Paul Tillichs frühe Ethik: Von den Anfängen bis zum Religiösen Sozialismus (1906–1933) 9783111025490, 9783110795769

Paul Tillich (1886–1965), who made significant contributions to philosophy of religion, symbolism, and cultural theology

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German Pages 371 [372] Year 2023

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Teil 1: Von Freiheit und Liebe zu Rechtfertigung und Anerkennung. Die frühe Konzeption im Kontext von Kultur, Sittlichkeit und Religion (1906–1913)
A Werk- und bildungsbiographische Hinführung (1906–1912)
B Die Entfaltung von Freiheit und Nächstenliebe in der Systematischen Theologie von 1913
Teil 2: Liebe und Anerkennung als (sozial-)ethische Leitkategorien im Religiösen Sozialismus (1919–1933)
A Kulturtheologie und Wissenschaftssystematik (1919–1923)
B Sozialethische Anschlussperspektiven (1919–1933)
Resümee
Quellen- und Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Paul Tillichs frühe Ethik: Von den Anfängen bis zum Religiösen Sozialismus (1906–1933)
 9783111025490, 9783110795769

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Marcel Freitag Paul Tillichs frühe Ethik

Tillich Research

Tillich-Forschungen Recherches sur Tillich Herausgegeben von Christian Danz, Marc Dumas, Verna Ehret und Werner Schüßler

Band 26

Marcel Freitag

Paul Tillichs frühe Ethik Von den Anfängen bis zum Religiösen Sozialismus (1906–1933)

ISBN 978-3-11-079576-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-102549-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-102567-4 ISSN 2192-1938 Library of Congress Control Number: 2023943593 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Typesetting: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

meinen Eltern und meinem Bruder

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 2021/22 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster unter dem Titel „Liebe und Anerkennung. Die Ethik Paul Tillichs von den Anfängen zum Religiösen Sozialismus (1906–1933)“ als Dissertationsschrift im Fach Systematische Theologie angenommen. Für den Druck wurde sie geringfügig überarbeitet und um ein Namensund Sachregister erweitert. Mein erster Dank gilt Prof. Dr. Arnulf von Scheliha, der das Thema nach meinem ersten kirchlichen Examen angeregt und das Erstgutachten erstellt hat. Die Arbeit am Institut für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften hat mir den Freiraum gegeben, das Promotionsprojekt zu planen und zum Abschluss zu bringen. Prof. Dr. Anne Käfer danke ich für das kritisch-konstruktive Zweitgutachten und für die Möglichkeit der Teilnahme am Oberseminar. Den Kommiliton✶innen der Tillich-Proseminare in Münster bin ich dankbar für anregende und kritische Diskussionen im Dickicht von Tillichs Gedankenwelt. Bedanken möchte ich mich auch bei den Herausgeber✶innen für die Aufnahme des Buches in die Reihe Tillich Research. Dr. Albrecht Döhnert und besonders Dr. Antonia Pohl danke ich für die professionelle und angenehme Zusammenarbeit bei der Drucklegung des Manuskripts. Für einen großzügigen Druckkostenzuschuss bin ich darüber hinaus der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Union Evangelischer Kirchen (UEK) sowie der Evangelischen Kirche von Westfalen zu Dank verpflichtet. Den Kolleg✶innen des Tillich-Netzwerks der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft, insbesondere PD Dr. Martin Fritz, Dr. Katharina Wörn, Dr. Friedrich Schumann, Dr. Jin-Ho Suh und Dr. Samuel Shearn bin ich durch die Jahre der kritischen Lektüre einzelner Kapitel verbunden. Ohne die Diskussion und Auseinandersetzung mit rauchenden Köpfen wäre das Buch in dieser Form nicht entstanden. Meine Vikariatsmentorin, Pfarrerin Elke Böhne, und die evangelische Kirchengemeinde Recke haben mir nicht nur einen wunderbaren Start in die kirchliche Praxis ermöglicht, sondern die nebenherlaufende Fertigstellung des Buches wohlwollend unterstützt – vielen Dank! Für das unermüdliche Korrekturlesen des Manuskripts danke ich herzlich meinem Vater, Eckart Kreft, und meinem Schwiegervater, Prof. Dr. Werner Freitag. Viele Menschen meines Herzens haben mich während des Studiums und der Promotionsphase auf verschiedene Weise begleitet. Den Freund✶innen Dr. Katrin Burja, Sebastian Renkhoff, Dr. Lydia Lauxmann, Dr. Marco Stallmann, Dr. Bastian König und Dr. Stefan Zorn danke ich für die Jahre menschlicher und theologischer Verbundenheit. https://doi.org/10.1515/9783111025490-202

VIII

Vorwort

Ohne meine Tante Ulrike Stark hätte ich meine Studienzeit nicht in der Vielfalt und an verschiedenen Orten verbringen können, wofür ich sehr dankbar bin. Für die Verbundenheit über all die Jahre bin ich Hannah Kuttig sehr dankbar. Meine tiefe Dankbarkeit gilt meinem Bruder, André Kreft, und meinen Eltern, die mich in all den Jahren auf ihre Art und in unschätzbarer Weise unterstützt haben. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Dir, Katharina, gehört am Ende mein Dank für mehr, als ich sagen könnte. Dass wir Liebe und Anerkennung inzwischen zu dritt teilen, ist das größte Glück meines Lebens. Münster, 7. August 2023

Marcel Freitag geb. Kreft

Inhaltsverzeichnis Vorwort

VII

Einleitung 1 1 Liebe und Anerkennung – begriffsgeschichtliche Schlaglichter 2 2 Einordnung in die Forschung 6 3 Methodik und Aufbau 15

Teil 1: Von Freiheit und Liebe zu Rechtfertigung und Anerkennung. Die frühe Konzeption im Kontext von Kultur, Sittlichkeit und Religion (1906–1913) A 1 2 3 4 B 1 2 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.4 2.5 2.5.1 2.5.2 3

Werk- und bildungsbiographische Hinführung (1906–1912) Kontextualisierung 19 Frühe Leitgedanken: Theorie und Praxis – Wahrheit und Liebe 21 Erste Systematisierung: Die Monismusarbeit von 1908 38 Ertrag 59

19

Die Entfaltung von Freiheit und Nächstenliebe in der Systematischen Theologie von 1913 61 Kontextualisierung 61 Die Entfaltung der Sittlichkeit in der Fundamentaltheologie 71 Wahrheit und Denken: Ausgangspunkt des Systems 74 Der Mensch als Freiheit oder als Geist: Sittlichkeit auf dem absoluten Standpunkt 77 Kultur, Sittlichkeit und Religion als Grundformen der Freiheit 88 Kultur und Kulturphilosophie 89 Religion und Religionsphilosophie 94 Sittlichkeit und Ethik 99 Die Auflösung der Sittlichkeit auf dem relativen Standpunkt 105 Der paradoxe Standpunkt und das theologische Prinzip 110 Das Paradox als theologische Denkform 111 Rechtfertigung als theologisches Prinzip 113 Liebe in der Dogmatik: Pneumatologische Grundlegung der Theologischen Ethik 120

X

4 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3 4.4 4.5 5

Inhaltsverzeichnis

Theologische Ethik: Nächstenliebe als Anerkennung der Person 135 Kirchen- und Frömmigkeitslehre 137 Grundlegung individueller Sittlichkeit 144 Das sittliche Prinzip – Theonomie und Christonomie 147 Sittliche Motivation und Geistgemeinschaft 161 Aneignung des sittlichen Prinzips 167 Nächstenliebe: Zentrum der Theologischen Ethik 172 Entfaltung: Das rechtfertigungstheologische Konzept von Anerkennung 180 Liebe und Reich Gottes: Etablierung der Kulturtheologie 194 Ertrag 204

Teil 2: Liebe und Anerkennung als (sozial-)ethische Leitkategorien im Religiösen Sozialismus (1919–1933) A 1 2 2.1 2.2 2.3 2.4 3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 4

Kulturtheologie und Wissenschaftssystematik (1919–1923) 209 Kontextualisierung 209 Ethik als Kulturtheologie 214 Der Ansatz von Kulturtheologie und Wissenschaftssystematik (1919) 215 Theologisches Prinzip und sinntheoretischer Religionsbegriff 219 Vermittlung des Gehalts in den Formen der Kultur 223 Etablierung des vierfachen Schemas aus Theorie und Praxis 226 Sinn der Gemeinschaft und Anerkennung der Persönlichkeit (1923) 231 Die Struktur der Normwissenschaften und die Sinntheorie 232 Theonome Ethik und Anerkennung als praktische Sinnrealisierung 239 Theonome Ethik im Kontext der Normwissenschaften 240 Das Recht und die Anerkennung der Persönlichkeit 245 Gemeinschaft sinnhafter Anerkennung 253 Ertrag 256

Inhaltsverzeichnis

B 1 1.1 1.2 1.3 1.4 2 2.1 2.2

2.2.1 2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 3

Sozialethische Anschlussperspektiven (1919–1933) 259 Der frühe Religiöse Sozialismus (1919–1926) 259 Kontextualisierung 259 Die prophetische Haltung und die geschichtstheologischen Grundbegriffe des Religiösen Sozialismus 264 Sinngrund und Sinnforderung 271 Ethik der Liebe und Anerkennung der Person 279 Die ausgereifte Sozialismuskonzeption (1927–1933) 291 Kontextualisierung 291 Anerkennung und Macht zwischen Individualismus und Kollektivismus: Die Überwindung des Persönlichkeitsideals (1927) 293 Anerkennung, Macht und Sinnforderung 294 Das Persönlichkeitsideal und die soziale Anerkennung 300 Forderung und Anerkennung: Die Sozialistische Entscheidung (1932/33) 307 Anthropologische Grundlegung der Anerkennungsforderung 309 Das sozialistische Prinzip und die Gerechtigkeitsforderung 312 Ertrag 318

Resümee 1 2

XI

320 Die Entwicklung der ethischen Theorie unbedingter Anerkennung 320 Die ethische Theorie aus Liebe und Anerkennung

Quellen- und Literaturverzeichnis Personenregister Sachregister

353 357

333

324

Einleitung Paul Tillich als Ethiker zu lesen, mag überraschen. Landläufig wird er zumeist mit Konzepten wie seiner Kulturtheologie, der Symboltheologie oder auch der Wendung „Mut zum Sein“ in Verbindung gebracht. Zudem steht bei der Beschäftigung mit dem Werk Tillichs unmittelbar die Frage nach Gestalt und Inhalt des Religiösen Sozialismus zur Debatte. Als Ethiker, im engeren Sinne jedenfalls, hat Tillich (1886–1965) sich zeitlebens nicht verstanden.1 So hat er auch keine vom übrigen Denken explizit abgegrenzte theologische Ethik publiziert. Noch im späten Hauptwerk – der Systematischen Theologie – macht Tillich 1966 deutlich: „‚Theologische Ethik‘ als selbständige theologische Disziplin muß abgelehnt werden, obwohl jede theologische Behauptung ethische Voraussetzungen und Konsequenzen hat.“2 Tillich zeichnet dementsprechend durch sein Werk hindurch die ethisch virulenten Grundfragen kontextuell in seine theologischen Überlegungen ein. Diese theologischen Überlegungen werden – jedenfalls dem Anspruch nach – in ständigem Bezug zur Wirklichkeit und zum konkreten Handeln in zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen entwickelt. Diese Wirklichkeit ist für Tillich gekennzeichnet durch seine Zugehörigkeit zur „Frontgeneration“3 und zum großen Kreis derer, die für die unmittelbar bevorstehende Zeit einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel erwarten. Bei dieser Erwartung spielt auch die für Tillich zeitlebens wichtige Frage nach der Bedeutung von Religion in einem Zeitalter von Rationalisierung und dem Rückgang religiöser wie konfessioneller Bindung eine zentrale Rolle. Daraus ergibt sich für die folgende Arbeit zweierlei: Zum einen ist die ethische Linie von Tillichs verzweigtem Denkweg freizulegen, doch ohne sie aus ihrem Zusammenhang mit den theologischen Reflexionen herauszulösen. Zum

 Vgl. Tillich, „Auf der Grenze“, in: Begegnungen. Paul Tillich über sich selbst und andere, Gesammelte Werke, Bd. XII, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 21980), 22 f., Tillichs Selbstbeschreibungen werden unten eingehend thematisiert (siehe Teil 1: A.1). Auch als akademischer Lehrer hielt er nur eine explizite Ethik-Vorlesung, die sich stark auf die Antike konzentriert. Vgl. Tillich, Geschichte der Ethik (Sommersemester 1931), in: Frankfurter Vorlesungen (1930–1933), Bd. XVIII, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Erdmann Sturm (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2013), 231–339.  Tillich, Systematische Theologie, Bd. III (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 52017), 306.  Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, „Protestantische Universitätstheologie in der Weimarer Republik“, in: ders., Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik (Tübingen: Mohr Siebeck, 2011), 1–110, 35. Unter Frontgeneration werden die „in den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts Geborenen“ (31) gefasst. https://doi.org/10.1515/9783111025490-001

2

Einleitung

anderen wird bei der Interpretation der einschlägigen Arbeiten Tillichs deren jeweiliger Wirklichkeitsbezug zu berücksichtigen sein. Insgesamt kristallisieren sich in der Untersuchung zwei Begriffe als Interpretationsschwerpunkte heraus, die Tillich konstant von Anfang bis Ende in seinem Werk verwendet: Liebe und Anerkennung. „Liebe“ kann als der möglicherweise schillerndste Ausdruck einer theologischen Theorie menschlichen Handelns gelten. Für Tillich gehört es von Beginn seines theologischen Denkens an zur Grundaufgabe der Ethik, sich über das Verständnis der Liebe klar zu werden. Wegen des bereits erwähnten, von Tillich intendierten Realitätsbezugs, benötigt er zugleich eine praxisbezogene Kategorie, die geeignet ist, das Handeln von Person zu Person aus Liebe angemessen zu beschreiben. Hierzu etabliert er bereits sehr früh den Begriff der Anerkennung. Beide Begriffe, Liebe und Anerkennung, haben eine lange Geschichte, aus der im Folgenden nur einige wichtige Momente herausgestellt werden sollen.

1 Liebe und Anerkennung – begriffsgeschichtliche Schlaglichter Liebe gehört unstreitig zu den theologischen Grundkategorien, deren Bedeutung religions- und theologiegeschichtlich unüberblickbar scheint. Es liegt auf der Hand, dass sich die theologischen Ethikkonzeptionen generell und historisch übergreifend auf das Doppelgebot der Liebe4 respektive die Nächstenliebe oder jesuanische Liebesethik berufen.5 In diesem Zusammenhang lässt sich auf neuzeitlich-protestantische Ansätze verweisen, in denen eine Theologie der Liebe entfaltet wird. Dazu gehören die ethischen Reflexionen Die Taten der Liebe6 des religiösen Schriftstellers Søren Aabye Kierkegaard (1813–1844). Etwa ein Jahrhundert später (1938) wurde postum die Ethik der Liebe7 von Paul Tillichs theologischem Lehrer der Studienzeit, dem Neutestamentler und Systematiker Wilhelm Lütgert (1867–1938), publiziert. Auch Adolf Schlatter (1852–1938), bei dem Tillich

 Mt 22,36–39, vgl. Röm 13,8–10.  Vgl. instruktiv zum Doppelgebot der Liebe insgesamt Hans-Richard Reuter, „Grundlagen und Methoden der Ethik“, in: ders./Torsten Meireis/Wolfgang Huber (Hg.), Handbuch der evangelischen Ethik (München: C.H. Beck, 2015), bes. 11–123, 85–89.  Søren Aabye Kierkegaard, Der Liebe Tun. Etliche christliche Erwägungen in Form von Reden, 2 Bde., Bd. 19, Gesammelte Werke, übers. von Hayo Gerdes (Gütersloh: Diederichs, 1966). In der Ausgabe der Gesammelten Werke trägt die Schrift den Titel „Der Liebe Tun“.  Wilhelm Lütgert, Ethik der Liebe (Gütersloh: Ev. Verlagshaus, 1938).

1 Liebe und Anerkennung – begriffsgeschichtliche Schlaglichter

3

in Tübingen ebenfalls studiert hat, geht in seiner Ethik vom Liebesbegriff aus.8 Der Bezug auf die Liebe als Ausgangspunkt der Ethik gilt auf andere Weise ebenfalls für Tillichs Zeitgenossen Anders Nygren9 und Emil Brunner.10 Ein Blick in gegenwärtige Entwürfe und Darstellungen zeigt die bleibende Bedeutung der Liebe als ethischem Zentralbegriff.11 Trotz der zentralen Bedeutung für die weit überwiegende Zahl der ethischen Entwürfe fällt die nähere Bestimmung des Liebesgedankens und seiner ethischen Funktion unterschiedlich aus.12 Vor allem stellt sich die Frage nach der konkreten Gestalt der Liebe: Wird Liebe als Prinzip verstanden, aus dem jede moralische Handlung hervorgeht, ist damit noch nicht erklärt, wie das Handeln in der Folge konkret beschaffen ist und woran genau es sich orientiert. Offen bleibt also, wie sich eine Praxis der Liebe äußert. Um diese Praxis zu beschreiben, greift Tillich den Begriff der Anerkennung auf. Er nimmt damit ein klassisches Konzept der Sozialphilosophie in seine theologische Ethik auf. Die Hintergründe dieser Rezeption von „Anerkennung“ sollen im Folgenden kurz umrissen werden. Diesbezüglich zeigt sich der Anerkennungsbegriff als Teil seiner intensiven Rezeption des Deutschen Idealismus.13 Prägnant dokumentiert ist dies in Tillichs

 Adolf Schlatter, Die christliche Ethik (Stuttgart: Calwer, 41961).  Anders Nygren, Eros und Agape. Gestaltwandlungen der christlichen Liebe (Berlin: Evangelische Verlagsanstalt, 21954), in erster Auflage 1930 erschienen. Zu Tillich und Nygren vgl. Werner Schüßler, „Eros und Agape. Ein Beitrag zum Verhältnis von Philosophie und Theologie am Beispiel Nygren und Paul Tillich“, in: ders., „Was uns unbedingt angeht“. Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs (Münster: LIT, 42015), 273–286.  Emil Brunner, Eros und Liebe. Vom Sinn und Geheimnis unserer Existenz (Hamburg: FurcheVerlag, 1952).  Für die neuere und aktuelle Diskussion vgl. exemplarisch nur Trutz Rendtorff: Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie (Tübingen: Mohr Siebeck, 2011), 35 f.; Martin Honecker, Einführung in die Theologische Ethik. Grundlagen und Grundbegriffe (Berlin: Walter de Gruyter, 152–157; Johannes Fischer, Leben aus dem Geist. Zur Grundlegung christlicher Ethik, (Zürich: TVZ, 1994), 150–171; Wilfried Härle, Ethik (Berlin/Boston: Walter de Gruyter 22018), 185–190; Wolfgang Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 32006), 150–171; Konrad Stock, Gottes wahre Liebe. Theologische Phänomenologie der Liebe (Tübingen: Mohr Siebeck, 2000).  Einen Überblick über die Verwendung der Liebe in ihren unterschiedlichen Ausprägungen der neueren Theologiegeschichte bis zu Tillich bietet Günther Meckenstock, „Liebe VII: Neuzeit“, TRE 32 (2001), 156–170.  Vgl. zum Idealismus vertiefend aus theologischer Perspektive: Ulrich Barth „Der Weg zur absoluten Reflexion im nachkantischen Idealismus: Fichte – Schelling – Hegel“, in: ders., Gott als Projekt der Vernunft (Tübingen: Mohr Siebeck, 2005), 309–336. Eine klassische Darstellung im 19. Jahrhundert stellt das zweibändige und von Tillich rezipierte Werk von Richard Kroner Von Kant bis Hegel, 2. Bde. (Tübingen: Mohr Siebeck, 42007) dar.

