen Staaten — worüber man sich nie genug wundern kann — kein allgemeines Führungsgremium, etwa ein Regierungskabinett oder ein Parteizentralkomitee, in dem die Richtlinien der Politik festgelegt wurden. Dies geschah allein im Kopf Hitlers, und er erteilte seine Weisungen in jeweils ad hoc einberufenen Kreisen. Dabei achtete er streng auf eine Geschäftsordnung, die er einmal als »Grundsatz für die Arbeit« so formuliert hatte: »1. Niemand ist zu beteiligen, der es nicht wissen muß. 2. Niemand darf mehr erfahren, als er wissen muß. 3. [...] Niemand darf früher etwas wissen, als er es wissen muß.« Hier also ging es nun im Kreise der Zuständigen darum, dem neuen Ostminister allgemeine Richtlinien an die Hand zu geben und die ihm beizuordnenden Verwaltungschefs zu ernennen. Militärische und polizeiliche Fragen wurden nicht besprochen. Dafür gab es andere Kreise. Es ging allein um die Verwaltung. Das aber ging denn doch nicht, ohne daß Hitler seine Untergebenen über die allgemeinen Ziele jedenfalls in ihrem Bereich unterrichtete. Die Besprechung verlief zwar etwas chaotisch, aber im übrigen durchaus folgerichtig. »Einleitend betonte der Führer«, so lesen wir in Bormanns Aktenvermerk, »er wolle zunächst einige grundsätzliche Feststellungen treffen.« Dabei ging er von einer französischen Zeitung aus, die geschrieben hatte, »der Krieg gegen die Sowjet-Union sei ein Krieg Europas«. Das entsprach ganz den amtlichen deutschen Verlautbarungen. In seiner Proklamation vom 22. Juni hatte Hitler selbst erklärt, »die jüdisch-bolschewistische Macht-

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Eberhard Jäckel

haberschaft von Moskau« habe sich seit über zwei Jahrzehnten bemüht, »nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa in Brand zu stecken«. Dem sei er nun entgegengetreten, und die Aufgabe der Front sei »daher [...] die Sicherung Europas«. So sprach Hitler sogar zu seinen Militärs. Am 30. Juni hatte er das nahegelegene Hauptquartier des Oberkommandos des Heeres besucht und in einer anschließenden Teestunde geäußert, was Generalstabschef Halder in seinem Tagebuch so zusammenfaßte: »Europäische Einheit durch gemeinsamen Krieg gegen Rußland.« Hier jedoch sprach er ganz anders. »Offenbar«, sagte er, wolle diese Zeitung mit derlei, wie er sie nannte, »unverschämten« Hinweisen erreichen, »daß die Nutznießer dieses Krieges nicht allein die Deutschen sein dürften, sondern daß alle europäischen Staaten daraus ihren Nutzen ziehen müßten«. »Wesentlich sei«, fuhr er fort, »daß wir unsere Zielsetzung nicht vor der ganzen Welt bekanntgäben.« Doch er hatte ja vor der ganzen Welt ein Ziel, nämlich die Sicherung Europas vor einem bevorstehenden sowjetischen Angriff, bekanntgegeben. Das enthüllte er nun als Täuschung und sagte damit, daß das Ziel in Wahrheit ein anderes war. Dieses aber zu erklären, setzte er in einer charakteristischen Wendung hinzu, sei nicht notwendig, sondern überflüssig, »denn soweit unsere Macht reiche, könnten wir alles tun, und was außerhalb unserer Macht liege, könnten wir ohnehin nicht tun.« Die »Hauptsache sei, daß wir selbst wüßten, was wir wollten«. Das hieß nicht unbedingt, daß die Anwesenden es schon wußten. Es konnte auch heißen, daß sie jetzt erfuhren, was sie wissen mußten, um es ausführen zu können. »Wir werden also«, sagte er, »wieder [«wie in den Fällen Norwegen, Dänemark, Holland und Belgien«] betonen, daß wir gezwungen waren, ein Gebiet zu besetzen, zu ordnen und zu sichern; im Interesse der Landeseinwohner müßten wir für Ruhe, Ernährung, Verkehr usw. usw. sorgen; deshalb unsere Regelung.« Das aber war in Wahrheit nur die amtliche Version, gewissermaßen die Sprachregelung nach außen. »Es soll also nicht erkennbar sein«, fuhr Hitler fort, »daß sich damit eine endgültige Regelung anbahnt! Alle notwendigen Maßnahmen — Erschießen, Aussiedeln etc. — tun wir trotzdem und können wir trotzdem tun. [...] Wir tun also lediglich so, als ob wir ein Mandat ausüben wollten. Uns muß aber dabei klar sein, daß wir aus diesen Gebieten nie wieder herauskommen.« Das war eindeutig. Es hieß: Wir tun nur so, als seien wir einem Angriff zuvorgekommen, als sicherten wir Europa, als seien wir wieder gezwungen worden, ein Gebiet zu besetzen, und müßten nun dort im Interesse der Landeseinwohner für Ruhe und Ordnung sorgen, während wir in Wahrheit etwas erobern, das wir nie wieder herausgeben werden, und unter den notwendigen, dazu notwendigen Maßnahmen nannte er an erster Stelle »Erschießen« und »Aussiedeln«. Für ihn jedenfalls war dies, anders als für manche Historiker, kein Präventivkrieg. Dann ging er unvermittelt ins einzelne und sagte: »Die Krim muß von allen Fremden geräumt und deutsch besiedelt werden.« Das war für den Anfang bemerkenswert, denn an diesem Tage war gerade Kisinev erobert worden, die Krim lag noch 500 Kilometer weiter, und der Gegenstand der Besprechung sollte doch die Verwaltung der besetzten und nicht der noch nicht besetzten Gebiete sein. Bemerkenswert war auch die Formu-

Hitlers doppeltes Kernstück

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lierung, die Krim müsse »von allen Fremden geräumt« werden. Damit konnten nur die Einheimischen gemeint sein, und bei Räumung denkt man an Hitlers zweite notwendige Maßnahme, das Aussiedeln, hier ergänzt durch Deutsch-Besiedeln. Nun möchte man vielleicht meinen, daß der Rausch des Erfolges den Führer etwas benebelt hatte. Aber dies war kein Einfall des Augenblicks. Schon zehn Tage vorher hatte Hitler bei Tisch geschwärmt: »Die Schönheit der Krim, uns erschlossen durch eine Autobahn: der deutsche Süden.« Und zehn Tage später, am 27. Juli, wiederholte er wörtlich die Formulierung vom 16.: »Den Süden der Ukraine, die Krim besonders, wollen wir ganz ausschließlich deutsch besiedeln. Es macht mir keine Mühe, die dortige Bevölkerung anderswohin zu schieben.« Im Dezember sagte er noch einmal zu Rosenberg, »daß er die Krim später vollständig gesäubert wünsche«. Dieser hatte inzwischen den Gedanken längst aufgegriffen und vertieft. Am 30. Oktober hatte er an den Anfang einer Chefbesprechung in seinem Ministerium über die Landesplanung im Ostraum eine, wie er sagte, »geschichtliche, vielleicht sentimentale Einleitung« gesetzt: »200 Jahre herrschten zwischen dem Baltenreich und Schwarzen Meer die Goten«, dann seien sie im Jahr 375 »in wenigen Monaten von den Hunnen hinweggefegt« und nach Westen abgedrängt worden, und nun kehrten sie in Gestalt der deutschen Wehrmacht zurück. Es war aus solchen historischen Gründen, daß die Krim in »Gotenland« umbenannt werden sollte, Simferopol in Gotenburg und Sevastopol in Theoderichhafen. Später machte ein Gauleiter den Vorschlag, die Südtiroler dort anzusiedeln, was Hitler »außerordentlich gut« fand. Die Krim, sagte er, sei für sie »in klimatischer und landschaftlicher Hinsicht [...] durchaus geeignet«. »Sie brauchten ja nur einen deutschen Strom, die Donau, hinunterzufahren, dann seien sie schon da.« Und wieder fanden sich Experten, die urteilten, daß Teile der Krim »einmal ihrem landschaftlichen Charakter nach, dann aber im besonderen auch auf Grund der Möglichkeiten eines intensiveren Weinbaues an sich durchaus geeignet seien, eine Lebensgrundlage für deutsche Menschen aus Südtirol zu bieten«. Doch zurück zum 16. Juli. »Ebenso«, fuhr Hitler fort, »wird das alt-österreichische Galizien Reichsgebiet.« Aus dem »ebenso« ergab sich, daß auch die Krim Reichsgebiet werden sollte, was Hitler später auch noch ausdrücklich sagte; und er fügte hinzu: »mit einem erheblichen Hinterland (Gebiet nördlich der Krim)«. Der Hinweis auf »das alt-österreichische Galizien« deutete abermals historische Rückgriffe an. Nach diesen beiden Einzelanweisungen ging Hitler ins allgemeine: »Grundsätzlich kommt es also darauf an, den riesenhaften Kuchen handgerecht zu zerlegen, damit wir ihn erstens beherrschen, zweitens verwalten und drittens ausbeuten können. Die Russen haben jetzt einen Befehl zum Partisanen-Krieg hinter unserer Front gegeben. Dieser Partisanenkrieg hat auch wieder seinen Vorteil: er gibt uns die Möglichkeit, auszurotten, was sich gegen uns stellt.« Da war die erste Maßnahme wieder, das Erschießen. Und dann in ganz großer Perspektive: »Aus den neugewonnenen Ostgebieten müssen wir einen Garten Eden machen; sie sind für uns lebensnotwendig; Kolonien spielen dagegen eine ganz untergeordnete Rolle.«

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Eberhard Jäckel

Das entsprach genau dem, was Hitler schon in den zwanziger Jahren in seinem Buch »Mein Kampf« geschrieben und seitdem gelegentlich wiederholt hatte. Deutschland müsse abermals einen Krieg führen, aber nicht zur Wiederherstellung der Grenzen von 1914 (das sei »ein politischer Unsinn von Ausmaßen und Folgen, die ihn als Verbrechen erscheinen lassen«), sondern um »dem deutschen Volk den ihm gebührenden Grund und Boden auf dieser Erde zu sichern«, und dabei könne man »in erster Linie nur an Rußland und die ihm Untertanen Randstaaten denken«. Dann hatte er ein Konzept entwickelt, wie dieses Ziel erreicht werden könne. Militärisch war es für ihn kein Problem: »Das Riesenreich im Osten ist reif zum Zusammenbruch.« Doch zuvor müsse Frankreich ausgeschaltet werden, weil ja die Ausdehnung nach Osten Deutschland zur Vormacht in Europa machen und Frankreich das nicht hinnehmen würde. Die Ausschaltung Frankreichs aber sei nur möglich, wenn es von seinen Verbündeten, von Italien und Britannien, getrennt würde, und dies wiederum sei nur möglich, wenn Deutschland gegenüber Italien endgültig auf Südtirol und gegenüber Britannien auf Kolonien und jederlei Wettbewerb in Übersee verzichte. Genau an diesem Punkt stand Hitler jetzt. Er hatte sich mit Italien verbündet und auf Südtirol verzichtet; deswegen sollten die Südtiroler später auf die Krim umgesiedelt werden. Zwar hatte Britannien sich verweigert, aber es würde wohl einlenken, wenn Rußland besiegt sei, und so spielten Kolonien nach wie vor »eine ganz untergeordnete Rolle«. Vor allem war Frankreich im Sommer 1940 ausgeschaltet worden, und Hitler hatte unmittelbar danach mit der Vorbereitung des Krieges gegen die Sowjetunion begonnen. Nun stand das Riesenreich vor dem Zusammenbruch und Hitler vor der Erreichung seines Lebenszieles. Darum ging es in der Besprechung vom 16. Juli 1941, zu der wir nun wieder zurückkehren. Die übrigen Teilnehmer waren noch nicht zu Wort gekommen. Wußten sie schon, daß dies die deutschen Ziele waren? Oder waren sie überrascht? Waren sie einverstanden? Hatten sie nicht vielleicht erwartet, erst etwas über die militärischen Operationen zu erfahren und vor allem darüber, wie sie zu einem erfolgreichen Ende geführt werden konnten? Als erster kam Rosenberg zu Wort, der ja immerhin der zuständige Reichsminister sein sollte, und es erwies sich, daß er ganz andere Vorstellungen als Hitler hatte mit seinem Programm von Erschießen, Aussiedeln und Deutsch-Besiedeln. Er betonte, »nach seiner Auffassung sei in jedem Kommissariat eine andere Behandlung der Bevölkerung notwendig. In der Ukraine müßten wir mit einer kulturellen Betreuung einsetzen, wir müßten dort das Geschichtsbewußtsein der Ukrainer wecken, müßten eine Universität in Kiew gründen und dergleichen.« Abgesehen davon, daß es in Kiev bereits seit 1833 eine Universität gab, war Hitler gewiß nicht in die Sowjetunion einmarschiert, um dort Universitäten zu gründen. Aber der abstruse Gedanke Rosenbergs ließ ihn nicht ganz los. Noch einige Wochen später sagte er bei Tisch: »Ich bin auch nicht für eine Universität in Kiew. Wir bringen ihnen das Lesen besser nicht bei.« Als ob das die Aufgabe von Universitäten sei. Und doch waren das Rosenbergs Vorstellungen: Er wollte Rußland erobern und beherrschen, indem er es in seine Nationalitäten zerlegte.

Hitlers doppeltes Kernstück

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Dann kam Göring zu Wort, und es zeigte sich, daß auch er zumindest hinsichtlich der Methoden und Prioritäten andere Vorstellungen hatte. »Der Reichsmarschall«, so lesen wir im Protokoll, »stellt demgegenüber fest, daß wir doch zunächst an die Sicherung unserer Ernährung denken müssen, alles andere könne doch erst viel später kommen.« Was heißt »demgegenüber«? Es scheint einen Einspruch gegen Rosenberg einzuleiten. Aber dieser hatte gar nicht von dem gesprochen, was erst »viel später kommen« könne. Das war Hitler gewesen, und Göring wollte ihn offenbar auf den Boden der Realität zurückholen. Er war immer für das Nächstliegende eingetreten. Er wollte erst einmal den Krieg gewinnen. Schon im Frühjahr hatte er gesagt: »Es ist wichtiger, daß wir den Krieg gewinnen, als Rassenpolitik durch[zu]setzen.« Dann machte er einen weiteren Versuch, zur Realität zurückzukommen, und bat »den Führer um Mitteilung, welche Gebiete anderen Staaten zugesagt seien«. Es verdient Beachtung, daß er, immerhin der zweite Mann im Staate, darüber offenbar nicht informiert war. Hitler erwiderte, »Antonescu wolle Bessarabien und Odessa nebst einem Streifen, der von Odessa in West-Nordwest führt«. Solche Wünsche hatte Antonescu bei seiner Besprechung mit Hitler am 12. Juni in München in einem Memorandum angemeldet. Später bekam er das Gebiet auch, das dann Transnistrien genannt wurde. Die Herren müssen entsetzt oder überrascht gewesen sein. Denn im Protokoll heißt es: »Auf die Einwände des Reichsmarschalls und Rosenbergs stellt der Führer fest, daß die neue von Antonescu gewünschte Grenze wenig außerhalb der alten rumänischen Grenze führe.« Sie müssen also wohl eingewandt haben, daß hier ein großer Teil der Ukraine Rumänien überlassen werden solle, und Hitler beruhigte sie mit dem Hinweis, es handele sich ja nur um eine Kleinigkeit. Ein Blick auf eine Landkarte konnte sie belehren, daß der Führer stark untertrieb. In der gleichen Absicht sagte er dann, »den Ungarn, den Türken und den Slowaken sei nichts Bestimmtes zugesagt worden«. Nur die Finnen wollten Ost-Karelien und das Gebiet um Leningrad. Er, der Führer, wolle »Leningrad dem Erdboden gleichmachen lassen, um es dann den Finnen zu geben«. Dann kam er wieder auf den »alt-österreichischen Teil Galiziens« zu sprechen und stellte, wie Bormann sich ausdrückte, »zur Erwägung«, ob man ihn nicht »sofort zum Gouvernement geben soll«. Wieder gab es Einwände, und daraufhin bestimmte der Führer, »dieser Teil solle nicht zum Gouvernement kommen, sondern lediglich gleichzeitig dem Reichsminister Frank unterstellt werden«. Mit dem »Gouvernement« war das Generalgouvernement gemeint, und Frank war der Generalgouverneur. Hitler bot also einen sehr dünnen Kompromiß an. Aber auch daran hielt er sich nicht. Am 1. August kam Galizien als Distrikt Lemberg direkt zum Generalgouvernement. Immer wieder kam Hitler darauf zu sprechen, was alles deutsches Reichsgebiet werden solle, nämlich (in der Reihenfolge der Erwähnung): die Krim, Galizien, das gesamte Balten-Land, die Wolga-Kolonie, das Gebiet um Baku, die Halbinsel Kola. Daraus ergeben sich bemerkenswert genau die Umrisse des künftigen deutschen Ostimperiums (nach dem Vorbild der Engländer in Indien, das Hitler ausdrücklich hervorhob) mit direkt annektierten Gebieten an den Rändern und einem indirekt beherrschten Raum dazwischen.

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Dann endlich kam man auf die Personalien zu sprechen, über die lebhaft gestritten wurde. Aber hier war Hitler für Einwände viel offener. Am Ende faßte er zusammen, Hinrich Lohse, der Gauleiter von Schleswig-Holstein, solle »das Balten-Land übernehmen«, der SA-Führer Siegfried Kasche Moskau, der Gauleiter von Ostpreußen, Erich Koch, die Ukraine, der ehemalige Gauleiter Frauenfeld die Krim, der Gauleiter von DanzigWestpreußen, Albert Forster, die Halbinsel Kola und schließlich Rosenbergs Stabsleiter Arno Schickedanz den Kaukasus. Die militärischen Erfolge ließen nicht alle diese Pläne Wirklichkeit werden. Nur Lohse und Koch wurden tatsächlich zu Reichskommissaren ernannt. Und doch erkennt man auch in diesen Personalien die Umrisse eines großen Entwurfs. Lohse erhielt von seinem Gau in Schleswig-Holstein bis zum Baltikum — das, wie am Schluß der Besprechung bestimmt wurde, Ostland genannt wurde — gewissermaßen ein die Ostsee umspannendes Herzogtum, Koch ein zusammenhängendes Territorium von seinem Gau in Ostpreußen bis zur Ukraine. Hier entstanden Herzogtümer im mittelalterlichen oder im alten römischen Sinn, Provinzen für die Satrapen. Dann endlich kam man zu den Erlassen. Im Protokoll heißt es: »Reichsminister Dr. Lammers verliest nun die von ihm gefertigten Entwürfe.« Rosenberg sollte also »Reichsminister für die besetzten Ostgebiete« werden, die ihrerseits »in Reichskommissariate, diese in Generalbezirke und diese wiederum in Kreisgebiete eingeteilt« wurden. Göring sollte erneut die Zuständigkeit für die Wirtschaft erhalten und Himmler diejenige für »die polizeiliche Sicherung«. Dies stieß wieder auf Einwände. Das Protokoll vermerkt: » E i n e längere D i s k u s s i o n setzt über die Zuständigkeit des R F S S [Reichsführer-SS — der H r s g . ] ein; offenbar wird dabei von allen Beteiligten aber auch an die Zuständigkeit des Reichsmarschalls gedacht. D e r Führer, der Reichsmarschall etc. betonen wiederholt, H i m m l e r solle ja keine andere Zuständigkeit b e k o m m e n , als er sie im Reich habe; dies aber sei unbedingt notwendig. D e r Führer betont wiederholt, in der Praxis werde sich der Streit sehr rasch geben; er erinnert an die hervorragende Zusammenarbeit von H e e r und Luftwaffe an der F r o n t . «

Das ist nicht ganz klar. Umstritten waren anscheinend die Zuständigkeitsgrenzen zwischen Rosenberg (Verwaltung) und Göring (Wirtschaft) einerseits und Himmler (Polizei) andererseits. Da alle Beteiligten, also auch Lammers und Keitel, dabei an Görings Zuständigkeit denken, muß man einen Konflikt zwischen ihm und Himmler vermuten. Göring scheint sich dann aber auf die Seite Hitlers geschlagen zu haben. Klar ist jedenfalls, daß Himmler für die Polizeifragen zuständig war und blieb und damit für das »Erschießen«, das Hitler einleitend als erste notwendige Maßnahme genannt hatte. Das war seit dem Feldzugsbeginn im vollen Gange und richtete sich vor allem gegen die Juden. Darüber war nach dem Aktenvermerk in der Besprechung kein Wort gesprochen worden. Himmler war nicht zugegen, und also war von seinen Aufgaben nicht die Rede gewesen. Keinen Zweifel aber kann es darüber geben, daß dies das andere Kernstück von Hitlers Zielvorstellungen war. Nur zwei Wochen später, am 31. Juli, erschien Heydrich bei Göring in Karinhall und ließ sich von ihm einen Auftrag unterschreiben, »alle erforderlichen Vorbereitungen [...] zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflußgebiet in Europa«.

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Heydrich nannte dies später seine »Bestellung« und meinte damit, wie seine Mitarbeiter sich ausdrückten, die Bestellung zum europäischen Judenkommissar. Damit war auch in dieser Hinsicht eine wichtige Entscheidung gefallen. Leider haben wir darüber keinen entsprechenden Aktenvermerk wie über die Besprechung vom 16. Juli. Aber wir dürfen uns den Vorgang analog vorstellen und können dann drei große Bereiche unterscheiden und vergleichen: Erstens den militärischen. Hier ist die schriftliche Uberlieferung am dichtesten, und wir können die Entscheidungswege auf das genaueste nachzeichnen von der ersten Gedankenbildung in den zwanziger Jahren über die Entschlußbildung nach dem Frankreichfeldzug bis zum Marschbefehl. Wir kennen auch die Einwände, die Hitler überwinden mußte. Als eine der zentralen Besprechungen, analog zu der vom 16. Juli, kann die vom 31. Juli 1940 angesehen werden, über die wir durch eine Tagebucheintragung des Generalstabschefs Halder unterrichtet sind. Es war gleichfalls eine Ressortbesprechung gewesen, nur diesmal eine militärische. Sie fand in Hitlers Residenz »Berghof« auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden statt und dauerte von 11.30 bis gegen 13 Uhr. Zugegen waren der Oberbefehlshaber des Heeres, Generalfeldmarschall Walther v. Brauchitsch, mit seinem Generalstabschef Halder, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Keitel, mit seinem Stabschef Generalmajor Alfred Jodl, vielleicht noch weitere Offiziere und, aber bemerkenswerterweise nur im ersten Teil der Besprechung, der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, Großadmiral Erich Raeder. Die Zusammensetzung war in der Logik des Herrschaftssystems wiederum ganz folgerichtig. Es ging um die Fortführung des Krieges nach dem Abschluß des Westfeldzuges. Obwohl dies keineswegs nur eine militärische, sondern in höchstem Maße eine politische Frage war, so daß man auch die Anwesenheit des Außenministers und eigentlich der gesamten Führung hätte erwarten können, besprach Hitler sie allein im Kreise seiner militärischen Berater. Niemand war ja zu beteiligen, der es nicht unbedingt wissen mußte. Die zu besprechenden Alternativen waren entweder eine Landung in England, die seit einigen Wochen vorbereitet wurde, weswegen Raeder geladen war, oder ein Krieg gegen Rußland, der in die Zuständigkeit des Heeres fiel und von dem Hitler seit dem Westfeldzug wiederholt gesprochen hatte. Brauchitsch und Halder hatten sich noch am Vorabend über diese beiden Optionen ausgesprochen. Sie waren sich einig gewesen, daß die »Kriegsmarine [...] aller Voraussicht nach in diesem Herbst die Voraussetzungen für den erfolgreichen Absprung nach England nicht schaffen« werde. Hinsichtlich eines Krieges gegen Rußland aber waren sie auch darin einig gewesen, »daß man besser mit Rußland Freundschaft hält. Besuch bei Stalin wäre erwünscht.« Es entstand jedoch keine Diskussion. Raeder äußerte sich sogar zuversichtlich, daß die Landung im September »anlaufen« könne, »wenn keine besonders ungünstigen Umstände eintreten«. Hitler machte einige skeptische Bemerkungen, und dann ging Raeder weg. Kaum war er gegangen, betonte Hitler seine Skepsis erneut und verkündete alsdann seinen »Entschluß«, Rußland müsse im Frühjahr 1941 »erledigt werden«.

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Das begründete er mit einer großen strategischen Perspektive: England halte noch aus, weil es auf Rußland und Amerika hoffe. Wenn aber Rußland wegfiele, dann fiele auch Amerika weg, weil dieses dann durch Japan in Ostasien gebunden werde. Doch am Ende gab Hitler noch eine andere Begründung: »Später: Ukraine, Weißrußland, Baltische Staaten an uns.« Halder verzeichnet nicht, ob Brauchitsch und er ihre Bedenken vortrugen. Sie mögen es durchaus getan haben. Aber das änderte nichts. Der Entschluß war verkündet. Die Vorbereitungen begannen. Das war eine typische militärische Ressortbesprechung gewesen, analog zu der vom 16. Juli 1941 über die Verwaltung der besetzten Ostgebiete. In beiden Fällen war keiner der Anwesenden Hitlers Ansicht gewesen. Gleichwohl hatte er sich durchgesetzt und hatte beide Male auch seine Endziele nicht verschwiegen. In dieser Hinsicht ist eine bemerkenswerte Ubereinstimmung festzustellen. Von dem zweiten Bereich, dem der Verwaltung, haben wir schon gesprochen. Auch hier können wir den Entscheidungsweg ziemlich genau nachzeichnen, von der Gedankenbildung in den zwanziger Jahren über die Vorbereitungen bis zum Vollzug. Rosenberg war schon am 2. April 1941 mit der Errichtung eines »zentralen politischen Büros für die Ost-Arbeit« betraut und am 20. April zum »Beauftragten für die zentrale Bearbeitung der Fragen des osteuropäischen Raumes« ernannt worden. Damit wußte er, wie seine Aufzeichnungen und seine Bemerkungen am 16. Juli zeigen, aber noch nicht genau, was er tun sollte. Das erfuhr er erst in jener Besprechung am Tage vor seiner Ernennung zum Minister. Schließlich gab es, wenn wir von der Wirtschaft einmal absehen, einen dritten Bereich, den der Gesamt- oder Endlösung der Judenfrage in Europa. Hier ist aus leicht erklärlichen Gründen die schriftliche Überlieferung am dünnsten. Wir müssen die Entscheidungswege erschließen. Immerhin können wir auch hier eine Phase der Gedankenbildung erkennen (das Ziel, das Hitler schon 1919 als »die Entfernung der Juden überhaupt« umschrieben hatte), dann Vorbereitungen (Hitlers Ankündigung der »Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa« vom 30. Januar 1939), die Vollmachten für Himmler vom März 1941, die zeitlich denen für Rosenberg vom April entsprechen. Heydrich stellte danach die vier Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD (Sicherheits-Dienstes) auf, instruierte sie am 17. Juni 1941, und mit dem Tage des Einmarsches begannen sie, Pogrome auszulösen und Juden zu erschießen. Das beschränkte sich zunächst auf die sowjetischen Juden, und es wurde Ende 1941 und Anfang 1942 auf alle Juden im deutschen Einflußbereich ausgedehnt. Man geht am besten zunächst vom Ablauf der Ereignisse aus. A m 15. Oktober wurden die ersten deutschen Juden deportiert, am 25. November wurden die ersten erschossen, am 8. Dezember wurden erstmals polnische Juden mit Giftgas getötet, im März 1942 begannen die Deportationen aus den übrigen europäischen Ländern. So improvisiert manches erscheint, schon der Ablauf läßt eine gewisse Systematik erkennen. Auch sind mancherlei Akten über die Implementierung überliefert. Aber wir kennen keine zielangebende Besprechung Hitlers wie etwa unter vielen anderen die militärische vom 31. Juli 1940 oder die politisch-administrative vom 16. Juli 1941. Die Annahme ist jedoch vernünftig, daß es sie gegeben hat. Wie kann man sie sich vorstellen?

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Aus der Analogie und dem Herrschaftssystem überhaupt kann man erschließen, daß es ebenfalls eine Ressortbesprechung gewesen sein muß. Zuständig waren Himmler und Heydrich. Also wird Hitler mit ihnen gesprochen haben, angesichts des hochkriminellen Gegenstandes vermutlich nur mit ihnen und nicht in größerem Kreise. Da der Vorgang sich in mehreren Stufen vollzog, wird es sich um mehrere Besprechungen gehandelt haben. Es gibt einen allerdings etwas unsicheren Hinweis, daß Hitler unmittelbar nach dem Westfeldzug Himmler in das Führerhauptquartier rufen ließ und ihm eröffnete, er, Himmler, werde die Ausrottung der europäischen Juden durchführen müssen. Wenn man bedenkt, wie rasch Hitler damals den Krieg gegen Rußland ankündigte, dann erscheint es durchaus möglich, daß er zur selben Zeit auch wieder von dem anderen Hauptziel seines Lebens sprach. Für ihn hingen beide Ziele ja eng zusammen. Tatsächlich aber begann die Ausrottung damals noch nicht. Sie begann erst im Juni 1941 und gründete auf den Vollmachten für Himmler vom März. Eine Besprechung müßte also um diese Zeit stattgefunden haben. Als eine weitere Stufe könnte der Auftrag an Heydrich vom 31. Juli 1941 angesehen werden. Da er von Göring unterzeichnet wurde, muß Hitler mit diesem darüber gesprochen haben, was auch sonst bezeugt ist. Aber er muß ihm nicht das volle Ausmaß enthüllt haben. Die dritte Phase, die Deportationen, läßt sich ziemlich klar auf Besprechungen Hitlers mit Himmler und Heydrich vom 22. bis 24. September 1941 zurückführen. Inhaltlich ist die einzige Quelle das Tagebuch von Goebbels, der am 23. zugegen war und von Heydrich einiges erfuhr, was darauf schließen läßt, daß er zu der entscheidenden Besprechung nicht hinzugezogen worden war; er war ja auch nicht zuständig. Jedenfalls muß Hitler nun die Weisung oder Zustimmung gegeben haben, mit der Deponierung der Juden aus Deutschland zu beginnen und die Deportationen aus den übrigen europäischen Ländern vorzubereiten. Denn das Reichssicherheitshauptamt leitete unmittelbar danach die entsprechenden Maßnahmen ein. Wie kann Hitler gesprochen haben? Hat es Einwände gegeben? Himmler hatte immerhin im Mai 1940 in einer Denkschrift für Hitler, wenn auch in einem etwas anderen Zusammenhang, »die bolschewistische Methode der physischen Ausrottung eines Volkes aus innerer Uberzeugung als ungermanisch und unmöglich« abgelehnt, und später, 1943 und 1944, sagte er wiederholt, wie schwer ihm »die Erfüllung dieses mir gegebenen soldatischen Befehls« gefallen sei. Demnach müssen die Einwände so stark gewesen sein, daß Hitler nicht überzeugen konnte, sondern soldatisch befehlen mußte. Vielleicht hatte Himmler auch eingewandt, wie es in seiner Denkschrift vom Mai 1940 hieß, es sei »unmöglich«, also technisch unmöglich, mehrere Millionen Menschen zu töten. Von Heydrich sind solche Bedenken nicht überliefert. Manches spricht dafür, daß er der Drängende war, Himmler der Zögernde und daß es gerade diese Rivalität war, die es Hitler ermöglichte, den Mord an den europäischen Juden einzuleiten. Was Hitler hier im Juni 1941 einleitete, war das Kernstück seines Programms, und insofern es zwei Seiten hatte, die Eroberung von Raum und die Entfernung der Juden, nenne ich es sein doppeltes Kernstück. Den Begriff übernehme ich von Andreas Hillgruber, und ich meine die Übernahme als eine Huldigung an ihn. Er hielt am 5. November 1969

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in Freiburg einen Vortrag, der 1972 in den Viertel) ahrsheften für Zeitgeschichte veröffentlicht wurde und folgende Uberschrift trug: »Die >Endlösung< und das deutsche Ostimperium als Kernstück des rassenideologischen Programms des Nationalsozialismus«. Hillgruber war der erste, der ein Bild vom Nationalsozialismus kritisierte, das »den Kriegsverlauf ohne jede Beziehung zur Ausrottung der Juden im deutsch-beherrschten Europa erscheinen« ließ. Er war der erste, der diesen Zusammenhang ganz deutlich machte und ihn zugleich als das Kernstück bezeichnete. Zu Anfang 1945 saß Hitler wieder in der Reichskanzlei in Berlin, genauer im Bunker, und blickte auf sein Lebenswerk zurück. Noch einmal war es Bormann, der seine Äußerungen protokollierte. Die Uberlieferung ist nicht ganz sicher. Hitler war auch nicht ganz offen, und doch steckt viel Wahrheit in dem, was Bormann aufzeichnete. Am 4. Februar sprach Hitler von seiner »Sendung«, der »Sicherung des für die Zukunft unseres Volkes unentbehrlichen Lebensraumes im Osten«, und drei Tage später: » F ü r kontinentale Völker erscheint es mir notwendig, daß sie sich nur dorthin ausbreiten, wo der geographische Z u s a m m e n h a n g mit d e m Mutterland gesichert ist. [...] N a c h dem Osten, und i m m e r nur nach dem Osten haben wir unseren Geburtenüberschuß zu lenken. D a s ist die von der N a t u r gewiesene R i c h t u n g der germanischen E x p a n s i o n . «

Er räumte zwar ein, daß er in der Außenpolitik Fehler gemacht habe und daß der Krieg um Lebensraum verloren sei. U m so mehr sah er in der Rassenpolitik, dem anderen Teil des Kernstücks, sein eigentliches Verdienst. Er habe »zum ersten Mal die jüdische Frage realistisch angepackt«, er habe »die beste Saat gelegt«, und daher werde man, so Schloß er am 2. April 1945, »dem Nationalsozialismus ewig dafür dankbar sein, daß ich die Juden aus Deutschland und Mitteleuropa ausgerottet habe«.

Gottfried Schramm

Der Kurswechsel der deutschen Polenpolitik nach Hitlers Machtergreifung

Wenn Hitler durch den Pakt vom 23. August 1939 die seit fünf Jahren breite Kluft zur Sowjetunion überbrückte und am 1. September über Polen herfiel, so sollte man sich vergegenwärtigen, daß der gleiche deutsche Diktator das Steuer in der Ostpolitik schon einmal abrupt herumgerissen hatte, nur eben in entgegengesetzter Richtung 1 . Denn 1933/34 hatte er sich, eben zur Macht gelangt, mit Polen verglichen, mit dem die Weimarer Republik nie über frostige Beziehungen hinausgediehen war. Zugleich war die Interessengemeinschaft mit der Sowjetunion eingefroren worden, die seit Rapallo 1922 für viele als ein Kernstück deutscher Ostpolitik gegolten hatte, obwohl die großen Hoffnungen, die man daran geknüpft hatte, unerfüllt geblieben waren. Dieser Schritt — und nicht etwa das ewig überschätzte Rapallo — war die wichtigste, die einzig wichtige Wende im deutschen Umgang mit seinen östlichen Partnern gewesen, die zwischen dem Zusammenbruch von 1918 und Hitlers spätestens im Mai 1939 endgültigem Entschluß, Polen zu zerschlagen, eingetreten ist2. Die Wende vom Januar 1934 verdient unsere Aufmerksamkeit, bevor wir uns den Jahren 1939—1941 widmen. Wenn wir uns in die Monate nach Hitlers Machtergreifung zurückversetzen und versuchen, den neuen Mann an der Spitze Deutschlands mit englischen und französischen Augen zu sehen, dann überwiegt der Eindruck eines rücksichtslosen Kraftmeiers, dem sein erstaunlicher Siegeszug in Deutschland zu Kopf gestiegen war. Auf der internationalen Bühne bewegte er sich als Neuling, der jäh zwischen Friedensbeteuerungen und provozierenden Kraftakten schwankte 3 . Am meisten verprellte es die Weltöffentlichkeit, 1

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Die folgende Studie schlägt die Brücke zwischen Analysen, die ich zum Vertrag von Rapallo vorgetragen und zum Hitler-Stalin-Pakt angestellt habe, siehe meine: Grundmuster deutscher Ostpolitik, in: Zwei Wege nach Moskau. Vom Hitler-Stalin-Pakt bis zum »Unternehmen Barbarossa«. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Bernd Wegner, München 1991, S. 3—18, sowie (zu 1938—1941) in dem von mir herausgegebenen Bd 3 des Handbuchs der Geschichte Rußlands, Stuttgart 1983, S. 8 7 8 - 8 9 1 . Meine Überlegungen fußen auf der meisterhaften Untersuchung des nie vergessenen Hans Roos, Polen und Europa. Studien zur polnischen Außenpolitik 1931—1939, Tübingen 1957 (= Tübinger Studien zur Geschichte und Politik, Nr. 7). Zugrundegelegt wird weiterhin Zygmunt J. Gasiorowski, The German-Polish Non-aggression Pact of 1934, in: Journal of Central European Affairs, 15 (1955) 1, S. 3—29. Wo zu den im Folgenden erwähnten Fakten keine Anmerkungen gegeben werden, sind sie in diesen beiden Arbeiten zu finden. In Polen erschien zum gleichen Thema: Karol Lapter, Pakt Pil sudski — Hitler. Polska-niemiecka deklaracja ο niestowania przemocy 26 stycznia 1934, Warschau 1962. Zum Zeithintergrund siehe u. a. Günter Wollstein, Vom Weimarer Revisionismus zu Hitler. Das Deutsche Reich und die Großmächte in der Anfangsphase der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland, Bonn 1973, sowie Edward W. Bennett, German Rearmament and the West 1932—1933, Princeton, N.J. 1979.

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daß am 19. Oktober 1933 das Reich aus dem Völkerbund austrat und seine Mitarbeit in der Genfer Abrüstungskonferenz aufkündigte. Unverfroren nahm Hitler nunmehr Kurs auf eine großangelegte Erweiterung der deutschen Streitkräfte, obwohl er, wäre ihm harter Widerstand entgegengesetzt worden, mit dem vorerst schmalen Potential seiner Reichswehr nicht wirksam hätte kontern können. Verwirren mußte, daß das Reich sich aus Gremien zurückzog, in denen es bedeutende, ja im großen und ganzen kontinuierliche Erfolge erzielt hatte. Das Rheinland war mittlerweile frei von französischer Besetzung, und eine militärische Gleichberechtigung, die — ob nun über eine gesamteuropäische Truppenreduzierung, ob über eine Aufstockung der Reichswehr — Deutschland eines Tages auf dieselbe Stufe wie seine Nachbarn im Westen und Osten stellen würde, stand in Aussicht. Auch in der Reparationsflage befand sich Deutschland auf einem Erfolgswege, der Hitlers Schwenk zu einem trotzigen Alleingang unnötig erscheinen ließ. Wie bedrohlich seine Unverfrorenheit war, ist von keinem anderen Politiker in den von Deutschland gefährdeten Staaten so klar gesehen worden wie von Marschall Pil sudski, der seit 1926 die Zügel der polnischen Politik mit fester Hand führte. Er hatte schon den unverhohlenen Drang der späten Weimarer Republik, aus der Fessel der Beschränkung auf hunderttausend Soldaten auszubrechen, mit höchster Beunruhigung verfolgt und Gegenaktionen erwogen. Hitlers Austritt aus dem Völkerbund gab ihm im Oktober 1933 ein letztes Mal Anlaß, in Paris auf den Busch zu klopfen, ob die Franzosen im Zusammenhang mit den Polen zu präventiver Gewaltanwendung bereit waren: mit dem Ziel, Faustpfänder in die Hand zu bekommen, mit deren Hilfe man Hitler zwingen konnte, seine Aufrüstungsideen preiszugeben 4 . Aber solche Gedankenspiele, bei denen man weder in Frankreich noch in Polen auf ausgearbeitete Offensivpläne zurückgreifen konnte, stellten für Pil sudski nur eine unerwünschte Notlösung dar, in der schwer absehbare Risiken steckten. Die willkommenere Alternative war, mit Hitler zu einer friedlichen Einigung zu gelangen. Dieser andere Weg ist schon im März 1933 beschritten worden, nachdem Hitler in der ersten Reichstagswahl nach seiner Machtergreifung noch nicht auf revanchistische Parolen hatte verzichten wollen. Daß Pil sudski durchblicken ließ, er könne, wenn die Deutschen sich unnachgiebig zeigten, seinen Willen auch mit Daumenschrauben durchsetzen, bewog — wie der Marschall richtig vorausberechnet hatte — Hitler, der selber nicht zimperlich war und sauber piazierte Preller durchaus verstand, zu einer freundlicheren Politik, als das den Westmächten mit ihren weit weniger harten Reaktionen gelang. So hat Hitler bereits im März 1933 auf polnischen Druck seine Partei in Danzig zurückgepfiffen und sie angewiesen, dem Demonstrationsverbot, das der deutschnationale Senatspräsident 4

In der Forschung ist hin- und herüberlegt worden, wie ernst es Pil sudski mit diesen Plänen war. Auszugehen haben wir davon, daß größere — über punktuelle Machtdemonstrationen hinausgehende — Aktionen für den Marschall nur im Zusammenhang mit Frankreich in Frage kamen, daß er für Offensiworgehen nicht zu gewinnen war. Deshalb wurde in Polen weder die Generalstabsplanung noch die Dislozierung der Truppen auf eine blitzartige Eroberung von Faustpfändern umgestellt, mit denen sich Verhandlungsgewinne erzielen ließen. Dazu abgewogen: Hans Roos, »Präventivkriegspläne« Pilsudskis von 1933, in: VfZ, 3 (1955), S. 3 4 4 - 3 6 3 .

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Ziehm verhängt hatte, Folge zu leisten 5 . U m die gleiche Zeit deutete er dem deutschen Botschafter in Moskau, Herbert v. Dirksen, an, ihm schwebe ein Vertrag mit Polen vor, wobei er über den Einwand, ein solches Abkommen werde nur unter Verzicht auf den Korridor zustande kommen, wortlos hinwegging 6 . Am 2. Mai empfing er den polnischen Botschafter Wysocki und nahm von ihm den Textentwurf für ein deutsch-polnisches Kommunique entgegen, durch das sich beide Regierungen verpflichten sollten, ihre Einstellung und ihr Vorgehen streng im Rahmen der bestehenden Verträge zu halten. Diesen Vorschlag, der auf eine für alle Welt sichtbare Zügelung von Hitlers gefährlicher Dynamik abzielte, hat dieser spontan und gewiß gegen die Wünsche des Außenministers Neurath, der als dritter am Gespräch teilnahm, so umredigiert, daß der beiderseitige Wunsch nach verbesserten Beziehungen, ja die Ankündigung eines Abkommens erkennbar wurden. Neurath, der dem wartenden Wysocki den geänderten Text übergab, hob hervor, was ihm selber gegen den Strich gegangen sein wird: Der Gesandte bekomme mehr, als er erbeten habe 7 . Vertragsabschlüsse über zwei heiße Eisen — die polnische Minderheit in Danzig und die Nutzung des Danziger Hafens durch Polen — zeigten im Sommer, was in dem gewandelten Klima mit einem Male möglich wurde 8 . Ja, Jozef Lipski, der als polnischer Vertreter in Berlin Wysocki ablöste, konnte am 3. Dezember nach Hause melden, was er auch tue, werde von der deutschen Presse im Zeichen der bevorstehenden Annäherung ausgelegt. Er habe die Konsuln und andere Repräsentanten Polens im Reich angewiesen, jetzt Angelegenheiten, die bisher nicht hatten geregelt werden können, unter Dach und Fach zu bringen 9 . Und wenn die beiderseitige Nichtangriffserklärung vom 26. Januar 1934 in ihrer Präambel betonte, sie wolle den Grund für die künftige Gestaltung der deutsch-polnischen Beziehungen legen, so zeigte sich bald, daß dies kein leeres Versprechen war. Im Bereich einer Regelung des Handels, in dem sich die Diplomaten lange Jahre festgefahren hatten, folgte einem Protokoll vom März 1934 am 4. November 1935 ein Handelsvertrag, der die seit 1925 unterbrochene Normalität wieder herstellte10. Dem 5

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Zur Rolle Danzigs im Prozeß des Ausgleichs mit Polen siehe Christoph M. Kimmich, The Free City Danzig and German Foreign Policy, 1919—1934, New Haven, Conn. 1968; Herbert S. Levine, Hitlers Free City. A History of the Nazi Party in Danzig, 1925—1939, Chicago 1973; Wolfgang Ramonat, Der Völkerbund und die Freie Stadt Danzig 1920—1934, Osnabrück 1979 (= Studien zur Militärgeschichte, Militärwissenschaft und Konfliktforschung, Bd 18). Herbert von Dirksen, Moskau, Tokio, London, Stuttgart 1949, S. 122. Das Gespräch fand nach Hitlers Rede zur Außenpolitik statt, also nach dem 23. März 1933. Papers and Memoirs of Jozef Lipski, Ambassador of Poland, Diplomat in Berlin 1933—1939, hrsg. von Waclaw Jedrzejewicz, New York, N.Y. 1968, S. 78—80. Hitler behielt das Gespräch als den Punkt im Gedächtnis, an dem deutsche und polnische Wünsche zusammengelaufen seien, siehe Otto Meisner, Staatssekretär unter Ebert, Hindenburg, Hitler. Der Schicksalsweg des deutschen Volkes, wie ich ihn erlebte, Hamburg 1950, S. 345. Zum Folgenden siehe Marian Wojciechowski, Die polnisch-deutschen Beziehungen 1933—1938, Leiden 1971 (= Studien zur Geschichte Osteuropas, XII). Lipski (wie Anm. 7), bes. S. 105. Willi Theißen, Die Beendigung des deutsch-polnischen Zollkrieges als Ausgangspunkt für den Wiederaufbau und Ausbau der deutsch-polnischen Handelsbeziehungen, Diss. Wirtschafts- und Sozialwiss., Köln 1936.

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lief parallel, daß jene ständigen Zwischenfälle schlagartig a u f h ö r t e n , mit denen deutsche H e i ß s p o r n e (und gelegentlich auch offizielle Stellen) die Beziehungen beider Staaten i m m e r v o n n e u e m aufgeheizt hatten. D e r Deutsche Ostmarkenverein, seit dem kaiserlichen Deutschland emsig u m eine deutsche V o l k s t u m s p o l i t i k z u m Nachteil der Polen b e m ü h t , m u ß t e sich Mitte 1 9 3 3 auf Weisung der Reichskanzlei auflösen 1 1 . Ein 1 9 3 4 in Plauen erschienenes W e r k v o n einem Polendeutschen, der 1 9 3 9 auf der polnischen Seite fallen sollte, beleuchtet in Titel und Tenor, was eine vielhundertjährige Friedlichkeit und Gedeihlichkeit im Verhältnis beider V ö l k e r an Positivem geschaffen hatte, w ä h r e n d bislang auf K a m p f und Feindschaft abgehoben w o r d e n war 1 2 . Es erhöhte die Glaubwürdigkeit des neuen Kurses, w e n n die Rußlandpolitik darauf abges t i m m t wurde. D a ß Hitler mit der Rapallotradition brach, w u r d e o f f e n k u n d i g , als 1 9 3 4 einer ihrer überzeugtesten Verfechter, R u d o l f Nadolny, den eben erst bezogenen Mosk a u e r Botschaftersessel räumte u n d grollend seinen Abschied nahm 1 3 . V o n einer Interessengemeinschaft zwischen der Sowjetunion und Deutschland, die nicht zuletzt auf eine Schwächung Polens abgezielt hatte, k o n n t e n u n nicht m e h r die Rede sein. D e n aufsehenerregenden A b s c h l u ß mit Polen v o m 26. J a n u a r 1 9 3 4 erläuterte H i t l e r am 30. J a n u a r 1 9 3 4 v o r dem Reichstag mit W o r t e n , die einen hier bislang nie gehörten Ton anschlugen: »Als ich am 30. Januar die Regierung übernahm, schienen mir die Beziehungen zwischen den beiden Ländern mehr als unbefriedigend zu sein. Es drohte die Gefahr, daß sich aus zweifellos vorhandenen Differenzen, die ihre Ursachen einerseits in den Territorialbestimmungen des Versailler Vertrages, andererseits in der daraus resultierenden beiderseitigen Gereiztheit hatten, allmählich eine Feindschaft erhärtete, die nur zu leicht bei längerer Fortdauer den Charakter einer beiderseitigen politischen Erbbelastung annehmen könnte. Eine solche Entwicklung würde, abgesehen von den drohenden Gefahren, die sie latent birgt, für die ganze Zukunft einer segensreichen Zusammenarbeit der beiden Völker hinderlich sein. Deutsche und Polen werden sich mit der Tatsache ihrer Existenz gegenseitig abfinden müssen. Es ist daher zweckmäßiger, einen Zustand, den tausend Jahre vorher nicht zu beseitigen vermochten und 11

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Adam Galos, Felix-Heinrich Gentzen, Witold Jakobczyk, Die Hakatisten. Der deutsche Ostmarkenverein (1894—1943). Ein Beitrag zur Ostpolitik des deutschen Imperialismus, Berlin 1966. Zur Umstellung der »Grenzlandarbeit« der Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft auf den neuen Kurs siehe Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, München 1963, S. 191. Zur Auswirkung auf die Linie der deutschen Volksgruppe in Polen siehe Richard Breyer, Das Deutsche Reich und Polen 1932—1937. Außenpolitik und Volksgruppenfrage, Würzburg 1955 (= Marburger Ostforschungen, Bd 3). Zu Ansätzen einer wechselseitigen Entgiftung der Schulbücher siehe Johannes Kaiisch, Wirksamkeit und Grenzen des deutsch-polnischen Presseprotokolls vom 24. Februar 1934. Das Deutsch-Polnische Institut in Berlin, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 24 (1976) 9, S. 1006-1022. Kurt Lück, Deutsche Aufbaukräfte in der Entwicklung Polens. Forschungen zur deutsch-polnischen Nachbarschaft im ostmitteleuropäischen Raum, Plauen 1934 (= Ostdeutsche Forschung, Bd 1). Das Geleitwort schrieb — kurz vor seinem Bruch mit Hitler — Hermann Rauschning. In der gewandelten Atmosphäre konnte in Deutschland das Buch eines polnischen Germanophilen erscheinen, das von Deutschland und Polen als Fundament eines mitteleuropäischen Blockes träumte, siehe Wladyslaw Studnicki, Polen im politischen System Europas, Berlin 1936. Rudolf Nadolny, Mein Beitrag, Wiesbaden 1955 (mit der Behauptung S. 138, der Verf. habe Hitler 1933 zum Abkommen mit Polen geraten); Günter Wollstein, Rudolf Nadolny — Außenminister ohne Verwendung, in: VfZ, 28 (1980) 1, S. 4 7 - 9 3 .

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nach uns genau so wenig beseitigen werden, so zu gestalten, daß aus ihm für beide Nationen ein möglichst hoher Nutzen gezogen werden kann 1 4 .«

Nach fünfzehn verlorenen Jahren schien der Vernunft die Bahn gebrochen. Man stockt, wenn es einem auf die Zunge kommt, aber gesagt werden muß es doch: Der Hitler der Jahre 1933/34 war der erste Politiker des deutschen Reiches, der eine vernünftige Polenpolitik ins Werk setzte und auf Anhieb zeigen konnte, wie gewinnbringend ein Abdrehen von dem bisherigen Kurs war. Was hat die Wende ermöglicht? Drei Hauptfaktoren heben sich ab. 1. Hitler war — was Pil sudski deutlich spürte — kein Preuße von Herkunft und auch nicht durch eine amtliche Praxis in jene außenpolitischen Denkweisen der Weimarer Politiker eingeübt, die noch immer, mehr als das manchen bewußt war, durch preußische Stereotypen geprägt wurden. Vielmehr zeigte sich der erfolgreiche Außenseiter Hitler geneigt, die bisher verfolgte Politik auf der ganzen Linie als falsch und fruchtlos zu entlarven. Im Falle der Polenpolitik bedurfte es dazu nicht der Schwarzfärberei eines Demagogen. Hier lag der Unsinn des bislang Betriebenen offen zutage15. Seit 1919 hatte es einen — sogar die Kommunisten einschließenden — Grundkonsens gegeben, daß die neuen Ostgrenzen für Deutschland unerträglich seien. Das galt besonders für den Korridor, der Ostpreußen vom übrigen Reich trennte. 1920 hatte man — statt einen Vormarsch der Weltrevolution nach Mitteleuropa zu fürchten — in polenfeindlicher Verbissenheit gehofft, der »Saisonstaat« werde unter den Schlägen der Sowjetmacht zusammenbrechen 16 . Seit 1925 versuchte man in einem Zollkrieg, der neun Jahre währen sollte, den verhaßten Nachbarn über seine wirtschaftliche Misere in die Knie zu zwingen 17 . Als dann 1930 ein längst überfälliger Handelsvertrag endlich unterschriftsreif vorlag, kam der Entwurf in Deutschland schließlich nicht mehr über die Hürden eines mittlerweile rechtslastigen Reichstages hinweg18. Wenn 1930—1933 die Zwischen14

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Max Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen 1932—1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Bd 1, München 1965, S. 357. Als ein im Grundzug pathologisches Unternehmen wird die Weimarer Polenpolitik zu Recht dargestellt von Harald v. Riekhoff, German-Polish Relations, 1918—1933, Baltimore 1971. Kritisch auch Maria Oertel, Beiträge zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen in den Jahren 1925—1930, Phil.Diss. Berlin 1968; Volkmar Kellermann, Schwarzer Adler, weißer Adler. Die Polenpolitik der Weimarer Republik, Köln 1970; Gerhard Wagner, Die Weimarer Republik und die Republik Polen, 1919—1932: Probleme ihrer politischen Beziehungen, in: Die deutsch-polnischen Beziehungen. 1919—1932. XVII. deutsch-polnische Schulbuchkonferenz der Historiker, 11.—17.6.1984 in Augsburg, Red. Wolfgang Jacobmeyer, Braunschweig 1985 (= Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung, Bd21/VIII), S. 35—47. Gerhard Wagner, Der polnisch-sowjetische Krieg, Wiesbaden 1979 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd 93). Berthold Puchert, Der Wirtschaftskrieg des deutschen Imperialismus gegen Polen 1925—1934, Berlin 1963 (= Schriften des Instituts für Geschichte, hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Reihe 1, Bd 17); Karol J. Blahut, Polsko-niemieckie stosunki gospodarcze w latach 1919-1939, Breslau 1975. Georg W. Strobel, Die Wirtschaftsbeziehungen Deutschlands 1919—1932, in: Deutsch-polnische Beziehungen (wie Anm. 15), S. 109—123. Zu dem — unvermeidlicherweise dornigen — Verhandlungsthema einer Verrechnung polnischer Reparationsansprüche gegen Reichseigentum, das Polen in den

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fälle in der deutsch-polnischen Berührungszone so häufig wurden wie nie zuvor, dann, weil sie als Ventil dienten, durch das ein innerer Uberdruck der wirtschaftlichen und politischen Krise nach außen abgelassen werden konnte 19 . Aus aller Gegnerschaft gegen Polen war, wenn man zurückschaute, für das Reich im Grunde keinerlei Gewinn herausgesprungen. Man konnte statt dessen mit gutem Grunde annehmen, daß ihm Gewinne entgangen waren, die bei gutnachbarlichen Beziehungen gleichsam auf der Straße lagen. Gesehen hat das namentlich Ulrich Rauscher, der von 1922 bis zu seinem Tode 1930 das Reich als Gesandter in Warschau vertrat 20 . Seiner Urteilsbildung kam nicht nur die Erfahrung vor Ort, sondern auch seine Außenseiterrolle in den Reihen der deutschen Diplomatie zugute. Als linksorientierter Journalist hatte er begonnen und dann zu der kleinen Zahl von Männern gehört, die zu Anfang der Weimarer Republik dem hochtraditionellen Korps der Berufsdiplomaten gleichsam eingepfropft wurden. Sein Lebensweg, aber natürlich auch seine Intelligenz haben ihm Erkenntnisse ermöglicht, gegen die der alte Stamm des Auswärtigen Amtes aufgrund seiner tiefwurzelnden preußischen Ressentiments abgeschottet war. Denn Polen ließ sich, so erkannte Rauscher vielleicht als erster mit hinlänglicher Klarheit, nichts als Vorleistung abpressen. Nur zunächst einmal entgegenkommend und mit langem Atem werde man Fortschritte erzielen. Er rührte sogar — mit einem ebenso klarsichtigen wie machiavellistischen Argument — an das Tabu der Grenzgarantie: Man könne sie unbesorgt geben, denn bei veränderten Machtverhältnissen würde sie zu einem bloßen Stück Papier werden 21 . 2. Von einer demokratischen Ordnung westlichen Typus war Polen zwar 1926 durch den — 1929 noch einmal verschärften — Systemwandel abgerückt, der Marschall Pilsudski und seiner charismatischen Persönlichkeit eine starke Führerrolle im Staate sicherte. Doch blieb das Land — wie die Fortexistenz des Parlaments und, trotz der haarsträubenden Inhaftierung von oppositionellen Politikern im Jahre 1930, auch der Parteien erkennen ließen — weit von dem totalitären Staatstyp entfernt, den Hitler schon im ersten Jahr seiner Herrschaft einführte 22 . Aber dem Mann im Braunhemd, der sich als Kämpfer fühlte, hat der starke Mann in Warschau, der bärbeißige Willensmensch in Uniform, offenbar weit mehr gelegen als die Londoner und Pariser Herren in den maßgeschneiderten Anzügen, die Politik in den Bahnen alter, für Neulinge schwer erlernbarer Konventionen betrieben. Ja, er wird gemerkt haben, daß Pilsudski sich ähnlich wie er selber der öffentlichen Meinung bediente, ohne sich von ihr den Kurs vorschreiben zu lassen. Pilsudski wiederum begrüßte, daß Hitler durch keine preußische Tradition geprägt war, sondern als geborener Öster-

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abgetretenen Gebieten übernahm, siehe Jerzy Krasuski, Political Significance of the Polish-German Financial Accounting in 1919—1929, in: Acta Poloniae Historica, 15 (1967), S. 65—80. Zum Stand der deutsch-polnischen Beziehungen am Vorabend von Hitlers Machtergreifung siehe Marian Wojciechowski, Polska a Niemcy na przelomie lat 1932—1933, in: Roczniki Historyczne, 29 (1963), S. 1 0 9 - 1 8 0 . Kurt Doß, Zwischen Weimar und Warschau. Ulrich Rauscher. Deutscher Gesandter in Polen 1922— 1930. Eine politische Biographie, Düsseldorf 1984. Bei Wagner, Weimarer Republik (wie Anm. 15), S. 41. Diesen Unterschied klar herausgearbeitet zu haben bleibt das Verdienst von Hans Roos (wie Anm. 2). Hier wird für Pil sudskis Führungskraft und Urteilsschärfe ein feinfühliges, aber nicht unkritisches Verständnis aufgebracht.

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reicher seine Ambitionen erst einmal nach Süden statt nach Osten ausgreifen ließ. Ja, in Warschau erkannte man sofort, daß der neue Machthaber — eben weil er diktieren konnte, was das Volk zu meinen hatte — als erster deutscher Politiker seit 1918 keine Rücksicht auf die polenfeindlichen Ressentiments im deutschen Volk zu nehmen brauchte. 3. Noch ein dritter Umstand ebnete den Weg zur Verständigung. In Locarno war 1925 ein kunstvolles Sicherheitssystem für Europa entworfen worden, das auf dem Gedanken multilateraler Grenzgarantien beruhte und den Völkerbundsrat zur Schiedsinstanz und zum Entscheidungsgremium in der Frage erhob, ob ein Staat einen anderen unprovoziert angegriffen habe. In Locarno war Deutschland wieder zur Großmacht aufgewertet worden, während Polen (ebenso wie die Tschechoslowakei) nicht an den Verhandlungen beteiligt und damit abgewertet worden war. Der Wunsch beider Staaten nach einer Garantie ihrer Grenzen zu Deutschland blieb unerfüllt 23 . Ja, Polen sah sich mit einem nichtständigen Ratssitz abgefunden, der es als Macht zweiter Klasse einstufte. Deshalb konnte es an Locarno nur mit Verärgerung zurückdenken 24 . Seit 1931 war Pil sudski, den die internationale Lage mit Recht beunruhigte, zäh bemüht, die Allianz mit Frankreich durch Neutralitätsvereinbarungen mit jenen beiden Mächten zu ergänzen, von denen Gefahr drohte. Ein Nichtangriffsabkommen wurde zunächst mit jener Sowjetunion (im Juli 1932) abgeschlossen, die der japanische Uberfall auf die Mandschurei geneigt machte, sich durch verbesserte Beziehungen zu Polen den Rücken freizumachen 25 . Eine Ergänzung durch eine entsprechende Vereinbarung mit Deutschland war das nächste Ziel. Dies aber schien ferner als je zuvor hinweggerückt, als mit Schleicher ein Mann ans Ruder kam, der fest am Rapallokurs festhielt und die Reichswehr mit französischem Einverständnis zu vergrößern trachtete. Hitler, dem Schleicher nach wenigen Wochen den Sessel räumen mußte, war dagegen genau wie Pil sudski bestrebt, Außenpolitik durch zweiseitige Absprachen zu regeln. Gegen den Geist von Locarno hegte er einen vermutlich noch tieferen Groll als die Polen. Und dem Völkerbund, aus dem sich Deutschland 1933 verabschiedete, sagte Pilsudski 1934 einen »Tod an Anämie« voraus. Diese Skepsis gegen jedes multilaterale Zusammenspiel trug dazu bei, daß Führer und Marschall gleichsam aufeinander zutrieben. Beide suchten, wie es in der Erklärung vom 26. Januar 1934 heißen sollte, die »unmittelbare Verständigung von Staat zu Staat«. Dem Prinzip einer Umstellung von multilateraler Sicherung auf zweiseitige Vereinbarungen entsprach es, wenn Polen 1934 den Minderheitsschutzvertrag von 1919 aufkündigte, aber dann am 5. November 1937 mit Berlin eine Vereinbarung über die Behandlung der Minderheiten abschloß. 23

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Christian Höltje, Die Weimarer Republik und das Ostlocarno-Problem 1919—1934. Revision oder Garantie der deutschen Ostgrenze von 1919?, Würzburg 1958 (= Marburger Ostforschungen, Bd 8); Helmut Lippelt, »Politische Sanierung«: Zur deutschen Politik gegenüber Polen 1925/26, in: VfZ, 19 (1971), S. 3 2 3 - 3 7 3 . W. Balcerak, Polska polityka zagraniczny wobec ukladow lokarnskich, in: Przegljd Zachodni, 15 (1959) 3, S. 2 5 9 - 2 9 7 . Jaroslaw Jurkiewicz, Pakt Wschodni: Ζ historii stosunkow miedzynarodowych w latach 1934—1935, Warschau 1963; Marian Leczyk, Polityka II Rzeczypospolitej wobec ZRSS w latach 1925—1934. Studium ζ historii diplomacji, Warschau 1976.

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Was bedeutete — über die Klimaverbesserung zwischen Deutschland und Polen hinaus — die Erklärung vom 26. Januar 1934 für das politische System Europas26? Wir würden kraß überzeichnen, wollten wir Polen von nun an zum Satelliten oder doch (sein abstoßendes Verhalten bei der Teilung der Tschechoslowakei27 zurückprojizierend) zum Komplizen Hitlers stempeln. Eigenständigkeit und Unabhängigkeit blieben nach wie vor die Hauptanliegen der Warschauer Politik. Man darf auch nicht unterstellen, die polnische Führung habe sich von nun an in einem unberechtigten Gefühl von Sicherheit gewiegt. Gewiß, in Polen hatte man so wenig wie anderswo durchschaut, daß Nichtangriffspakte im Ernstfall keinerlei Schutz gewährten, weil Aggressoren — ob sie nun Stalin oder Hitler hießen — sich über solche Vereinbarungen hinwegsetzten. (In unserem Fall sollte der deutsche Diktator die auf zehn Jahre geschlossene Vereinbarung von 1934 schon am 28. April 1939 aufkündigen.) Aber Pilsudski besaß einen nüchternen Verstand und spürte genau, wie eisig der Wind im internationalen Kräftespiel mittlerweile blies. Er wollte seinem Land durch den Akt vom 26. Januar 1934 einen Aufschub von ein paar Jahren verschaffen. Während dieser Zeit werde man die eigene Kraft entfalten können. Der Irrtum (und wer irrte sich damals nicht?) lag darin, daß man nicht voraussah, um wieviel mehr der hochindustrialisierte Nachbar aus einem Aufschub Nutzen schlagen würde. Uber die Erklärung der Wehrhoheit, die das Werk der Wiederaufrüstung jeder Tarnung entkleidete, hat sich Polen nur noch in einer Protestnote beschwert, die als rein formeller Akt gedacht war. Der blieb, wie vorausgesehen, wirkungslos. Die Achse des polnischen Sicherheitskonzeptes war auch weiterhin die Allianz mit Frankreich, mit dem man durch den Beistandsvertrag vom 16. Februar 1921 und seine Ergänzung in dem Garantievertrag vom 16. Oktober 1925 zusammengespannt war 28 . Die polnischen Generale blieben in der Regel ihrer Erziehung treu, die sie gelehrt hatte, daß mit den Deutschen kein dauerhafter Friede möglich sei und daß der polenfeindliche Geist Preußens in der Reichswehr ein unerschüttertes Bollwerk besitze. In der Krise, die 1936 durch die Rheinlandbesetzung heraufbeschworen wurde, wäre Polen — obwohl sich der Außenminister Beck gewisse Hintertüren offenhielt — vermutlich marschiert, wenn Frankreich die deutsche Herausforderung angenommen hätte. Aber 1934 verzeichnete es die polnische Führung geradezu als Fortschritt, daß man nicht mehr so sehr wie bisher auf das lasche Frankreich angewiesen war. Man schien dem Ziel, eine selbständige Großmachtrolle zu spielen, näher gekommen zu sein. Die Erklärung vom 26. Januar 26

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Abgedr. ist die Erklärung u.a. in: Mißtrauische Nachbarn. Deutsche Ostpolitik 1917—1970. Dokumentation und Analyse, hrsg. von Hans-Adolf Jacobsen, Wilfried v. Bredow, Düsseldorf 1970, S. 93 f. Vgl. dazu Gerhard L. Weinberg, German Foreign Policy and Poland, 1937—1938, in: The Polish Review, 20 (1975), S. 3 - 2 3 . Piotr Wandycz, France and her Eastern Allies, Minneapolis 1962; Anna Μ. Cienciala, Poland and the Western Powers. A Study in the Interdependence of Eastern and Western Europe, London 1968, hier S. 1—29 zu 1918—1938; Tadeusz Kuzminski, Polska, Francja, Niemcy, 1933—1935. Ζ diejow sojuszu polsko-francuskiego, Warschau 1963. — Einseitiger als Pilsudski setzte — durch die deutsche wie die sowjetische Gefahr gleichermaßen beunruhigt — auf die Allianz mit Frankreich ein Kritiker Pilsudskis, der 1928 freiwillig ins Exil ging, siehe Wladyslaw Sikorski, Le probleme de la paix. Le jeu des forces politiques en Europe Orientale et l'alliance franco-polonaise, Paris 1931. Zum Autor siehe Walentina Korpalska, Wladyslaw Eugeniusz Sikorski. Biografia politiyczna, Breslau 1988.

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1934, auf die Beck die Franzosen überhaupt nicht vorbereitet hatte, weichte zumindest in einem psychologischen Sinne den Zusammenhalt mit Frankreich auf: zu einem Zeitpunkt, wo alles auf die Einsicht angekommen wäre, gemeinsam bedroht zu sein und gemeinsam handeln zu müssen. Die Fähigkeit, den Ernst der Lage wahrzunehmen, brachte Pil sudski wie wohl kein anderer Politiker der Zeit mit. Aber gerade die Tatsache, daß er sich mit seiner höheren Wachheit von Frankreich im Stich gelassen fühlte, hat ihn den Ausgleich mit Hitler suchen lassen. Der Sicherheitspartnerschaft zwischen Polen und Frankreich wohnte eine fatale Schwäche inne: Weder hier noch dort war beherzigt worden, daß man einer deutschen Gefahr durch mutig geführte Offensivstöße, ja am besten durch eine sorgfältig aufeinander abgestimmte Zangenoperation begegnen mußte. Frankreich blieb bei einem rein defensiven Konzept, das die Weise, wie man den Ersten Weltkrieg gewonnen hatte, gleichsam für den nächsten festschrieb. Und den polnischen Militärs steckte selbst in der Phase des großen Zahlenübergewichtes über die Reichswehr ein tiefer Respekt vor den militärischen Qualitäten dieser Truppe in den Knochen, in der man eine glänzend geführte Elitearmee erblickte, die rasch erweitert werden konnte. Deshalb wollte man im Ernstfall erst einmal Ostpreußen, Hinterpommern und Oberschlesien aufrollen, wo die Deutschen vorerst im strategischen Nachteil waren. Den das Reich ins Mark treffenden, strategisch entscheidenden Stoß auf Berlin traute man sich nicht zu. Die Annäherung an Deutschland, die im Januar 1934 offenkundig wurde, legte nicht nur den Drang der Polen bloß, mit mehr Selbständigkeit gegenüber dem verbündeten Frankreich zu agieren. Sie ließ auch ein weiteres Mal erkennen, wie wenig die Tschechoslowakei in die polnische Planung einbezogen war. Wenn Benes im Januar 1934 einen Freundschaftsvertrag anbot, der auch militärische Zusammenarbeit einschließen sollte, so mußte er erfahren, daß man in Warschau wenig Lust verspürte, den erfolgreich anlaufenden Ausgleich mit Deutschland durch Brückenschläge in einer anderen Richtung zu gefährden29. Daß Pil sudski eine südliche Stoßrichtung von Hitlers Expansionismus begrüßte, der, sobald der Anschluß Österreichs gelungen war, mit Notwendigkeit die Tschechoslowakei zum nächsten Ziel wählen würde, zeigt die Sankt-Florians-Mentalität zu einer Zeit, wo die Gemeinsamkeit der Gefährdung nicht allein die Bindungen mit Frankreich hätte stärken müssen, sondern auch eine Abstimmung mit Prag dringend nahelegte. Als Ryzdz-Smigly — erster Mann in der Warschauer Führungsmannschaft, nachdem Marschall Pil sudski 1935 gestorben war — im Sommer 1936 Paris besuchte, lehnte er es bezeichnenderweise brüsk ab, das polnisch-tschechoslowakische Verhältnis zu erörtern. In der Verfallsgeschichte des europäischen Sicherheitssystems, dessen Grund in Locarno gelegt schien, ist Hitlers erster Wechsel in der Ostpolitik nur eine — wenn auch wichtige — Etappe, keinesfalls der Beginn. Der lag nämlich bereits im Ausgang des Ersten Weltkrieges und in der neuen Staatsordnung von 1919 beschlossen. Denn Rußland, das Frankreichs eigentlicher Sicherheitspartner gewesen war, schied mit der Machtergreifung der

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Jerzy Kozenski, Rokowania polsko-czeskie na tie niebezpieczenstwa niemieckiego w latach 1932—1933, in: Przegljd Zachodni, (1962), S. 253—275; ders., Czechoslowacja w polskiej polityce zagranicznej w latach 1 9 3 2 - 1 9 3 8 , Posen 1964.

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Bolschewiki fürs erste aus dem europäischen Konzert aus. Für Rußland boten die neuen Staaten Polen und Tschechoslowakei nur einen kümmerlichen Ersatz. Beide Staaten waren — wie der französische Historiker Jacques Bainville, ein weitblickender Nationalist, 1920 in einem berühmten Buch dargelegt hatte — mehr auf Schutz angewiesen, als daß sie selber Schutz bieten konnten. Und sie würden gehalten sein, jeder für sich sein Arrangement mit einem wiedererstarkenden Deutschland zu suchen. Das Reich mußte für den verlorenen Weltkrieg einen hohen Preis zahlen. Aber es war 1919 nicht zerschlagen worden, und es würde, daran zweifelte Bainville nicht, eines Tages wieder jene Rolle einer Großmacht spielen, die der Zahl seiner Bewohner und ihrer Leistungskraft entsprach. Eingeschnürt in die Grenzen von 1919, von Revanchegedanken erfüllt, mußte dieses neue Deutschland hochgefährlich werden. Locarno baute — mit einem entmilitarisierten Rheinland als Achse der Konstruktion — auf einer Stellung Deutschlands auf, die jetzt zwar aufgewertet erschien, aber mit dem Verzicht auf die Wehrhoheit in einem Teil des Landes ebenso unterhalb der Norm einer Großmacht blieb, wie das der Pariser Frieden von 1856 Rußland zugemutet hatte, das seine Befestigungen an der Südküste schleifen mußte und keine Kriegsflotte auf dem Schwarzen Meer unterhalten durfte. Es konnte nicht erstaunen, daß Rußland sich bei erster sich bietender Gelegenheit über die demütigenden Pontusklauseln hinwegsetzte. Damit war seit 1870 das Muster für die Rheinlandbesetzung von 1936 vorgegeben. Eher schon läßt verwundern, wie rasch die Deutschen in der westlichen Öffentlichkeit (in England naturgemäß rascher als in Frankreich) Verständnis für ihre Ansicht fanden, in Versailles habe man mit dem »polnischen Korridor«, der Ostpreußen vom übrigen Reich abteilte, eine Gewaltentscheidung getroffen, gegen die sich das deutsche Volk so lange auflehnen müsse, bis sie endlich revidiert sei30. Den Protest gegen die Grenzziehung konnte man hier keineswegs mit dem Argument stützen, der Korridor sei zur Mehrheit von Deutschen bewohnt. Vielmehr wurde nun einmal der deutsche Siedlungsraum durch einen Streifen mit klarer polnischer Mehrheit unterbrochen. Nicht das Selbstbestimmungsrecht der Völker war es also, auf das man sich zu berufen vermochte, keine »ethnische Gerechtigkeit«, sondern im Grunde nur auf den Anspruch eines großen, zur Großmachtstellung berufenen Volkes, dem eine derart unbequeme Grenze nicht zuzumuten sei31. Was unterscheidet die Weimarer Außenpolitik, von der Hitler sich 1933 absetzte, von dem Kurs, den er 1939 einschlug32? Den Weimarern schwebte, wenn sie gegen die Grenz30

Ulrich Wendland, Das Korridorproblem in der internationalen Diskussion, in: Deutschland und der Korridor, hrsg. von Friedrich Heiss, Berlin 1939, S. 277—290. Beispiele britischen Verständnisses für den deutschen Standpunkt liefern Sir Robert Donald, The Polish Corridor and Its Consequences, London 1929; Ian F.D. Morrow assisted by L.M. Sieveking, The Peace Settlement in the German Polish Borderlands: A Study of Conditions To-day in the Pre-war Prussian Provinces of East and West Prussia, Oxford 1936.

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Als Beispiel für diese Stimmungsmache, die auf eine Revision der »blutenden Grenze« im Osten drängte, sei herausgegriffen das von Franz Lüdtke und Ernst Otto Thiele hrsg. Sammelwerk: Der Kampf um deutsches Ostland, Düsseldorf 1931. Im Ton und in der Argumentation liest sich die 1939 entfachte NS-Propaganda gegen Polen wie eine Neuauflage jener Publizistik, die Hitler 1933/34 abgewürgt hatte, siehe etwa das Sammelwerk: Deutschland und der Korridor, in Zusammenarbeit mit Günter Lohse und Waldemar Wucher hrsg.

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ziehung von 1919 angingen, im Grunde vor, Zustände wiederherzustellen, wie sie 1914 gegolten hatten. Sie beteuerten, daß sie ihre Forderungen nicht mit Waffen durchsetzen wollten, und die Strategen des 100000-Mann-Heeres waren Realisten genug, um eine große Ostoffensive gegen einen weit zahlenstärkeren Nachbarn gar nicht erst zu planen. Hitler radikalisierte das traditionelle deutsche Großmachtstreben, indem er von einer Erweiterung deutscher Macht über jedes vorher für möglich gehaltene Maß hinaus träumte. Und — wohl klarer als irgendein anderer in Deutschland zwischen 1918 und 1933 — erkannte er, der Mann aus dem österreichischen Braunau, daß aus dem Nachlaß jener Monarchie, die vom reichsdeutschen Expansionismus nicht einmal in Gedanken einverleibt worden war, leicht beherrschbare Trümmer übrig geblieben waren. Der Anschluß Österreichs, über den man in der Weimarer Periode nur in bestimmten Phasen ernsthafter nachgedacht hatte, gedieh in seiner Phantasie zum ersten Schritt einer Machtausdehnung, deren endgültige, auf jeden Fall riesige Reichweite ihm nur nebelhaft vorschwebte. Es war Hitlers böser Scharfsinn, der ihn erkennen ließ, daß die Deutschen den Weltkrieg nicht eigentlich verloren, sondern, bei Lichte besehen, gewonnen hatten. Denn sein Ausgang gab ihnen Möglichkeiten an die Hand, von denen kein Politiker des Kaiserreichs hatte träumen können 33 . Wie fügt sich die Kursänderung von 1933—1934 in die Entwicklung von Hitlers politischen und militärischen Planungen ein? Der primäre, handgreifliche Sinn eines Ausgleichs mit Polen war es, Deutschland an der Schwelle der Konfrontation mit den Westmächten den Rücken freizumachen. Von der Sowjetunion abzurücken und die Brücke zum unmittelbaren östlichen Nachbarn zu schlagen, barg zudem den Vorteil, daß die deutsche Ostpolitik für weite Kreise der europäischen Öffentlichkeit einleuchtender wurde als jemals zuvor. Eine langfristige Festlegung oder auch nur eine De-facto-Anerkennung der deutschen Ostgrenzen hat Hitler in der Erklärung vom 26. Januar 1934 sicher nicht gesehen. Zwei Alternativen, wie eines Tages mit Polen zu verfahren sei, dürften ihm schon damals durch den Kopf gegangen sein. Die eine malte Göring 1935 bei einem Jagdbesuch in Polen großspurig aus: Deutschland und Polen sollten eines Tages gemeinsam die Sowjetunion angreifen und sich die Beute teilen 34 . Die andere Möglichkeit hat ein zeitweiliger Parteigänger Hitlers aus Gesprächen herausgehört, die er mit Hitler in der Phase der Machtergreifung führte. Von Gedankenspielen über eine antisowjetische, offensive

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von Friedrich Heiß, Berlin 1939, sowie Arnold Zelle, 100 Korridorthesen. Abrechnung mit Polen, Berlin 1939. In einem vielgelesenen Buch aus dem Jahr 1920 wurde der Friedensordnung von 1919 vorgeworfen, sie habe dem Reich, statt es zu zerschlagen, die Möglichkeit offen gelassen, eines Tages eine Revancheund Expansionspolitik zu beginnen, der sich schwerer werde Einhalt gebieten lassen als dem Imperialismus des kaiserlichen Deutschland. Mit gutem Grunde wurde diese scharfsinnige Analyse aus der Feder eines nationalistischen französischen Historikers, die 1935 in 35. Auflage erschienen war, gerade zu Beginn des Zweiten Weltkrieges — mit anerkennender Einleitung — in Deutschland neu herausgegeben: als prophetische Schau dessen, was der »Führer« später in die Tat umsetzte, siehe Jacques Bainville, Frankreichs Kriegsziel. Les consequences politiques de la paix, Berlin 1939, S. 277—290. Siehe dazu die Aufzeichnung des Staatssekretärs im polnischen Außenministerium, Graf Szembek, zum 10.2.1935, Diariuszy teki Jana Szembeka (1935—1945), Bd 2, hrsg. von Tytus Komarnicki, London 1964, S. 230 f.

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Gottfried Schramm

Partnerschaft mit Polen ausgehend, habe der Plauderer Hitler unversehens einen ganz anderen Ton angeschlagen: »Ich kann keine Militärmacht und keine neue polnische Großmacht an unserer Grenze brauchen. Welch Interesse hätte ich dann an einem Krieg mit Rußland [...]. Alle Abmachungen mit Polen haben nur vorübergehenden Wert. Ich denke ja gar nicht daran, mich ernstlich mit Polen zu verständigen. Ich habe es nicht nötig, mit irgendeiner Macht zu teilen«.

Das war noch immer nicht eine glatte Vorwegnahme des Kurses, den er 1939 einschlagen sollte. Denn, so Rauschning, eine Aufteilung Polens habe Hitler damals verworfen, weil der Preis zu hoch sei. »Ich brauche Polen nur solange, als ich nur von Westen bedroht werden kann 35 .« Wie ernst es Hitler damals und später mit dem Gedanken gewesen sein mag, Polen lasse sich als Partner und Satellit in sein großes Konzept einbauen, den »jüdischen Bolschewismus« zu zerschlagen und auf seinen Trümmern die deutsche Weltmacht zu errichten: In eine praktische Politik hätten sich alle Pläne, mit Polen gegen die Sowjetunion zusammenzugehen, auch dann nicht umsetzen lassen, wenn Hitler ernsthaft dafür geworben hätte. Denn weder Pilsudski noch die Führungsmannschaft, die ihn 1935 ablöste, war durch den Gedanken verführbar, an der Seite Deutschlands Gewinne im Osten zu machen. In Weißruthenien und der Ukraine betrachteten sie Polen als saturiert. Und sie verfügten seit 1920 über bittere Erfahrungen, wie leicht man in den östlichen Weiten aufs Glatteis geraten konnte. Vor dem Hintergrund, daß Polen gegen den Gedanken einer Komplizenschaft gegen die Sowjetunion immun war, erscheint Hitlers Kehrtwendung zu einer Politik gegen Polen, so unvernünftig sie nach fünf Jahren eines durchaus gedeihlichen Verhältnisses zwischen beiden Staaten erscheinen mochte, nur als ein folgerechter Schritt auf einem Wege, der zu keinem anderen Ziele führen konnte als zum Verhängnis.

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Hermann Rauschning, Gespräche mit Hitler, Zürich 1939, S. 112 f. Dies glänzend — man ist versucht zu sagen: verdächtig glänzend — geschriebene Zeitzeugnis hält bewegte Redeverläufe in einer Weise fest, die nur als freie Nachkonstruktionen von Erinnertem glaubhaft sind, wobei zu verschiedenen Gelegenheiten Gesagtes sehr wohl zu einer Sequenz verbunden sein kann. Nach dem Bruch mit Hitler kam es dem Verf. auch und gerade darauf an, den Meinungsunterschied in der Polenpolitik scharf zu umreißen. Doch an der zitierten Stelle macht der Text, den der Verf. fünf Jahre später der Öffentlichkeit mitteilte, durchaus den Eindruck von genauer Wiedergabe.

Günter Rosenfeld

Das Zustandekommen und die Auswirkungen des Hitler-Stalin-Paktes

Der Hitler-Stalin-Pakt hat seit seinem Abschluß in der Nacht vom 23. zum 24. August 1939 immer wieder das Interesse nicht nur der Historiker, sondern auch der breiteren politischen Öffentlichkeit erweckt. Während die westliche Historiographie schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aufgrund der zugänglich gewordenen deutschen Akten zunehmend Licht in die bis dahin verschlossen gebliebenen Zusammenhänge bringen konnte1, war dies hinsichtlich der sowjetischen Geschichtsschreibung und der ihr zugeordneten Historiographie der Ostblockländer noch bis in die jüngste Vergangenheit hinein infolge der Deformierung der Geschichtsschreibung durch den Stalinismus nicht der Fall. Es kam hinzu, was auch die westliche Forschung erschwerte, daß die entsprechenden sowjetischen Archivbestände der historischen Forschung verschlossen blieben. Erst im Verlaufe des Jahres 1989 trat hier mit der Weiterentwicklung des von Michail S. Gorbacev eingeleiteten Reformkurses eine neue Situation ein. Sie im einzelnen zu beschreiben, fehlt hier der Raum. Wesentlich war auch die Tatsache, daß im Prozeß der deutschen Wiedervereinigung Historiker aus der ehemaligen DDR sich jetzt ungehindert dieser Thematik zuwenden konnten, was sich insbesondere in zwei Quellenpublikationen zum Hitler-Stalin-Pakt ausdrückte2. Der in der sowjetischen Historiographie beim Ubergang von den achtziger zu den neunziger Jahren erfolgte regelrechte Durchbruch bei der Erforschung der Entstehungsgeschichte und der Auswirkungen des Hitler-Stalin-Paktes wurde nicht zuletzt auch durch die vom Ersten Kongreß der Volksdeputierten im Sommer 1989 unter Vorsitz von Aleksandr Jakov1

Aus der Fülle der publizierten Arbeiten seien die nachfolgenden genannt: Gerhard L. Weinberg, Germany and the Soviet Union 1939—1941, Leiden 1972; Reinhold W. Weber, Die Entstehung des Hitler-Stalin-Paktes 1939, Frankfurt a.M. 1980; Andreas Hillgruber, Klaus Hildebrand, Der Hitler-Stalin-Pakt: Parallelen bis heute?, Zürich 1980; Bianka Pietrow, Stalinismus, Sicherheit, Offensive. Das »Dritte Reich« in der Konzeption der sowjetischen Außenpolitik 1933—1941, Melsungen 1983; Anthony Read, David Fisher, The Deadly Embrace. Hitler, Stalin and the Nazi-Soviet-Pakt, 1939—1941, New York, London 1988; Hitler-Stalin-Pakt 1939. Das Ende Ostmitteleuropas? Hrsg. von Erwin Oberländer, Frankfurt a.M. 1989; Der Hitler-Stalin-Pakt. Voraussetzungen, Hintergründe, Auswirkungen, hrsg. von Gerhard Bisowsky, Hans Schafranek, Robert Streibel, Wien 1990; Gilbert-Hanno Gornig, Der Hitler-Stalin-Pakt, Frankfun a.M. 1990; Ingeborg Fleischhauer, Der Pakt. Hitler, Stalin und die Initiative der deutschen Diplomatie 1938—1939, Berlin, Frankfurt a.M. 1990; dies., Diplomatischer Widerstand gegen »Unternehmen Barbarossa«. Die Friedensbemühungen der Deutschen Botschaft Moskau 1 9 3 9 - 1 9 4 1 , Berlin, Frankfurt a.M. 1991.

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Vgl. Sowjetstern und Hakenkreuz 1939 bis 1941. Dokumente zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen, hrsg. und eingeh von Kurt Pätzold und Günter Rosenfeld, Berlin 1990; Gerhart Hass, 23. August 1939. Der Hitler-Stalin-Pakt. Dokumentation, Berlin 1990.

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Günter Rosenfeld

lev gebildete »Kommission zur politischen und rechtlichen Bewertung des sowjetischdeutschen Nichtangriffsvertrages von 1939« gefördert. Die Kommission charakterisierte in ihrem Ende Dezember 1989 veröffentlichten Bericht 3 den sowjetisch-deutschen Nichtangriffspakt als unter den damaligen Bedingungen »politisch gerechtfertigt« und verurteilte zugleich das dazu gehörige Geheime Zusatzprotokoll als völkerrechtswidrig und als ein Dokument, das »das innere Wesen des Stalinismus widerspiegelte«. Die Materialien der Kommission wurden sodann noch einmal zusammen mit einer von mehreren sowjetischen Autoren verfaßten umfangreichen Darstellung der Geschichte der sowjetischen Außenpolitik und der internationalen Beziehungen vor dem Zweiten Weltkrieg in dem Band »Das Jahr 1939. Lehren der Geschichte« im Jahre 1990 veröffentlicht 4 . Auch die bisher für die Beurteilung der sowjetischen Außenpolitik im Jahre 1939 vorhandene Quellenbasis wurde durch zwei im Herbst 1990 vom Außenministerium der UdSSR herausgegebene Dokumentenbände, betitelt »God krizisa« (Das Jahr der Krise), erweitert 5 . Dabei handelt es sich um eine insbesondere durch die Veröffentlichung des Telegrammwechsels zwischen Molotov und dem sowjetischen Geschäftsträger in Berlin, Georgij Astachov, der ab Ende April 1939 infolge Abwesenheit des Botschafters Aleksej Merekalov in den entscheidenden Monaten vor dem Paktabschluß die Gespräche mit Ribbentrop und dem Auswärtigen Amt führte, sowie der Aufzeichnungen Molotovs über seine Gespräche mit dem deutschen Botschafter Graf v. d. Schulenburg vervollständigte Aktenpublikation aus dem Jahre 1971. Insofern geht es hier nur um einen Anfang, und weitere Aktenpublikationen bzw. archivalische Arbeiten werden folgen müssen, vor allem auch, um die Entscheidungsfindung Stalins, soweit sie überhaupt rekonstruierbar ist, aufzuhellen. Charakteristisch für diese neue Phase der Historiographie über den Hitler-Stalin-Pakt ist auch die jetzt erreichte weitgehende Annäherung der Standpunkte und Auffassungen der westlichen und eines großen Teils der sowjetischen Historiker. Das zeigt sich sowohl in Publikationen, an denen sich deutsche und sowjetische Historiker beteiligten 6 , als auch in der Teilnahme von sowjetischen Historikern an wissenschaftlichen Konferenzen, die anläßlich der 50. Wiederkehr des Beginns des Zweiten Weltkrieges in Deutschland veranstaltet wurden. Trotz der umfangreichen Literatur, die inzwischen zu diesem Thema veröffentlicht wurde, wird die Diskussion vor allem über die Motive, von denen sich die beiden Diktatoren 3

4 5 6

Pravda, 24.12.1989; dt. Übersetzung: Materialien des II. Kongresses der Volksdeputierten der UdSSR. Uber die politische und rechtliche Bewertung des sowjetisch-deutschen Nichtangriffsvertrags von 1939, Moskau 1990. 1939 god. Uroki istorii, Moskau 1990. God krizisa 1938—1939. Dokumenty i materialy, 2 Bde, Moskau 1990. Vgl. die vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt herausgegebenen Sammelbände: Der Zweite Weltkrieg. Analysen, Grundzüge, Forschungsbilanz. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Wolfgang Michalka, und Zwei Wege nach Moskau. Vom Hitler-Stalin-Pakt zum »Unternehmen Barbarossa«. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Bernd Wegner, München, Zürich 1989 und 1991; vgl. ferner: 1939. A n der Schwelle zum Weltkrieg. Die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges und das internationale System, hrsg. von Klaus Hildebrand, Jürgen Schmädeke und Klaus Zernack im Auftrag der Historischen Kommission zu Berlin und des Instituts für Zeitgeschichte, München, Berlin, New York 1990.

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bei ihrer Entscheidungsfindung leiten ließen, und über die Etappen, in denen sich dieser Prozeß vollzog, weitergeführt 7 . Die Beantwortung dieser beiden im Vordergrund stehenden Fragen ist um so schwieriger, als sich die Neugestaltung des deutsch-sowjetischen Verhältnisses in enger Wechselwirkung mit dem spannungsgeladenen Feld der internationalen Beziehungen am Vorabend des Zweiten Weltkrieges vollzog. Einigkeit herrscht unter den Historikern darüber, daß das Münchener Abkommen jene Zäsur bildet, die zu der Annäherung zwischen Deutschland und der Sowjetunion überleitete. Beide Staaten befanden sich nach dem 29. September 1938 in einer außenpolitischen Situation, die von ihren Führungen neue strategische Entscheidungen verlangte. Die von der UdSSR seit Ende 1933 verfolgte Politik der kollektiven Sicherheit, die im Grunde bereits im Herbst 1934 mit der Unrealisierbarkeit des Ost-Pakt-Projektes in eine Sackgasse geraten war, mußte nach München als endgültig gescheitert angesehen werden. Die Stalinsche Führung sah sich vor die Notwendigkeit gestellt, aus der entstandenen außenpolitischen Isolation einen Ausweg zu finden und den Gefahren zu begegnen, die mit einer möglichen Ausweitung der Expansion des Deutschen Reiches unter Hitler nach Osten für die UdSSR entstanden. Für Hitler und seine Führung ergab sich demgegenüber die Frage, unter welchen Bedingungen ihre Expansionsbestrebungen, als deren nächstes Ziel sich alsbald Polen herausstellte, weiter vorangetrieben werden konnten. Es fehlt hier der Raum, um die innen- und außenpolitische Situation der beiden Staaten, die sich nach dem Münchener Abkommen innerhalb von weniger als elf Monaten zu Partnern einer weitreichenden Kooperation zusammenfanden, hinreichend zu analysieren. Die Historiker hat es dabei immer wieder angeregt, die beiden Diktaturen, das nationalsozialistische Deutschland und die stalinistische Sowjetunion, sowie ihre Führer selbst miteinander zu vergleichen 8 . Doch wird man sich vor vordergründigen, schematischen Gleichsetzungen hüten müssen. Denn sehr unterschiedlich waren die historischen und politisch-gesellschaftlichen Bedingungen, aus denen diese Diktaturen erwuchsen. Stalin fürchtete einen Krieg, vor allem einen Angriff Deutschlands unter Hitler. Und diese Furcht erklärt viele seiner Handlungsweisen auch in den Monaten vor dem 22. Juni 1941. Die auf die Zusammenarbeit mit den Westmächten abzielende Politik der kollektiven Sicherheit hatte Stalin nicht davon abgehalten, nicht auch gleichzeitig eine Ubereinkunft mit Hitler anzustreben, den er ebenso haßte, wie er seine Herrschaftsmethoden bewunderte'. Erinnert sei an die Mission David Kandelakis, den Stalin im Februar 1935 nicht nur als Handelsvertreter, sondern auch mit dem Auftrag nach Berlin gesandt 7

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Vgl. dazu Bernd Bonwetsch, Vom Hitler-Stalin-Pakt zum »Unternehmen Barbarossa«. Die deutschsowjetischen Beziehungen 1939—1941 in der Kontroverse, in: Osteuropa, (1991) 6, S. 562f.; Rolf Ahmann, Der Hitler-Stalin-Pakt. Eine Bewertung der Interpretationen sowjetischer Außenpolitik mit neuen Fragen und neuen Forschungen, in: Der Zweite Weltkrieg (wie Anra. 6), S. 93 f. Vgl. zu diesem Thema besonders Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917—1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, Frankfurt a.M., Berlin 1987; Allan Bullock, Hitler und Stalin. Parallele Leben, Berlin 1991. Vgl. Valentin Bereshkow, Ich war Stalins Dolmetscher. Hinter den Kulissen der politischen Weltbühne, München 1991, S. 267 f.

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hatte, die Möglichkeiten einer solchen Übereinkunft mit Hitler zu sondieren10. Bekannt sind die Ausführungen Stalins gegenüber Anthony Eden während dessen Moskau-Besuches Ende März 1935, in denen er seinen Wunsch ausdrückte, »mit Deutschland in freundschaftlichen Beziehungen zu leben«11. Insofern war die von Stalin nach München unternommene Kursnahme auf die Annäherung an Deutschland nicht neu, wenngleich sich auch die internationale Lage von derjenigen Mitte der dreißiger Jahre wesentlich unterschied. Und Stalin mußte sich im Sommer 1939, als er sich mit Hitler nicht nur über einen Nichtangriffspakt, sondern auch über die Aufteilung Osteuropas in Interessensphären verständigte, darüber klar sein, daß er damit dem zum Krieg entschlossenen Hitler und seiner Führung Schützenhilfe leistete. Die Hinwendung Hitlers zu einer Annäherung an die UdSSR ergab sich aus seiner Kriegsplanung und bewies, daß er, ohne seine prinzipielle Gegnerschaft gegenüber der Sowjetunion aufzugeben, durchaus in der Lage war, diese aus taktischen Gründen zurückzustellen. Andreas Hillgruber hat seinerzeit auf den komplizierten Zusammenhang zwischen der ideologisch-politischen »Programmatik« und den konkreten außenpolitischen Handlungen Hitlers hingewiesen 12 . Hitlers Entschluß, sich mit der Sowjetunion zu verbünden, resultierte aus seiner Absicht, die Sowjetunion in eine gegen Großbritannien und Frankreich gerichtete außenpolitische Koalition einzubeziehen. Sie sollte ihm dazu verhelfen, den Konflikt mit Polen zu lokalisieren und einen möglicherweise drohenden Zweifrontenkrieg zu verhindern. Bei der Erörterung der damaligen strategisch-operativen Überlegungen Hitlers wurde in der historischen Literatur vielfach die Aussage Hitlers gegenüber dem Völkerbundskommissar Carl J. Burckhardt am 11. August 1939 nach der Wiedergabe in Burckhardts Memoiren zitiert. Danach habe ihm Hitler gesagt, daß alles, was er unternehme, »gegen Rußland gerichtet« sei13. Neue Forschungen erhärten schon früher gehegte Zweifel daran, daß Hitler tatsächlich damals gegenüber Burckhardt solche Ausführungen machte14, wenngleich diese generell durchaus dem Denken und Handeln Hitlers entsprachen. Auch in seinem ausführlichen Bericht, den Burckhardt im Anschluß an die Unterredung mit Hitler über diese am 13. August in Basel den beiden Abgesandten des Foreign Office und des Quai d'Orsay erstattete15, war diese Aussage Hitlers nicht enthalten. Als bewie10

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13 14

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In einem Schreiben an Staatssekretär Ernst v. Weizsäcker vom 1 1 . 6 . 1 9 3 7 bestätigte Schulenburg dessen Anfrage, ob sich Kandelaki des besonderen Vertrauens Stalins und Molotovs erfreue. PA Bonn, Polit. Abt. V, Po 2, Bd 1, Bl. 212217. Vgl. auch Christopher Andrew, Oleg Gordiewsky, KGB. Die Geschichte seiner Auslandsoperationen von Lenin bis Gorbatschow, München 1990, S. 299. Aufzeichnung vom 29.3.1935. Dokumenty vnesnej politiki SSSR, Bd 18, Moskau 1973, S. 249. Vgl. Andreas Hillgruber, Hitlers Strategie, Politik und Kriegführung 1940—1941, München 2 1982, S. 20. Vgl. Carl J. Burckhardt, Meine Danziger Mission 1 9 3 7 - 1 9 3 9 , München 1960, S. 348. Vgl. Paul Stauffer, Zwischen Hofmannsthal und Hitler. Carl J. Burckhardt. Facetten einer außergewöhnlichen Existenz, Zürich 1991. Der Bericht wurde auf diese Weise später abgedruckt in: Documents on British Foreign Policy 1919—1939, Third Series, vol. VI, London 1953, S. 688 f.; Documents diplomatiques franfais 1932—1939, 2me Serie, t. XVIII, Paris 1985, S. 29; vgl. auch Lev A . Bezymenskij, Avgustovskoe predlozenie Gitlera Londonu, in: Mezdunarodnaja Zizn', (1989) 8, S. 4 0 f .

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sen kann aber gelten, daß Hitler zu diesem Zeitpunkt, als er Stalin gegenüber bereits weitgehende Offerten machte, zugleich festzustellen suchte — und darin lag der Zweck seines Zusammentreffens mit Burckhardt —, »ob zwischen den Achsenmächten und den Einkreisungsmächten ein Kontakt hergestellt werden kann, um zu einem München zu führen, das unsere Mindestforderungen erfüllt, ohne uns eine allgemeine internationale vertragliche Bindung aufzuerlegen, die einer Kapitulation gleichkäme. Dieser Kontaktversuch ist in der Mission Burckhardts durchgeführt worden« 16 . Die britische Regierung reagierte allerdings auf diesen diplomatischen Vorstoß negativ. Auch in seiner Unterredung mit Burckhardt, folgt man dessen obengenanntem Bericht gegenüber den beiden Diplomaten aus London und Paris, bewertete Hitler die militärische Stärke der Roten Armee als sehr gering, wobei er sich nicht zu Unrecht auf deren »Enthauptung«, der physischen Vernichtung einer großen Zahl ihrer führenden Kommandeure, durch Stalin berief. In ähnlicher Weise äußerte er sich gegenüber Alfred Rosenberg vier Wochen nach dem Abschluß des Paktes. Rosenberg notierte ferner: »Mit Moskau habe er sich das sehr überlegt [...]. Er habe das kleinere Übel gewählt und einen riesigen strategischen Vorteil erzielt 17 .« Uberschaut man die deutsch-sowjetischen Beziehungen, wie sie sich im Rahmen der sich zuspitzenden internationalen Vorkriegskrise vom Münchener Abkommen bis zum Abschluß des Hitler-Stalin-Paktes entwickelten, so kann man die folgenden vier Etappen feststellen: Eine erste Etappe von Oktober 1938 bis zum 15. März 1939, also bis zu jener neuen Situation, wie sie sich nach der Okkupation der »Rest-Tschechei« durch die deutsche Wehrmacht ergab. Eine zweite Etappe sodann bis Ende Mai 1939, in der nach einem begonnenem Prozeß der vorsichtigen Annäherung in der ersten Etappe nunmehr bereits zielgerichtete Fühlungnahmen von beiden Seiten aus erfolgten, während gleichzeitig die Verhandlungen zwischen der UdSSR und den Westmächten über eine kollektive Abwehrfront gegen die drohende Aggression Deutschlands in Gang kamen, parallel aber auch schon Gespräche über einen Interessenausgleich zwischen Deutschland und Großbritannien eingeleitet wurden. Eine dritte Etappe von Anfang Juni bis zum Beginn der letzten Juli-Dekade, in der die Gespräche zwischen Berlin und Moskau intensiviert wurden, ohne jedoch konkrete Ergebnisse zu erreichen. Dabei wurde auf beiden Seiten mit äußerster Vorsicht und größtem Mißtrauen vorgegangen, vor allem unter der Fragestellung, inwieweit Hitler nicht lediglich die Verhandlungen Moskaus mit den Westmächten stören (Moskauer Sicht) und inwieweit nicht Moskau die Gespräche mit Berlin nur als Druckmittel gegenüber den Westmächten benutzen wollte (Berliner Sicht).

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Informationsbericht Nr. 85 vom 1 6 . 8 . 1 9 3 9 (Dertinger) nach der vertraulichen Pressekonferenz im Reichspropagandaministerium. BA Koblenz, Ζ Sg 101 (Sammlung Brammer), Bd 34, Bl. 417. Tagebucheintragung Rosenbergs vom 29.9.1939. Das politische Tagebuch Alfred Rosenbergs aus den Jahren 1934/35 und 1939/40, hrsg. und erläutert von Hans-Günther Seraphim, Berlin, Frankfurt a.M. 1956, S. 81.

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Eine vierte Etappe schließlich, an deren Beginn auf der Linie Moskau-London/Paris die Einigung über die Aufnahme von Militärverhandlungen in Moskau, auf der Linie Berlin-Moskau der am 26. Juli unternommene entscheidende deutsche Vorstoß mit dem Angebot einer weitreichenden politischen Verständigung insbesondere über die Abgrenzung von Interessensphären stehen. Ihr Ende nach kurzen Zwischenstufen ist gekennzeichnet durch die Unterzeichnung des Paktes durch Ribbentrop und Molotov. Hauptgegenstand der Gespräche, die zwischen Berlin und Moskau während der ersten Etappe geführt wurden, waren die Wirtschaftsbeziehungen 18 . Sie wurden stimuliert durch den großen Bedarf der deutschen Rüstungswirtschaft an sowjetischen Rohstofflieferungen. Zwar spielten einerseits die Wirtschaftsbeziehungen, die über mehrere Verhandlungsetappen hinweg zum Abschluß des Kreditabkommens vom 19. August 1939 führten, eine auch die politische Annäherung fördernde Rolle, doch wird andererseits bereits in dieser ersten Etappe auf beiden Seiten ein bestimmtes politisches Interesse deutlich, das auf die Wirtschaftsverhandlungen einwirkte. Schulenburg sah nach München in dem gesteigerten Interesse der deutschen Rüstungsindustrie an der Ausweitung der Wirtschaftsbeziehungen einen Ansatz dafür, nun endlich dem von ihm seit langem angestrebten Ziel der Verbesserung der politischen Beziehungen näherzukommen. Allerdings kam man auf beiden Seiten in dieser Etappe über erste Überlegungen nicht hinaus. Inwieweit die besondere Aufmerksamkeit, die Hitler auf dem Neujahrsempfang für das diplomatische Korps am 12. Januar 1939 dem sowjetischen Botschafter Merekalov schenkte, schon ein von Hitler gewolltes Signal setzte — der jetzt erst bekannt gewordene Inhalt der Unterredung 19 war belanglos —, sei dahingestellt. Es ist durchaus anzunehmen, daß bei Hitler der Gedanke einer Annäherung an Moskau aufgrund der offensichtlichen Schwierigkeit, Polen für ein gemeinsames Vorgehen gegen die Sowjetunion zu gewinnen, aber auch wegen deutlicher Warnungen aus den Kreisen der deutschen Wehrmachtführung vor einem Zweifrontenkrieg, bereits Anfang 1939 vorhanden war 20 . In welcher Richtung sich das Denken Stalins im Spätherbst 1938 hinsichtlich der in der Außenpolitik zu unternehmenden Schritte bewegte, ist nach den zugänglichen Quellen schwer zu sagen. Jedenfalls war der Spielraum der sowjetischen Außenpolitik bis zum 15. März sehr eingeengt, und noch war es fraglich, ob der Weg einer Annäherung an Deutschland gangbar war. Die Mitteilung des damaligen französischen Botschafters in Moskau, Robert Coulondre, daß Stalin bereits im Oktober 1938 eine Übereinkunft mit Hitler erwog, die auch die Verständigung über das Schicksal Polens einbezog21, ist durch weitere Dokumente nicht belegt. 18

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Vgl. Weinberg (wie Anm. 1), S. 8; Rolf-Dieter Müller, Das Tor zur Weltmacht. Die Bedeutung der Sowjetunion für die deutsche Wirtschafts- und Rüstungspolitik zwischen den Weltkriegen, Boppard a. Rh. 1984, S . 3 1 9 f . Vgl. den Bericht Merekalovs in: God krizisa (wie Anm. 5), Bd 1, S. 185 f.; dt. Ubersetzung in: Sowjetstern und Hakenkreuz (wie Anm. 2), S. 106. Vgl. Fleischhauer (wie Anm. 1), S. 90 f. Vgl. Robert Coulondre, Von Moskau nach Berlin 1936—1939. Erinnerungen des französischen Botschafters, Bonn 1950, S . 2 3 9 f .

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Viel ist in der Literatur die Frage erörtert worden, welche Absicht Stalin mit den Ausführungen in seiner Rede auf dem XVIII. Parteitag der KPdSU(B) am 10. März 1939 verfolgte. Ingeborg Fleischhauer unterscheidet vier Meinungen, die bei der Interpretation der Stalin-Rede zu unterscheiden seien: Erstens die Annahme, daß sich Stalin damit definitiv einem Zusammengehen mit Hitler zuwandte. Zweitens, daß die Rede eine Warnung an die Westmächte darstellte, die mit einer beabsichtigten Einladung an Hitler verknüpft war. Drittens die Auffassung, daß Stalin die Westmächte betont ansprach, ohne sich zugleich Berlin zuzuwenden, und viertens eine »Kontinuitäts«-These, nach der Stalin sich nach den klassischen Maximen der sowjetischen Außenpolitik verhalten habe, ohne eine besondere Entscheidung für diese oder jene Orientierung herbeiführen zu wollen 22 . Situationsbedingt war offensichtlich die Aussage Molotovs in seinem Toast nach der Unterzeichnung des Paktes, als er erklärte, daß Stalin mit seiner Rede, »die in Deutschland gut verstanden worden sei, den Umschwung der politischen Beziehungen eingeleitet habe«23. Vjaceslav Dasicev läßt in seiner Analyse des XVIII. Parteitags keinen Zweifel daran, daß diese Aussage Molotovs begründet gewesen sei, und sieht »die Wende in der Stalinschen Deutschlandpolitik noch wesentlich früher als im März 1939«24. Man kann wohl annehmen, daß Stalin in der damaligen Situation nicht mehr und nicht weniger zu verstehen geben wollte, als daß er nicht beabsichtigte, die UdSSR in einen Krieg, schon gar nicht gegen Deutschland, hineinziehen zu lassen. Insofern richteten sich seine Aussagen sowohl an die Westmächte als auch an Berlin. Sie reflektierten in einer bestimmten Weise die Überlegungen, die man im Kreml nach dem Münchener Abkommen anstellte, um aus der diplomatischen Isolation herauszukommen, und konnten objektiv den genannten Gedankengängen Hitlers, die er bei der Umstellung seiner Kriegsplanung hegte, entgegenkommen. Dies war zweifellos der Sinn der vieldiskutierten »Kastanien«-Passage25. Was die »übersteigerte antibritische und antifranzösische Tonart« der Rede anbetrifft, auf die Dasicev in seiner Analyse hinweist 26 , so war sie vielleicht aus der Stalinschen Sicht des Münchener Abkommens verständlich, in diplomatischer Hinsicht allerdings zu diesem Zeitpunkt, eine knappe Woche bevor die endgültige Zerschlagung der Tschechoslowakei der Zusammenarbeit der UdSSR mit den Westmächten neue Möglichkeiten eröffnete, wenig klug. Für die zeitgenössischen Beobachter brachte der XVIII. Parteitag keinerlei sensationelle Neuheiten, wie auch der entsprechende Bericht Schulenburgs vom 3. April 1939 vermerkte 27 . Gustav Hilger, der hervorragende Kenner der Sowjetunion und engste Mitarbeiter Schulenburgs an der Deutschen Botschaft in Moskau, mußte jedenfalls feststellen, als er zusammen mit Ribbentrop und Dr. Karl Schnurre, dem Leiter des Osteuropa-Refe22 23 24

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Vgl. Fleischhauer (wie Anm. 1), S. 468. Nach der Aufzeichnung von Andor Henke, in: A D AP D VII, Dok. Nr. 213, S. 191. Vgl. Vjaceslav Dasicev, Planungen und Fehlschläge Stalins am Vorabend des Krieges. Der XVIII. Parteitag der KPdSU(B) und der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt, in: 1939. A n der Schwelle (wie Anm. 6), S. 304. Vgl. den Text der Rede in: Josef W. Stalin, Fragen des Leninismus, Berlin (Ost) 1951, S. 692. 1939. A n der Schwelle (wie Anm. 6), S. 310. Vgl. Fleischhauer (wie Anm. 1), S. 113.

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rats in der Wirtschaftspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, am 10. Mai von Hitler zum Vortrag über die Sowjetunion auf den Berghof geladen wurde — Schulenburg hatte wegen einer Reise nach Teheran diesen Besuch nicht wahrnehmen können —, daß weder Hitler noch Ribbentrop von der Stalin-Rede Kenntnis genommen hatten 28 . Dem steht allerdings die in Nürnberg verfaßte Aufzeichnung Ribbentrops entgegen, nach der er »aus der Rede Stalins dessen Wunsch herausgelesen habe, die sowjetisch-deutschen Beziehungen zu verbessern«, worauf er die Rede Hitler vorgelegt habe 29 . Das Interesse Hitlers, sich intensiver mit der UdSSR und ihrer möglichen Rolle als Bündnispartner zu beschäftigen, wuchs erst mit dem Fortschreiten der Kriegsplanung zur Niederwerfung Polens und den Bedingungen, die sich Hitler hierfür schaffen wollte. Mit der Weisung des Oberkommandos der Wehrmacht vom 3. April 1939, die unter dem Decknamen »Fall Weiß« den Angriff auf Polen vorsah, trat diese Planung Anfang April in ihr konkretes Stadium. Von wesentlicher Bedeutung für die Entscheidung Hitlers, im Rahmen seiner Kriegsplanung ein Bündnis mit der UdSSR zu suchen, war die Weigerung Japans, sich dem Militärbündnis der »Achsenmächte«, das durch den »Stahlpakt« vom 22. Mai 1939 Gestalt gewonnen hatte, anzuschließen 30 . Ribbentrop gewann jedenfalls diese Erkenntnis spätestens am 15. Juni, als er mit dem japanischen Botschafter Oshima zusammentraf 31 . Schon am darauffolgenden Tage äußerte Ribbentrop gegenüber dem japanischen Botschafter in Rom, Shiratori, der an der Unterredung mit Oshima teilgenommen hatte, Deutschland sei angesichts der japanischen Haltung nunmehr gezwungen, einen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion abzuschließen 32 . Wir lassen es dahingestellt, inwieweit Ribbentrop den japanischen Botschafter mit dieser Äußerung lediglich schockieren wollte. Man kann jedoch in ihr eine Bestätigung dafür sehen, daß in den Gesprächen zwischen Berlin und Moskau die Idee eines Nichtangriffspaktes erstmalig Mitte Juni Erwähnung fand. Ribbentrop aber sah sich offensichtlich nach dem Scheitern seiner Bemühungen, Japan in eine gegen Großbritannien gerichtete Mächtegruppierung einzubeziehen, um so mehr dazu veranlaßt, die Annäherung an die Sowjetunion voranzutreiben 33 . In seinen in Nürnberg niedergeschriebenen Memoiren hat er, wenn auch mit beabsichtigter Ubertreibung, nicht ganz zu Unrecht den Abschluß des Hitler-Stalin-Paktes als im Wesentlichen sein eigenes Werk bezeichnet 34 . Die endgültige Zerschlagung der Tschechoslowakei am 15. März 1939 schuf in den internationalen Vorkriegsbeziehungen eine neue Lage. Sie belebte die eingefrorenen Beziehungen zwischen der UdSSR und den Westmächten und eröffnete der bereits totgesag28 29

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31 32 33 34

Vgl. Gustav Hilger, W i r und der Kreml, Frankfurt a.M., Berlin 1956, S . 2 8 7 f . Vgl. Joachim v. Ribbentrop, Zwischen London und Moskau. Erinnerungen und letzte Aufzeichnungen. Aus dem Nachlaß hrsg. von Anneliese von Ribbentrop, Leoni am Starnberger See 1954, S. 171. Vgl. Bernd Martin, Das deutsch-japanische Bündnis im Zweiten Weltkrieg, in: Der Zweite Weltkrieg (wie Anm. 6), S. 120 f. Vgl. Theo Sommer, Deutschland und Japan zwischen den Mächten 1935—1940, Tübingen 1962, S. 240. Vgl. A D AP D VI, S. 602, Anm. 2. Vgl. Wolfgang Michalka, Ribbentrop und die deutsche Weltpolitik, München 1980, S. 283 f. Vgl. Ribbentrop (wie Anm. 29), S. 171.

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ten Politik der kollektiven Sicherheit eine erneute Perspektive. Andererseits aber brachte gerade diese neue Situation, die die Spannungen zwischen den Westmächten und Deutschland verschärfte, vor allem nach der Garantieerklärung Chamberlains für Polen am 31. März und der Reichstagsrede Hitlers am 28. April, in der er den deutsch-polnischen Nichtangriffsvertrag sowie das deutsch-britische Flottenabkommen aufkündigte, die auf ein Zusammengehen mit der UdSSR abzielenden Überlegungen in Berlin voran. In dieser zweiten Etappe, die zum Hitler-Stalin-Pakt führte, bildete sich jenes diplomatische Dreieck heraus, das die internationale Vorkriegskonstellation charakterisierte. Alle Seiten dieses Dreiecks (UdSSR — Westmächte, UdSSR — Deutschland, Deutschland — Großbritannien/Frankreich) befanden sich in wechselseitiger Abhängigkeit und wurden bis zum Zusammenbruch des Dreiecks am 23. August in Spannung gehalten. Kontroverse Ansichten gibt es nach wie vor bei der Beantwortung der Frage, ob Stalin und seine Führung damals ernsthaft an einer Ubereinkunft mit den Westmächten interessiert waren, oder ob sie nicht schon von vornherein nur auf das Zusammengehen mit Hitler und Deutschland Kurs nahmen. Die Mehrheit der sowjetischen Historiker neigte zumindest bis 1989 zur ersteren Version, während in der westlichen Forschung von mehreren Autoren starke Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Absicht Stalins, mit den Westmächten eine Ubereinkunft erzielen zu wollen, geäußert wurden 35 . Es ist offensichtlich notwendig, noch mehr die subjektiven Voraussetzungen und die Sicherheitsvorstellungen sowohl auf sowjetischer als auch auf der Seite der Westmächte auszuloten, um den Ursachen für das letztliche Scheitern der Dreierverhandlungen (Moskau—London—Paris) näherzukommen. Gerhard L. Weinberg weist darauf hin, daß die britische Regierung, indem sie in den Monaten Juli bis August eine Übereinkunft mit der UdSSR zu erreichen suchte, drei Ziele verfolgte: Erstens sei man in London davon ausgegangen, daß eine wirksame Unterstützung Polens gegen eine Aggression Deutschlands nur mit Hilfe der Sowjetunion zu erreichen war; zweitens habe man in London gehofft, durch ein Abkommen mit der UdSSR eine sowjetisch-deutsche Allianz verhindern zu können; drittens habe London ein Abkommen mit Moskau in der Hoffnung gesucht, die gegenüber Deutschland abschreckende Wirkung der für Polen gegebenen Garantie-Erklärung wesentlich zu verstärken36. Allerdings muß man in diesem Zusammenhang hervorheben, daß ein Militärbündnis mit der UdSSR, das die Entschlossenheit zu einem Krieg gegen Deutschland einkalkulierte, der ganzen von Neville Chamberlain verfolgten Appeasement-Politik zuwiderlief. Zwischen einer Verständigung mit der Regierung Hitlers, die er zweifellos bevorzugte, und einem Bündnis mit der UdSSR, dem er innerlich abgeneigt war, schwankend, begünstigte Chamberlain eine Entwicklung, die schließlich nicht auf das Bündnis der UdSSR mit den Westmächten, sondern auf ein solches mit Deutschland hinauslieP 7 . 35 36

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Vgl. auch Heinrich Graml, Europas Weg in den Krieg. Hitler und die Mächte 1939, München 1990, S. 256. Vgl. Gerhard L. Weinberg, The Foreign Policy of Hitler's Germany. Starting World War II1937—1939, Chicago, London 1980, S. 613 f. Vgl. auch Gottfried Niedhart, Großbritannien und die Sowjetunion 1934—1939, München 1972, S. 410; M. Pankrasova, Anglo-Franko-Sovetskie peregovory 1939 goda, in: Mezdunarodnaja Zizn', (1989) 8, S. 28 f.

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Die sowjetische Geschichtsschreibung unterzog in jüngster Zeit bei der Untersuchung der Dreierverhandlungen nicht nur die Politik der Westmächte, sondern auch die der sowjetischen Führung einer kritischen Sicht. Schon die im Mai 1989 von einer sowjetischpolnischen Historiker-Kommission veröffentlichten Thesen über den Vorabend und den Beginn des Zweiten Weltkrieges sprachen von einer damals zwischen der UdSSR und den Westmächten entstandenen »Vertrauenskrise«38. Aleksandr Cuberjan schreibt in seinem obengenannten Band, daß die »harte und krompromißlose Linie der sowjetischen Diplomatie und ihre Ablehnung, ein politisches Abkommen zu schließen, wenn es nicht gleichzeitig zu einer Militärkonvention käme«, einem positiven Abschluß der Verhandlungen entgegenstanden. Dabei habe allerdings in der UdSSR »ein ernsthaftes und berechtigtes Mißtrauen gegenüber der britischen und französischen Politik« geherrscht 39 . In bezug auf die Militärverhandlungen, die zwischen der UdSSR und den Westmächten vom 12. bis 21. August in Moskau geführt wurden, bezeichnet Cuberjan es als eine Forschungsaufgabe, »anhand der Dokumente in den Archiven zu analysieren, inwieweit die schroffe und kompromißlose Forderung der sowjetischen Delegation nach einem Durchmarschrecht ihrer Streitkräfte durch Polen und Rumänien angemessen war« 40 . Die Verhandlungen zwischen der UdSSR und den Westmächten liefen sich insbesondere in der Frage der Garantie der baltischen Staaten fest, die die sowjetische Diplomatie Anfang Juni ins Spiel brachte41. Dies um so mehr, als die Sowjetregierung Anfang Juli die Garantie der baltischen Staaten auch für den Fall einer »indirekten Aggression« verlangte. Danach sollte die UdSSR zusammen mit Großbritannien und Frankreich das Recht zur Intervention in den baltischen Staaten haben, wenn sie die Sicherheit bzw. die Neutralität dieser Staaten im Ergebnis einer innenpolitischen Veränderung in dem betreffenden baltischen Staat gefährdet sah42. Lord William Strang, der in den Monaten Juni und Juli 1939 in Moskau im Auftrag des Foreign Office auf britischer Seite die Verhandlungen führte, schrieb in seinen Erinnerungen, daß die Frage der »indirekten Aggression« zum »zentralen Thema in unseren Diskussionen« wurde 43 . Wenn auch die französische Regierung bereit war, der Sowjetregierung in dieser Frage entgegenzukommen 44 , so lehnte die britische Regierung diese sowjetische Forderung ab, da sie in diesem Falle die Ausdehnung des sowjetischen Machtbereichs auf das Baltikum befürchtete. Es sei dahingestellt, inwieweit die Verhandlungen bei einem großzügigeren Eingehen der Westmächte auf das sowjetische Sicherheitsinteresse am Ostseeraum Erfolg gehabt hätten. 38

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Gleichzeitig veröffentlicht in »Pravda« und »Tribuna Ludu« am 25.5.1989. Text auch in: 1939 god (wie Anm. 4), S. 461 f. Aleksandr Cubarjan, Die UdSSR und der Beginn des Zweiten Weltkrieges, in: 1939. A n der Schwelle (wie Anm. 6), S. 285. Ebd., S. 286. Und zwar zusammen mit der Garantie Belgiens, Griechenlands, der Türkei, Rumäniens, Polens und Finnlands in dem Vertragsprojekt vom 2 . 6 . 1 9 3 9 , das das Vertragsprojekt der Westmächte vom 27.5. 1939 beantwortete. Vgl. God krizisa (wie Anm. 5), Bd 2, S. 5. Vgl. die sowjetische Interpretation nach dem entsprechenden Vertragsprojekt, ebd., S. 90. William Strang, The Moscow Negotiations 1939, Cambridge 1968, S. 11. Vgl. Heinrich Bartel, Frankreich und die Sowjetunion 1938—1940, Stuttgart 1986, S. 164f.

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In Moskau aber mußte offenbar die Lösung dieser Frage um so dringlicher erscheinen, als gerade zu diesem Zeitpunkt die baltischen Staaten selbst zu einer Anlehnung an Deutschland tendierten, was aus Moskauer Sicht die Furcht vor einer Umwandlung der baltischen Staaten und Finnlands in ein Aufmarschgebiet des Deutschen Reiches erhöhte. Zutreffend schrieb Strang gegen Ende seiner erfolglosen Mission aus Moskau an das Foreign Office, daß die Stagnation in den Verhandlungen nunmehr Deutschland zum Handeln veranlassen und die UdSSR notwendigerweise zwingen werde, »entweder in der Isolation zu verbleiben oder den Weg des Kompromisses mit Deutschland zu suchen« 45 . Insofern erfaßte Hitler mit einem Ende Juli erfolgten Angebot, der UdSSR Interessensphären einzuräumen, gerade im Hinblick auf das Baltikum und Finnland die Sicherheitsvorstellungen der Stalinschen Führung und nutzte den Schwachpunkt der Verhandlungen Moskaus mit den Westmächten. Stalin aber erkannte schließlich, daß ihm eine Übereinkunft mit Hitler mehr bot, als er von den Westmächten erwarten konnte. Zunächst allerdings erprobte die sowjetische Außenpolitik nach dem 15. März 1939 mehrere Varianten46. Neben dem Versuch, eine Verständigung mit Deutschland zu erzielen, und der Aufnahme der Verhandlungen mit den Westmächten war dies die Erkundung, inwieweit die westlichen Anliegerstaaten der Sowjetunion einschließlich der Balkanstaaten in eine Sicherheitskonzeption der UdSSR einbezogen werden konnten. Die Verwirklichung dieser Konzeption war allerdings nicht nur in der Auseinandersetzung mit Deutschland, sondern auch mit den Westmächten zu realisieren. Auch die im März 1939 mit Finnland aufgenommenen Gespräche, die auf die Absicherung des Leningrad vorgelagerten Raums abzielten, gehörten zu diesem Versuch, die westlichen Anliegerstaaten für die Zusammenarbeit gegen eine zu befürchtende Aggression Deutschlands zu gewinnen. In den Monaten April und Mai besuchte mit diesem Ziel der Stellvertretende Volkskommissar für Auswärtiges, Vladimir Potemkin, die Staaten der Kleinen Entente, die Türkei und auf dem Rückweg Warschau. Hier traf er am 10. Mai mit dem polnischen Außenminister Jozef Beck zusammen. Molotov hatte ihn zuvor angewiesen, zu erkunden, wie es um die polnisch-deutschen Beziehungen stehe, und ihn zu der Mitteilung ermächtigt, daß die UdSSR bereit sei, Polen zu helfen, wenn dieses es wolle 47 . Nun erklärte zwar Beck in dem Gespräch mit Potemkin, daß Polen ohne Unterstützung durch die UdSSR einem Angriff Hitlers nicht widerstehen werde, was sich Potemkin noch einmal von Beck ausdrücklich bestätigen ließ 48 . Doch zog die polnische Außenpolitik aus dieser Erklärung keine Konsequenzen. Schon am Tage nach diesem Zusammentreffen Potemkins mit Beck erklärte der polnische Botschafter in Moskau, Waclav Grzybowski, gegenüber Molotov, daß Polen einen Beistandspakt mit der UdSSR ablehnen müsse49. Auch in dieser Phase der akuten Bedrohung durch Deutschland suchte demnach die polnische Regierung ihre Politik des Ausgleichs zwischen ihren Nachbarn im Osten und 45 46

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Strang an Foreign Office, 20.7.1939. Documents on British Foreign Policy, Ser. 3, Bd 6, S. 423. Vgl. Weinberg (wie Anm. 1), S. 20 f.; Jakovlev-Bericht vom 2 3 . 1 2 . 1 9 8 9 , in: 1939 god (wie Anm. 4), S. 479. Molotov an Potemkin, 10.5.1939, in: God krizisa (wie Anm. 5), Bd 2, S. 444. Potemkin an Molotov, 10.5.1939, ebd., Dok. 332, S. 444. Aufz. Molotovs vom 11.5.1939, ebd., Dok. 336, S. 448.

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im Westen, die sie wie Skylla und Charybdis empfand, fortzusetzen. Der polnische Historiker Wlodzimierz Borodziej vermerkt, daß alle politischen Gruppierungen Polens, von den Rechtsextremisten bis zu den Sozialisten, eine Allianz mit der UdSSR ausschlossen und daß ein Nachgeben nach dieser oder jener Seite den Sturz jeder polnischen Regierung bedeutet hätte50. So befand sich Polen im September 1939 in einer tragischen Situation, die durch die Einigung Hitlers mit Stalin über die Aufteilung Polens noch dramatischer wurde. Offensichtlich stellte sich für Stalin schon Ende April heraus, daß die Wahrscheinlichkeit, mit Hitler zu einer Ubereinkunft kommen zu können, zugenommen hatte, während demgegenüber die Westmächte ihn mit ihrer Antwort auf das sowjetische Beistandsprojekt vom 17. April (Acht-Punkte-Projekt 51 ) noch immer warten ließen. Es wurde sodann am 8. Mai abschlägig beantwortet 52 . Semirjaga schreibt, daß Stalin noch bis Anfang Mai die Hoffnung auf die Zusammenarbeit mit London und Paris nicht verloren, gleichzeitig aber auch die Verbeserung der Beziehungen zu Deutschland nicht ausgeschlossen habe 53 . Einen wichtigen Platz in der Meinungsbildung der Stalinschen Führung nahm die Beratung im Kreml am 27. April ein, an der zur Berichterstattung die Botschafter in London und Berlin, Ivan Majskij und Aleksej Merekalov teilnahmen und in der Litvinov von Stalin und Molotov heftig angegriffen wurde54. Die Beratung ergab, wie Majskij schreibt, »im Endeffekt ein wenig tröstliches Bild« 55 . Ganz offensichtlich dürften in dieser Beratung bereits die Weichen zur Entlassung Litvinovs und seiner Ablösung durch Molotov gestellt worden sein. Diese Entscheidung, die, wie jetzt bekannt wurde, Stalin endgültig am Nachmittag des 3. Mai traf56 und die im Ausland als Sensation aufgenommen wurde, bedeutete noch nicht die ausschließliche Option Stalins für das Bündnis mit Hitler. Hier waren noch viele Fragen offen. Aber Stalin besaß jetzt auf dem Posten des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten einen Mann, der seit Jahren als sein engster Vertrauter galt, der ihm bedingungslos folgte und mit dem er leichter zu einem Abkommen mit Hitler kommen konnte als mit Litvinov, dessen Name Symbol war für die Politik der kollektiven Sicherheit und der obendrein wegen seiner jüdischen Herkunft in Berlin wenig Sympathie besaß. Hier löste dann auch die Ablösung Litvinovs, wie ein vertraulicher Informationsbericht aufgrund einer der internen Pressekonferenzen im Reichspropagandaministerium verlautete, »in den amtlichen Kreisen helle Begeisterung« aus57. Der Pressebericht der sowjetischen Botschaft in Berlin besagte, daß die Ablösung Litvinovs durch Molotov für Berlin zu einem Zeit50

Wlodziemierz Borodziej, Die Alternative Warschaus, in: 1939. A n der Schwelle (wie A n m . 6), S. 325.