4

Einleitung

„Frankfurter Vorlesungen über Hegel“, die er im Wintersemester 1931/32 vortrug.14 In diesen Vorlesungen bestimmt Tillich zunächst die Anerkennung als Grundbegriff gelingender Gemeinschaft bei Hegel, um sie dann im Zentrum von dessen Hauptwerk Die Phänomenologie des Geistes zu verorten.15 Bezogen auf Tillichs Verhältnis zum idealistischen Denken insgesamt liegt seine Kenntnis über die tragende Bedeutung der Anerkennung in den idealistischen Konzepten auf der Hand.16 Hegels zweites Hauptwerk – die Phänomenologie – hat zu Tillichs Lebzeiten bereits Klassikerstatus. Zusammengenommen mit seiner intensiven Prägung durch den Idealismus, insbesondere auch den „Theologischen Neuidealismus“17 um 1900, kann geschlossen werden, dass Tillich die Anerkennungsfigur Hegels bereits früh vor Augen stand. Für den idealistischen Hintergrund des sozialphilosophischen Begriffs der Anerkennung bei Tillich spricht weiterhin, dass ihr Einsatzpunkt zumeist an Johann Gottlieb Fichte und dessen Grundlage des Naturrechts (1796–1797) festgemacht wird.18 Hegel selbst ist über der Fichte-Lektüre zu seiner Anerkennungstheorie gekommen.19 Als ethischer Zentralbegriff erlangte die Anerkennungsfigur vor allem in der Sozialphilosophie der

 Vorlesung über Hegel (Wintersemester 1931/1932), Bd. VIII, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Erdmann Sturm, Berlin/New York 1995. Vgl. „‚Sein [...] ist die Macht zu sein‘. Beobachtungen zu Paul Tillichs ontologischem Begriff der Macht in Love, Power, and Justice“, in: Christian Danz u. a. (Hg.), Justice, Power, and Love (IJTF 9) (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2014), 27–45. 39, Anm. 42, der hier in Bezug auf die HegelVorlesungen vermutet, dass Tillich über Hegel zur Kategorie der Anerkennung gelangt sei.  Vgl. „Vorlesung über Hegel (Wintersemester 1931/1932), insbesondere 488–90 und pointiert Tillichs biographische Einführung, 58: „Er [Hegel] war beliebt, aber innerlich stellte er sich auf Seiten der Ordnung. ‚Das menschliche Leben ist nur möglich auf dem Boden gegenseitiger Anerkennung‘. Der Begriff der Anerkennung, der in der ‚Phänomenologie‘ die Grundlage für die Auffassung des Gemeinschaftslebens darstellt (Ph 150), wurde ihm auch selbst zuteil“.  Zu Tillichs Idealismusrezeption siehe auch unten: Teil 1: A.  So die Bezeichnung bei Christian Danz, „Theologischer Neuidealismus. Zur Rezeption der Geschichtsphilosophie Fichtes bei Friedrich Gogarten, Paul Tillich und Emanuel Hirsch“, in: Jürgen Stolzenberg/Oliver-Pierre Rudolph (Hg.), Wissen, Freiheit, Geschichte. Die Philosophie Fichtes im 19. und 20. Jahrhundert. Beiträge des sechsten internationalen Kongresses der Johann Gottlieb Fichte Gesellschaft in Halle (Saale) vom 3. bis 7. Oktober 2006, Bd. II (Amsterdam/New York: BILL, 2012), 199–215.  Auch die Philosophie Jean-Jacques Rousseaus wird des Öfteren als Einsatzpunkt in der Neuzeit gesehen. Vgl. Axel Honneth, „Anerkennung“ RGG4 1 (1998), 476–477; ders.: Anerkennung. Eine europäische Ideengeschichte (Berlin: Suhrkamp, 2018). Aus der Literatur zum Problem der Anerkennung als Grundbegriff einer Sozialphilosophie bzw. Ethik vgl. nur: Heikki Ikäheimo, Anerkennung (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2014), 28 ff und die Beiträge zu den §§ 1–7 in Merle, JeanChristophe (Hg.), Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 22016).  Vgl. Ikäheimo, Anerkennung, 29.

1 Liebe und Anerkennung – begriffsgeschichtliche Schlaglichter

5

zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine nicht mehr überblickbare Konjunktur.20 Axel Honneth bemerkt in seinem kurzen Beitrag für die Religion in Geschichte und Gegenwart 1998 nüchtern: „‚A.‘ hat schon immer eine wesentliche Rolle innerhalb der praktischen Philosophie gespielt.“21 Auch dem christlich-theologischen Denken war und ist es nicht fremd, die Anerkennung als grundlegende Kategorie theologischer Ethik aufzugreifen.22 In Konzepten, die in der Tradition der Theologie Martin Luthers stehen, wird die Anerkennung als Ausdruck der Rechtfertigung des Menschen durch Gott gedeutet.23 Für die weitere Rezeption wird man exemplarisch auf Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher24 und insbesondere Albrecht Ritschl verweisen25, wobei der

 Siehe zur Vielfalt der Aspekte einer Theorie der Anerkennung jetzt: Ludwig Siep/Heikki Ikäheimo /Michael Quante (Hg.), Handbuch Anerkennung (Wiesbaden: SpringerLink, 2021).  Honneth, „Anerkennung“, 476.  Zur Geschichte der Kategorie in der Theologie insgesamt siehe Risto Saarinen, Recognition and Religion. A Historical and Systematic Study (Oxford: Oxford University Press, 2016). Wenngleich die entsprechenden Ansätze hier wenigstens genannt werden sollen, scheint es wenig ergiebig, eine theologiegeschichtliche Skizze einzufügen, die den Anerkennungsbegriff durch die protestantische Theologie verfolgt. Zum einen würde diese wiederum eine Vollständigkeit suggerieren, die nicht erreichbar wäre. Zum anderen versteht sich die vorliegende Arbeit nicht als Begriffsstudie.  Vgl. dazu Jörg Lauster, „Glück und Gnade. Religiöse Perspektiven der Anerkennung“, in: EvTh 76/5 (2016), 462–469. „Der klassische Ort, an dem die Anerkennungsthematik in der Theologie zum Tragen kommt, ist die Gnadenlehre. Deren konfessionell prägende Entwürfe bei Thomas von Aquin oder Martin Luther erweisen sich bei näherer Hinsicht außerordentlich anschlussfähig für die Anerkennungsdebatte. Denn beide kreisen um eine Bestimmung der Gnade bzw. der Rechtfertigung als einer dem Menschen sich auftuenden Zuwendungsform, die letztlich auf eine transzendente Ursache zurückzuführen ist.“ Vgl. in dieser Richtung auch den Hinweis auf Tillich bei Isolde Karle, „Die Suche nach Anerkennung – und die Religion“, in: EvTh 76/5 (2016), 406–414. Die Verbindung von Rechtfertigung und Anerkennung hat in der evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts vor allem Eberhard Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht (Tübingen: Mohr Siebeck, 62011), bes. 5 f.52 ff.175 f.  Vgl. insbesondere Michael Moxter, Güterbegriff und Handlungstheorie. Eine Studie zur Ethik Friedrich Schleiermachers (Kampen: KoK Pharos, 1992), 108–131, der auf die Bedeutung des Terminus bei Schleiermacher aufmerksam gemacht hat; Sebastian Krombacher, „Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit und der unendliche qualitative Unterschied. Die anerkennungstheoretische Analogie bei Friedrich Schleiermacher und Karl Barth“, in: Uwe Gerber/Lukas Ohly (Hg.), Anerkennung. personal – sozial – transsozial, (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2021), 97–118.  Zu Ritschl in dieser Hinsicht vgl. Arnulf von Scheliha, Der Glaube an die göttliche Vorsehung. Eine religionssoziologische, geschichtsphilosophische und theologiegeschichtliche Untersuchung (Stuttgart: Kohlhammer, 1998), 249 f.; ders.: „Albrecht Ritschl. Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung“, in: Christian Danz (Hg.), Kanon der Theologie. 45 Schlüsseltexte im Portrait (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 32012), 254–261, 259: „In raumgreifender

6

Einleitung

Ursprung theologischer Rezeption der Anerkennung auch bei Johann Joachim Spalding festgemacht wurde.26 Für Schleiermacher und Ritschl kann die Anerkennung als ein grundlegendes Moment theologischer Ethik gelten. Bei Ritschl ist sie wiederum als Beschreibungskategorie der Rechtfertigungslehre zu verstehen, mit der er versuchte, die alten „juridisch-forensischen Begriffe in eine konsequent anerkennungslogische Betrachtung“27 umzuarbeiten. Auch für aktuelle Fragen und Themen einer theologischen Ethik lässt sich ohne Weiteres eine Konjunktur des Rekurses auf sozialphilosophische Anerkennungstheorien verzeichnen.28 In der vorliegenden Arbeit wird sich zeigen, wie es Tillich gelingt, den Zusammenhang von Liebe und Anerkennung als zentrales Element theologisch-ethischer Theoriebildung im Einzelnen zu konturieren.

2 Einordnung in die Forschung Die Forschungslage zur Ethik Tillichs stellt sich komplex dar. Geht man von einem sehr weiten Verständnis von Ethik aus, sind sämtliche Fragen, die menschliches Handeln betreffen, einbezogen. Beispielsweise würde so auch die politische Dimension in Tillichs Konzept des Religiösen Sozialismus relevant. Bei diesem Zugang wäre die zu beachtende Literatur schier unüberblickbar. Demgegenüber kristallisiert sich ein kleinerer Forschungsbestand dann heraus, wenn man nur

Kritik der wichtigen Positionen aus der Theologiegeschichte klärt Ritschl seine Leitbegriffe und wendet sich insbesondere von der üblichen forensischen Interpretation der Rechtfertigung zugunsten einer Logik der Anerkennung ab.“  Risto Saarinen, „Johann Joachim Spalding und die Anfänge des theologischen Anerkennungsbegriffs“, in: ZThK 112 (2015), 429–448.  Ulrich Barth, „Das gebrochene Verhältnis zur Reformation. Beobachtungen zum Protestantismusverständnis Albrecht Ritschls“, in: Martin Berger/Michael Murrmann-Kahl (Hg.), Transformationsprozesse des Protestantismus. Zur Selbstreflexion einer christlichen Konfession an der Jahrtausendwende, Falk Wagner (1939–1988) zu Ehren (Gütersloh: Kaiser, 1999) 80–99, 87.  Vgl. für den Gebrauch in verschiedenen Fragestellungen: Traugott Koch, „Anerkennung – das Absolute? Oder: Religion und Recht“, in ders., Freiheit in Gemeinsamkeit. Beiträge zu einer gegenwärtigen Theologie, hg. v. Karl Tetzlaff (Tübingen: Mohr Siebeck, 2021), 469–483; Torsten Meireis, „Ethik des Sozialen“, in: ders./Hans-Richard Reuter/Wolfgang Huber (Hg.), Handbuch der evangelischen Ethik (München: Kaiser, 2015), 265–329; Tobias Braune-Krickau: Religion und Anerkennung. Ein Versuch über Diakonie als Ort religiöser Erfahrung (Tübingen: Mohr Siebeck, 2015); Braun, Matthias, Zwang und Anerkennung. Sozialanthropologische Herausforderungen und theologischethische Implikationen im Umgang mit psychischer Devianz (Tübingen: Mohr Siebeck, 2017); Uwe Gerber/Lukas Ohly (Hg.), Anerkennung; Karl Tetzlaff, Selbstsein und Anerkennung. Theologischphilosophische Erkundungsgänge im Spannungsfeld von Ich, Wir, und Gott (Tübingen: Mohr Siebeck, 2022).

2 Einordnung in die Forschung

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diejenigen Interpretationen in den Blick nimmt, die sich explizit mit der Frage nach einer Grundlegung von (theologischer) Ethik befassen. Eine noch weitergehende Eingrenzung ergibt sich dann, wenn ausschließlich diejenigen Forschungsbeiträge herangezogen werden, die sich ausdrücklich mit den Begriffen der Liebe und der Anerkennung befassen. Vor dem Hintergrund dieser drei Möglichkeiten wird für die Darstellung im Folgenden ein Kompromiss gewählt: Zunächst soll eine kurze, allgemeine Einführung in die Tillich-Forschung gegeben werden. Sodann geht es spezieller um die Forschungsliteratur zu Tillichs Ethik. Schließlich werden ausgewählte Publikationen vorgestellt, welche sich dezidiert mit der Frage nach der Grundlegung der Ethik befassen; einige davon beziehen den Anerkennungsbegriff mit ein. Auch wenn die Arbeiten zu Tillich generell bereits 1979 „[...] ins kaum noch Überschaubare wuchern“29 – mit und nach dem Erscheinen der deutschen Übersetzung seiner Systematischen Theologie (1955–1965)30 wurde Tillich auch in Deutschland bekannter –, begann Tillichs Wirkung im deutschsprachigen Raum erst viel später als bei berühmten Zeitgenossen.31 Indes hatte Tillich in den Vereinigten Staaten von Amerika mit seinem erstmals 1952 erschienen Buch The Courage to Be32 – das wohl meistgelesene Buch aus Tillichs Werk – bereits „Kultstatus“33 erreicht. Wolfgang Trillhaas hat bereits 1978 darauf hingewiesen, dass zunächst Karl Barth und Rudolf Bultmann über einen großen Zeitraum hinweg die deutsche Theologielandschaft bestimmten, bis Tillich „aus dem Hintergrund hervortrat“34. Trotz der in den 1960er–70er Jahren aufkommenden Rezeption und des dann aufkommenden Interesses an Tillichs Werk verlief die Editionsarbeit stockender als bei seinen Zeitgenossen und setzte erst wirklich mit dem Erscheinen des ersten Bandes der Gesammelten Werke 1959 ein, die zwischen 1959 und 1975 hauptverantwortlich von Renate Albrecht herausgegeben wurden. Inzwischen liegen – in erster Linie durch die immense Editionsarbeit Erdmann Sturms – neben den 14 Bänden der Gesammelten Werke35 21 weitere Bände als Ergänzungs- und Nach-

 Peter Schwanz, „Zur neueren deutschsprachigen Literatur über Paul Tillich“, in: VuF 24 (1979), 55–86, 56.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, Bd. I–II, 92017, Bd. III 5 2017). Die drei Bände erschienen zunächst auf Englisch (1951–1963).  Wolfgang Trillhaas, „Paul Tillich im Lichte seiner Wirkungsgeschichte“, in: ZThK 75/1 (1978), 82–89, 84.  Tillich, The Courage to Be (New Haven/London: Yale University Press, 1952).  Sabine Joy Ihben-Bahl, Angst und die eine Wirklichkeit. Paul Tillichs transdisziplinäre Angsttheorie im Dialog mit gegenwärtigen Emotionskonzepten (Tübingen: Mohr Siebeck, 2020), 13.  Trillhaas „Wirkungsgeschichte“, 84.  GW I–XIV.

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lassbände zu den Gesammelten Werken36 vor, die zu Anfang von Renate Henel besorgt wurden. Darin erstreckt sich das Material von diversen Vorlesungen zwischen 1919 bis in die 1950er Jahre über zahlreiche Vorarbeiten, Manuskripte, Skizzen und Vorträge bis hin zu ersten Systementwürfen.37 Darüber hinaus liegen viele der bereits veröffentlichten Schriften nochmals in der sechsbändigen Ausgabe Main Works/Hauptwerke38 vor, die teils auf überarbeiteten oder auf neu erschlossenen Versionen der Texte beruht. Parallel zur Erschließung der neuen Quellen aus den Archiven wird vor allem in der deutschsprachigen Forschung das Augenmerk deutlich auf die werkgeschichtliche Aufarbeitung gelegt, was die wichtigsten Arbeiten aus den beiden letzten Jahrzehnten zeigen.39 Auffällig ist dabei zunächst das Interesse an den neu edierten Quellen; vor allem Tillichs Schellingrezeption und seine frühesten Entwürfe – besonders die Systematische Theologie von 1913 – sind verstärkt ins Blickfeld getreten.40 In den Untersuchungen werden dazu spezielle Bereiche oder Konzepte in Tillichs Denken – wie Kulturtheologie, Geisttheorie, Christologie, Anthropologie oder Sinntheorie – fokussiert und über eine bestimmte Periode hinweg werkgenetisch verfolgt. Insbesondere in diesen Arbeiten werden überdies geistesgeschichtliche und rezeptionsgeschichtliche Hintergründe aufbereitet, die Tillichs Denken verlebendigen.41 In weiteren Untersuchungen wird die Frage nach Tillichs  EN I–XVIII.  Die Quellen sind weitgehend – wiederum zum größten Teil von Erdmann Sturm – aus dem Tillich Archiv Andover-Theological Library zusammengestellt. Weitere Texte stammen aus dem Paul Tillich Archiv an der Universität Marburg.  MW 1–6.  Vgl. die Einführung: Christian Danz/Werner Schüßler, „Paul Tillich in der Diskussion Ein Prospekt“, in: Christian Danz/Werner Schüßler (Hg.), Paul Tillich in der Diskussion. Werkgeschichte – Kontexte – Anknüpfungspunkte, Festschrift für Erdmann Sturm zum 85. Geburtstag (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2022), 1–5. Wie mehrfach in der Forschung hervorgehoben, kann die Arbeit von Gunther Wenz, Subjekt und Sein. Die Entwicklung der Theologie Paul Tillichs (München: Kaiser, 1979), als Beginn in diese Richtung verstanden werden (vgl. dazu Heinemann: Sinn [2017], 60).  Siehe dazu unten Teil 1: B. Dort wird auch die Literatur zu dieser Quelle behandelt.  Vgl. Peter Haigis, Im Horizont der Zeit. Paul Tillichs Projekt einer Theologie der Kultur (Marburg: Elwert, 1998). Michael Moxter, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie (Tübingen: Mohr Siebeck, 2000); Georg Neugebauer, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption (Berlin: Walter de Gruyter, 2007); Martin Harant, Religion – Kultur – Theologie. Eine Untersuchung zu ihrer Verhältnisbestimmung im Werke Ernst Troeltschs und Paul Tillichs im Vergleich (EHS 23/ 892), Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2008. Lars Christian Heinemann, Sinn – Geist – Symbol. Eine systematisch-genetische Rekonstruktion der frühen Symboltheorie Paul Tillichs (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2017); Martin Fritz, Menschsein als Frage. Paul Tillichs Weg zur anthropologischen Fundierung der Theologie (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2024), im Erscheinen, zit. als Habilitationsschrift, Neuendettelsau, 2017; Ihben-Bahl, Angst und die eine Wirklichkeit; Katharina

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Theologie als Gesamtkonzeption unter einer bestimmten Leitperspektive dargestellt und dazu insbesondere der übergreifende Systemansatz interpretiert.42 Außerdem auffällig ist die Tendenz, bestimmte Phasen im Werk Tillichs voneinander abzugrenzen. Dabei hat sich eine relativ simple Einteilung in drei Phasen – die auch schon in der älteren Forschung zu finden ist43 – weithin durchgesetzt. Unterschieden werden zumeist eine frühe Phase (etwa 1906–1917/18), eine mittlere (etwa 1919–1933) und eine Spätphase (etwa 1933–1965).44 Diese Einteilung beruht auf der jeweiligen Schwerpunktsetzung von Tillichs Theologie. So lässt sich die erste Phase als neuidealistisch und absolutheitstheoretisch kennzeichnen. Hierhin gehören die Studien- bzw. Promotionszeit und die ersten Entwürfe, die sich unmittelbar an den Idealismus – insbesondere Schellings – anlehnen. Die zweite Phase lässt sich als kultur- und sinntheoretische Zeit bezeichnen und schließt dann Tillichs Konzeption des Religiösen Sozialismus mit ein. In der dritten Phase werden schließlich die schwerpunktmäßig ontologisch wie auch existentialistisch oder anthropologisch angelegten Entwürfe insbesondere der amerikanischen Zeit verortet. Allerdings hat Lars Heinemann zu Recht darauf hingewiesen, dass Tillichs Fokussierung auf das Seinsdenken – und damit verwobene Fragen etwa nach einem ontologisch fundierten Begriff der Macht – bereits 1927/28, also im Übergang nach Frankfurt, einsetzt.45 Blickt man von hier aus auf die Arbeiten zur Ethik, behandelt der weit überwiegende Teil dieser Arbeiten den Religiösen Sozialismus der 1920er und 1930er

Wörn, Ambiguität. Paul Tillichs Begriff der Zweideutigkeit im Kontext interdisziplinärer Debatten (DoMO). Tübingen: Mohr Siebeck, 2022; Samuel Andrew Shearn, Pastor Tillich. The Justification of the Doubter (Oxford: Oxford University Press, 2022); Jin-Ho Suh, Der Verlust der religiösen Substanz. Paul Tillichs Begriff des Profanen (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2023).  Vgl. wiederum Gunther Wenz: Subjekt und Sein; Christian Danz: Religion als Freiheitsbewusstsein. Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2000); Doris Lax, Rechtfertigung des Denkens. Grundzüge der Genese von Paul Tillichs Denken dargestellt und erläutert an vier frühen Schriften aus den Jahren 1911–1913 (Göttingen: V&R Unipress, 2006); Stefan Dienstbeck, Transzendentale Strukturtheorie. Stadien der Systembildung Paul Tillichs (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011).  Vgl. bes. Reinhold Mokosch, Theologische Freiheitsphilosophie. Metaphysik, Freiheit und Ethik in der philosophischen Entwicklung Schellings und in den Anfängen Tillichs (Frankfurt a.M.: Klostermann, 1976) und Anton Bernet-Strahm, Die Vermittlung des Christlichen. Eine theologiegeschichtliche Untersuchung zu Paul Tillichs Anfängen des Theologisierens und seiner christologischen Auseinandersetzung mit philosophischen Einsichten des deutschen Idealismus; mit Erstpublikationen dreier früherer Werke des Jungen Paul Tillich (Bern u. a.: Peter Lang, 1982).  Vgl. Schüßler/Sturm, Tillich, 3–25; Dienstbeck, Transzendentale Strukturtheorie, passim; M. Neugebauer: „Ethik-Konzeption“.  Vgl. Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 61, Anm. 203.