51

Text in: Sowjetstern und Hakenkreuz (wie A n m . 2), S. 122.

52

Ebd., S. 127 f.

53

Michail I. Semirjaga, Sovetskij Sojuz i predvoennyj krizis, in: Voprosy Istorii, (1990) 9, S. 52.

54

Vgl. Zinovij Sejnis, Maksim Maksimovic Litvinov. Revoljucioner, Diplomat, Celovek, Moskau 1989,

55

I . M . Maiski (Ivan Majskij), Memoiren eines sowjetischen Botschafters, Berlin (Ost) 1984, S. 442.

56

N a c h der archivalischen Quelle mitgeteilt durch Vladimir V. Sokolov, Narkomindel Maksim Litvi-

57

Informationsbericht Dr. Kausch vom 4 . 5 . 1 9 3 9 . B A Koblenz, Ζ Sg 101 (Sammlung Brammer), Bd 34,

S. 362; vgl. auch Fleischhauer (wie A n m . 1), S. 153 f.

nov, in: Mezdunarodnaja Zizn', (1991) 4, S. 119. Bl. 213 f.

Das Zustandekommen und die Auswirkungen des Hitler-Stalin-Paktes

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punkt völlig unerwartet gekommen sei, als man bereits mit dem erfolgreichen Abschluß der Verhandlungen der UdSSR mit den Westmächten gerechnet habe58. Es dauerte allerdings noch von Anfang Mai bis zum Beginn der dritten Juli-Dekade, bis die mit großer Vorsicht zwischen Berlin und Moskau geführten politischen Gespräche, die in einem bestimmten Wechselverhältnis zu den Wirtschaftsverhandlungen standen, einen konkreten Inhalt erreichten. Die von Schulenburg in den Juni-Wochen ergriffene Initiative, indem er, die Bereitschaft Hitlers zu einer Annäherung an die Sowjetunion ausnutzend, die Idee eines Nichtangriffspaktes entwickelte 59 , fand zwar bei Molotov Interesse, jedoch ohne zunächst zu greifbaren Resultaten zu führen. Erst nachdem sich Hitler mit Eintritt in die dritte Juli-Dekade veranlaßt sah, »die Initiative gegenüber der Sowjetunion zu ergreifen« 60 , wurde das Gespräch zwischen Berlin und Moskau intensiviert. Nicht nur der Zeitdruck der Kriegsplanung zwang jetzt Hitler, im Gespräch mit Moskau Entscheidungen herbeizuführen, sondern auch die Furcht, daß die Verhandlungen der UdSSR mit den Westmächten doch noch zu einem erfolgreichen Abschluß geführt werden würden. Zwar hatte Stalin demgegenüber keine Eile. Jedoch mußten auch ihn zumindest drei Umstände veranlassen, einer Ubereinkunft mit Hitler näherzukommen: Erstens hatten die Verhandlungen mit den Westmächten bisher zu keinem Ergebnis geführt, und auch den für den 12. August anberaumten Militärverhandlungen in Moskau sah Stalin mit Skepsis entgegen; zweitens hatten die am 17. Juli in London aufgenommenen Gespräche zwischen dem britischen Minister für Überseehandel, Robert Hudson, und Helmuth Wohlthat, Ministerialdirektor in Hermann Görings Amt für den Vierjahresplan, die Furcht Stalins vor einem deutsch-britischen Interessenausgleich verstärkt; und drittens erhöhten sich gerade jetzt die Besorgnisse der sowjetischen Führung vor einer Ausweitung der Aggression Japans im Fernen Osten. Das Angebot, das Hitler Stalin und seiner Führung durch Karl Schnurre übermitteln ließ, indem dieser, begleitet von seinem persönlichen Referenten, Dr. Walter Schmid, den sowjetischen Geschäftsträger Astachov und den stellvertretenden sowjetischen Handelsvertreter Evgenij Babarin am 26. Juli zum Abendessen einlud, war für die letzteren, wie dort Astachov erklärte, »so neu und ungewöhnlich«, daß er nicht sagen könne, wie man sich dazu in Moskau verhalten werde 61 . Die wichtigsten Aussagen, die Schnurre gegenüber seinen russischen Gästen machte, bestanden darin, daß erstens Deutschland die baltischen Staaten und Rumänien (Bessarabien) als sowjetische Interessensphäre anerkannte und auch eine Verständigung über Polen als »noch leichter« (Aufzeichnung Astachovs) erachtete, und zweitens, daß »die deutsche Politik gegen England gerichtet« sei (nach der Aufzeichnung Schnurres). Drittens dürfte die Gesprächspartner Astachovs auch die Erklärung sehr befriedigt haben, daß sich Deutschland für die Verbesserung der sowje58

59 60

61

Pressebericht vom 12.5.1939. Archiv der Außenpolitik der UdSSR (AVP SSSR), Moskau, Fond 82, op. 23, p. 73, d. 8, Bl. 172. Vgl. Fleischhauer (wie Anm. 1), S. 226 f. So nach Mitteilung Schnurres an Fleischhauer. Vgl. ebd., S. 266; auch bestätigt durch Hilger (wie Anm. 28), S. 282. Aufz. Astachovs vom 26.7.1939, in: God krizisa (wie Anm. 5), Bd 2, S. 138; dt. Ubersetzung: Sowjetstern und Hakenkreuz (wie Anm. 2), S. 175.

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tisch-japanischen Beziehungen einsetzen werde, eine Frage, die schon in den vorangegangenen Gesprächen eine Rolle gespielt hatte 62 . Obwohl auch für Stalin dieses Angebot Hitlers unerwartet großzügig gewesen sein muß, verhielt er sich dennoch zunächst zurückhaltend. Dies geschah sicherlich nicht nur mit Rücksicht auf die Militärverhandlungen mit den Westmächten, die am 12. August begannen und die Stalin, obwohl er von ihnen kaum mehr einen Erfolg erwarten konnte, von Vorosilov führen ließ, um letzte Möglichkeiten auszuloten und das Gesicht zu wahren. Aber auch gegenüber Hitler wollte er sichergehen und abwarten, bis dieser sein Angebot konkretisierte 63 . Hitler drängte demgegenüber zur Eile, da er seinen Aufmarschplan gegen Polen in Gefahr sah, was er über den diplomatischen Apparat auch unumwunden Stalin wissen ließ. Dieser traf eine gewisse Vorentscheidung, nachdem Hitler durch einen neuen diplomatischen Vorstoß am 10. August faktisch die Aufteilung Polens anbot 64 . Denn Jakovlev teilte in seinem obengenannten Bericht mit, daß »das Politbüro« — womit nach Lage der Dinge nur Stalin selbst und allenfalls noch Molotov gemeint sein können — es am 14. August für zweckmäßig befunden habe, »mit der offiziellen Erörterung der von den Deutschen aufgeworfenen Fragen zu beginnen und Berlin darüber zu benachrichtigen« 65 . Es fehlt hier der Raum, um auf die Gespräche, die in den folgenden Tagen in Moskau zwischen Molotov und Schulenburg, in Berlin zwischen Astachov und Ribbentrop sowie dessen unmittelbarem Beauftragten Karl Schnurre und Staatssekretär Ernst von Weizsäcker geführt wurden, näher einzugehen. Sie erbrachten bis zum 17. August in den Grundzügen Einverständnis über den wesentlichen Inhalt des Nichtangriffspaktes, über das zu ihm gehörende Zusatzprotokoll mit den beiderseitig interessierenden politischen Fragen (Interessensphären) und über das abzuschließende Wirtschaftsabkommen. Das Protokoll sollte, wie Molotov in einer von ihm am 17. August Schulenburg übergebenen Denkschrift formulierte, »einen organischen Teil des Paktes« bilden 66 . Die Frage, wann Stalin die endgültige Entscheidung traf, den Pakt mit Hitler abzuschließen, ist in der Literatur nicht eindeutig beantwortet worden. Der Jakovlev-Bericht vermerkt, daß es schwierig sei, »das Endstadium der sowjetisch-deutschen Verhandlungen zu rekonstruieren«, da die in den sowjetischen Archiven aufgefundenen Quellen unzureichend seien67. Vieles spricht dafür, daß Stalin die endgültige Entscheidung für den Paktabschluß mit Hitler am 19. August traf. Darauf deutet auch die Tatsache hin, daß Stalin in der Nacht vom 19. zum 20. August der sowjetischen Vertretung in Berlin seine

62 63

64

65 66 67

Vgl. Aufzeichnung Astachovs, ebd., Aufzeichnung Schnurres in: A D A P D VII, Dok. 729, S. 849 f. »Wenn die Deutschen jetzt aufrichtig die Weichenstellung verändern und wirklich die politischen Beziehungen mit der UdSSR verbessern wollen, dann müssen sie uns sagen, wie sie sich konkret diese Verbesserung vorstellen [...]. Die Sache hängt jetzt ganz von den Deutschen ab.« Molotov an Astachov, 29.7.1939, in: Sowjetstern und Hakenkreuz (wie Anm. 2), S. 179. Vgl. Astachov an Molotov, 10.8.1939, in: God krizisa (wie Anm. 5), Bd2, Dok. 538, S. 182; Aufz. Schnurres in: A D A P D V I I , Dok. 18, S. 14. 1939 god (wie Anm. 4), S. 485. Vgl. Text der Denkschrift in: God krizisa (wie A n m . 5), Bd 2, Dok. 570, Anhang 2, S. 273. Vgl. 1939 god (wie Anm. 4), S. 486.

Das Zustandekommen und die Auswirkungen des Hitler-Stalin-Paktes

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Zustimmung zur Unterzeichnung des Wirtschaftsabkommens mit Deutschland melden ließ. Sein Einverständnis auf das dringende Ersuchen Hitlers, Ribbentrop in Moskau zu empfangen, erteilte er am Nachmittag des 21. August zu demselben Zeitpunkt, als die Militärverhandlungen mit den Westmächten erfolglos beendet wurden 68 . Der Vorgang des Paktabschlusses in der Nacht vom 23. zum 24. August, in der nach nochmaliger Verhandlung aufgrund des bereits am 17. August vorgelegten sowjetischen Entwurfs 69 der Nichtangriffsvertrag und das nach vorangegangener allgemeiner Absprache zwischen Schulenburg und Molotov von Friedrich Gaus aufgesetzte und von Ribbentrop nach Moskau mitgebrachte Geheime Zusatzprotokoll unterzeichnet wurden — beide Dokumente wurden in dieser Nacht offensichtlich, worauf die Schreibfehler der deutsch- und russischsprachigen Originale hindeuten70, in großer Eile angefertigt —, ist von Augenzeugen und Historikern ausführlich beschrieben worden 71 . Beide Vertragspartner sahen, wie das Zustandekommen der Dokumente zeigte, den Nichtangriffsvertrag und das Geheime Zusatzprotokoll als ein einheitliches Ganzes und als die Grundlage für ein zu entwickelndes Bündnis an. Die Auswirkungen des Hitler-Stalin-Paktes waren weitgreifend und vielfältig. Sie können hier nur mit ihren wesentlichen Problemkreisen genannt werden. Die Nachricht vom Abschluß des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes wirkte international wie ein Schock. Sie wurde in den westlichen Hauptstädten ebenso wie in Tokio mit Überraschung und Bestürzung aufgenommen 72 . Über den Inhalt des Geheimen Zusatzprotokolls kursierten in diplomatischen und journalistischen Kreisen alsbald Spekulationen. Das Echo unter der Bevölkerung in Deutschland wie auch in der UdSSR war differenziert. Verwirrung herrschte unter den Mitgliedern der N S D A P ebenso wie der KPdSU(B) und der Kommunistischen Internationale, aber auch unter parteilosen Antifaschisten73. Die Mehrheit der Bevölkerung in beiden Ländern nahm die Nachricht vom Nichtangriffspakt mit Erleichterung auf. Friedenshoffnungen verbanden sich mit der Erinnerung an die Rapallo-Periode. »Über die tiefere Bedeutung des Abkommens macht man sich zunächst keine Gedanken. Man nimmt es als Entspannung hin.« So besagte ein interner Bericht über die Stimmung der Bevölkerung in Berlin 74 . 68 69 70

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74

Vgl. God krizisa (wie Anm. 5), B d 2 , D o k . 581, S. 295. Vgl. Text ebd., Bd 2, Dok. 572, Anhang, S. 277. Mikrofilm der Originale im PA, Bonn. Vgl. auch Helmut König, Das deutsch-sowjetische Vertragswerk von 1939 und seine Geheimen Zusatzprotokolle. Eine Dokumentation, in: Osteuropa, (1989) 5, S. 4 1 3 - 4 5 8 . Vgl. Fleischhauer (wie Anm. 1), S. 393. »Die Ankündigung des bevorstehenden Abschlusses eines deutsch-russischen Nichtangriffspaktes traf in Amerika wie ein Donnerschlag ein und löste überall fassungslose Bestürzung aus.« Deutsches Nachrichtenbüro, 22.8.1939. BA, Abt. Potsdam, Auswärtiges Amt, Nr. 60419, Bl. 218. Vgl. Wolfgang Leonhard, Der Schock des Hitler-Stalin-Paktes, Freiburg, Basel, Wien 1986; Hermann Weber, Die Komintern (insbesondere die K P D ) und der Hitler-Stalin-Pakt, in: Der Hitler-Stalin-Pakt (wie Anm. 1), S. 77f.; vgl. auch die Aufsätze von Ursula Adam und Heinz Kühnrich in: Der Weg in den Krieg, hrsg. von Dietrich Eichholtz und Kurt Pätzold, Berlin 1989. Interner Bericht über die Pressekonferenz im Reichspropagandaministerium vom 22.8.1939. BA Koblenz, Ζ Sg 102 (Sammlung Sänger), Bd 18, Bl. 386.

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Auch Schulenburg und die mit ihm verbundenen Angehörigen der deutschen Rußlanddiplomatie hatten auf die Friedenssicherung durch den Paktabschluß gesetzt, worin sie sich freilich alsbald getäuscht sahen. Ingeborg Fleischhauer schreibt von der »Tragik der Gratwanderung Schulenburgs und seiner engeren Mitarbeiter«, die darin bestanden habe, »daß sie sich ihrer objektiv verhängnisvollen Rolle in den Wochen und in den immer hektischer werdenden Tagen bis hin zum Paktabschluß zunehmend bewußt wurden, zugleich aber aufgrund der eigenen Voraussetzungen keinen anderen Ausweg sahen, als das einmal angestrebte Ziel immer intensiver zu verfolgen« 75 .

Hitler erreichte allerdings das Ziel, das er mit dem Abschluß des Paktes angestrebt hatte, ebenfalls nicht, was er spätestens am 3. September erkennen mußte, als er die Kriegserklärung Großbritanniens und Frankreichs erhielt. Jedoch dürfte er sich über die Vorteile, die ihm der Pakt dennoch bot, klar gewesen sein, worauf auch seine schon zitierte Äußerung gegenüber Rosenberg hindeutet. Ob er zu jener Zeit wirklich der Auffassung war, daß eine dauerhafte Zusammenarbeit mit der UdSSR für Deutschland notwendig und nützlich war, wie er und andere führende Mitglieder der NSDAP es im Herbst öffentlich bekundeten 76 , muß bezweifelt werden. Gerd Ueberschär hat in einer interessanten Studie dargelegt, daß sich Hitler schon in diesen Monaten und nicht erst im Juli 1940 mit einer möglichen kommenden Auseinandersetzung mit der Sowjetunion beschäftigte77. Insofern hing die Dauerhaftigkeit des Paktes nicht von Stalin, sondern von Hitler ab. Die Annahme Stalins, daß nicht Hitler ihn, sondern er Hitler überlistet habe, wie er sich gegenüber Chruscev und anderen Mitgliedern seines engeren Führungskreises äußerte78, war wenig begründet. Das Bündnis mit Hitler tauschte Stalin, ungeachtet einer bestimmten Absicherung gegenüber Deutschland und Japan, die es ihm einbrachte, gegen erhebliche außenpolitische Komplikationen ein, die nach Beginn des sowjetisch-finnischen Krieges noch größer wurden. Allerdings ist anzumerken, daß die Tür zwischen der UdSSR und den Westmächten auch jetzt von keiner Seite, schon gar nicht von London, zugeschlagen wurde. Es ist viel darüber diskutiert worden, ob Hitler es gewagt hätte, Polen auch ohne den Pakt mit Stalin anzugreifen. Die Antwort bleibt spekulativ. Man darf jedoch annehmen, daß Hitler den Krieg gegen Polen, dessen Vorbereitung auf vollen Touren lief, auch unter anderen Umständen, das heißt auch ohne den Pakt mit Stalin, begonnen hätte 79 . Stalin muß sich darüber klar gewesen sein, daß Hitler mit dem Krieg gegen Polen höchstwahrscheinlich auch den Krieg gegen die Westmächte auslöste. Das geht aus den schon erwähnten Äußerungen, die Chruscev wiedergegeben hat, ebenfalls hervor 80 . Fleischhauer (wie Anm. 1), S. 407. Vgl. auch die Hitler-Rede vom 8 . 1 1 . 1 9 3 9 , in: Hitler. Reden und Proklamationen 1932—1945, hrsg. von Max Domarus, B d 2 , Würzburg 1962, S. 1412. 77 Vgl. Gerd R. Ueberschär, »Der Pakt mit dem Satan, um den Teufel auszutreiben«. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag und Hitlers Kriegsabsicht gegen die UdSSR, in: Der Zweite Weltkrieg (wie Anm. 6), S. 574 f. 78 Vgl. Memuary N.S. Chrusceva, in: Voprosy Istorii, (1990) 7, S. 86. 79 Vgl. auch Joachim C. Fest, Hitlers Krieg, in: VfZ, (1990) 3, S. 398. so W i e Anm. 78, S. 87. 75

76

Das Zustandekommen und die Auswirkungen des Hitler-Stalin-Paktes

51

Schwerwiegend war die Tatsache, daß Stalin durch die Vereinbarung über »Interessensphären« mit Hitler zu außenpolitischen Handlungen überging, die der sowjetischen Außenpolitik langfristig schwere Hypotheken aufbürdeten und überdies, als Stalin ein Jahr später, nach dem Fall Frankreichs, zur direkten Inbesitznahme seiner Interessensphären schritt, zur Zuspitzung der sowjetisch-deutschen Beziehungen beitrugen. Stalins Sicherheitsdenken, das sich auf diese Weise mit Expansionsstreben verband, formulierte Molotov gegenüber dem sowjetischen Schriftsteller Feliks Cuev rückblickend selbst so: »Wir wußten, daß der Krieg nahe war und daß wir schwächer als Deutschland waren und würden weichen müssen. Deshalb benötigten wir möglichst viel Territorien. Wir taten alles, um den Krieg hinauszuschieben. Das gelang uns auch — um ein Jahr und zehn Monate. Natürlich hätte man mehr Zeit haben sollen. Stalin sagte noch vor dem Krieg, daß wir erst 1943 den Deutschen als gleich stark entgegentreten könnten 81 .«

Uber die verschiedenen Etappen der Inbesitznahme der sowjetischen Interessensphären und die dabei angewandten Methoden mit verheerenden Folgen für die dortige Bevölkerung sind von der historischen Forschung inzwischen zahlreiche Arbeiten vorgelegt worden. Hervorgehoben sei in diesem Zusammenhang die Veröffentlichung von sowjetischen Akten, die erstmalig einen tieferen Einblick in das von Stalin und seinem engsten Führungskreis organisierte Szenarium der Angliederung der baltischen Staaten an die UdSSR verdeutlichen 82 . Die in der Nacht vom 23. zum 24. August zwischen Hitler und Stalin getroffenen Vereinbarungen wurden durch den »Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertiag« vom 28. September 1939 präzisiert und vervollkommnet. Zwischen den beiden Daten lagen die Niederwerfung und die Aufteilung Polens, die Stalin zum Komplizen Hitlers machten und die Kooperation der UdSSR mit dem nationalsozialistischen Deutschland auch auf militärischem Gebiet — auch wenn diese dann nur in begrenztem Rahmen erfolgte — einleitete. Die kürzlich aus dem Schulenburg-Nachlaß veröffentlichten Aufzeichnungen, die Gustav Hilger über die Gespräche mit Stalin und Molotov am 27. und 28. September anfertigte, lassen jetzt nicht nur den »Grenz- und Freundschaftsvertrag«, sondern auch die von den beiden Paktpartnern verfolgten weitergreifenden Ziele in hellerem Licht erscheinen 83 . Der Meinungsaustausch zwischen Ribbentrop, Stalin und Molotov, der der Unterzeichnung des Vertrages mit den dazugehörenden drei geheimen Protokollen und der gemeinsamen offiziellen »Erklärung« vorausging, machte Folgendes deutlich: Erstens bestätigte Stalin, daß er »an einem starken Deutschland« interessiert sei, mit diesem »eine gute und 81

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Felix Tschujew (Feliks Cuev), Aus Gesprächen mit Wjatschesslaw Molotow, in: Sowjetliteratur, (1990) 12, S. 147. Vgl. Polpredy soobscajut. Sbornik dokumentov ob otnosenijach SSSR s Latviej, Litvoj i Estoniej, avgust 1939 g.—avgust 1940, Moskau 1990; ein Teil dieser Dokumente übersetzt in: Schauplatz Baltikum. Szenarium einer Okkupation und Angliederung. Dokumente 1939/1940, hrsg., eingeleitet u. übersetzt von Michael Rosenbusch, Horst Schützler und Sonja Striegnitz, Berlin 1991. Vgl. Ingeborg Fleischhauer, Der deutsch-sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939. Die deutschen Aufzeichnungen über die Verhandlungen zwischen Stalin, Molotov und Ribbentrop in Moskau, in: VfZ, (1991) 3, S. 147f.

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freundschaftliche Zusammenarbeit« anstrebe und nicht zulassen werde, »daß man Deutschland zu Boden werfe«. Die Ausführungen Stalins zeigen, daß er eine dauerhafte Zusammenarbeit mit Deutschland wollte und ihr eindeutig gegenüber einer Zusammenarbeit mit England den Vorzug gab. Sie beweisen aber auch, wie aus der Diskussion über die Themen England und Japan hervorgeht, daß Stalin vorsichtig genug war, um sich von Hitler nicht in weitergehende außenpolitische Allianzen verstricken zu lassen. Zweitens bestätigen die Gespräche, daß Stalin, indem er den ethnisch vorwiegend polnischen Teil des polnischen Staates Hitler überließ, sich von einer Last befreite, die ihm möglicherweise später bei der Gestaltung der Beziehungen zu den Westmächten Schwierigkeiten bereiten konnte. Drittens offenbarte Stalin seine Absichten gegenüber den baltischen Staaten, unter denen jetzt auch Litauen in den sowjetischen Machtbereich einbezogen wurde, ohne sich allerdings schon jetzt zeitlich auf die völlige Besitznahme dieses Territoriums festzulegen. Es kristallisierte sich somit in den Gesprächen eine bestimmte weitere Konkretisierung des Begriffs »Interessensphäre« heraus, was sich auch darin ausdrückte, daß von beiden Seiten, wenn auch nur vorsichtig, Interessen an Rumänien und dem Balkan angeschnitten wurden. Viertens schließlich wurde offenbar, daß Ribbentrop trotz des von ihm betonten Interesses an »einer weiteren Vertiefung des neuen deutsch-sowjetischen Verhältnisses« außer dem Wunsch nach der Intensivierung der beiderseitigen Wirtschaftsbeziehungen wegen der dringend benötigten sowjetischen Rohstofflieferungen über die weitere Ausgestaltung der deutsch-sowjetischen Beziehungen wenig zu sagen wußte. Der »Grenz- und Freundschaftsvertrag« bekräftigte und präzisierte ein Bündnis, von dem Stalin auch noch am Morgen des 22. Juni 1941 nicht glauben wollte, daß es ein Ende gefunden hatte, und welches zu brechen Hitler schon am 31. Juli 1940 beschloß. Nur generell sei abschließend auf die Zusammenarbeit verwiesen, die sich zwischen den beiden Ländern auf politischem, wirtschaftlichem, kulturellem und in einem bestimmten Rahmen auch auf militärischem Gebiet entwickelte. Dabei wurden die Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen, auch wenn sie kaum mehr zum Tragen kamen, bisher am wenigsten untersucht. Doch kommt gerade auf diesem Gebiet am besten die Tatsache zum Ausdruck, daß der Hitler-Stalin-Pakt, ungeachtet der von den beiden diktatorischen Führungen verfolgten Ziele, auf beiden Seiten vielfache Initiativen weckte, die in einer weit in die Vergangenheit zurückreichenden Tradition deutsch-russischer Kulturbeziehungen wurzelten und die diese trotz Stalinismus und Nationalsozialismus zum Nutzen der Völker beider Länder weiterzuführen suchten. Demgegenüber stand als ein besonders düsteres Kapitel der politischen Zusammenarbeit die Auslieferung von in der UdSSR inhaftierten Reichsdeutschen oder die Übergabe »Unliebsamer Reichsdeutscher« an Deutschland, das heißt an die Gestapo, was für die meisten, da es sich in der Regel um aktive Gegner Hitlers handelte, Konzentrationslager oder Tod bedeutete. Neue Forschungen haben ergeben, daß nach dem Abschluß des Paktes über 1000 Personen vom NKVD den deutschen Behörden ausgeliefert wurden 84 . Auch die Umsiedlung der sogenannten Volksdeutschen aus den von der UdSSR okkupierten 84

Vgl. In den Fängen des N K W D . Deutsche Opfer des stalinistischen Terrors in der UdSSR, Berlin 1991, S. 389.

Das Zustandekommen und die Auswirkungen des Hitler-Stalin-Paktes

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»Interessensphären« verursachte zahlreiche menschliche Tragödien. Es ist dies ein Thema, das die Forschung bisher erst teilweise aufgehellt hat. Die Tatsache, daß sich die vom Hitler-Stalin-Pakt geprägten deutsch-sowjetischen Beziehungen unter den Bedingungen des bereits begonnenen Zweiten Weltkrieges entwickelten, führte dazu, daß beide Seiten das Verhältnis des jeweils anderen Paktpartners zu den Westmächten mit größter Aufmerksamkeit beobachteten. Die UdSSR entging nach Beginn des sowjetisch-finnischen Krieges nur knapp der Gefahr, in den Krieg gegen die Westmächte hineingezogen zu werden, eine Gefahr, die erst nach der Besetzung Dänemarks und Norwegens durch die deutsche Wehrmacht gebannt war. Umgekehrt wuchs nach der Niederwerfung Frankreichs aus der Sicht Londons der Wunsch und aus der Sicht Berlins die Gefahr, daß sich die UdSSR von Deutschland lösen und ein Bündnis mit Großbritannien eingehen würde. Stalin verhielt sich allerdings gegenüber allen aus London an ihn herangetragenen Angeboten, auch unter den Bedingungen der sich zuspitzenden deutsch-sowjetischen Beziehungen, ebenso ablehnend, wie er das Angebot Hitlers zurückwies, dem Dreimächtepakt unter Bedingungen beizutreten, die die UdSSR unweigerlich in den Krieg gegen Großbritannien — und in der Perspektive auch gegen die USA — hineingezogen hätten. Daß Stalin in diesen Monaten an seiner Illusion, Hitler werde es nicht wagen, sich gegen die Sowjetunion zu wenden, festhielt und alle diesbezüglichen Warnungen in den Wind schlug, kam allerdings die Völker der UdSSR teuer zu stehen. Angesichts der Kriegsplanung Hitlers blieben die auf dem Hitler-Stalin-Pakt beruhenden deutsch-sowjetischen Beziehungen eine Interessengemeinschaft auf Zeit. Sie fand ihr Ende im Morgengrauen des 22. Juni 1941.

Aleksandr S. Orlov

Die sowjetisch-deutschen Beziehungen vom August 1939 bis zum Juni 1941

Betrachtet man die Ereignisse in Osteuropa in den Jahren 1939—1941 im Kontext mit den Veränderungen der internationalen Lage, so zeigt sich, daß die Politik der sowjetischen Führung durch die äußeren Bedingungen diktiert wurde, die sich aus dem in Europa entfesselten Krieg ergaben. Im Vordergrund der Aktivitäten der sowjetischen Führung standen strategische Überlegungen, nämlich das Bestreben, Zeit für den Ausbau der Verteidigungsfähigkeit des Landes zu erlangen, die vordersten Verteidigungslinien so weit wie möglich nach Westen vorzuverlegen und Verbündete zu gewinnen, deren Territorien für den Fall, daß die Sowjetunion in den Krieg hineingezogen würde, genutzt werden konnten. Angesichts der Veränderungen der militärischen Lage waren schnelle und pragmatische Entscheidungen erforderlich. Die Beziehungen zwischen der UdSSR und Deutschland waren dabei der wichtigste bestimmende Faktor. Unserer Ansicht nach verlief der politische Kurs von Stalin und Molotov gegenüber Hitler und dem Deutschen Reich in vier Etappen: — die erste: vom Abschluß des Nichtangriffspaktes am 23. August bis Ende September 1939; — die zweite: von Oktober 1939 bis Juni 1940; — die dritte: von Juni bis April 1941; — die vierte: von April bis zum 22. Juni 1941. Wie die Dokumente, nämlich die Texte des Nichtangriffspaktes, des geheimen Zusatzprotokolls und die Aufzeichnungen der Gespräche während der Verhandlungen in Moskau vom 23./24. August 1939 zeigen, hatte die sowjetische Führung unter der Ägide Stalins zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des geheimen Zusatzprotokolls noch keine klaren Vorstellungen über ihre außenpolitischen Ziele in Osteuropa. Es war noch sehr unklar, wie sich die sowjetisch-deutschen Beziehungen gestalten würden. Bei der Erörterung des Vertragsentwurfs, der in Berlin verfaßt worden war, hatte Stalin die von der deutschen Seite vorgeschlagene Präambel streichen lassen, in der von der Herstellung freundschaftlicher sowjetisch-deutscher Beziehungen die Rede war. »Glauben Sie nicht«, erklärte er dabei, »daß wir mehr die öffentliche Meinung in unseren Ländern berücksichtigen müssen? Jahrelang bewarfen wir uns mit Schmutz. Und jetzt sollte plötzlich alles vergessen sein, als ob es das nie gegeben hätte? Derartige Dinge vergehen nicht so schnell1.« Ribbentrop schreibt in seinem Memorandum an Hitler vom 24. Juni 1940 hinsichtlich der Verhandlungen in Moskau im August 1939 von dem »an sich damals noch völlig unge1

Ingeborg Fleischhauer, Der Pakt: Hitler, Stalin und die Initiative der deutschen Diplomatie 1938—1939, Berlin, Frankfurt a.M. 1990, S. 296.

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klärten deutsch-russischen Verhältnis« 2 . Davon zeugt auch v. d. Schulenburgs Telegramm nach Berlin vom 25. August mit der Bitte Molotovs, unter den ausländischen Flüssen den Flußnamen »Pissa« einzubeziehen, da »infolge der großen Eile, mit der geheimes Zusatzprotokoll abgefaßt worden sei, sich in dessen Text eine Unklarheit eingeschlichen habe« 3 . Das alles spricht von der Unsicherheit gegenüber der Zukunft, vom Mißtrauen gegenüber Deutschland und von einer Atmosphäre der Hast, in der der Vertrag abgeschlossen wurde. Die Ungewißheit verschwand auch nach dem Uberfall Deutschlands auf Polen nicht. Vom Beginn des Krieges an ging Stalin bei seinen Plänen und Handlungen weniger von den Vereinbarungen im Zusammenhang mit dem Akt vom 23. August, sondern vielmehr von den realen Ereignissen aus. Die wichtigsten Faktoren, die die folgenden Entscheidungen der sowjetischen Führung beeinflußten, waren die blitzartige Zerschlagung der polnischen Armee durch die Wehrmacht, die ganz Europa erschütterte, der »Sitzkrieg — drole de guerre« im "Westen — anstelle der erwarteten aktiven Handlungen der Gegenseite — und die Absichten Deutschlands bezüglich Litauen. Was geschah danach, wie entwickelte sich der Krieg? In die Arena trat die stärkste Armee der kapitalistischen Welt, die Armee Deutschlands. Der Begriff »Blitzkrieg« tauchte auf. Polen war in wenigen Wochen zerschlagen worden. Die deutschen Armeen bewegten sich unerbittlich nach Osten und überschritten die am 23. August festgelegte Demarkationslinie. England und Frankreich, die Deutschland den Krieg erklärt hatten, blieben passiv. Wie stellten sich diese Ereignisse in Moskau dar? Würden die Deutschen die Vereinbarungen einhalten oder nicht? Warum blieben die westlichen Verbündeten Polens untätig, was ging dort vor? Der Schriftwechsel mit dem deutschen Auswärtigen Amt in der ersten Hälfte des September war angefüllt von dem Bemühen, die deutsche Position zu klären. Sofort nach dem Kriegseintritt Englands und Frankreichs schlug Ribbentrop der UdSSR mit Nachdruck vor, sowjetische Truppen nach Polen zu verlegen. In Polen einmarschieren oder nicht — das war eine der schwierigen Entscheidungen für die UdSSR. Einerseits war die Besetzung Ostpolens vom militärstrategischen Standpunkt ein ohnehin angestrebtes Ziel. Dazu kam die Befürchtung, daß ein Verzicht auf die Besetzung dieses Territoriums durch die Rote Armee dort die Präsenz der Deutschen bedeuten würde. Der Forderung Ribbentrops nicht nachzukommen, konnte zu Komplikationen mit Deutschland führen. Andererseits bestand die Gefahr, daß England und Frankreich der UdSSR den Krieg erklären würden, wenn die Rote Armee die polnische Grenze überschritt. Die sowjetische Führung befürchtete auch, in die Falle eines neuen »München« zu geraten, da England und Frankreich trotz ihrer Kriegserklärung an Deutschland Polen keine Hilfe geleistet hatten. Das weckte Gedanken an die Möglichkeit eines neuen Komplotts auf Kosten der UdSSR. In dieser Situation wurde der Zeitpunkt 17. September von zwei Faktoren bestimmt: vom Abschluß des Waffenstillstandes mit Japan am 15. September und von SSSR - Germanija 1 9 3 9 - 1 9 4 1 (UdSSR - Deutschland 1 9 3 9 - 1 9 4 1 ) , Vil'njus 1989, Bd 2, S. 59 [verifiziert nach: A D A P D X], 3 A D A P D VI, S. 247. 2

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der Tatsache, daß die polnische Regierung die Führung des Landes verloren hatte, was einen Vorwand für den Schutz der ukrainischen und belorussischen Bevölkerung Polens vor dem »Chaos« liefern konnte. Aber auch danach verschwand Stalins Unsicherheit hinsichtlich der Beziehungen zu seinem neuen Partner nicht. In einem Gespräch mit dem deutschen Botschafter in Moskau, Graf v. d. Schulenburg, am 18. September sagte Stalin, daß »gewisse Zweifel beständen, ob sich das deutsche Oberkommando im gegebenen Zeitpunkt an die Moskauer Abmachungen halten und auf die vereinbarte Linie (Pissa—Narew—Weichsel—San) zurückgehen werde«. »Seine Bedenken« — berichtete Schulenburg dem Auswärtigen Amt — »bezögen sich auf die bekannte Tatsache, daß alle Militärs eroberte Territorien nicht gern räumten.« Der Botschafter bat darum, erneut zu »einer Erklärung, die geeignet wäre, seine [Stalins — d. Verf.] letzten Zweifel zu zerstreuen« 4 , ermächtigt zu werden. Aus diesen Dokumenten sind Stalins Besorgnis über den Verlauf der Ereignisse, sein Mißtrauen in bezug auf Hitlers wirkliche Absichten und seine Unsicherheit hinsichtlich der strikten Einhaltung der in Moskau getroffenen Vereinbarungen ersichtlich. Erst am 19. September ließ Molotov gegenüber Schulenburg durchblicken, daß »die bei der Sowjetregierung und bei Stalin persönlich ursprünglich vorhandene Neigung, ein restliches Polen bestehen zu lassen, jetzt der Tendenz gewichen ist, Polen [...] aufzuteilen« 5 . Als kompliziert erwies sich auch die Frage des Baltikums. Entsprechend dem Geheimprotokoll vom 23. August gehörten Lettland und Estland zur Interessensphäre der UdSSR. Nur Litauen war in der Interessensphäre Deutschlands verblieben. Wenn die deutschen Truppen dort einmarschierten, konnte die so geschaffene Gruppierung der Wehrmacht die Gefahr eines Schlages in die Flanke der sowjetischen Truppen bedeuten, der sich gegen die westlichen Gebiete der Ukraine und Belorußlands richten würde. Bald nahm diese Bedrohung reale Gestalt an. Am 20. September traf Hitler den Entschluß, Litauen in allernächster Zukunft in ein Protektorat Deutschlands zu verwandeln, und am 25. September unterzeichnete er die Weisung Nr. 4 über die Bereitstellung von Truppen in Ostpreußen mit einer solchen Stufe der Einsatzbereitschaft, daß sie Litauen einnehmen konnten 6 . An diesem Tag schlug Stalin in einem Gespräch mit Schulenburg vor, von dem östlich der Demarkationslinie gelegenen Gebiet die gesamte Wojewodschaft Lublin und den Teil der Wojewodschaft Warschau bis zum Bug der deutschen Interessensphäre zuzuschlagen. Dafür möge die deutsche Seite auf Litauen verzichten. Sollte Deutschland einverstanden sein, würde die Sowjetunion sofort an die Lösung des Problems der baltischen Staaten gemäß dem Protokoll vom 23. August herantreten 7 . Zwei Tage danach flog Ribbentrop nach Moskau. Im Verlauf von Gesprächen am 27./28. September erarbeiteten beide Seiten die Bedingungen für einen neuen Freundschafts- und Grenzvertrag, der am 28. September unterzeichnet wurde. Dieser Vertrag teilte die Interessensphären der UdSSR und Deutschlands neu ein. Auf dem Territorium Polens verlief 4 5 6

7

Verifiziert nach A D AP D VIII, S. 72. SSSR - Germanija (wie Anm. 2), Bd 1, S. 104 [verifiziert nach ebd., Bd VIII], Vjaceslav I. Dasicev, Bankrotstvo strategii germanskogo fasizma (Das Scheitern der Strategie des deutschen Faschismus), Moskau 1973, Bd 1, S. 389 [verifiziert nach A D AP D VIII]. Verifiziert nach A D A P D VIII, S. 101.

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die Grenze entlang der »Curzon-Linie«, d.h., die ethnisch polnischen Gebiete befanden sich in der Interessensphäre Deutschlands. Das zeugt davon, daß die strategischen die Oberhand über die territorialen Interessen gewannen. Indem Stalin einen Teil des von Polen besiedelten Territoriums abtrat, machte er das nahe Hinterland, in dem eine vorwiegend ukrainische und belorussische Bevölkerung lebte, sicherer. (Möglicherweise spielten hierbei Stalins Erfahrungen aus dem Bürgerkrieg eine Rolle. Im Jahre 1919 hatte er einen Plan zur Zerschlagung der Denikin-Truppen vorgeschlagen, demzufolge die Rote Armee über den Donbass und nicht über den kasachischen Don, dessen Gebiet von einer der Sowjetmacht feindlich gesinnten Bevölkerung besiedelt war, angreifen sollte.) Außerdem begradigte der neue Grenzverlauf die Berührungslinie zwischen der Wehrmacht und der Roten Armee, eine Entwicklung, die bei der Verwandlung des Abschnitts in eine Frontlinie von operativer Bedeutung war. Litauen wurde der Interessensphäre der UdSSR angeschlossen. Dadurch wurde die Gefahr eines Flankenschlages der Wehrmacht auf die Gruppierung der Roten Armee im westlichen Belorußland vom Norden her verringert, wobei die sowjetische militärische Führung den sogenannten »Vilnius-Korridor«, den kürzesten Weg nach Ostpreußen, in die Hand bekam. Dieser hatte in den Verhandlungen der UdSSR mit England und Frankreich im August 1939 eine Rolle gespielt, als der Durchmarsch der Roten Armee durch Polen zur Debatte stand. Der Vertrag machte die deutsch-sowjetischen Beziehungen konkreter. Moskau erhielt freie Hand im Baltikum; außerdem wurde eine wirtschaftliche Zusammenarbeit vereinbart. Aus der Lage Ende September ergab sich für die sowjetische Führung auch die konkrete Ausformung der Politik im Baltikum. An vorderste Stelle traten militärische Überlegungen, die die Dislozierung sowjetischer Truppenkontingente und Flottenstützpunkte im Baltikum erforderlich machten, um diesen Raum gegen eine mögliche deutsche Expansion zu sichern und einen operativen Kriegsschauplatz für einen in der Perspektive unvermeidlichen Krieg mit Deutschland zu schaffen. So führten die konkreten Ereignisse zu Beginn des Krieges zur Teilung Polens und zum Abschluß der bekannten Verträge zwischen der UdSSR und den Baltischen Republiken im September/Oktober 1939. Der Vertrag vom 28. September eröffnete eine Periode der stabilen sowjetisch-deutschen Zusammenarbeit. So konnte Stalin an die Lösung der territorialen Probleme mit Finnland (das auch zur Interessensphäre der UdSSR gehörte) gehen, ohne vor dem Einsatz von Waffengewalt zurückscheuen und ohne eine Einmischung Deutschlands befürchten zu müssen. Und obwohl die Verschiebung der Grenze mit Finnland von Leningrad weg (32 km von der Staatsgrenze entfernt) vom militärstrategischen Standpunkt erforderlich war, so waren die von der sowjetischen Führung angewandten Gewaltmethoden doch durchaus keine Lösung des strittigen Problems, das voll und ganz auch auf diplomatischem Wege hätte gelöst werden können. Im Verlaufe des sowjetisch-finnischen Krieges enthielt sich Deutschland einer offenen Hilfeleistung für Finnland, erlaubte aber insgeheim Waffenlieferungen aus Ungarn und Italien auf dem Transitwege durch sein Territorium. Außerdem verkauften die Deutschen über Schweden auch Waffen eigener Produktion an Finnland8. 8

Manfred Menger, Deutschland und Finnland im Zweiten Weltkrieg, Berlin 1988, S. 55—57.

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Der sowjetisch-finnische Krieg führte zur Schmälerung des internationalen Prestiges der UdSSR und verschlechterte ihre Beziehungen zu anderen Ländern, besonders zu England und Frankreich, die Finnland Unterstützung gewährten. Die UdSSR wurde aus dem Völkerbund ausgeschlossen. Im Westen begann man, auf die nördlichen Verbindungswege und Häfen der Sowjetunion sowie auf ihre Erdölregionen im Süden zu planen. Erst der Frieden mit Finnland verbesserte die Situation ein wenig. Die Verhandlungen über Handelsbeziehungen mit England wurden wieder aufgenommen, wenn auch das Verhältnis zu Frankreich noch angespannt blieb. Gleichzeitig zeigte der Kampf gegen Finnland die Schwächen der Roten Armee und ihre ungenügende Vorbereitung auf die Führung eines modernen Krieges. Das bestärkte bei Hitler die Schlußfolgerung, daß es möglich sein würde, die Sowjetunion in einem schnell verlaufenden Feldzug in naher Zukunft zu zerschlagen. Der sowjetisch-finnische Krieg aktivierte die Tätigkeit der prodeutschen Kräfte in Westeuropa, die danach trachteten, die westlichen Demokratien mit Hitler zu versöhnen und den Zusammenstoß Deutschlands mit der UdSSR herbeizuführen. Am 3. Januar 1940 schrieb Mussolini an Hitler, daß »Rußland ohne einen Schwertstreich in Polen und im Baltikum der große Gewinnende des Krieges geworden ist«9. Aber Deutschland nahm nicht Kurs auf die Zuspitzung der Beziehungen zur Sowjetunion. Hitler erklärte noch im November 1939: »Wir können Rußland nur entgegentreten, wenn wir im Westen frei sind«10. Im Frühling und im Sommer 1940 veränderte sich die internationale Lage radikal. Es begann der Krieg im Westen. Die Wehrmacht demonstrierte augenscheinlich auf den Schlachtfeldern Westeuropas ihre Stärke. In fünf Tagen wurde Holland, in 19 Tagen Belgien erobert, die britischen Truppen, die ihre neueste Militärtechnik auf die Felder Flanderns geworfen hatten, wurden hinter den Ärmelkanal zurückgeworfen, und Frankreich lag in der Agonie. Die Sowjetunion mußte mit dem nahen Ende der Kampfhandlungen im Westen und mit der Möglichkeit rechnen, daß die deutschen Truppen nach Osten umverlegt wurden, um die Sowjetunion zu überfallen und gleichzeitig das Baltikum zu erobern. Und in der Tat begann bald die Zusammenziehung deutscher Truppen in Ostpreußen und in Polen (bis etwa Mitte Juni wurden dort 48 Divisionen der Wehrmacht konzentriert)11. In den Ostgebieten Deutschlands wurde eine zusätzliche Mobilmachung ausgerufen, und andere Maßnahmen wurden durchgeführt, die von der möglichen Gefahr eines deutschen Einfalls in das Baltikum zeugten. Die Sowjetregierung hielt es deshalb für erforderlich, kurzfristig Maßnahmen zur Stärkung der Verteidigung der Baltischen Republiken einzuleiten. Sie richtete an die Führungen Litauens (14. Juni), Lettlands und Estlands (16. Juni) Noten, in denen sie darauf 9

10

11

Uinston Cercill (Winston Churchill), Vtoraja mirovaja vojna (Der Zweite Weltkrieg), Moskau 1991, Bd 1, S. 249 [verifiziert nach Winston Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Hamburg 1949, Bd 1, S. 191]. Documents of German Foreign Policy (DGFP), Serie D, Bd 8, S. 439—446 [verifiziert nach A D A P D VIII]. Polpredy soobscajut. Sbornik dokumentov ob otnosenijach SSSR s Latviej, Litvoj i Estoniej, Avgust 1939—avgust 1940 (Bevollmächtigte Vertreter melden. Dokumentensammlung über die Beziehungen der UdSSR zu Lettland, Litauen und Estland. August 1939 — August 1940), Moskau 1990, S. 470.

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verwies, daß sie die Bildung solcher Regierungen für unaufschiebbar und erforderlich halte, die imstande seien, eine »ehrliche Durchführung« der Beistandsabkommen mit der UdSSR zu gewährleisten, und forderte außerdem die Verstärkung der sowjetischen Truppenpräsenz auf dem baltischen Territorium. Diese Noten der UdSSR waren von objektiver Notwendigkeit diktiert, da die zahlenmäßig geringen sowjetischen Kontingente im Baltikum und die unzureichende Gefechtsbereitschaft der Armeen der baltischen Staaten bei einer deutschen Aggression keine sichere Deckung gewährleisteten. Aber sie waren in einer groben, ultimativen Form verfaßt (»ist sofort zu bilden«, »ist sofort zu garantieren«), und damit zeigten sie, wie deformiert Stalins Außenpolitik tatsächlich war. Außerdem waren die Forderungen nach Änderung der Zusammensetzung der Regierungen natürlich eine grobe Verletzung des internationalen Rechts und eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten. Das zeugt aber auch davon, daß die sowjetische Führung in dem Bestreben, ihre strategische Lage im Falle eines möglichen deutschen Angriffs zu verbessern, ohne Rücksicht auf die Wünsche der Führer des Dritten Reiches handelte und eine Reihe von Maßnahmen zur Erweiterung des strategischen Aufmarschgebietes an den Westgrenzen der UdSSR einleitete, wo es zum Ausbruch der Kampfhandlungen kommen konnte. Der Beitritt der Baltischen Republiken in den Staatsverband der UdSSR im Sommer 1940 war in erster Linie von den Interessen der nationalen Sicherheit der UdSSR angesichts der wachsenden Kriegsgefahr diktiert. Hier wurde eine mächtige Gruppierung der Roten Armee geschaffen. Die eisfreien Häfen gewährleisteten das ganze Jahr über die Einsatzbereitschaft der Flotte im Baltikum. Im Kriegsfall war es der Baltischen Flotte möglich, Kreuzeroperationen durchzuführen, Einsätze von U-Booten im Rücken des Gegners zu organisieren, Teile der Ostsee an den Küsten Ostpreußens und Pommerns zu verminen und die Lieferung von Eisenerz aus Schweden nach Deutschland zu blockieren. Die im Baltikum gelegenen Flugplätze ermöglichten den sowjetischen Luftstreitkräften, Einsätze über deutschem Territorium durchzuführen. Von hier aus wurden dann im August 1941 die ersten Luftangriffe auf Berlin geführt. Die Motive für das Vorgehen der UdSSR waren den Militärexperten anderer Länder verständlich. Am 21. Juni 1940 schrieb der deutsche Botschafter in Riga, v. Kotze, die einmarschierenden Truppen seien zahlenmäßig so stark, daß man sich unmöglich vorstellen könne, daß für die Einverleibung Lettlands eine so breit angelegte Besatzungsmacht notwendig sei. Er denke, daß bei den russischen Maßnahmen Überlegungen hinsichtlich Deutschlands und seiner Möglichkeiten eine Rolle spielten und daß die Pläne der Russen auf Verteidigung ausgerichtet seien12. Sein Kollege in Kaunas, Zechlin, berichtete am gleichen Tag nach Berlin, daß eine derart eindrucksvolle Demonstration militärischer Stärke nicht nur durchgeführt werde, um Litauen zu besetzen. Wenn man die gesamtpolitische Lage berücksichtigt, so werde klar, daß die Sowjetunion eine derartige Massierung von Truppen aus Mißtrauen gegenüber Deutschland und mit dem Ziel der 12

Pis'mo germanskogo poslannika ν Rige ν MID Germanii 21 ijunja 1940g (Brief des deutschen Botschafters in Riga an das Deutsche Auswärtige A m t vom 21.6.1940), BA.

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Verteidigung dorthin schicke 13 . Der gleichen Auffassung war auch der Chef des britischen Außenministeriums, Edward F. Halifax. In jenen Tagen hielt er die »sowjetische Truppenkonzentration in den baltischen Staaten für eine Maßnahme von Verteidigungscharakter«14. So wurde der Einmarsch zusätzlicher Sowjettruppen in die baltischen Staaten im Ausland gewertet. Aber dieser Prozeß war nicht nur der krasse Ausdruck sowjetischer Interessen. Auf ihn wirkten auch die Ereignisse in den Baltischen Republiken selbst, die sich dynamisch entwickelten. Maßgebliche Kreise der Öffentlichkeit forderten die Ablösung der autoritären Regime und radikale Veränderungen im politischen Leben dieser Länder, die zur Bildung neuer, demokratischer Regierungen führen sollten. Ein Teil der Bevölkerung war für den Beitritt in den Staatsverband der UdSSR. Es stand auch die Frage der Befestigung der südwestlichen Grenzen der UdSSR zur Debatte. Entsprechend den im Geheimprotokoll vom 23. August 1939 festgehaltenen Interessen der UdSSR in Bessarabien gab Molotov dem deutschen Botschafter in Moskau, Graf v.d. Schulenburg, am 23. Juni 1940 eine Erklärung ab: »Lösung Bessarabienfrage gestatte nunmehr keinen weiteren Aufschub«, und die Sowjetregierung rechne damit, daß Deutschland »die sowjetische Aktion nicht stören, sondern unterstützen werde«15. Drei Tage später übergab die sowjetische Regierung dem Gesandten Rumäniens eine Erklärung. Darin stand: »Die Sowjetunion erachtet es im Interesse der Wiederherstellung der Gerechtigkeit für notwendig und an der Zeit, gemeinsam mit Rumänien die unverzügliche Lösung der Frage über die Rückgabe Bessarabiens an die Sowjetunion in Angriff zu nehmen. Nach Ansicht der Sowjetregierung steht die Frage der Rückgliederung Bessarabiens in organischem Zusammenhang mit der Angliederung jenes Teiles der Bukowina an die Sowjetunion, dessen überwiegende Mehrheit ukrainisch ist und der wegen seiner Zusammensetzung im Hinblick auf sein historisches Schicksal, seine nationale Gestaltung und seine Sprache zur Sowjetukraine gehört 1 6 .«

Die Forderung nach Rückgabe des nördlichen Teils der Bukowina war auch durch die von der Volksversammlung der Bukowina im November 1918 angenommene Entscheidung über den Anschluß an die Sowjetukraine begründet. Rumäniens Regierung signalisierte lediglich die Bereitschaft, über diese Fragen zu verhandeln. Daraufhin forderte die UdSSR: »Binnen vier Tagen, vom 28. Juni vormittags 2 Uhr gerechnet, ist Bessarabien und der nördliche Teil der Bukowina von der rumänischen Armee zu räumen17.« Der Versuch der rumänischen Regierung, sich um Beistand an Deutschland zu wenden, hatte keinen Erfolg. Deutschland konnte nicht unter dem Vorwand, der Punkt des Protokolls, der Südosteuropa betreffe, sei unklar, widersprechen. Dort hieß es, daß »sowjetischerseits das Interesse der UdSSR an Bessarabien unterstrichen wird. Deutscherseits wird völliges politisches Desinteresse an diesen Territorien erklärt«. Dadurch war die 13

14 15 16

17

Pis'mo germanskogo poslannika ν Kaunuse ν MID Germanii 21 ijunja 1940 g (Brief des deutschen Botschafters in Kaunas an das Deutsche Auswärtige A m t vom 21.6.1940), ebd. Public Record Office, Cab. 65/7, S. 255. Nazi-Soviet Relations 1939—1940, New York 1948, S. 155 [verifiziert nach A D AP, D X], Vnesnaja politika SSSR. Sbornik dokumentov (Außenpolitik der UdSSR. Dokumentensammlung), Moskau 1946, Bd 4, S. 515 f. [verifiziert nach: Archiv der Gegenwart, 10 (1940), Bonn, Wien, Zürich 1962, S. 4599C—4600], Ebd., S. 516 [verifiziert nach ebd.].

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Interessensphäre der UdSSR nicht streng auf Bessarabien begrenzt, da vom Desinteresse Deutschlands »an diesen Territorien« die Rede war. Als im Jahre 1940 Fragen nach dem Beitritt Bessarabiens und der nördlichen Bukowina in den Bestand der UdSSR zur Debatte standen, erklärte Ribbentrop Hitler, daß am 23. August 1939 »angesichts des damals ungeklärten deutsch-sowjetischen Verhältnisses [...] ich [...] eine Formulierung allgemeinen Charakters für das Protokoll gewählt habe« 18 . Ribbentrop riet Rumänien, nachzugeben 19 . Am 28. Juni 1940 rückte die Rote Armee in Bessarabien und in die Nordbukowina ein. Die rumänischen politischen Parteien und Organisationen in diesen Territorien wurden aufgelöst. In Bessarabien und in der Nordbukowina wurden Verwaltungsorgane der Sowjetmacht eingerichtet. Am 2. August wurde aus einem großen Teil Bessarabiens und der Moldauischen Autonomen Republik, die seit 1924 auf dem linken Ufer des Dnestr existierte, die Moldauische SSR gebildet. Die Nordbukowina und die südlichen Bezirke Bessarabiens wurden in den Bestand der Ukraine aufgenommen. Am Beispiel Bessarabiens und der Nordbukowina wird deutlich, daß es strategische Interessen waren, die die sowjetische Politik hinsichtlich der neuen westlichen Territorien, die 1940 in die UdSSR aufgenommen wurden, bestimmten. Von Bessarabien aus konnten sowjetische Luftstreitkräfte die Erdölfelder Rumäniens bedrohen, das für Deutschland Hauptlieferant von Erdöl war. Die Nordbukowina, die niemals früher zu Rußland gehört hatte, wurde gebraucht, weil durch ihr Territorium eine wichtige Eisenbahnstrecke von strategischer Bedeutung verlief. Sie führte von Odessa über Kisinev, Cernovcy nach L'vov und hatte die europäische Gleisspurweite. Dadurch wurde es möglich, Transportzüge auf den europäischen Eisenbahnstrecken einzusetzen. Über die Bedeutung dieser Strecke für die UdSSR sprach Molotov am 26. Juni 1940 mit v. d. Schulenburg 20 . Die Frage der Nutzung dieser Strecke stand während der Tschechoslowakei-Krise 1938 zur Debatte, als es um die Verlegung sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei ging. (Offensichtlich kannte Stalin den Wert der Strecke Cernovcy—L'vov gut; im Jahre 1920 war er Mitglied des Militärrates der Südwestfront gewesen, der damals die L'vov-Operation der Roten Armee durchführte.) Die Eingliederung der Baltischen Republiken, Bessarabiens und der Nordbukowina in den Bestand der UdSSR wurde von der deutschen Regierung mit Unzufriedenheit aufgenommen. Diese Aktionen leiteten deshalb eine Periode der offenen diplomatischen Konfrontation zwischen der UdSSR und Deutschland ein. Die von der Sowjetunion unternommenen Versuche, sich mit Deutschland und Italien bezüglich der Sicherung ihrer Interesssen in Südosteuropa, insbesondere in Rumänien (Juni 1940), zu einigen, scheiterten. Im »Wiener Schiedsspruch«, der am 31. August unter Teilnahme von Deutschland und Italien, aber ohne die Sowjetunion, gefällt wurde, wurde Rumänien ein Teil seines Territoriums genommen, doch wurden ihm seitens Deutschland Garantien für die neuen Grenzen gegeben. Der Protest der UdSSR gegen den Wiener Schiedsspruch zeigte,

18

SSSR — Germanija (wie Anm. 2), S. 59.

19

Nazi-Soviet Relations (wie Anm. 15), S. 163.

20

SSSR -

Germanija (wie Anm. 2), Bd 2, S. 63 [verifiziert nach A D A P D X],

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daß die deutsch-sowjetischen Gegensätze wuchsen, und erzeugte mit der Zeit zunehmende Spannungen in den Beziehungen der beiden Länder. Im September gab es neue Komplikationen: In Rumänien wurde eine deutsche Militärmission eingerichtet. Dieses Vorgehen wurde in der Sowjetunion als »die endgültige politische und ökonomische Unterordnung Rumäniens unter Deutschland und das weitere Vordringen Deutschlands auf dem Balkan« 21 gewertet. Das Eintreffen deutscher Truppen in Rumänien bedeutete nach Einschätzung des bevollmächtigten Vertreters der UdSSR in Rumänien Folgendes: »Die Etablierung der Deutschen am Schwarzen Meer und die Errichtung von Flugzeugbasen bedroht die Interessen der Sowjetunion unmittelbar 22 .« A m 22. September trafen deutsche Truppen auf dem Territorium Finnlands ein. Fünf Tage später wurde in Berlin der Dreimächtepakt zwischen Deutschland, Italien und Japan unterzeichnet. Der Pakt sah den gegenseitigen Beistand bei einem Überfall auf eines dieser Länder seitens irgendeines Staates, der zum gegebenen Zeitpunkt am Krieg nicht beteiligt war, vor. All diese Ereignisse erregten bei der sowjetischen Führung Besorgnis. Der Wiener Schiedsspruch wurde als Verletzung des Art. 3 des deutsch-sowjetischen Pakts (über Konsultationen) und der Dreimächtepakt als Bedrohung für die Sicherheit der UdSSR gewertet. Zur Klärung der entstandenen strittigen Probleme stattete Molotov im November 1940 Berlin einen offiziellen Besuch ab, um Verhandlungen mit der Führung des Dritten Reiches zu führen. Die Positionen der Partner in den Verhandlungen stimmten nicht überein. Die deutsche Seite war bestrebt, die sowjetische Delegation in die Erörterung der Frage über die Aufteilung des Britischen Empire hineinzuziehen. Die sowjetische Seite beschränkte sich auf die Klärung der deutschen Absichten hinsichtlich der europäischen Sicherheit und die Probleme, die unmittelbar die UdSSR berührten 23 . Die von der sowjetischen Delegation erhobenen Fragen betrafen die Lage in der Türkei, Bulgarien, Rumänien, Jugoslawien, Griechenland und Polen 24 . Die deutsche Seite schlug der Sowjetunion vor, sich dem Dreimächtepakt anzuschließen und sich an der Aufteilung des Britischen Empire »zwischen Deutschland, Italien, Japan und der UdSSR« zu beteiligen. Der Sowjetunion wurde empfohlen, ihre Interessensphäre in Richtung des Persischen Golfs bis zum Indischen Ozean zu erweitern. Im Verlauf des Besuchs Molotovs erzielten die Beteiligten keine Ubereinkunft, und die offizielle Antwort der Sowjetunion wurde am 25. November 1940 übergeben. Die Sowjetunion forderte darin Unterstützung für den Abschluß eines Beistandspaktes zwischen der Sowjetunion und Bulgarien, verbunden mit der Überlassung von Flottenstützpunkten auf bulgarischem Territorium an die UdSSR, der Errichtung eines für die UdSSR günstigen Regimes in den Schwarzmeerengen, der Anerkennung der Interessen der UdSSR in der 21

22 23

24

Pavel P. Sevostjanov, Pered velikim ispytaniem 1939—1941 (Sowjetdiplomatie gegen faschistische Bedrohung 1 9 3 9 - 1 9 4 1 ) , Moskau 1981, S . 2 0 1 . Ebd. Valentin M. Berezkov, S diplomaticeskoj missiej ν Berlin 1940—1941 (In diplomatischer Mission in Berlin 1940—1941, Moskau 1966, S. 343 [verifiziert nach Walentin M. Bereshkow, Jahre im diplomatischen Dienst, Berlin (Ost) 1974, S. 36]. DGFP, Bd 11, S. 5 6 2 - 5 7 0 [verifiziert nach Bereshkow (wie Anm. 23), S. 43].

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Region südlich von Baku-Batumi, dem Abzug der deutschen Truppen aus Finnland und der Einflußnahme auf Japan hinsichtlich eines Verzichts auf dessen Konzessionen in Nordsachalin 25 . Dieses Dokument zeugt davon, daß die von der Sowjetunion erhobenen Bedingungen Hitler volle Handlungsfreiheit im Westen gaben, aber ihn hindern sollten, einen Krieg gegen die UdSSR zu führen. Eine Antwort aus Deutschland traf nicht ein, dafür gab Hitler die Weisung, die Ausarbeitung des Planes »Barbarossa«, der von ihm am 18. Dezember 1940 unterzeichnet wurde, zu beschleunigen. Inzwischen setzte die Sowjetunion, ungeachtet der offenkundigen Unzufriedenheit Deutschlands, den diplomatischen Kampf um den Balkan fort. Bereits im Herbst 1939 hatte die Sowjetregierung mit der Türkei Verhandlungen über den Abschluß eines Beistandspaktes geführt, begrenzt auf den Raum des Schwarzen Meeres und die Meerengen; aber die Türkei hatte es damals vorgezogen, einen Vertrag über gegenseitigen Beistand mit England und Frankreich abzuschließen, und unterzeichnete keinerlei Vereinbarungen mit der UdSSR. Nach Beginn des italienisch-griechischen Krieges fragte die Türkei im Oktober 1940 bei der UdSSR an, ob mit sowjetischer Hilfe zu rechnen sei, falls sie in den Krieg hineingezogen werden sollte; aber die Sowjetunion gab keine konkrete Antwort und berief sich darauf, daß es keinen Beistandspakt gab. Erst im März 1941 wurden Neutralitätserklärungen für den Fall eines Uberfalls auf einen der Betroffenen ausgetauscht26. (Dessenungeachtet unterzeichnete die türkische Regierung am 18. Juni 1941 einen »Freundschafts- und Nichtangriffsvertrag« mit Deutschland.) Ungarn, Rumänien und die Slowakei hatten sich bereits im November 1940 dem Dreimächtepakt angeschlossen. Bestrebt, ihre Positionen auf dem Balkan zu festigen, schlug die UdSSR am 25. November 1940 Bulgarien den Abschluß eines Vertrages über gegenseitigen Beistand vor, aber die bulgarische Regierung lehnte diesen Vorschlag nach fünf Tagen ab 27 . Anfang Januar 1941 verbreiteten sich in internationalen Kreisen Gerüchte darüber, daß mit Wissen und Einverständnis der UdSSR deutsche Truppen nach Bulgarien verlegt würden. Am D . J a nuar wurden diese Meldungen von TASS dementiert 28 . Am 17. Januar brachte Molotov während eines Gesprächs mit Schulenburg sein Erstaunen darüber zum Ausdruck, daß die Regierung Deutschlands so lange keine Antwort auf die Erklärung der sowjetischen Führung vom 25. November 1940 gegeben habe. An diesem Tag wurde dem deutschen Auswärtigen Amt ein Memorandum über Bulgarien und die Meerengen überreicht, in dem unterstrichen wurde: »Die Sowjetregierung [...] wird das Eintreffen ausländischer Truppen auf dem Territorium Bulgariens als eine Verletzung der Sicherheitsinteressen der UdSSR betrachten 29 .« Nichtsdestoweniger trat Bulgarien am 28. Februar 1941 dem Dreimächtepakt bei, und auf sein Territorium wurden Truppen der Wehrmacht verlegt. Bereits diese Schritte zeugten davon, daß Hitler nicht die Absicht hatte, die Interessen und Wünsche der UdSSR zu berücksichtigen. 25

SSSR -

26

Vnesnaja politika SSSR (wie Anm. 16), B d 4 , S. 547.