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Jahre sowie das Programm einer Kultur- und Sinntheorie. Die Mehrheit der entsprechenden Studien entsteht in den 1960er bis 1980er Jahren und hat somit auf den Hauptbestand der frühen Skripteausgewählten und Entwürfe noch keinen Zugriff. Dabei lassen sich grob vier Gruppen der ethischen Literatur unterscheiden. Eine erste Gruppe legt den Schwerpunkt auf das politische Kairos-Denken und zeigt ein Interesse daran, Tillich theologiegeschichtlich als Akteur der Weimarer Zeit darzustellen. Dabei wird oft auch die schon damals wichtig werdende Systematische Theologie miteinbezogen.46 Das Hauptinteresse der Arbeiten dieser Gruppe gilt also dem Religiösen Sozialismus und der Politischen Theologie. In einer zweiten Gruppe, zu der besonders die nordamerikanische TillichForschung gehört, kommt es etwa zeitgleich zu einer systematischen Kontroverse, in welcher Tillich in mehreren Analysen und entsprechenden Repliken das erste Mal auf seine metaethischen Grundlagen hin untersucht wird.47 Dabei werden Bezüge auch zur zeitgenössisch wirkmächtigen Analytischen Philosophie geknüpft, und Tillich wird in die Diskussionen um die Möglichkeit einer theologischen Ethik einbezogen. Sodann lässt sich eine dritte Gruppe als Studien zu materialethischen Fragen zusammenfassen, die Tillich in bio- und medizinethischen und umweltethischen Fragen aufgreifen.48 Eine vierte Gruppe schließlich legt den Fokus auf Begriffsuntersuchungen; diese haben meist die Form perspektivischer oder vergleichender Darstellungen der Theologie Tillichs insgesamt.49

 Vgl. Exemplarisch: Karin Schäfer, Die Theologie des Politischen bei Paul Tillich unter besonderer Berücksichtigung der Zeit von 1933 – 1945 (Frankfurt a.M. u. a.: Lang, 1988); James A. Reimer, Emanuel Hirsch und Paul Tillich. Theologie und Politik in einer Zeit der Krise, aus dem Amerikan. übers. von Doris Lax (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1995); Alf Christophersen, Kairos, Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik (Tübingen: Mohr Siebeck, 2008). In dieser Hinsicht sticht auch Dorothee Sölle heraus, die schon früh auf mögliche Konvergenzen zwischen Tillichs Theologie und einer Theologie der Befreiung hingewiesen hat: „Der Beitrag Paul Tillichs zu einer Theologie der Befreiung der Ersten Welt“, in: Hermann Fischer (Hg.): Paul Tillich. Studien zu einer Theologie der Moderne (Frankfurt a.M.: Athenäum, 1989), 281–300.  Vgl. Terence O´Keefe, “The Metaethics of Paul Tillich. Further Reflections”, in: John J. Carey (Ed.), Being and doing. Paul Tillich as Ethicist (Macon GA: Mercer University Press, 1987), 57–67.); John P. Jr. Crossley, “Theological Ethics and The Naturalistic Fallacy”, in JRE 6/1 (1978), 121–134.  Jeremy Yunt, The Ecotheology of Paul Tillich. Spiritual Roots of Environment Ethics (Seattle, WA: Createspace 2009). Devan Stahl, “In Defense of Paul Tillich. Toward a Liberal Protestant Bioethics”, in: Christian Bioethics 20/2 (2014), 260–271.  Ingeborg C. Henel: „Paul Tillichs Begriff der Essentifikation und seine Bedeutung für die Ethik“, in: NZSTh 10 (1968), 1–17; Julia T. Meszaros, Selfless Love and Human Flourishing in Paul Tillich and Iris Murdoch (Oxford: Oxford University Press, 2016); Konrad Glöckner, Personsein als Telos der Schöpfung. Eine Darstellung der Theologie Paul Tillichs aus der Perspektive seines Verständnisses des Menschen als Person (Münster: LIT, 2004); Christophersen, Kairos.

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Abschließend seien einige Beiträge herausgegriffen, die sich explizit mit der Grundlegung von Tillichs Ethik beschäftigen.50 Dazu gehört zunächst die Arbeit von Eberhard Amelung Die Gestalt der Liebe. Paul Tillichs Theologie der Kultur.51 Amelung weist schon im Titel auf seine Zielrichtung hin, in der er die Texte der frühen Kulturtheologie und die späten, bekannten Schriften – wie die Systematische Theologie deutet. So zeigt er die Bedeutung der Liebe in den verschiedenen Kontexten, ohne dazu die später edierten Quellen zur Verfügung zu haben. Die auch für diese Arbeit zentrale Figur der Liebe wurde zudem in unterschiedlicher Weise und vom Spätwerk aus von Ilona Nord52, wiederum Julia Meszaros53 und von Werner Schüßler in mehreren Einzelstudien54 fruchtbar gemacht. Nord entwickelt im Vergleich Tillichs mit Georg Simmel einen geschlechtertheoretischen

 Vgl. aus der älteren Forschung Reinhold Lindner, Grundlegung einer Theologie der Gesellschaft, dargestellt an der Theologie Paul Tillichs (Hamburg: Furche, 1960); Hans Moritz, Sein, Sinn, und Geschichte beim frühen Tillich (Univ.-Dissertation, Leipzig 1960); Thietmar Wernsdörfer, Die entfremdete Welt. Eine Untersuchung zur Theologie Paul Tillichs (Zürich: Zwingli-Verlag, 1968); Hermann Eberhardt, Der Reich-Gottes-Begriff im Denken Paul Tillichs. Eine Studie zur Grundlegung der (Sozial-)Ethik durchgeführt am Reich-Gottes-Begriff Paul Tillichs (Univ.-Dissertation, Münster, 1969); Erich Schwerdtfeger, Die politische Theorie in der Theologie Paul Tillichs (Univ.-Dissertation, Marburg/Lahn, 1969); Thomas Ulrich: Ontologie, Theologie, gesellschaftliche Praxis. Studien zum religiösen Sozialismus Paul Tillichs und Carl Mennickes (Zürich: TVZ, 1971); Edgar Almén: Glaube und geschichtliche Verantwortlichkeit. Die Geschichtlichkeit des menschlichen Denkens als theologisches Problem von den Positionen Barths und Paul Tillichs her beleuchtet (Univ.-Dissertation, Lund, 1976). Hans-Beatus Brenner, Das Prinzip der Moralität in der Theologie Paul Tillichs (Univ.-Dissertation, Bonn, 1977); Ulrich Samse, Der Zusammenhang von Eschatologie und Ethik bei Paul Tillich (Univ.Dissertation, Bonn, 1980); Clark Francis Seha, Paul Tillich als theologischer Anwalt des Humanum (Univ.-Dissertation, Bethel, 1987); Hannelore Jahr, Theologie als Gestaltmetaphysik. Die Vermittlung von Gott und Welt im Frühwerk Paul Tillichs (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1989). Nercy Arias Porras, Die soziale Gestaltung als normatives Prinzip bei Paul Tillich angesichts der Krise der Moderne. Die theonome Gesellschaft als Aufhebung des Gegensatzes von Autonomie und Heteronomie (Berlin: Univ.-Dissertation, 1994). Pongo, Kodzo Tita, Expectation as Fulfillment. A Study in Paul Tillich’s Theory of Justice (Lanham: University Press, 1996).  Eberhard Amelung, Die Gestalt der Liebe. Paul Tillichs Theologie der Kultur (Gütersloh: Mohn, 1972).  Ilona Nord, Individualität, Geschlechterdiskurs und Liebe. Partnerschaft und ihre Lebensformen in der pluralen Gesellschaft (Gütersloh: Kaiser, 2001). Einblick in eine spezielle Fragestellung, die sich auf Texte Tillichs in der Weimarer Zeit beziehen, gibt Ilona Nord zudem in: „Über das Sakramentale zwischen Mann und Frau und den Mythos vom Elternpaar – Aspekte zu Paul Tillichs Deutung des Geschlechterverhältnisses (1926–1933)“, in: dies./Pater Haigis (Hg.), „Theologie der Liebe“ im Anschluss an Paul Tillich (Münster: Lit, 2013), 21–41.  Meszaros, Selfless Love.  Werner Schüßler, „Das Sein und die Liebe. Zur ontologischen Dimension der Liebe bei Paul Tillich und Karl Jaspers“, in: ders./Marc Röbel (Hg.), LIEBE – mehr als ein Gefühl. Philosophie – Theologie – Einzelwissenschaften (Paderborn: BRILL, 2016, 17–42); ders., „Eros und Agape“.

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Ansatz, während Meszaros Tillich zu der analytischen Philosophin Iris Murdoch in Beziehung setzt. Zuletzt hat ebenfalls Christina Saal Tillichs späten Liebesbegriff im Verhältnis zu Rollo May in einem Exkurs thematisiert.55 Reinhold Mokrosch befasst sich in seiner Theologische[n] Freiheitsphilosophie56 mit Tillichs frühen Dissertationen (1910/1912) zu Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Dabei stellt er zum ersten Mal auch die Bezüge aus ethischer Sicht heraus. Allerdings hat der Autor auf den Großteil der bis heute edierten Quellen Tillichs keinen Zugriff. Gleiches gilt für die 1982 publizierte Dissertation Anton Bernet-Strahms, Die Vermittlung des Christlichen57. Hier wurden erstmals die 72 Thesen58 und damit eine erste Fassung von Teilen der Systematischen Theologie von 1913 mit veröffentlicht und in die Analyse einbezogen. So wird auch die theologische Ethik der 1913er Schrift allein auf Basis jener zusammenfassenden 72 Leitsätze von Tillichs Freund Richard Wegener thematisiert.59 Der Bezug auf Tillich bei ethischen Grundfragen lässt sich an vielen Stellen im Werk Falk Wagners zeigen. Exemplarisch sei nur der Versuch genannt, eine pneumatologisch begründete Sozialethik auf der Grundlage von Tillichs Spätwerk zu entwickeln.60 In der Ausgabe des Tillich-Jahrbuchs von 2015 werden unter dem Titel Ethics and Eschatology unterschiedliche Themen in Tillichs ethischem Denken thematisiert. Matthias Neugebauer hat darin den ersten Versuch einer konzentrierten Gesamtdarstellung von Tillichs Ethik-Konzeption vorgelegt.61 Neugebauer analysiert Tillichs Werk chronologisch und unterscheidet die Ethik der Frühzeit von späterer Wissenschaftstheorie, Religiösem Sozialismus und Ontologie. Neugebauers Beitrag ist von der These geleitet, dass die Nächstenliebe in ihren Variationen die konstante Begründungskategorie bei Tillich darstellt.62 Da Neugebauer insbesondere zu den frühen Schriften die bislang wertvollsten Interpretationsansätze vorgelegt hat,

 Christina Saal, Der Mensch in Zeiten des Umbruchs. Paul Tillich und Rollo May im interdisziplinären Gespräch (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2023), 203–212.  Mokrosch, Theologische Freiheitsphilosophie.  Bernet-Strahm, Vermittlung des Christlichen.  Vgl. den Wiederabdruck: „Systematische Theologe 1913/14“, in: Theological Writings/Theologische Schriften, Bd. 6, Main Works/Hauptwerke, hg. von Gert Hummel (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1992), 63–81.  Siehe zur Publikationsgeschichte der Systematischen Theologie von 1913 unten Teil 1: B.1.  Falk Wagner, „Christus und Weltverantwortung als Thema der Pneumatologie Paul Tillichs“, in: ders., Christentum in der Moderne. Ausgewählte Aufsätze, hg. von Jörg Dierken/Christian Polke (Tübingen: Mohr Siebeck, 2014), 446–463.  Matthias Neugebauer, „Die Ethik-Konzeption Paul Tillichs. Eine Annäherung mit Rücksicht auf das Gesamtwerk“, in: Christian Danz u. a. (Hg.) Ethics and Eschatology (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2015), 103–141.  Vgl. M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 105.

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wird seine Arbeit an den entsprechenden Stellen regelmäßig einbezogen. Zuletzt hat Dirk-Martin Grube unter dem Titel Seinsethiken versus Sollensethiken. Zur Begründung von Paul Tillichs Ethik63 Tillichs ontologischen Zugang metaethisch und allein auf Grundlage des Spätwerks kantianisch geprägten Pflichtethiken gegenübergestellt. In dem Band Liminal Spaces and Ethical Challenges wird Tillichs Theologie in Zusammenhang gebracht mit unterschiedlichen aktuellen Debatten, etwa zu „Hate Speech“, Pandemie oder Totalitarismus.64 Zuletzt hat Ronald H. Stone seine langjährige Beschäftigung mit dem Denken Tillichs in der ersten monographischen englischsprachigen Darstellung der Ethik Tillichs gebündelt. Stone deutet Tillichs Ethik – besonders die der späten Schriften in den 1960er Jahren – als eine „principled-situationalist ethic“65, die sich einem seinerzeit prominenten Ansatz zuordnen lasse. Die Anerkennung als Grundbegriff der Ethik Tillichs wurde bislang nur am Rande behandelt. Der Jurist Wolf Reinhard Wrege hat in rechtstheologischer Perspektive in seiner Untersuchung Die Rechtstheologie Paul Tillichs auf das Anerkennungstheorem aufmerksam gemacht. Der Fragehaltung entsprechend wird die Anerkennung auf die von Tillich betonte Frage nach politischer Anerkennung leitender Gesellschaftsgruppen fokussiert. Die in dieser Hinsicht präzisen Hinweise sind hilfreich und zeigen eine Linie der Denkfigur bis in das Spätwerk auf. Allerdings kann auch Wrege noch nicht auf den aktuellen Quellenbestand zugreifen. Zudem kommen die sozialphilosophischen Grundentscheidungen mit Blick auf das Verhältnis von Person und Gemeinschaft nur rudimentär zur Sprache. Die Korrelation von Macht und Anerkennung, die für Tillich in der späten Weimarer Zeit charakteristisch wird, kann Wrege hingegen gerade aufgrund seiner rechtstheoretischen Fragerichtung aufzeigen.66 Unter dem Titel Individualität und Anerkennung hat Christian Danz die sozialphilosophischen und ethischen Schriften in der Main Works-Ausgabe67 rezensiert. Dabei macht er auf die Bedeutung des Anerkennungsparadigmas für Tillichs Sozialethik, insbesondere den Religiösen Sozialismus, aufmerksam. Danz kommt für sämtliche Schriften, welche  Dirk-Martin Grube, „Seinsethiken versus Sollensethiken“, in Christian Danz u. a. (Hg.), Brokenness and Reconciliation (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2020), 165–185.  Christian Danz u. a. (Hg.), Liminal Spaces and Ethical Challenges (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2022).  Ronald H. Stone, The Ethics of Paul Tillich (Mercer: Mercer University Press, 2021), 1.  Vgl. nur Wolf R. Wrege, Die Rechtstheologie Paul Tillichs (Tübingen: Mohr Siebeck, 1996) 86–91.187 ff; Horst Dreier, „Die Geschichte und das Reich Gottes. Zur Rechtstheologie Paul Tillichs“, in: Ralf Dreier/Okko Behrens (Hg.), Gerechtigkeit und Geschichte. Beiträge eines Symposions zum 65. Geburtstag von Malte Dießelhorst (Göttingen: Wallstein-Verlag, 1996), 46–59.46 ff.  Christian Danz, „Individualität und Anerkennung. Bemerkungen zur Grundlegung der Sozialethik Paul Tillichs“, in: Tillich-Journal 4 (Münster: Lit, 2000), 22–29.

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die Grundlegung der Ethik thematisch machen, zu dem Ergebnis: „Das Sein des Menschen als individuelle Persönlichkeit ist gleichsam immer schon ein soziales, da er nur in der Anerkennung von anderen er selbst sein kann.“68 Des Weiteren hebt Danz in seinem Beitrag „Sein [...] ist die Macht zu sein“ auf die Korrelation von Macht und Anerkennung, insbesondere in der Frankfurter Zeit, ab.69 Hier wird zum ersten Mal die enge Verbindung zwischen Tillichs Machttheorie und der Anerkennung als wesentlichem Element des ethischen Denkens zum Ende der 1920er Jahre angedeutet. Arnulf von Scheliha weist in seinem Beitrag Die politische Ethik Paul Tillichs (2015) mit Blick auf die Anerkennung der Persönlichkeit auf einschlägige Passagen insbesondere in Tillichs religiös-sozialistischen Texten hin. Er verbindet dies mit dem sich wandelnden Politik- und Demokratieverständnis Tillichs.70 In seiner Dissertationsschrift Philosophie der Macht71 geht Boni Atchadé ebenfalls am Rande auf die Anerkennung im Kontext der Machttheorie ein und stellt die bereits von Danz hervorgehobene Verknüpfung von „Sinnforderung und Anerkennung“ in den Mittelpunkt. Eine interreligiöse Perspektive auf den Begriff der Anerkennung liegt mit der bislang unveröffentlichten Dissertationsschrift von Ann-Christin Baumann unter dem Titel Liebe, Andersheit und Anerkennung72 vor. Allerdings bezieht auch diese Arbeit lediglich späte Schriften Tillichs mit ein. Die vorangehenden Hinweise dürften gezeigt haben: Zwar ist in der einschlägigen Forschung durchaus Bezug genommen worden auf das Konzept der Anerkennung bei Tillich. Eine wirkliche Interpretation unter diesem Gesichtspunkt, bei der auch das Frühwerk angemessen berücksichtigt wird, liegt aber bislang nicht vor.

 Danz, „Anerkennung“, 23.  Vgl. Christian Danz, „‚Sein [...] ist die Macht zu sein‘. Beobachtungen zu Paul Tillichs ontologischem Begriff der Macht in Love, Power, and Justice“, in: ders. u. a. (Hg.), Justice, Power, and Love (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2014), 27–45.35–40.  Vgl. Arnulf von Scheliha, „Die politische Ethik Paul Tillichs“, in: Christian Danz u. a. (Hg.), Ethics and Eschatology, 143–166.148.150.159.  Boni E.R., Atchadé, Philosophie der Macht. Paul Tillichs Verständnis der Macht im Kontext philosophischer Machttheorien im 20. Jahrhundert (Berlin/Boston: Walter De Gruyter, 2020), 190–205.  Ann-Christin Baumann, Liebe, Andersheit und Anerkennung. Christliche und muslimische Impulse für eine Theologie interreligiöser Ehe unter besonderer Berücksichtigung des Beitrags Pauls Tillichs (Univ.-Dissertation, Paderborn, 2017).