Germanica (wie Anm. 2), Bd 2, S. 133 [verifiziert nach A D AP D X I / 2 ] .

27

Istorija diplomatii (Geschichte der Diplomatie), Bd 4, Moskau 1975, S. 154.

28 Pravda, 13.1.1941. 29

SSSR -

Germanija (wie Anm. 2), Bd 2, S. 145 [verifiziert nach A D AP D X I / 2 ] ,

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Aber Stalin und seine Umgebung versuchten immer noch, sich Deutschlands Balkanpolitik zu widersetzen, dieses Mal in Jugoslawien. Am 25. März 1941 trat Jugoslawien dem Dreimächtepakt bei, zwei Tage später kam es zu einem revolutionären Staatsstreich, der sich gegen die Achsenmächte richtete. Am 31. März wurde eine Delegation der neuen jugoslawischen Regierung nach Moskau zu Verhandlungen über einen Nichtangriffsvertrag eingeladen. In der Nacht zum 6. April unterzeichnete man einen Freundschafts- und Nichtangriffsvertrag, in dem es hieß, daß beide Seiten sich jeglichen Angriffs gegeneinander enthalten und daß im Falle eines Angriffs auf den einen der vertragsschließenden Teile seitens eines Drittstaates sich die andere vertragsschließende Seite »verpflichtet, eine Politik freundschaftlicher Beziehungen ihm gegenüber einzuhalten« 30 . Aber wenige Stunden später marschierten deutsche Truppen in Jugoslawien ein. Am 15. April kapitulierte die Regierung Jugoslawiens. Das war der letzte Schlag gegen die sowjetische Balkanpolitik. Stalin wurde klar, daß die diplomatische Auseinandersetzung mit Deutschland verspielt war und daß das von nun an in Europa herrschende Dritte Reich nicht die Absicht hatte, die Interessen seines östlichen Nachbarn zu berücksichtigen. Es blieb eine Hoffnung: die unvermeidliche deutsche Aggression zeitlich so weit wie möglich hinauszuschieben. In dieser Situation mußten dringend Maßnahmen zur Sicherung der Sowjetunion im Osten eingeleitet werden. Die Verhandlungen mit Japan über die Unterzeichnung eines Nichtangriffs- oder Neutralitätsvertrages liefen seit dem Sommer 1940, aber erst während des Besuches des japanischen Außenministers, Yosuke Matsuoka, wurde am 13. April 1941 ein sowjetisch-japanischer Neutralitätspakt signiert. Das war ein großer Sieg für die sowjetische Diplomatie. Auch wenn die Gefahr eines japanischen Uberfalls nicht gänzlich gebannt war, wurde die Bedrohung durch einen Zweifrontenkrieg bedeutend geringer. Doch gleichzeitig wuchs die Gefahr im Westen rasant. Der Beitritt Bulgariens zum Dreimächtepakt, die Konzentration deutscher Truppen in Rumänien und Finnland, die Invasionen in Jugoslawien und Griechenland, die Aktivierung der deutschen Agentenaufklärung im Iran und in Afghanistan — all das deutete auf das Anwachsen feindseliger Tätigkeiten Deutschlands gegenüber der UdSSR. Die politische Isolierung der Sowjetunion nahm zu. So kehrten sich die strategischen Gewinne von 1939/1940 in große politische Niederlagen um. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatten die westlichen Staaten — trotz ihrer ablehnenden Einstellung zum sowjetisch-deutschen Nichtangriffsvertrag — Verständnis für den Einmarsch der Roten Armee in die westlichen Gebiete Belorußlands und der Ukraine (Churchill, Lloyd George u.a.) sowie für die Verträge der UdSSR mit den baltischen Staaten gezeigt und Interesse an der Aufrechterhaltung normaler Beziehungen zur UdSSR bekundet. Doch bereits der Krieg gegen Finnland verschlechterte die internationale Stellung der UdSSR, während die Einverleibung Lettlands, Litauens, Bessarabiens und der Nordbukowina in den Bestand der Sowjetunion von der internationalen Öffentlichkeit als ein Zeichen imperialer Ambitionen des kommunistischen totalitären Staates gewertet wurde. Das führte zu noch stärkeren Komplikationen in den Beziehungen der UdSSR zu England und den USA, gerade zu einem Zeitpunkt, als die Gegensätze zwischen der 30

Sevostjanov (wie Anm. 21), S. 228.

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UdSSR und dem Dritten Reich immer offenkundiger zutage traten und die Lage in jeder Hinsicht eine Verbesserung der Beziehungen zu den westlichen Staaten erforderte. Die Fehler in der Balkanpolitik führten zu einer noch umfassenderen internationalen politischen Isolierung der Sowjetunion. Im April/Juni 1941 begann in der sowjetischen Deutschlandpolitik eine neue Periode, die stark an die westliche Beschwichtigungspolitik vor dem Zweiten Weltkrieg erinnerte. Obwohl Hitler keinerlei Forderungen an die UdSSR richtete, zeugten doch die im Generalstab der Roten Armee, im N K V D und dem Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten eintreffenden Meldungen davon, daß Deutschland seit Februar 1941 mit einer verdeckten Truppenverlegung an die sowjetischen Grenzen begonnen hatte. Zur gleichen Zeit unternahm die Regierung der UdSSR größte Anstrengungen, um das Land und die Streitkräfte auf die Verteidigung des Vaterlandes gegen die drohende deutsche Aggression vorzubereiten. Aber die Vorbereitungen auf den Krieg waren noch lange nicht abgeschlossen. Stalin tat alles, um Deutschland keinen Vorwand für die Entfesselung des Krieges zu geben und den unvermeidlichen Zusammenstoß hinauszuschieben. Daß das nationalsozialistische Deutschland aggressive Absichten gegen die UdSSR hegte, wußte man nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch im Ausland. Seit November 1940 erhielten die sowjetischen Behörden für Staatssicherheit und die militärische Aufklärung konkrete Angaben über die Kriegsvorbereitungen Hitlers und seiner Verbündeten. Diese Informationen wurden an die Führung des Landes weitergeleitet. Der Informationsfluß über die wachsende Gefahr eines Krieges Deutschlands gegen die UdSSR verstärkte sich enorm seit dem Frühjahr 1941. Die Tatsache, daß der sowjetischen Führung die im Frühjahr und Sommer 1941 eingetroffenen Aufklärungsergebnisse bekannt waren, läßt den Eindruck entstehen, die Lage sei hinlänglich klar gewesen. Es hat den Anschein, als ob Stalin nur noch die Direktive für die Herstellung der vollen Gefechtsbereitschaft der Roten Armee zur Abwehr des geplanten Angriffs hätte geben müssen. Eben das tat Stalin nicht, und das war der verhängnisvolle Fehler der sowjetischen Führung, der zu der Tragödie von 1941 führte. Das alles trifft wohl zu. Aber man muß auch in Betracht ziehen, daß die internationale Lage im Frühjahr 1941 bedeutend komplizierter war als das, was beim bloßen Studium der Aufklärungsdaten über die Vorbereitungen der Wehrmacht an den sowjetischen Westgrenzen deutlich wird. Denn zur gleichen Zeit wuchsen die Erfolge der Wehrmacht im Krieg gegen England. Die Bombenangriffe der deutschen Luftwaffe auf englische Städte hielten an. Im Mai eroberten die Deutschen die Insel Kreta. Der Weg durch das VichySyrien in den prodeutschen Irak und nach Ägypten war offen. Das bedeutete, daß die Besetzung dieser Länder durch Deutschland England der Erdölgebiete, die für die Fortführung des Krieges lebensnotwendig waren, beraubte. Im Kreml nahm man deshalb an, daß Hitler angesichts des nahen Sieges im Krieg gegen England keinen für Deutschland verhängnisvollen (wie die Geschichte oft bewiesen hat) Zweifrontenkrieg beginnen würde, indem er Kampfhandlungen gegen die UdSSR eröffnete. Daher drängte sich die Schlußfolgerung auf, daß Deutschland im Sommer 1941 seine Hauptanstrengungen darauf richten würde, die britischen Streitkräfte zu zerschlagen, England von den Erdölquellen abzuschneiden und es zum Frieden zu zwingen. (Übrigens nahm auch der Intelligence Service

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der britischen Streitkräfte bis zum 12. Juni 1941 an, daß der wahrscheinlichste Schwerpunkt von Kampfhandlungen der Wehrmacht in den nächsten Monaten der Nahe Osten sein würde.) Stalin ging davon aus, daß in einer solchen Situation die britische Regierung an einer Provozierung des Krieges zwischen Deutschland und der UdSSR äußerst interessiert wäre. Deshalb glaubte er der eigenen Aufklärung und der sowjetischen Agentenaufklärung im Ausland nicht und hielt all dies für die Früchte einer britischen Provokation. Eine Reihe von Ereignissen, die in der gleichen Zeit stattfanden, bestärkten ihn in seinem Mißtrauen. Am 18. April überreichte der Botschafter Großbritanniens in der UdSSR, Sir Stafford Cripps, dem sowjetischen Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten ein Memorandum, in dem es hieß, »[...] if the war were protracted for a long period, that there might be a temptation for Great Britain (and especially for certain circles in Great Britain) to come to some arrangement to end the war on the sort of basis which has again recently been suggested in certain German quarters, that is, that Western Europe should be returned to its former status, while Germany should be unhampered in the expansion of her >living space< to the east*«31.

Am 19. April übergab Cripps Molotov einen Brief des englischen Premierministers Winston Churchill, den dieser bereits am 3. April verfaßt und an Stalin persönlich adressiert hatte. Darin teilte Churchill mit, daß er zuverlässige Informationen über die intensiven Vorbereitungen Deutschlands auf den Überfall auf die Sowjetunion habe32. Das Zusammentreffen dieser beiden Mitteilungen bereits veranlaßte den von Natur aus mißtrauischen Stalin dazu, das Geschehen als Provokation zu betrachten. Außerdem flog am 10. Mai Rudolf Hess, Hitlers Stellvertreter in der Partei und zweiter Mann des Deutschen Reiches, nach England, und am selben Tage wurden die Bombenangriffe auf englische Städte eingestellt. Worin die Mission von Hess bestand und wie die Briten reagierten, ist nicht bekannt, aber der Verdacht auf ein mögliches anglo-deutsches Komplott (wie das oft in der Vergangenheit geschehen war) geisterte in den Kabinetten des Kreml. Die Mitteilungen englischer Diplomaten über Hitlers kurz bevorstehenden Uberfall auf die UdSSR trafen nach wie vor zusammen mit Meldungen der Aufklärung ein. Daraus resultierten Stalins Mißtrauen gegenüber den Meldungen der Agenturaufklärung und seine feste Überzeugung, daß England den Zusammenstoß zwischen Deutschland und der UdSSR herbeiführen wolle, um die Gefahr des eigenen militärischen Zusammenbruchs abzuwenden. Stalin nahm weiterhin an, daß die britische Regierung die UdSSR zur Entfaltung von Truppen in den Grenzbezirken bewegen wollte, womit sie den Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion provozieren würde. Deshalb lautete der Standpunkt Stalins, um keinen Preis Hitler einen Vorwand zum Angriff zu geben und die unvermeidliche deutsche Aggression bis 1942, bis — seiner Meinung nach — die UdSSR zur effektiven Verteidigung bereit sein würde, hinauszuzö31

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Llewellyn Woodward, British Foreign Policy in the Second World War, Bd 1, London 1970, S. 607. (* It should be noted that Sir S. Cripps had no authority to make this statement. Ebd.). Winston Churchill, The Second World War, Bd 3, Boston 1950, S. 356 [verifiziert nach Winston Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Bd 3, l.Buch, Stuttgart 1951, S.427],

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gern. Im Frühjahr 1941 betrieb die Sowjetregierung gegenüber Hitler eine »Politik der Beschwichtigung«, um ihm keinen Vorwand zu liefern, die UdSSR feindseliger Handlungen gegen Deutschland zu beschuldigen. Am 8. Mai dementierte TASS Gerüchte über sowjetische Truppenkonzentrationen an den Westgrenzen. Am darauffolgenden Tag brach die Sowjetunion die diplomatischen Beziehungen zu den Exilregierungen Belgiens, Norwegens und Jugoslawiens ab. Am 12. Mai erkannte die UdSSR das prodeutsche Regime im Irak an. Die Lieferungen an Hitler erfolgten ohne Abstriche; deutsche Flugzeuge, die die sowjetischen Grenzen verletzten, wurden nicht abgeschossen. Schließlich wurde am 14. Juni die bekannte TASS-Meldung veröffentlicht. Ihr Zweck bestand darin, eine Reaktion seitens Deutschlands hervorzurufen, neue Verhandlungen zu beginnen, Hitlers Absichten zu sondieren und vor allem Zeit bis zum Herbst zu gewinnen, wenn das Wetter einen Angriff der Wehrmacht unmöglich machen würde. All diese Kalkulationen gingen nicht auf, und die daraus resultierende Passivität führte dazu, daß der Uberfall Deutschlands für das sowjetische Volk unerwartet kam. Die Fehler bei der Einschätzung der Lage und der Mangel an Verständnis für die in Europa ablaufenden Prozesse führten in der Sowjetunion zu falschen Schlußfolgerungen und Aktivitäten in der internationalen Arena sowie im Lande selbst. Die mit gewaltigem politischem und moralischem Aufwand erreichten Vorteile, den Eintritt der UdSSR in den Krieg hinauszuschieben, wurden durch die groben, verhängnisvollen Fehler am Vorabend des Großen Vaterländischen Krieges zunichtegemacht. Ständig bemüht, andere von der Richtigkeit seiner Einschätzung der politischen Lage zu überzeugen, erwies sich Stalin außerstande, die Fakten in der komplizierten Situation der Vorkriegsmonate objektiv zu analysieren. Er vermochte nicht, jene Möglichkeiten, die sich aus dem Nichtangriffspakt ergaben, zu nutzen und das Ruder der Staatsführung zur rechtzeitigen Abwehr der deutschen Aggression herumzureißen. Die eigenen Kalkulationen für unfehlbar und seine politische Intuition für fehlerfrei haltend, setzte Stalin den für das Land schicksalhaften Kurs bis zum Kriegsbeginn starrsinnig fort. Die Ernüchterung war grausam, die Fehler kolossal und der Preis, der vom Volk dafür entrichtet wurde, gewaltig. Die sowjetische Führung, die im Jahre 1939 vom weltumfassenden Kriegsbrand unberührt blieb, setzte damals alle Anstrengungen daran, die 22 Monate andauernde Atempause für die Vorbereitung des Landes auf die Verteidigung zu nutzen. Es wurde viel getan, aber bei weitem nicht alles. Die stalinistischen Repressalien, die Fehler in der Außenpolitik, die Versäumnisse bei der Reorganisierung der Armee und der Flotte richteten großen Schaden an und schwächten das Verteidigungspotential des Landes. Stalins Schuld aber ist größer. Sein Hauptvergehen bestand darin, in den Vorkriegsjahren eine PogromAtmosphäre im Lande erzeugt zu haben, in der äußerst kompetente Fachleute, Professionalisten von hohem Rang auf verschiedenen Gebieten der Politik, Wirtschaft und des Militärwesens, die über ein überzeugendes dokumentarisch belegbares Faktenwissen verfügten, der Möglichkeit beraubt wurden, dem Staatsoberhaupt das Ausmaß der drohenden Katastrophe nachzuweisen, und keine Gelegenheit hatten, Maßnahmen zu ihrer Abwendung zu ergreifen. So etwas wird von der Geschichte nicht verziehen. Das wurde durch die Tragödie im Sommer 1941 bestätigt.

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Warum brauchte Hitler einen Nichtangriffspakt mit Stalin?

Das politische System, das in der Sowjetunion mehr als 70 Jahre herrschte, hatte die historische Wissenschaft in eine äußerst schwierige Situation gebracht. Sie büßte in bedeutendem Maße ihre wichtigste Funktion ein — die der Forschung. Dies war deshalb geschehen, weil die Geschichtsforschung zu einer rechtlosen Dienerin der herrschenden Ideologie und des von ihr bedienten totalitären Regimes herabgewürdigt worden war. Diese Tatsache hatte sich auf die Beleuchtung verschiedener Aspekte der Geschichte, in erster Linie der nach 1917, äußerst verhängnisvoll ausgewirkt und das Bewußtsein mehrerer Generationen von Bürgern der UdSSR weitestgehend, wenn nicht sogar in entscheidendem Maße, deformiert. Die in der sowjetischen Geschichtsschreibung praktizierte Darstellung von Problemen der Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges, der Außenpolitik der UdSSR in den 30er Jahren und ganz besonders des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes vom 23. August 1939 hatte nicht nur sittliche, sondern auch, wie mittlerweile vielen klar ist, bedeutsame politische Folgen von äußerst negativem Charakter. Im Verlaufe der Jahrzehnte nach dem Krieg waren die obengenannten Problemkreise in der UdSSR für eine wissenschaftliche Erforschung praktisch vollkommen tabu, was einige Historiker selbstverständlich nicht daran hinderte, Monographien und Artikel über die Außenpolitik der UdSSR und des Dritten Reiches, über die internationalen Beziehungen in den 30er Jahren und sogar über die deutsch-sowjetischen Beziehungen zu veröffentlichen, obwohl die Darstellung der letzteren ein ausgesprochen hohes Können in Sachen Geschichtsfälschung erforderte. Von Diskussionen, die die Geschichte der Außenpolitik der UdSSR berührten, konnte keine Rede sein. Diese Politik wurde als untadelig dargestellt, da sie ja, dem offiziellen Dogma zufolge, nicht von einzelnen Personen ausgearbeitet wurde, die sich, zumindest theoretisch, irren konnten, sondern von dem kollektiven Geist des Zentralkomitees der »fortschrittlichsten und bewährtesten politischen Partei«. Fehler waren also ausgeschlossen, Debatten darüber ebenfalls. Die offiziellen Bewertungen der Vorgänge von 1939, die in der Broschüre »Fal'sifikatory istorii« (Geschichtsfälscher)1 enthalten waren, blieben für einige Generationen sowjetischer Geschichtswissenschaftler verbindlich und wurden von den meisten von ihnen im Verlaufe von Jahrzehnten als Direktive aufgefaßt. Seit vier Jahren ist in der sowjetischen Geschichtswissenschaft und Publizistik eine lebhafte und scharfe Diskussion rund um die Ereignisse von 1939 in Gang gekommen, und zwar im Zusammenhang mit deren 50. Wiederkehr, aber ganz besonders im Zusammenhang mit der Entwicklung der Lage im Baltikum. Sie hat schon die ersten Resultate ge1

Fal'sifikatory istorii: Istoriceskaja spravka, Moskau 1948.

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zeitigt: Es gibt eine Vielfalt von Konzepten; in die Erforschung wurden neue Fakten und sogar Dokumente einbezogen. Erschienen sind die ersten Bücher und Dokumentensammlungen, deren Inhalt auf die eine oder andere Weise auch von offiziellem Aktenmaterial geprägt wurde, das die Kommission für die politische und rechtliche Bewertung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags vom 23. August 1939 vorbereitet hatte und das im Dezember 1989 auf dem 2. Kongreß der Volksdeputierten der UdSSR gebilligt worden war 2 . Zugleich sollte man die Leistungen auf diesem Gebiet nicht zu hoch einschätzen — sie hätten viel gewichtiger sein können. Jeder Schritt auf dem Weg zur Wahrheit, die Annäherung an den weltweiten Standard der Erforschung dieses Problems ist mit enormen Schwierigkeiten verbunden. Dies erklärt sich in erster Linie dadurch, daß konservative Historiker und Funktionäre unterschiedlicher Ebenen und mitunter auch ganze Dienststellen buchstäblich titanische Anstrengungen unternahmen, um die Ausweitung der Glasnost' auf die Erforschung der Geschichte der Außenpolitik der Sowjetunion zu verhindern. Wie sieht nun die Situation auf diesem Gebiet der Forschungsaktivitäten der sowjetischen Geschichtswissenschaft jetzt aus? Ende 1989 wurde eines der ältesten Bollwerke der Fälschung in der sowjetischen Historiographie zerstört, als offiziell, auf der Ebene der schon erwähnten Kommission des obersten Gesetzgebungsorgans des Landes, die Existenz geheimer deutsch-sowjetischer Vereinbarungen über die Aufteilung Europas in »Interessensphären« als organischer Bestandteil des Nichtangriffspaktes vom 23. August 1939 zugegeben wurde. Ich will nicht auf den Inhalt dieses Dokuments eingehen, das von der Kommission unter Aleksandr N . Jakovlev vorbereitet wurde, dessen Unvollständigkeit und Begrenztheit augenscheinlich sind und das, wie zu hoffen steht, auch Gegenstand wissenschaftlicher Analyse sein wird. Nichtsdestoweniger steht die positive Rolle dieses Dokuments außer Zweifel. Zwar besteht dessen Relevanz vermutlich nicht einmal darin, daß es (wie es am Anfang schien) dem endlosen Strom der von sowjetischen offiziellen Instanzen und von nicht weniger offiziellen Historikern verbreiteten Lügen in einer für die gesamte restliche Welt längst augenscheinlichen Angelegenheit ein Ende setzen sollte. Sein Hauptverdienst liegt vielmehr in der Stärkung der Positionen jenes Teils der sowjetischen Historiker, die man eben doch nicht vollständig dazu bringen konnte, Antworten auf entstehende Fragen statt in den Weisungen »von oben« lieber in Dokumenten zu suchen. Nun erhielten diese Historiker die Möglichkeit, freier über diese Probleme zu schreiben. Möglicherweise ist eine solche Situation aus der Sicht eines westlichen wissenschaftlichen Denkens nur schwer verständlich. Man sollte jedoch nicht vergessen, daß das totalitäre Regime in der UdSSR noch Mitte der 80er Jahre existiert hat und daß die sowjetische Gesellschaft sich erst im Anfangsstadium der posttotalitären Entwicklung befindet. Kraft dieser seiner Rolle geht das Dokument der Jakovlev-Kommission den eifrigen Verfechtern der Sterilität in der Geschichte der letzten 70 Jahre unseres Landes zunehmend gegen den Strich. Tonangebend sind dabei natürlich immer die hohen Militärs gewesen. So erklärte der ehemalige Verteidigungsminister der UdSSR, Dmitrij Jasov, in einer Sit2

Izvestija, 26.12.1989.

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zung des Hauptredaktionskollegiums der zehnbändigen Ausgabe »Der Große Vaterländische Krieg des sowjetischen Volkes«, die »Ereignisse von 1939, der Pakt RibbentropMolotov« seien »nicht so auszulegen, wie es Jakovlev tat« 3 . Und ein anderer ranghoher Militär, Armeegeneral Michail Gareev, resümierte in einem Kommentar zur Entscheidung des obersten Gesetzgebungsorgans des Landes anläßlich des Berichts der JakovlevKommission mit rührender Sorge um wissenschaftliche Objektivität: »Der Beschluß des Obersten Sowjets der UdSSR ist für die Wissenschaft keine Direktive4.« Nun, diesem Argument kann man nur zustimmen. Will man jedoch konsequent bleiben, dann muß man im Rahmen wissenschaftlicher Forschung ebenso entschlossen die Meinung jeder Amtsperson beiseite schieben, die mit der Wissenschaft nichts zu tun hat, ob es sich nun um den Präsidenten, den Verteidigungsminister oder auch jemand anderen handelt. Die Wissenschaft muß sich auf Fakten, Dokumente und Hypothesen stützen und nicht auf Meinungen dieser oder jener Träger der Staatsmacht. Die Entwicklung der letzten Jahre zeugt davon, daß es noch verfrüht wäre, von radikalen Veränderungen dieser Art in der sowjetischen Geschichtswissenschaft zu sprechen. Die gut arrangierte Kampagne gegen Generaloberst Volkogonov und das vor kurzem noch von ihm geleitete Autorenkollektiv der zehnbändigen Geschichte des »Großen Vaterländischen Krieges des sowjetischen Volkes« in der neobolschewistischen Periodik legen davon beredt Zeugnis ab5. Die konservativen Historiker, bei denen es sich mitunter um Fachleute von recht hohem intellektuellem Niveau handelt, und die hinter ihnen stehenden zivilen und militärischen Funktionäre, die sich in der Regel durch verblüffende Ignoranz auszeichnen, klammern sich nicht nur an alle, offensichtlich überlebten Klischees, sondern bringen auch neue »Konzeptionen« hervor, um, auf welche Weise auch immer, sich der veränderten gesellschaftlichen Atmosphäre anzupassen. Doch sie bleiben dabei Anhänger der alten Methoden der »Forschung« — von dem a priori vorgegebenen Ergebnis bis hin zur Auswahl geeigneter Fakten und Dokumente für dessen Bestätigung. Im Folgenden werden einige der am meisten verbreiteten Beispiele sowohl für die eine als auch für die andere Tendenz aufgezeigt. Unter den alten Klischees befinden sich auch weiterhin die Thesen von einer für die Sowjetunion »real« existierenden Gefahr des Krieges an zwei Fronten im Jahre 1939 und von dem angeblichen Gewinn von 22 Monaten als Ergebnis des Abschlusses des deutsch-sowjetischen Pakts6. Zu den konservativen »Innovationen« der Perestroika-Zeit gehört die These von der in der gesamten Nach-München-Periode bis hin zum 23. August 1939 zunehmenden internationalen Isolierung der 3

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Pravda ο vojne oni nam ne otdadut: Generaly opredeljajut, cto sovetskie ljudi dolzny znat' ο Velikoj Otecestvennoj vojne, a cto ne dolzny (Stenogramma zasedanija G R K 10-tomnogo truda »Velikaja Otecest vennaja vojna sovetskogo naroda«, 7 . 3 . 1 9 9 1 , Nezavisimaja gazeta, 1 8 . 6 . 1 9 9 1 . Ebd. Vopreki istoriceskoj pravde: Beseda s marsalom Sovetskogo Sojuza Sergej F. Achromeevym, in: Voenno-istoriceskij zurnal, (1991) 4, S. 29—35; I. Malevic, Pervyj tom — ne ο torn: kak pisetsja nyne istorija Velikoj Otecestvennoj vojny, in: Sovetskaja Rossija, 1 3 . 6 . 1 9 9 1 . Anatoli) S. Jakusevskij, Sovetsko-germanskij dogovor ο nenapadenii: Vzgljad cerez gody, in: Voprosy istorii KPSS, (1988) 8, S. 93 f.

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UdSSR7. Die Haltlosigkeit dieser Behauptung ist allein schon deshalb augenscheinlich, weil sowjetische Diplomaten seit dem Frühjahr 1939 »an vielen Tischen« Verhandlungen geführt hatten. Nicht weniger populär ist die These einer massiven deutschen Initiative, die angeblich über die sowjetische Führung hereingebrochen war und diese nahezu gezwungen hatte, den »schweren Entschluß« zu fassen8. Diese letztere Hypothese, die bei sowjetischen Orthodoxen stets großen Erfolg hatte, erhielt in jüngster Zeit überaus energische Unterstützung seitens des Westens in der Gestalt des umfänglichen Buches von Ingeborg Fleischhauer: »Der Pakt. Hitler, Stalin und die Initiative der deutschen Diplomatie« 9 . An dieser Stelle ist es nicht möglich, die Position von Frau Fleischhauer zu analysieren, es sei lediglich angemerkt, daß das Buch in russischer Sprache knapp ein halbes Jahr nach dem Erscheinen der deutschen Ausgabe mit einem kurzen Vorwort des damaligen Sekretärs des Zentralkomitees der KPdSU, Valentin Falin, erschienen ist, der diese Monographie ein »Standard-Werk« nannte10. So etwas ist für die sowjetische Historiographie selbst in der Zeit der Perestroika etwas Einmaliges! Überaus kennzeichnend ist auch, daß dieses Lob für das Werk einer westlichen Historikerin von einem sowjetischen Parteifunktionär stammt, der große Anstrengungen darauf verwendete, die Frage nach den Geheimprotokollen bis zu den »griechischen Kaienden« aufzuschieben11, der in der Arbeit der Jakovlev-Kommission keineswegs eine konstruktive Rolle gespielt und der zumindest bis zu den August-Ereignissen von 1991 in der Bewertung der Geschichte der Vorkriegszeit ultrakonservative Positionen eingenommen hatte, vom Ausschluß eines breiten Kreises von Historikern vom Zugang zu Archivdokumenten ganz zu schweigen. Falin war übrigens Schöpfer einer der Mythen der sowjetischen Geschichtsschreibung, demzufolge der Zweite Weltkrieg nicht erst am 1. September 1939, sondern nahezu acht Jahre zuvor, mit dem Uberfall Japans auf die Mandschurei begonnen hat.12 (Nicht einmal die Autoren des »Kurzen Lehrgangs« der Geschichte der VKP(b) — später KPdSU — waren so weit gegangen13.) Auf dieser These beruht auch Falins Auslegung der Vorgänge von 1939 — die sowjetische Führung traf demnach ihre Entscheidung über den Vertrag mit Deutschland unter den Bedingungen des längst ausgebrochenen Zweiten Weltkrieges, was die Beschlußfassung als solche ungemein erschwerte14. Fazit: Wir sollten gegenüber Stalin und seinen Kollegen Nachsicht walten lassen ... Diese Gegenangriffe militärischer und ziviler Generale, die »aus den Schützengräben« gestiegen sind, erscheinen durchaus gesetzmäßig. Sie zielen darauf, auch in einer Situation, 7

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German L. Rozanov, Stalin — Gitler: Dokumental'nyj ocerk sovetsko-germanskich diplomaticeskich otnosenij 1939—1941, Moskau 1991, S. 104. 1939 god: Uroki istorii, Otv. red. Oleg A. Rzesevskij, Moskau 1990, S. 323, 328, 341. Ingeborg Fleischhauer, Der Pakt. Hitler, Stalin und die Initiative der deutschen Diplomatie 1938—1939, Berlin, Frankfurt a.M. 1990. Valentin M. Falin, Vstupitel'noe slovo, in: Ingeborg Flejsgayer (Ingeborg Fleischhauer), Pakt, Gitler, Stalin i iniciativa germanskoj diplomatii, 1938—1939, Moskau 1991, S. 9. Moskovskie novosti, 4 . 9 . 1 9 8 8 . »Kruglyj stol«: Vtoraja mirovaja vojna — istoki i priciny, in: Voprosy istorii, (1989) 6, S. 4. Istorija Vsesojuznoj Kommunisticeskoj partii (bolsevikov). Kratkij kurs, Moskau 1938, S. 318. Ebd., S. 8.

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da die Gesellschaft erst begonnen hat, sich vom totalitären Syndrom zu erlösen, die Vorzüge dieses letzteren unter Beweis zu stellen, sei es auch nur, um im Bereich der Außenpolitik um jeden Preis den Mythos von ihrem friedliebenden Charakter und damit auch die entscheidende These vom Fehlen einer Alternative für den außenpolitischen Kurs der sowjetischen Führung im Vorfeld und zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zu verteidigen. Es wäre selbstverständlich falsch, die heutigen Gegebenheiten hinsichtlich der sowjetischen Historiographie der Ereignisse von 1939 allein unter dem Blickwinkel einer gewissen neokonservativen Renaissance zu betrachten. Denn auch die Neokonservativen selbst sind, soweit es sich nicht um aggressiv-unwissende Leute handelt, gezwungen, unter dem Druck von Dokumenten einige Positionen »aufzugeben«. Gerade deshalb hat sich jetzt der Kampf um die Möglichkeit zugespitzt, Zugang zu Archiven zu erhalten. Für die Neokonservativen hängt von dem Ausgang dieses Kampfes praktisch in hohem Maß die Möglichkeit ab, wenn schon nicht ein gewisses Ansehen, so doch wenigstens bestimmte Positionen in der Wissenschaft und auf Kosten der Wissenschaft zu bewahren. Zugleich gewinnt allmählich jene Richtung der Forschung an Gewicht, deren Vertreter im Verlauf der Wandlungen im gesellschaftlichen Leben der Sowjetunion endlich die Möglichkeit erhielten, ihre Ansichten und Einschätzungen bezüglich der Ereignisse von 1939 mehr oder weniger offen darzustellen, die sich von der bislang vorherrschenden offiziellen Auffassung grundsätzlich unterschieden15. Innerhalb dieser Richtung existiert ein gewisses Spektrum an Meinungen, doch im Wesentlichen sind sich ihre Vertreter einig, wenn sie für eine vollständig freie Erforschung der sowjetischen Außenpolitik, für einen durch nichts eingeschränkten Zugang zu den Archiven und für weitestgehende Auswertung der Erkenntnisse der internationalen historischen Forschung eintreten. Aus dieser Skizze der Situation in der sowjetischen Historiographie hinsichtlich der Ereignisse von 1939 könnte sich der Eindruck ergeben, daß sich die wissenschaftliche Kräftekonstellation keineswegs zugunsten der Vertreter der »kritischen Richtung« gestaltet. Dies ist tatsächlich der Fall, und es ist vermutlich auch nicht weiter verwunderlich. Klischees, die zusätzlich durch »rührende Sorge« um das »Ansehen des Vaterlandes« untermauert werden, sind sehr zählebig. Die Auslese sowjetischer Historiker für leitende Positionen — in Zeitschriften und in großen und kleinen Forscherkollektiven — war in der Regel nie mit Kriterien wie Talent, wissenschaftliche Effektivität, Schaffung eigener wissenschaftlicher Schulen und Richtungen verbunden gewesen. Diese Selektion basierte auf

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Vgl. Vjaceslav I. Dasicev, Pakt Gitlera — Stahna: M i f y i real'nost', in: Istoriki otvecajut na voprosy, Moskau 2 1990, S. 262—273; ders., Planungen und Fehlschläge Stalins am Vorabend des Krieges — der XVIII. Parteitag der KPdSU(B) und der sowjetisch-deutsche Nichtangriffspakt, in: 1939 — an der Schwelle zum Weltkrieg: Die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges und das internationale System. Die internationale Konferenz zum 50. Jahrestag des 1. September 1939, hrsg. von Klaus Hildebrand u.a., Berlin, New York 1990, S. 303—314; M. Semirjaga, Sgovor dvuch diktatorov, in: Istorija i stalinizm, Moskau 1991, S. 200—226; ders., Tajny stalinskoj diplomatii 1939—1941, Moskau 1991; Sergei) Ζ. Slue, Vnesnepoliticeskoe obespecenie pol'skoj kampanii i Sovetskij Sojuz, in: Mezdunarodnye otnosenija i strany Central'noj i Jugo-Vostocnoj Evropy ν nacale Vtoroj mirovoj vojny (sentjabr' 1939 - avgust 1940), Moskau 1990, S. 8 - 3 8 .

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ganz anderen »Voraussetzungen« — entscheidend waren vor allem Mittelmäßigkeit und parteiideologischer Konformismus, was praktisch uneingeschränkte Möglichkeiten für Manipulationen bot. Ausnahmen von dieser Grundregel hatten Seltenheitswert und bestätigten lediglich die Gesetzmäßigkeit der allgemeinen Tendenz. Es ist nur zu natürlich, daß die Mehrzahl solcher Leute bis heute formell, d. h. vor allem durch ihre Posten, recht einflußreiche Positionen in der sowjetischen Geschichtsforschung bewahrt haben, obwohl sie, was ihr geistiges Niveau und ihr wissenschaftliches Potential betrifft, faktisch schon lange den Anschluß an das moderne Niveau des Wissens verloren haben. Jedoch ist selbst ein »nackter König« immer noch ein König ... Deshalb wird auch die Polemik in der sowjetischen Geschichtsschreibung, insbesondere zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges, noch lange anhalten und in scharfer Form verlaufen. Wenn von der heutigen sowjetischen Darstellung der Ereignisse von 1939 die Rede ist, kann man nicht das Problem des Zugangs zu Dokumenten, ganz besonders zu sowjetischen Dokumenten, ausblenden. Die Situation in diesem Bereich bleibt leider unbefriedigend. Seit 15 Jahren kann der 22. Band der Reihe »Dokumente der Außenpolitik der UdSSR«, der den Vorgängen von 1939 gewidmet ist, nicht erscheinen. Die 1990 vom Amt für die Geschichte der Diplomatie des Außenministeriums der UdSSR herausgegebene zweibändige Sammlung »God krizisa, 1938—1939« (Das Jahr der Krise)16 hinterläßt einen recht zwiespältigen Eindruck. Von den 631 Dokumenten und weiteren Papieren wurden lediglich 146 zum erstenmal veröffentlicht, also weniger als 25 Prozent der gesamten Anzahl. Hinzu kommt, daß die meisten Dokumente keineswegs von vorrangiger Relevanz sind. So nehmen in dieser Sammlung diplomatische Dokumente aus dem »Zentrum« nur einen unbedeutenden Platz ein, die so oder anders den »Instruktionen« zugerechnet werden können. Dabei sind für die Zeit, da noch Litvinov den Posten des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten bekleidete, also bis zum 3. Mai 1939, 45 solche »Instruktionen« veröffentlicht worden und für die Zeit vom 5. Mai bis 4. September 1939 lediglich 13. Von dieser geringen Anzahl von Direktiven aus dem »Jahr der Krise« waren lediglich neun für sowjetische Vertreter in Deutschland bestimmt, was der Entwicklung der Beziehungen zwischen beiden Staaten keineswegs angemessen ist. Letzteres bekräftigt ein übriges Mal, daß diese Veröffentlichung keineswegs zur wissenschaftlichen Literatur gerechnet werden kann: Die Auswahl der Dokumente hat recht selektiven und zielgerichteten Charakter, viele von ihnen wurden gekürzt veröffentlicht usw. usf. Einen besseren Eindruck hinterläßt der Sammelband über die Beziehungen der UdSSR zu den baltischen Staaten von August 1939 bis August 1940, »Polpredy soobscajut ...« (Die Bevollmächtigten Vertreter berichten ...)17, der gleichfalls vom Außenministerium der UdSSR vorbereitet wurde. Er enthält hauptsächlich bislang unveröffentlichte Dokumente aus Archiven. Aber auch diese Ausgabe ist mit einer Reihe der schon erwähnten 16

17

God krizisa, 1938—1939: Dokumenty i materialy, Bde 1—2, Ministerstvo inostrannych del (MID)SSSR, Moskau 1990. Polpredy soobscajut...: Sbornik dokumentov ob otnosenijach SSSR s Latviej, Litvoj i Estoniej. Avgust 1939 - avgust 1940, MID SSSR, Moskau 1990.

Warum brauchte Hitler einen Nichtangriffspakt mit Stalin?

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Mängel behaftet, die ganz besonders ins Auge stechen, wenn es um die kritischen Tage in den Beziehungen zwischen der UdSSR und Lettland, Litauen und Estland geht. Somit haben die Forscher zweifelsohne gewisse zusätzliche Informationen zur Analyse der Außenpolitik der UdSSR und der internationalen Beziehungen im Vorfeld und in der Anfangsperiode des Zweiten Weltkrieges erhalten, doch auch in diesem Fall, was ebenso ins Auge fällt, in offenkundig unzureichendem Umfang und in präparierter Form. Was indes die eigentliche Möglichkeit zur Arbeit in entsprechenden behördlichen Archiven — des Außenministeriums, des Verteidigungsministeriums usw. — anbetrifft, so war die Situation bis in die jüngste Zeit hinein wenig erfreulich. Die Ereignisse des August 1991 in der Sowjetunion haben der Lage der staatlichen Archive neue positive Elemente hinzugefügt. Man darf jedoch nicht die Illusion hegen, die sowjetischen Archive würden in den nächsten Monaten oder sogar Jahren der Forschung auf eine Weise zugänglich sein, wie es nach internationalen Normen üblich ist — und zwar nicht nur formell. Auf diesem Gebiet haben sich viel zu viele objektive und subjektive Probleme angestaut. Deshalb möchte ich zunächst eine Methode vorschlagen, die Schritte der sowjetischen Führung Ende der 30er Jahre auf internationaler Ebene zu erforschen. Es gibt den methodischen Ansatz, die Handlungsweise eines Rechtssubjekts auf internationaler Ebene indirekt zu beurteilen, nämlich vermittels der Untersuchung der Absichten und Handlungen seines Gegenspielers. Im voratomaren Zeitalter konnte man, wie sehr wohl bekannt ist, das Zusammenwirken solcher Gegnerstaaten als »Nullsummenspiel« bezeichnen. Dabei darf als objektiv erwiesen gelten, daß die UdSSR und Deutschland trotz aller außenpolitischen Verwirrungen Gegner waren und blieben. Unter einem »Nullsummenspiel« wird verstanden, daß der Gewinn der einen Seite einen entsprechenden Verlust bei der anderen Seite bedeutet. Mit Hilfe dieser Methodik läßt sich auch über den deutsch-sowjetischen Pakt ein ausgewogenes Urteil fällen. Dazu sind folgende Überlegungen erforderlich: Warum brauchte Hitler eigentlich diesen Pakt? Konnte das Dritte Reich aus diesem Abkommen auch nur den geringsten Profit schlagen? Oder ließ man sich in Berlin damals von rein altruistischen Erwägungen leiten? Die Theorie des »Nullsummenspiels« ist somit einer jener Wege, auf dem die sowjetischen Geschichtsforscher provisorisch den jahrelangen »Archivalien-Hunger« bei der Erforschung der Ereignisse von 1939 überwinden können. Trotz des Anschlusses Österreichs, der Einverleibung des Sudetenlandes und der Eroberung Böhmens und Mährens blieb die außenpolitische Situation des Dritten Reiches im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges nicht unkompliziert, wenngleich die genannten Eroberungen die strategische Lage und das rüstungswirtschaftliche Potential Deutschlands unter dem NS-Regime wesentlich verbessert hatten. Für solche Komplikationen gab es mehrere objektive wie subjektive Ursachen. Unter den ersteren wären die folgenden zu nennen: die schon von jeher »ungünstige« geostrategische Lage Deutschlands in der Mitte Europas, derentwegen dieses Land über mehrere Jahrhunderte den eventuellen Zusammenschluß seiner Gegner in Kauf nehmen mußte. Dies bedeutete die Gefahr, mindestens an zwei Fronten gleichzeitig kämpfen zu müssen. Dann die beschränkte Rohstoffund Materialbasis sowie die Abhängigkeit des Landes von Importen wichtiger strategischer Rohstoffe und Lebensmittel. Ins Gewicht fielen noch weitere Faktoren. Hinzu tra-

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ten wichtige subjektive Momente, beispielsweise die Wahl der weiteren strategischen Stoßrichtung. Im Hinblick darauf konnte das Problem Polen als weiteres Angriffsziel von Berlin nicht automatisch gelöst werden. Polen hatte nie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des außenpolitischen Programms des Führers gestanden, obwohl die Bedeutung dieses Landes bei der Lösung dieser oder jener von Hitler gestellten Aufgaben von Zeit zu Zeit auch jäh zunahm. Die Haltung Berlins zu Warschau hing nicht allein von dem Grad der Bereitschaft der herrschenden polnischen Elite ab, den außenpolitischen Kurs Deutschlands zu unterstützen, sondern auch von der allgemeinen Konfiguration der Beziehungen des Dritten Reiches zum Westen. Ende 1938 bis Anfang 1939 konstatierte die NS-Führung nicht ohne Verwunderung, daß die polnische Regierung nicht bereit war, dem Reich Danzig und die volle Kontrolle über die strategisch wichtigen Verkehrswege durch den polnischen Korridor zu überlassen — als Garantie für wohlwollende Neutralität Warschaus im Hinblick auf den Krieg gegen die Westmächte, den Berlin beabsichtigte. Ungeachtet des auf sie im Verlaufe einiger Monate ausgeübten starken Drucks entschloß sich die polnische Regierung im Frühjahr 1939 erst recht, keine Zugeständnisse an Hitler zu machen: In jener Situation hatte sie nicht gewagt, die Degradierung ihres Landes auf das Niveau einer vasallischen Abhängigkeit von Deutschland in der Gegenwart gegen die Versprechungen einer Teilnahme an den antisowjetischen Plänen des Dritten Reiches in der Zukunft zu vertauschen. Im August 1939 charakterisierte Hitler die Lage wie folgt: »Ich faßte den Entschluß bereits im Frühjahr, dachte aber, daß ich mich zunächst in einigen Jahren gegen den Westen wenden würde und dann erst gegen den Osten [...]. Ich wollte zunächst mit Polen ein tragbares Verhältnis herstellen, um zunächst gegen den Westen zu kämpfen. Dieser mir sympathische Plan war aber nicht durchführbar, da sich Wesentliches geändert hatte. Es wurde mir klar, daß bei einer Auseinandersetzung mit dem Westen Polen uns angreifen würde 1 8 .«

Die außenpolitische Absicherung der polnischen Kampagne Schloß für Hitler die Lösung von zwei Grundfragen ein, nämlich: den Abschluß eines dreiseitigen Beistandspaktes zwischen der UdSSR, England und Frankreich zu verhindern und die Westmächte, vor allem Großbritannien, von einem Eingreifen in den Krieg im Osten abzuhalten. In einer Situation, da in Berlin die Einmischung der Westmächte in einen deutsch-polnischen Krieg nicht ausgeschlossen werden konnte, erlangte die Position der Verbündeten des Reichs aus dem Anti-Komintern-Pakt — Italien und Japan — besondere Bedeutung. In diesem Zusammenhang intensivierte Deutschland die Verhandlungen zur Stärkung der Achse Berlin-Rom-Tokio und strebte die Bildung nicht bloß eines politischen, sondern auch eines militärischen Bündnisses an, in dem jeder Partner bestimmte Verpflichtungen für den Fall eines Krieges in Europa eingehen würde. Diese Bemühungen brachten jedoch keine spürbaren Resultate. Der am 22. Mai signierte »Stahlpakt« mit Italien garantierte keineswegs die Teilnahme dieses Landes am Krieg in allernächster Zeit. Die Führung Japans widersetzte sich im Sommer 1939 dem Abschluß eines gegen England und Frankreich gerichteten militärischen Abkommens. 18

A DA P D VII, Dok 192, S. 168.

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All dieser Umstände wegen war die Diplomatie des Deutschen Reiches außerstande, im Vorfeld des Polenfeldzuges ernsthafte Bedrohungen vor allem für die Peripherie Großbritanniens zu schaffen. Das Problem der Isolierung Polens blieb in vielerlei Hinsicht ungelöst. So sah ganz allgemein die internationale Situation Deutschlands aus, als sich Hitler Ende Juli (vermutlich zwischen dem 24. und 26. Juli) 19 für den Pakt mit der Sowjetunion entschied. Die Einsätze in dem begonnenen politisch-diplomatischen Spiel mit Moskau waren ausgesprochen hoch, und deshalb geizte die deutsche Seite nicht mit Versprechungen. Am 2. August erklärte v. Ribbentrop gegenüber dem Geschäftsträger der UdSSR in Deutschland, Georgij A. Astachov, das Reich sei bereit, einer Abgrenzung der Interessen beider Mächte »auf dem gesamten Gebiet vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee«20 zuzustimmen. In seinen Kommentaren zu diesem und zu ähnlichen Angeboten informierte Astachov den Volkskommissar des Äußeren, Molotov, die Deutschen seien »offenbar besorgt wegen unserer Verhandlungen mit den englischen und französischen Militärs und scheuen keine Argumente und weitestreichende Versprechungen, um ein eventuelles militärisches Abkommen zu verhindern. U m dieses Zieles willen sind sie jetzt meines Erachtens zu solchen Deklarationen und Gesten bereit, die vor einem halben Jahr als absolut ausgeschlossen erscheinen konnten« 2 1 .

Alle Treffen und Gespräche sowohl in Berlin als auch in Moskau hatten ihre bestimmte und wichtige Aufgabe. Während dieser Phase der Entwicklung der internationalen Lage wurden sie Ende Juli 1939 von deutscher Seite initiiert, um Moskau zu überzeugen, daß die sowjetische Führung unter anderem auch bei der Lösung des polnischen Problems im Fall einer Zusammenarbeit mit Berlin große Vorteile erzielen könne. Und tatsächlich blieben die Bemühungen der Diplomatie des Dritten Reiches nicht vergeblich. Im Vortrag der Jakovlev-Kommission wurde festgestellt, daß am 11. August 1939, d.h. am Vorabend des Beginns der militärischen Verhandlungen zwischen den Vertretern Englands, Frankreichs und der Sowjetunion, das Politbüro des ZK der KPdSU (B) den Beschluß gefaßt habe, »die von den Deutschen aufgeworfenen Fragen offiziell zu besprechen und darüber Berlin zu benachrichtigen«22. Meiner Meinung nach ist hier das Datum, der 11. August 1939, interessant, und zwar in dem Sinne, daß Stalin an diesem Tag sein altes Vorhaben als Beschluß des Politbüros durchgesetzt hat. Durch sein Spiel mit den Westmächten trieb Stalin Hitler wirklich in die Enge: Dieser hatte keine Chancen, die Lage zu seinen Gunsten zu verändern, es sei denn, es würde zu einem Abkommen mit der Sowjetunion kommen. Nun war Hitler bereit, für diese Vereinbarung einen sehr hohen Preis zu zahlen, einen viel höheren, als er de facto gezahlt hat. Darüber berichtete Astachov aus Berlin mit erstaunlichem Scharfsinn: 19

20

21 22

Dr. Karl Schnurre, Aus einem bewegten Leben. Heiteres und Ernstes, S. 76. Das nicht veröffentlichte Manuskript befindet sich im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn. Vgl. auch Fleischhauer (wie Anm. 9), S. 265 f. Der Geschäftsträger in Berlin, Georgij A. Astachov, an das Narkomindel vom 3 . 8 . 1 9 3 9 , in: God krizisa (wie Anm. 16), B d 2 , Dok. 523, S. 158. Ebd., Dok. 541, S. 185 (Brief an Molotov vom 12.8.1939). Abgedr. in: 1939 god (wie A n m . 8), S. 4 7 5 - 4 9 5 (Zit. S. 485).

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» D e r Verzicht auf das B a l t i k u m , Bessarabien und O s t p o l e n (ganz zu schweigen von der Ukraine) ist derzeit jenes M i n i m u m , in das die Deutschen o h n e viel Federlesens einwilligen würden, u m v o n uns Zusicherungen der N i c h t e i n m i s c h u n g in den K o n f l i k t mit Polen zu b e k o m m e n 2 3 . «

Jetzt durfte Moskau keine Zeit mehr verlieren: Einerseits wollte Stalin ausnutzen, daß Berlin — um sein Hinterland im bevorstehenden Krieg zu sichern — zum Pakt mit Moskau keine Alternative besaß, andererseits standen schon am Folgetag die Verhandlungen mit den westlichen Militärmissionen an, die in eine Sackgasse geführt werden sollten, ohne dies allzu durchsichtig erscheinen zu lassen. Die Kommission Jakovlevs kam zu der Folgerung, daß durch diesen Beschluß des Politbüros vom 11. August eine Grundlage für die Verhandlungen geschaffen wurde, und »am 15. August im Verlaufe des Treffens Molotov—Schulenburg haben die Verhandlungen begonnen 24 «. Hier ist es notwendig, etwas zu präzisieren, denn die obengenannten Treffen zwischen Molotov und v. d. Schulenburg in der Zeit vom 15. bis 21. August sind im eigentlichen Sinne des Wortes keine Verhandlungen gewesen. Obwohl das Niveau der Repräsentation auf diesen Treffen sehr verschieden war — der Botschafter einerseits und der Regierungschef andererseits —, traten sie beide, ganz besonders Molotov, nur als tüchtige Beamte hervor, die einander über die Vorhaben ihrer Diktatoren in Kenntnis setzten. Aber in dieser Zeit war die Phase der Sondierungen schon beendet, unter anderem auch, was das Schicksal Polens betraf: Stalin ergriff die Initiative, und dabei manipulierte er Molotov und den Leiter der sowjetischen Delegation, Marschall Vorosilov, geschickt. Letzteres ist ganz besonders deutlich erkennbar an dem Auftreten Molotovs während der beiden in ihrer Tonlage äußerst unterschiedlichen Begegnungen mit Schulenburg im Verlaufe des 19. August 193925 wie auch an dem kurzen und in seiner Lexik überaus aufschlußreichen Zettel, den Stalins Sekretär Poskrebysev Vorosilov vermutlich am 17. August zugeschickt hatte, da dieser in der Sitzung der Militärkommissionen Englands, Frankreichs und der UdSSR den Vorsitz führte. Der Zettel war völlig lakonisch formuliert: »Klim, Koba [Stalins Parteiname aus der Zeit der Illegalität; d. Verf.] hat gesagt, Du sollst mit dieser Dudelei Schluß machen 26 .« So wurden die Verhandlungen der drei Mächte in der militärischen Sphäre auf eine unverhohlene Art und Weise zum Scheitern gebracht. Für den Besuch Ribbentrops in Moskau leuchtete nun grünes Licht auf, was einmal mehr den machiavellistischen Charakter von Stalins außenpolitischem Kurs enthüllte, der bereits auf dem XVIII. Parteitag der KPdSU (B) im März 1939 formuliert worden war27. U m in dieser Hinsicht, und zwar ganz besonders bei den flammenden Verfechtern der sowjetischen Außenpolitik jener Periode und ihres Schöpfers, keine Zweifel aufkommen zu lassen, will ich mich auf Molotov berufen, der auf der Tagung des Obersten Sowjets der UdSSR am 31. August 1939 den unterzeichneten 23

G o d krizisa (wie A n m . 16), B d 2 , D o k . 541, S. 185 ( H e r v o r h e b u n g im Original).

24

Zit. nach: 1939 god (wie A n m . 8), S. 485.

" A D A P D VII, D o k . 132, S. 124f., u. D o k . 125, S. l l l f . D i e sowjetische Aufzeichnung dieser Gespräche enthält keinen Hinweis, daß das zweite Treffen an diesem Tag auf die Initiative Molotovs stattgef u n d e n hat. Vgl. G o d krizisa (wie A n m . 16), B d 2, D o k . 572, S. 2 7 4 - 2 7 6 (bes. S. 276). 26

Zit. nach: Voenno-istoriceskij z u m a l , (1988) 12, S. 59.

27

X V I I I s-ezd Vsesojuznoj Kommunisticeskoj partii (b). Stenograficeskij otcet, M o s k a u 1939, S. 12—15.

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deutsch-sowjetischen Pakt eine »historische Prophezeiung des Gen. Stalin« nannte, die sich »glänzend bewahrheitet hat«. Er unterstrich dabei, daß sie »in voller Ubereinstimmung mit den Beschlüssen des XVIII. Parteitages unserer Partei steht«28. Von der Entschlossenheit Hitlers und Ribbentrops, eine Ubereinkunft mit Stalin zu erzielen, zeugt auch die folgende Episode: In seinen Ende der 80er Jahre veröffentlichten Erinnerungen führt Konstantin Simonov die Aufzeichnung eines Gesprächs mit Marschall Vasilevskij im Jahre 1967 an. Er erzählt, daß das Flugzeug, mit dem Ribbentrop nach Moskau flog, von einer sowjetischen Fla-Batterie beschossen worden war. Jedoch hatte, so Vasilevskij, der der Kommission zur Untersuchung dieses Zwischenfalls angehörte, »weder Ribbentrop noch jemand aus seiner Begleitung, noch die Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Moskau irgendjemandem auch nur ein Wort über diesen Vorfall mitgeteilt«29. Dies konnte nur eines bedeuten: das unerschütterliche Bestreben der deutschen Seite, den Vertrag um jeden Preis und ungeachtet aller Hindernisse zu schließen. So kommentiert Simonov diese Information, und man kann ihm nur beipflichten. Ribbentrop hatte von Hitler freie Hand bekommen: Er war ermächtigt, in Moskau »jedes Angebot zu machen und jede Forderung anzunehmen«30. Diente dies einzig und allein dem Zweck, Polen zu isolieren und ein Eingreifen der Westmächte in den Krieg zu verhindern? Nicht nur. Hitlers Pläne reichten viel weiter. In einer Unterredung mit dem Hochkommissar des Völkerbundes in Danzig, Carl Jacob Burckhardt, am 11. August 1939 (nachdem er sich schon zugunsten eines Abkommens mit der UdSSR entschieden hatte) formulierte Hitler kurz und bündig sein Programm für die nächsten Jahre: »Alles, was ich unternehme, ist gegen Rußland gerichtet; wenn der Westen zu dumm und zu blind ist, um dies zu begreifen, werde ich gezwungen sein, mich mit den Russen zu verständigen, den Westen zu schlagen und dann nach seiner Niederlage mich mit meinen versammelten Kräften gegen die Sowjetunion zu wenden 3 1 .«

Wie aus diesem Programm ersichtlich — es enthält aber nichts grundsätzlich Neues im Hinblick auf die konsequente Verwirklichung bereits in der Mitte der 20er Jahre in »Mein Kampf« entworfener Aggressionen —, wurde der Sowjetunion die strategisch wichtige funktionale Rolle bei der Absicherung einer unbehinderten Zerschlagung der Westmächte, in erster Linie Frankreichs, zugewiesen. Ausgesprochen bedeutsam waren auch die ökonomischen Motive. Im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges fehlte es Deutschland an Lebensmitteln sowie an den wichtigsten Arten strategischer Rohstoffe, in erster Linie an Eisenerz und Buntmetallen, sowie an Flüssigbrennstoff und Kautschuk. Nicht von ungefähr wurde in allen Etagen der Kriegswirtschafts-Maschinerie des Dritten Reiches mit besonderer Aufmerksamkeit die Intensivierung der Kontakte zwischen der UdSSR und Deutschland im Sommer 1939 verfolgt; dort hoffte man, der Abschluß des Abkommens könne ermöglichen, den »nahezu unbe28 29

30 31

Pravda, 1 . 9 . 1 9 3 9 . Konstantin M. Simonov, Glazami celoveka moego pokolenija. Razmyslenija ο I.V. Staline, Moskau 1988, S. 447. A DA P D VII, Dok. 193, Anm. 1, S. 172. Carl Jacob Burckhardt, Meine Danziger Mission, 1937—1939, München 1960, S. 348.

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grenzten Bedarf an sowjetischen Rohstoffen«32 zu decken. Dieser »Bedarf« hing in erster Linie mit den Belangen der ihre Stärke intensiv ausbauenden Wehrmacht zusammen. In ihrer Entscheidung über den Abschluß eines Nichtangriffsvertrags mit der UdSSR berücksichtigten Hitler und Ribbentrop auch die wichtigen politisch-diplomatischen Auswirkungen dieses Abkommens, und zwar sowohl die aktuellen als auch die perspektivischen. Zählte zu den ersteren das Streben nach einer Isolierung Polens von den Westmächten und dieser letzteren von der UdSSR, so wurde für die keineswegs ferne Zukunft das Ziel anvisiert, nicht nur die Sowjetunion unwiderruflich von dem »antitotalitären Block« zu trennen, sondern auch, falls es möglich sein sollte, diese gegeneinander aufzuhetzen. Diesem Zweck sollten in gewissem Maße die Bedingungen der Geheimabkommen zu den Verträgen vom 23. August und 28. September 1939 dienen wie auch die wachsenden Lieferungen strategischer Rohstoffe aus der UdSSR. Gesetzt wurde auch auf den politisch-propagandistischen Effekt der Zusammenarbeit, die unter den Bedingungen der expandierenden Aggression Deutschlands in Europa auf die kommunistische Bewegung zwangsläufig eine hemmende und desorganisierende Wirkung haben mußte. So kühn Hitlers Kalkulationen aber auch gewesen sein mochten, der tatsächliche Gang der Ereignisse in der Periode nach dem 23. August 1939 übertraf in vielem seine Pläne und Erwartungen. Die endgültige Variante des Nichtangriffsvertrags mit der UdSSR schränkte die deutsche Aggression nicht im geringsten ein. Im Vertragstext fehlte ein Artikel, der das Recht einer Aufkündigung dieses Vertrages für den Fall vorsah, daß eine der vertragschließenden Seiten eine Aggression gegen einen dritten Staat unternehmen würde. Solche Artikel waren stets in den Nichtangriffsverträgen enthalten gewesen, die die Sowjetunion in den 30er Jahren geschlossen hatte (mit Italien, Lettland, Polen, Finnland, Frankreich und Estland); im Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten wurden sie schon »als unabdingbarer Bestandteil eines jeden Nichtangriffspaktes« angesehen33. Da der Kreml zum Zeitpunkt des Abschlusses des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages umfassend und, wie man so sagt, »aus erster Hand« über die Absichten des Dritten Reiches gegenüber Polen (Hitlers Botschaft an Stalin vom 20. August)34 informiert war, kann es nicht als Zufall angesehen werden, wenn in den Vertragstext kein diesbezüglicher Artikel aufgenommen worden war. Im Ergebnis der Unterzeichnung eben eines solchen Vertrags (mit uneingeschränkter Neutralität der beteiligten Seiten) sicherte Hitler nicht nur Deutschland von Osten her ab, sondern erwirkte auch die wohlwollende Neutralität der UdSSR; dies bedeutete für ihn Handlungsfreiheit gegenüber Drittländern, darunter auch jenen, mit denen die Sowjetunion Vereinbarungen besaß, die die Möglichkeit einer solchen Übereinkunft mit einem Aggressor ausschlossen. Aber die praktische Zusammenarbeit der Stalinschen Führung mit Deutschland in diesen ersten Wochen des Zweiten Weltkrieges, die gut bekannt ist, ging bedeutend weiter. Man kann die Haltung der Sowjetunion in der Periode vom Angriff des Deutschen ReiADAP D VI, Dok. 530, S. 608. Dokumenty i materialy po istorii sovetsko-pol'skich otnosenij, Moskau 1967, Bd 6, Dok. 107, S. 168 f. * A DAP D VII, Dok. 142, S. 131; God krizisa (wie Anm. 16), Bd 2, Dok. 582, S. 302. 32

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ches auf Polen bis zum 17. September 1939 als Nicht-Beteiligung am Kriege bei gleichzeitiger eindeutiger Unterstützung des Aggressors auf der internationalen Bühne bezeichnen. In diesen ersten Wochen des Zweiten Weltkrieges hat kein Staat der Welt eine derart aktiv wohlwollende Position gegenüber der Aggressionspolitik des Dritten Reiches eingenommen wie die Sowjetunion. Ihre Haltung kann man mit der Rolle eines nichtkriegsbeteiligten Verbündeten vergleichen. Im Verhältnis zu Polen zeigte sich der Irrationalismus des außenpolitischen Denkens der damaligen sowjetischen Führung wohl in größtem Maße. Derjenige Staat, an dessen Existenz die Sowjetunion objektiv, allein schon aus strategischen Erwägungen, in viel stärkerem Maße interessiert sein mußte als die Westmächte, bildete das Objekt pathologischen Hasses und imperialer Ambitionen Stalins. Davon zeugt unter anderem der Inhalt seiner vor kurzem bekannt gewordenen Unterhaltung mit dem Generalsekretär des Exekutivkomitees der Komintern, Georgij Dimitrov, am 7. September 1939. Bei diesem Gespräch sprach sich Stalin »für die Liquidierung Polens« aus, das er »einen faschistischen Staat nannte, der die Ukrainer und die Belorussen unterdrückt« 35 . A m 17. September drang die Rote Armee von der Westukraine und Westbelorußland aus in das Territorium Polens ein. An diesem Tag herrschte in Berlin eine gehobene Stimmung. Wie der Chef des Stabes beim Generalquartiermeister des Heeres, Eduard Wagner, in sein Tagebuch notierte: »Heute morgen um 6 Uhr sind die Russen angetreten ... Endlich! Für uns eine große Entlastung, erstens, wird uns die Weite des Raumes abgenommen, dann sparen wir eine Menge Besatzungskräfte, und endlich wird sich Rußland im Kriegszustand mit England befinden — wenn das der Engländer will. Die Liaison wird eine vollkommene 3 6 .«

Der Angriff, der am 17. September 1939 erfolgte, ergab sich somit folgerichtig aus dem Verhalten der UdSSR auf dem internationalen Schauplatz nach dem 23. August 1939. Geleitet von ihren imperialen Ambitionen, ging die Stalinsche Führung eine in ihrem Zynismus beispiellose Abmachung mit Hitler ein, wodurch sie die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges begünstigte. Dadurch, daß Stalins Regime am 17. September 1939 eine Aggression gegen Polen verübte, verwickelte sich die Sowjetunion de facto in den Zweiten Weltkrieg. Polen wurde zum ersten Opfer der gemeinsamen verbrecherischen Politik beider Diktatoren. Freilich, der Entschluß Hitlers zum Angriffskrieg gegen Polen stand außerhalb der deutsch-sowjetischen Vereinbarungen. Das Eindringen der sowjetischen Truppen in polnisches Territorium jedoch kann man aus dem geheimen Zusatzprotokoll direkt ableiten. Die Entwicklung der Ereignisse bis zum 28. September, als Warschau nach erbittertem Kampf kapitulierte und im Kreml ein neuer »Grenz- und Freundschaftsvertrag« von den Siegern unterzeichnet wurde, war eindeutig schon durch das deutsch-sowjetische Abkommen vom 23. August 1939 vorprogrammiert. Auf diese Weise erleichterte der Vertrag mit Stalin während des ersten Monats nach der Unterzeichnung der Wehrmacht die Durchführung des Polenfeldzuges, wenn auch nicht

35 36

Komintern i sovetsko-germanskij dogovor ο nenapadenii, in: Izvestija Z K KPSS, (1989), 12, S. 207. Eduard Wagner, Briefe und Tagebuchaufzeichnungen des Generalquartiermeisters des Heeres, hrsg. von Eduard Wagner, München, Wien 1963, S. 132 f.