3 Methodik und Aufbau

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3 Methodik und Aufbau Die vorliegende Arbeit bietet eine werkgenetische, auf den Zeitraum von 1906–1933 bezogene Interpretation. Bei dieser Interpretation werden verschiedene Perspektiven und Beobachtungsfelder aufeinander bezogen, die sich wechselseitig beleuchten. Der Fokus liegt zunächst auf dem Konzept der Liebe und insbesondere auf dem der Anerkennung. Tillichs Verwendung beider Konzepte wird anhand der ausgewählten Werke des Untersuchungszeitraums interpretiert, und die Entwicklung in Tillichs Verständnis wird werkgeschichtlich dargestellt. Sodann wird die werkgeschichtliche Perspektive verknüpft mit kontextuellen Seitenblicken auf Tillichs jeweils aktuelle Kommunikations- und Rezeptionszusammenhänge. Diese Seitenblicke tragen bei zu einem profilierteren Verständnis von Tillichs Denkbewegungen, und zugleich wirft die Interpretation dieser Denkbewegungen auch Licht auf die herangezogenen Kontexte. Schließlich richtet sich das Hauptinteresse der Arbeit auf Tillichs Ethikkonzept im benannten Zeitraum. Um dieses Ethikkonzept erfassen zu können, ist es notwendig, seine Elemente immer auch als Elemente in Tillichs übergreifenden theologischen Ansatz zu sehen, sodass auch hier die Beziehung der Perspektiven zueinander unverzichtbar ist. Der Weg der Untersuchung entspricht weitgehend der werkbiographischen Chronologie. Strukturiert ist die Arbeit in zwei größere Teile mit jeweils zwei Kapiteln. In beiden Teilen stellt das erste Kapitel die Vorbereitung des zweiten dar. Der erste Teil behandelt die Zeit von Tillichs Studium bis kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1906–1913). Das erste Kapitel (Teil 1: A) geht dazu dem Entdeckungszusammenhang des theologischen Nächstenliebekonzepts und den ersten Spuren einer Rezeption des Hegelschen Anerkennungsbegriffs in Tillichs Frühzeit nach. Dazu werden mit einer Seminararbeit Tillichs und mit seiner Examensarbeit zwei bislang weniger beachtete Quellen zum Ausgangspunkt der Interpretation gemacht. Mit dem zweiten Kapitel (Teil 1: B) wird Tillichs erster großer Systementwurf von 1913 aus ethischer Sicht interpretiert. Dieses Kapitel ist auch deshalb sehr umfangreich, weil der frühe Text zum einen etliche Grundlagen für die späteren Arbeiten legt und zum anderen an besonders vielen Stellen nur durch den Einbezug geistesgeschichtlicher Hintergründe verständlich gemacht werden kann. Ein weiterer Grund für die Ausführlichkeit des Kapitels liegt darin, dass mit dem dritten Teil des hier behandelten Textes Tillichs einzige als solche bezeichnete theologische Ethik vorliegt. Diese wurde bislang in der Tillichforschung nur am Rande behandelt. Der zweite Teil umfasst die Zeit der Weimarer Republik (1919–1933) und betrifft somit die Phase von Tillichs Werk, in der er maßgebliche Konzepte – von der Geist- und Sinntheorie, Kulturtheologie, Symboltheorie bis hin zum Religiösen Sozialismus – entfaltet. Hier zeigt das erste Kapitel (Teil 2: A) zunächst die Kontinui-

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täten und Modifikationen der Ethik im Kontext von Kulturtheologie und Wissenschaftssystematik auf. Obwohl Tillichs Kulturtheologie zu den eingehend erschlossenen Bereichen seines Werks zählt, muss dieser für die Ethik zentrale Bereich einbezogen werden. Im zweiten Kapitel (Teil 2: B) wird zunächst (B.1) auf Basis der vorangehenden Analysen Tillichs theoretische Konzeption des Religiösen Sozialismus als sozialethische Folge der Kultur- und Sinntheorie gedeutet. An dieser Stelle wird aus darstellungstechnischen Gründen von der Chronologie leicht abgewichen. Sodann werden (B.2) in diesem Kapitel die Fäden der Vorarbeiten verknüpft, indem exemplarisch Texte aus den Jahren 1927–1933 herangezogen werden. Hierdurch werden die ersten ontologisch-anthropologischen Texte zusammen mit den explizit religiös-sozialistischen Texten interpretiert. Bewusst soll darin die – wiederum durch neue Umstände und weitverzweigte Einflüsse geprägte – Frankfurter Zeit (1929–1933) im Modus eines Ausblicks zur Sprache kommen, um Tillichs Verständnis der Anerkennung zusammenführend und anhand konkreter Ausprägungen zu bündeln.

Teil 1: Von Freiheit und Liebe zu Rechtfertigung und Anerkennung. Die frühe Konzeption im Kontext von Kultur, Sittlichkeit und Religion (1906–1913)

A Werk- und bildungsbiographische Hinführung (1906–1912) Mit den Texten und Entwürfen aus dem Zeitraum der Studien- und Promotionszeit werden in diesem Kapitel der Weg zu Tillichs erstem Systementwurf aus dem Jahr 1913 skizziert und die wesentlichen Muster der Theoriebildung aus der Perspektive der Ethik betrachtet. Dazu werden die ausgewählten Quellen zunächst (1.) werkgeschichtlich eingeordnet. Sodann werden (2.) eine frühe Studienarbeit aus dem Jahr 1906 und (3.) Tillichs Examensarbeit von 1908 interpretiert. Mit dem Ertrag (4.) schließt das Kapitel.

1 Kontextualisierung Dem ersten Systementwurf aus dem Jahr 19131, in dem Tillich auch seine erste Ethik-Konzeption vorlegte, geht sein früher Denkweg voraus, der im Folgenden vor dem Hintergrund bildungsbiographischer Aspekte skizziert wird. Die Systematische Theologie von 1913 wird im anschließenden Kapitel (B.) eigens interpretiert. Entsprechend sind die Texte der vorhergehenden Zeit (1906–1912) als Vorbereitungen des ersten großen Entwurfs vor dem Ersten Weltkrieg zu verstehen. Damit soll bereits auf formaler Ebene angedeutet werden, dass dem Text von 1913 eine Sonderstellung in der Frühzeit zukommt. Mit der Seminararbeit Fichtes Religionsphilosophie in ihrem Verhältnis zum Johannesevangelium2 wird die erste wissenschaftliche Arbeit von Tillichs Hand interpretiert. Hiermit werden die frühesten Grundkoordinaten von Tillichs ethischem Denken in der Studienzeit dargestellt und dazu bildungsbiographische Aspekte einbezogen. Im nachstehenden Abschnitt steht die Examensarbeit Welche Bedeutung hat der Gegensatz von monistischer und dualistischer Weltanschauung für die christ-

 Paul Tillich, Systematische Theologie von 1913, in: Frühe Werke, Bd. IX, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Gert Hummel/Doris Lax (Berlin/ New York: Walter de Gruyter, 1998), 278–434.  Tillich, Fichtes Religionsphilosophie in ihrem Verhältnis zum Johannesevangelium, in: Frühe Werke, Bd. IX, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Gert Hummel/Doris Lax (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1998), 4–19. https://doi.org/10.1515/9783111025490-002

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liche Religion?3 aus dem Jahr 1908 im Fokus. Die beiden Dissertationen4 zu Schelling (1910/1912) und vereinzelte Vorträge und Aufsätze5 kommen nur am Rande zur Sprache. Das hat seinen Grund darin, dass diese Schriften und im Besonderen die Schelling-Rezeption Tillichs sehr gut erschlossen sind.6 Zudem lassen sich die für die Ethik grundlegenden Elemente ebenso aus den im Folgenden behandelten und noch nicht gleichermaßen erforschten Quellen herausarbeiten. Die nachfolgend interpretierten Texte haben weithin den Charakter unveröffentlichter Entwürfe. Das bedeutet, dass sie – von den Dissertationen abgesehen – nicht noch einmal auf eine Publikation hin überarbeitet wurden. Doch besagt es

 Tillich, Welche Bedeutung hat der Gegensatz von monistischer und dualistischer Weltanschauung für die christliche Religion, in: Frühe Werke, Bd. IX, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Gert Hummel/Doris Lax (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1998), 20–153.  Tillich verfasste zunächst eine philosophische Dissertation mit dem Titel Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien (1910), in: Frühe Werke, Bd. IX, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich hg. von Gert Hummel/Doris Lax (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1998), 156–272. Mit der theologischen Licenciaten-Promotion Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung, in: Frühe Hauptwerke, Bd. I, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 21959) 13–108, wurde Tillich ein zweites Mal zu Schelling promoviert.  Vgl. besonders Tillichs Vortrag auf der Kasseler Pfingstkonferenz 1911: „Die christliche Gewißheit und der historische Jesus“, in: Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische und politische Stellungnahmen und Gespräche, Bd. VI, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Renate Albrecht/René Trautmann (Frankfurt a.M.: Evangelisches Verlagswerk, 1983), 50–61. Siehe auch: „Kirchliche Apologetik“ (1912), in: Impressionen und Reflexionen. Ein Lebensbild in Aufsätzen, Reden und Stellungnahmen, Bd. XIII, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1972) 34–57.  Vgl. zu diesem Vorgehen auch: Dienstbeck, Transzendentale Strukturtheorie, 20; Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 63, merkt zu Recht an, dass „der Einfluss Schellings auf Tillich, von der Studie Reinhold Mokroschs bis hin zu denen von Danz und Georg Neugebauer, aufs Ganze gesehen sehr gut erschlossen [ist] – ungleich besser jedenfalls als jeder anderweitige ideen- und geistesgeschichtliche Bezug.“ Vgl. dazu grundlegend: Mokrosch, Theologische Freiheitsphilosophie, bes. 229–242; Danz, Religion als Freiheitsbewusstsein., bes.124–168; G. Neugebauer, Christologie, bes. 146–252; Danz, „Das Absolute als Synthesis. Beobachtungen zu Paul Tillichs Rezeption von Schellings Freiheitsschrift“, in: Gunther Wenz (Hg.), Das Böse und sein Grund. Zur Rezeptionsgeschichte von Schellings Freiheitsschrift 1809, vorgelegt in der Sitzung vom 09. Juli 2010, 85–107; Stefan Dienstbeck, „Hierarchische Reziprozität. Das Gottesprinzip der Freiheitsschrift Schellings in Paul Tillichs Systematischer Theologie von 1913“, in: Gunther Wenz (Hg.), Das Böse und sein Grund, 123–147. So hat G. Neugebauer, Christologie, 146–252, den Schelling-Dissertationen ein eigenes Kapitel gewidmet. Die Monismus-Arbeit wurde z. B. von Heinemann, Sinn – Geist -Symbol, 77–86, ausführlich einbezogen. Die inzwischen verzweigte Literatur zur Systematischen Theologie von 1913 wird im entsprechenden Kapitel genannt.

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nicht, dass sie für die Interpretation von Tillichs Denken grundsätzlich weniger bedeutsam sind als die seinerzeit veröffentlichten Schriften. Dagegen spricht allein schon die intensive Erforschung gerade dieser Dokumente in den letzten Jahren.7 Obwohl die nicht publizierten Schriften in ihrer Bedeutung nicht überhöht werden dürfen, wird es sich als ergiebig herausstellen, sie in die Untersuchung einzubeziehen. Denn Tillich arbeitet sich schon ganz zu Anfang an der geschöpflichen Grundkonstitution des Menschen ab und verortet diese zwischen Theorie und Praxis beziehungsweise Denken und Handeln.8 Die frühen Schriften werden im Folgenden verhältnismäßig knapp behandelt; sie sollen in ihrer Bedeutung weder überbewertet noch vernachlässigt werden. Entsprechend sind keine umfassende Interpretation der frühen Schriften und kein Forschungsbeitrag etwa zur Schelling-Rezeption Tillichs intendiert. Vielmehr geht es darum, einen ersten Zugang zu Tillichs Ethik-Verständnis zu legen und dazu beim Anfang seiner Denkbiographie anzusetzen.

2 Frühe Leitgedanken: Theorie und Praxis – Wahrheit und Liebe Tillichs Beschäftigung mit dem Zusammenhang von theoretischen wie praktischen Fragen des Menschseins ist zunächst gekennzeichnet durch die Annahme einer prinzipiellen Einheit beider Sphären. Sodann kommt der Religion vom Früh- bis in das Spätwerk hinein die fundierende Position in Bezug auf alles menschliche Handeln, Denken und Fühlen zu. Tillich bündelt dies in der frühen Seminararbeit zu Fichtes Religionsphilosophie zum ersten Mal wie folgt: Es ist der Gegensatz von intellektualistischer Weltanschauung einerseits, bei der alles vom Denken aus bestimmt ist, und Religion andererseits, die den ganzen Menschen nach allen Seiten seines Wesens unter Gott stellt und damit [...] alles vom Menschen fordert, sein Denken, Fühlen und Wollen.9

Schon sehr früh ist Tillich demzufolge der Auffassung, dass sich die Religion nicht einem Bereich der menschlichen Vermögen zuordnen lässt, sondern vielmehr in allen Bereichen zum Ausdruck kommt. Hinsichtlich der dreifachen Einteilung schließt Tillich sich einer klassischen Differenzierung in drei Vermögen des Menschen an: Neben dem theoretischen Bereich des Denkens – beispielsweise der Wissenschaft – stehen der praktische des Wollens beziehungsweise der Praxis

 Die Forschungsliteratur wird im entsprechenden Kapitel aufgenommen. Siehe unten: Teil 1: B.1.  Vgl. dazu auch M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 104–110.  Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 18.

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und der Bereich des Ästhetischen, also der Wahrnehmung beziehungsweise des emotiven, gefühlsmäßigen Ausdrucks.10 Anders gesagt: Ob in der praktischen Sphäre des Wollens, der theoretischen Sphäre des Denkens oder der emotiven Sphäre des Gefühls – überall kommt die Religion in den Formen dieser Bereiche im Menschen zum Ausdruck. Diese Grundstruktur durchzieht Tillichs Werk konstant und wird auch in den anschließenden Kapiteln von Mal zu Mal wieder begegnen. Für die folgenden Überlegungen wird das Gefühl und somit die emotivästhetische Sphäre vorerst nicht eigens berücksichtigt. Somit sind zunächst nur die theoretische und praktische Sphäre von Belang, weil diese das Ethikverständnis insbesondere betreffen. Die dritte, emotive Seite des menschlichen Vermögens wird dort wieder aufgenommen, wo sie für Tillichs Entwicklung relevant ist.11 Zu diesem einleitend benannten Aspekt – der Untrennbarkeit von Theorie und Praxis und der Stellung der Religion – seien hier noch einige Vorbemerkungen angeschlossen, um in die Textinterpretation einsteigen zu können. Die basale Verbindung von Theorie und Praxis kann als Grundeinsicht gelten, die Tillichs Gesamtwerk umspannt.12 In gewisser Weise lässt sich die Untrennbarkeit beider Vermögen ebenfalls auf das Verhältnis von Dogmatik und Ethik übertra-

 Vgl. dazu Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 79 f., der in Bezug auf die Examensarbeit von 1908 zeigt, dass Tillich damit „eine religionstheoretische Grundentscheidung“ fasst, „die sein gesamtes Lebenswerk durchziehen wird. [...] Tillich nimmt die im Gefolge von Johannes Nikolaus Tetens etablierte Auffassung des menschlichen Geistes als einer nach drei Vermögen – dem theoretischen, dem praktischen und dem affektiv-emotionalen – zu differenzierenden Größe in Anspruch, um andersherum die Religion allen drei Vermögen gleichermaßen zuzuordnen. Letztere ist, mindestens ihrer christlichen Gestalt nach, als in gleicher Weise auf Denken, Wollen und Fühlen, und also auf theoretisches, praktisches und ästhetisches Geistesvermögen bezogen aufgefasst.“ Heinemann verfolgt diesen Dreischritt durch seine gesamte Untersuchung hindurch weiter und arbeitet Nuancen und Fortentwicklungen heraus. Vgl. die Übersicht bei Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 582–584.  Wichtig ist es, an dieser Stelle zu erwähnen, dass Tillich die emotive als gesonderte Sphäre ab 1920 dem theoretischen Vermögen zuordnen wird (vgl. dazu unten Teil 1: A.3).  M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 104, Anm. 3, schlägt vor, dass Tillich zur grundsätzlichen Einheit von Theorie und Praxis über seine Schellinglektüre gekommen sei. Neugebauer bezieht sich hier auf die zweite Schelling-Dissertation von 1912 und hebt Tillichs Bezug auf Schellings Wendung des „ethischen Genies“ (Mystik und Schuldbewußtsein, 71) hervor, die Tillich dort zitiert. Mit ethischen Genies seien diejenigen benannt, die das Erkennen des Göttlichen direkt mit dem Handeln zusammenbringen. Tillich zitiert Schelling: „‚Diejenigen nennt man Männer Gottes, in denen das Erkennen des Göttlichen unmittelbar zur Handlung wird‘“ (71) Neugebauer weist zudem darauf hin, dass Tillich sich im selben Zusammenhang auch für die Verbindung von Reflexion und Handlung direkt auf Schelling bezieht. Es könne, so Tillich (71) mit Schelling, das sittliche Ideal nicht vollständig durch den Verstand erreicht werden, sondern sich aus dem Göttlichen speisen müsse. Den Ursprung der fundamentalen Verbindung von Theorie und Praxis in Tillichs Schellinglektüre zu sehen, ist einerseits naheliegend. Andererseits zeigt die Datierung

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gen. Als Disziplinen gehören beide in den Bereich der Theorie. Doch sofern man ihre Bezugsgrößen unterscheidet, wird Ethik als Reflexion auf die Praxis bezeichnet und Dogmatik als Reflexion auf theologische respektive religiöse Gehalte, Symbole und Denkweisen bestimmt. Auch diesbezüglich kommt Tillichs betonte Untrennbarkeit zum Tragen. Schematisch ist es folglich zulässig, Dogmatik und Ethik zu trennen. Systematisch sind beide wie die Grundformen der menschlichen Vermögen im Ansatz verbunden. Wie Tillich es in seiner späten Systematischen Theologie wieder aufnimmt, ist die Trennung von Dogmatik und Ethik nur aus „praktischen Gründen“13 zulässig, nicht um Dogmatik und (theologischer) Ethik verschiedene Aufgabenbereiche zuzuweisen.14 Im Folgenden geht es allerdings zunächst noch nicht um diese Metaebene der wissenschaftlichen Reflexion, sondern um die Beziehung von Denken und Handeln selbst. Die Einsicht in die Untrennbarkeit von theoretischem und praktischem Vermögen kam Tillich nach eigenem Bekunden lange vor seiner wissenschaftlichen Reflexion. Im Rückblick verortet er den Ursprung des integrativen Verständnisses von Denken und Handeln zeitlich in seinen ersten Erinnerungen aus der Kindheit. So formuliert er in seinen autobiographischen Skizzen Auf der Grenze: Seit den ersten Erschütterungen durch die Vorstellung des ‚Unendlichen‘, etwa im achten Lebensjahr, seit der leidenschaftlichen Aufnahme der christlichen Dogmatik in Volksschule und Konfirmandenunterricht [...] war es für mich klar, daß die theoretische und nicht die praktische Bewältigung des Seienden Schicksal und Aufgabe für mich war [...]. Auch die inneren Kämpfe um die Wahrheit der überlieferten Religion hielten mich in der theoretischen Sphäre fest. Aber die Theorie bedeutet im Religiösen doch noch etwas anderes als philosophische Wesensschau. In der religiösen Wahrheit geht es unmittelbar um das eigene Sein und Nichtsein. Religiöse Wahrheit ist existentielle Wahrheit [...]. Religiöse Wahrheit wird getan – entsprechend dem Johannes-Evangelium.15

In den retrospektiven Zeilen kommen wenigstens vier konstante Faktoren der Entwicklung von Tillichs Ethik zum Vorschein, die biographische mit denkerischen

vom sog. „Schellingerlebnis“ auf Pfingsten 1909 (Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 64), dass Tillich sich wohl erst ab hier intensiv mit Schelling befasst hat. Dahingegen ist die genannte Grundunterscheidung von Theorie und Praxis bereits in früheren Texten zu finden, wie sich unten zeigt. Neugebauer betont zudem selbst, dass Tillich sich dann im direkten Kontext kritisch mit Schellings Ansatz befasst. Außerdem darf hier nicht vergessen werden, dass es sich um eine Rekonstruktion und Interpretation Schellings durch Tillich handelt, nicht um einen eigenen Ansatz.  Tillich, ST III, 743.  Vgl. dazu nochmals Tillich, ST III, 306: „‚Theologische Ethik‘ als selbständige theologische Disziplin muß abgelehnt werden, obwohl jede theologische Behauptung ethische Voraussetzungen und Konsequenzen hat.“  Tillich, „Auf der Grenze“, 22 f.