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in entscheidendem Maße. Nachdem Hitler Stalins Hände in bezug auf Finnland freigemacht hatte, erntete Hitler die Früchte, die sich daraus ergaben, daß die Westmächte und die ganze Welt ihre Aufmerksamkeit auf diesen Konflikt konzentrierten. In derselben Zeit bereitete sich die Wehrmacht aktiv auf die Absicherung ihrer Nordflanke und hauptsächlich für die Zerschlagung Frankreichs vor. Der Vertrag mit Stalin stellte für Hitler eine nie dagewesene Möglichkeit dar, gegen die Westmächte einen Einfrontenkrieg zu führen, ohne Rücksicht auf Rückendeckung nehmen zu müssen. Man kann sich unschwer vorstellen, wie sich die Vorgänge an der Westfront im Frühjahr 1940 entwickelt hätten, wäre die Wehrmachtführung wegen fehlender Garantien einer freundschaftlichen Neutralität seitens der UdSSR gezwungen gewesen, an der Grenze zu dieser beträchtliche Kräfte bereitzuhalten. (In diesem Fall hätte der Feldzug im Westen länger dauern können, worauf Stalin sehr gehofft hatte.) Uber die entstandene Situation war man sich nicht nur in Berlin, sondern auch in Moskau völlig im klaren. Davon zeugt die Rede Molotovs auf der Tagung des Obersten Sowjets der UdSSR am 1. August 1940 beredt genug. Der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare ging auf die Bedeutung des deutschsowjetischen Nichtangriffsvertrags ein und unterstrich, dieses Abkommen, das unsere Regierung strikt einhalte, habe »die Möglichkeit von Reibungen in den deutsch-sowjetischen Beziehungen bei der Durchführung der sowjetischen Maßnahmen entlang unserer Westgrenze beseitigt und zugleich auch Deutschland ruhige Gewißheit gesichert«:17. Man muß weiterhin die politisch-ideologische Hilfeleistung von Seiten der Sowjetunion für die Aggression des nationalsozialistischen Deutschland und deren zerstörerischen Einfluß auf antifaschistische Kräfte in verschiedenen Ländern berücksichtigen. Die ersten Schritte in dieser Richtung hatte Stalin bereits vor der Unterzeichnung des Paktes in der Mitte des Sommers 1939 unternommen, um sozusagen eine »ideologische Brücke« zwischen der UdSSR und Deutschland zu schlagen. Wie sich Sof'ja P. Trunova, die viele Jahre in Stalinschen Konzentrationslagern verbringen mußte, erinnert, wurde am 13. Juli die in Moskau seit 1926 erscheinende antifaschistische »Deutsche Zentralzeitung« (seit August 1938 »Deutsche Zeitung«) geschlossen. Ihr Chefredakteur, Stratanitskij, und viele Mitarbeiter wurden verhaftet. Das alles war erst der Beginn der ideologischen Unterstützung des Nationalsozialismus und seiner Aggressionspolitik, jener Unterstützung, die in gewissem Maße sogar für Berlin überraschend kam. Die Lage in diesem Zusammenhang entwickelte sich in sehr hohem Tempo. Während Molotov auf der außerordentlichen Tagung des Obersten Sowjets der UdSSR am 31. August 1939 lediglich von kurzsichtigen Leuten gesprochen hatte, die »simplifizierte antifaschistische Agitation«38 betrieben, so nannte er es zwei Monate später vor dem gleichen Auditorium ein Verbrechen, »einen solchen Krieg zu führen wie den Krieg zur >Vernichtung des Hitlerismus«IzvestijaBarbarossa Vgl. Klink (wie Anm. 13), S. 228; für das folgende ebd., S. 201 f., 220. 17 Ebd., S. 219ff., sowie Der »Operationsentwurf Ost« des Generalmajors Mareks vom 5. August 1940, hrsg. von Ingo Lachnit und Friedhelm Klein, in: Wehrforschung, 1 (1972), S. 114—123. 14

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ren Überzeugung aus, daß es gelingen werde, die Masse der Roten Armee in dieser ersten Phase der Operation zu stellen und zu vernichten. Dann sollte der Angriff über die »Smolensker Landbriicke« in Richtung Moskau weitergeführt werden18. Andere Vorstellungen, die diesen Hauptstoß auf Moskau aus südwestlicher Richtung vorsahen, wurden verworfen. Seit dem 3. September 1940 war Generalleutnant Friedrich Paulus für die Fortführung und Ausgestaltung der operativen Planung verantwortlich. Das Ergebnis wurde in einem Planspiel in den ersten Dezembertagen getestet. Dabei stellte sich heraus, daß das von Halder vorgegebene Ziel in der zur Verfügung stehenden Zeit nur dann zu erreichen war, »wenn die beiden Heeresgruppen Süd und Nord ihre Hauptaufgabe darin sahen, den Flankenschutz der rasch vorstoßenden Heeresgruppe Mitte zu übernehmen« 19 . Halder trug am 5. Dezember den Operationsplan Hitler vor. O b und gegebenenfalls wie er das Ergebnis des Planspiels berücksichtigte, bleibt unklar. Hitler jedenfalls erklärte sich zunächst mit den Operationsabsichten einverstanden, entwickelte dann jedoch ein Szenario, das in wesentlichen Punkten von dem Plan Halders abwich. So sollten starke Teile der Heeresgruppe Mitte nach Norden einschwenken, um zusammen mit der Heeresgruppe Nord die im Baltikum stehenden sowjetischen Kräfte einzukesseln. Die Heeresgruppe Süd sollte mit ihrer Nordgruppe nach Süden einschwenken, um den Gegner in der Ukraine zu umfassen und zu vernichten. Mit anderen Worten: Moskau wurde zum nachrangigen Ziel, die Linie Archangelsk—Rostov am Don wurde gar nicht erwähnt. Hitler ging es in erster Linie um die Sicherung der Ostsee und der agrarischen sowie industriewirtschaftlichen Ressourcen der Ukraine. Es ist typisch für das Verhältnis zwischen militärischer Führung und Hitler, daß Halder keinen Versuch unternahm, um eine Klärung dieser doch zum Teil direkt gegensätzlichen Vorstellungen herbeizuführen. Die Ansichten Hitlers fanden ihren klaren Niederschlag in der Weisung Nr. 21 vom 18. Dezember, wobei Halder über den Chef des Wehrmachtführungsstabes, General der Artillerie Alfred Jodl, noch versuchte, auf einzelne Formulierungen Einfluß zu nehmen 20 . Der Gedanke, Hitler gewissermaßen durch die Hintertür durch interpretationsfähige Formulierungen in einer Weisung an ein ihm nicht genehmes Konzept binden zu können, trägt grotesk-beamtenhafte Züge. Da Halder trotz der Weisung an den Grundsätzen seiner operativen Planung festhielt, war der spätere Konflikt um den Kräfteansatz für die zweite Feldzugsphase vorprogrammiert. So war selbst auf dem sehr speziellen Feld der operativen Planung ein zwischen den verantwortlichen Institutionen einvernehmlich abgestimmtes Konzept nicht zustande gekommen, ganz zu schweigen von der gebotenen Koordination mit den anderen Bereichen einer modernen Kriegführung. Einer dieser Bereiche ist die Logistik, d. h. die Versorgung der Truppe mit allem, was für den Kampf und die Erhaltung der Kampfkraft notwendig ist, gewissermaßen die Voraussetzung für die Durchführbarkeit der operativen Zielsetzung. Auf diesem Felde lag die Planung in den Händen des Generalquartiermeisters im Generalstab des Heeres, des Generalmajors Wagner. Sie sah für die ausschlaggebende Heeresgruppe Mitte vor, daß

18

Vgl. Klink (wie Anm. 13), S. 2 1 9 - 2 2 3 , für das folgende ebd., S. 233 ff.

i» Ebd., S. 234f.; für das folgende ebd., S. 2 3 5 - 2 3 7 . 20

Ebd., S. 238 f.; zur Weisung vom 18.12.1940 vgl. »Unternehmen Barbarossa« (wie Anm. 1), S. 298—300.

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für den ersten Operationsabschnitt bis zum Erreichen der Dnepr—Dvina-Linie die Versorgung fast ausschließlich im Kraftwagentransport erfolgen sollte. Halder unterstrich die Bedeutung dieses Instruments für die Kriegführung mit dem Vermerk für einen Vortrag bei Hitler: »Kraftwagen muß alles leisten«. Dieser Grundsatz ist nicht in die Praxis umgesetzt worden, denn bei mehr als der Hälfte der gegen die Sowjetunion aufgebotenen Divisionen konnten die Nachschubkolonnen nicht motorisiert, sondern mußten mit Panjewagen und -pferden ausgestattet werden. Von dem vorhandenen motorisierten Transportraum wurde jeder Heeresgruppe 200001 sogenannter Großtransportraum zugewiesen, dessen Aufgabe es vor allem war, die zügig vordringenden motorisierten Verbände zu versorgen, insbesondere mit Betriebsstoffen und Munition. Trotz mancher Schwierigkeiten und unvorhergesehener Entwicklungen sind dann auch während dieser ersten Operationsphase gravierende Versorgungsengpässe nicht aufgetreten. Allerdings war die Kapazität des »Großtransportraums« Mitte Juli bei der Heeresgruppe Mitte bereits um 30 Prozent, bei der Heeresgruppe Süd gar um 50 Prozent gesunken21. Für die folgende Phase der Offensive war die Einrichtung einer Versorgungsbasis im Raum Minsk-Borisov vorgesehen, aus der heraus die Verbände der Heeresgruppe während des weiteren Vormarsches in derselben Weise mit Hilfe des Großtransportraums versorgt werden sollten. Voraussetzung hierfür war die rechtzeitige und ausreichende Auffüllung dieser Basis mit den entsprechenden Gütern. In Anbetracht des begrenzten motorisierten Transportraumes war dies nur mit Hilfe der Eisenbahn möglich. In der Realität erwies sich diese Aufgabe für die Bahn als undurchführbar 22 . Die Gründe hierfür sind mannigfaltig. Die Reichsbahn hatte sich von ihrem Niedergang im Ersten Weltkrieg und durch den Versailler Vertrag noch nicht erholt, die Forcierung der Motorisierung in den 30er Jahren hatte notwendige Investitionen verhindert. Die Reichsbahn verfügte im Herbst 1939 über weniger Lokomotiven und rollendes Material als im Jahre 1914. Im Rahmen ihres Einsatzes für die Versorgung des Ostheeres unterstand sie nicht dem Generalquartiermeister, sondern dem Chef des Wehrmachttransportwesens im Oberkommando der Wehrmacht. Die sich daraus ergebenden Reibungen haben die Durchführung der Aufgabe nicht erleichtert. Darüber hinaus wurde die Erwartung des Oberkommandos des Heeres auf eine erhebliche Beute an sowjetischem Eisenbahnmaterial nicht erfüllt. Den Sowjets war es gelungen, die Masse der Lokomotiven und Waggons rechtzeitig zurückzuführen, so daß wesentliche Teile des dünnen und zum Teil zerstörten Streckennetzes umgenagelt werden mußten. Diese Umstände führten dazu, daß die neue Versorgungsbasis nicht — wie von Halder und Wagner geplant — bis Ende 21

22

Vgl. Klink (wie Anm. 13), S. 248—253; sowie Rolf-D. Müller, Das Scheitern der wirtschaftlichen »Blitzkriegsstrategie«, in: Boog, Angriff (wie Anm. 6), S. 959ff., insbes. S. 963, 968, sowie S. 971 ff. Horst Rohde, Das deutsche Wehrmachttransportwesen im Zweiten Weltkrieg. Entstehung — Organisation — Aufgaben, Stuttgart 1971; ders., Das Eisenbahnverkehrswesen in der deutschen Kriegswirtschaft 1939—1945, in: Kriegswirtschaft und Rüstung 1939—1945, hrsg. von Friedrich Forstmeier und Hans-Erich Volkmann, Düsseldorf 1977, S. 134—163; Eugen Kreidler, Die Eisenbahnen im Machtbereich der Achsenmächte während des Zweiten Weltkrieges, Göttingen 1975; Klaus Schüler, Der Ostfeldzug als Transport- und Versorgungsproblem, in: Zwei Wege (wie Anm. 6), S. 203— 220.

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Juli aufgefüllt werden konnte, die hierfür notwendigen 370001 täglich überforderten Schiene und Straße 23 . Die Krise verschärfte sich in den folgenden Monaten kontinuierlich: Im August benötigte die Heeresgruppe Mitte allein 24 Züge täglich, nur um den laufenden Bedarf zu decken, tatsächlich wurden ihr nur zwischen 12 und 18 Züge täglich zugeführt. Im Oktober konnte die neue Versorgungsbasis nur mit 195 statt der 724 notwendigen Züge beschickt werden. Und schließlich hielten die deutschen Lokomotiven dem scharfen Frost nicht stand, Anfang Dezember erreichten die Ausfälle 70 Prozent des gesamten Bestandes. Die Befürchtung des Oberbefehlshabers der Heeresgruppe Mitte, des Generalfeldmarschalls v. Bock, Mitte November, daß — wie er sich ausdrückte — »Judenzüge« den Transportfluß noch zusätzlich hemmen würden 24 , wirft in der sich anbahnenden militärischen Katastrophe ein Schlaglicht auf den ideologisierten Vernichtungskrieg hinter der Front. Dabei hatte sich an den logistischen Problemen eines Feldzuges mit dem Ziel Moskau seit Napoleons Zeiten grundsätzlich nichts geändert. Betriebsstoffe und Munition hatten zwar Lebensmittel für die Soldaten und Futter für die Pferde in der Priorität abgelöst, aber die klimatischen Bedingungen, der Verschleiß der Transportmittel in dem verkehrsmäßig nicht erschlossenen Raum und die begrenzte Reichweite der Pendeltransporte waren 1812 wie 1941 einzukalkulierende Größen 25 . In beiden Fällen gelang es nicht, die vorgeschobenen Versorgungsbasen — Wilna 1812, Minsk 1941 — rechtzeitig und ausreichend mit Nachschubgütern aufzufüllen; damit aber war die entscheidende Voraussetzung für die Fortsetzung der Offensive nicht mehr gegeben. Napoleons wie Halders Feldzugsplan war auf der sicheren Erwartung aufgebaut, die gegnerischen Streitkräfte grenznah, d. h. in Reichweite der vorbereiteten und aufgefüllten Versorgungsbasen, feldzugsentscheidend schlagen zu können. Napoleon scheint zeitweise erwogen zu haben, wegen der logistischen Probleme mit der Armee im Raum Smolensk zu überwintern; dieser Gedanke hat die deutsche militärische Führung in dem ganzen Zeitraum überhaupt nicht beschäftigt. Für Halder, im Bereich der militärischen Planung zweifellos die beherrschende Gestalt, stand die Durchsetzung seiner operativen Idee, d. h. die seiner Ansicht nach feldzugsentscheidende Ausschaltung des Zentrums Moskau, gegenüber allen Störfaktoren ganz im Vordergrund der Überlegungen. Der Operateur Halder nahm zwar die Meldungen seines Generalquartiermeisters und der Abteilung Fremde Heere Ost, deren Fakten die Erreichbarkeit seines Zieles zunehmend in Frage stellten, zur Kenntnis, sie vermochten jedoch nicht die starre Fixierung auf das selbstgesetzte Operationsziel zu erschüttern. Im November 1941 schließlich, bei der denkwürdigen Konferenz in Orsa, traf Halder doch noch auf den Widerstand der Frontbefehlshaber und ihrer Berater. Das Ergebnis zeigte jedoch, daß die militärische Verantwortung gegenüber der Truppe schwächer ausgebildet war als der Gehorsam gegenüber den Weisungen des Oberbefehlshabers der Hee23

Zu diesen und den folgenden Zahlen vgl. Müller, Das Scheitern (wie Anm. 21), S. 970, 973, sowie Schüler (wie Anm. 22), S. 211, Anm. 7.

24

Müller, Das Scheitern (wie Anm. 21), S. 984.

25

Vgl. hierzu Geza Perjes, Die Frage der Verpflegung im Feldzuge Napoleons gegen Rußland, in: MGM, 4 (1968), S. 3 5 - 6 4 .

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resgruppe, Generalfeldmarschall v. Bock, und gegenüber der Autorität des Chefs des Generalstabes. Wenn Halder angesichts der katastrophalen Versorgungssituation knapp zwei Wochen vor der »Wende vor Moskau« die Oberquartiermeister der Ostarmeen aufforderte, »im Dienst des operativen Gedankens [...] in Versorgungsfragen das äußerste Risiko« einzugehen26, dann wird deutlich, daß die Logistik, eine der wesentlichen Grundlagen der industrialisierten und technisierten Kriegführung, dem Mythos der operativen Führungskunst zum Opfer gebracht wurde. Die strategische Entscheidung vom 31. Juli 1940 hatte nicht nur eine operative und logistische, sondern auch eine rüstungswirtschaftliche Planung zur Folge. Wie nach dem bisherigen Befund nicht anders zu erwarten, ist auch dieser Teil der Vorbereitungen für den Angriff auf die Sowjetunion gekennzeichnet durch die Hybris, die nicht nur die militärische Führung nach dem unerwartet schnellen und vollständigen Sieg über Frankreich erfaßt hatte sowie durch die ihr entsprechende, im Ergebnis katastrophale Unterschätzung der militärischen Standhaftigkeit der Roten Armee. So mißlang die Anpassung der Kriegsmittel an das Kriegsziel, und in diesem Prozeß des Mißlingens zeigten sich Phänomene, die über den Bereich des Militärs hinausweisend Strukturmerkmale des nationalsozialistischen Regimes widerspiegeln. Uber die Entwicklung der deutschen Kriegswirtschaft bis zur »Wende vor Moskau« ist in den letzten Jahren kontrovers diskutiert worden, mit bemerkenswerten Ergebnissen27. Im Gegensatz zu früheren Auffassungen, die vor allem im angelsächsischen Bereich vertreten wurden, ergibt sich nun aufgrund der Forschungen von Rolf-Dieter Müller und Bernhard R. Kroener das Bild einer »friedensmäßigen Kriegswirtschaft« (R.-D. Müller). Maßgebend hierfür war die aus vielen Quellen gespeiste Unsicherheit des Regimes über die Belastbarkeit der Bevölkerung, weswegen die verkündete wirtschaftliche Mobilmachung auch nicht vollzogen wurde. Im engeren Bereich der Rüstungswirtschaft waren die gegenseitig konkurrierenden Waffenämter der Wehrmachtteile einerseits bestrebt, die Prinzipien einer militärischen Kommandowirtschaft (R.-D. Müller) gegenüber den Interessen der Privatindustrie durchzusetzen, und andererseits sich dem Anspruch des Oberkommandos der Wehrmacht zu widersetzen, die Gesamtrüstung der Wehrmacht in eigener Verantwortung zu steuern. Der in den Friedensjahren gewonnene Rüstungsvorsprung konnte dennoch im ersten Kriegsjahr aufrechterhalten werden28. Der Entschluß, die Sowjetunion anzugreifen und sich ihrer Rohstoffressourcen zu bemächtigen, wurde demnach zu einem Zeitpunkt gefaßt, in dem die Rüstungsindustrie — trotz 26

27

28

Zu der Konferenz von Orsa vgl. Ernst Klink, Die Operationsführung, in: Boog, Angriff (wie Anm. 6), S. 588—592; das Halder-Zitat bei Müller, Das Scheitern (wie Anm. 21), S. 985f. Vgl. hierzu neuerdings Bernhard R. Kroener, Der »erfrorene Blitzkrieg«. Strategische Planungen gegen die Sowjetunion und die Ursachen ihres Scheiterns, in: Zwei Wege (wie Anm. 6), S. 133—148, und die dort angegebenen Studien von Allan S. Milward und Richard J. Overy. Uber die deutsche Kriegswirtschaft bis Ende 1941 informieren umfassend die Beiträge von Rolf-Dieter Müller und Bernhard R. Kroener, in: dies., Hans Umbreit, Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs, Stuttgart 1988 (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd5/1). Vgl. Rolf-Dieter Müller, Die Mobilisierung der deutschen Wirtschaft für Hitlers Kriegführung (wie Anm. 27), S. 526.

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aller Schwierigkeiten — noch keineswegs ihre Leistungsgrenze erreicht hatte. Und bevor Hitler am 31. Juli seinen Entschluß verkündete, erörterte er am 28. Juli mit dem Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres, dem Generalobersten Fritz Fromm, die personellen und materiellen Voraussetzungen für diesen Feldzug29. Dabei wurde festgelegt, daß das Heer auf 180 Divisionen auszubauen und die entsprechenden Mengen an Waffen, Gerät und Munition bis zum 1. Mai 1941 bereitzuhalten seien. Diese Festlegung bedeutete zunächst einmal eine Änderung des zwei Wochen zuvor ergangenen »Führerbefehls« zur »Umsteuerung der Rüstung«, der den Nachdruck auf die Luftwaffenund Marinerüstung gelegt hatte. Das neue Rüstungsprogramm B, »Steigerung der Rüstung«, wurde am 28. September 1940 durch »Führer-Erlaß« in Kraft gesetzt30. Die Verhandlungen um dieses Rüstungsprogramm verdeutlichen die allgemeine Unterschätzung des sowjetischen Gegners in geradezu exemplarischer Weise. Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Keitel, machte den Anfang: Mitte August erklärte er, daß eine Kapazitätsausweitung bei der Rüstungsindustrie zur Erfüllung der Forderungen aus dem 180-Divisionen-Heeresausbau nicht in Frage komme31. Die Folge war, daß der Chef der Heeresrüstung nicht mehr von einem »optimalen Ausrüstungssoll des Feldheeres 1941« ausging, das Heeres-Waffenamt vielmehr prüfen ließ, welche »Produktionsleistungen bis zum 31. März 1941« zu erwarten waren. Es blieb dann zu entscheiden, wie »der Fehlbestand durch Entnahme aus der Beute bzw. durch eine verminderte Ausstattung« ausgeglichen werden konnte32. Zusammen mit dem bemerkenswerten Programm der sog. Rüstungsurlauber — 300000 Soldaten sollten für eine begrenzte Zeit in der Rüstungsindustrie arbeiten — sind dies für Kroener klare Hinweise darauf, daß auch rüstungswirtschaftlich tatsächlich ein Blitzkrieg vorbereitet wurde. Nach der Vorgabe der Operateure wurde eine begrenzte Dauer der Operationen zugrunde gelegt und dementsprechend zu einem vorbestimmten Termin eine begrenzte Menge von Waffen, Gerät und Munition bereitgehalten. Der Nachweis, daß auf dem personellen Sektor ebenfalls mit der angenommenen Operationsdauer gerechnet, d. h. minimale Vorsorge für den personellen Ersatz getroffen wurde, ergänzt das Bild33. Doch nicht die These vom geplanten Blitzkrieg gegen die Sowjetunion ist hier weiter zu verfolgen, sondern die geradezu unglaubliche Sorglosigkeit, mit der Planung und Durchführung der entsprechenden Rüstungsvorhaben betrieben wurden. Einmal ganz abgesehen von der Frage, ob der Heeresausbau auf 180 Divisionen nach den damaligen Erkenntnissen und Kriterien als adäquat bezeichnet werden kann, ist die von Anfang 29 30

31 32 33

Kroener, Der »erfrorene Blitzkrieg« (wie Anm. 27), S. 138. Vgl. Müller, Die Mobilisierung (wie Anm. 28), S. 502—522; ders., Von der Wirtschaftsallianz (wie Anm. 9), S. 168—189; Kroener, Der »erfrorene Blitzkrieg« (wie Anm. 27), S. 139, vgl. auch Hartmut Schustereit, Vabanque, Hitlers Angriff auf die Sowjetunion 1941 als Versuch, durch den Sieg im Osten den Westen zu bezwingen, Herford, Bonn 1988. Vgl. Kroener, Der »erfrorene Blitzkrieg« (wie Anm. 27), S. 138 f. Müller, Von der Wirtschaftsallianz (wie Anm. 9), S. 170. Bernhard R. Kroener, Die personellen Ressourcen des Dritten Reiches im Spannungsfeld zwischen Wehrmacht, Bürokratie und Kriegswirtschaft, in: Müller u. a., Organisation (wie Anm. 27), S. 790—797.

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an einkalkulierte verminderte Ausstattung der Verbände nur erklärbar mit der alle Überlegungen durchdringenden Uberschätzung der eigenen Möglichkeiten gegenüber der Sowjetunion. Selbst als im November und Dezember 1940 deutlich wurde, daß die mit dem Rüstungsprogramm Β festgelegten Rüstungszahlen nicht erreicht werden würden, kam den Operateuren im Generalstab offenbar nicht der Gedanke, daß ihre operative Idee durch mangelhafte Rüstung in Gefahr geraten könnte34. Im Kampf der Wehrmachtteile um ihre Anteile an der Rüstungsproduktion spielte die Argumentation mit dem bevorstehenden Krieg gegen die Sowjetunion jedenfalls eine untergeordnete Rolle. Hitler selbst billigte am 20. Dezember eine Vorlage, wonach dem Ostheer zum vorbestimmten Termin zwar ein Munitionsvorrat für 12 Monate, jedoch nur eine für drei Monate berechnete Waffen- und Geräteausstattung zur Verfügung stehen werde. Sobald diese Planziele erreicht seien, so entschied er darüber hinaus, sollten die entsprechenden industriellen Kapazitäten auf die Ausrüstung der Luftwaffe und der Marine für ihren Kampf gegen England konzentriert werden35. Damit begann der Kampf der Wehrmachtteile um ihren Anteil an der Rüstungsproduktion erneut und noch verbissener. Das grotesk zu nennende Ergebnis war, daß alle drei Wehrmachtteile bis in den Sommer 1941 hinein kolossale Rüstungsprogramme ausarbeiteten, die nichts mit der Realität zu tun hatten, mit deren Hilfe sie aber hofften, Hitlers Interesse zu wecken, um auf diese Weise der Konkurrenz der anderen Wehrmachtteile Prozentanteile abjagen zu können36. Das tatsächlich zu Buche schlagende Ergebnis dieser bürokratisierten und chaotischen Rüstungswirtschaft war allerdings, daß das Ostheer am 22. Juni in seiner Ausrüstung einem »Flickenteppich« (R.-D. Müller) glich, daß z.B. nur 26 der 152 Divisionen mit deutschen Kraftfahrzeugen, alle anderen mit Beutefahrzeugen unterschiedlicher Herkunft ausgestattet waren, wodurch sich die logistischen Probleme verschärften37. Es ist mehr als ein Zufall, daß die deutsche politische und militärische Führung trotz der Erfahrung des Ersten Weltkrieges, der die erstrangige Bedeutung der wirtschaftlichen Ressourcen und ihrer effektiven Organisation für den »Waffenkrieg« in das Bewußtsein gehoben hatte, sich mit der Stagnation der Rüstungsproduktion mehr oder weniger abfand, zugleich aber mit allem Nachdruck die Vorbereitungen für eine ideologisch bestimmte Kriegführung forcierte. Hitler hatte — wie erwähnt — am 31. Juli 1940 seine Absicht, die Sowjetunion zu zerschlagen, machtpolitisch aus der strategischen Lage des Reiches gegenüber den angelsächsischen Seemächten heraus begründet. Noch am 9. Januar 1941 bei einer Erörterung der Kriegslage behielt er diese Argumentation bei und erklärte, daß die Beherrschung des russischen Raumes es dem Reich erlauben würde, »in Zukunft auch den Kampf gegen Kontinente zu führen«38. Die ideologische Komponente »seines« Krieges gegen die SoMüller, Von der Wirtschaftsallianz (wie Anm. 9), S. 175—179. Ebd., S. 177f.; Kroener, Der »erfrorene Blitzkrieg« (wie A n m . 27), S. 140 f. * Ebd., S. 143f.; Müller, Von der Wirtschaftsallianz (wie Anm. 9), S. 1 8 0 - 1 8 3 . 37 Ebd., S. 1 8 5 - 1 8 9 . 38 Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht, hrsg. von Percy Ε. Schramm, Bd 1, zusammengestellt und erläutert von Hans-Adolf Jacobsen, Herrsching 1982, S. 153—159, hier S. 258. 34

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wjetunion kam Ende Februar zum ersten Mal konkret zum Ausdruck, als General der Infanterie Georg Thomas, Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes des Oberkommandos der Wehrmacht, nach einem Gespräch mit Göring als Hitlers Weisung notierte, daß es darauf ankomme, »zunächst schnell die bolschewistischen Führer zu erledigen«39. Die offene Wendung hin zum ideologisierten Vernichtungskrieg gegen den »jüdischen Bolschewismus« erreichte während der Planungsphase einen Höhepunkt mit der Rede vor den Oberbefehlshabern und deren Chefs der Generalstäbe am 30. März 1941. Generaloberst Halder vermerkte darüber in seinem Tagebuch: »Kampf zweier Weltanschauungen gegeneinander: Vernichtendes Urteil über Bolschewismus, ist gleich asoziales Verbrechertum [...]. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad. Es handelt sich um einen Vernichtungskampf [...]. Kampf gegen Rußland: Vernichtung der bolschewistischen Kommissare und der kommunistischen Intelligenz40.«

Die Folgen dieser Direktive sind bekannt, der Krieg erhielt eine neue, bisher unbekannte Qualität, die Wehrmacht wurde Instrument des Rassen- und Vernichtungskrieges. Die Thematik der verbrecherischen Befehle wird an anderer Stelle dieses Bandes ausführlich behandelt41. Bemerkenswert und erklärungsbedürftig ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß die militärische Führung aufgrund weniger Äußerungen Hitlers innerhalb von drei Monaten in umfassender Weise und ohne tatsächlichen Widerspruch die Elemente des Rassen- und Vernichtungskrieges in ihr System der Kriegführung integrierte. Sucht man nach einer historisch befriedigenden Erklärung für dieses Verhalten, so geht der Blick unweigerlich zurück in die Endphase des Ersten Weltkrieges. Die Offiziere, die im Jahre 1941 zur militärischen Führung des Reiches zählten, hatten das Geschehen der Jahre 1917/18 meist als Subalternoffiziere erlebt und waren durch die Auflösungserscheinungen innerhalb der Armee, den militärischen Zusammenbruch und die Revolution geprägt worden. Die Außerkraftsetzung des Prinzips von Befehl und Gehorsam, die Erfahrung einer Armee, der ihre Soldaten in Scharen davonliefen, mußte das Selbstverständnis jedes Offiziers zutiefst berühren und die Frage nach den Ursachen aufwerfen42. In Ubereinstimmung mit den Schichten der Gesellschaft, aus denen sie sich rekru39

40

41 42

Jürgen Förster, Das Unternehmen »Barbarossa« als Eroberungs- und Vernichtungskrieg, in: Boog, Angriff (wie Anm. 6), S. 414. Halder, Kriegstagebuch (wie Anm. 4), S. 336 (30.3.41). Vgl. Helmut Krausnick, Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938—1942, Stuttgart 1981; sowie Jürgen Förster, Die Sicherung des »Lebensraumes«, in: Boog, Angriff (wie Anm. 6), S. 1030-1078. Vgl. die Beiträge von Jürgen Förster und Theo J. Schulte in diesem Band. Vgl. hierzu u. a. Gotthard Breit, Das Staats- und Gesellschaftsbild deutscher Generale beider Weltkriege im Spiegel ihrer Memoiren, Boppard 1973; Karl Demeter, Das deutsche Offizierkorps in Gesellschaft und Staat 1650—1949, Frankfurt a.M. 4 1965, S. 193 ff.; Manfred Messerschmidt, Werden und Prägung des preußischen Offizierkorps — ein Uberblick, in: Offiziere im Bild von Dokumenten aus drei Jahrhunderten, hrsg. von Hans Meier-Welcker, Stuttgart 1964, S. 84—97; Ernst-Heinrich Schmidt, Heimatheer und Revolution. Die militärischen Gewalten im Heimatgebiet zwischen Oktoberreform und Novemberrevolution, Stuttgart 1987, insbes. S. 361 ff.; Heinz Hürten, Das Offizierkorps des Reichsheeres, in: Das deutsche Offizierkorps 1860—1945, hrsg. von Hans-Hubert Hofmann, Boppard 1980, S. 2 3 1 - 2 4 5 ; Francis L. Carsten, Reichswehr und Politik 1918-1933, Köln, Berlin 3 1966.

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tierten, waren auch die Offiziere der Überzeugung, daß der militärische Zusammenbruch und die Revolution in erster Linie das Werk linksradikaler politischer Gruppierungen war. Selbst wenn man bereit war, über die Haltung der Mehrheitssozialdemokratie differenzierter zu urteilen, so war das Verdikt gegenüber den Unabhängigen Sozialdemokraten und den Kommunisten eindeutig und ohne jede Differenzierung43. An diesem »Feindbild« hatte sich seit 1918 nichts geändert, es ist im Gegenteil anzunehmen, daß es sich unter dem Eindruck der Nachrichten aus dem Spanischen Bürgerkrieg und über die »Säuberungen« in der Sowjetunion noch verstärkt hat. So bildete ein ausgeprägter, aggressiver Antikommunismus den Hintergrund für das Verhalten der militärischen Führung im Frühjahr 1941. Hinzu trat ein zwar weniger aggressiver, aber um so tiefer sitzender Antisemitismus und Antislawismus, die die führenden Offiziere mit der Mehrheit der Deutschen teilten. Der Umschlag dieser Überzeugungen in Anleitungen zu brutalen Mord- und Vernichtungsaktionen ist ein Zeichen für die willige Unterordnung unter den Willen des »Führers«, der den Sieg über den »Erbfeind« mit herbeigeführt hatte, aber auch ein Zeichen für die immer stärkere Durchdringung mit dem vom Regime propagierten sozialdarwinistischen Gedankengut nach der Devise »alles oder nichts«. Das skizzierte Bild einiger Aspekte der deutschen Planungen für den Angriff auf die Sowjetunion entspricht nicht der noch immer gängigen Vorstellung einer traditionellen Vorbildern und der strengen Sachlichkeit verpflichteten, effektiven militärischen Führung. Es könnte die Frage gestellt werden, ob hier nicht in unangemessener Weise aus dem Wissen um das Ende heraus geurteilt werde? Die Kritik könnte darauf hinweisen, daß mit keinem Wort die enormen Erfolge der Wehrmacht in den Sommermonaten 1941 erwähnt wurden, daß die britischen und amerikanischen Militärs das Urteil Halders durchaus teilten und den Zusammenbruch der Sowjetunion in wenigen Monaten erwarteten. Gegenüber solchen und anderen denkbaren Einwänden erscheint es angebracht, einen Blick auf die Situation im Sommer 1938 zu werfen. Damals wehrte sich der Chef des Generalstabes, Generaloberst Ludwig Beck, aus militärischen und politischen Gründen mit allem Nachdruck gegen die Absicht der politischen Führung, einen Angriffskrieg gegen die Tschechoslowakei zu führen44. Beck scheiterte, immerhin konnte er davon ausgehen, daß sein Nachfolger, Generalleutnant Halder, die in den Denkschriften niedergelegten Argumente und Überzeugungen teilte, ja entschlossen schien, zur verschwörerischen Tat zu schreiten45. Becks Überzeugung war es, daß ein kriegerischer Konflikt mit der Tschechoslowakei sich zu einem europäischen, ja weltweiten Krieg ausweiten werde, dem das Reich und seine Wehrmacht nicht gewachsen seien. In diesem Zusammenhang formulierte er in dem Entwurf seiner Denkschrift vom 15. Juli 1938: 43

44

45

A n den politischen Urteilen des hochgeachteten späteren Oberbefehlshabers des Heeres, Generaloberst Freiherr v. Fritsch, wird dies exemplarisch deutlich, vgl. Carsten (wie Anm. 42), S. 73f., 221, 223, sowie Nicholas Reynolds, Der Fritsch-Brief vom 11. Dezember 1938, in: VfZ, 28 (1980), S. 358—371. Vgl. hierzu Klaus-Jürgen Müller, General Ludwig Beck. Studien und Dokumente zur politisch-militärischen Vorstellungswelt und Tätigkeit des Generalstabschefs des deutschen Heeres 1933—1938, Boppard 1980, S. 2 7 2 - 3 1 1 . Ders., Das Heer und Hitler. Armee und nationalsozialistisches Regime 1933—1940, Stuttgart 2 1988, S. 346 ff.

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»Volk und Heer [...] machen aber die militärische Führung dafür verantwortlich, daß nichts militärisch unternommen wird, was nicht ein ausreichendes Maß an Aussicht auf Erfolg hat 4 6 .«

Nur zwei Jahre später, im Sommer 1940, tauchte diese Frage der militärischen Verantwortbarkeit überhaupt nicht mehr auf. Indirekt kommt dies in dem Zweifel zum Ausdruck, den Brauchitsch und Halder im vertrauten Gespräch am 30. Juli 1940 und noch am 28. Januar 1941 an der strategischen Begründung, an dem Sinn des Unternehmens »Barbarossa« artikulierten47. Der Zweifel blieb ohne Konsequenzen, weil nach dem Sieg über Frankreich zunächst alles machbar erschien und weil zugleich die Instrumentalisierung der Wehrmacht, insbesondere des Heeres, durch Hitler so weit fortgeschritten war, daß sich für die militärische Führung die Frage der Gesamtverantwortung gar nicht mehr stellte. Die Analyse einiger Aspekte der Planungsphase hat darüber hinaus gezeigt, daß auch für den engeren militärischen Bereich, in der operativen, logistischen und rüstungswirtschaftlichen Planung die von Beck geforderte Verantwortbarkeit gegenüber Volk und Heer immer mehr in den Hintergrund gedrängt und durch die von Hitler übernommene ideologische Zielsetzung zumindest zeitweise ersetzt wurde. So hat sich der Transformationsprozeß innerhalb der Wehrmacht hin zur nationalsozialistischen Volksarmee48 in der kurzen Zeitspanne von 1938 bis 1941 enorm beschleunigt. Dies kommt in der Planungsphase des Unternehmens »Barbarossa« zum Ausdruck.

46

Ders., General Ludwig Beck (wie Anm. 44), S. 537—542, hier S. 539 (Hervorhebung durch Verf.).

47

Förster, Hitlers Entscheidung (wie Anm. 6), S. 14, 34; ein Hauptmann im Generalstab der 4. Armee notierte unter dem 3 1 . 1 2 . 1 9 4 0 : »Der Gedanke, daß wir im Kriege gegen England stehend Rußland angreifen, will zunächst kaum glaubhaft erscheinen, zumal wenn man bedenkt, daß Rußland heute unser Hauptlieferant ist. Wer soll uns also beliefern, wenn wir im Kriege mit Rußland stehen?«; Hans Meier-Welcker, Aufzeichnungen eines Generalstabsoffiziers 1939—1942, Freiburg 1982, S. 103.

48

Jürgen Förster, Vom Führerheer der Republik zur nationalsozialistischen Volksarmee. Zum Strukturwandel der Wehrmacht 1935—1945, in: Deutschland in Europa. Kontinuität und Bruch. Gedenkschrift für Andreas Hillgruber, hrsg. von Jost Dülffer, Bernd Martin. Günter Wollstein, Frankfurt, Berlin 1990, S. 311—328, sowie Bernhard R. Kroener, Strukturelle Veränderungen in der militärischen Gesellschaft des Dritten Reiches, in: Michael Prinz, Rainer Zitelmann, Nationalsozialismus und Modernisierung, Darmstadt 1991, S. 267—296.

Marcel Spivak

Vichy und der deutsch-sowjetische Krieg: eine Chronik aus dem Untergrund

Wenn das Jahr 1942 für Frankreich die »Kriegswende« war, um es mit dem Titel der bemerkenswerten Untersuchung von Professor Elmar Krautkrämer1 auszudrücken, so war 1941 eines der finstersten Jahre der Besatzung. Frankreich war zweigeteilt, und es bestand nur die Fiktion eines französischen Staates, ein Gefangener in einer sogenannten freien Zone, bei dem das Handeln von Herz und Hirn — in dem zur Hauptstadt erhobenen Thermalbad Vichy — auf unterschiedlichen Bahnen verlief. Man kann sich sogar fragen, ob das Jahr 1941 den Verlauf der deutsch-französischen Beziehungen nicht genau so stark beeinflußt hat wie 1942, denn nach dem Abgang des stellvertretenden Ministerpräsidenten Pierre Laval am 13. Dezember 1940, unter ebenso lächerlichen wie tragischen äußeren Umständen, kam es zu derart starken Spannungen, daß die Beziehungen abgebrochen wurden 2 . Diese Krise mit ihren unmittelbaren Auswirkungen sollte den französischen Hauptverantwortlichen allerdings nicht die Augen öffnen; sie neigten dazu, zu vergessen, daß sie dem Diktat des Besatzers unterworfen waren3. Hitlers symbolische Geste, die Asche des Herzogs von Reichstadt in den Invalidendom zurückbringen zu lassen, fiel genau mit der Entlassung Lavais zusammen, und die positiven Auswirkungen, auf die die Deutschen gesetzt hatten, verwirklichten sich nie4. Das Grundprinzip der Zusammenarbeit schien erneut in Frage gestellt, und so war es erforderlich, daß die bis dahin abgegebenen großen Erklärungen bei den für Hitlers Frankreichpolitik Verantwortlichen, insbesondere Otto Abetz, einen konkreten Inhalt erhalten mußten. Erinnern wir uns an die Worte Pierre Lavais am 8. Juli 1940 vor der Nationalversammlung: »Wir haben keinen anderen Weg, dem wir folgen können, als den der loyalen Zusammenarbeit mit Deutschland und Italien. Diese Politik, die als einzige Frankreichs Interessen gerecht wird, muß in Ehre und Würde verfolgt werden [,..] 5 .«

Am 24. Oktober 1940 ließ Marschall Petain, der hier offensichtlich die Lage voll durchschaute und den Eindruck erweckte, sich Hitler nicht beugen zu wollen, eine Unklarheit im Raum stehen, die offensichtlich im Widerspruch zu Lavais Worten stand. Man kann dies wohl noch nicht als doppeltes Spiel bezeichnen, aber Petain schien vermeiden 1 2 3

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Elmar Krautkrämer, Frankreichs Kriegswende 1942, Bern, Frankfurt a.M. 1989. Robert Aron, Histoire de Vichy 1 9 4 0 - 1 9 4 4 , Paris 1954, S. 3 2 7 - 3 2 9 . Ebd., S. 343. Ebenso Jacques Benoist-Mechin, De la dέfaite au desastre, Bd 1: Les occasions manquees, juillet 1940—avril 1942, Paris 1984, S . 5 0 f f . Vgl. hierzu Eberhard Jäckel, Frankreich in Hitlers Europa, Stuttgart 1966, S. 140 f. Ich habe den Originaltext vorgezogen, da die französische Ubersetzung nicht sehr zuverlässig ist. Vgl. Fred Kupferman, Pierre Laval, Paris 1976, S. 80f.

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zu wollen, daß Frankreich sich auf einen Weg begab, auf dem keine Umkehr mehr möglich war, vor allem durch die Aufnahme militärischer Zusammenarbeit gegen die Briten, wie Hitler dies wollte6. Nach dem Zwischenspiel Pierre-Etienne Flandin, das nur zwei Monate dauerte, betrat Admiral Darlan die politische Bühne. Bereits am 25. Dezember 1940 traf er sich mit Hitler (in La Ferriere-sur-Epte, in der Nähe von Beauvais) und dann mit Otto Abetz, dem deutschen Botschafter in Paris, der viele Kontakte mit allerarten von Leuten pflegte. Am 10. Februar 1941 wurde Darlan mittels Artikel Nr. 4c der Verfassung von Marschall Petain zum neuen »Thronfolger« ernannt und erhielt damit die Vizepräsidentschaft des Ministerrates, ein Posten, der eigens für ihn wieder neu eingerichtet wurde. Am 23. Februar wurde ein neues Kabinett gebildet, in dem Darlan, war er doch gleichzeitig Außen-, Marine· und Informationsminister, mit weitreichenden und komplexen Vollmachten ausgestattet wurde. General Huntziger wurde Kriegsminister, und nach dem Tod des Generals am 12. November 1941 bei einem Flugzeugunfall übernahm Darlan auch diesen Posten7. Der Admiral der Flotte führte Frankreich ohne große Rücksichtnahme in eine immer schwierigere Politik, die die Geduld der deutschen Verhandlungspartner bis aufs äußerste strapazierte. Diese Haltung hat Anlaß zu vielen Kontroversen gegeben, auf die einzugehen hier aber nicht der Ort ist8. Henri du Moulin de Lebarthete, der Chef von Petains zivilem Kabinett, hielt Darlans Außenpolitik für »zögerlich und brutal, opportunistisch, kurzatmig ohne Prinzipien und ohne Nuancen« 9 . Zumindest in dieser Periode, als es seiner Meinung nach unabdingbar geworden war, die Beziehungen zu Deutschland wieder auf den Stand vor der Entlassung Lavais zu bringen und sie, wenn möglich, sogar noch zu verbessern, versuchte Darlan, Abetz von den guten Absichten der neuen französischen Regierung zu überzeugen. Ebenso wollte er auch den Reichskanzler überzeugen10. Dennoch dauerte es bis Ende April, bevor die Deutschen bereit waren, von neuem mit den Franzosen zu verhandeln, während alle vorhergehenden Versuche ignoriert oder abgewiesen worden waren, trotz der Bemühungen v. Ribbentrops einerseits sowie von Abetz andererseits, in dessen Umgebung Benoist-Mechin zu einem unermüdlichen Eiferer wurde11. Und wenn Hitler sich bereit erklärte, Darlan am 11. Mai 1941 in Berchtesgaden zu treffen, so bezweckte er hiermit nicht, auf dem Verhandlungsweg eine zweifelsfreie französische »Kooperation« zu erreichen, sondern eher den Winkelzügen ein Ende zu setzen, die die wirtschaftliche Ausbeutung Frankreichs ohnehin nur wenig behinder-

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Vgl. vor allem die Kommentare von Jean-Baptiste Duroselle zu Montoire: L'Abime 1939—1945, Collection Politique etrangere de la France, Paris 1982, S. 268 f. Darlan wurde erst am 1 2 . 8 . 1 9 4 1 »ministre de la Defense nationale«, nachdem dieses Ministerium am Tag zuvor geschaffen worden war (Gesetz vom 11.8.1941). Vgl. die Darlan-Biographie von Claude Huan und Herve Couteau-Begarie, Paris 1989, die zur Zeit eine Referenz darstellt, an der man nicht vorbeikommt. Die Passagen, die Robert A r o n ihm gewidmet hat (wie Anm. 2), behalten trotzdem ihren Wert. Vgl. Henri du Moulin de Labarthete, Le temps des illusions. Souvenirs (juillet 1940—avril 1942), Genf 1946. Vgl. hierzu Jäckel (wie Anm. 4), S. 160 f. Ebenso A r o n (wie Anm. 2), S. 424 f. Vgl. Benoist-Mechin (wie A n m . 3), S. 56f.

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ten12. Tatsache war, daß Frankreich sich im Kampf Deutschlands gegen Großbritannien eindeutig auf die Seite des Reiches stellen sollte, und in diesem Moment bot sich mit der Syrien-Affäre gerade eine Gelegenheit. Darlan stürzte sich damals in »die große Politik«, wie Jean-Baptiste Duroselle es nennt13, und machte auf militärischem Gebiet eine Reihe wesentlicher Zugeständnisse, die trotz all seiner Verzögerungsmanöver nicht dazu führten, die deutsche Haltung gegenüber Frankreich zu besänftigen, sondern sie eher noch verhärteten. Tatsächlich lag Abetz und Ribbentrop wesentlich mehr an einer Wiederaufnahme der Zusammenarbeit als Hitler selbst, der viel weiter vorausschaute und seine Überlegungen auf das Mittelmeer und auf den unmittelbar bevorstehenden Angriff gegen die Sowjetunion richtete14. Demzufolge sah sich Darlan, als er — dank Abetz' Bemühungen — Hitler am 11. Mai in Berchtesgaden traf, einem Gesprächspartner gegenüber, der, in visionären Gedanken versunken, auf seinen früheren Forderungen bestand und kaum gewillt war, irgendwelche Zugeständnisse ohne entscheidende Gegenleistung zu machen. Hierbei wird aus den von Andreas Hillgruber verwendeten offiziellen Unterlagen deutlich, daß Darlan voll auf die deutsche Karte zu setzen gedachte und sich bereit zeigte, gegen gewisse Zugeständnisse Hitlers Forderungen hinsichtlich Syriens und Tunesiens zu erfüllen15. Sicherlich glaubte er, Arrangements erzwingen und geschickte Züge anwenden zu können, um schließlich die deutschen Forderungen durch eine Verzögerungstaktik herunterzuschrauben, wo er sich in einer Position der Stärke glaubte. Hier bewies er eine schier unglaubliche Naivität, die man nur schwer nachvollziehen kann. Für Hitler und seine engsten Mitarbeiter war Frankreich politisch nur noch von zweitrangiger Bedeutung. Am Tag darauf ging Ribbentrop in den Verhandlungen noch weiter als der Kanzler, und es muß festgehalten werden, daß dies der Anlaß war, bei dem der Admiral von seinem Gegenüber ohne große Umschweife erfuhr, daß die Beziehungen zwischen Deutschland und der UdSSR »zunehmend gespannt« wurden und daß die Sache im Falle eines Konflikts in drei Wochen geregelt sein würde16. Der sogenannte freie Teil Frankreichs, jener unter dem Vichy-Regime, lebte unter dem Marschall in einer Atmosphäre falscher Sicherheit, die den tatsächlichen Stand der Dinge, wie er sich beispielsweise an der nur gedämpften Zustimmung der Bevölkerung zur Politik der Kollaboration zeigte, nur schlecht verdeckte. Außerdem gab es im Frühjahr 1941 deutliche Anzeichen für die Verschlechterung der Stimmung in der Bevölkerung, wobei 12

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Vgl. beispielsweise Hans Umbreit, Die Verlockung der französischen Ressourcen: Pläne und Methoden zur Ausbeutung Frankreichs für die kriegsbedingten Bedürfnisse und die langfristigen Ziele des Reiches, in: Actes du Colloque de Wiesbaden 1988. La France et l'Allemagne en guerre, sept. 1939—nov. 1942, Paris 1990, S . 4 3 5 f f . Vgl. Duroselle (wie Anm. 6), S. 285. Vgl. hierzu die treffende Analyse von Jäckel (wie Anm. 4), S. 166f. Vgl. die Hauptquelle: Andreas Hillgruber, Staatsmänner und Diplomaten bei Hitler, Frankfurt 1969, Dokument 77 (11.5.1941), S. 536—549. Robert Arons Version ist fehlerhaft, während Duroselle sich eher an das Original hält. Vgl. Benoist-Mechin (wie Anm. 3), S. 98 f. A r o n läßt Hitler am 12.6. ähnliche Worte sprechen, was aber unmöglich ist, weil dieser Hitler nur am Vortag sah. Vgl. Aron (wie Anm. 2), S. 431 und Anm. 2. Duroselle erwähnt diese Worte nicht.

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zwar verschiedene Faktoren zusammenkamen, die aber die brutale Verschlechterung der Lebensbedingungen und den Einfluß der Ereignisse im Ausland deutlich machen 17 . Marschall Petain war sich dessen durchaus bewußt, und in seiner berühmten Botschaft Nr. 33 vom 17. Juli 1941 brachte er dies auch klar zum Ausdruck: »Glauben Sie mir, noch ist der Augenblick nicht gekommen, sich in Bitterkeit zu flüchten oder in Verzweiflung zu sinken. Sie werden weder verkauft, noch verraten, noch im Stich gelassen. Diejenigen, die Ihnen so etwas sagen, belügen Sie und treiben Sie in die Arme des Kommunismus [...]18.« So betrieb das »offizielle« Frankreich — die besetzte Zone stand unmittelbar unter dem Joch der deutschen Behörden — eine noch zögernde Politik der Kollaboration, die sich durch Versuche auszeichnete, die eigene Souveränität zu bewahren, ein Unternehmen, das ihm anscheinend einen Teil seines Kolonialreichs und ein Potential sichern sollte, mit dem es glaubte, verhandeln zu können. Diese Politik verdeckt aber eine andere Ebene politischen Lebens, das im geheimen stattfand und das sogar in gewissem Maße und auf gewissen Ebenen toleriert wurde. Es bekämpfte gleichzeitig die Besatzer und das Vorgehen des Vichy-Regimes zur Unterstützung der Kollaboration, das Frankreich einen der vorderen Plätze in der von Hitler gewollten »Neuordnung Europas« sichern sollte. Zumindest in diesem Moment war Darlan überzeugt, daß Deutschland den Krieg gewinnen würde, und er war auch nicht der einzige: Dies ist in meinen Augen ein zentraler Punkt. Die Bemühungen einiger Verantwortlicher der Vichy-Armee, insbesondere Weygands, die Waffenstillstandsklauseln im militärischen Bereich zu umgehen, sind heute allgemein bekannt, und sie wurden auch damals von deutscher Seite vermutet und sogar erkannt19. Dagegen sind das Wirken des Nachrichtendienstes (SR: Service de Renseignements) und der Spionageabwehr (CE: Contre-espionnage) kaum bekannt und werden sogar vernachlässigt, trotz der ihnen zukommenden grundsätzlichen Bedeutung. Dies mag auch an dem ihnen eigentümlichen Wesen selbst liegen. Wenn der 1939/40 aufgestellte Nachrichten- und Spionageabwehrdienst auch offiziell durch den Waffenstillstand aufgelöst wurde (das Cinquieme Bureau, vor dem Krieg als Deuxieme Bureau bekannt), so erklärte Colonel Rivet, Leiter der Sonderdienste (Services speciaux), schon am 25. Juni seinen Hauptmitarbeitern eindeutig, daß der Auftrag gegen Deutschland und Italien auf keinen Fall ausgesetzt würde: Der Nachrichtenkrieg, der Kampf gegen die Deutschen, aber auch gegen deren Helfershelfer gehe weiter. Anzumerken ist, daß die Kommandos der deutschen Abwehr schon vor dem Waffenstillstand im Kielwasser der Kampftruppe arbeiteten und daß die Gerichte der Wehrmacht erbarmungslos aburteilten: Allein am 24. Juni wurden in Paris 17 Todesurteile gegen Agenten der Sonderdienste verhängt. 17

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Zur Stimmung in der Öffentlichkeit verfügen wir heute über eine gründliche Untersuchung von Pierre Laborie, L'opinion fran9aise sous Vichy, Paris 1990, S. 248 f. und passim. Vgl. Le Marechal Petain, Lyon 1941, S. 136—152. Ebenso mit einem einführenden Kommentar von Antoine Prost: Philippe Petain. Discourse aux F r a n c i s — 7 juin 1940—20 aoüt 1944, Paris 1989, S. 164-173. Vgl. beispielsweise Marcel Spivak, Armand Leoni, Les forces fran^aises dans la lutte contre l'Axe en Afrique. La Campagne de Tunisie 1942—1943, Kap. II, Vincennes 1985.

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Im Juli wurden spontan, unter Hinweis auf die Geisteshaltung des Heeresführungsstabs, mit der expliziten Zustimmung von General Colson, der vorübergehend Kriegsminister war und dem General Huntziger folgte, Geheimdienste gegründet und unter dem Deckmantel einer offiziellen Dienststelle, dem Service des Menees anti-nationales (MA), zusammengefaßt. Diese unterstand dem Stab des Secretaire d'Etat ä la Guerre (Staatssekretär im Kriegsministerium) und hatte Büros in den militärischen Kommandobehörden. Ihr offizieller Auftrag bestand darin, die Armee gegen subversive Unternehmungen und gegen die Verletzung von Staatsgeheimnissen zu schützen. Die Geheimorgane setzten sich aus den beiden folgenden Abteilungen zusammen: — einem Nachrichtendienst mit Büros in den beiden Zonen, besonders in Paris, dessen erste Tätigkeit darin bestand, alle Kräfte des ehemaligen Cinquieme Bureau soweit wie möglich zu sammeln und sie wieder zum Einsatz zu bringen; — einem Spionageabwehrdienst, der unter der Abkürzung TR lief, weil er sich hinter einem fiktiven Dienst mit der Bezeichnung Travaux Ruraux, Arbeitsdienst für den ländlichen Raum, verbarg. Er befand sich in Marseille und wurde von Hauptmann Paul Paillole geleitet. Im feindlichen Gebiet wurden TR-Büros eingerichtet, deren Auftrag darin bestand, die Aktionen der deutschen Abwehr zu vereiteln. Außerdem bildete sich insgeheim der Luftnachrichtendienst SR von Oberst Ronin außerhalb des Kriegsnachrichtendienstes von Oberst Rivet neu; seine Spionageabwehrabteilung arbeitete dagegen mit Pailloles TRDienst zusammen. Bei der Marine sah es so aus, daß ihr Nachrichtendienst gegen die Achsenmächte arbeitete, aber auch gegen die Briten, und Darlan achtete darauf, daß die Bedingungen des Waffenstillstands genauestens eingehalten wurden. Die Aufgabe jener, die diese Richtung ablehnten, wurde dadurch nicht erleichtert, im Gegenteil. Hierzu kamen noch ein Horchdienst, der im zentralen Postamt von Vichy untergebracht war, und der Dechiffrierungsdienst von Major Bertrand, einem der größten Fachleute für die Enigma-Maschine, der in ständiger Verbindung mit den Briten und dem polnischen Sonderdienst stand. Es ist anzumerken, daß die Kontakte zum britischen Intelligence Service niemals völlig abgebrochen wurden und daß ihnen eine wesentliche Bedeutung zukam, die mit der Zeit nur noch zunahm. Hier muß daran erinnert werden, daß Paul Paillole sich Ende 1939 nach London begab, um bei der Aufstellung von bestimmten britischen Diensten mitzuwirken. Eine Funkverbindung, die allein dem Nachrichtendienst zur Verfügung stand, wurde zusammen mit den Briten und in Vichy selbst eingerichtet; die an sie gerichteten Informationen liefen entweder über die kanadische Botschaft oder über die der Vereinigten Staaten. Dagegen rief das Bureau des Menees anti-nationales (BMA), das Mitte September 1940 offiziell gegründet wurde und als Deckung für die geheimen Aktivitäten des Nachrichtendienstes fungierte, von Anfang an Mißtrauen bei den höchsten zivilen wie militärischen Stellen hervor. Tatsächlich handelten sein Leiter, Oberst Rivet, und sein Personal eigenverantwortlich und fanden nur auf den unteren Ebenen Unterstützung: Keine Abteilung des Generalstabes akzeptierte die offizielle Politik, und hier war es, wo die Geheimdienste Hilfe und Unterstützung fanden, sowohl im Mutterland als

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auch in Nordafrika. Als Weygand am 6. September 1940 nach Nordafrika ging, wurde die Lage für die Nachrichtendienste schwieriger, denn sein Nachfolger, General Huntziger, wollte unter allen Umständen vermeiden, daß die Aktivitäten des B M A die Aufmerksamkeit der politischen Kreise um Laval und der von ihm sehr bald aufgestellten Polizeikräfte auf sich zogen, die tatsächlich nach kurzer Zeit die Arbeit des Nachrichtendienstes und der geheimen Spionageabwehr behinderten, indem sie gelegentlich mit der Gestapo zusammenarbeiteten. Für die Nachrichtengewinnung im Ausland, in verschiedenen Ländern einschließlich Deutschlands, verfügte Oberst Rivet vor allem über den erwähnten Dechiffrierungsdienst (Major Bertrand) und über Agenten, die sehr tief in einige militärische Dienststellen des Deutschen Reiches eingedrungen waren. Alle diese Informationen gingen an das Deuxieme Bureau de l'Armee (G2-Abteilung) in Vichy und vor allem an die Briten 20 . Diese gegen das Ausland gerichtete Tätigkeit — von der Nachrichtengewinnung bis zur Ausschaltung feindlicher Agenten — ist für unser Thema in mehr als einer Hinsicht von enormer Bedeutung. Es ist heute kaum mehr möglich, die Spuren der verschiedenen Informationsquellen, der Informanten, die im Ausland arbeiteten, oder der »vertrauenswürdigen Kontaktleute«, die Informationen weiterleiteten, zurückzuverfolgen. Aber so lange es möglich war, Militärattaches in den Balkanländern, besonders in Belgrad, zu haben, leisteten die Büros im Balkan verdeckte Arbeit. Einzelne »Quellen« funktionierten wieder, allerdings unter großen Schwierigkeiten 21 . Auf diese Weise ζ. B. konnten 3000 verschiedene Berichte an die Leitung übermittelt werden, von denen General Huntziger selbst mehr als 100 gesehen und mit Anmerkungen versehen hat; außerdem konnte der Nachrichtendienst in Verbindung mit der Spionageabwehr (TR, Paillole) verschiedene Aufklärungsaufträge in der besetzten Zone, in Belgien, in der Schweiz, in Spanien und Spanisch-Marokko sowie in Portugal durchführen. Aber die militärischen Sonderdienste mußten über die Arbeit in den geheimen Diensten, von denen ich eben ein schematisches und damit unvollkommenes Bild gezeichnet habe, hinaus auch in einem quasi-offiziellen Rahmen tätig werden, der sich Centre d'Informations gouvernementales (Zentrum für Regierungsinformationen) nannte. Diese Dienststelle stand unter dem Befehl von Darlan und hatte sich gegenüber der Politik Vichys gefügiger und angepaßter zu zeigen. Sie wurde offiziell von einem General befehligt, aber in Wirklichkeit von einem Admiral geführt. Wahrscheinlich stand sie in enger Beziehung zum Secretariat de Coordination interministerielle (Sekretariat für interministerielle Koordinierung), dem Nachfolgedienst des Secretariats de Defense Nationale (Sekretariat der Nationalen Verteidigung). Außerdem gab diese Dienststelle ein Informationsbulletin heraus22, 20

Vgl. Henri Navarre, Le Service de Renseignements 1871—1944, Paris 1978, S. 128 f. Diese Informationen decken sich mit unseren anderen Quellen. General Navarre war von 1936 bis September 1940 Leiter der Abteilung Deutschland in der Zentrale des Nachrichtendienstes und dann bis Februar 1942 Leiter des Deuxieme Bureau in Algier.