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Elementen verbinden: Erstens stand für Tillich auf der bildungsbiographischen Ebene früh fest, dass er sich als Theoretiker den Fragen der Geisteswissenschaften zuwenden würde. Das ist nicht trivial, sondern wird sich beispielsweise im Zuge des Religiösen Sozialismus und der Frage nach dem eigenen politischen Engagement als konstantes Element erweisen. Zweitens wird ein integratives Verständnis von Theorie und Praxis vorausgesetzt. Dafür steht die Wendung der „existentiellen Wahrheit“. Dass die Reflexion immer auch auf die praktische Handlung drängt, gehört zum theologischen Grundverständnis Tillichs. Hiermit ist also auch die Verbindung von Dogmatik und Ethik angelegt. Als theoretische Reflexion auf das Denken und Handeln werden beide im Ansatz als untrennbare Unternehmen verstanden.16 Drittens sieht Tillich in der Religion diejenige Größe, die auch die praktische Seite des Menschseins – neben Theorie und Anschauung – begründet. Viertens – und mit der Religion unmittelbar verbunden – verweist Tillich auf die fundierende Stellung des neutestamentlichen Ursprungs seiner Ethik, indem er das Johannesevangelium ins Spiel bringt. Die konkrete, „existentielle Wahrheit“ scheint ihm im vierten Evangelium besonders hervorzustechen, wie unten in diesem Abschnitt näher ausgeführt wird. Dass die johanneische Theologie auf Tillich zeitlebens eine besondere Faszination ausübte, ist bekannt. Diese Hochschätzung entspringt wohl in markanter Weise seiner Wertschätzung der Logos-Christologie (vgl. programmatisch Joh 1,1–5.14).17 Dass auch sein ethisches Denken prinzipiell in der Auseinandersetzung mit einer ethischen Deutung des Johannesevangeliums beginnt, wird unter Einbezug der ausgewählten Quellen im weiteren Verlauf gezeigt.18 Sieht man sich von Tillichs Rückblende ausgehend nach den Ursprüngen und den einflussgebenden Persönlichkeiten in seinem ethischen Denken um, wird man zunächst auf die Studienzeit zwischen 1904–1908 in Berlin, Tübingen und Halle (Saale) verwiesen.19 Zum Wintersemester 1904/05 schrieb Tillich sich für je

 Das betont auch M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 106.  Vgl. exemplarisch: „Tillich an Friedrich Büchsel (August 1908)“ in: Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische und politische Stellungnahmen und Gespräche, Bd. VI, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Renate Albrecht und René Trautmann (Frankfurt a.M.: Evangelisches Verlagswerk, 1983). Vgl. G. Neugebauer, Christologie, 280.  Siehe unten: Teil 1: A. 2 und B.4.  Vgl. „Tillich an Thomas Mann (23. Mai 1943)“, in: Impressionen und Reflexionen. Ein Lebensbild in Aufsätzen, Reden und Stellungnahmen, Bd. XIII, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1972), 22–27, 22. Tillich begann sein Studium im Wintersemester 1904/1905 an der Universität Berlin, wechselte für das Sommersemester 1905 an die Universität Tübingen und absolvierte anschließend vier Semester bis 1908 an der Universität in Halle an der Saale. Im Wintersemester 1907/08 schrieb er sich wieder an der Berliner Fakultät

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ein Semester an der Berliner und der Tübinger Universität ein.20 In Tübingen studierte er bei Karl Holl Kirchengeschichte und nahm an Adolf Schlatters Übung zum Johannesevangelium teil.21 Seine wichtigsten Prägungen erhielt Tillich allerdings in den anschließenden vier Semestern an der Fakultät in Halle. Hier traf er mit Wilhelm Lütgert und Fritz Medicus auf seine eigentlichen Lehrer, deren Denken sein Werk lebenslang beeinflussen sollte.22 Inzwischen lässt sich unter Bezugnahme auf die neuere Forschung mit guten Gründen vermuten, dass Tillich in besonderer Weise sowohl von Lütgert als auch von Medicus zum Studium der idealistischen Philosophie inspiriert wurde.23 Meine philosophischen Anschauungen wurden tiefgehend beeinflusst durch den Verkehr mit Herrn Dr. Fritz Medicus, der mich in Fichte und den deutschen Idealismus überhaupt einführte.24

So fasst es Tillich drei Jahre nach seinem Examen in seinem Lebenslauf zusammen. Doch auch Wilhelm Lütgert wird deutlichen Einfluss auf Tillichs IdealismusRezeption genommen haben.25 Einen ersten Hinweis auf den Einfluss Lütgerts gibt schon Tillichs Studienverlauf in Halle, den Georg Neugebauer erschlossen hat. Hier zeigt sich, dass Tillich mit acht Lehrveranstaltungen bei Lütgert den deutlich größten Teil seines Studiums absolvierte. Neben Seminaren und Vorlesungen zu neutestamentlichen Themen besuchte er bei Lütgert ebenso „Ethik“,

ein und legte dort im Wintersemsester 1908/09 das erste theologische Examen ab. Vgl. Pauck/ Pauck, Tillich, 30–34.  Vgl. „Promotionsakte Paul Tillich“, abgedruckt in G. Neugebauer, Christologie, 405–408.  Vgl. „Promotionsakte Paul Tillich“, abgedruckt in G. Neugebauer, Christologie, 406. Für das Berliner Semester erwähnt Tillich exemplarisch Adolf Lasson (vgl. „Promotionsakte Paul Tillich“, 402).  So Tillich 1936 in „Auf der Grenze“, l. Vgl. Tillichs Lebenslauf, abgedruckt in G. Neugebauer, Christologie Ferner: Friedrich Wilhelm Graf/Alf Christophersen, „Neukantianismus, Fichte- und Schellingrenaissance. Paul Tillich und sein philosophischer Lehrer Fritz Medicus“, in: ZNThG 11 (2004), 52–78, 52.  Vgl. G. Neugebauer, Christologie, 148.152; Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 73–77. Siehe dazu unten: Teil 1: A.3.  „Promotionsakte Paul Tillich“, 402.  Siehe dazu unten: Teil 1: A.3. Wilhelm Lütgert (1867–1938) widmete sich dem Idealismus besonders in seiner großen, vier Bände umfassenden und schon im Ansatz deutlich kritischen Studie Die Religion des deutschen Idealismus und ihr Ende, 4 Bde. (Gütersloh: Bertelsmann, 1923–1930). Welche Bedeutung Lütgert – bei aller Verschiedenheit und Kritik – zeitlebens für Tillich hatte, zeigt auch seine kritische Besprechung dieser Idealismus-Studie Lütgerts im Vergleich mit etwa zeitgleich erschienenen Beiträgen Emanuel Hirschs, Friedrich Gogartens und Friedrich Brunstäds: vgl. Tillich, „Christentum und Idealismus. Zum Verständnis der Diskussionslage (F. Brunstäd, E. Brunner, W. Lütgert, E. Hirsch“, in: Begegnungen. Paul Tillich über sich selbst und andere, Bd. XII, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1971), 219–228.

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„Dogmatik II“ und mehrere „Systematische Seminar[e]“.26 Der frühe Tillich lässt sich somit insgesamt einem theologischen „Neuidealismus“27 zuordnen, zu dem in seiner Generation ebenfalls so unterschiedliche Denker wie Friedrich Gogarten oder Emanuel Hirsch gehören.28 Hierdurch kann Tillich theologiegeschichtlich zur erneuten Aufarbeitung idealistischer Philosophie in der Theologie und Philosophie um 1900 gerechnet werden, die als „Fichte- und Schellingrenaissance“29 oder auch als „Neufichteanismus“30 bezeichnet werden kann. Dass die zuvor angeklungene Begründungsfunktion der Religion bereits in den frühesten Entwürfen maßgeblich ist und durch die Idealismus-Lektüre beeinflusst wurde, wird nachfolgend exemplarisch an dem ersten theologischen Dokument illustriert, das aus Tillichs Feder vorliegt. Hierbei handelt es sich um eine Seminararbeit, die er unter dem Titel Fichtes Religionsphilosophie in ihrem Verhältnis zum Johannesevangelium31 1906 verfasste. Die Arbeit war im Nachgang zu einer Fichte-Übung bei Medicus entstanden, aber allem Anschein nach von Wilhelm Lütgert korrigiert worden.32 In der nur fünfzehn Seiten umfassenden, nicht eigens mit Unterüberschriften gegliederten Untersuchung versucht Tillich, den Theologen Johannes mit dem Philosophen Johann Gottlieb Fichte in Beziehung zu setzen.33 Stilistisch ist der Aufsatz

 „Promotionsakte Paul Tillich“, 407.  Danz, „Theologischer Neuidealismus“, 199–215.  Vgl. Danz, „Neuidealismus“, der Tillich, Hirsch und Gogarten über ihre Fichterezeption vergleicht.  So Graf/Christophersen, „Fichte- und Schellingrenaissance“, die in ihrem Artikel Tillichs frühe Prägung durch Medicus aufarbeiten. Vgl. ferner zu Medicus und Tillich: G. Neugebauer, „Freiheit als philosophisches Prinzip. Die Fichte-Interpretation des frühen Tillich.“, in: Stolzenberg/Rudolph (Hg.), Wissen, Freiheit, Geschichte, 181–198.  Hermann Lübbe, „Neufichteanismus“, RGG3 4 (1960) 1410–1411.  In Fichtes Religionsphilosophie stehen Tillich neben Fichtes Erstlingswerk Versuch einer Kritik aller Offenbarung auch Die Anweisung zum seligen Leben oder auch die Religionslehre und sämtliche Hauptwerke Fichtes vor Augen. Er zeigt überdies Kenntnis vieler kleinerer Abhandlungen des Philosophen (vgl. Fichtes Religionsphilosophie, 7–9). Die Anweisung zum seligen Leben stellt die einzige ausgearbeitete Religionsphilosophie im Werk Fichtes dar.  Vgl. die Anmerkungen zur Textgeschichte der Seminararbeit von Gert Hummel und Doris Lax: Fichtes Religionsphilosophie, 1–3; G. Neugebauer, Christologie, 148.  Zwei Jahre später widmete Tillich zudem die obligatorische Ausarbeitung im Fach Neues Testament im ersten Examen der johanneischen Theologie. Die Arbeit mit dem Titel Die Stellung des Logosbegriffs im Johannesevangelium ist leider bislang nicht auffindbar: vgl. die Anmerkungen zur Textgeschichte von Gert Hummel und Doris Lax: Monismusarbeit, 20–23, 20, dass er an der

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in einer deutlich essayistischen Form verfasst. Inhaltlich versucht Tillich die fundierende Beziehung von Theorie und Praxis am Vergleich von Fichte und Johannes zu zeigen. Dazu geht er von der grundlegenden Prämisse aus, dass es sich bei „Wahrheit“ und „Liebe“34 um die Grundbegriffe des Johannesevangeliums handelt. Der Aufsatz wurde bisher wenig beachtet und in der Tillich-Literatur eher am Rande angeführt, um bestimmte Themen oder Begriffe bereits für die frühe Zeit zu belegen.35 Für Tillich besteht der Sinn des Vergleichs zweier derart weit auseinanderliegender Figuren der Geistesgeschichte – dem Verfasser des vierten Evangeliums und dem Begründer des sogenannten deutschen Idealismus36 – darin, das Verhältnis von Wahrheit als intellektuelle und Liebe als voluntative Seite des menschlichen Geistes darzustellen. Nachfolgend interessieren hier drei Gesichtspunkte: zunächst (1) Tillichs früher Zugang zur Unterscheidung von Intellektualismus und Voluntarismus, sodann (2) der genannte Konnex von Liebe und Wahrheit und damit Tillichs Lesart des johanneischen Liebesbegriffs und schließlich (3) die daraus resultierenden religiös-sittlichen Konsequenzen im letzten Abschnitt der Seminararbeit.37 (1) Zunächst lässt sich einleitend ein Hauptmotiv der Arbeit, zugleich aber der Frühzeit im Ganzen, hervorheben. Das konstitutive Ineinander von theoretischer

neutestamentlichen Arbeit zum Logosbegriff bei Johannes arbeite und darin den Neutestamentler Heinrich Holtzmann mit seinem Lehrer Lütgert zu vergleichen suche: „Nun habe ich schon 14 Tage meine Arbeiten und fühle mich noch sehr rückständig. Die erste ist in der Tat umfassend, nämlich eine ganze johanneische Theologie. Nach einer Übersicht über die historische Situation der Debatte suche ich zu zeigen, daß der Logosbegriff kein ‚theo‘logischer, sondern ein christologischer ist, um dann in der Christologie eine Synthese zwischen Holtzmann und Schmuhl [=Lütgert] durchzuführen. Ich [...] merke, daß ich vom apostolischen Zeitalter und Neuen Testament noch rein gar nichts kapiert habe.“ (Tillich an Friedrich Büchsel [August 1908], 25).  Vgl. Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 11.  Eine Ausnahme stellt G. Neugebauer: Freiheit (2006), 185–188, dar, der den Text gemeinsam mit Tillichs Breslauer Promotionsvortrag von 1910, Freiheit als philosophisches Prinzip bei Fichte, in: Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908–1933), erster Teil, Bd. X, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Erdmann Sturm, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1999, 55–52, interpretiert; vgl. ferner Danz, „Freiheit“, 224 f. Björn Pecina, Fichtes Gott Vom Sinn der Freiheit zur Liebe des Seins (Tübingen: Mohr Siebeck, 2007), 8 f, nimmt Tillichs Seminararbeit in seinen Forschungsbericht zur Religionsphilosophie Fichtes auf.  U. Barth, „Reflexion“, 310, lässt die Denkrichtung des deutschen Idealismus mit Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre 1794/95 beginnen, weil hier der Übergang vom transzendentalen Idealismus zur Philosophie „der absoluten Reflexion“ gegeben sei.  Die Charakteristika von Tillichs Fichte-Bild in der Seminararbeit stellt G. Neugebauer, „Freiheit“, 185–188, in den Mittelpunkt.

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und praktischer Seite des Menschseins wird instruktiv an den ersten Zeilen der Seminararbeit sichtbar. Als ein zwiefaches stellt sich das menschliche Geistesleben dar, als Denken und Wollen. Nur selten wird das Ideal einer völligen Gleichheit beider erreicht: Im allgemeinen nimmt eine Seite eine mehr oder weniger beherrschende Stellung ein. [...] Ihren stärksten Ausdruck findet diese Tatsache in der Verschiedenheit des religiösen Bewußtseins, dieser zentralsten, alles beherrschenden Äußerung des Geistes.38

Nicht ohne Selbstbewusstsein setzt der Theologiestudent hier die „Tatsache“ zweier Ausprägungen des menschlichen Geistes als theoretisches (Denken) und (Wollen) praktisches Vermögen voraus. Des Weiteren gibt er einen ersten Fingerzeig auf die Zentralstellung der Religion, welche im Menschen darüber entscheide, ob er oder sie sich stärker dem Denken oder dem Wollen zuneige. Um diese Struktur näher zu erläutern, führt Tillich in der Seminararbeit zu Fichte zunächst die Reihung fort. Aus der Unterscheidung zwischen Denken und Wollen und der fundierenden Stellung des religiösen Bewusstseins leitet er die Differenz von Voluntarismus und Intellektualismus ab.39 An dieser Stelle muss mit Bezug auf die eingangs beschriebene Dreiteilung – Theorie als Bereich des Denkens, Wollen als Bereich des Praktischen und Fühlen als Bereich des Emotiven/Ästhetischen – Folgendes erklärt werden: Die Einordnung des praktischen Vermögens in den klassisch so genannten Bereich des „Wollens“ mutet zunächst etwas schief an. Denn ein Wollen oder ein Wille stellen für sich genommen noch keine Praxis dar. Zunächst könnte man schließen, dass Tillich bei dem voluntativen Moment ebenfalls ein Denken im Blick hat, das sich noch nicht auf einer reflexiven Ebene vollzieht. So scheinen sich Wollen und Praxis derart zu unterscheiden, dass ich etwas wollen kann, ohne daraus eine Handlung abzuleiten. Reflexives Denken (Theorie) unterscheidet sich sodann vom Wollen, indem ich im Wollen gleichsam „planlos“ oder eben nicht reflexiv etwas will. Insoweit ließe sich das Wollen auch als intuitives40 Denken beschreiben, das etwas verlangt, sich aber nicht selbst und rückbezüglich zum Thema macht. So ließen sich das Wollen und das Denken im reflexiven Sinn möglicherweise als zwei Modi des Denkens beschreiben, sodass mit dem Wollen nicht exakt die Praxis in Abgrenzung zur Theorie bezeichnet sein könnte. Konkret wäre zum Beispiel die Frage zu stellen, ob das Verlangen nach Nahrung bei einem Kleinkind

 Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 4.  Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 4.  Zum Terminus Intuition bei Tillich siehe unten: Teil 1: B.2.2.

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eine Praxis darstellt oder nicht vielmehr nur ein wollendes Denken. Ein weiterer denkbarer Bezugspunkt ließe sich über die Bedeutung des „Wollens“ beziehungsweise des „Willens“ im Denken Immanuel Kants und besonders Fichtes herausstellen. Allerdings tritt hier das Problem zutage, dass Tillich sich an dieser Stelle gerade von den Ansätzen Kants und Fichtes abgrenzen will, indem er beide deutlich zu ethischen Intellektualisten deklariert.41 Diese Anfragen werden erst unten und im Zuge des dritten Aspekts beantwortet werden können.42 Kehrt man von diesen Anfragen aus zum Text zurück, dann lässt sich, so Tillich weiter, das Übergewicht des einen oder anderen Moments an der Beschaffenheit der Religiosität ablesen: Auf der einen Seite konzipiere ich als Voluntaristin oder Voluntarist ein Gottesbild, in dem ich zu „Gott“ in ein „persönliches, religiöses Verhältnis trete“ und ihn als „liebend“43 und in die Geschichte eingreifend verstehe. Auf der anderen Seite ist Gott intellektualistisch allein als das Absolute denkbar, zu welchem ich kein direktes, wollendes Verhältnis haben kann, sondern der mir als „ewige Idee“ gegenübersteht, zu der ich nur einen „absolute[n]“, „vernichtende[n]“44 Bezug haben kann. In der weiteren Ausführung treibt Tillich die beiden Idealtypen bis zur Differenz von jüdischer und griechischer Religion. Das Christentum schließlich stellt sich in Tillichs Argumentation als Synthese beider Formen heraus und vereinigt die Elemente des Denkens und Wollens in einer neuen (höchsten) Religionsform. Diese Synthese aus dem stärker voluntativen mit dem stärker kognitiven Element tritt im Christentum geschichtlich zwar in singulärer Form zutage. Dadurch wird die Spannung beider Elemente, so Tillichs Annahme, jedoch nicht aufgehoben.45 Das christliche Leben verläuft in Tillichs Sicht grundsätzlich in der Spannung zwischen Wahrheit und Gnade – hier synonym zur Liebe46 – und verbindet somit die Grundelemente von Denken und Wollen. Aber es hebt darum das Alte, soweit es gut war, nicht auf, sondern gibt ihm eine neue Bedeutung und höhere Einheit. Gott offenbart sich in Christo als ein Gott der Gnade und Wahrheit. Natürlich ist der Gegensatz damit, daß er im Prinzip aufgehoben ist, nicht in Wirklichkeit verschwunden, und die vollkommene Harmonie ist ein Ideal.47

      

Vgl. Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 5 f. Siehe unten: Absatz (3) in diesem Abschnitt. Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 4. Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 4. Vgl. Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 5. Vgl. Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 11. Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 5.