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Vgl. Michel Garder, La guerre secrete des Services speciaux frangais 1935—1945, Paris 1967, S. 234 f. Der Autor ist ebenfalls gut informiert und hatte zuverlässige Unterlagen zu seiner Verfügung.

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Siehe Service historique de l'armee de terre (SHAT) 1 Ρ 12. Die Sammlung ist unvollständig.

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während die G2-Abteilung (Deuxieme Bureau) des Heeresführungsstabes — dem Secretariat d'Etat a la Guerre (Staatssekretariat im Kriegsministerium) unterstellt —, die Marine und die Luftwaffe ebenfalls Bulletins herausgaben, die für ihre jeweiligen Führungsstäbe einen Nachrichtenüberblick gaben. Natürlich zogen die Lageanalysen »die verschiedenen möglichen Hypothesen über die Haltung Deutschlands in Betracht«, übrigens in Ubereinstimmung mit einer Weisung für die Nachrichtengewinnung, die vom Heeresführungsstab der Streitkräfte ausging23. Die damals als Geheim und Streng Geheim eingestuften Informationsbulletins erschienen wöchentlich und gaben einen umfassenden Uberblick über die Entwicklung der militärischen und politischen Lage in der Welt, enthielten aber auch Informationen über die Wehrmacht, die Zeugnis von der Aktivität der Nachrichtendienste ablegen. Waren sie der Abwehr, die über gut piazierte Kontaktleute verfügte, bekannt? Die Frage muß für den Augenblick unbeantwortet bleiben. Die Auswertung dieser Analysen erlaubt jedoch, eine dieser Quellen, die den verschiedenen politischen und militärischen Stellen Informationen über die deutschen Absichten hinsichtlich der Sowjetunion lieferte, zurückzuverfolgen. Auf diesen Punkt möchte ich jetzt genauer eingehen24. Vom Informationsbulletin Nr. 64 vom 21. Februar 1941 an findet man die ersten Hinweise, die — bis zu einem gewissen Grad — das Interesse belegen könnten, das die Franzosen an der Entwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen hatten. Tatsächlich werden dort Vorsichtsmaßnahmen erwähnt, die die Russen aufgrund der Anwesenheit der deutschen Truppen in der Ostfinnmark (westlicher Teil der Halbinsel Kola) getroffen hatten, der Bau von zwei Flughäfen in der Nähe von Murmansk und die Aufstellung von Küstenbatterien. Man beachte diese Lagebeurteilung: »Man hat den Eindruck, daß die sowjetische Regierung sich immer mehr Sorgen wegen der deutschen Gefahr macht [...].« Eine Woche später enthält das Bulletin einen Anhang über die militärischen Anstrengungen der Sowjets, und hier ist vor allem die Rede von der gestiegenen Zahl der Manöver in den westlichen Militärbezirken seit Herbst 1940 sowie von der steigenden Zahl der Großverbände (etwa 150 Infanterieverbände, 36 Kavallerieverbände, 22 selbständige motorisierte Brigaden, 9 schwere Panzerbrigaden usw.). Aber vor allem die Kommentare verdienen unsere Aufmerksamkeit: »Das Ziel der Kremlführung ist es, in Erwartung einer eventuellen Aggression das wirtschaftliche und militärische Potential der UdSSR auf den höchstmöglichen Stand zu bringen. Die von Deutschland tatsächlich ausgehende Gefahr, die [...] Moskau im August 1939 noch dadurch hatte abwenden können, daß es sie nach Westen abdrängte, kann in mehr oder weniger naher Zukunft akut werden [...].«

Am 25. März wurde die Verringerung der Truppendichte in Nordfrankreich und Belgien mit gleichzeitigen Rückverlegungen in Richtung Deutschland beobachtet, ebenso die Verlegung der 10. Panzerdivision, der 46. und der 11. Infanteriedivision, die als »ausgezeichnet« galten, in Richtung Balkan und Italien. Nebenbei soll darauf hingewiesen werden, daß die Beschaffung dieser Informationen eine gute Leistung darstellte, die die Qualität des von Oberst Barril geleiteten Dienstes widerspiegelt. 23 24

Siehe SHAT 3 P I 0 6 , Nr. 92 vom 2 8 . 1 2 . 1 9 4 0 . Diese Angaben stammen aus der Serie 3P, Aktenmappe 99, SHAT. Secretariat d'Etat a la Guerre, 2e Bureau, Etat-Major de l'Armee.

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Am 31. März wurden in der Moldova umfangreiche, in Richtung UdSSR dislozierte deutsche Kräfte beobachtet, und das Bulletin Nr. 81 vom 20. Juni, das somit in der Woche vorher ausgearbeitet worden war, liefert in seinem Anhang zahlreiche interessante Informationen über die Spannungen zwischen Deutschland und Rußland. So wurden seit dem 20. Mai verstärkte Marschbewegungen der deutschen Streitkräfte in Finnland gemeldet und daß umfangreiche Marschkolonnen, insgesamt mindestens 50000 Mann, Stettin, Rostock und Kolberg verlassen hatten. Auch in Norwegen wurden Marschbewegungen beobachtet. Schätzungen ergaben, daß das Deutsche Reich gegen die UdSSR in der ersten Welle über 115 bis 125 Divisionen verfügen konnte, die in Finnland, Nordnorwegen, Ostpreußen, Polen und Rumänien konzentriert waren. In der zweiten Welle befanden sich mit zwei Schwerpunkten 55 Divisionen, darunter vier Panzerdivisionen, wobei diese Truppen wahrscheinlich unter dem Befehl von Feldmarschall v. Reichenau standen. Auf sowjetischer Seite wurden »zahlreiche Einberufungen von Reservisten der Jahrgänge 1910 bis 1917« festgestellt; gegenüber dem Westen verfügte die Sowjetunion über: — 90 bis 100 Infanteriedivisionen — 22 verstärkte Infanteriedivisionen; Kavallerie — 30 mechanisierte Brigaden. Dieser Nachrichtenüberblick schließt mit den folgenden Kommentaren: »Die deutsche Bedrohung ist zwar durch eine Reihe unbestreitbarer Tatsachen gekennzeichnet, aber die Absichten und Möglichkeiten des Widerstandes der Sowjetunion bleiben ein fast vollkommen unbekannter Faktor.« In den Beständen des Service historique de la Marine (Historischer Dienst der Marine) ist diese Sammlung leider nicht mehr zu finden, mit Ausnahme des Bulletins vom 17. Juni 1941, aber was dort über die deutsch-sowjetischen Beziehungen gesagt wird, ist deswegen interessant, weil es etwas von den Vorstellungen zeigt, die man sich hierüber in Vichy machte25. Die Diplomaten und Auslandskorrespondenten waren wohl tatsächlich sehr über die deutsch-sowjetischen Spannungen beunruhigt, aber die wahren Absichten der Protagonisten waren nach wie vor unbekannt. Die Tatsache, daß 110 deutsche und 140 sowjetische Divisionen einander gegenüberstanden, wurde noch nicht als Zeichen eines unmittelbar bevorstehenden Konfliktes gewertet. Für den Verfasser dieser Nachrichtenbewertung handelte es sich »um eine Maßnahme, mit der Reichskanzler Hitler Druck auf Stalin auszuüben glaubt, damit die Materiallieferungen, die im letzten Wirtschaftsvertrag zwischen Berlin und Moskau vereinbart worden sind, energischer vorangetrieben werden. Ein feindseliger Akt des Deutschen Reiches gegen die UdSSR würde sofort zu deren Anbindung an England und die Vereinigten Staaten führen, was auf keinen Fall im Interesse des Reiches liegen kann.« Der Kommentar erwähnt die Möglichkeit einer deutschen Invasion der Ukraine, die allerdings nicht unmittelbar bevorstehe, und auch nur als Sicherungs- und Versorgungsmaßnahme für den Fall, »daß das Deutsche Reich die Operation in Richtung Mittlerer Osten 25

SHM. T T A 4 3 .

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auslösen würde«. Aber, fügte der Verfasser hinzu, die »verantwortlichen Kreise« in Vichy nehmen die Gerüchte nicht ernst, »die das Spukbild eines bewaffneten Konfliktes an den Grenzen zu Sowjetrußland heraufbeschwören wollen«. Die G2-Abteilung (Deuxieme Bureau) des Führungsstabes der Luftwaffe beobachtete ebenfalls die Lage im Osten, und ihre Bulletins von April und Mai 1941 belegen die Verschlechterung dieser Lage, mit all ihren Vorzeichen im Balkan26. Allerdings schwankt der Verfasser zwischen verschiedenen Hypothesen. Er berichtet zwar von den Verteidigungsmaßnahmen der Sowjets und ihrer Beunruhigung durch die deutsche Präsenz in Bulgarien, glaubt aber, daß sich die UdSSR ihrer eigenen Schwäche zu bewußt sei, um sich dem Deutschen Reich entgegenzustellen. Es ist sogar — am 22. Mai — von einem »neuen deutsch-russischen geheimen Einverständnis« die Rede. Erst im Bulletin de Renseignements der Woche vom 22. Juni wurde die Möglichkeit eines Konflikts zwischen der UdSSR und dem Reich ernstgenommen, denn es bestand die Gefahr, daß die Sowjets die deutschen Forderungen nicht annehmen würden. Das Deutsche Reich sollte, um Druck auszuüben, mehr als 100 Divisionen, darunter etwa zehn Panzerdivisionen, in den folgenden Zonen massiert haben: — Nordnorwegen und Finnland 9 — Ostpreußen 15 — Polen 60 — Schlesien 25 — Rumänien 10 = 119 Divisionen. Die deutsche Luftwaffe konnte diesem Bericht zufolge über 2500 Maschinen, also 40 Prozent ihrer Einsatzverbände, verfügen. Auf der »offiziellen« Nachrichtenebene, also jener, die für die höchsten militärischen Instanzen gedacht war, ist schließlich noch das Bulletin de Renseignements zu erwähnen, das vom Secretariat de Coordination du ministere de la Defense Nationale (Verbindungsbüro des Nationalen Verteidigungsministeriums) erarbeitet wurde27, ein weiteres, sehr ähnliches Bulletin, das im wesentlichen die militärische Lage behandelte28. Im Fall des Secretariats de Coordination scheint es, daß man dort nur über eine Zusammenfassung der Informationen verfügte, die von den drei obengenannten Teilstreitkräften geliefert wurden; dagegen waren die Informationen für die Beurteilung der militärischen Lage anscheinend vollständiger. Acht der zwischen dem 28. März und 22. Juni erschienenen Bulletins befassen sich mit dem Problem der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Mitte April (Nr. 29) konnte der Verfasser noch nicht »klar erkennen, von welcher Seite eines Tages die bewaffnete Initiative ausgehen wird«. Am 2. Mai wurde vermutet, daß Deutschland in vier Richtungen aktiv werden könnte: Ägypten, Gibraltar, Rußland oder Siehe SHAT. 30315 - vor allem die Bulletins Nr. 2, 1 . 4 . 1 9 4 1 ; Nr. 3, 11.4.; Nr. 6, vom 12.5., sowie 22.5. und 22.6. (abgelaufene Woche). SHAT 1P 44. 28 SHAT 1P 12. 26

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die Britischen Inseln, aber die deutsche Offensive gegen die UdSSR scheint »sehr wahrscheinlich«. Die Verstärkung der deutschen Bereitstellungen im Osten wurde genau verfolgt, ebenso wie die Haltung der UdSSR. Am 13. Mai erwähnt der Verfasser die in Moskau herrschende Beunruhigung und daß die verantwortlichen Kreise das Schlimmste erwarteten. In der Woche vom 7. auf den 14. Juni wurden die Nachrichten indessen präziser, und die Analyse der Daten schwankt in der Bandbreite ihrer Ergebnisse zwischen einem unmittelbar bevorstehenden Konflikt zwischen der UdSSR und dem Reich und dem genauen Gegenteil; die deutschen Machtdemonstrationen seien nur ein »Druckmittel«. Nach einer Lagebeurteilung in Syrien und einer Analyse des U-Boot-Krieges, der heftigen Luftangriffe gegen die Britischen Inseln sowie der Vorteile, die das Deutsche Reich von einer Invasion der Sowjetunion hätte, hält der Verfasser des Nachrichtenüberblicks es für sehr unwahrscheinlich, daß es zu einem deutsch-sowjetischen Konflikt kommen werde. Darüber hinaus gab es als besondere Quelle, die den vorgenannten Nachrichtendiensten zur Verfügung standen, die Berichte der Militärattaches bei den Gesandtschaften. Für das Jahr 1941 verfügen wir nur über einige Papiere aus dem Bukarester Büro, aber diese sind aufgrund der strategischen Lage und des Wertes der übermittelten Informationen selbst, in diesem Fall an die G2-Abteilung (Deuxieme Bureau) des Führungsstabes29, von einem gewissen Interesse. Schon im Januar schätzte der Militärattache, daß Deutschland — zusammen mit seinem Verbündeten Rumänien — Rußland angreifen werde, und diese Hypothese wird ζ. B. unterstützt durch die Beobachtung der Bereitstellungen der rumänischen Armee und das massive Eintreffen deutscher Kontingente. Das Uberschreiten der Donau und der Einmarsch der deutschen Truppen in Bulgarien wurden aufmerksam verfolgt, ebenso die Kontakte mit Militärattaches anderer Länder. Italien, die Vereinigten Staaten und Japan bestätigten all diese Beobachtungen, und auch sie wiesen auf die russischen Vorbereitungen hin. Dabei wird die sowjetische Armee als mittelmäßig eingeschätzt, vor allem auf der Ebene der militärischen Führung. Am 3. Mai schätzt der Bericht des Militärattaches die Lage so ein, daß die Deutschen »ostentativ aufmarschieren « und »in der Bukowina und in der Moldova über 15 bis 20 Divisionen verfügen, darunter vier Panzerdivisionen. Die Rumänen bereiten sich auf den Krieg vor, und Karten von Rußland werden ausgegeben.« Nach Auffassung dieses Offiziers können die Deutschen etwa Mitte Mai zum Angriff übergehen. Auf diesem »offiziellen« Weg, das heißt über ordnungsgemäß zugelassene, in Wirklichkeit tolerierte und kontrollierte Beobachter, die ihre Berichte direkt an die G2-Abteilung (Deuxieme-Bureau) des Führungsstabs des Heeres sandten, kamen die Informationen über die Vorbereitungen der Wehrmacht zu denen aus anderen Quellen hinzu und fügten sich zu einem Gesamtbild von bedeutendem Gewicht. So wurden die obersten zivilen und militärischen Stellen in Vichy, ungeachtet des Wertes der ihnen zur Verfügung gestellten Informationen, ständig über die Entwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen auf dem laufenden gehalten, und es ist wohl unwahr29

SHAT 3P 106. Briefwechsel der französischen Militärattaches in Bukarest, 1941.

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scheinlich, daß ein Mann wie Darlan diesen Aspekt unberücksichtigt ließ30. Das Interesse, das er 1942 den Nachrichtendiensten und deren Umfeld entgegenbrachte, zeigt offensichtlich, daß er ihre Aktivitäten verfolgte. Der Konflikt mit den Verantwortlichen dieser Dienste, der daraus entstand, beweist dies ebenfalls31. Aber diese Problematik hat noch einen anderen Aspekt, der sich auf das deutsch-russische Verhältnis und die Vorbereitungen für »Barbarossa« bezieht: d. h. jene Informationen, die die Sowjets selbst erhalten haben könnten. Hier handelt es sich in der Tat um einen Punkt, der gleichzeitig die Qualität der Arbeit der geheimen Sonderdienste und das Ausmaß ihrer Sicht der Dinge ausdrückt, und dies in einem extrem schwierigen Zusammenhang. Darüber hinaus bestätigt dies unter einem anderen Blickwinkel, daß die Sowjets auf verschiedenen Wegen und relativ früh weitgehend über die deutschen Absichten informiert worden waren. Heute wissen wir, daß sie etwa im April 1941 von den Briten, den Schweden und den Amerikanern gewarnt wurden; die französische Quelle jedoch bleibt unsicher32. Schon Anfang August 1940 besaß der französische Nachrichtendienst genügend Hinweise, um beurteilen zu können, daß das Deutsche Reich die UdSSR angreifen würde, und um die Sowjets zu warnen, wurde eine Operation »d'intoxication« (etwa: »Unternehmen Vergiftungsgefahr«) auf der Grundlage von authentischen deutschen, von Keitel unterzeichneten Dokumenten vorbereitet, die allerdings verändert worden waren33. Daraus ging hervor, daß einem Fall Gelb ein Fall Grün (Seelöwe) und ein Fall Rot, nämlich der Angriff auf die UdSSR, folgen werde, der noch vor Seelöwe ausgelöst werden könnte. Dieses doppelseitige Schriftstück und alle im Laufe der Monate gesammelten Informationen über die Vorbereitungen der Wehrmacht, die dem sowjetischen Militärattache zugespielt wurden, wurden dort mit äußerster Skepsis aufgenommen. Die Quellen aber waren verläßlich, und unter ihnen sind besonders die Weisungen für die Vorbereitungen auf einen Angriff gegen die UdSSR hervorzuheben, die in Tunesien nach dem Untergang eines Frachters gefunden wurden, der Teile der 15. Panzerdivision transportierte34. Es paßt zwar nicht in den Untersuchungszeitraum dieser Arbeit, aber ich möchte dennoch hinzufügen, daß Oberstleutnant Barril, Leiter des Deuxieme Bureau, im Rahmen eines Berichts vom 27. Juni 1941 über die Konsequenzen und Auswirkungen des deutschrussischen Konflikts auf die französische Politik annahm, daß Deutschland den Krieg verlieren würde. Was nun Frankreich anginge, so wäre es sicher nicht sein Schicksal, dem Reich dabei zu folgen. Barrils Beurteilung hatte sich Anfang Januar 1942, in einer Note an das Oberkommando von Französisch-Nordafrika, von der ein Exemplar an den damaligen Verteidigungsminister Darlan weitergeleitet wurde35, nicht geändert. Der Admiral 30

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Vgl. Huan (wie Anm. 8). Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür findet sich bei den Gesprächen über die Protokolle, S. 420. Moysset, sein Vertrauter und Berater, wußte von den deutschen Vorbereitungen. Ebd., S. 454. Vgl. F. Harry Hinsley (Col.), British Intelligence in the Second World War, London 1979, S. 452f. Vgl. Navarre (wie Anm. 20), S. 130. Vgl. Garder (wie Anm. 21), S. 270. SHAT 3P 102 — EMA 2e Bureau. Das Exemplar Nr. 2 wurde zur persönlichen Information an General Juin gesandt. Sein Abdruck wurde verboten.

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reagierte prompt: Oberstleutnant Barril wurde auf der Stelle an die Front nach Nordafrika versetzt36. Ich möchte nun zum Ende dieses Beitrags kommen, dessen Ziel es war, einen Teil der Arbeit der geheimen und offiziellen französischen Sonderdienste und den Fluß von Informationen vorzustellen, die den obersten militärischen und zivilen Persönlichkeiten des Vichy-Regimes zugingen, in dem Darlan natürlich einen herausragenden Platz einnahm. Sind die von den Nachrichtendiensten gesammelten Informationen aber auch Marschall Petain zur Kenntnis gelangt? Niemand weiß es, aber es ist möglich, daß der obengenannte Bericht, den Oberstleutnant Barril am 27. Juni 1941 verfaßte, an Petains Kabinett übermittelt wurde 37 . Bevor ich zu den Schlußfolgerungen komme, die man aus diesen Fakten ziehen kann, wäre es interessant zu erfahren, wie man in Vichy-Kreisen auf die Meldung reagierte, daß das Unternehmen Barbarossa ausgelöst worden war. Ich will gleich vorausschicken, daß nur wenige Dokumente hierzu verfügbar sind, aus denen man lediglich einen wahrscheinlich unvollständigen, aber nicht uninteressanten Einblick gewinnen kann, wenn man berücksichtigt, um wen es sich bei diesen Zeitzeugen handelt. Von Pierre Nicolle zum Beispiel wurden die deutschen Vorbereitungen für einen Angriff auf die Sowjetunion schon im April als Gerücht gehandelt38. Als wirtschafts- und sozialpolitischer Berater und als Vertreter der französischen Unternehmer wohnte er im Botschaftshotel in Vichy und verkehrte dort mit zahlreichen ausländischen Diplomaten, die bei Marschall Petains Regierung akkreditiert waren, womit er am richtigen Ort saß, um nicht wenige Informationen zu sammeln. O b nun aus Paris, von Adrien Marquet, oder durch Äußerungen des rumänischen Gesandten: Es ging das Gerücht um, daß Deutschland mit dem Angriff auf die UdSSR nicht mehr lange warten würde. Am 19. Juni hielt sich hartnäckig die Parole, Deutschland greife Rußland an, aber es tauchten auch andere Meldungen auf, die Beweise für die Dürftigkeit dieser Informationen waren: Man hörte zum Beispiel, daß es vielleicht ein Geheimabkommen mit Stalin geben werde, der den deutschen Truppen den Durchmarsch in den Iran und nach Indien erlaube. Aber obwohl die Möglichkeit eines deutschen Angriffs eingeräumt wurde, schrieb Pierre Nicolle, daß »am Sonntag, dem 22., die Neuigkeit von Hitlers Kriegserklärung gegen Rußland wie ein Blitz eingeschlagen ist«. Am Tag darauf, dem 23., stellte Pierre Nicolle fest, daß »die russische Angelegenheit« in Vichy eine gewisse Begeisterung hervorgerufen habe und daß mit einem schnellen Sieg der Deutschen gerechnet werde; man spreche bereits von einem Kreuzzug gegen den Bolschewismus 39 . Aber, und hier zeigt sich die Geisteshaltung dieses Mikrokosmos, man machte sich auch Sorgen, wie die Arbeiter im Großraum Paris reagieren werden40. 36

Vgl. auch die vielleicht romantisierten, aber im Grunde exakten Kommentare von Paul Paillole, Services 5ρέα3υχ, 1935—1945, Paris 1975, S.336f.

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Dies schreibt ein gut plazierter Zeuge, Michel Garder (wie Anm. 21), S. 277. Vgl. Pierre Nicolle, Cinquante mois d'armistice — Vichy 2 juillet 1940—26 aout 1944. Journal d'un temoin, Paris 1947, S. 229 und passim.

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Ebd., S. 275.

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In der Tat kamen im Norden Frankreichs, wo nach den Streiks im Mai und vor allem in der Zeit

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Alfred Fabre-Luce wiederum, ein mondäner und scharfzüngiger Annalenschreiber, der in die vornehmsten Kreise der Kollaboration gut eingeführt war und von hohen Persönlichkeiten vor Ort, auch deutschen, viele vertrauliche Informationen erhielt, sah diesen Angriff kommen. Er berichtet von einem Abendessen am 21. Juni mit Franzosen und deutschen Offizieren, bei dem letztere abwesend und tief in Gedanken versunken schienen, bis zu dem Moment, wo einer von ihnen sich verabschiedete und durchblicken ließ, was sich zusammenbraute41. Auch er erwähnt Gerüchte, suchte nach Zusammenhängen und erfaßte schließlich deren Bedeutung. Der Chef von Petains zivilem Kabinett, der ebenfalls seine Memoiren veröffentlichte42, schreibt seinerseits, daß trotz der Verbindungen zu vielen anderen Ländern nichts auf den Angriff vom 22. Juni hindeutete, und dies ging so weit, daß Gaston Bergery, der im Juni 1941 zum französischen Botschafter in der UdSSR ernannt wurde, nach einem Gespräch mit Bogomolov erklärte, daß er »frühestens in zwei Jahren wiederkomme«. Bei seiner Abreise hatte er keine Ahnung von den Kriegsvorbereitungen, und es sieht ganz so aus, als ob Bogomolov ebenfalls nichts geahnt hat. Wenn man Du Moulin de Labarthete glaubt, »schlug die Neuigkeit in Vichy wie eine Bombe ein«43. Schon an diesen wenigen Beispielen sieht man, daß das Geheimnis gut gehütet wurde, denn wenn man dieses Ereignis auch logischerweise erwarten konnte, so mußte man sich doch mit Spekulationen begnügen. Auf der Ebene des Staatschefs oder Darlans, also seines »Thronfolgers«, sind die zuverlässigen Zeugenaussagen zwar spärlich, aber aussagekräftig. So berichtet Louis-Dominique Giiard, Sonderbeauftragter Darlans und Kabinettschef von Staatsminister Henri Moysset, daß Petain, als er am Nachmittag des 22. vom Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion erfuhr, sich die Hände rieb und immer wieder sagte: »Waterloo, Waterloo«, und dann hinzufügte: »Die Deutschen sind erledigt44.« Schließlich Admiral Darlan: Sicheren Quellen zufolge (Weygand, Kapitän z. S. Gandin) schickte Darlan am 10. Juni Gandin nach Algier, um Weygand vor dem unmittelbar bevorstehenden deutschen Angriff zu warnen, und am 17. ging er sogar so weit, ihm zu schreiben: »Ich glaube, daß wir an einem Wendepunkt stehen, und daß wir vielleicht bald einen Teil unserer Fesseln zerspringen sehen45.« Zum Schluß ein Versuch, einige Folgerungen aus dem Gesagten zu ziehen. Durch die Arbeit der französischen Sonderdienste und ihrer verschiedenen Abteilungen sind die

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nach Juni 1941 kaum mehr Zurückhaltung geübt wurde, die deutschfeindlichen und englandfreundlichen Gefühle am deutlichsten zum Ausdruck. Vgl. Emile Dejonghe, Le Nord isole; occupation et opinion, mai 1940—mai 1942, in: Revue d'histoire moderne et contemporaine, 26 (1979), J a n u a r März, S. 48—86 und passim. Vgl. Journal de la France, aoüt 1940—avril 1942, Paris 1942, S. 133 f. Vgl. Le temps des illusions. Souvenirs (juillet 1940 — avril 1942), Paris 1946, S. 217. Ebd., S. 229. Die in Vichy stationierten Deutschen zeigten sich sehr zurückhaltend und sollen bei Bekanntwerden des Angriffs »gejubelt« haben, wobei einige erklärten, daß die Wehrmacht 14 Tage später in Moskau sein werde. Siehe Maurice Martin du Gard, La chronique de Vichy 1940—1944, Paris 1975, S. 143. Siehe Montoire, Verdun diplomatique. Le secret du marechal, Paris 1948, S. 257 f. Vgl. die Arbeit von Huan und Coutau-Begarie (wie Anm. 8), S. 418.

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deutschen Absichten hinsichtlich der Sowjetunion ständig überwacht worden, und die Qualität der gewonnenen Nachrichten erlaubte recht genaue Voraussagen. Genauso steht es zweifelsfrei fest, daß die höchsten — zivilen und auf jeden Fall militärischen — Regierungsstellen diese Entwicklungen verfolgten und darüber auf dem laufenden gehalten wurden. Das unmittelbare Bevorstehen des Angriffs wurde zwar erst sehr spät bekanntgegeben, aber dies war nichts Außergewöhnliches, wenn man bedenkt, daß die britischen Geheimdienste — deren Mittel denen der Franzosen um ein vielfaches überlegen waren — erst Mitte Mai über zuverlässige Informationen verfügten46. In der Tat gab Enigma nur den 10. Juni als mögliches Datum an. Darlan, der im Zentrum der höchsten ministeriellen Macht saß und mit den entscheidenden Verhandlungen über die Zukunft Frankreichs und seiner Uberseegebiete beauftragt war, begann im Mai 1941 seine Verhandlungen mit Hitler, wobei er unweigerlich wissen mußte, was im Osten geschah. Bei der Unterzeichnung der Pariser Protokolle, die Frankreich auf einen gefährlichen Weg brachten und deren Geschichte man heute vollständig kennt, wußte Darlan bereits, daß das Reich sich in ein Himmelfahrtsunternehmen stürzte, auch wenn die deutsche Macht damals noch unbesiegbar schien. Man konnte beobachten, daß sich seine Haltung gegenüber seinen nationalsozialistischen Verhandlungspartnern im Juli änderte, und zwar nicht unter dem Einfluß des Rußlandfeldzuges, sondern weil er endlich begriffen hatte, daß die Deutschen alle Verhandlungen ablehnten47. Es steht mir nicht zu, über Darlans damalige Politik zu urteilen, aber es ist bezeichnend, daß er die Haltung eines Pokerspielers einnahm, der die Konsequenzen aus dem Handeln seines Hauptgegners nicht wahrhaben wollte. Die Folgen sind heute bekannt. Der Antibolschewismus (und auch der Antikommunismus), der in den Kreisen von Vichy herrschte, hat die Beurteilung des deutsch-sowjetischen Krieges wahrscheinlich verfälscht, und anfangs, wie man es bei Pierre Nicolle herausliest, freute man sich sogar über ihn. Diese Haltung spiegelt allerdings nur den Geisteszustand bestimmter sozialer Schichten wider, während die kommunistische Partei dagegen den bewaffneten Kampf gegen die Besatzer aufnahm, worauf diese das Räderwerk der Unterdrückung in Gang setzten48. »Barbarossa« war somit geeignet, alle diese Tendenzen herauszukristallisieren und zu verstärken und damit eine neue Phase des Krieges einzuleiten, so daß zu fragen ist, wo die »Kriegswende« für Frankreich, die man gewöhnlich 1942 ansetzt49, wirklich lag.

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Siehe British Intelligence (wie Anm. 32), S. 461 und passim. Vgl. Huan, Coutau-Begarie (wie A n m . 8), S. 434. Schon am 23. Juni überrollten Verhaftungswellen im besetzten wie im unbesetzten Teil Frankreichs Weißrussen und Sowjets gleichermaßen; die bereits 1939/40 stark überwachten französischen Kommunisten wurden von nun an als Regimefeinde angesehen und schweren Unterdrückungen ausgesetzt. Uber die allgemeine Stimmung kann man auch in dem Buch von Stephane Courtois, Denis Peschanski und Adam Rayski nachlesen: Le Sang de l'etranger. Les emigres de la M.O. I. dans la resistance, Paris 1989, S. 117ff. Vgl. Krautkrämer (wie Anm. 1).

Anatolij G. Chor'kov

Die Anfangsphase des Krieges — das Jahr 1941*

Die mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges in Verbindung stehenden Geschehnisse haben immer die Aufmerksamkeit der Historiker auf sich gezogen und tun es weiterhin. Dank Perestrojka und Glasnost' in unserem Lande ist es möglich geworden, viele bisher unbekannte Archivdokumente in die Forschung einzubringen und auf ihrer Grundlage ein klareres Bild von jener schwierigen und widerspruchsvollen Zeit zu zeichnen. In den Vorkriegsjahren verstand man unter der Anfangsperiode eines Krieges diejenige Zeit, in der die kriegführenden Seiten mit aufmarschierten Teilen ihrer Streitkräfte Kampfhandlungen führten, um erste strategische Ziele zu erreichen oder günstige Bedingungen für den Eintritt der Hauptkräfte in die Schlacht zu schaffen. Parallel dazu haben die Staaten — und insbesondere jene, die einer Aggression ausgesetzt waren — meist vielfältige Maßnahmen zur Mobilmachung ihrer Streitkräfte ergriffen, ihre Wirtschaft umgestellt und ihre Außenpolitik gegenüber Gegnern, Verbündeten und neutralen Ländern aktiviert. Die sowjetischen Militärtheoretiker waren der Ansicht, daß ein Überraschungsangriff die gewünschte Wirkung nur in einem Krieg gegen einen kleinen Staat zeitigen könne, daß hingegen Deutschland für einen Angriff auf die Sowjetunion eine gewisse Zeit brauchen würde, um seine Hauptkräfte mobil zu machen, zu konzentrieren und zu entfalten. Deshalb schrieb Marschall der Sowjetunion Georgij K. Zukov (von Januar bis Juli 1941 Chef des Generalstabes): »Bei der Überarbeitung der Operationspläne im Frühjahr 1941 wurden die Besonderheiten der modernen Kriegführung in der Anfangsperiode praktisch nicht voll berücksichtigt. Das Volkskommissariat für Verteidigung und der Generalstab meinten, daß ein Krieg zwischen solch großen Mächten wie Deutschland und der Sowjetunion nach dem altbekannten Schema beginnen müsse: Die Hauptkräfte treten mehrere Tage nach den Grenzschlachten in den Kampf. Für das faschistische Deutschland wurden hinsichtlich der Konzentrierungs- und Aufmarschfristen die gleichen Bedingungen wie bei uns zugrunde gelegt. In Wirklichkeit waren die Kräfte und die Bedingungen aber längst nicht gleich 1 !«

Der 22. Juni 1941 wird aus dem Gedächtnis des sowjetischen Volkes nie zu tilgen sein. Im Morgengrauen jenes Sonntages begann das Deutsche Reich wortbrüchig und unter Verletzung des bestehenden Nichtangriffsvertrages auf breitester Front mit dem Angriff gegen die Sowjetunion. Dabei gelang es der deutschen Führung, sich in den Hauptstoßrichtungen eine erhebliche Überlegenheit über die sowjetischen Truppen zu verschaf* In anderer Übersetzung erschienen in: Zwei Wege nach Moskau. Vom Hitler-Stalin-Pakt zum »Unternehmen Barbarossa«. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Bernd Wegner, München, Zürich 1991, S. 425—442. 1 Georgij K. Zukov, Vospominanija i razmyslenija, Bd 1, Moskau 1986, S. 275f. (nach der dt. Ausgabe G . K . Shukow, Erinnerungen und Gedanken, Berlin (Ost) 5 1976, S. 253f.).

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fen. So standen in der Richtung Brest—Baranovici der Westfront sieben sowjetischen Divisionen fünfzehn deutsche Divisionen, davon fünf Panzerdivisionen, gegenüber. Damit konnte auf einem 100 km breiten Abschnitt eine Überlegenheit von 3,7:1 bei Artillerie vom 2,8:1 und bei Panzern annähernd von 1,5:1 erzielt werden. Die Stoßkräfte der Heeresgruppe Süd, der die Truppen der Südwestfront gegenüberstanden, besaßen eine fast dreifache personelle und materielle Überlegenheit. Im Bereich der Südfront wurden in der Richtung Iaci—Bel'cy sieben gegnerische Divisionen konzentriert, wodurch eine mehr als dreifache Überlegenheit entstand. Der Angriff der Wehrmacht begann mit einer intensiven Artillerievorbereitung, in deren Verlauf Geschütze und Granatwerfer ihr Feuer auf die entlang der Grenze geschaffenen Befestigungsanlagen sowie auf Stäbe, Fernmeldeeinrichtungen und Unterbringungsräume der sowjetischen Truppen richteten. Gleichzeitig drangen Hunderte von deutschen Bombern unter dem Schutz von Jagdflugzeugen in den sowjetischen Luftraum ein und bombardierten intensiv Flugplätze, Marinestützpunkte, Eisenbahnknotenpunkte und andere militärische Objekte sowie die großen Städte Litauens, Lettlands, Estlands, Weißrußlands, der Ukraine und Moldawiens. Die Reichweite der Luftwaffe betrug 300 bis 500 km. Ihre Angriffe richteten sich gegen 66 Flugplätze2. Die alarmierten Truppen versuchten, gemäß den ihnen in ihren Vorkriegsplänen gestellten Aufträgen zu handeln. Allerdings gelang es nur einigen Verbänden der 10. Armee der Westfront, die Staatsgrenze in den Hauptstoßrichtungen der Wehrmacht zu erreichen und sich zu entfalten. An der Südwestfront waren dies Verbände der 5., 6. und der 26. Armee. Viele der in die Aufmarschräume vorgerückten Verbände erlitten noch vor Beginn der Schlacht große Verluste. Sie traten einzeln und an dem gerade erreichten Abschnitt in den Kampf, ohne sich voll entfaltet und ihre Gefechtsordnung hergestellt zu haben oder über eine zuverlässige Flugabwehr zu verfügen. Sie konnten daher auch nicht die ihnen bei der Einsatzplanung zugewiesenen Aufgaben erfüllen. Nach der Eröffnung der Kampfhandlungen gab der Volkskommissar für Verteidigung der UdSSR um 7.15 Uhr folgende Direktive heraus: »Am 22. Juni 1941, 4 Uhr morgens, hat die deutsche Luftwaffe ohne jeglichen Anlaß unsere Flugplätze und Städte entlang der Westgrenze angegriffen und bombardiert. Gleichzeitig haben deutsche Truppen an verschiedenen Stellen das Artilleriefeuer eröffnet und unsere Grenze überschritten. Im Zusammenhang mit diesem beispiellos dreisten Uberfall Deutschlands auf die Sowjetunion befehle ich 1. den Truppen, sich mit allen Kräften und Mitteln den feindlichen Kräften entgegenzuwerfen und sie in den Räumen, in denen sie die sowjetische Grenze verletzt haben, zu vernichten; bis auf weiteres ist die Grenze von den Landstreitkräften nicht zu überschreiten; 2. den Aufklärungs- und Kampffliegern, die Bereitstellungsräume der Luftwaffe des Gegners und die Gruppierung seiner Landstreitkräfte festzustellen. Von den Bomben- und Schlachtfliegern sind die Luftwaffe auf den Flugplätzen des Gegners zu vernichten und die Hauptgruppierungen seiner Landstreitkräfte zu bombardieren. Die Angriffe der Fliegerkräfte sind auf deutsches Gebiet bis zu einer Tiefe von 100 bis 150 km zu richten; Königsberg und Memel sind zu bombardieren. Gegen das Territorium Finnlands und Rumäniens sind bis zum Erhalt besonderer Weisungen keine Angriffe zu fliegen 3 .« 2 3

Zentrales Archiv des Ministeriums für Verteidigung der UdSSR (CAMO), f. 290, op. 3284, d. 5, S. 93 f. CAMO, f. 208, op. 2683, d. 5, S. 3.

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Wie aus der Weisung hervorgeht, hoffte das Oberkommando offenbar, das Ausmaß der Kämpfe zeitlich begrenzen und sie bis zur völligen Klärung der Lage im Rahmen von Grenzschlachten lokalisieren zu können. Aber auch diese Aufgabe wurde unter den gegebenen Bedingungen nicht erfüllt: »Vom Kräfteverhältnis und von der Lage her«, so Marschall der Sowjetunion Zukov, »erwies sie sich eindeutig als unrealistisch und wurde deswegen auch nicht verwirklicht.« Weil keine regelmäßigen und exakten Meldungen über den Verlauf der Kämpfe, den Zustand der eigenen Truppen und den Charakter der gegnerischen Operationen eingingen, war es den Oberkommandos der Fronten nicht möglich, den Generalstab über die tatsächliche Lage ins Bild zu setzen. Um Aufschluß über die Entwicklung an den Fronten zu erhalten und diesen die notwendige Unterstützung zukommen zu lassen, wurden in den Mittagsstunden des 22. Juni der Chef des Generalstabes, General Zukov, zur Südwestfront, die Stellvertreter des Volkskommissars für Verteidigung, die Marschälle der Sowjetunion Β. M. Saposnikov und G. I. Kulik, zur Westfront sowie der stellvertretende Chef des Generalstabes, General N.F. Vatutin, zur Nordwestfront als Vertreter des Obersten Kommandos entsandt. Um 21.15 Uhr gab der Hauptkriegsrat eine neue Direktive an die Truppe mit der Forderung heraus, in den Hauptrichtungen zum Angriff überzugehen, um die Angriffsspitzen des Gegners zu zerschlagen und die Kampfhandlungen auf dessen Territorium zu verlagern. Die Truppen der Nordwest- und der Westfront hatten zusammen mit den Kräften der Frontflieger, unterstützt von den Fernfliegern, konzentrierte Angriffe aus den Räumen Kaunas und Grodno in Richtung Suvalki zu führen, die dort stehenden Kräfte des Gegners einzuschließen und zu vernichten und bis zum Abend des 24. Juni den Raum Suvalki zu besetzen. Die Truppen der Südwestfront erhielten den Auftrag, unterstützt von den Fernfliegern, konzentrische Schläge in Richtung Lublin zu führen, den im Abschnitt Vladimir—Volynskij — KrystynopoF angreifenden Gegner einzuschließen und zu zerschlagen und bis zum Abend des 24. Juni den Raum Lublin zu besetzen. Den Armeen der Nord- und der Südfront wurden Verteidigungsaufgaben gestellt. Sie hatten die Staatsgrenze in ihren Abschnitten zu sichern und das Vordringen des Gegners auf das sowjetische Territorium zu verhindern. Der Hauptkriegsrat ließ jedoch, als er den sowjetischen Truppen befahl, die gefährlichsten Gruppierungen des Gegners zu zerschlagen, die Schwierigkeiten außer acht, die mit der innerhalb einer Nacht durchzuführenden Organisation und der Vorbereitung von derart weitreichenden Offensiven verbunden waren. Die Lage an der Front erwies sich als weitaus komplizierter, als dem Generalstab und dem Hauptkriegsrat bekannt war. Die zur Führung der Gegenangriffe herangezogenen Schützenkorps und nahezu alle mechanisierten Korps wurden in schwere Grenzkämpfe verwickelt und erlitten hohe Verluste. Die erbitterten Kämpfe an der tausend Kilometer langen Front liefen sehr schnell ab, immer häufiger zeichneten sich in dieser oder jener Richtung krisenhafte Lagen ab. Entsprechend ihrer Planung forcierte die deutsche Heeresführung den Angriff in erster Linie im mittleren Frontabschnitt, wobei sie davon ausging, daß die Heeresgruppe Mit-

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te nach Erreichen des Raumes Smolensk im Zusammenwirken mit der Heeresgruppe Nord in kurzer Zeit das gesamte nördliche Rußland und das Moskauer Industriegebiet einnehmen und danach im Zusammenwirken mit der Heeresgruppe Süd das Industriegebiet des Donez-Beckens erobern könne. »Wenn wir erst einmal Dnjepr und Düna überwunden haben«, so der Chef des Generalstabs des Heeres, Generaloberst Franz Halder, »wird es sich weniger um das Zerschlagen feindlicher Wehrmachtsteile handeln als darum, dem Feind seine Produktionsstätte aus der Hand zu nehmen und ihn so zu hindern, aus der gewaltigen Leistung seiner Industrie und aus den unerschöpflichen Menschenreserven wieder eine neue Wehrmacht aufzustellen 4 .«

Die Heeresgruppe Nord sollte in kürzester Zeit das Baltikum erobern und Leningrad nehmen. Der Befehl für die Heeresgruppe Mitte lautete, so schnell wie möglich den Abschnitt Rogacev—Mogilev—Orsa—Vitebsk—Polock zu erreichen, Smolensk Mitte Juli und Moskau im August zu nehmen. Die Heeresgruppe Süd sollte die Ukraine erobern. Zur Bewältigung dieser Aufgaben konzentrierte die Wehrmacht im nordwestlichen Frontabschnitt ihre Kräfte in Richtung §iauliai und Vilnius. Die sowjetischen Truppen führten zur Zerschlagung der eingedrungenen gegnerischen Verbände vom 23. bis 25. Juni einen Gegenangriff mit den Kräften des 3. und 12. mechanisierten Korps. Dadurch wurde zwar der gegnerische Angriff bei Schaulen zum Stehen gebracht, es gelang aber nicht, die deutschen Truppen zu zerschlagen oder ihren weiteren Vorstoß aufzuhalten. Unter schweren Verlusten mußten sich die Truppen der Nordwestfront nach Nordosten zurückziehen. An der Westfront, wo mit der Heeresgruppe Mitte die stärksten Kräfte angriffen, wurden die Hauptstöße in Richtung Grodno und Brest—Baranovici geführt. Durch den tiefen Einbruch der deutschen Panzergruppen 2 und 3 waren die beiden Flanken der Westfront bedroht. Um diese ungünstige Lage zu korrigieren, beschloß der Kriegsrat der Front einen Gegenstoß, der vom 6. und 11. mechanisierten Korps in Richtung Belostok (Bialystok), südlich von Grodno, geführt werden sollte. Diese beiden Korps fügten, nachdem sie in den Raum Grodno vorgegangen waren, dem VIII. Armeekorps des Gegners erhebliche Verluste zu und verlangsamten seinen Vormarsch; dadurch konnte sich die im Belostoker Vorsprung verteidigende 10. Armee geordnet hinter den Narev zurückziehen. Die Gesamtlage der Westfront wurde jedoch immer prekärer. Am 28. Juni vereinigten sich die Panzergruppen der Wehrmacht, die an den Flanken angegriffen hatten, im Raum Minsk. Die sowjetischen Truppen erlitten schwere Verluste. Der Gegner hatte fast ganz Weißrußland erobert und war bis zum Dnepr vorgestoßen. Nach Südosten führten die Panzergruppe 1 und die 6. Armee der Heeresgruppe Süd einen Stoß in Richtung Zitomir—Kiev. Die 17. Armee griff in Richtung L'vov an. Die Truppen der Südwestfront verteidigten sich hartnäckig; dennoch gelang es dem Gegner, aus dem Raum Sokal' heraus in Richtung Dubno durchzubrechen, wodurch die gesamte südliche Gruppierung der Front von einer weiten Umfassung bedroht war. Zwischen den 4

Generaloberst Halder, Kriegstagebuch. Tägliche Aufzeichnungen des Chefs des Generalstabes des Heeres 1939—1942, bearb. von Hans-Adolf Jacobsen, hrsg. vom Arbeitskreis für Wehrforschung, 3 Bde, Stuttgart 1 9 6 2 - 1 9 6 4 , hier Bd3, S.38f.

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inneren Flanken der 5. und 6. Armee hatte sich eine Lücke von etwa 50 km Breite aufgetan, in welche die Verbände der Panzergruppe 1 und der 6. Armee hineinstießen. Für einen Gegenschlag gegen die durchgebrochenen Truppen des Gegners zog die Führung der Südwestfront sechs mechanisierte Korps (das 4., 8., 9., 15., 19. und 22. Korps) und einen Teil der Schützendivisionen heran. Am 23. Juni kam es im Raum Luck—Brody— Rovno—Dubno zu einer großen Panzerschlacht, die bis zum 29. Juni andauerte. Der Gegenangriff spielte eine wichtige Rolle: Damit wurde es dem Gegner verwehrt, aus der Bewegung bis Kiev durchzubrechen und die Hauptkräfte der Südwestfront einzuschließen. Allerdings griffen die sowjetischen mechanisierten Korps bei der Führung dieses Stoßes nicht gleichzeitig an, sondern jeweils nach ihrem Eintreffen. Es gelang darum nicht, ihren Einsatz durch eine einheitliche Führung wirkungsvoll zu konzentrieren, so daß die Gegenangriffe auf eine Reihe unkoordinierter Begegnungsgefechte hinausliefen. Die Truppen der Südwestfront mußten sich schließlich zurückziehen. Im Bereich der Südfront stieß die Wehrmacht mit zwei Infanteriedivisionen und einer Panzerbrigade der rumänischen 3. Armee sowie mit sieben Divisionen der deutschen 11. Armee vor, die am 1. Juli zum Angriff übergingen. Die nahezu 400 km lange Front der sowjetischen 9. Armee wurde in zwei Richtungen durchbrochen. Infolge dieses Durchbruches und der Rücknahme des linken Flügels der Südwestfront gab der Oberbefehlshaber der Südfront am 7. Juli der 18. Armee den Befehl zum Rückzug auf die Flüsse Zbruc und Dnestr, um im befestigten Raum Mogilev—Podol'sk die Verteidigung aufzubauen; die Verbände an der rechten Flanke der 9. Armee sollten sich hinter den Dnestr zurückziehen. Die Kämpfe im hohen Norden begannen am 29. Juni mit einem Angriff des deutschen Gebirgskorps »Norwegen« in Richtung Murmansk. Am folgenden Tag stießen finnische Truppen in Richtung Uchtinsk vor, und am 1. Juli folgte der Angriff deutscher und finnischer Verbände in Richtung Kandalaksa. Mitte Juli gelang es, den Angriff an diesem Frontabschnitt zum Stehen zu bringen. Dennoch blieb die Lage gegen Ende der Anfangsphase des Krieges für die Rote Armee schwierig. Gekämpft wurde 120 km vor Leningrad, im Raum Smolensk und an den Zugängen zu Kiev. Für diese Verwaltungszentren bestand die unmittelbare Gefahr einer Besetzung. Die sowjetischen Truppen benötigten dringend personellen und materiellen Ersatz. Von den 212 Divisionen und drei Schützenbrigaden, die zur kämpfenden Truppe gehörten, waren nur 90 vollständig ausgestattete5. Nach objektiver Einschätzung der Lage faßte das sowjetische Oberkommando den Entschluß, an der gesamten sowjetisch-deutschen Front zur strategischen Verteidigung überzugehen. Die Truppen der ersten strategischen Staffel und die in Richtung Front marschierenden Armeen der zweiten strategischen Staffel erhielten den Auftrag, in den Angriffsrichtungen des Gegners ein System von Verteidigungsabschnitten vorzubereiten und durch hartnäckigen und aktiven Widerstand unter Ausnutzung dieser Abschnitte die Angriffswucht des Gegners aufzufangen, ihn zum Stehen zu bringen und Zeit für die Vorbereitung einer Gegenoffensive zu gewinnen. 5

Istorija vtoroj mirovoj vojny 1939—1945 (Geschichte des zweiten Weltkrieges 1939—1945), Bd 4, Moskau 1975, S. 60.

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Nachdem erkannt worden war, daß der Gegner seine Hauptkräfte in Richtung Smolensk — Moskau konzentrierte, beschloß das Oberkommando, die Masse der strategischen Reserven dorthin zu verlegen, um eine stabilere und tiefgestaffelte Verteidigung aufzubauen. Im rückwärtigen Bereich der Westfront wurde im Abschnitt zwischen der westlichen Dvina und dem Dnepr aus der Reserve des Oberkommandos eine Armeegruppe unter Einbeziehung der 19., 20., 21. und 22. Armee aufgestellt; auch die 16., die 24. und die 28. Armee wurden dorthin in Marsch gesetzt. Mit der Zuführung der Reserven verstärkte sich der Widerstand der sowjetischen Truppen. Der Angriff der deutschen Truppen im Baltikum, vor Leningrad und Kiev blieb stecken, und im Mittelabschnitt wurde der Gegner im Raum Smolensk in langwierige Kämpfe verwickelt. Die Pläne der deutschen Führung, den Dnepr aus der Bewegung heraus zu überwinden und ungehindert nach Moskau, Leningrad und in das Donec-Becken vorzudringen, waren gescheitert. Insgesamt jedoch hatte der Gegner in den ersten drei Kriegswochen bedeutende operativ-strategische Erfolge zu verzeichnen. Das deutsche Heer hatte mit Unterstützung der Luftwaffe, die die Luftherrschaft besaß, die Grenzschlachten gewonnen und den sowjetischen Truppen der ersten strategischen Staffel eine schwere Niederlage zugefügt. Auf dem vom Gegner besetzten Territorium waren etwa 200 Depots mit Treibstoff, Munition und Ausrüstung zurückgeblieben. In den Depots befanden sich auch die Nahrungsmittelvorräte der Hauptverwaltung für Reserven, die nicht in das Hinterland verbracht worden waren, weil bis zum 29. Juni keinerlei Weisungen für ihren Abtransport ergingen6. Mit der Eroberung vieler Depots durch den Gegner verloren die sowjetischen Truppen die vorbereiteten Vorräte an Waffen, Munition und Treibstoff. Dies führte zu einem akuten Mangel an Ausrüstung und technischen Kampfmitteln insbesondere bei den neu aufgestellten Verbänden sowie zu erheblichen Engpässen bei der Versorgung der Truppe mit Munition und Treibstoff; dadurch wurde die Verteidigung außerordentlich erschwert. Der erzwungene Rückzug der sowjetischen Truppen in das Landesinnere belastete in vielerlei Hinsicht die Durchführung der Mobilmachung. Schon am ersten Kriegstag war durch eine Direktive des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR für die westlichen Militärbezirke der Kriegszustand verkündet und am folgenden Tag mit der Einberufung der Wehrpflichtigen der Jahrgänge 1905 bis 1918 begonnen worden. Sie erstreckte sich auf das gesamte Territorium der UdSSR mit Ausnahme von Mittelasien, des Transbaikalgebietes und des Fernen Ostens und erbrachte eine wesentliche Erhöhung der zahlenmäßigen Stärke der sowjetischen Streitkräfte. Die Mobilmachung der Truppe bestand in ihrer Umstellung auf Kriegsstruktur. Die Verbände und Einheiten wurden mit Reservisten aufgefüllt. Fehlende Kraftfahrzeuge, Zugmaschinen und Pferde kamen aus der zivilen Wirtschaft, jedoch trafen die Kraftfahrzeuge in der Regel mit Verspätung ein7. Die im Zuge der Mobilmachung vorgesehenen Verstärkungen der ersten strategischen Staffel wurden von den Sammelstellen entsprechend der Planung zu ihren militärischen 6 7

CAMO, f. 208, op. 2526, d. 27, S. 428—431. CAMO, f. 208, op. 2511, d. 3, S. 25.

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Einheiten an den alten Standorten in Marsch gesetzt, den diese aber nicht selten bereits verlassen hatten. Aus diesem Grunde erreichte ein beträchtlicher Teil der Einberufenen die vorgesehenen Einheiten nicht. Der schnelle Vormarsch der deutschen Truppen erlaubte es nicht, die Mobilmachung im vollen Umfang durchzuführen. Ebensowenig konnte die Planung für die Heranführung von Personal und Transportmitteln aus den Militärbezirken im Landesinnern umgesetzt werden. Im Endeffekt waren die mobilgemachten Einheiten weder personell und schon gar nicht mit Kraftfahrzeugen und Zugmaschinen zufriedenstellend ausgestattet. Am 23. Juni 1941 faßte der Rat der Volkskommissare den Beschluß zur Inkraftsetzung eines Mobilmachungsplanes für die Munitionsproduktion. Am folgenden Tag wurde auf einer Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees der Partei der dringendste Bedarf der Panzerindustrie erörtert. Als vorrangige Aufgabe wurde der Aufbau einer leistungsstarken Panzerproduktion im Volgagebiet und im Ural — also dort, wo bisher keine Panzer hergestellt wurden — beschlossen. Am achten Kriegstag bestätigten das ZK der KPdSU (B) und der Rat der Volkskommissare der UdSSR den Mobilmachungsplan der Volkswirtschaft für das dritte Quartal 1941, der eine Steigerung der Produktion von militärischem Material vorsah. Am 24. Juni wurde für die Leitung der Evakuierung von Bevölkerung, Behörden, militärischen und anderen Gütern, Fabrikanlagen und sonstigen Werten ein Evakuierungsrat gebildet. Am 29. Juni verkündete das Zentralkomitee der Partei in einer Direktive unter der Losung »Alles für die Front, alles für den Sieg!« ein Aktionsprogramm zur Umwandlung des Landes in ein einziges, allein auf die Kriegsnotwendigkeiten ausgerichtetes Militärlager. Als Organ, in dessen Händen sich die gesamte Macht im Lande konzentrierte, wurde am 30. Juni 1941 das »Staatliche Komitee für Verteidigung« gebildet. Zur strategischen und operativen Führung der sowjetischen Truppen wurde am 23. Juni das Hauptquartier des Oberkommandos der Streitkräfte der UdSSR geschaffen. Arbeitsorgane des Hauptquartiers waren der Generalstab und die Hauptverwaltungen des Volkskommissariats für Verteidigung. Im Zusammenhang mit der Ausweitung des Kampfes gegen die deutschen Angreifer, mit den raschen Veränderungen der Lage, den gestörten Verbindungen zu den Fronten und den Problemen des Zusammenwirkens zwischen ihnen wurde es darüber hinaus erforderlich, die operativ-strategische Führung durch Schaffung von Zwischeninstanzen des Hauptquartiers stärker mit der Truppenführung zu verbinden. Zu diesem Zwecke beschloß das Staatliche Komitee für Verteidigung am 10. Juli 1941 die Bildung von drei Oberkommandos — der Nordwest-, der West- und der Südwestrichtung — und der diesen zugeordneten Kriegsräte. Am gleichen Tag wurde das Hauptquartier des Oberkommandos in Hauptquartier des Obersten Kommandos umgebildet, und am 8. August erhielt es schließlich die Bezeichnung Hauptquartier des Kommandos des Obersten Befehlshabers. Das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR, der Rat der Volkskommissare der UdSSR und das ZK der KPdSU (B) gaben in diesem Zusammenhang folgenden Beschluß bekannt: »1. Der Vorsitzende des Staatlichen Komitees für Verteidigung und Volkskommissar für Verteidigung, Genösse I. V. Stalin, wird zum Obersten Befehlshaber aller Truppen der Roten Arbeiter- und Bauernarmee und der Seekriegsflotte ernannt.

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2. Alle Befehle des Hauptquartiers des Kommandos des Obersten Befehlshabers sind künftig zu zeichnen mit »Oberster Befehlshaber I. Stalin, Chef des Generalstabes B. Saposnikov«. 3. Einzelne Anordnungen und Weisungen des Hauptquartiers sind wie folgt herauszugeben: »Im Auftrag des Hauptquartiers des Kommandos des Obersten Befehlshabers, der Chef des Generalstabes B. Saposikov. Vorsitzender des Präsidiums

Vorsitzender des Rates der

des Obersten Sowjets der UdSSR

Volkskommissare der UdSSR und

Μ. I. Kalinin

Sekretär des ZK der KPdSU (B) I. V. Stalin« i«

Diese außerordentlich wichtigen Entscheidungen und Maßnahmen spielten eine gewaltige Rolle bei der Umstellung des gesamten Lebens des Landes auf den Krieg und bei der Schaffung notwendiger Voraussetzungen für eine erfolgreiche Kriegführung. Die an der Spitze des Kampfes des ganzen Volkes gegen die deutschen Angreifer stehende Kommunistische Partei entwickelte ausreichend Kräfte und Fähigkeiten, um die Folgen der gemachten Fehler zu überwinden und das sowjetische Volk für einen organisierten Widerstand gegen den Feind zu mobilisieren. Bereits mit den ersten Kriegstagen war deutlich geworden, daß weder das Überraschungsmoment des Angriffs noch die Wucht der ersten gegnerischen Schläge den Widerstandswillen des sowjetischen Volkes und seiner Armee brechen konnten. Der Massenheroismus der sowjetischen Soldaten erwies sich als jener Faktor, den die politische und militärische Führung der Deutschen bei der Planung und Durchführung der Aggression nicht berücksichtigt hatte. Dabei waren Tragisches und Heroisches oft dicht nebeneinander zu finden. Ungeachtet der Dramatik des Kriegsbeginns, der Aufgabe von Stellungen und der Zusammenbruchserscheinungen der Truppenführung kämpften die sowjetischen Soldaten in der Regel hartnäckig gegen die überlegenen Kräfte des Feindes. Selbst wenn sie umfaßt oder umgangen, nicht selten auch wenn sie eingeschlossen wurden, handelten sie in der Mehrzahl der Fälle tapfer und standhaft und waren eher bereit zu fallen, als dem Feind den zu verteidigenden Abschnitt zu überlassen. Die Grenzsoldaten nahmen als erste den Kampf auf. Mit besonderer Tapferkeit handelten in der Nordwestrichtung die Soldaten und Kommandeure der 9., 13. und 17. Grenzwache, der 67. Schützendivision unter General Ν. A. Dedaev und des Marinestützpunktes Liepäja8. Sechs Tage lang — vom 22. bis 27. Juni — konnten sie trotz Einschließung gemeinsam mit Offiziersschülern und mit aktiver Unterstützung durch Volkswehreinheiten der Stadt alle Angriffe des Gegners abwehren. Der Marinestützpunkt wurde vom Gegner erst dann eingenommen, als alle Möglichkeiten der Verteidiger erschöpft waren. Ein leuchtendes Beispiel aus der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges ist die Verteidigung der Festung Brest. Die sowjetischen Soldaten in dieser Festung setzten den Kampf noch fort, als deutsche Panzer schon in Minsk einrollten. Selbst als die Front bereits die Berezina erreicht hatte, schlugen sie alle gegnerischen Kapitulationsangebote aus. Nach einem Monat standen die deutschen Truppen vor Smolensk, aber immer noch ging der beispiellose Kampf der Verteidiger der Festung weiter. 8

C A M O , f. 9, d. 109, S. 43; f. 18, d. 40015, S. 4.

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Auch der Luftkrieg wurde von Anfang an ungewöhnlich hart geführt. In selbstloser Weise waren die sowjetischen Flieger bemüht, dem Gegner möglichst hohe Verluste zuzufügen. Nicht selten gingen sie dazu über, gegnerische Maschinen zu rammen, wenn ihre Munition verschossen war. So nahm der Oberpolitleiter Danilov über der Stadt Lida (Gebiet Grodno) den Kampf mit neun Flugzeugen auf. Er schoß zwei deutsche Jäger in Brand und rammte einen dritten. Soldaten, die am Boden den Luftkampf beobachteten, mußten annehmen, daß der Pilot gefallen sei. Die Zeitung »Krasnaja zvezda« teilte in ihrem Leitartikel mit, daß er postum mit dem Leninorden ausgezeichnet wurde. Aber der Pilot war nicht gefallen: Bewohner eines Dorfes hatten den Schwerverwundeten gefunden. Nach langwieriger Heilbehandlung und beharrlichem Training konnte er zu seiner Einheit zurückkehren. Bei den Kämpfen um den Zugang zum Dnepr zeichnete sich Oberstleutnant S. P. Suprun besonders aus. Am 4. Juli fiel er in einem Luftkampf; er wurde — nunmehr postum — zum zweiten Mal mit dem »Goldenen Stern« ausgezeichnet und war damit der erste zweifache Held der Sowjetunion während des Großen Vaterländischen Krieges. Es ist allgemein bekannt, daß die sowjetischen Truppen in den ersten Kriegsstunden und -tagen unter dem Druck der überlegenen gegnerischen Kräfte gezwungen waren, den Rückzug anzutreten; dennoch sollte auch nicht vergessen werden, daß sie selbst zum Angriff übergingen, sobald sich dazu die Möglichkeit bot. So mußten z.B. die Deutschen zur Abwehr der Gegenangriffe der 5. Armee in den ersten Kriegstagen neun Divisionen — sieben Infanterie- und zwei mot. Divisionen (die 25. und die SS-Division Adolf Hitler) — einsetzen9. Auch bei der Verteidigung befestigter Räume wie etwa bei Rave-Russkaja, bei Kiev und Korosten zeigten sich die sowjetischen Verbände überaus standhaft und zwangen den Gegner zum Einsatz weit überlegener Kräfte. Ahnlich sind die Erfahrungen aus den Kämpfen um Radechov und Luck; an der Südfront gingen Einheiten zum Gegenangriff über, überquerten in einer Nacht mit Unterstützung der Donauflotte die Donau und eroberten deutsche Stellungen, wobei ihnen über 500 Soldaten und erhebliche Mengen an Waffen und Gerät in die Hände fielen10. Selbst wenn man nur von diesen Archivangaben ausgeht, kann man unseres Erachtens jenen Historikern nicht zustimmen, die in ihren Arbeiten die Anfangsphase des Großen Vaterländischen Krieges als einen ungeordneten Rückzug führungslos gewordener sowjetischer Truppen und als eine durchgehende Abfolge sowjetischer Mißerfolge darstellen. Ganz anderes belegen Dokumente sowjetischer wie deutscher Archive. So äußerte beispielsweise General Blumentritt, seinerzeit Chef des Stabes der deutschen 4. Armee: »Das Verhalten der russischen Truppen, selbst in den Anfangskämpfen, stand in einem auffallenden Kontrast zum Verhalten der Polen und westlichen Verbündeten bei der Niederlage. Sogar in der Einschließung setzten die Russen ihre hartnäckigen Kämpfe fort 1 1 .« 9

10 11

Kyrill S. Moskalenko, Na jugo-zapadnom napravlenii, Moskau 1969, S. 47 (= dt. Ausgabe: In der Südwestrichtung, 2 Bde, Berlin (Ost) 1978—1979). Voenno-istoriceskij zurnal (1970) 9, S. 86. Zit. nach Siegfried Westphal et al., Rokovye resenija (Verhängnisvolle Entscheidungen), Moskau 1958, S. 84.