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A Werk- und bildungsbiographische Hinführung (1906–1912)

Während sich das humane Geistesleben ständig in Widersprüchen vollzieht, weil die Einheit von Wahrheit und Liebe im Menschen auseinandertritt, bilden beide allein in Gott eine Einheit. Es soll an dieser Stelle ein kurzer Einschub zum werkgenetischen Bezug dieses „Ideal“-Motivs im Entwurf von 1913 eingefügt werden. Die Gesamtanlage und die Überlegenheit, die Tillich Johannes gegenüber Fichte in der Seminararbeit zuspricht, zeigen eindeutig, dass er mit dem Ideal einen Zustand im Blick hat, der im Christentum antizipiert wird, nicht aber vom Menschen erreicht werden kann. Theologisch gesagt, wäre es ein eschatologischer Zustand beziehungsweise ein Zustand der „Vollendung“48. Damit ist ein zentraler Aspekt im Aufbau der Systematischen Theologie von 1913 vorweggenommen.49 Dort entwirft Tillich zum ersten Mal sein Konzept des „Theologischen Prinzips“. Dieses steht kurz gesagt für den theologischen Standpunkt des Christentums und besteht aus einem abstrakten Moment – der Rechtfertigung –, einem konkreten Moment – dem Schriftprinzip – und einem idealen beziehungsweise eschatologischen Moment. Als abstrakt bezeichnet Tillich die Rechtfertigung, weil sie für ihn ein universales Prinzip darstellt, welches die Hinwendung Gottes zur Welt und zum einzelnen Menschen bedeutet. Als konkret bestimmt er wiederum die Frage nach Bedeutung der Schrift, da jene Hinwendung durch die Menschwerdung Jesu in die Welt geschichtlich, mithin konkret wird.50 Das vollendete Moment steht dafür, einen Zustand abzubilden, der nur in der Vollendung verwirklicht ist, vom Menschen jedoch nicht durch Vernunft oder Praxis erreichbar ist.51 Dieser Zustand ist als Vollendung letztlich derjenige, welcher im Christentum unter dem Symbol des Gottesreiches gefasst wird: die vollkommene Einheit des Menschen mit Gott. In der Sprache der Seminararbeit also die Einheit von Wahrheit und Liebe, in der der Mensch zu seiner Begründung in Gott vollständig zurückgekehrt ist. Der Moment ist also in sich bereits rechtfertigungstheologisch begründet. Die Relevanz der ersten Dokumente mit Blick auf Tillichs Entwicklung wird durch dieses Beispiel nochmals exemplarisch erhärtet. Für die Ethik, so führt Tillich in der Seminararbeit weiter aus, äußert sich dieser fundamentale Gegensatz ebenfalls in zwei vorherrschenden Ausprägungen. So handelt wiederum der voluntaristisch ausgerichtete Mensch aus Gottesfurcht und „Liebe“52 sittlich; der intellektualistisch ausgerichtete aus der eigenen

    

Tillich, Systematische Theologie 1913, 327 Anm. 133. Vgl. dazu unten: Teil 1: B.3.4. Siehe dazu unten: Teil 1: B.4. Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 317–327. Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 327 f. Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 4.

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Reflexion heraus.53 An diesem Punkt wird Tillichs Intention sichtbar, die Unterscheidung von Intellektualismus und Voluntarismus unmittelbar an Grundlegungsfragen der Ethik und namentlich an Fichtes Denken zu erörtern. Bedeutsam wird die Fichte-Arbeit im ersten Abschnitt bereits durch die werkgeschichtlich erstmalige Gegenüberstellung von „Theonomie“ und „Autonomie“54. Dass beide Begriffe von Tillich in den kommenden Texten dann mit der „Heteronomie“ verbunden und zu einem konstanten Dreischritt konzipiert werden, ist hier also angelegt, aber systematisch noch nicht zentral.55 Wichtig ist vielmehr zu sehen, dass Fichte und Kant von Tillich als paradigmatische Vertreter eines Intellektualismus dargestellt werden. Darüber hinaus macht er dies unmittelbar an dem „Gottesgedanken“ und nicht etwa an dem Vergleich ethischer Grundmodelle – wie Tugendoder Güterethik und bezüglich beider Denker Pflichtethik – fest. Nun gilt von der Kant’schen Philosophie, [...] was über die intellektualistische und moralistische Auffassung des Gottesgedankens gesagt ist. Die Religion ist nach ihm eine rein subjektiv begründete Konsequenz des Sittengesetzes. Es bleibt der Willkür des einzelnen überlassen, ob er seine Pflichterfüllung unter den Gesichtspunkt der Autonomie oder der Theonomie stellen will.56

Damit ist für Tillich Kants Religionsauffassung also negativ konnotiert, weil darin die Religion scheinbar nur als Stütze der humanen Sittlichkeit fungiert. Tillich spielt auf Kants Verhältnisbestimmung von Religion und Sittlichkeit in dessen Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft an. Kant zeigt dort, dass seiner Ansicht nach die Moral allein von der Vernunft erkannt werden kann. Das Sittengesetz beziehungsweise die Anwendung des Kategorischen Imperativs57 beruhten nicht auf einer höheren moralischen „Triebfeder als des Gesetzes selbst“58.

 Vgl. Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 4.  Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 5.  Siehe dazu unten: Teil 1: A.3.  Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 5.  Die Wendungen „Sittengesetz“, „Moralisches Gesetz“ und „Kategorischer Imperativ“ werden von Kant in weiten Teilen synonym verwendet. Vgl. Dieter Schönecker: „Kategorischer Imperativ“ in: Marcus Willaschek u. a. (Hg), Kant-Lexikon, Bd. 2 (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2015), 1152–1159, 1152 f. In der klassischen Formulierung: ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders., Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 1, Bd. 7, Theorie-Werkausgabe (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1956), 11–102, 51: „Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Im Original teilweise gesperrt.  Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft in: ders., Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 2, Bd. 8, Theorie-Werkausgabe (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1956), 649–879, 649.

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Für den Zusammenhang dieser Untersuchung stellt Tillichs frühe Erwähnung von „Autonomie“ und „Theonomie“ eine Schlüsselstelle dar. Denn damit gibt Tillich erstmals den Blick für seine Beschäftigung mit den Fragen nach der Begründung des sittlichen Handelns frei. Das Grundproblem von „Theonomie“ und „Autonomie“, welches hier anklingt, lautet vereinfacht: Sehe ich mein Handeln fundiert in einem letzten (absoluten) Bezug oder denke ich es vollständig von meiner individuellen Selbstbestimmung aus? Dieser Grundfrage der praktischen Vernunft wird ausführlich in der theologischen Ethik der Systematischen Theologie von 1913 aufgenommen und entsprechend an dortiger Stelle analysiert.59 Hier genügt der Hinweis, dass Tillich erste Gedanken dazu bereits in der Fichte-Arbeit 1906 formuliert. Tillich sieht nun bei Fichte eine Entwicklung über Kant hinaus, die er im ersten Abschnitt an drei Werkperioden in Fichtes Schriften aufzeigt. Fichte habe zunächst mit der Kritik aller Offenbarung der Religion eine anders gelagerte Bedeutung zukommen lassen.60 Im Gegenüber zu Kant betone Fichte, dass das Sittengesetz nicht vollständig subjektiv begründet sei, sondern von Gott gesetzt sei. Damit bilde die Übertretung des Sittengesetzes also eine Verletzung nicht nur meiner eigenen Achtung mir gegenüber. So sei es bei Kant der Fall, weil ja das Sittengesetz hier allein in meiner Vernunft begründet liege. Vielmehr würde ich in der Übertretung zugleich Gott die Achtung versagen.61 Doch sieht Tillich hierin keinen wirklichen Fortschritt, da es sich einerseits lediglich um ein Werturteil handle, andererseits der „Gehorsam gegen Gott ja wieder selbst ein Stück des von mir abhängigen Sittengesetzes ist.“62 Zudem sieht Tillich in Fichtes zweiter Periode einen markanten Schritt im Verhältnis von Religion und Moral.63 Fichte sei hier zur Einsicht gekommen, dass „Religion und Moral“ letztendlich „dasselbe“ seien und dadurch der „Kant’sche Subjektivismus“64 überwunden sei. Die Gleichsetzung von Moral und Religion leitet Tillich von Fichtes Behauptung ab, jedes sittliche Tun sei sinnlos, sofern es nicht von der Möglichkeit des Erfolgs ausgehe. Dazu müsse es in Fichtes Sicht jedoch eine höhere Ordnung der Moral geben, die jenen Erfolg ermöglicht.65

 Siehe unten: Teil 1: B.4.2.1.  Vgl. Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 6.  Vgl. Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 6.  Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 6.  Hier hat Tillich Fichtes Werke Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), Grundlage des Naturrechts nach den Principien der Wissenschaftslehre (1796) und Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre (1798) im Blick (vgl. Fichtes Religionsphilosophie, 7).  Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 7.  Vgl. Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 7.

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Während der zweite Schritt Religion und Moral auf eine Ebene hebt, durchläuft Fichte in der Sicht Tillichs insbesondere mit seiner einzigen Religionsschrift Die Anweisung zum seligen Leben oder auch die Religionslehre von 1806 schließlich eine dritte Phase. Indem er sich erstmals explizit mit dem Christentum als positiver Religion befasse, stelle sich Fichte hier nicht mehr nur die Frage danach, wie der Mensch zu Gotte gelange.66 Damit ist gesagt, dass es Fichte in der Anweisung nicht mehr allein um die abstrakte Frage nach dem vernünftigen Zugang des Menschen zum Gottesgedanken und der Sittlichkeit in ihrer valenten Verbindung mit der Religion geht. Sondern hier stelle sich letztlich andersherum die Frage danach, wie Gott sich zum Menschen hinwendet.67 Um die Frage nach der positiven Religion zu beantworten, nimmt er zwei Einschränkungen vor. Erst werden sämtliche anderen Religionen dem Christentume gegenüber negiert, dann sämtliche übrigen Auffassungen des Christentums gegenüber der des Johannesevangeliums.68

Aus dieser Perspektive allein können das Evangelium und der Idealist verglichen werden.69 Das ist insofern bedeutsam für Tillichs Zugang, als die Frage nach der „Absolutheit des Christentums“70 und der Möglichkeit einer entsprechenden Begründung zu den zeitgenössisch behandelten Grundproblemen der Theologie gehört, auf die auch Tillich zu dieser Zeit systematisch reagieren möchte. Insbesondere die Schelling-Arbeiten sind Reaktionen auf diese Debatten.71 Schaut man auf den Beginn der Schrift zurück und auf das Fazit hinaus, so stimmt Tillich Fichte bezüglich der Absolutheit des Christentums unumwunden zu. Einerseits ist es die Synthese der vorangegangenen Religionen, die der Mensch vollständig und in seinen theoretischen, praktischen wie emotiven Vollzügen einnimmt und so als etwas geschichtlich völlig Neues dasteht. Zum andern basiert diese Synthese auf dem Gottesgedanken, der im

 Vgl. Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 8.  Vgl. Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 8.  Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 8.  Vgl. Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 9.  Vgl. zu dieser Wendung Ernst Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912), mit Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen, Bd. 5, Kritische Gesamtausgabe, hg von Trutz Rendtorff/Stefan Pautler (Berlin: Walter de Gruyter, 1998).  G. Neugebauer, Christologie, 159 f., hat gezeigt, dass Tillich in der Einleitung und in einem nicht publizierten Entwurf zur Breslauer Promotion von 1910 eindeutig auf die Debatten zum Problem einer „Absolutheit des Christentums“, daher also namentlich auf Ernst Troeltsch verweist. Wie etliche Theologen seiner Generation wird Tillich mit „einer gesamtgesellschaftlichen Orientierungskrise“ konfrontiert, die, wie Christian Danz, „Das Absolute als Synthesis. Beobachtungen zu Paul Tillichs Rezeption von Schellings Freiheitsschrift“, in, Gunther Wenz (Hg.), Das Böse und sein Grund, 85–107, bemerkt, von „Troeltsch auf den Begriff der ‚Krisis des Historismus‘“ (103), gebracht worden war.

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A Werk- und bildungsbiographische Hinführung (1906–1912)

Christentum den Unterschied zwischen intellektualistischer und religiöser Weltanschauung ausmacht. Letztere bezieht für Tillich das intellektuelle Vermögen mit ein und überführt die einseitige in eine ganzheitliche Weltanschauung. Und zwar ist das im eigentlichen und höchsten Sinne nur im Christentum der Fall, in dem Gott alles vom Menschen fordert, sein Denken, Fühlen und Wollen, um es ihm gereinigt wiederzugeben72.

Verständlich ist dies allein durch eine „persönliche“ und „lebendige“73 Gottesvorstellung. Damit ist die christologische Vertiefung bereits benannt und wird unten im Zuge des zweiten Aspekts sogleich fortgeführt. Zuvor bleibt bis hierher in Bezug auf die Ethik festzuhalten, dass sowohl Kant als auch Fichte für Tillich als Vertreter einer einseitig intellektualistischen Religionsauffassung gelten, wenngleich er Fichtes Religionsauffassung dennoch eine hohe Wertschätzung entgegenbringt. Darüber hinaus ist es von zentraler Bedeutung, dass Tillich die Differenz von Johannes und Fichte unmittelbar am Gottesund Religionsverständnis aufzeigt. „Tillichs Fazit aber“, so merkt Björn Pecina zu Recht an, „geht letztlich darauf hinaus, Fichte theologisierend als den Vertreter einer ‚intellektualistische[n] Weltanschauung‘ dem Evangelisten, als einem Vertreter der wahren Religion, [...] gegenüberzustellen“74. So wird Fichte an der johanneischen Theologie gemessen. Ungeachtet der Bewertung einer Plausibilität des Vergleichs im Allgemeinen ist damit eindeutig der Stellenwert der Religion als Grundlage des menschlichen Denkens und Handelns für Tillich gezeigt. (2) Sodann kommt Tillich auf der Basis der vorigen Überlegungen zur Erörterung des johanneischen Liebesbegriffs. Damit ist das Zentrum des Textes benannt. Der Liebesbegriff hat seine Grundlage in der Einheit mit der Wahrheit, die allein in der Offenbarung der „ganzen Fülle in Jesu Christo“75 theologisch denkbar ist. Mit der Verbindung der drei Aspekte ‚Liebe‘, ‚Wahrheit‘ und ‚Christus‘ wird der Blick frei für ein weiteres Hauptmotiv des frühen Tillich. Im Hintergrund des ganzen Aufsatzes lässt sich die idealistische Denkfigur von „Identität – Trennung – Wiedervereinigung“76 erkennen. Wie Matthias Neugebauer angedeutet hat, arbeitet der frühe Tillich grundsätzlich und sehr konstant mit dieser dreifachen Struktur.

 Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 18. Vgl. G. Neugebauer, „Freiheit“, 185 f.  Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 9.  Björn Pecina, Fichtes Gott. Vom Sinn der Freiheit zur Liebe des Seins (Tübingen: Mohr Siebeck, 2007), 9.  Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 11.  M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 107 Anm. 3. Dieser Aspekt wird im Anschluss an die bisherige Forschung aufgenommen, ohne dabei einen eigenen Beitrag zur Interpretation zu behaupten. Allerdings ist dieses Motiv für Tillichs frühes Denken derart zentral, dass es in der Folge

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Insbesondere die zweite Schelling-Arbeit führt diese Denkfigur dann breiter aus, wobei sie genauso für die Systematische Theologie von 1913 grundlegend bleibt.77 Im Zusammenhang dieser Arbeit genügt es, diese Struktur direkt auf das Verhältnis von Wahrheit und Liebe zu beziehen. Im Glauben an Jesus Christus können Menschen an dieser idealen Balance von Wahrheit und Liebe teilnehmen und von der Wahrheit entfremdete Liebe sowie von der Liebe distanzierte Wahrheit wieder zur Lebenseinheit bringen. Das ist exakt die Struktur der christlichen Nächstenliebe.78

Sofern Tillich also in einem Dreierschema denkt, rekurriert er implizit auf die einleitende Darstellung des Christentums als Synthese und den ganzen Menschen – denkend, fühlend und wollend – einnehmende, höchste Form der Religion. Es entspricht Tillichs dargestellter Kritik an einer intellektualistischen Auffassung der Religion, wenn er zunächst lapidar feststellt, dass bei Fichte allein die Wahrheit das „göttliche Leben“79 ausmacht, wohingegen das johanneische Gottesbild für Tillich gerade durch das konstitutive Ineinander von Wahrheit und Liebe gekennzeichnet ist. Indem die Einheit von Wahrheit und Liebe christologisch fundiert wird, grenzt Tillich sich nochmals explizit von einer Einseitigkeit der intellektuellen Seite der Religion ab. Konkret gesagt, lässt sich folglich die Struktur von Einheit – Differenz – Wiedervereinigung auf die Begriffe Wahrheit – Liebe – Christus übertragen. Nimmt man die oben gezeigte Struktur des theologischen Prinzips hinzu, bedeutet dies: In Christus wird die vollendete Einheit von Wahrheit und Liebe für den Menschen erkennbar abgebildet (vgl. Joh 1,14.16–17, dort anhand der Begriffe Wahrheit und Gnade). In der Offenbarung Gottes in Christus fallen für Tillich beide Momente zusammen. Die Wahrheit begegnet in der Metapher des Lichts und die Liebe in Form der Gnade, wobei eben in dieser religiösen Form – entgegen der intellektualistischen – beide als die „konstituierenden“80 Aspekte des Göttlichen vereint werden. Näher kann diese Synthese aus Liebe und Wahrheit ethisch erklärt werden im Begriff des Guten. Denn die „Bestimmung“ jenes offenbarten, „göttlichen Lebens“ im johanneischen Sinne ist nach Tillich ein „absolutes Erfassen seines eigenen Inhalts, des Guten“, und indem der Inhalt das „Gute“ ist, ist der Wahrheitsgedanke „ethisch nu-

regelmäßig wiederauftauchen wird. Deshalb wird es hier eingefügt, um es für die weitere Analyse vor Augen zu haben.  Vgl. M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 107 f. Zum Prinzip von Identität und Widerspruch vgl. G. Neugebauer, Christologie.  M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 107.  Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 16.  Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 11.

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A Werk- und bildungsbiographische Hinführung (1906–1912)

anciert“81. Was Tillich hier als göttliches Leben umschreibt, bedeutet also die Einheit von Wahrheit und Liebe, die ethisch bestimmt als das „Gute“ zum Ausdruck kommt. Anders gewendet: Die „Liebe ist das Gute“82 und wird als solches in der Wahrheit erfasst. Voraussetzung dafür ist jedoch die Abgrenzung von einer intellektualistischen Auffassung der Religion, wie sie Fichte für Tillich repräsentiert. Johannes hingegen steht in Tillichs Deutung für das Paradebeispiel einer Religionsbestimmung, die Denken und Wollen als konstitutive Momente im Menschen vereint. (3) Zuletzt gelangt Tillich knapp zur abschließenden Frage nach den „religiössittlichen“ Konsequenzen. Hier fasst er den zuvor benannten Dreischritt aus Wahrheit, Liebe und ihrer Einheit in Christus nochmals ethisch zugespitzt zusammen. Weder ist die Wahrheit nur intellektualistisch, noch die Liebe ein bloßes Gefühl, sondern beide sind gegeben in dem sittlichen Willen, der Christus bejaht und annimmt. Diese Bejahung Christi ist der Glaube. Das Wesen des Glaubens ist Lebensgemeinschaft mit Christo, Anteil an seiner Wahrheit und seiner Liebe.83

Damit erschließt sich als zentraler Gedanke, dass es sich bei dem „sittlichen Willen“ um die Nächstenliebe handelt.84 Denn insoweit das Verhältnis von intellektueller und voluntativer Seite austariert wird, ergibt sich die Möglichkeit wechselseitiger Handlung zwischen Personen aus Liebe. In der Folge grenzt sich Tillich mit Johannes wiederum kleinschrittig von Fichte ab. Spürt man allein Tillichs Ethik-Ansatz im johanneischen Liebesgriff nach, dann vollzieht er mit der Betonung der „individuellen Persönlichkeit“85 einen weiteren wichtigen Schritt in der Ethik-Entwicklung. Denn so wie die Wahrheit nicht allein als reflexive Verstandesleistung, sondern als Teil der Offenbarung angenommen wird, ist auch die Liebe „Gabe“, in der Tillich den unbedingten Willen Gottes erkennt, der „uns als Persönlichkeiten um unseretwillen liebt“ und „eine Fortdauer unser[er] individuellen Persönlichkeit, nicht ihre Aufhebung [will]. Voraussetzung dafür ist [sic!] Auferstehung und Unsterblichkeit“86. Den Gipfel der johanneischen Ethik erblickt Tillich schließlich in dem Gedanken einer ewigen Seligkeit, die er ein weiteres Mal mit der oben angesprochenen

 Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 11.  So der pointierte Titel der Dissertation von Johannes Zeisset zur Ethik Wilhelm Lütgerts, die wesentlich aus dessen Johannesstudien entwickelt wird: Die Liebe ist das Gute. Eine Untersuchung der Grundlagen und Grundlegung christlicher Ethik bei Wilhelm Lütgert (Hamburg: Dr. Kovac, 2019).  Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 16.  Vgl. M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“.  Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 17.  Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 17.