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Und General der Infanterie Ott berichtete am 29. Juni 1941 von seinen Eindrücken auf dem Gefechtsfeld bei Grodno: »Unsere Truppe wird durch den zähen Widerstand der Russen nun einmal gezwungen, nach unseren Gefechtsvorschriften zu kämpfen. In Polen und im Westen konnten sie sich manche Freiheiten erlauben, die jetzt nicht mehr angehen12.« In dem von der Wehrmachtführung herausgegebenen Dokument »Beurteilung der russischen Führung, Taktik und Kampffähigkeit der Truppen« heißt es: »Die Russen halten hartnäckig jeden Meter ihres Bodens, führen pausenlos Gegenangriffe und sind bestrebt, die Initiative in ihre Hände zu bekommen. Festzustellen ist auch, daß die russische Armee trotz der Verluste in den Abwehrkämpfen schnell neue Verteidigungslinien geschaffen und bezogen hat und damit in erheblichem Maße die planmäßige Durchführung der Operationen aufgehalten hat.« Eine ähnlich hohe Wertschätzung findet sich auch in anderen deutschen Dokumenten, so insbesondere in einem Befehl des Oberbefehlshabers des Heeres: »Die Rote Armee führt nicht nur meisterhaft die Abwehrkämpfe, sondern ist auch in der Lage anzugreifen. Dabei wird der Stoß in der Mehrzahl der Fälle organisiert und mit großem Schwung unter persönlicher Beteiligung der Kommandeure vorgetragen. Charakteristisch für die Russen ist die geschickte Ausnutzung des Geländes. Der Russe ist in der Regel arbeitsam und versteht es gut, das Gelände auszunutzen, Hindernisse zu überwinden und sich zu orientieren.« Ganz ähnliche Eindrücke hatte gleich in den ersten Kriegstagen auch der Chef des Generalstabes der Heeresgruppe Süd, Generalleutnant Georg v. Sodenstern gewonnen, dem der Gegner in »seinem Kampfeswillen, seiner kämpferischen Härte sowie anscheinend auch hinsichtlich seiner Führungsmaßnahmen« als ein »in jeder Beziehung ernster Gegner« erschien13. Wenige Wochen später mußte auch der Chef des Generalstabes des deutschen Heeres, Generaloberst Franz Halder, einräumen, daß der Feind hinsichtlich seiner Panzerwaffe »stärker als erwartet« und in der »Zähigkeit seines Widerstandes besonders groß« sei14. Der deutsche Generalmajor Edgar v. Buttlar schrieb nach dem Kriege, daß »die zähe Widerstandskraft der Russen schon in den ersten Kampftagen zu personellen und materiellen Einbußen geführt hatte, die weit über den Erfahrungszahlen des Polen- und Westfeldzuges lagen [...]15.« Innerhalb von drei Kriegswochen hatte der Gegner etwa 100000 Soldaten und Offiziere, über 1700 Panzer und Sturmgeschütze sowie etwa 1000 Flugzeuge verloren 16 . Der Blitzkrieg, auf den die deutsche Führung gesetzt hatte, war offensichtlich gescheitert. Massenheroismus, Tapferkeit und Standhaftigkeit der sowjetischen Soldaten reichten aber nicht aus, um den Aggressor aufzuhalten. Warum war das so? Wo liegen die Ursachen 12 13

14 15 16

Zit. nach Halder (wie Anm. 4), Bd3, S.25 (29.6.1941). Zit. nach Horst Boog u.a., Der Angriff auf die Sowjetunion, Stuttgart 1983 (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd4), S. 473. Halder (wie Anm. 4), Bd 3, S. 112 (25.7.1941). Weltkrieg 1939—1945. Ehrenbuch der deutschen Wehrmacht, Stuttgart 1954, S. 136. Geschichte des zweiten Weltkrieges 1939—1945 (= dt. Ausgabe des in Anm. 5 gen. Werkes), 12 Bde, Berlin (Ost) 1975—1985, hier Bd 4, S. 76. (Vgl. dagegen: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg (wie Anm. 13), Bd 4, S. 977; gemessen an deutschen Quellen scheinen die vom Verf. angegebenen Panzerverluste überhöht, sie dürften bei etwa 850 gelegen haben. Anm. d. Hrsg.)

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der Mißerfolge der Roten Armee in der Anfangsperiode des Krieges? Wieso erwies sich das von Hitler geführte Deutschland stärker als die Sowjetunion und konnte den sowjetischen Truppen im Verlaufe der Grenzschlachten eine Niederlage zufügen? Diese Fragen wurden schon früher gestellt und bewegen auch heute noch die Menschen in den damals sowjetischen Ländern. Bei der Suche nach Antworten ist man von der bekannten Leninschen These ausgegangen, daß »unsere Stärke darin bestand und bestehen wird, ganz nüchtern die schwersten Niederlagen zu registrieren und aus den Erfahrungen zu lernen, was in unserer Arbeit zu verändern ist«17. Eine erschöpfende Antwort auf diese Fragen kann nur auf der Grundlage einer speziellen Untersuchung aller politischen, wirtschaftlichen, diplomatischen und militärischen Zusammenhänge internationalen und internen Charakters gegeben werden. Da dies über den Rahmen dieses Beitrages hinausgeht, werfen wir lediglich einen Blick auf einige Ursachen militärischer Art. Deutschland hatte für den Angriff auf die Sowjetunion einen Zeitpunkt gewählt, zu dem das Kräfteverhältnis zwischen den unmittelbar im Grenzstreifen dislozierten Verbänden zugunsten der deutschen Wehrmacht ausfiel und zu dem sich die sowjetischen Streitkräfte in einer Phase der Reorganisation und Umrüstung befanden. Darüber hinaus haben die bei der Einschätzung des möglichen Zeitpunktes begangenen Fehler und die damit verbundene Zögerlichkeit im strategischen Aufmarsch der Truppen sowie nicht zuletzt die verspätete Durchführung der Vorkriegsplanungen für die Rote Armee bereits in den ersten Kriegsstunden sehr schwere Bedingungen geschaffen. Aufgrund der so erreichten Überlegenheit war es den rechtzeitig gebildeten gegnerischen Verbänden möglich, einen ersten schweren Schlag — insbesondere im Bereich der Westfront — zu führen. Von den 44 Divisionen, die an dieser Front zu Kriegsbeginn zur Verfügung standen, wurden 24 — zehn Schützen-, acht Panzer-, vier motorisierte und zwei Kavalleriedivisionen — zerschlagen. Die verbliebenen 20 Verbände büßten durchschnittlich die Hälfte ihrer Kräfte und Mittel, die Fliegerkräfte der Front 1797 Flugzeuge ein18. Uberaus schwere Folgen hatte auch die Tatsache, daß die Truppe nicht rechtzeitig in volle Gefechtsbereitschaft versetzt und in ihre Aufmarschräume nahe der Staatsgrenze verlegt worden war. Dies hat sicherlich wesentlich die weiteren Mißerfolge der sowjetischen Streitkräfte in der Anfangsphase des Krieges vorausbestimmt. Es ist aber auch völlig klar, daß die Divisionen der ersten Staffel auch dann, wenn sie ihre Räume rechtzeitig erreicht hätten, ihren Auftrag nicht hätten voll erfüllen können, da die sowjetischen Truppen jeweils zwölf gegnerischen Panzern nicht einmal zwei Panzerabwehrgeschütze gegenüberstellen konnten. Die zweiten Staffeln der Armeen und Fronten waren zudem nicht vollständig mobil gemacht, verfügten nur über eine begrenzte Anzahl von Kampfpanzern und befanden sich überdies weit hinter den Truppen der ersten Staffel. Versuche einzelner Kommandeure, sie weiter nach vorn zu verlegen, fanden nicht immer die Unterstützung des Generalstabs und des Volkskommissars für Verteidigung. So wurde einen Monat vor Kriegsbeginn, d.h. im Mai 1941, dem Chef des Stabes des Odessaer Militärbezirks im Namen des Volkskommissars für Verteidigung Vladimir I. Lenin, Polnoe sobranie socinenij (Gesammelte Werke), Bd 44, S. 205. " C A M O , f. 221, op. 1351, d. 200, S. 1. 17

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streng verboten, Verbände ohne vorherige Genehmigung des Generalstabes der Roten Armee zu verlegen. Zweifellos war dies ein gravierender Fehler, der heute als solcher klar erkennbar ist; damals aber konnte diese Entscheidung niemand anzweifeln, da der Volkskommissar für Verteidigung davon ausging, daß »eine planlose und ständige Verlegung die planmäßige Gefechtsausbildung der Verbände stört und deren Mobilmachungsbereitschaft beeinträchtigt«19. Aus diesem Grunde kann man, wenn man von der Vorkriegsperiode spricht, nicht umhin, Marschall der Sowjetunion Matvej V. Zacharov beizupflichten, wonach es »keiner der später kriegführenden Staaten am Vorabend und im Verlauf des Zweiten Weltkrieges hat vermeiden können, irgendwelche Fehler bei der Vorbereitung seiner Armeen zu begehen. Und auch bei uns hat es solche gegeben20«. Die Folge des ungünstigen Ausgangs der Grenzschlachten war, daß von 170 sowjetischen Divisionen 28 überhaupt nicht mehr kampffähig waren und mehr als 70 die Hälfte ihres Personals und ihrer Bewaffnung einbüßten. Durch diese Verluste wurde das Kräfteverhältnis insbesondere im Bereich der technischen Ausstattung der Truppe erheblich verschlechtert. Die Fronten und Armeen waren gezwungen, in breiten Abschnitten und ohne Tiefenstaffelung zu kämpfen, was die Widerstandskraft der Verteidigung beeinträchtigte, die wegen des Mangels an Panzerabwehrwaffen ohnehin überaus verwundbar gegenüber massierten feindlichen Panzerangriffen war. Die Lage wurde noch dadurch erschwert, daß die im Westabschnitt stehenden Verbände, auf einem breiten Abschnitt zerstreut und mit einem Überraschungsangriff konfrontiert, es nicht vermochten, rechtzeitig ihre operative Entfaltung abzuschließen, daß sie über keine zuverlässige Luftabwehr verfügten und so die gestellten Aufgaben nicht erfüllen konnten. Infolge des Überraschungsangriffs mußten die sowjetischen Truppen also mit einem großen Fehlbestand an technischer Ausrüstung, Bewaffnung und Transportmitteln, mit unzureichend ausgebauter Logistik sowie mit ungenügenden Beständen an Munition und Treibstoff in den Kampf treten. Die bei Kriegsbeginn in den Grenzstreifen vorgezogenen Verbände wurden mit kurzfristig einberufenen Reservisten aufgefüllt. Diese verfügten nur über unzureichende Fertigkeiten beim Einsatz der komplizierten technischen Kampfmittel. Aber auch ein beträchtlicher Teil der erst kurz vor dem Krieg in verantwortungsvolle Positionen aufgerückten Kommandeure und politischen Kader hatte keine praktischen Erfahrungen in der Organisation und Führung des Gefechts oder einer Operation. Auch eine gewisse Überschätzung der Möglichkeiten der eigenen Streitkräfte in den Vorkriegsjahren hat sich auf deren Leistungen negativ ausgewirkt. In einem Vortrag an der Militärpolitischen Akademie hatte ζ. B. Michail I. Kalinin seinen Zuhörern noch am 5. Juni 1941 versichert: »Die Deutschen beabsichtigen, uns anzugreifen [...]. Wir warten darauf! Je eher sie das tun, desto besser, da wir ihnen dann ein für allemal den Hals umdrehen werden.« Leider sah die Praxis dann anders aus. Die zu Kriegsbeginn entstandene Lage bot dem Gegner die Möglichkeit, die strategische Initiative zu ergreifen. Seine Stoß" CAMO, f. 138, op. 2181, d. 2, S. 381. Voprosy istorii, (1970) 4, S. 37.

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verbände zerschlugen nacheinander unsere Truppen: Zuerst griffen sie mit allen verfügbaren Kräften die entlang der Grenze dislozierten Verbände der ersten Staffel der Armeen an, führten anschließend Schläge auf deren zweite Staffel und nahmen im weiteren den Kampf mit den Verbänden der zweiten Staffel der Fronten auf. In ihrer übergroßen Mehrheit konnten die sowjetischen Truppen nicht die befohlenen Einsatzräume und Verteidigungsabschnitte erreichen. Die Fliegerkräfte ließen sich nicht dezentralisieren; die Stäbe der Verbände und Einheiten verblieben an den bisherigen Standorten, und die Verbände der Luftverteidigung waren auf die Abwehr massierter Angriffe der gegnerischen Luftwaffe nicht vorbereitet. Der Krieg, einmal ausgebrochen, brachte sogleich alle die Fehler der Vorkriegszeit ans Licht, die am Ende zu der Tragödie der Anfangsphase führten. Uber eine Vorbereitung auf den Krieg war zwar viel und von vielen gesprochen worden, in der Praxis aber, im Alltag, hatten Sorglosigkeit und manchmal selbst verbrecherische Untätigkeit Platz gegriffen. Fehler solcher Art gab es viele, im Lande allgemein wie auch in der Armee. Doch waren sie nicht auf die Schwäche unseres Staates und seiner Streitkräfte zurückzuführen. Der Grad ihrer Ausstattung mit Waffen und technischem Gerät, das Niveau der Gefechtsausbildung und die gute politisch-moralische Verfassung hatten im Grunde durchaus Möglichkeiten dafür geschaffen, den Schlag der deutschen Truppen sehr wohl organisiert zu erwidern. Allerdings erwies sich die unmittelbare Vorbereitung der sowjetischen Truppen zum Zeitpunkt des Vertragsbrüchigen Uberfalls des Deutschen Reiches als ungenügend. Unsere Fehler hatten keine verhängnisvollen oder gar katastrophalen Folgen; wenn man das Endergebnis betrachtet, dann hat die Rote Armee letztlich doch die von der sowjetischen Vorkriegsdoktrin bestimmte Aufgabe erfüllt, nämlich den Feind auf seinem eigenen Territorium zu zerschlagen. Selbst wenn sich diese Untersuchung auf die erfolglos ausgegangenen Grenzschlachten beschränkt, so dürfen dennoch nicht allein Einkesselung und Rückzug der sowjetischen Truppe gesehen werden. Vielmehr sollte man auch das kluge Handeln vieler Befehlshaber und Kommandeure der verschiedenen Ebenen, die selbstlose Arbeit ihrer Stäbe und die starken Gegenschläge der mechanisierten Korps würdigen. Die sowjetischen Streitkräfte haben nämlich ein überaus wichtiges Ergebnis erzielt: Bereits in der Anfangsphase des Krieges vereitelten sie den strategischen Plan der deutschen Führung, der die blitzartige Zerschlagung der Sowjetunion vorsah. Hitler und das Deutsche Reich konnten ihre im »Plan Barbarossa« gesteckten Ziele nicht erreichen. Die Hauptkräfte der Roten Armee sind in den Anfangsoperationen nicht vernichtet worden. Die deutsche Heeresgruppe Nord hat Leningrad nicht genommen. Die Heeresgruppe Mitte hat die sowjetischen Truppen in Richtung Moskau nicht zu zerschlagen vermocht. Die Heeresgruppe Süd hat Kiev in der vorgesehenen Frist nicht genommen und die sowjetischen Truppen in den ukrainischen Gebieten östlich des Dnepr nicht einschließen können. Infolge des Widerstands und der Tapferkeit der sowjetischen Streitkräfte wurde der gegnerische Vormarsch an einzelnen Abschnitten zeitweilig aufgehalten und das Angriffstempo des Gegners verlangsamt. Gleichzeitig hat der Einsatz der sowjetischen Truppen bereits in den ersten Kriegstagen den deutschen Strategen verdeutlicht, daß von einer

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Beendigung des Krieges in kürzester Zeit überhaupt keine Rede sein konnte. Mit ihrem heldenhaften Kampf gegen einen erfahrenen und kampfstarken Feind haben die sowjetischen Soldaten bereits bei Kriegsbeginn die Legende von der »Unbesiegbarkeit« der deutschen Wehrmacht tief erschüttert und mit ihrem aktiven Handeln die Pläne Hitlers und seiner Führung erheblichen Korrekturen unterworfen. Die auf politische Wortbrüchigkeit und das Überraschungsmoment zurückzuführenden Vorteile des Gegners verloren mit jedem Tag ein Stück von der Bedeutung, die sie in den ersten Kriegstagen gehabt hatten.

Jürgen Förster

Das andere Gesicht des Krieges: Das »Unternehmen Barbarossa« als Eroberungsund Vernichtungskrieg

Schon Feldmarschall v. Manstein hatte als Zeuge vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg vom »doppelten Gesicht« des Krieges gegen die Sowjetunion gesprochen und damit dessen militärische und weltanschauliche Seite gemeint. Das »Unternehmen Barbarossa« trug in der Tat einen Januskopf, wenn auch in einem anderen Sinne, als hohe Generale nach dem Kriege zugeben wollten. Das >andere< Gesicht des Ostkrieges enthüllt sich uns allerdings erst, wenn neben der militärischen Zielsetzung und dem ökonomischen Kalkül auch die weltanschauliche Seite des »Unternehmens Barbarossa« in den Blick genommen wird 1 . In Hitlers Entscheidungsprozeß für die Ausweitung des Krieges nach Osten und für dessen Charakter bilden diese drei Elemente eine Einheit. Deshalb erscheint es müßig zu sein, eine qualitative oder temporäre Rangfolge zwischen ihnen herstellen zu wollen, weil Hitlers Lebensraumprogrammatik ein Amalgam von strategischen, wirtschaftlichen und rassistischen Vorstellungen darstellt. Der besondere Charakter des »Unternehmens Barbarossa« resultiert aus der Gemengelage der verschiedenen Ziele gegenüber der Sowjetunion bei Hitler, nämlich aus dem unmittelbaren Zusammenhang zwischen der militärischen Eroberung des europäischen Rußland, dessen wirtschaftlicher Ausbeutung für das deutsche Volk und der Vernichtung des »jüdischen Bolschewismus«, also dem, was Eberhard Jäckel das doppelte Kernstück des Nationalsozialismus genannt hat2. Es ist sicher schmerzlich für viele ehemalige Soldaten der Wehrmacht, mit dieser Seite des Rußlandkrieges konfrontiert zu werden. Aber das »Unternehmen Barbarossa« war nun einmal kein Feldzug wie die vorausgegangenen, sondern ein Eroberungs- und Vernichtungskrieg. Pauschale Entlastungsversuche wie der, die Wehrmacht stünde ohne Fehl und Tadel da, Verbrechen hätten nur die SS und der SD begangen, dienen der Erklärung der komplexen Realität an und hinter der Ostfront ebenso wenig wie pauschale Verurteilungen aller Soldaten als Mörder in Uniform. Abweichende individuelle Erfahrungen können wiederum nicht dazu dienen, generelle Entwicklungen des Krieges zu leugnen. Aufklärung als Methode und genaues Beschreiben, Bewußtmachen und Diskutieren des gruppenspezifischen Regelverhaltens durch die Historiker tun not, damit der allgemeine Kenntnisstand über dieses Kapitel der deutschen Vergangenheit vertieft wird. 1

2

Vgl. Horst Boog u.a., Der Angriff auf die Sowjetunion, Stuttgart 2 1987 (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd 4), und die aktualisierte Neuauflage, Frankfurt a.M. 1991. Vgl. den Beitrag von Eberhard Jäckel in diesem Band.

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Jürgen Förster

Obgleich unter Historikern eigentlich unstrittig ist, daß Krieg und Nationalsozialismus konstitutiv zusammengehören, orientieren sich neuere Gesamtdarstellungen des Dritten Reiches noch immer weit stärker an dessen sechs Friedensjahren als an der ebenso langen Kriegszeit3. Dies ist um so bedauerlicher, als Andreas Hillgruber bereits 1969 gemahnt hatte, daß die mörderische Rassenpolitik des Nationalsozialismus in eindeutiger Beziehung zum Kriegsverlauf stehe4. Deshalb ist es unverständlich, daß in einem jüngeren Sammelband über den »historischen Ort des Nationalsozialismus« dieser Zusammenhang nicht thematisiert wurde5. Denn die Grundidee Hitlers war doch die Errichtung eines blockadefesten Reiches auf rassischer Grundlage durch eine kriegerische Raumpolitik vornehmlich im Osten. Eine auf dieses große Ziel gerichtete Außenpolitik, die Organisation eines starken Staates und der Aufbau einer großen Wehrmacht waren nur Mittel zu diesem Zweck. Der Wille zum Krieg um Lebensraum, seine Verankerung im Bewußtsein der Deutschen durch eine geistige Mobilmachung, die rassische Sanierung des Volkes durch die >Entfernung< der Juden und anderer >Minderwertiger< sowie die soziale und wirtschaftliche Besserstellung der neuen deutschen Volksgemeinschaft auf Kosten der unterworfenen Völker in Europa machen schließlich den besonderen Charakter des Nationalsozialismus aus. Dabei war der Rassismus nicht die Geisteshaltung einiger weniger überzeugter Nationalsozialisten, sondern die Grundlage von einschneidenden Gesetzen und verordnete Staatspolitik, die nach der Entfesselung dieser Ideologie im Krieg zu Staatsverbrechen führte6. Daß der nächste Krieg eine ganz andere Symbolik als der von 1914—1918 haben werde, sprach Hitler am 10. Februar 1939 vor den Truppenkommandeuren des Heeres offen aus: »Der nächste Krieg wird ein reiner Weltanschauungskrieg, d. h. bewußt ein Volksund Rassenkrieg sein«7. Sein kompromißloses Eintreten für die nationalsozialistische Weltanschauung im kommenden Krieg rechtfertigte »Der Führer und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht« vor der höheren Heeresgeneralität mit einem Zitat von Clausewitz: Es sei oft zweckmäßiger und richtiger, im Namen der Ehre selbst zugrundezugehen, als im Namen einer sogenannten Klugheit zu kapitulieren. Getreu dieser Uberzeugung erklärte Hitler den Oberbefehlshabern der Wehrmachtteile neun Monate später: »Die Sicherung des Lebensraumes kann nur durch das Schwert gelöst werden. Es ist ein Rassenkampf ausgebrochen, wer in Europa und damit in der Welt herrschen soll«8. 3

4

5

6

7 8

Vgl. auch die Forschungsüberblicke von Bernd Wegner, in: Neuere Forschungen zum Zweiten Weltkrieg, hrsg. von Jürgen Rohwer und Hildegard Müller, Koblenz 1990, S. 104, und Gerhard Schreiber, in: Neue Politische Literatur, 35 (1990), S. 196. Dieser Freiburger Vortrag erschien in den VfZ, 20 (1972), unter dem Titel: Die >Endlösung< und das deutsche Ostimperium als Kernstück des rassenideologischen Programms des Nationalsozialismus. Walter H. Pehle, Der historische Ort des Nationalsozialismus: Annäherungen, Frankfurt a.M. 1990 (= Frankfurter Historik-Vorlesungen, hrsg. von Walter H. Pehle). Vgl. Jürgen Förster, Das nationalsozialistische Herrschaftssystem und der Krieg gegen die Sowjetunion, in: Erobern und Vernichten. Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941—1945, hrsg. von Peter Jahn und Reinhard Rürup, Berlin 1991, S. 28—46. Gedruckt in: Hitlers Städte, hrsg. von Jost Dülffer, Jochen Thies und Josef Henke, Köln 1978, S. 289ff. A m 2 3 . 1 1 . 1 9 3 9 . Helmuth Groscurth, Tagebücher eines Abwehroffiziers 1938—1940, hrsg. von Helmut Krausnick und Harold C. Deutsch, Stuttgart 1970, S. 414.

Das »Unternehmen Barbarossa« als Eroberungs- und Vernichtungskrieg

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Der europäische Krieg, den Hitler mit dem Uberfall auf Polen entfesselt hatte, war also von Anfang an auch ein ideologischer Krieg, an dessen Ende die territoriale und rassische Umgestaltung Deutschlands und Europas stehen sollte. Das Schwert des für eine glorreiche Zukunft kämpfenden deutschen Volkes war gegen alle »Staats- und Reichsfeinde« gerichtet, an und hinter der Front sowie in der Heimat. Im harten Kampf für die eigene und damit gegen fremde Rassen konnte es auch keine völkerrechtlichen Bindungen geben. Der Sieg war wichtiger als das Recht. Bereits 1937 hatte Himmler im Falle eines Krieges vom »Kriegsschauplatz Innerdeutschland« gesprochen. Dieser Konzeption folgte die Ernennung von »Höheren SS- und Polizeiführern«9. Nach dem 1. September 1939 wurde folglich, im Interesse der Stabilität der »inneren Front«, nicht nur der Repressionsapparat des Regimes perfektioniert, sondern auch die Verfolgung rassischer und politischer Gegner gesteigert und die kämpfende Volksgemeinschaft in »Euthanasieaktionen« von Schwachen und »unnützen Essern« befreit10. Ideologische Vorstellungen verschränkten sich mit vermeintlichen Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg. Es galt, die Widerstandskraft von Truppe und Bevölkerung zu stärken, als Voraussetzung für die hegemoniale Herrschaft über Europa »und damit in der Welt«. Mit dem Beginn des Krieges setzte auch der Kampf gegen die vorher ausgemachten rassischen und politischen Gegner jenseits der alten Reichsgrenze sofort ein. Mit den Augen von 1941 gesehen, erscheint Polen als ein bloßes Experimentierfeld zukünftiger nationalsozialistischer Expansions-, Rassen- und Bevölkerungspolitik. Doch 1939/40 waren weder die Eroberung Rußlands noch die »Endlösung der Judenfrage« konkrete Ziele. Die mörderischen Maßnahmen der SS im Osten waren vornehmlich gegen die Angehörigen der führenden polnischen Schichten in den für die Annexion vorgesehenen Landesteilen gerichtet11. Auch viele Juden wurden getötet, doch standen zu jener Zeit nicht der systematische Mord, sondern die Umsiedlung und Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung im Vordergrund 12 . Zusammen mit Zigeunern und Polen wurden sie, um Platz für die Ansiedlung von Hunderttausenden deutscher Bauernfamilien zu machen, aus den annektierten westpolnischen Gebieten ins Generalgouvernement verfrachtet, das als »Mülleimer der Herrenrasse« dienen sollte. Noch am 4. Dezember 1940 wurde in einer Expertise für Himmler, wie eine neue Quelle belegt, die »Endlösung der Judenfrage« als »Umsiedlung der Juden aus dem europäischen Wirtschaftsraum des deutschen Volkes in ein noch zu bestimmendes Territorium« definiert. Ihre Zahl wurde damals auf 5,8 Millionen geschätzt13. Erst 1941 9

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Vgl. Ruth Bettina Birn, Die Höheren SS- und Polizeiführer. Himmlers Vertreter im Reich und in den besetzten Gebieten, Düsseldorf 1986. Zur nationalsozialistischen Euthanasie vgl. demnächst den Beitrag von Wolfgang Petter, in: Jürgen Förster u.a., Staat und Gesellschaft im Krieg 1939—1944/45 (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd 9). Vgl. den Beitrag von Hans Umbreit, in: Bernhard R. Kroener u.a., Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs. Teilband 1: Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1939-1941, Stuttgart 1988 ( = Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, B d 5 / 1 ) , S. 31. Vgl. Christopher R. Browning, Nazi Resettlement Policy and the Search for a Solution to the Jewish Question, in: German Studies Review, 9 (1986), S. 497—519. Vgl. Götz Aly, Susanne Heim, Deutsche Herrschaft >im Ostenc Bevölkerungspolitik und Völkermord, in: Erobern und Vernichten (wie Anm. 6), S. 90. Diese Quelle läßt Richard Breitmans These,

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konkretisierte sich die von Hitler seit 1919 beabsichtigte »Entfernung der Juden« als systematischer Mord. Dies war beileibe kein Ergebnis zufälliger Entwicklungen. Die Entscheidung steht in direktem Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Sowjetunion. Bis 1941 waren auch die Aufgaben von Wehrmacht und SS noch relativ klar voneinander getrennt. Dennoch war es in Polen zu eigenmächtigen Maßnahmen von Soldaten gegen Juden, zu Plünderungen und willkürlichen Erschießungen gekommen. Gegen diese »Verwilderung« waren die Befehlshaber kriegsgerichtlich eingeschritten, auch gegen ihnen unterstellte SS-Angehörige. Einer wirklichen Bestrafung hatten allerdings Hitlers Gnadenerlaß vom 4. Oktober 1939 und die Einrichtung einer Sondergerichtsbarkeit für die SS und Polizei vom 17. Oktober 1939 entgegengewirkt. Auch gegen die Morde der SS in Polen nach Ablösung der Militärverwaltung hatten verschiedene Befehlshaber protestiert. Doch der Oberbefehlshaber des Heeres, Generaloberst v. Brauchitsch, nahm dies im Februar 1940 nicht zum Anlaß, bei Hitler auf Abhilfe zu drängen, sondern machte sich statt dessen gegenüber seinen Untergebenen zum Anwalt der nationalsozialistischen »Volkstumspolitik«. Sie sei zur Sicherung des deutschen Lebensraumes notwendig. Die Heeresführung war allerdings bestrebt, »die mit diesem Volkstumskampf zu erwartenden, dem Geist und der Manneszucht des Heeres schädlichen Vorgänge und Handlungen [der SS] von der Truppe fernzuhalten«14. Im Unterschied zum Uberfall auf Polen war das »Unternehmen Barbarossa« Hitlers eigentlicher Krieg. Mit dem sowjetischen Gegner wurde der Feind schlechthin anvisiert: der >jüdische Bolschewismus^ Damit gewann der Krieg gegen die Sowjetunion, über seine strategische Funktion im Rahmen des Gesamtkrieges hinaus, eine höhere Notwendigkeit als die vorausgegangenen Feldzüge. Das macht die Sinngebung, die Hitler dem »Unternehmen Barbarossa« im März 1941 gab, deutlich15. Sie war nicht auf militärische und wirtschaftliche Ziele beschränkt. Hitler wollte eben zugleich den »jüdischen Bolschewismus« vernichten und den zukünftigen deutschen Lebensraum von den als überflüssig angesehenen Teilen der slawischen Bevölkerung freimachen. Die Erreichung dieses gigantischen »Kriegszwecks« — Sieg, Vernichtung, Vertreibung, Ausbeutung und Beherrschung — war auf vier Schultern verteilt: Wehrmacht, SS, Vierjahresplan und Verwaltung. Dabei wurden die Aufgaben dieser vier >Gewalten< nicht etwa klar getrennt, sondern eng verzahnt. Für Hitler waren militärische Operationen zur Eroberung von Lebensraum sowie politische und polizeiliche Maßnahmen zur rassischen »Neuordnung« des Kolonialraumes nur verschiedene Seiten einer Medaille. Er betrachtete den Krieg gegen die Sowjetunion eben nicht als einen bloßen »Kampf der Waffen«, sondern darüber hinaus auch als die entscheidende Auseinandersetzung mit dem »jüdischen Bolschewismus«. Im »Vernichtungskampf« gegen diese antagonistische Weltanschauung konnte es keine traditionelle Kriegführung geben. Der zielbewußte rassenpolitische Vernichtungseffekt

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daß Himmler schon im Dezember 1939 die physische Vernichtung der Juden durch Gas plante, in einem anderen Licht erscheinen. Vgl. dessen Himmler-Biographie mit dem Titel: The Architect of Genocide, New York 1991, S. 87 f. Zit. nach Helmut Krausnick, Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938—1942, Stuttgart 1981, S. 104. Vgl. Boog (wie Anm. 1), S. 4 1 4 - 4 1 7 , 427 (Beitrag Förster).

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seiner »Weltanschauungstruppe«, der SS, sollte durch ein radikales Vorgehen des Heeres gegen den »Todfeind des nationalsozialistischen deutschen Volkes« unterstützt werden. Beide Gewalten sollten die »jüdisch-bolschewistische Intelligenz« beseitigen, um so auch das Sowjetsystem schnell zum Einsturz und die Operationen rasch zu Ende zu bringen. Über die Befehlsgebung bei der SS wissen wir sehr viel weniger als über die auf militärischer Seite. Hitler übertrug Himmler im März 1941 »Sonderaufgaben [...], die sich aus dem endgültig auszutragenden Kampf zweier entgegengesetzter politischer Systeme ergeben« und die die SS im Operationsgebiet des Heeres »selbständig« durchführen sollte16. Himmlers sicherheitspolizeiliche Organe wurden dem Heer — anders als in Polen — nicht unterstellt, sondern waren berechtigt, »in eigener Verantwortung Exekutivmaßnahmen« gegenüber der Zivilbevölkerung in der Sowjetunion zu treffen. Drei Monate später wurde dieser >Führerauftrag< dem Heer gegenüber so definiert: Es gelte die Grundlagen für die endgültige Beseitigung des Bolschewismus zu legen. Trotz des hohen Grades der Tarnsprache, mit der die eigentlichen Aufgaben der Sicherheitspolizei und des SD im Operationsgebiet umschrieben wurden — auch die alte Formel vom Sommer 1939, »Erforschung und Bekämpfung der staats- und reichsfeindlichen Bestrebungen«, wurde wieder benutzt —, konnte in der Heeresführung kein Zweifel bestehen, daß nach dem 22. Juni 1941 Juden und Kommunisten in großem Stil vorsätzlich und grundlos getötet werden sollten. Ein Widerspruch ist nicht aktenkundig geworden. Dafür aber die Mahnung des Generalquartiermeisters, Generalmajor Wagner, an die höhere Truppenführung, sich nicht um die politischen Maßnahmen der SS zu kümmern. Desgleichen wurden die Heeresgruppen- und Armeeführer unterrichtet, daß sich Brauchitsch und Himmler verständigt hätten, den über die Morde in Polen entbrannten Streit zwischen Heer und SS nun endgültig zu begraben17. Himmler setzte zur Erfüllung seines Auftrages nicht nur die bekannten Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD an, sondern auch Einheiten der Waffen-SS und der Ordnungspolizei. Alle diese besonderen Kräfte der SS rückwärts der fechtenden Truppe, rund 27000 Mann zu Beginn des Krieges, unterstanden seinen unmittelbaren Vertretern im Felde, den vier »Höheren SS- und Polizeiführern«. Deren Zuständigkeitsbereich deckte sich zunächst mit dem Operationsgebiet des Heeres. Als eine erste >Walze< zur rassischen »Flurbereinigung« des neuen Lebensraumes waren die vier Einsatzgruppen gedacht, rund 2500 Mann. Sie gliederten sich in mehrere Kommandos, von denen die Sonderkommandos den angreifenden Armeen und Panzergruppen unmittelbar folgten, während die Einsatzkommandos für die rückwärtigen Heeresgebiete vorgesehen waren. Weniger bekannt, aber zahlenmäßig weit stärker war der Einsatz von Einheiten der Ordnungspolizei und der Waffen-SS. Sie waren als eine zweite, gründlichere Walze der Flurbereinigung im Osten gedacht. Der vorgesehene Tätigkeitsbereich der neun Polizeibataillone (rund 4900 Mann) war das rückwärtige Heeresgebiet18, während die drei mobilen Brigaden der Waffen-SS 16

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Vgl. die Richtlinien des O K W vom 13.3.1941. Gedruckt in: Die Ermordung der europäischen Juden. Eine umfassende Dokumentation des Holocaust 1941—1945, hrsg. von Peter Longerich, München 1989, S. 110. Vgl. Boog (wie Anm. 1), S. 425 (Beitrag Förster). Vgl. Konrad Kwiet, From the Diary of a Killing Unit, in: Why Germany?, ed. by J. Milfull, Oxford

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(über 19000 Mann) unter der mißverständlichen Bezeichnung »Kommandostab RF-SS« ursprünglich erst in den Reichskommissariaten zum Einsatz kommen sollten19. Das Mordprogramm der SS wurde einerseits dadurch unterstützt, daß antijüdisch und antikommunistisch eingestellte Litauer, Letten, Polen und Ukrainer nach dem 22. Juni 1941 selbständig Pogrome veranstalteten oder zu »Selbstreinigungsaktionen« benutzt wurden und die Einsatzgruppen Einheimische als Hilfskräfte rekrutierten. Andererseits brachte der unerwartete Verlauf der Operationen die Pläne der SS durcheinander. Die Waffen-SS-Brigaden mußten sofort nach Angriffsbeginn, obwohl Aufstellung und Ausbildung noch nicht abgeschlossen waren, auf verschiedene Heeresverbände aufgeteilt werden und zunächst taktische Aufträge erfüllen. Auch später hatten die »Sonderaufgaben« der SS immer wieder einmal hinter militärischen Aufgaben zurückzutreten. Dies trifft vor allen Dingen für die Einheiten des Kommandostabes, aber auch für die Polizeibataillone zu. Nur die Einsatzgruppen konnten sich auf ihren Mordauftrag ungehindert konzentrieren. Ein genereller Befehl zur Vernichtung der Juden in den eroberten Gebieten der Sowjetunion ist bekanntlich nicht überliefert. Es erscheint auch immer fraglicher, ob Heydrich am 17. Juni 1941 die Führer der Einsatzgruppen und ihrer Kommandos mündlich instruierte, alle Juden, also auch Frauen und Kinder, zu erschießen. Wahrscheinlicher ist, daß der Chef des Reichssicherheitshauptamtes ihnen eine Art »Generalermächtigung zum zahlenmäßig nicht begrenzten Mord an der jüdischen Bevölkerung [erteilte], der sich im wesentlichen gegen die Männer richtete«20. Erstes Ziel des Mordprogramms waren alle kommunistischen Funktionäre, alle Juden in Partei- und Staatsstellungen sowie alle »sonstigen radikalen Elemente«21. Dies selektive Verfahren, vorrangig die jüdischen und politischen Führungsschichten sowie alle Widerständler zu liquidieren, liegt auf der Linie der Hitlerschen Vorgabe vom März 1941, die »jüdisch-bolschewistische Intelligenz« zu beseitigen. Es spricht einiges dafür, daß nach dem 22. Juni weitere Entscheidungen folgten, die zunächst die sowjetischen Juden betrafen und später alle europäischen Juden in den Vernichtungsprozeß einbezogen. Auffällig ist zum einen, daß nach einem Besuch Himmlers und des Höheren SS- und Polizeiführers (HSSPF) Mitte, v. d. Bach, beim Polizeiregiment Mitte den unterstellten Polizeibataillonen am 11. Juli 1941 schriftlich befohlen wurde, alle männlichen Juden zwischen 17 und 45 Jahren zu erschießen22. Wenige Tage 1992, sowie Christopher R. Browning, Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland, New York 1992. 19

Auf sie machte zuerst Yehoshua Büchler aufmerksam, in: Holocaust and Genocide Studies, 1 (1986), S. 11 f. Die jetzt im Kriegshistorischen Archiv ( V H A ) in Prag zugänglichen Akten ermöglichen eine umfassendere Analyse.

20 P e t e r Longerich, Vom Massenmord zur >EndlösungEndlösungBefehlen in Dienstsachen (Hans Buchheim) werden, wurden seine ideologischen Intentionen von Offizieren und Juristen in militärische Weisungen umgesetzt. Dabei mag auch eine Rolle gespielt haben, daß die Heeresführung von einem entscheidenden Zusammenhang zwischen der Bewährung des Offizierkorps im Krieg und dessen späterer Stellung im nationalsozialistischen Deutschland ausging27. Die relevanten Erlasse und Richtlinien des OKW und des OKH vom 13. März, 28. April, 13. und 19. Mai sowie vom 6. Juni 1941 legten mit die Grundlage dafür, daß weltanschaulicher und militärischer Kampf miteinander verschmolzen und so das Vernichtungskonzept gegenüber Bolschewismus und Judentum zum integralen Bestandteil der Kriegführung wurde. Die bewußte Verzahnung von ideologischen und militärischen, von strafenden mit vorbeugenden Gesichtspunkten in diesen Befehlen trug erheblich dazu bei, deren Rechtswidrigkeit zu verschleiern. Es war das OKH, das den ersten Entwurf für den >Kommissarbefehl< vorgelegt hat. Die befohlene Erschießung der Kommissare in der Roten Armee war im Rahmen des Vernichtungskampfes gegen die feindliche Weltanschauung zwar konsequent, aber ebenso rechtswidrig wie die Exekution von Zivilisten bei bloßem Verdacht der Freischärlerei. Aus diesem Grunde wurde mit dem >Führererlaß< vom 13. Mai über die Einschränkung der Kriegsgerichtsbarkeit de facto eine präventive Amnestie für Verbrechen und Vergehen von Soldaten gegenüber Sowjetbürgern in und ohne Uniform verfügt. Die rasche physische Ausschaltung wirklicher und vermeintlicher Gegner im Operationsgebiet durch das Heer sollte »deutsches Blut« sparen helfen. Der schnelle Sieg war wichtiger als das störende Recht. Der Sowjetunion wurde das Recht zum »Volkskrieg« gegen die Wehrmacht, 1924 von der Reichswehr noch als letztes taktisches Mittel gegen eine französische wie polnische Invasion erwogen, von vornherein abgesprochen. Daß der deutsch-sowjetische Krieg eine besondere Qualität bekam, lag aber nicht nur am entsprechenden Vorgehen der verschiedenen deutschen »Gewalten« und an den Morden einheimischer »Selbstschutzkräfte« an ihren jüdischen und kommunistischen Mitbürgern, sondern auch an der spezifischen sowjetischen Reaktion auf den Uberfall und an den Konsequenzen, die auf deutscher Seite daraus gezogen wurden. Zum einen definierte auch Stalin den Kampf gegen die Wehrmacht nicht als einen »gewöhnlichen Krieg« zwischen zwei Armeen, sondern als einen von der Partei zu führenden erbarmungslosen »Volkskrieg« gegen den »deutschen Faschismus«. Diese Absichtserklärung begriff Hitler wiederum als eine willkommene Gelegenheit, seinem Vernichtungskonzept noch wirkungsvoller einen militärischen Zweck zu geben und den Wunsch der Truppe nach Sicherheit im Rücken für seine Ziele auszunutzen28. Hinzu kam, daß der Verlauf der Operationen nicht den Erwartungen entsprach. Wegen der »Weite des Raumes« und der »Hin-

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Vgl. den Befehl v. Brauchitsch vom 2 5 . 1 0 . 1 9 3 9 . Abgedr. in: Offiziere im Bild von Dokumenten aus drei Jahrhunderten, hrsg. von Hans Meier-Welcker, Stuttgart 1964 (= Beiträge zur Militärgeschichte, Bd 6), S. 277. A m 1 6 . 7 . 1 9 4 1 . Vgl. zu dieser Besprechung den Beitrag von Eberhard Jäckel in diesem Band.

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terhältigkeit« des Gegners sowie der geringen Zahl eigener Ordnungskräfte glaubte sich das Heer zu besonderen Maßnahmen berechtigt, wurde Terror zum gängigen Mittel, waren Himmlers Organe willkommen zur Sicherung der eroberten Gebiete und zur »Beseitigung der gefährlichen Elemente« im Rücken der Truppe29. Gerade die Befriedung des rückwärtigen Operationsgebietes des Heeres war eine komplexe,Angelegenheit; eine >GrauzoneOperation Blauentmodernisierten< Gefechtsbedingungen, die dem erbarmungslosen Stellungskrieg von 1914 bis 1918 ähnlich waren, wurden die auf >Primärgruppen< basierenden, geschlossenen gesellschaftlichen Strukturen zerstört und durch eine ideologische Annäherung ersetzt. Eine drakonische Disziplin fungierte als Bindeglied zwischen militärischem und nationalsozialistischem Denken. Es wurde auch festgestellt, daß diese ideologische Indoktrination das Resultat einer nationalsozialistischen Weltanschauung war, die sich eine ganze Generation von Soldaten schon als Jugendliche in den dreißiger Jahren zu eigen gemacht hatte. Alle sozialen Gruppen und Klassen, die die Wehrmacht im Osten ausmachten, waren betroffen11. Eine gegen die Sowjetunion gerichtete Stimmung und ein militanter Antikommunismus waren schon in den Vorkriegsjahren geschürt worden12. Der Antikommunismus fungierte als eine Art Kittsubstanz zwischen Nationalsozialisten und Nichtnationalsozialisten. Die Pflichten der Besatzungstruppe in den besetzten Gebieten konnten somit als Kreuzzug zur Verteidigung des fernen Vaterlandes gegen den Bolschewismus gerechtfertigt werden. Und Kreuzzüge finden ja nie im eigenen Lande statt. Hinzu kommt, daß — über den unterschiedlichen Grad der ideologischen Ausrichtung hinaus — militärische Richtlinien schon vor dem eigentlichen Beginn des Feldzuges ausgearbeitet worden waren, die geltende Regeln der Kriegführung und für das Verhalten von Besatzungskräften außer Kraft setzten, um eine Beteiligung aller Dienstgrade an 10

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Bernhard R. Kroener u.a., Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs. Teilband 1: Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1939—1941, Stuttgart 1988 (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd5/1), S. 738 ff. Omer Bartov, The Eastern Front 1941—45. German Troops and the Barbarisation of Warfare, London, New York 1986; ders., Extremfälle der Normalität und die Normalität des Außergewöhnlichen. Deutsche Soldaten an der Ostfront, in: Uber Leben im Krieg. Kriegserfahrungen in einer Industrieregion 1939—1945, hrsg. von Ulrich Borsdorf und Mathilde Jamin, Reinbek bei Hamburg 1989; Omer Bartov, Von unten betrachtet: Uberleben, Zusammenhalt und Brutalität an der Ostfront, in: Zwei Wege nach Moskau (wie Anm. 1), S. 326—344; ders., Hitler's Army (wie Anm. 2). Kurt Pätzold, Antikommunismus und Antibolschewismus als Instrumente der Kriegsvorbereitung und Kriegspolitik, in: Der nationalsozialistische Krieg, hrsg. von Norbert Frey und Hermann Kling, Frankfurt a.M. 1990, S. 122—136; Bianka Pietrow-Enker, Die Sowjetunion in der Propaganda des Dritten Reiches. Das Beispiel der Wochenschau, in: MGM, 46 (2/1989), S. 7 9 - 1 2 0 .

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äußerst barbarischen Handlungen zu erleichtern. Tatsächlich wurde die nachdrückliche Erklärung, es handle sich bei den Gebieten der besetzten Sowjetunion um eine Art »rechtsfreier Territorien« als Vorwand benutzt, um besondere kriegsrechtliche Regelungen anwenden zu können, die — obwohl sie an sich schon kriminell waren — dem gewöhnlichen Soldaten die Rückendeckung gaben, daß brutales Vorgehen nicht nur zulässig, sondern sogar notwendig sei13. Insbesondere der Kriegsgerichtsbarkeitserlaß hob alle Rechte auf, mit denen eine unter militärischer Besatzung lebende Bevölkerung hätte rechnen können, und ließ umfassende und oft willkürliche Vergeltungsmaßnahmen (kollektive Gewaltmaßnahmen) gegen Ortsansässige zu. In ähnlicher Weise sahen die Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Rußland vor, daß rücksichtslose und energische Maßnahmen gegen die verschiedenen sogenannten »unerwünschten Elemente« in der örtlichen Bevölkerung ergriffen werden sollten 14 . Im Gegensatz dazu wurde argumentiert, daß das Ausmaß der gegen das besetzte sowjetische Territorium angewandten Gewalt tatsächlich eine Intensivierung der lange schon festliegenden Verhaltensmuster der Wehrmacht gewesen sei, nachdem die Reichswehr in ihrer während des Ersten Weltkrieges im rückwärtigen Gebiet praktizierten Besatzungspolitik bewiesen hatte, daß insbesondere bei der Geiselnahme falsche Argumente der angeblichen »militärischen Notwendigkeit« benutzt werden konnten, um die mangelnde Einhaltung der »traditionellen Regeln der Kriegführung« zu verschleiern15. Die Besetzung von Polen nach 1939 hatte diese unterschwellige Tendenz verstärkt, wobei alle — mit Ausnahme weniger vereinzelter — Teile der Wehrmacht sämtliche Skrupel gegenüber der Mitwirkung an der ideologischen Kriegführung fallen ließen. Die Ausrottung der Juden war eine noch schlimmere Entwicklung, denn nach einigen anfänglichen Protesten in Polen hatte sich die Stimmung gewandelt, und Hitler und die SS brauchten keine wirksame Opposition von Seiten der Wehrmacht zu befürchten. Die militärischen Erfolge auf dem Balkan im Frühsommer 1941 beschleunigten diese Entwicklung nur noch16. Insgesamt war eine Giftmischung entstanden, die ihre starke Wirkung aus ihren Zutaten bezog, d.h. der ideologischen Ausrichtung einerseits und den funktionellen Erfordernissen der Wehrmacht andererseits, nämlich ihr Gewaltpotential zu verstärken (die Entgrenzung der Gewalt), um die strategischen Ziele zu erreichen. Die Grenze zwischen der militärischen und der politisch-ideologischen Kriegführung im Osten war damit ausgelöscht, und die Wehrmacht arbeitete Seite an Seite mit den SS-Dienststellen bei der Besetzung der Sowjetunion als ausführendes Organ im Genozid-Krieg des Hitler-Staates. Die deutsche Herrschaft in Rußland nahm sogar mehr als in Polen die Dimension eines Versuchslabors für Hitlers rassistische Herrschaftstheorien an. 13

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Dieter Majer, Führerunmittelbare Sondergewalten in den besetzten Ostgebieten, in: Verwaltung contra Menschenführung im Staat Hitlers. Studien zum politisch-administrativen System, hrsg. von Dieter Rebentisch und Karl Teppe, Göttingen 1986. Unternehmen Barbarossa (wie Anm. 2), S. 305—315, 337. Manfred Messerschmidt, Völkerrecht und Kriegsnotwendigkeit in der deutschen militärischen Tradition seit den Einigungskriegen, in: German Studies Review, 6 (1983), S. 237—264. Christopher Browning, Fateful Months. Essays on the Emergence of the Final Solution, New York 1985, S. 33.

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Die sich dadurch nach 1941 im Osten abzeichnende Brutalisierung des Krieges fand ihren Ausdruck in der Ausrottung von Millionen von Soldaten der Roten Armee in deutschen Kriegsgefangenenlagern (eine eigene Art des Holocaust), dem Massenmord an einer großen Anzahl russischer Juden sowie im fortgesetzten Terror gegen die Bewohner der besetzten Gebiete in der Sowjetunion. Wenn nun die Wehrmacht als organisatorisches Element vieler Verbrechen in der Sowjetunion beschuldigt wird, so soll damit nicht gesagt werden, daß jeder deutsche Soldat ein Verbrecher oder auch an den im Namen des Regimes verübten Verbrechen schuldig war. Ob die Wehrmacht als ganze eine ideologische Armee geworden war, inwieweit und auf welche Weise sie an Verbrechen gegen die Menschheit beteiligt war, ist noch eine ungeklärte Frage. Verständliche Unsicherheit herrscht noch immer in bezug auf unsere Kenntnisse über die persönliche Motivation eines jeden einzelnen 17 . Die zunehmende Barbarisierung des Krieges im Osten läßt sich zum Teil als Reaktion auf die grauenhaften und furchterregenden Bedingungen erklären, unter denen dieser bewaffnete Konflikt geführt wurde18. Die harten klimatischen Verhältnisse, die riesigen Entfernungen und das tückische Gelände fielen wegen der Personalknappheit sowie der quantitativen und qualitativen Mängel von Ausrüstung und Bewaffnung bei den deutschen Besatzungstruppen noch stärker in die Waagschale. Alle diese Faktoren müssen berücksichtigt werden, wenn man sich ein Bild davon machen will, wodurch das Vorgehen der Militärs bestimmt wurde. Trotz ihrer Mitwirkung bei der Formulierung des bewußt harten Kriegsstils waren schon Umfang und Komplexität der auf die deutschen Militärs in Rußland abgewälzten Besatzungspflichten nicht auf die Umstände und Absichten abgestimmt. Erste Pläne für die deutsche Besetzung gingen von der Annahme aus, daß die Frontkämpfe in verhältnismäßig kurzer Zeit vorüber sein würden und daß nach dem Sieg die Verwaltung der besetzten Gebiete von der Wehrmacht auf die zivilen NS-Behörden übergehen werde19. Nachdem jedoch die Truppe ihre anfängliche Stoßkraft nicht aufrechterhalten konnte und wegen der riesigen zu überwachenden Räume und der damit verbundenen logistischen Probleme verblieben große Abschnitte des eroberten sowjetischen Territoriums für die Dauer der Besatzungszeit in der Rechtszuständigkeit der Wehrmacht. Dieser Bereich war weit größer als der mit ziviler Verwaltung. Insgesamt handelte es sich dabei um ein mehr als eine Million Quadratkilometer umfassendes Territorium mit etwa 40 Millionen Ein17

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Jürgen Förster, The Dynamics of Volksgemeinschaft. The Effectiveness of the German Military Establishment in the Second World War, in: Allan R. Millet, Williamson Murray, Military Effectiveness, vol. 3, London 1988, S. 181; Hans Mommsen, Was haben die Deutschen vom Völkermord an den Juden gewußt?, in: Walter H. Pehle, Der Judenpogrom 1938. Von der >Reichskristallnacht< zum Völkermord, Frankfurt a.M. 1988; Hans Mommsen, Kriegserfahrungen, in: Uber Leben im Krieg (wie A n m . 11), S. 13; Jonathan Steinberg, All or Nothing. The Axis and the Holocaust, London 1990, S. 218f.; Hans Joachim Schröder, Erfahrungen deutscher Mannschaftssoldaten während der ersten Phase des Rußlandkrieges, in: Zwei Wege nach Moskau (wie Anm. 1), S. 309—325, hier S. 316—321. Bartov, Hitler's A r m y (wie A n m . 2), S. 12—28. Alexander Daliin, German Rule in Russia 1941—45. Α Study in Occupation Policy, London 1981, S. 98; Horst Boog u.a., Der Angriff auf die Sowjetunion, Stuttgart 1983 (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd 4), S. 1030. Das Werk liegt seit 1991 auch als Taschenbuch vor.

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wohnern. Allerdings muß darauf hingewiesen werden, daß diese rückwärtigen Gebiete nur verhältnismäßig kurze Zeit existierten, zum Teil nicht länger als achtzehn Monate nach dem ersten Angriff auf die Sowjetunion. Dazu kommt, daß die Gliederung der Militärregierung, vor allem während der ersten Kriegsmonate, so vage und komplex war, daß ihre fehlende interne Struktur manchmal als Rechtfertigung dafür benutzt wurde, wie groß die Abweichungen von der offiziellen NS-Politik waren. Im wesentlichen sah sich die Wehrmacht vor die Aufgabe gestellt, eine weitgehend ländliche Bevölkerung bei verhältnismäßig geringer Bevölkerungsdichte (bei der Heeresgruppe Mitte waren es beispielsweise weniger als 40 Einwohner/km 2 ) und wenige größere städtische Zentren zu verwalten. Die mit der tatsächlichen Besetzung eines so weitläufigen Gebietes verbundenen Probleme wurden noch durch das Klima und die unterschiedliche Geländebeschaffenheit verstärkt. Beim Beginn des Angriffs im Jahr 1941 befand sich der größte Teil des Landes in einem ursprünglichen Zustand. Trotz harter Bemühungen des Sowjetregimes gab es nur wenige Hauptstraßen, und viele von diesen dienten lediglich der örtlichen Erschließung. Während das Leben in den sowjetischen Städten bestimmt nicht den von den nationalsozialistischen Rassenpropagandisten favorisierten primitiven Vorstellungsklischees entsprach, darf der im wesentlichen rückständige und abweisende Charakter weiter Teile des besetzten Territoriums nicht unberücksichtigt bleiben. Und dies bezog sich natürlich auf die Zeit vor den Verwüstungen des Krieges. Man könnte sogar argumentieren, daß bei der ersten Berührung der deutschen Truppe mit Rußland der zweifellos unterentwickelte Zustand großer Teile des besetzten Territoriums noch zur Geringschätzung und zur Fremdenfeindlichkeit gegenüber der russischen Bevölkerung, die von den NS-Planern so eifrig geschürt worden waren, beitrug 20 . Es liegen Berichte vor, daß in extremen Fällen urbane Zentren vollkommen geräumt waren, während sich die Bewohner ländlicher Gebiete unter Umständen auch zurückgezogen hatten. Ein in vielen Studien vernachlässigter Tatbestand ist, daß die meisten noch zu Hause verbliebenen Bewohner der besetzten Gebiete Frauen waren. Die Lage wurde weiterhin dadurch erschwert, daß viele der männlichen Bewohner noch Kinder beziehungsweise Jugendliche waren. Auch wenn in einigen Städten wieder steigende Einwohnerzahlen zu verzeichnen waren, so handelte es sich bei den Zugezogenen oftmals um Flüchtlinge, durch die Unterbringungsprobleme entstanden und die — was für die deutschen Besatzer noch alarmierender war — ein Sicherheitsrisiko bildeten. In Smolensk hatten beispielsweise im Winter 1941/42 50000 deutsche Soldaten Quartier bezogen, während gleichzeitig 20000 Flüchtlinge in Kellern und auf Dachböden hausten21. Das Leben der rückwärtigen Wehrmachtteile wurde durch die allgemeinen Transportprobleme noch unerträglicher. Hier herrschten höchst ungünstige Bedingungen für die deutschen Panzer und für schnelle Bewegungen, man war vielmehr auf wenige verwundbare Eisenbahnlinien und auf der unteren Ebene auf Pferdewagen (Panjewagen) angewiesen. 20

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Edward A. Shils, Morris Janowitz, Cohesion and Disintegration in the Wehrmacht, in: Propaganda in War and Crisis, ed. by Daniel Lerner, New York 1951, S. 430 ff. Schulte (wie Anm. 1), S. 44.

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Die sich bildenden sowjetischen Partisanengruppen brachten über 45 Prozent des Hinterlandes unter ihre Kontrolle, und das spricht sehr für die Behauptung, daß der größte Teil dieses Gebietes nie ganz dem sowjetischen Zugriff entzogen war. Wenn man die Ausdehnung der Operationsgebiete und die Vielfalt der Aufgaben berücksichtigt, so waren die anfänglich von der Wehrmacht für Besatzungsaufgaben zugewiesenen Kräfte sehr gering. Dies war vor allem die Folge einer illusionären strategischen Planung mit der falschen Erwartung, ein schneller Sieg über die Rote Armee sei möglich, und danach der Annahme, daß begrenzte Säuberungsaktionen zur Befriedung der rückwärtigen Gebiete ausreichen würden. Diese optimistische Beurteilung wurde durch die Hartnäckigkeit des sowjetischen Widerstandes erst an der Front und anschließend in den rückwärtigen Gebieten erschüttert, da das rücksichtslose deutsche Verhalten den Widerstand der Zivilbevölkerung provozierte und viele dazu veranlaßte, die Partisanen zu unterstützen oder sich diesen sogar anzuschließen. Auf der Ebene des Kommandanten der rückwärtigen Armeegebiete (Korück) ergab sich eine Besatzungsdichte von nur 36 Soldaten auf 1000 km2. Oft war nur ein einziger Truppenteil für Fernmelde- und Transportverbindungen über Entfernungen zuständig, die der Strecke zwischen Hamburg und Wien entsprechen. Folglich befanden sich große Abschnitte der der Militärregierung unterstehenden Gebiete nur auf dem Papier unter unmittelbarer Kontrolle der Wehrmacht. Das Gefühl der Isolation und der ständigen Gefahr war bei den selbständig eingesetzten Wehrmachttruppenteilen besonders ausgeprägt, die entlegene, über das ganze Land verstreute Vorposten und Stützpunkte halten mußten. Der Personalmangel verstärkte diese Ängste noch weiter. Schon bei Beginn des Feldzuges hatten viele der zur Sicherung der rückwärtigen Gebiete eingesetzten Truppenteile bei weitem nicht die volle Stärke. In der 9. Armee der Heeresgruppe Mitte fehlten ungefähr 15000 Mann, und Panzerarmeeoberkommando 2 verfehlte seine Sollstärke um 5000 Mann22. Die instabile Lage an der Front verschlimmerte die Situation, da Wehrmachtteile und Polizeieinheiten laufend aus den rückwärtigen Gebieten an die Front abgezogen werden mußten. Zur Verringerung der Personalprobleme setzte die Wehrmacht umfangreiche Kontingente aus verbündeten Staaten, Rekruten aus dem Kreis der sowjetischen Kriegsgefangenen oder Angehörige der örtlichen Bevölkerung ein. In einigen rückwärtigen Gebieten waren nur ungefähr die Hälfte der Besatzer Deutsche. Die Unterlagen über diese verschiedenen Probleme der Besatzungspolitik verweisen nicht nur auf den Personalmangel, mit dem sich die rückwärtigen Kräfte der Wehrmacht konfrontiert sahen, sondern auch auf qualitative Schwierigkeiten beim Personal vieler dieser Einheiten. Sicherlich bestand auf allen Ebenen Mangel an ausgebildetem Personal. Das Offizierkorps der Besatzungstruppe kann bestenfalls als überaltert und schlimmstenfalls als inkompetent bezeichnet werden. In den Berichten der Stabsoffiziere wird häufig das hohe Durchschnittsalter der Sicherungstruppenteile angesprochen, das heißt, die Offiziere waren Endvierziger, ihre Untergebenen nur zehn Jahre jünger. Das war die Generation der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts, die bereits am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte. Es sind sogar Fälle bekannt, wo die Offiziere schon über 70 Jahre alt 22

Ebd., S. 6 9 - 8 5 .

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waren. Damit unterschieden sich diese Männer erheblich von den Frontsoldaten. An der Front waren die Offiziere selten mehr als 30 Jahre alt23. Auch Bedenken wegen vielfach vorliegender Körperbehinderungen kamen zum Ausdruck, wobei die Gesamtsituation noch durch unzureichende Ausbildung und Ausrüstung verschlimmert wurde. Viele Truppenführer waren Zivilisten, die in Uniform gesteckt worden waren, da sie gewisse Verwaltungskenntnisse hatten. Es gab jedoch so gut wie keine ausgebildeten Spezialisten mit russischen Sprach- und Landeskenntnissen24. Es erscheint als bittere Ironie, daß viele Offiziere in den rückwärtigen Gebieten eingesetzt wurden, weil sie von vornherein für Verwaltungsaufgaben und nicht für den Dienst an der Front vorgesehen waren. Die Realitäten der militärischen Lage sahen aber oftmals so aus, daß das Leben im Hinterland in jeder Beziehung dem aktiven Dienst an der Front gleichzusetzen war. Mit diesen Aussagen soll nicht der unanfechtbare Wert schlagkräftiger Argumente in Abrede gestellt werden, mit denen das Ausmaß des Einflusses der nationalsozialistischen Ideologie auf die Politik bewiesen werden kann. Doch war in vielerlei Hinsicht die offizielle Ideologie der deutschen Besatzungspolitik in Rußland durch die Trägheit der Militärs und die Lästigkeit der Besatzungsaufgaben gefiltert und gelegentlich auch verwässert. Das für die Machtstrukturen des Dritten Reiches kennzeichnende Chaos war einfach auf der untersten Ebene noch größer, denn dort konnte sich das Vorgehen nicht allein auf Ideen abstützen, sondern war auch von einer Mischung aus Pragmatismus, Zwängen und reiner Uberlebensnotwendigkeit geprägt. Jede Prüfung der unterschiedlichen Aspekte der Besatzungspolitik der Wehrmacht in den besetzten Teilen der Sowjetunion auf Gebieten, die von der wirtschaftlichen Ausbeutung bis zur Plünderung, der Bekämpfung der Partisanen, Beziehungen zu der Zivilbevölkerung, Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen und Beziehung mit verschiedenen NS-Organisationen wie der SS und dem SD reichen, verstärken diese Aussage. Bezüglich der Ausbeutung durch die deutsche Truppe war von hohen Wehrmachtsplanungsstellen zweifellos zuerst eine gegen die Bewohner der besetzten Gebiete gerichtete Hungerstrategie befürwortet worden, so daß man von einer bewußt praktizierten Vernichtungspolitik sprechen kann25. In der Praxis erwies sich jedoch die Absicht, die Ressourcen der besetzten Gebiete zur Versorgung der deutschen Truppe im Osten und als erheblichen Beitrag zur Bedarfsdeckung des Reiches zu verwenden, als undurchführbar. Die unerwartete Dauer des Feldzuges verschärfte den Lebensmittelmangel in den meisten besetzten Teilen der Sowjetunion. Die Schwierigkeiten vermehrten sich sogar noch, da spätere Vorstöße die Wehrmacht in Gebiete führten, die entweder abgeerntet waren oder wo die zurückweichenden Sowjettruppen alle Vorräte verbrannt hatten. Im Dezember 1941 zum Beispiel, hatten sich die Verhältnisse so weit verschlechtert, daß deutsche Truppenteile im Raum Kalinin keine andere Wahl hatten, als das Stroh von den Dächern der 23 24

25

Kroener (wie Anm. 10), S. 733ff.; Bartov, Eastern Front (wie Anm. 11), S. 63. Daliin (wie Anm. 19), S. 507 f.; Gerald Reitlinger, The House Built on Sand. The Conflicts of German Policy in Russia, Westport, Conn. 1975, S. 110; Kroener (wie Anm. 10), S. 871 ff. Rolf-Dieter Müller, Das Scheitern der wirtschaftlichen Blitzkriegstrategie, in: Kroener (wie Anm. 10), S. 946 ff.

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besetzten Dörfer zum Füttern der Packpferde der Wehrmacht zu verwenden, die schon zwei Monate lang keinen Hafer mehr bekommen hatten26. Ganz eindeutig war dadurch das Problem entstanden, daß wegen des Ausbleibens eines schnellen militärischen Sieges die fortgesetzte Beschlagnahme von Lebensmitteln erforderlich wurde. Andererseits mußte wegen der Ausdehnung der besetzten Gebiete und der begrenzten Anzahl von Deutschen im Hinterland die örtliche Bevölkerung im Interesse der Sicherheit der rückwärtigen Gebiete bei Stimmung gehalten werden. Die offizielle Politik in ihren extremen Ausformungen war somit durch militärische und ökonomische Notwendigkeiten gemildert. Es muß hervorgehoben werden, daß dieses Umdenken in den höheren Rängen von Pragmatismus, nicht etwa von humanitären Uberlegungen geprägt war. Aber auch nach diesem Einlenken machten sich deutsche Soldaten im allgemeinen in äußerst verständnisloser, oft brutaler Art an die Konfiszierung des Eigentums der örtlichen Bevölkerung, in ihrer offiziellen Funktion ebenso wie in ihrer nichtoffiziellen. Bestenfalls ließen die von ihnen angewandten Verfahren erheblichen Mangel an Fingerspitzengefühl und grobe Fehleinschätzung der Psyche der russischen Bauern erkennen. Die Klage, daß die Truppe einem Dorfbewohner seine >beste< oder >letzte< Kuh weggenommen habe, erscheint so oft in den Akten, daß man dies beinahe bezweifeln könnte. Auch wenn die nicht angeordnete Konfiszierung teilweise durch den Druck der eigenen Knappheit an Lebensmitteln, Heizmaterial und Bekleidung erklärt werden kann, wäre es einfältig anzunehmen, daß es sich bei jedem Diebstahl um einen persönlichen »Überlebensakt« gehandelt habe. Gleichfalls wäre es angesichts der insgesamt brutalen Realität dieses Krieges falsch, jene Beispiele zur Norm zu erheben, in denen der gewöhnliche deutsche Soldat Menschlichkeit zeigte. Trotzdem war zwischen Egoismus und grausamer Gleichgültigkeit zuweilen humanes Verhalten anzutreffen, wie die allgemeine Tendenz beweist, von einer Phase des Terrors zu einem beinahe sentimentalen Eingehen auf die örtlichen Bewohner, insbesondere Frauen und Kinder, überzugehen. So waren zwischen dem im allgemeinen grausamen Vorgehen immer wieder Fälle zu verzeichnen, wo deutsche Soldaten in den Städten und auf dem Land die Bevölkerung mit Nahrungsmitteln versorgten. Auch waren solche mitfühlenden Handlungsweisen, bei denen das überzählige Stück Brot verteilt wurde, nicht immer nur spontane Gesten einzelner. Ganze Truppenteile richteten auf Eigeninitiative öffentliche Suppenküchen für die Bewohner von Ortschaften ein, oftmals wider den Willen vorgesetzter Stellen27. Bei der Partisanenbekämpfung, die für die deutschen Besatzungstruppen im Laufe der Zeit immer vorrangiger wurde, ist die belastendste Anklage gegen die Wehrmacht zweifellos die Ermordung zahlreicher Orstansässiger unter dem summarischen Vorwand der »militärischen Notwendigkeit«. Kollektive Gewaltmaßnahmen führten zur totalen und offenbar wahllosen Zerstörung eines Dorfes nach dem anderen. Der auffallende Unterschied zwischen den ungewöhnlich hohen Verlusten unter den »Partisanen« und den ungewöhnlich niedrigen Verlusten bei den Deutschen liefert weitere Argumente für den Standpunkt, 26 27

Schulte (wie A n m . 1), S. 91. Kroener (wie A n m . 10), S. 1009.

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daß die summarische Exekution von Geiseln oder unter unbestimmter Anklage stehender Zivilisten nicht ausreichend durch die Sicherheitserfordernisse der Truppe in den rückwärtigen Gebieten erklärt werden kann. Die deutschen Soldaten wollen im rückwärtigen Gebiet der Heeresgruppe Mitte zwischen Juli 1941 und Mai 1942 ungefähr 80000 Partisanen getötet haben, während sie ihre eigenen Verluste auf nur 3284 Mann bezifferten28. Einige Truppenführer waren sich der negativen Auswirkungen der wahllosen Terrorakte bewußt und nahmen die Befürchtungen ernst, die einzelne, im rückwärtigen Gebiet stationierte Truppen hinsichtlich der Notwendigkeit der Geiselnahme oder blinder Vergeltungsmaßnahmen äußerten, bei denen kein Unterschied zwischen dem friedlichen Bürger und dem aktiven Partisanen gemacht wurde. Obwohl es Beweise gibt, daß einige deutsche Militärs die Durchführung der offiziellen Weisungen ablehnten, waren Plünderung und Brutalität an der Tagesordnung29. Ein Widerspruch ergab sich dadurch, daß die deutschen Truppenführer ihre Soldaten fortwährend drängten, nichts zu unterlassen, um die Sicherheit im Hinterland zu gewährleisten, jedoch dieselben Soldaten gleichzeitig vor den Gefahren warnten, die willkürliche Zerstörungen mit sich bringen würden. Somit verwischten sich die Grenzen zwischen der militärischen Notwendigkeit, der Aufrechterhaltung der Sicherheit und einer willkürlichen Ausrottungspolitik noch weiter. Unterdessen sahen die Partisanen eines ihrer Hauptziele darin, die deutschen Sicherheitsklüfte zu Vergeltungsmaßnahmen zu provozieren. Sorgfältig geplante Agitation, vereint mit unerbittlicher Schonungslosigkeit gegen die russischen Repräsentanten in der von den Deutschen eingesetzten Verwaltung ließen die Bevölkerung nie die Präsenz des sowjetischen Regimes vergessen und unterliefen jede Bereitschaft der örtlichen Bevölkerung, sich auf irgendeine Art der Koexistenz mit den Beratern einzulassen. Die Bevölkerung sah sich zwischen der Wehrmacht, die drakonische Maßnahmen gegen jeden anwandte, der nicht in vollem Umfang kooperierte, und den Partisanen hin- und hergerissen, von denen man wußte, daß sie auch nur die geringste Unterstützung der Deutschen mit dem Tode bestraften30. Wenn schon die Zivilbevölkerung unter den deutschen Besatzern litt, so erwartete die Millionen sowjetischer Kriegsgefangener ein noch viel schlimmeres Schicksal. Mindestens zwei der fünf Millionen Soldaten der Roten Armee, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren, erlagen schlechter Behandlung. Weitere 600000 verloren wahrscheinlich unmittelbar aufgrund der aktiven Zusammenarbeit zwischen der Wehrmacht und den SD-Einsatzgruppen das Leben31. Jürgen Förster, Zur Kriegsgerichtsbarkeit im Krieg gegen die Sowjetunion 1941, in: Gewalt in der Geschichte, hrsg. von Jörg Calließ, Düsseldorf 1983, S. 101—117. 29 Schulte (wie Anm. 1), S. 1 4 5 - 1 4 9 . 30 Witalji Wilenchik, Die Partisanenbewegung in Weißrußland 1941—1944, Wiesbaden 1984; Bernd Bonwetsch, Sowjetische Partisanen 1941—1944: Legende und Wirklichkeit des allgemeinen Volkskrieges«, in: Partisanen und Volkskrieg. Zur Revolutionierung des Krieges im 20. Jahrhundert, hrsg. von Gerhard Schulz, Göttingen 1985, S. 92—114. 31 Christian Streit, Die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen und völkerrechtliche Probleme des Krieges gegen die Sowjetunion 1941, in: Unternehmen Barbarossa (wie Anm. 2), S. 197; Christian Streit, Sowjetische Kriegsgefangene — Massendeportationen — Zwangsarbeiter, in: Der Zweite Weltkrieg (wie Anm. 1), S. 7 4 7 - 7 6 0 . 28

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Die höhere Führung der Wehrmacht hatte zweifellos eine Schlüsselrolle bei der Festlegung jener Weisungen gespielt, die so verheerende Folgen zeitigten. Deshalb können Erklärungsversuche, die das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen sachlichen Problemen anlasten wollen, wie sie sich aus ihrer unübersehbar großen Zahl, aus logistischen Schwierigkeiten der Lebensmittel-, Heizmaterial- und Transportbeschaffung sowie aus klimabedingten Beschränkungen ergeben haben, nur begrenzt Anerkennung finden. Sowjetische Offiziere, die man für politische Kommissare hielt, wurden am Ort ihrer Gefangennahme (wie aufgrund des Kommissarbefehls gefordert) im Schnellverfahren hingerichtet. Die unteren Dienstgrade kamen unterwegs während der langen und entbehrungsreichen Märsche in die Lager in den rückwärtigen Gebieten aufgrund äußerer Umstände oder gewaltsam um oder erreichten diese nur, um nach dem Eintreffen Hungers zu sterben. Die Lagerkomplexe, in denen Zehntausende von Kriegsgefangenen zusammengepfercht wurden, waren oftmals kaum mehr als riesige Freiflächen, die von verzweifelten Insassen jeder Vegetation beraubt wurden. Dort gab es keine richtigen Unterkünfte, beinahe keine sanitären Einrichtungen oder auch nur elementare Sanitätsversorgung. Das war nicht die »heimelige« Umgebung der Kriegsgefangenenlager westlichen Stils, wie sie so gern in den amerikanischen und britischen Nachkriegsfilmen dargestellt wurde, sondern das Gegenteil: ein entsetzlicher Ort, der durch Entwürdigung, Mißbrauch und Schmutz gekennzeichnet war. Eine Vorstellung von den Leiden der Insassen, das andernorts gut dokumentiert ist, kann man sich machen, wenn man hört, daß sich die meisten deutschen Soldaten mehr Sorge um die Verpflegung ihrer deutschen Wachhunde, die entlang der Stacheldrahtzäune patroullierten, als um die in ihrer Obhut befindlichen Angehörigen der Roten Armee machten. Mit Verpflegungssätzen für die Gefangenen, die kaum ein Überleben ermöglichten, wegen grassierender Krankheiten aufgrund der Unterernährung, fehlender Grundhygiene und fehlendem Witterungsschutz kam es zu grauenhaften Verhältnissen in den Lagern, bis hin zum Kannibalismus unter den zerrütteten Lagerinsassen 32 . Einzelne, von einigen wenigen energischen, im rückwärtigen Gebiete eingesetzten Offizieren und Lagerkommandanten ausgearbeitete Pläne zur Verbesserung der Lage und vereinzelte humanitäre Gesten einiger Soldaten kamen für die meisten Gefangenen nicht zum Tragen. Ihr Schicksal schien der Tod durch langsames Verhungern oder durch Krankheit und Kälte zu sein. Erst als eine große Anzahl von Angehörigen der Roten Armee umgekommen war, fingen ab Frühjahr 1942 die Planer der Wehrmacht an, ihre Richtlinien zu überdenken, da die Wirtschaft im Reich Zwangsarbeiter brauchte und die Sicherheitsprobleme in den rückwärtigen Gebieten pragmatischere Verfahren erforderlich machten 33 . Es muß darauf verwiesen werden, daß das zur Verdeutlichung dieser Barbarei der Wehrmacht gegenüber den sowjetischen Kriegsgefangenen verwendete historische Beweismaterial oftmals militärischen Berichten entnommen ist, in denen Sorge und manchmal sogar Furcht angesichts so schwerwiegender Umstände zum Ausdruck gebracht werden34. 32 33 34

Schulte (wie Anm. 1), S. 196ff., S. 7ff. Streit, Sowjetische Kriegsgefangene (wie Anm. 31), S. 747ff. Ders., Keine Kameraden (wie Anm. 6), S. 8 ff.

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Die engen Beziehungen zwischen Wehrmacht und SS machten den verhängnisvollen Einfluß des nationalsozialistischen Wertesystems auf das Heer noch deutlicher. In besonderen Bereichen, so etwa bei der Durchführung des Kommissarbefehls und noch mehr bei den Maßnahmen zur Ausrottung der jüdischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten, war das Vorgehen der Wehrmacht in jeder Hinsicht oftmals kaum von dem der nationalsozialistischen Sonderorganisationen zu unterscheiden. Die formale Aufteilung der Zuständigkeiten und Funktionen, die vor Kriegsausbruch vereinbart worden war, wurde oftmals nicht eingehalten. Angehörige der Wehrmacht waren an der Auswahl, Ubergabe und Exekution besonderer Kategorien sowjetischer Kriegsgefangener im Einsatzgebiet oder in den Lagern in den rückwärtigen Gebieten beteiligt. Truppenteile der Wehrmacht beteiligten sich an einer allgemeineren und radikaleren »Lösung« der »jüdischen Frage« im gesamten besetzten Gebiet wie auch an der Auslöschung anderer Gruppen, die als rassisch oder gesellschaftlich »unerwünscht« abgestempelt worden waren35. Was diesen Aspekt der Besatzungspolitik angeht, entspräche es nicht den Tatsachen, wenn man annähme, daß die Hetztiraden des nationalsozialistischen Systems über die Wertlosigkeit der Juden keine Spuren hinterlassen hätten. Es bedurfte schon einer außergewöhnlichen geistigen Unabhängigkeit, um davon unbeeinflußt zu bleiben. Die Juden waren in diesem Zusammenhang immer eine Kategorie für sich. Ein russischer Jude war immer ein Jude und kein einfacher Russe. Diese geistige >Aussonderung< war der erste Schritt zur physischen Aussonderung der Juden und schließlich zu ihrer Ausrottung. Hinzu kam eine weitere propagandistische Vorstellung, nämlich die der angeblichen symbiotischen Beziehung zwischen Juden und Partisanen. Die Wehrmachttruppenteile beteiligten sich in den rückwärtigen Gebieten häufig an den brutalsten Gemeinschaftsaktionen mit den SS-Einheiten unter dem Deckmantel der Aufstandsbekämpfung 36 . Wo Truppenführer der Wehrmacht die Unterstützung der SS und des SD durch ihre Einheiten einschränkten, schien diese Zurückhaltung mehr von der Sorge um die Aufrechterhaltung der Disziplin innerhalb der Truppe als von moralischen oder humanitären Überlegungen bestimmt worden zu sein37. Was diejenigen Soldaten anbetrifft (wahrscheinlich um die 10000 an der Zahl), die >nur< Zeugen dieser Greueltaten wurden (einige von ihnen machten sogar Fotoaufnahmen nach der Art, die man >Exekutionstourismus< nennt), so bedeutet ihr Verhalten bestenfalls eine moralische Gleichgültigkeit erschreckenden Ausmaßes 38 . 35

Helmut Krausnick, Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938—1942, Stuttgart 1981, S. 205—278; Förster, Rückblick (wie Anm. 5), S. 130 ff.

36

Steinberg (wie Anm. 17), S.218f.

37

Die Truppe des Weltanschauungskrieges (wie Anm. 35), S. 224—227; Manfred Messerschmidt, Harte Sühne am Judentum. Befehlslage und Wissen in der deutschen Wehrmacht, in: Jörg Wollenberg, Niemand war dabei und keiner hat's gewußt. Die deutsche Öffentlichkeit und die Judenverfolgung 1 9 3 3 - 1 9 4 5 , München 1988, S. 1 1 3 - 1 2 8 .

38

Hans-Heinrich Wilhelm, Knowledge and Comprehension Among the German Army on the Final Solution, in: Comprehending the Holocaust, ed. by Asher Cohen, Frankfurt a.M. 1988, S. 179—199; Über Leben im Krieg (wie Anm. 11), S. 162—168; Bartov, Hitler's Army (wie Anm. 11), S. 104.

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Für die führenden Kreise im nationalsozialistischen Deutschland war der Weltanschauungskrieg gegen die Sowjetunion nicht nur ein Krieg mit ideologischen Untertönen, sondern ein Krieg, mit dem die vollkommene Vernichtung einer anderen Gesellschaft als grundlegende Voraussetzung für die Neugestaltung der deutschen Gesellschaft verfolgt wurde. Schlimmstenfalls war die Führung der Wehrmacht aktiv an der Vorkriegsplanung für einen solchen Krieg beteiligt und bestenfalls fand sie sich mit dem harten militärischen »Realismus« und der unausweichlichen Brutalität der Besatzungsrichtlinien ab. Sogar die dem letztgenannten Verhalten zugrundeliegende moralische Gleichgültigkeit diente der Förderung einer weiteren Radikalisierung, wenn auch teilweise von der Erkenntnis beeinflußt, daß die Aufrechterhaltung eines nationalsozialistischen Konsenses die einzige Strategie war, die den Mangel an Personal und Material ausgleichen konnte. Der Zug, sich dem Druck eines rigiden Begriffs von Befehl (auch eines widerrechtlichen) und Gehorsam zu fügen, trug viel dazu bei, daß ein Großteil der Soldaten der Wehrmacht sich an dem harten Vorgehen der Besatzer beteiligte. Gleichzeitig war das Alltagsleben vieler Soldaten im rückwärtigen Gebiet von militärischen Regeln und Vorschriften bestimmt, die eine verwirrende Atmosphäre der »Normalität« schufen. Wenn auch die Gefahren der »Ubernormalisierung« der Alltagsdimension des Lebens im Dritten Reich bekannt sind, so stützte das Festhalten am »kleinbürgerlichen Wertesystem« in den internen Angelegenheiten der Wehrmacht nach außen ihre Beteiligung an Brutalitäten im größeren Rahmen dessen, was als »permanenter Notstand« bezeichnet wurde 39 . Wenn — wie oft behauptet wurde — die Wehrmacht im Krieg ein großes Spektrum der gesamten deutschen Gesellschaft widerspiegelte, so müssen alle wesentlichen Determinanten des Verhaltens in dieser Gesellschaft und nicht nur einfach nationalsozialistische ideologische Einflüsse zur Kenntnis genommen werden. Dazu gehören vielleicht auch weitere komplizierte und abstrakte Einflüsse: Mangel an Ethik, der aus einer Form des Protokonsumerismus in den 30er Jahren hervorging, sowie die Flucht aus der Realität durch eine vorübergehende Befriedigung der empfundenen Eigeninteressen, Ursachen, die ein durch sie bedingtes Wahrnehmungsdefizit für größere menschliche und soziale Probleme bewirkten 40 . Eine Beurteilung desselben Krieges durch die entsprechende Ebene der »anderen Seite« — durch den Soldaten der Roten Armee — bestärkt diese Aussage. Der kritische Sozio39

40

Normalität oder Normalisierung? Geschichtswerkstätten und Faschismusanalyse, hrsg. von Heide Gerstenberger und Dorothea Schmidt, Münster 1987; Bartov, Extremfälle der Normalität (wie Anm. 11); Hans Mommsen, The Realization of The Unthinkable: the >Final Solution< of the Jewish Question in the Third Reich, in: Gerhard Hirschfeld, The Policies of Genocide: Jews and Soviet Prisoners of War in Nazi Germany, London 1986, S. 128 f. Hans-Dieter Schäfer, Das gespaltene Bewußtsein: Deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933—1945, München 1981; Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll. Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet, hrsg. von Lutz Niethammer, Berlin 1983; Alf Lüdtke, Wo blieb die rote Glut? Arbeitererfahrungen und deutscher Faschismus, in: Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, hrsg. von Alf Lüdtke, Frankfurt a. M. 1989; Omer Bartov, The Missing Years. German Workers, German Soldiers, in: German History, 8/1 (1990), S. 46—65; Hans-Dieter Schäfer, Amerikanismus im Dritten Reich, in: Nationalsozialismus und Modernisierung, hrsg. von Michael Prinz und Reinhard Zitelman, Frankfurt a.M. 1991.

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löge Vladimir Subkin kommentierte ironisch, daß für einen gewöhnlichen sowjetischen Soldaten »die Realitäten des militärischen Alltags wenig mit der Strategie des Generalstabes oder Oberbefehlshabers zu tun gehabt haben. Es war das Vorkriegsland, das in den Krieg eintrat. In diesem Land brachte das Volk all seine Eigenschaften an der Front ein, die Selbstaufopferung genauso wie das Mißtrauen gegenüber dem anderen, Grausamkeit und seelische Schwäche, Niedrigkeiten und naive Romantik, offizielle Ergebenheit gegenüber dem Führer und tiefliegende Zweifel, die dickschädelige Starrköpfigkeit von Bürokraten und ein Verhalten, das die persönliche Sicherheit nicht gefährdet, sowie die große Hoffnung, daß irgendetwas dabei herauskommen würde« 4 1 .

Die sich daraus ergebende und für den Krieg so kennzeichnende Verwirrung sowie die dadurch verursachten Zweifel machten sich vor Ort am meisten bemerkbar. Der gewöhnliche deutsche Soldat, dem die Durchführung der Richtlinien im Einsatz zufiel, sah einen erheblichen Teil des offiziellen nationalsozialistischen Gedankengutes in der Praxis in völlig anderem Licht, als es sich in der Theorie darstellte. Die gewalttätige Realität des Krieges in seiner Gesamtheit muß ebenfalls erkannt werden. Das war der permanente Hintergrund, vor dem das Chaos, die Verwirrung und die Unsicherheit gesehen werden müssen, durch die das Leben in den der Militärregierung unterstehenden Gebieten gekennzeichnet war. Offizielle Dokumente aus der Zeit des Nationalsozialismus, die vor vor kurzer Zeit in staubigen Archiven von Moskau bis hin nach Prag gefunden wurden (1991), bestätigen den Historiker in der Annahme, daß die Wehrmacht, ihre rückwärtigen Einheiten sowie Feldpolizei und Feldgendarmerie tief in die Greueltaten im Osten verstrickt waren. Die Alltagsgeschichte hat eine Reihe von Quellen zum Vorschein gebracht, die die Tatsache belegen, daß sich sowohl Teile der Mannschaften als auch höhere Dienstgrade der Wehrmacht an den Grausamkeiten beteiligten. Die historische Erkenntnis ist schon zu weit fortgeschritten, als daß man die Wehrmacht und die Sonderkommandos der SS noch säuberlich kategorisch voneinander trennen könnte, sogar deutsche Schulbücher gestehen diese Tatsache ein42. Allerdings läuft man hier Gefahr, eine Überreaktion auf die geschmacklose Rechtfertigungsliteratur zu diesem Thema hervorzurufen. Während man sich mit dem traurigen Befund der unseligen Rolle der Wehrmacht in der Sowjetunion einfach abfinden muß, sollten dennoch in diesem Zusammenhang Beispiele von Nichtanpassung oder nur passiven Verhaltens von einfachen Soldaten im Einsatz ebenso berücksichtigt werden wie Beweise ihrer Komplizenschaft. Insofern darf eine abschließende Beurteilung, welche die nicht selten unheilvolle Rolle von Wehrmachtsangehörigen als Anstifter und Täter bei vielen dieser Gewalttaten akzeptieren muß, auch nicht die überaus heftigen Belastungen außer acht lassen, die dieser Krieg dem einfachen Soldaten auferlegte.

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Literaturnaja gazeta, September 1987; R.W. Davies, Soviet History in the Gorbachev Revolution, London 1989, S. 102 ff. Wigbert Benz, Der Rußlandfeldzug des Dritten Reiches. Ursachen, Ziele, Wirkungen. Zur Bewältigung eines Völkermords unter Berücksichtigung des Geschichtsunterrichts, Frankfurt a.M. 1988; Geschichte Politik und Gesellschaft, hrsg. von Wolfgang W. Mickel. Bd 1: Von der Französischen Revolution bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, Frankfurt a.M. 1991, S. 384ff.

Gerhard L. Weinberg Der Überfall auf die Sowjetunion im Zusammenhang mit Hitlers diplomatischen und militärischen Gesamtplanungen

Wenn man versucht, den Angriff auf die Sowjetunion im Rahmen der gesamten Planung des Dritten Reiches zu verstehen, dann stößt man auf eine Reihe von scheinbar paradoxen Einzelheiten. Nur einige können hier genannt werden. Auf der einen Seite haben die Nationalsozialisten sich als Gegner des Kommunismus stilisiert; auf der anderen Seite haben sie sich mit Moskau verbunden und der Sowjetunion die Tore nach Mitteleuropa geöffnet. Die Eroberung von Lebensraum im Osten war nicht nur eine zentrale Idee in »Mein Kampf« sowie in Hitlers »Zweitem Buch«; gerade diese Eroberung wurde von ihm der deutschen Generalität am Anfang seiner Regierungszeit als Ziel der neuen Regierung vorgestellt1. Die militärischen Vorbereitungen der Aufrüstungsjahre 1933—1939 aber waren auf einen Krieg mit den Westmächten eingestellt; sofern es in diesen Jahren weiterführende Waffenentwicklungen gab, waren diese auf die Vereinigten Staaten zugeschnitten, so die Kiellegung der übergroßen Schlachtschiffe und die Arbeiten an dem »Amerika Bomber«2. Es ist ja gerade durch die Arbeiten des Militärgeschichtlichen Forschungsamts in letzter Zeit wieder klargestellt worden, daß der Angriff auf die Sowjetunion mit einem Heer unternommen wurde, das ungefähr die gleiche Stärke hatte wie jenes, mit dem Deutschland im Mai 1940 Frankreich angriff, während die gegen die Sowjetunion zum Angriff angesetzten Luftwaffe und Marine kleiner waren als die im Westen im Vorjahr3. Die erste deutsche Waffe, die mit Blick auf die Ostfront geschmiedet wurde, waren die Panzer V und VI, also eine deutsche Antwort auf die erst im Ostfeldzug selbst entdeckten sowjetischen schweren Panzer4. Der gewaltige Kampf an der Ostfront verschlang die Menschen und Waffen des Dritten Reiches, aber unglaubliche Mengen an Material und Arbeitskräften wurden für neuartige und aufwendige Waffensysteme verwendet, die das einzige Ziel hatten, ein paar hundert Pfund Bombenlast nach London zu tragen. Kann man diese scheinbaren Widersprüche in eine Gesamtplanung einreihen, ohne der Wirklichkeit der Entwicklung Gewalt anzutun? Nach einem halben Jahrhundert sind folgende Konturen eine mögliche Hilfe zum Verständnis. 1

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4

Zur Ansprache Hitlers an die Generalität vom 3 . 2 . 1 9 3 3 siehe Gerhard L. Weinberg, The Foreign Policy of Hitler's Germany: Diplomatic Revolution in Europe, 1933—36, Chicago 1970, S. 26f. Eine vorläufige Darstellung in: Jochen Thies, Architekt der Weltherrschaft: Die »Endziele Hitlers«, Düsseldorf 1976, S. 1 2 8 - 1 4 6 . Eingehend in: Horst Boog u.a., Der Angriff auf die Sowjetunion, Stuttgart 1983 (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd4), S. 158 ff. Fridolin v. Senger und Etterlin, German Tanks of World War II, New York 1973, S. 59—74.

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Gerhard L. Weinberg

Die Ideologie des Rassenwahns und des damit zusammenhängenden Rassenkrieges gibt uns den Schlüssel an die Hand. Das deutsche Volk sollte in dem Kampf der Rassen um das Ackerbauland der Welt Sieger werden. Es verdiente diesen Sieg, weil es der höchsten Rasse angehörte; es hatte den Ersten Weltkrieg nur durch einen von den inneren Gegnern der Deutschen geführten Dolchstoß verloren; und es würde den nächsten mit einer im Führerstaat geschlossenen Heimatfront gewinnen. Die möglichen Schwierigkeiten auf dem Weg zur deutschen Weltmacht wurden nach dem angeblichen Rassenwert der Gegner eingeschätzt. Hitler schätzte die slawischen Völker Osteuropas und insbesondere der Sowjetunion als minderwertig ein, und daraus zog er den Schluß, daß die Eroberung von riesigen Gebieten im Osten leicht sein werde; die wirklich gefährlichen Gegner befanden sich für ihn anderswo. Frankreich mußte geschlagen und England vom Kontinent vertrieben werden; darin sah er die eigentliche Aufgabe der wieder aufgebauten militärischen Macht Deutschlands. Hinter den Westmächten standen die Vereinigten Staaten, die in Hitlers Gedankenwelt dem Reich die Vorherrschaft in der Welt streitig machen konnten. Aber hier sah er nur technische Schwierigkeiten, da das dortige Volk, wenn auch nicht ganz so minderwertig wie die Slawen, auf jeden Fall auf einer niedrigen Stufe stand5. Die allzuoft übersehene Kehrseite der Dolchstoßlegende für diejenigen, die, wie Hitler und ein Großteil der deutschen Eliten, diese Legende für die Wahrheit hielten, war doch, daß der militärische Beitrag der Vereinigten Staaten zum Sieg der Alliierten im Ersten Weltkrieg zur Legende wurde. Nur waren die Amerikaner erstens sehr weit entfernt, und sie hatten, zweitens, eine große Flotte; wenn Deutschland sich auf diesen beiden Gebieten rechtzeitig vorbereitete, konnte es eines Sieges über die Vereinigten Staaten sicher sein. Diese Vorbereitungen wurden in denselben Jahren begonnen, als Deutschland sich auf einen Krieg mit den Westmächten einstellte. Sie würden aber nicht nur Zeit in Anspruch nehmen — die Riesenschlachtschiffe waren das Waffensystem der damaligen Epoche, das die längste Zeit von der Bestellung bis zur Fertigstellung benötigte —, sondern auch gewaltige Mengen von Öl erfordern, um die große Flotte anzutreiben und die Langstreckenflugzeuge fliegen zu lassen. Aber auch dieses Problem ließ sich leicht lösen: Wie Hitler bei der Verkündung des Vierjahresplanes betonte, waren die notwendigen Rohstoffe ja alle in der Sowjetunion reichlich vorhanden; sie mußten von den Deutschen nur richtig ausgebeutet werden6. Wenn wir versuchen, die Entwicklung dieser Einschätzung der Zukunft Deutschlands nachzuvollziehen, können sonst unverständliche Entscheidungen und Schritte auf diplomatischem und militärischem Gebiet in einem neuen Licht gesehen werden. Die diplomatischen sowie die militärischen Vorbereitungen der Jahre 1933 bis 1938 waren auf einen 5

6

Gerhard L. Weinberg, World in the Balance: Behind the Scenes of World War II, Hannover, Ν. H. 1981, S. 53—74. Siehe auch ders., Die deutsche Politik gegenüber den Vereinigten Staaten im Jahr 1941, in: Kriegswende Dezember 1941, hrsg. von Jürgen Rohwer und Eberhard Jäckel, Koblenz 1984, S. 73—79, und Gerhard L. Weinberg, Von der Konfrontation zur Kooperation: Deutschland und die Vereinigten Staaten 1933—1949, in: Amerika und die Deutschen: Bestandsaufnahme einer 300jährigen Geschichte, hrsg. von Frank Trommler, Opladen 1986, S. 393—405. Rede vom 12.9.1936, in: Hitler, Reden und Proklamationen 1932—1945, hrsg. von Max Domarus, Neustadt a.d. Aisch 1962, S. 642.

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kleinen Krieg in Mitteleuropa gegen die Tschechoslowakei und danach auf den großen Krieg gegen die Westmächte ausgerichtet7. Heer, Luftwaffe und Marine wurden hierfür vorbereitet. Um nur zwei Beispiele anzuführen: Die neuen Panzer der Wehrmacht wurden nicht mit breiten Ketten für die schlammigen Wege Osteuropas geplant und gebaut, sondern mit schmalen Ketten für Mittel- und Westeuropa. Als es zur Entscheidung über Schlachtflieger kam, sollten riesige Zahlen des zweimotorigen Ju-88-Sturzkampfbombers gebaut werden: für den »tödlichen Schlag« gegen England — so der damalige Ausdruck8. So wie die militärischen ließen auch die diplomatischen Vorbereitungen des Deutschen Reiches die Sowjetunion außer Betracht. In den Augen der damaligen Machthaber in Berlin konnte die Sowjetunion bei diesen Vorbereitungen weder helfen noch stören. Weder Osterreich noch die Tschechoslowakei hatten eine gemeinsame Grenze mit der Sowjetunion. Es ist unter diesen Umständen leichter zu verstehen, warum Hitler in den dreißiger Jahren alle Versuche Moskaus, die deutsch-sowjetischen Beziehungen auf eine gute Basis zu bringen, ablehnte, wenn man überhaupt antwortete. In dem kürzlich erschienenen Buch von Ingeborg Fleischhauer zur Frage des Nichtangriffspaktes von 1939 werden alle die Tastversuche Stalins in dieser Richtung als Fabeln bezeichnet9. Das ist zweifellos falsch; es hat diese Versuche gegeben. Ins Reich der Fabeln gehören dagegen die Spekulationen in diesem Buch über die Grenze zwischen dem östlichen Teil der Tschechoslowakei und der Sowjetunion, eine Grenze, die es damals, wie jeder historische Atlas zeigt, überhaupt nicht gab10. Auf die Politik Stalins wird später noch kurz einzugehen sein; hier muß darauf hingewiesen werden, daß der Umschwung auf diplomatischem Gebiet 1939 in Berlin, nicht in Moskau, stattfand11. Bis dahin hatte man alle Möglichkeiten einer Verbesserung der Beziehungen mit der UdSSR abgelehnt. Nunmehr wurde das anders. Warum? Weil Hitler jetzt auf den Krieg mit England und Frankreich zusteuerte, hierfür eine ruhige Ostfront wünschte, Ungarn sich bereit erklärt hatte, seine Politik auf Deutschland auszurichten, Litauen für ungefährlich gehalten wurde, Polen aber nicht bereit war, seine Unabhängigkeit Berlin unterzuordnen. Polen sollte also vor England und Frankreich an die Reihe kommen. Polen aber hatte eine gemeinsame Grenze mit der Sowjetunion. Hätte die damalige deutsche Regierung einen Krieg mit der Sowjetunion als den großen und wichtigen Krieg der Zukunft angesehen, so hätten die Kämpfe an der Grenze der Mandschurei und der Mongolei zwischen Japan und der Sowjetunion im Sommer 1939 hierfür eine Möglichkeit geboten12. In Berlin wurde diese Alternative aber überhaupt nicht 7

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Der Verfasser beschreibt diese Entwicklung in dem in Anm. 1 zitierten Buch und in: The Foreign Policy of Hitler's Germany: Starting World War II, 1 9 3 7 - 3 9 , Chicago 1980. Göring, zit. im Tagebuch des Chefs des Stabes im Allgemeinen Heeresamt (AHA), 6.9.1939, London, Imperial War Museum, MI 14/981, f. 133. Der Pakt: Hitler, Stalin und die Initiative der deutschen Diplomatie 1938—1939, Berlin, Frankfurt a.M. 1990, S. 10—19. Ebd., S. 105, 121. Vgl. Anm. 7. Hierzu jetzt das zweibändige Werk: Alvin D. Coox, Nomonhan: Japan against Russia, 1939, Stanford 1985.

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erwogen. Ganz im Gegenteil, Hitler und sein Außenminister, Joachim v. Ribbentrop, versuchten monatelang, Tokio zu einem Bündnis gegen die Westmächte zu bewegen. Da aber die japanische Regierung ein gegen Rußland gerichtetes Bündnis anstrebte, verliefen die schier endlosen Verhandlungen im Sande13. Aus der Perspektive Berlins ließ gerade die Ablehnung eines Bündnisses gegen den Westen durch Japan eine Verbindung mit der Sowjetunion in einem positiven Licht erscheinen. Der Hitler-Stalin-Pakt ist in der letzten Zeit viel diskutiert worden. Ich möchte hier nur auf einige Einzelheiten eingehen, welche die äußeren Konturen der damaligen deutschen Politik erhellen. Es ist doch sehr interessant, daß Hitler in einer Reihe der wichtigsten Fragen v. Ribbentrop entweder sehr ungenaue Weisungen gab oder solche, die recht leicht abzuändern waren. Finnland sollte ruhig der Sowjetunion überlassen werden; in Anbetracht eines bevorstehenden Krieges mit den Westmächten, waren die Nickelvorkommen von Petsamo, über die die deutsche Regierung nach dem Sieg über Frankreich angeblich so besorgt war, von keinerlei Interesse. Im Baltikum dachte Hitler anscheinend an erster Stelle an eine Grenze, die der Dvina entlang die drei Staaten sozusagen in der Mitte teilte: Estland und halb Lettland für die Sowjetunion, Litauen und die andere Hälfte Lettlands für Deutschland. Als es im Laufe der Verhandlungen klar wurde, daß Stalin ganz Lettland haben wollte, sagte Ribbentrop unter Vorbehalt einer Anfrage in Berlin zu; ein »Ja« kam sofort von Hitler. Was den Südosten Europas betraf, ein Gebiet, das angeblich im folgenden Jahr zu großen Schwierigkeiten in den deutsch-sowjetischen Beziehungen führen sollte, erhielt v. Ribbentrop so generelle Instruktionen, Stalin alles zu geben, was auch immer er fordern würde, daß erstens Stalin gar nicht so viel forderte, wie Ribbentrop zu geben autorisiert und bereit war, und zweitens, daß im folgenden Jahr niemand mehr genau wußte, welche Weisungen der deutsche Außenminister eigentlich gehabt hatte14! Diese schon lange bekannten Einzelheiten gehören, glaube ich, in den hier geschilderten Zusammenhang. Die Sowjetunion wurde als Gebiet zukünftiger Eroberungen betrachtet, und zwar als eines, dessen Eroberung selbst keine Schwierigkeiten bot. Man brauchte keine Hilfe von Seiten Japans, und es machte nichts aus, ob das von Moskau kontrollierte Gebiet etwas größer oder kleiner war. Die wichtigen und militärisch vielleicht gefährlichen Feinde befanden sich im Westen, nicht im Osten. Wenn die Machthaber in Moskau bereit waren, Deutschland im Kampf gegen den Westen zu unterstützen, würde diese Politik Moskaus den darauf folgenden Feldzug im Osten nur noch leichter machen; auf ein paar hundert Kilometer mehr oder weniger sollte es nicht ankommen. Die nach Hitlers Auffassung völlig unfähige Regierung der Sowjetunion würde mit den neu hinzugekommenen Gebieten sowieso nichts anfangen können. Und lange würden diese Gebiete auch nicht der Sowjetunion gehören. Ich wiederhole: Der Umschwung 1939 war ein zeitweiliger, taktischer Umschwung in Berlin. Er zielte darauf hin, den Krieg gegen Polen, der entweder Vorspiel oder Teil eines Krieges mit den Westmächten sein 13 14

Wichtig: Gerhard Krebs, Japans Deutschlandpolitik 1935—1941, Hamburg 1984, Kapitel 2 und 3. Gerhard L. Weinberg, Germany and the Soviet Union 1939—1941, Leyden 1954, 1972, Kapitel 4 und S. 101.

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sollte, schneller zu beenden sowie entweder ihn von dem späteren Krieg mit dem Westen zeitlich zu trennen oder diesen Krieg, wenn er trotzdem sofort kommen sollte, durch einen Bruch der Blockade sehr viel leichter zu gestalten. Wenigstens teilweise sollte diese deutsche Rechnung sich als richtig erweisen. Der Pakt mit Stalin machte eine Fortführung des Kampfes durch Polen hindurch in den unwegsamen östlichen Gebieten des Landes unnötig und erlaubte es Deutschland im nächsten Jahr, seine ganze Macht im Westen einzusetzen. Daß die Unterstützung durch die Sowjetunion es Deutschland sehr viel leichter machte, die westlichen Alliierten, so wie Hitler es erhofft hatte, vom europäischen Kontinent im Norden, Westen und Süden zu vertreiben, konnte ja nur den folgenden Ostfeldzug für Deutschland noch ungefährlicher erscheinen lassen. Dieser Schritt Hitlers soll an dieser Stelle untersucht werden. Wie wir jetzt wissen, hatte Hitler zuerst gehofft, den Angriff im Westen noch im Herbst 1939 anlaufen zu lassen15. Die Vertagung auf 1940 entsprach nicht seinem Wunsch. Der Hinweis hierauf macht es vielleicht leichter, zu verstehen, daß schon in den letzten Tagen des Westfeldzuges Erörterungen über einen baldigen Ostfeldzug in Hitlers Umgebung und im Generalstab des Heeres stattfanden und daß wichtige Entscheidungen noch im Juli 1940 fielen. Auch hier sind einige Einzelheiten von großem Interesse, weil sie auf die Prioritäten Hitlers ein bezeichnendes Licht werfen. An erster Stelle standen die großen Entscheidungen über den nächsten Krieg im Westen. Da Frankreich am Boden lag und England für geschlagen gehalten wurde, bedeutete dies die Vereinigten Staaten. Trondheim sollte als deutscher Marine-Stützpunkt ausgebaut werden; am 11. Juli wurde die Wiederaufnahme des Aufbaues einer großen Flotte mit Riesenschlachtschiffen befohlen; und die Möglichkeit, Francos Spanien an der Seite Deutschlands in den Krieg zu ziehen, wurde der Forderung nach Marine- und Luftwaffenstützpunkten in Nordwestafrika und auf den spanischen und portugiesischen Inseln im Atlantik geopfert16. In fast denselben Tagen fiel auch die Entscheidung zum Angriff auf die Sowjetunion17. Es wird nicht oft genug hervorgehoben, daß Hitler anfangs — genau wie im vorherigen Jahr — diesen Angriff noch im Herbst desselben Jahres auslösen wollte. Hätten seine militärischen Berater ihn nicht überzeugt, daß dies aus praktischen Gründen problematisch sein würde, dann hätte der Angriff wohl im September 1940 stattgefunden. Alle Spekulationen über angebliche Gründe für den deutschen Angriff auf die Sowjetunion, die sich auf die Ereignisse des Winters 1940/41 oder der ersten Monate 1941 beziehen, sind also vollkommener Unsinn. Der Entschluß, dem Westfeldzug einen Ostfeldzug folgen zu lassen, stand vom Sommer 1940 an fest. 15

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Noch richtungsweisend: Hans-Adolf Jacobsen, Fall Gelb: Der Kampf um den deutschen Operationsplan zur Westoffensive 1940, Wiesbaden 1957. Diese Deutung wird bewiesen in: Norman J. W. Goda, Germany and Northwest Africa in the Second World War: Politics and Strategy of Global Hegemony, PhD diss., University of North Carolina 1991. Gerhard L. Weinberg, Der deutsche Entschluß zum Angriff auf die Sowjetunion, VfZ 1 (1953), S. 501—518; Andreas Hillgruber, der im folgenden Jahr hierzu eine Entgegnung schrieb, hat seine Meinung später völlig geändert; sein Artikel: Noch einmal: Hitlers Wendung gegen die Sowjetunion, der zuerst in Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Nr. 33 (1982), S. 214—226, erschien, wurde in seine Sammlung: Die Zerstörung Europas, Frankfurt a.M. 1988, S. 239—255, aufgenommen.

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Nur einmal in seinem Leben, im Herbst 1938, hatte Hitler auf einen schon befohlenen Angriff, damals auf die Tschechoslowakei, verzichtet; er hielt dies Zeit seines Lebens für seinen größten Fehler, den er nie wiederholen würde18. Im Juni 1941, wie wir aus dem Hewel-Tagebuch wissen, hatte er genau wie im August 1939 einzig und allein Angst, daß die Gegenseite in letzter Minute einen Kompromiß vorschlagen würde, der die Auslösung eines Angriffskrieges erschweren könnte". Der Westfeldzug war ja nicht durchgeführt worden, weil Hitler den Eiffel-Turm sehen wollte, sondern weil der große Krieg im Westen die Voraussetzung für die große Landnahme im Osten war. Die praktischen Probleme, die die Militärs angeführt hatten, um eine Verschiebung auf 1941 zu erreichen, hatten aber nichts mit der militärischen Stärke der Sowjetunion zu tun. Es waren, soviel wir wissen, Probleme der Transportkapazität und der Materialversorgung auf deutscher Seite, die behoben werden mußten und für einen Feldzug im Jahr 1940 nicht mehr gelöst werden konnten. Wenn die Gründe, die Hitler bewogen, den Feldzug auf das Jahr 1941 zu verlegen, hier betont werden, ist das mit der Absicht geschehen, den Verlauf der Entwicklung zwischen der Entscheidung im Sommer 1940 und der Ausführung im Sommer 1941 leichter verständlich zu machen. Die Vorbereitungen waren zweierlei Natur. Auf der diplomatischen Ebene kam es zu einem sofortigen Umschwung in der deutschen Politik gegenüber Finnland und Südosteuropa. Staaten, die 1939 nach der Meinung Hitlers ruhig der Sowjetunion überlassen werden konnten, sollten jetzt in die Front der deutschen Invasionsplanungen eingereiht werden. Die diplomatischen Vorbereitungen des Feldzuges folgten sofort auf diese Entscheidung. Es erfolgten aber auch Vorbereitungen auf anderen Gebieten. Wenn man diese untersucht, fällt sofort eine fast unglaubliche Diskrepanz ins Auge. Auf der einen Seite sind sorgfältige Pläne für die wirtschaftliche Ausbeutung des zu erobernden Gebietes zu beobachten. Millionen Sowjetbürger sollten verhungern; Kommunisten und Juden sollten ermordet werden; große Städte wie Moskau und St. Petersburg sollten vom Erdboden verschwinden. Ein riesiger Apparat für die Ausbeutung und für den systematischen Mord wurde aufgebaut. Aber wie sah es auf dem militärischen Gebiet aus20? Die in den letzten Jahren erschienenen Bände des großen Werkes des Militärgeschichtlichen Forschungsamts über Deutschland im Zweiten Weltkrieg machen genau das klar, was manche schon vor Jahren geahnt hatten: Außer den technischen Transportvorbereitungen wurde sehr wenig unternommen. Weil die Gebiete, die das deutsche Heer erobern sollte, so riesengroß waren, mußte eine neue Militärbehörde, der Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebiets, aufgestellt werden, aber dies war eine rein administrative Vorbereitung. Die Verluste des Heeres im Westfeldzug wurden ausgeglichen, und ein Teil der Verluste der Luftwaffe wurde ersetzt, aber das war im großen und ganzen alles. 18

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Die Entwicklung, die zur Münchener Konferenz führte, und Hitlers Unmut über den friedlichen Ausgang der Krise, habe ich in dem in Anm. 7 zit. Buch, Kap. 11, dargestellt. Eine neuere Zusammenfassung des Verf. ist in: Reappraising the Munich Pact, ed. by Maya Latynski, Baltimore 1992, S. 9—20, erschienen. Hewel-Tagebuch, 18. und 1 9 . 6 . 1 9 4 1 , Institut für Zeitgeschichte. Wie Anm. 3, Erster Teil, Kap. III und VII.

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Nach dem Sieg im Westen hatte man im Oberkommando der Wehrmacht und im Generalstab des Heeres und der Luftwaffe nicht alles für die Weiterführung des Krieges gegen England bereit und zur Stelle gehabt — das wollte man diesmal vermeiden. Da fast alle höheren Militärs die Meinung Hitlers teilten, daß der Feldzug im Osten ein rascher, leichter und siegreicher sein werde21, konzentrierte man sich in den letzten Wochen vor dem Angriff auf die gedankliche Vorbereitung der Feldzüge, die nach »Barbarossa« kommen würden. Man wollte nicht ein zweites Mal am Ende eines schnellen Feldzuges ohne Pläne für die Zukunft dastehen. Wir wissen heute, daß es ganz anders kam, aber wir müssen wenigstens den Versuch machen, uns die damalige Gedankenwelt der Machthaber vorzustellen, um ihre Entscheidungen, ihre Aktionen, ihre Pläne und — ganz besonders — ihre Unterlassungen zu verstehen22. Wenn die Politik des Deutschen Reiches in der Zeit zwischen der Entscheidung für den Angriff und diesem selbst betrachtet wird, fällt es auch leichter, diese Reaktion der deutschen Regierung auf die Politik der Sowjetunion zu verstehen. In Moskau hat man den Umschwung in Berlin einfach nicht verstanden. Alle sowjetischen Versuche, eine neue Regelung des Verhältnisses mit Deutschland herzustellen, mußten an der Kriegsbesessenheit Berlins scheitern. Wieviel Ol und Weizen, Mangan und Gummi man den Deutschen auch schickte oder vom Fernen Osten auf der Transsibirischen Eisenbahn für sie transportierte, wievielen Exilregierungen man auch die Anerkennung entzog, das konnte alles keinen Eindruck auf die deutsche Führung machen. Auch die Wiederholung der Taktik von 1939, nämlich öffentliche Berichte über Verhandlungen mit dem Westen, um bessere Bedingungen in geheimen Abmachungen von Deutschland zu erhalten, wirtschaftliche Zugeständnisse, um einen politischen Vertrag zu ermöglichen, nutzten nichts. 1939 konnten diese Verhandlungstaktiken noch Erfolg haben, weil die deutsche Regierung den Krieg mit Polen und den Westmächten wollte und zum Zusammenarbeiten mit der Sowjetunion bereit war. 1940/41 waren diese taktierenden Züge zwecklos, weil sich Deutschland schon zum Krieg gegen die Sowjetunion entschlossen hatte. Es kam also zum Angriff zu einem von der deutschen Regierung bestimmten Zeitpunkt. Die von der deutschen Seite erhofften taktischen Siege folgten, hatten aber nicht den strategischen Effekt, der erwartet wurde. Die Regierung der Sowjetunion zerfiel nicht; die Rote Armee kämpfte verbissen weiter; die Ostfront gehörte nicht in kurzer Zeit der Vergangenheit an, sondern, im Gegenteil, wurde zur Todesfahrt der Wehrmacht. Hier ist nicht der Platz, auf die Einzelheiten des Kampfes im Osten einzugehen. Statt dessen soll auf einige Ereignisse und Entscheidungen der Zeit nach Juni 1941 hingewiesen werden, weil diese das Bild, welches hier vom Stellenwert der Ostfront in Hitlers Gesamtplanung gezeichnet wurde, weiter beleuchten. Zuerst ein Wort über die Zeit im Sommer 1941, als Hitler und viele Köpfe im deutschen Führungsstab der Meinung waren, es sei alles so gegangen wie erhofft; der Feldzug war, wie der Generalstabschef Halder es am

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Siehe Hillgrubers Zusammenfassung: Das Rußlandbild der führenden deutschen Militärs vor Beginn des Angriffs auf die Sowjetunion, in: Die Zerstörung Europas (wie Anm. 17), S. 256—272.

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Dieses Thema und die darauf folgende Entwicklung werden im vierten Kapitel meiner demnächst erscheinenden Gesamtgeschichte des Zweiten Weltkriegs dargestellt.

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3. Juli ausdrückte, »innerhalb 14 Tage gewonnen23«. Sofort fielen eine ganze Reihe neuer Entscheidungen, von denen manche später zurückgenommen oder geändert wurden, die uns aber einen guten Einblick in die Gedanken der deutschen Führung erlauben. Zum einen wurde schon im Juli der Schwerpunkt der Waffenproduktion vom Heer auf Marine und Luftwaffe verlegt; diese Entscheidung, zu der die Wiederaufnahme des Flottenbaues gehörte, zeigt uns, in welcher Richtung Hitler den eigentlichen großen Krieg zu führen beabsichtigte. Falls irgend jemand im Oberkommando des Heeres dies nicht verstehen sollte, erklärte Hitler dem Oberbefehlshaber des Heeres und dem Generalstabschef am 8. Juli, daß neu gebaute Panzerwagen nicht an die Ostfront gehen sollten, sondern für Neuaufstellungen in der Heimat zurückzuhalten seien; diese Panzer und neue Verbände seien für Aufgaben »über Tausende von km« 24 bestimmt, also für die schon vor dem Angriff auf die Sowjetunion vorgesehenen Nachfolgefeldzüge in den Nahen Osten hinein. Zum anderen fällt auch in dieselbe Zeitspanne, also in den Juli 1941, soweit wir jetzt wissen, die Entscheidung, den Massenmord an den Juden von den neu besetzten Gebieten auf das ganze von Deutschland beherrschte Europa auszudehnen. Der Krieg im Osten verlief aber dann ganz anders, als Hitler und Halder im Juli 1941 gedacht hatten, und nur der Entschluß, alle Juden, die irgendwie erreichbar waren, umzubringen, wurde ausgeführt; die anderen Pläne mußten geändert werden. Aber trotzdem blieb für Hitler der Ostfeldzug selbst nicht das Hauptanliegen. Immer wieder wollte er diesen Kampf schnell beenden, um gegen diejenigen zu kämpfen, die er für die gefährlicheren Feinde Deutschlands hielt: die Engländer und die Amerikaner. Das wird durch die hohe Dringlichkeit der V-Waffen und des U-Bootkrieges bewiesen. Ungeheure Investitionen gingen in die Entwicklung von fliegenden Bomben, Raketen und Langstreckengeschützen, die London unter Feuer nehmen sollten. Der Stahl, den die neuen Panzer für die Ostfront benötigten, wurde zu einem großen Teil für die neuen U-Boottypen verbraucht; U-Boote, die immer unter Wasser bleiben konnten und, da es keine MarineLuftwaffe gab, einfach blind gewesen wären, selbst wenn sie rechtzeitig fertig geworden wären. Als der Krieg sich dem Ende näherte, wählte Hitler als Nachfolger nicht etwa einen der Heeresgenerale, die er in den letzten Jahren des Krieges zum Generalfeldmarschall ernannt hatte — Walter Model oder Ferdinand Schörner —, sondern den Großadmiral Karl Dönitz, einen Mann, der ein genauso fanatischer Nationalsozialist wie Model und Schörner war, der aber seinen Blick auf den Krieg gegen die Westmächte richtete und Hitler mehrmals in den letzten Monaten des Krieges überredet hatte, seine Operationen an der Ostfront den Erfordernissen der U-Bootwaffe unterzuordnen 25 .

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Generaloberst Franz Halder, Kriegstagebuch. Tägliche Aufzeichnungen des Chefs des Generalstabes des Heeres, 1939—1942, bearb. von Hans-Adolf Jacobsen, hrsg. vom Arbeitskreis für Wehrforschung, 3 Bde, Stuttgart 1 9 6 2 - 1 9 6 4 . Bd3, 1964, S. 38. Ebd., S. 53. Der Einfluß von Dönitz auf die Operationen Hitlers am nördlichen Teil der Ostfront wird eingehend geschildert in: Howard Davis Grier, Hitler's Baltic Strategy, PhD diss., University of North Carolina 1991. Daß Model Hitlers Gedanken im letzten Monat des Krieges stark beherrschte, bezeugt der erste Ansatz der neuen 12. Armee, die zu Models eingeschlossener Heeresgruppe einen Korridor öffnen sollte. Hitler hat mehrmals die Oberbefehlshaber der in Kurland abgeschnittenen Heeres-

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Der Krieg im Osten, den Hitler sozusagen mit verkehrter Front führen mußte, zeigt aber nicht nur, daß der ganze Rassenfimmel des Diktators ihn und diejenigen, die ihm folgten, geblendet hatte, er zeigt weiterhin, daß auch Stalin durch seine ideologischen Vorurteile mit Blindheit geschlagen war. Sein Klassenfimmel hat ihn nicht begreifen lassen, daß sein Feind Deutschland, und nicht die Westmächte, war. Als treuer MarxistLeninist konnte und wollte er nicht glauben, daß der Nationalsozialismus kein Instrument des Monopolkapitalismus, sondern eine eigenständige Bewegung mit eigenen Zielen war und daß zu diesen Zielen die Landnahme im Osten auf Kosten der Sowjetunion ebenso gehörte wie der mörderische Antisemitismus. Daß er und sein Volk, nachdem die Sowjetunion Hitler geholfen hatte, die Alliierten aus Nord-, West- und Südeuropa zu vertreiben, diesem dann in Osteuropa alleine gegenüber stehen würden, war nicht das Resultat kapitalistischer Komplotte, sondern sowjetischer Dummheit. Auch in einer anderen wichtigen Angelegenheit hatten Vorurteile den Machthabern in Berlin und Moskau die Sicht auf die Realitäten vernebelt. Daß die Regelung von 1919, die eine Gruppe unabhängiger Staaten als Puffer zwischen Deutschland und die Sowjetunion gelegt hatte, möglicherweise für beide großen Völker ein Vorteil sein konnte, wurde in der Zwischenkriegszeit weder in Berlin noch in Moskau verstanden. Für diese Unfähigkeit, die eigentlichen Vorteile der Friedensordnung von 1919, was auch immer ihre Nachteile sein mochten, zu erkennen, und für die Verblendung durch ideologische Vorurteile, die beiden Diktatoren die Realitäten der großen Welt vorenthielten, haben Millionen Menschen mit ihrem Leben und Wohl bezahlen müssen. Wenn wir aus der heutigen Perspektive die großen Linien der Entwicklung verfolgen, wenn wir uns die damaligen Ereignisse klarmachen wollen, dann sollten wir nie vergessen, daß es hier nicht einfach um abstrakte Visionen und Gedanken geht. Der Ozean von Tränen und Blut, der im Zweiten Weltkrieg die ganze Erde überflutete, bestand aus den Tränen und dem Blut einzelner Menschen — Menschen mit ihren Hoffnungen und Familien, ihrem Eigentum und ihren Träumen. Ganz besonders dann, wenn wir den äußeren Rahmen der internationalen Politik verfolgen, müssen wir uns immer dieser Wirklichkeit erinnern.

gruppe per Flugzeug austauschen lassen. Bekanntlich ließ er Ritter v. Greim noch in den letzten Tagen des Krieges nach Berlin einfliegen, um ihn zum Generalfeldmarschall und Oberbefehlshaber der Luftwaffe zu ernennen, und schickte ihn dann wieder an die Front. Auch Schörner war in den letzten Tagen von Berlin aus erreichbar. Man kann daher die Ernennung von Dönitz nicht als Verlegenheitslösung betrachten.

Die Autoren

Anatolij G. Cbor'kov, Prof. Dr. sc. hist., ist Generalmajor und stellvertretender Leiter des Instituts für Militärgeschichte des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation in Moskau. Er ist Chefredakteur von Voenno-istoriceskij zurnal (Zeitschrift für Militärgeschichte). Zu seinen bekanntesten Veröffentlichungen gehören: Problemy boevoj gotovnosti prigranicnych voennych okrugov i puti ich resenija nakanune Velikoj Otecestvennoj vojny (1989), eine Studie zu Problemen der Gefechtsbereitschaft in den sowjetischen Grenzmilitärbezirken 1941, sowie Voennoplennye (1990), eine Arbeit über das Schicksal der Kriegsgefangenen. Wilhelm Deist, Dr.phil. (Jahrgang 1931), ist Leitender Historiker im Militärgeschichtlichen Forschungsamt und Honorarprofessor an der Universität Freiburg. Er ist Ko-Autor des ersten, grundlegenden Bandes: Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik, des Werkes Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg (1979, aktualisierte Ausgabe 1989). 1991 erschien ein Sammelband seiner Aufsätze unter dem Titel: Militär, Staat und Gesellschaft. Studien zur preußisch-deutschen Militärgeschichte. Jürgen Förster, Dr.phil. (Jahrgang 1940), ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Militärgeschichtlichen Forschungsamt und Ko-Autor des vielbeachteten Bandes 4: Der Angriff auf die Sowjetunion, des Werkes Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg (1983). 1992 erschien der von ihm herausgegebene Band: Stalingrad. Ereignis — Wirkung — Symbol. Roland G. Foerster, Dr.phil. (Jahrgang 1937), Oberst i.G., ist Leiter der Abteilung Historische Bildung und Studien des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes. Mit dem Beitrag »Innenpolitische Aspekte der Sicherheitspolitik Westdeutschlands 1947—1950« ist er Ko-Autor von Band 1 des Werkes Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945—1956 (1982). Zuletzt hat er den Band: Generalfeldmarschall von Moltke. Bedeutung und Wirkung (1991), herausgegeben. EberhardJäckel, Dr.phil. (Jahrgang 1929), ist seit 1967 o. Professor für Neuere Geschichte und Direktor des Historischen Instituts an der Universität Stuttgart. Seine bedeutendsten Veröffentlichungen sind u.a.: Frankreich in Hitlers Europa (1966), Hitlers Weltanschauung (1969, Neuausgabe 1981) und Hitlers Herrschaft (1986). Aleksandr S. Orlov, Dr.cand.sc., ist Oberst a.D. und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Militärgeschichte des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation in Moskau.

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Die Autoren

Günter Rosenfeld, Dr.phil.habil., Dr. h.c. (Jahrgang 1926), ist emeritierter Universitätsprofessor der Humboldt Universität Berlin. Zu seinen wesentlichen Veröffentlichungen gehören: Sowjetrußland und Deutschland 1917—1922 (1960, Neuausgabe 1984) und Sowjetunion und Deutschland 1922—1933 (1984). Gottfried Schramm, Dr.phil. (Jahrgang 1929), ist seit 1965 Professor für Neuere und Osteuropäische Geschichte an der Universität Freiburg und Verfasser des Werkes: Der polnische Adel und die Reformation 1548—1607 (1965). Er ist Autor verschiedener Studien zur Geschichte der ausgehenden Zarenzeit sowie Herausgeber und Mitverfasser des 1983 erschienenen 3. Bandes des Handbuchs der Geschichte Rußlands. Theo}. Schulte, Dr.phil. (Jahrgang 1944), ist Lecturer in European History an der Anglia Politechnic University in Cambridge (England) und seit 1989 Historischer Berater des Kanadischen Justizministeriums (Crimes against Humanity and War Crimes Bureau). Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen: The German Army and Nazi Policies in Occupied Russia (1989) und der Beitrag »Artificial Intelligence Techniques in History« zu dem Werk History and Computing, hrsg. von Peter Denley (1990). Sergej Slutsch, Dr.phil. (Jahrgang 1944), ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Slawistik und Balkanistik der Akademie der Wissenschaften in Moskau. Neben verschiedenen Arbeiten zur deutschen Außenpolitik und zu den internationalen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit hat er als wichtigste Arbeiten die Studien: Der deutsch-polnische Nichtangriffspakt von 1934 (1984) und Voraussetzungen des »Hitler-Stalin-Paktes«: Zur Kontinuität totalitärer Außenpolitik (1991) veröffentlicht. Marcel Spivak, Docteur d'Etat, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Charge d'Etudes, Service Historique de l'armee de terre, im Chateau de Vincennes (Frankreich). Er hat den Band: Les origines militaires de l'Education physique fran^aise 1774—1848 (1975), verfaßt und ist Ko-Autor der Studie La Campagne de Tunisie 1942—1943 (1985). Hans-Erich Volkmann, Dr. phil. (Jahrgang 1938), ist Leiter des Forschungsbereichs III des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes und Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg. Er ist neben weiteren Publikationen zum Thema Ko-Autor des ersten, grundlegenden Bandes: Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik, des Werkes Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg (1979, aktualisierte Ausgabe 1989) und von Band 2: Die EVG-Phase, des Werkes Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik (1989). Gerhard L. Weinberg, Ph.D., ist Professor für Neuere Geschichte an der University of North Carolina in Chapel Hill, NC (USA). Er ist Verfasser mehrerer Bücher zur Außenpolitik des Dritten Reiches und über den Zweiten Weltkrieg. Seine neueste umfassende Darstellung, The Greatest War: A New View of World War II, steht kurz vor ihrer Veröffentlichung (1993).