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Spannung umschreibt. Denn die Seligkeit wird in seinen Augen vor „eudämonistischer Verunstaltung“87 bewahrt, indem im „Schauen Gottes bestehend gedacht wird“.88 „Bestehend“ zielt auf jene Spannung: Was als Seligkeit bestimmt ist, wird antizipiert, aber nicht als etwas gedacht, das durch Reflexion oder Praxis vollständig umgesetzt werden kann. Das oben erwähnte, rechtfertigungstheologische Motiv des idealen Moments taucht also hier wiederum auf. Ethisch gewendet besagt es nichts anderes als die Entlastung von einer völligen Selbstbegründung oder Perfektion – in Theorie oder Praxis –, die theologisch nur im Ewigen ihren Ort hat.89 Mit dem Schutz vor einem ethischen Eudämonismus – so lässt sich deuten – möchte Tillich ebenjene Alternative vermeiden, in der der Mensch versucht, das höchste Gut als alleiniges Resultat eigener Leistung zu verwirklichen. Zudem kann nun die obige Frage nach dem spezifischen Charakter des „Wollens“ wieder aufgegriffen und beantwortet werden. Zieht man nämlich Tillichs Fazit heran, dann deutet dies einerseits genau auf die vermutete Unterscheidung von Denken und Wollen als theoretische Modi hin. Andererseits bringt er das „Wollen“ zugleich deutlich als „Wille“ zum Ausdruck, das „Ideal der Sittlichkeit aus eigener Kraft zu erreichen.“90 Hierdurch erhält das Wollen also gleichzeitig doch stark den Charakter praktischen Handelns. Zugleich ist festzuhalten, dass der Begriff der „Sittlichkeit“ noch nicht zwingend auf konkrete Handlung zielen muss. Tillich versteht an dieser Stelle – und aufgrund seiner idealistischen Prägung insgesamt – unter Sittlichkeit hier eventuell mit Fichte stärker die Selbstbestimmung des Individuums. Schließlich betont Tillich zum Ende nochmals, dass es gerade das religiöse Bewusstsein im christlichen Verständnis ausmache, das intellektuelle mit dem voluntativen Element zu vereinen und nicht beide gegeneinander auszuspielen, wie es exemplarisch Kant und Fichte für Tillich tun.91 Die bemerkte Einheit, die im Christentum alles – das Denken, Fühlen und Wollen – des Menschen verbindet, muss demnach die tatsächliche Praxis notwendig einschließen. Dennoch bleibt damit die vermutete Schieflage bestehen, sodass bis hierher für Tillich das genaue Verhältnis von Theorie und Praxis noch nicht vollständig geklärt zu sein scheint. Als zentrales Moment der Theoriebildung lässt sich gleichwohl festhalten, dass bereits der junge Tillich die theoretischen wie praktischen Seiten des Menschlichen als gleichwertig erachtet und im Christentum beides im Gleichgewicht repräsentiert sieht.

 Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 17.  Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 17.  Insbesondere diese Motivik wird an mehreren Schaltstellen der Systematischen Theologie 1913 wiederkehren. Siehe unten: Teil 1: B.  Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 18.  Vgl. Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 18.

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A Werk- und bildungsbiographische Hinführung (1906–1912)

Mit dem Liebesbegriff als ethischem Leitgedanken zu Beginn der Werkbiographie konnte in den vorangehenden Überlegungen eine erste Einstimmung in Tillichs religionsphilosophisches Bemühen gegeben werden. Hierbei konnte gezeigt werden, dass jenes Bemühen von Beginn und im Ansatz eine Untrennbarkeit von theoretischer und praktischer Vernunft voraussetzt. Zudem ist bis hierher bereits klar, dass Tillich diesen Ansatz aus seiner Auseinandersetzung mit dem Idealismus gewinnt. Darüber hinaus werden einige grundsätzliche Argumente in den Schriften wiederkehren. Insbesondere der Liebesbegriff selbst wird für die Ethik der Systematischen Theologie von 1913 maßgeblich sein. Genauso wird in der Begründung des Systems der vernunftkritische Zug wiederauftauchen, welcher in der Seminararbeit zu Fichte als Kritik des Intellektualismus angezeigt wurde. Hier kann noch nicht von einer ausgereiften Konzeption die Rede sein. Doch liegt der Gewinn schon allein darin, einen fixen Ausgangspunkt des ethischen Denkens vor Augen zu haben. Ein erster Versuch, der dagegen durchaus als erste systematische Ausarbeitung gelten kann, wird im Folgenden zur Sprache kommen.

3 Erste Systematisierung: Die Monismusarbeit von 1908 Das „Schreckgespenst des Examens“92 vor Augen, schrieb Tillich sich zum Wintersemester 1907/08 erneut an der Berliner Fakultät ein, um als gebürtiger Brandenburger sein Examen in der eigenen Landeskirche abzulegen.93 Sein Bemühen um eine religionsphilosophische Beschreibung der theoretischen, praktischen wie ästhetischen Vollzüge des Humanum wurde erstmalig in der zuvor erörterten Seminararbeit von 1906 greifbar. Merklich ausgearbeitet wird der Ansatz von Tillich in der Examensarbeit, die er 1908 unter dem Titel Welche Bedeutung hat der Gegensatz von monistischer und dualistischer Weltanschauung für die christliche Religion? vorlegte und die in diesem Abschnitt fokussiert wird. Wie eng die bildungsbiographischen Umstände mit dem denkerischen Weg zur eigenen Konzeption verwoben sind, zeigt sich schon in der Entstehung des Textes. Nimmt man die gleichzeitigen Korrespondenzen hinzu, lässt sich mit guten Gründen vermuten, dass Tillich weite Teile der Arbeit während eines Erholungsaufenthalts in Misdroy an der Ostsee verfasste, wo sich seine Familie mit Wilhelm Lütgert samt Frau und Tochter getroffen hatte.94 Von der Arbeit fertigte Tillich eine „Urfas-

 „Tillich an Alfred Fritz. Bericht über das Sommersemester (Sommer 1907)“, in: EN V, 40–43, 43.  Vgl. „Tillich an Thomas Mann (23.05.1943)“, 22.  Vgl. „Tillich an Alfred Fritz (Sommer 1907)“, in: Ein Lebensbild in Dokumenten. Briefe Tagebücher, Berichte, Bd. V, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Til-

3 Erste Systematisierung: Die Monismusarbeit von 1908

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sung“ und eine gekürzte „Schönschrift“95 an. Da es sich bei der Schönschrift um eine überarbeitete Version handelt und Tillich diese wohl seinem IdealismusMentor Fritz Medicus zur Durchsicht zusandte96, wird im Folgenden hauptsächlich letztere interpretiert. Durch den direkten Kontakt mit Lütgert in der Phase der Entstehung und die bedenkenswerten Randkommentare von Medicus wird also einmal mehr das einflussgebende Hallenser Duo greifbar. Die Monismus-Arbeit – so Tillich im Fazit97 – stellt eine erste Summe der Studienjahre dar. Ambitioniert berichtet er kurz vor Abfassung wiederum Büchsel, dass er in der Examensarbeit eine theologieund dogmengeschichtliche Durchsicht vorhabe, dann das Thema als Teil einer Idealismus-Renaissance darstellen und schließlich mit Medicus in die Debatte gehen wolle. „Ob die Berliner dafür reif sind“, so schließt Tillich, „ist mir egal.“98 Im Folgenden werden drei Aspekte herausgegriffen, um den Ansatz der Arbeit in den Blick zu bekommen und in die Entwicklung des ethischen Denkens einzuordnen. Zuerst (1) werden Aufbau, Ausgangspunkt und Fragestellung der Arbeit umrissen und werkbiographisch verortet. Anschließend werden (2) die grundsätzlichen ethischen Wendungen und Begriffe systematisiert. Ein besonderes Augenmerk wird von hier aus auf die „Rechtstheologie“ (3) gelegt, die als erster Beleg für Tillichs Prägung durch die idealistische Idee der Anerkennung gelten kann. Ziel dieses Unterkapitels ist es folglich, den ersten Beleg in Tillichs Werk herauszustellen, der auf eine frühe Beschäftigung mit Fragen nach der theologisch-ethischen Begründung wechselseitigen Handelns verweist. (1) Blickt man auf die Struktur der etwa fünfzigseitigen Abschlussarbeit, so erschließt Tillich sein Thema in zwei großen Teilen. Auf die geschichtliche Herleitung folgt der deutlich ausführlichere systematische Teil, der sich in drei Abschnitte gliedert. Deren Anordnung entspricht dem systematischen Interesse der Arbeit. In der Logik der Schrift entwickelt sich die Idee des Monismus in drei „Stufen“. Die Entwicklung vollzieht sich von einer „physisch-ontologischen“ über eine „geistig-

lich, hg. von Renate Albrecht und Margot Hahl (Stuttgart/Frankfurt a.M.: Evangelisches Verlagswerk, 1980), 40–43, 42.  Ausführlich interpretiert wurde die Schrift bislang von Bernet-Strahm, Vermittlung des Christlichen, 10–53 und in der neuesten Forschung von Heinemann Sinn – Geist – Symbol, 77–86.  Vgl. dazu die Anmerkungen zur Textgeschichte von Gert Hummel und Doris Lax: Monismusarbeit, 22.  Vgl. Monismusarbeit, 92. Der Übersicht halber wird die Examensarbeit im Folgenden als Monismusarbeit geführt.  „Tillich an Friedrich Büchsel (August 1908)“, in: Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische und politische Stellungnahmen und Gespräche, Bd. VI, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Renate Albrecht und René Trautmann (Frankfurt a.M.: Evangelisches Verlagswerk, 1983), 24–26, 26.

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telelogische“99 Stufe hin zur Synthese beider in der dezidiert religiösen und damit (!) höchsten Stufe, die repräsentiert wird in „der Person Jesu Christi“100. Sieht man einleitend nur auf diese Überschriften, zeigt sich somit zunächst der schon aus der Seminararbeit bekannte Dreischritt aus zwei Momenten, welche sich in einer Synthese zu einem dritten vereinen. Die Kennzeichnung der ersten Stufe als physische Stufe gibt einen ersten Fingerzeig auf Tillichs naturphilosophischen Zugriff der Frühzeit. Mit der Benennung der zweiten Stufe als „geistiger“ ist schon in der Überschrift ein Entwicklungsschritt markiert. Der Zugriff, der sich schon in der Anlage der Arbeit andeutet, wird noch klarer, wenn Tillich an späterer Stelle formuliert, dass die gesamte Arbeit von dem Problem getragen sei, wie das universelle und das individuelle Geistesleben im Verhältnis stehen: Es scheint, der Monismus hier seine pantheistische Tendenz darin zu zeigen, daß er den einzelnen aufgehen läßt in der Gesamtheit, während das Christentum ein Reich frei erschaffener, Gott ähnlicher Persönlichkeiten will. Es handelt sich um die Bestimmung des Freiheitsbegriffs, der ja nach Fichte einfach mit Geist oder Ich vertauscht werden kann. [...] Die individuelle Persönlichkeit stellt gewissermaßen einen Organismus dar, in dem die geistigen Werte zur Darstellung kommen; weil die Natur Grundlage, Stoff und Mittel der geistigen Betätigung bildet101.

Damit soll von vorne herein deutlich sein, dass Tillich in seinem Zugang durch den Idealismus insbesondere Fichtes zunächst den Menschen als freies, auf die Natur bezogenes und handelndes Wesen bestimmt und ihn mit dem Geist gleichsetzt.102 Als Höhepunkt der Entwicklung stellt die Arbeit einen idealistisch und christologisch begründeten Monismus heraus.103 Bevor dies verständlich werden kann, muss Tillichs grundsätzliches Bild von Monismus und Dualismus geklärt und der Ausgangspunkt der Studie skizziert werden. Ins Allgemeine gewendet versteht Tillich unter „Monismus“ „diejenige metaphysische Betrachtungsweise, die als letzten Erklärungsgrund der Wirklichkeit nur ein selbständiges Prinzip annimmt“, während der „Dualismus“ versucht, den „Gegensatz zweier großer Prinzipien metaphysisch zu hypostasieren.“104 Damit ist bereits deutlich, dass es sich aus der Sicht Tillichs bei beiden Zugängen zur

 Tillich, Monismusarbeit, 95.  Tillich, Monismusarbeit, 94–96.  Tillich, Monismusarbeit, 126.  Mit dieser Konturierung des Menschen als „Geist“ oder als „Freiheit“ im Verhältnis zur Natur nimmt Tillich hier schon eine Grundbestimmung der Anthropologie in der Systematischen Theologe 1913 vor. Im entsprechenden Kapitel wird dieser Aspekt vertieft: siehe Teil 1: B.2.2.  Vgl. Tillich, Monismusarbeit, 152 f.  Tillich, Monismusarbeit, 108.

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Wirklichkeit um metaphysische Verfahren handelt – es geht um eine Letztbegründung der Wirklichkeit mit den Mitteln des philosophisch-theologischen Denkens. Diese Aufgabe kommt der Metaphysik klassisch zu.105 Inwiefern es sich daher für Tillich bei der Metaphysik selbst bereits um Erkenntnistheorie handelt, wird deutlich, wenn man auf den inhaltlichen Einstieg blickt. Hier ist Tillichs Diagnose der geistigen Situation von Belang. So zeigt sich für ihn zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine sich bereits anbahnende Wiederbelebung des idealistischen Denkens. Diese Renaissance106 ist für Tillich die unvermeidliche Reaktion auf den „Materialismus“ als „Dogma der Naturwissenschaft“107. Die „Flucht“ vor dem Idealismus zeigt sich in Tillichs Urteil besonders repräsentiert durch die Neukantianer.108 Zugleich leitet er aus der nahenden Renaissance ebenso ein Wiederaufleben der spekulativen Theologie ab – derjenigen theologischen Richtung also, die sich explizit an den Idealismus angeschlossen hatte und durch „ihren Anschluß an jene [idealistischen] Systeme spekulativ genannt wird.“109 Für die zeitgenössische theologische Situation stellt für Tillich der „Ritschlianismus“ das Grundproblem dar. Hier ist es seiner Ansicht nach zu einer im Ansatz verkehrten Trennung zwischen Metaphysik und Theologie gekommen.110 Neben dieser „philosophischen“ gab die metaphysikkritische Theologie um 1900  Vgl. grundlegend Friedrich Hermanni, Metaphysik. Versuch über letzte Fragen, (Tübingen: Mohr Siebeck, 2017), 1–11.  Vgl. dazu Lübbe: „Neufichteanismus“; Medicus, „Neufichteanismus“.  Tillich, Monismusarbeit, 98.  Tillichs Hinweis an dieser Stelle, dass eine Hinwendung zu Fichte nötig sei (vgl. MonismusArbeit [1908], 98), stellt nochmals die zu dieser Zeit besonders hohe Bedeutung Fichtes für Tillich heraus. Es handelt sich – so Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 78 – hier zudem um eine Übernahme der Forderung Wilhelm Windelbands, die er in seiner Aufsatzsammlung Präludien (21903), IV, formulierte: „Kant verstehen, heißt über Kant hinausgehen“. Windelband wird von Tillich in der Frühzeit regelmäßig erwähnt und jene Präludien gehörten unter anderem auch zur Sekundärliteratur der Systematischen Theologie von 1913 (vgl. Systematische Theologie 1913, 433). Windelband gilt als Begründer des sogenannten „Badischen Neukantianismus“. Vgl. BernetStrahm, Vermittlung des Christlichen, 14.  Tillich, Monismusarbeit, 98. Unter „Spekulative[r] Theologie“ lassen sich insbesondere die Ansätze fassen, die – wie unter anderem Schleiermachers Theologie – im Umfeld des Idealismus entstanden sind. Vgl. dazu auch Tillich, Monismusarbeit, 107.  Bezogen auf das konkrete Thema der Arbeit bedeutet diese Trennung, dass es zu einer Diskussion über „Monismus“ oder „Dualismus“ überhaupt nicht kommen konnte, da es sich bei der Frage nach einem oder einem doppelten Prinzip der Wirklichkeit doch dezidiert um Metaphysik handeln würde. Dagegen gehöre bei Ritschl – und besonders seinem wohl berühmtesten Schüler Wilhelm Herrmann – die Grundfrage, ob von einem einzigen oder einem dualen Prinzip ausgegangen wird schlichtweg nicht in die Theologie. Die scharfe Kritik an einer Theologie, die Metaphysik als denkende Letztbegründung einschließt, war ein zentraler Bestandteil der Theologie im Anschluss an Albrecht Ritschl, insbesondere der Wilhelm Herrmanns, vgl. Jan Rohls, Protes-

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in Tillichs Sicht ebenso eine „religiöse“ Begründung der Metaphysikabwehr: Religion sollte – besonders bei Albrecht Ritschl und Wilhelm Herrmann – „ein rein persönliches Verhalten praktischer Art“111 sein. Hiermit spielt Tillich darauf an, dass insbesondere Ansätze wie die Ritschls und Herrmanns als dezidiert ethische Theologie zu verstehen seien. Dementsprechend liege der Fokus in jenen Ansätzen übermäßig auf der Ausbildung der „sittlichen Persönlichkeit“, die mit der Religion als Triebkraft schon im Ansatz verbunden sei.112 Insbesondere hieraus gehe dann bei Ritschl oder Herrmann die Abwehr der Metaphysik hervor: In ihrer Sicht versuche der Mensch mittels Metaphysik „nach physischen Kategorien, die Welt zu erklären“113. Das wiederum, entgegnet Tillich, kann nur dann gelten, wenn man von einer Philosophie ausgeht, die alles in „physischen“, nicht in „persönlichen Kategorien“114 erklärt. Die nachkantische, spekulative Theologie jedoch, der sich Tillich mit der Arbeit unmissverständlich zuordnet, orientiert sich in seinen Augen gerade an der Persönlichkeit und misst ihre Urteile daran, „was für ein Mensch jeder ist“115. Damit ist schon die grundlegende Bedeutung der „sittlichen Persönlichkeit“ signalisiert, die für Tillich in der Folge eine Zentralstellung einnimmt.116 Entsprechend der bildungsbiographischen Ausrichtung dieses Kapitels lässt sich Tillichs Zugang zur „sittlichen Persönlichkeit“ wiederum an seinem eigenen Bildungsweg verdeutlichen. Etwa vierzig Jahre nach Beginn seines Studiums wurde Tillich von Thomas Mann um eine Skizze zum typischen Aufbau eines Theologiestudiums zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebeten. Entsprechende Informationen verarbeitete Mann zur Schilderung der Umstände in seinem Doktor

tantische Theologie der Neuzeit, B. II: Das 20. Jahrhundert (Tübingen: Mohr Siebeck, 2019), 780–787 und Tillich, Monismusarbeit, 98.  Tillich, Monismusarbeit, 99.  Zur Kategorie der „sittlichen Persönlichkeit“ bei Albrecht Ritschl vgl. Scheliha, Vorsehung, 221–227. Vgl. einschlägig: Wilhelm Herrmann, Ethik (Tübingen: Mohr Siebeck, 51913), 9: „Unter der Sittlichkeit verstehen wir ein Verhalten, worin das menschliche Leben seine von der Natur gegebene Art überwindet und eine höhere Stufe erreicht“. Vgl. dazu Jan Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. I: Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert (Tübingen: Mohr Siebeck, 2019), 780 f.  Tillich, Monismusarbeit, 99.  Tillich, Monismusarbeit, 100.  So die ausführlichere Variante in der „Urfassung“: Tillich, Monismusarbeit, 29.  Die Wendung der „sittlichen Persönlichkeit“ wird im Folgenden regelmäßig als Leitbegriff wiederauftauchen und Tillichs Sicht darauf näher bestimmt.

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Faustus, wodurch beispielsweise Martin Kähler die „Vorlage für den wuchtigen Ehrenfried Kumpf [...] abgeben sollte“.117 Die Theologische Fakultät Halle war beim Beginn meines Studiums die bedeutendste nach Berlin, weit besser als das konfessionell gebundene Leipzig und in Konkurrenz nur mit dem liberalen Marburg. [...] Die sogenannte liberale Theologie hatte ihre stärksten Vertreter in Berlin und Marburg. Wilhelm Herrmann in Marburg war das persönliche Gegenstück zu Martin Kaehler in Halle. Er war weit mehr als Harnack und Troeltsch eine Persönlichkeit von sittlich-religiöser Wucht [...].118

Die vermeintlich fortschrittlich-liberale Theologie, die ihre Stärke in der Akzeptanz historisierender Forschung und dem Einklang mit der zeitgenössischen Kultur sah, verfalle doch, so Tillichs Problemanzeige, auf der Seite des Sittlichen einem liberalen Moralismus oder Humanismus.119 Ritschls Denken kann Tillich als „Escape-Theologie“120 kennzeichnen, in der die „sittliche Persönlichkeit“ eine „Festung“ gegenüber dem sonst überall siegreichen Naturalismus finden“121 soll. Er diagnostiziert auf die liberale Theologie bezogen, „daß sie in der Tat eine weitgehende Anpassung an die Ideale der bürgerlichen Gesellschaft war [und] vor allem das ethisch fundierte Persönlichkeitsideal [...] betonte.“122 Sofern Tillich im Verständnis der Religion als Stütze der Humanität eine Abwertung des Religiösen sieht, gehen aus seiner Sicht die genuin religiösen Erfahrungen verloren oder werden als rückständige Überbleibsel aufgegeben.123 Mit dem Konzept der „sittlichen Persönlichkeit“ wird er sich zeitlebens immer wieder kritisch befassen. An  Christoph Schwöbel, Die Religion des Zauberers. Theologisches in den großen Romanen Thomas Manns (Tübingen: Mohr Siebeck, 2008), 220. Zum Verhältnis zwischen Tillich und Mann siehe insgesamt: Schwöbel, Religion, 217–283; Jan Rohls, „Das Dämonische bei Paul Tillich und Thomas Mann“, in: Christian Danz/Werner Schüßler (Hg.), Das Dämonische. Kontextuelle Studien zu einer Schlüsselkategorie Paul Tillichs (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2018), 125–145.  „Tillich an Thomas Mann (23. Mai 1943)“, in: Impressionen und Reflexionen. Ein Lebensbild in Aufsätzen, Reden und Stellungnahmen, Bd. XIII, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1972), 22–27, 23 f.  Vgl. „Tillich an Thomas Mann (23. Mai 1943)“, 24.  „Tillich an Thomas Mann (23. Mai 1943)“, 25.  „Tillich an Thomas Mann (23. Mai 1943)“, 25.  „Tillich an Thomas Mann (23. Mai 1943)“, 25. Tillichs Verknüpfung der sittlichen Persönlichkeit mit dem Begriff des „Persönlichkeitsideals“ stellt einen zusätzlichen Aspekt dar, der sein ethisches Denken konstant begleiten wird. Der Begriff des Persönlichkeitsideals steht für Tillich insbesondere für die einseitige Konzentration auf die Individualität, wodurch die humane Sozialität ins Hintertreffen gerät. Darauf wird zurückzukommen sein. Vgl. zur hohen Bedeutung von Tillichs Aufsatz Die Überwindung des Persönlichkeitsideals. Ein Vortrag aus dem Jahr 1927 unten: Teil 2: B.2.2.  „Daß man auf diese Weise die gesamte Wirklichkeit, Natur und Geschichte, dem Mechanismus der bürgerlichen Weltanschauung überließ, bemerkte man kaum in der Freude, eine schein-

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dieser Stelle verwendet Tillich die „sittliche Persönlichkeit“ deutlich als Negativfolie und zielt damit auf eine Theologie, die sich ganz der Formung individueller Persönlichkeit verschreibt und die anderen Seiten des Religiösen vergisst. Im Urteil Tillichs wird so aber die Religion sozusagen eine Funktion der menschlichen Humanität und an dem Maße der entwickelten sittlichen Persönlichkeit gemessen. Das Ekstatische und Paradoxe des Religiösen wurde herabgedämpft zu einem ethischen Fortschrittsglauben.124

Passend zu Tillichs Diagnose bildet die sittliche Persönlichkeit geradezu den Nukleus in der Ethik Wilhelm Herrmanns, den er hier als zentralen Vertreter der zeitgenössischen Liberalen kennzeichnet.125 Auch aus einer geweiteten theologiegeschichtlichen Perspektive heraus stellt die „Persönlichkeit“ einen Grundbegriff der theologischen Debatten um 1900 dar.126 Hierzu wurde konstatiert, dass in den unterschiedlichsten Lagern der Theologie um 1900 „das sittlich-religiöse Kulturverständnis [...] sein Zentrum im Begriff der Persönlichkeit“ habe, denn nur Persönlichkeiten, die in moralischer Selbstständigkeit ihr Handeln an religiös-sittlichen Idealen orientierten, könnten die Verbindlichkeit tradierter Kulturwerte stärken“, und „als wichtigstes Medium zur Bildung von Persönlichkeit gilt ihnen die Religion“127. Die Konzentration auf die individuelle Sittlichkeit, die besonders in den Theologien Ritschls und Herrmanns zum Ausdruck komme, sei demnach immer auch die Reaktion auf einen Bedeutungsverlust der Religion als Praxis wie auch der Theologie als „Leitwissenschaft“.128 Der biographische Einschub zeigt also eine deutliche Diskrepanz zwischen der rückblickenden Beschreibung der Wendung einerseits und ihrer Stellung in der Examensarbeit andererseits. Dass Tillich die „sittliche Persönlichkeit“ vor dem Ersten Weltkrieg selbst deutlich positiv konnotiert verwendet, hat seinen Grund offenkundig in seiner tiefen Prägung durch die idealistische Philosophie, in der die Persönlichkeit zweifellos einen „Lieblingsterminus“129 bildet. Zudem wird sich – besonders deutlich dann in der Systematischen Theologie von 1913 –

bar sichere Insel gefunden zu haben. Marx, Nietzsche, Freud etc. bewiesen, daß es nur eine scheinbare Sicherheit war.“ („Tillich an Thomas Mann, 23. Mai 1943“, 25).  „Tillich an Thomas Mann (23. Mai 1943, 22)“, 25.  Vgl. exemplarisch Herrmann, Ethik (1913), 72–75.  Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: „Rettung der Persönlichkeit. Protestantische Theologie als Kulturwissenschaft des Christentums“, in: ders./Rüdiger vom Bruch/Gangolf Hübinger (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaft um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft (Stuttgart: Franz Steiner, 1989), 103–131, bes. 123–125.  Graf, „Persönlichkeit“, 124.  Graf, „Persönlichkeit“, 129.  Fritz, Menschsein als Frage, 69.

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zeigen, dass der positive Rekurs auf die Wendung der „sittlichen Persönlichkeit“ schon beim frühen Tillich stetig unmittelbar mit dem Blick auf die Gemeinschaft verbunden wird. Eine wirklich sittliche Persönlichkeit könne sich nur in im wechselseitigen Bezug von Personen ausbilden, die sich als solche anerkennen.130 In einem weiteren Schritt der Einleitung wendet sich Tillich dem Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie zu und unterscheidet dazu basal die Ebenen Glauben und Wissen. An dieser Stelle taucht die bereits in der frühen Arbeit zu Fichte angeklungene Religionsbestimmung wieder auf – jetzt in einer noch deutlicheren Option für eine ganzheitliche und alle Bereiche des Menschen betreffenden Funktion: „Der Glaube ist ein Überzeugtwerden des Intellektes, ein Überwältigtwerden des Gefühls, eine Tat des Willens.“ Die Theologie habe diesen dreifachen Religionsbegriff zu durchdenken. Die Konflikte zur Philosophie zeigen sich in Tillichs Sicht besonders am Begriff des „Absoluten“, da sich in der Thematisierung des Gottesbegriffs das Religiöse und die Philosophie am nächsten kämen.131 Als Aufgabe der Theologie gilt Tillich in der Folge das diskursive Reflektieren des dreifach – theoretisch, praktisch, emotiv – bestimmten Religionsbegriffs. Damit ist die Theologie von der Philosophie zwar unterschieden, doch haben beide mit dem Gottesbegriff einen gemeinsamen Bezugspunkt. Gleichsam unvermittelt führt Tillich zum Ende seiner Gegenwartsdiagnose in der Einleitung dann den Freiheitsbegriff ein: Der Freiheitsgedanke ist die Voraussetzung für das Verständnis jedes ethischen Verhaltens. Der physische Monismus bestreitet die Tatsache; usw. Es genügt da nicht, sich kurzerhand auf den eigenen Standpunkt zurückzuziehen, der seine Gewißheit in sich trage. Geschlagen ist der Gegner erst, wenn er es auf eigenem Boden [...] ist, und das Christentum zerteilt den Menschen nicht in einen heidnischen Kopf und ein christliches Herz. Gewiß wird jeder einzelne [...] derartige Spannungen durchzumachen haben [...]. Aber auf die Dauer ist dieser Zustand unmöglich. [...] Daß eine derartige Gebrochenheit z. T. unsrer Zeit eignet, ist eine Folge dieser andauernden Gegensätzlichkeit von Glauben und Wissen.132

Das bedeutet einmal, dass die unmittelbare Verknüpfung von Glauben und Wissen von Tillich aus der menschlichen Freiheit begründet wird. In der „Urfassung“ fügt Tillich diesbezüglich die nähere Erklärung ein, dass die Freiheit auch Voraussetzung für jedes „religiöse“133 Verhalten darstelle. Zwar bleibt rätselhaft, weshalb er die Näherbestimmung „religiöse“ in der „Schönschrift“ fortlässt, doch wird deutlich, dass sowohl die Religion selbst als auch das „ethische“ Verhalten Freiheit voraussetzt.  Siehe dazu besonders unten: Teil 1: B.4.3.  Vgl. Tillich, Monismusarbeit, 101: „Gott, die letzte Ursache, der letzte Grund, das letzte Ziel der gesamten Wirklichkeit, das ist offenbar ebenso eine religiöse wie eine metaphysische Aussage.“  Tillich, Monismusarbeit, 101 f.  Tillich, Monismusarbeit, 31.

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Zum andern muss man sich an dieser Stelle die durchaus lebensnahe Beschreibung der eigenen Zeit in Tillichs Zeilen vor Augen halten, um die abstrakten Erörterungen zu veranschaulichen: Tillich verfasst diese Beschreibung des für ihn aktuellen – um nicht zu sagen: akuten – Zustands nicht aus einer intellektuellen Laune heraus. Vielmehr scheint ihm das Auseinandertreten von Glauben und Wissen als Symptom der geistigen Situation zu gelten. Im Auseinanderdriften von Glauben und Wissen sieht er die Folgen einer Spannung, die zu der zuvor benannten Zerrissenheit führt und sich eben genauso in einer dualistischen gegenüber einer monistischen Weltanschauung äußert. Durch Materialismus und moderne Naturwissenschaften wird die Krise, in der Tillich die geistige Situation sieht, insofern greifbarer, als er unter anderem den naturwissenschaftlichen Vormarsch und den technologisch-industriellen Fortschritt seiner Zeit vor Augen haben wird. Er illustriert diese Krise nun mit den Mitteln seines philosophischtheologischen Repertoires an der Grundunterscheidung von Glauben und Wissen. Dass das Christentum den Menschen nicht in ein „christliches Herz“ und einen „heidnischen Verstand“ aufspalte, zeigt nochmals die als grundlegend bestimmte Einheit von Glauben und Wissen, die in der dreifachen Religionsbestimmung des Theoretischen, Praktischen wie Emotiven zum Ausdruck gebracht wird. Die Thematisierung der Spannung von Wissen und Glauben gehört damit zu den grundlegenden Aufgaben der Theologie als der „diskursiven“134 Reflexion des Glaubens. Eine Limitierung auf den Glauben als gesonderten Bereich würde der Aufgabe der Theologie in sich widersprechen, da doch die Religion als Fundierung aller menschlichen Aktivität ebenso das Denken (und Fühlen) einschließt. (2) Mit der Verortung der Theologie ist der Übergang in den zweiten, systematischen Teil angezeigt, der nun zur Sprache kommt. Von den in der Einleitung erörterten Voraussetzungen ausgehend bietet Tillich eine dichte geistesgeschichtliche Skizze des Verhältnisses von Dualismus und Monismus und bündelt sodann seine Fragestellung: Aller Monismus muß konsequentermaßen jedes Einzelgeschehen als notwendiges aus dem obersten Prinzip ableiten. [...] Die Übertragung dieser Begriffe von Notwendigkeit auf das Verhältnis des Absoluten zur Welt führt unmittelbar in das Problem. Das religiöse Verhältnis steht in Analogie zum freien persönlichen der Menschen untereinander: Liebe und Zorn, sittliche Verantwortung und Schuld spielen hier die entscheidende Rolle. Es fragt sich also, ob die monistische resp. dualistische Auffassung diese Verhältnisse verstehen hilft. [...] Die allgemeine Frage nach dem Verhältnis Gottes zur Welt zerfällt naturgemäß in die bei-

 So Tillichs prägnante Beschreibung der Theologie in der Urfassung: vgl. Tillich, Monismusarbeit, 30.

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den Fragen nach dem Verhältnis Gottes zur Natur und [...] zum persönlichen Leben des Menschen.135

Von hier aus erklärt sich die Gliederung des zweiten, systematischen Teils, der wiederum in drei Abschnitte unterteilt ist: die physische, geistige und vollendete Stufe des Monismus. Im ersten Abschnitt „Die physisch-ontologische Stufe des Monismus und das religiöse Verständnis des Naturgeschehens“136 behandelt Tillich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gott und Mensch im naturhaften Stadium. Es geht um die religiöse Deutung der Natur durch den Menschen, bevor er in die geistige Stufe übergeht, in der er sich als freies, selbstbestimmtes Wesen erfährt. Anschaulicher und interpretativ lässt sich formulieren: Der Mensch deutet die Phänomene seiner Mitwelt zwar bereits religiös, erkennt jedoch nicht, dass er mit der geistigen Stufe in ein weiteres Stadium eintreten kann. Der Mensch deutet in diesem Stadium alles dualistisch, wie Tillich an verschiedenen Bereichen klassischer Fragen der Geisteswissenschaften demonstriert. Unter den Aspekten Schöpfung, Theodizee, der Wunderfrage oder der modernen Naturwissenschaften geht er einzelne Ansätze durch, um sich von dualistischen Erklärungsmodellen in diesen Bereichen abzugrenzen. Ein aus ethischer wie werkgenetischer Sicht besonders relevantes Beispiel rückt mit der Frage nach „genießender und handelnder Weltgestaltung“137 in das Blickfeld. Dazu unterscheidet Tillich geistesgeschichtlich „Quietismus“ als Leben ohne praktische Ausrichtung von „Askese“138 als Leben ohne Genuss. In der radikalen Kritik beider Formen durch Luther und die Reformation sieht Tillich insofern einen monistischen Gedanken, als beide Proteste – gegen Quietismus und Askese – aus der Einsicht stammten, dass es stets nur eine Wirklichkeit gebe. Der Diktion, es sei alles Gottes Gabe, so argumentiert Tillich, scheint jedoch zunächst die schlichte Beobachtung der aktuellen Kultur zu widersprechen.139 In dieser sähen nun viele Zeitgenossen einen Dualismus am Werk, der die Lebenswelt in eine gleichsam göttliche und widergöttliche Wirklichkeit teile. Tillich wird an dieser Stelle ungemein klar, wenn er zur Erörterung des scheinbaren Dualismus in der Kultur einen deutlich konsumkritischen Einschlag nutzt. So lässt sich das im Folgenden verwendete Beispiel des Luxus deuten:

    

Tillich, Monismusarbeit, 109. Tillich, Monismusarbeit, 94. Tillich, Monismusarbeit, 117. Tillich, Monismusarbeit, 117. Vgl. Tillich, Monismusarbeit, 118.

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Dem [der Behauptung, alles sei Realität Gottes] scheint zunächst die Beobachtung zu widersprechen. Nirgends tritt der Dualismus mit größerer Sicherheit auf als hier. Und in der Tat, wenn wir durch unsere modernen Großstädte gehen und die immense widergöttliche Wirkung der Verstrickung in die sachliche Kultur, den Luxus und die Technik zu seiner Produktion beobachten, kann sich die Annahme einer selbständigen Macht aufdrängen, die die Kultur nutzt, um die Menschen in ihre Gewalt zu bekommen.140

Die Annahme einer Macht, die Gott als zweite – gewissermaßen dualistisch – gegenübersteht, ist in Tillichs Augen durchaus nachvollziehbar, sie beruhe jedoch auf einem naiven Verständnis von Dualismus und Monismus. Denn für Tillich müssen im Rahmen eines recht verstandenen Monismus sowohl das „weltgenießende“ als auch „handelnde Weltbejahen“ „eine Bejahung Gottes sein“, sodass die „Kultur [...] von der Liebe angeeignet werden“141 kann. Tillich kann somit schließen, dass die „technische Kultur [...] in den Dienst [...] der Liebe treten“142 müsse. Die Pointe besteht darin, dass der Monismus die Kritik des Dualismus aufnimmt und positiv verarbeitet. Jene Kritik besteht für Tillich im Aufzeigen der Verhältnisse, die er im Beispiel der technischen Kultur veranschaulicht: scheinbar – so der dualistische Gedanke – gibt es eine Macht, die den Menschen durch Luxusgüter „widergöttlich“ vereinnahmen will. Aus der Sicht des Monismus aber existiert eine solche Macht nicht. Vielmehr geht es, jene Güter positiv in den Dienst der Liebe zu stellen. Im Vorgriff auf die Thematisierung der Technik in der Systematischen Theologie von 1913 lässt sich diese nach Tillich als Dienst am Reich Gottes verstehen.143 Voraussetzung dafür sei es, dass die Technik als Form verwendet wird, die der Repräsentation Gottes diene und nicht nur Selbstzweck des – um im Beispiel zu bleiben – Luxus bliebe.144 Von hoher Bedeutung ist in dieser Hinsicht die Thematisierung der Technik als einer Form „sachlicher Kultur“ schon für sich genommen. Dies gibt einen ersten Hinweis auf Tillichs überraschend frühe Bezugnahme auf den Technikbegriff, der erst sehr viel später Teil der theologischen Debatte werden sollte.145 Zudem scheint er bereits an dieser Stelle mit der „sachlichen Kultur“ einen Begriff Georg

 Hier zitiert nach der Urfassung, die das anschauliche Beispiel der Großstadt enthält: Tillich, Monismusarbeit, 57.  Tillich, Monismusarbeit, 57.  Tillich, Monismusarbeit, 57.  Vgl. Tillich, Monismusarbeit, 57. Siehe zur Technik (im Rahmen der „sachlichen Kultur“) genauer unten: Teil 1. B.4.4.  Vgl. Tillich, Monismusarbeit, 57.  Vgl. instruktiv: Christian Schwarke/Anne-Maren Richter Technik und Lebenswirklichkeit in der Moderne. Zwischen Unverfügbarkeit und Handlungsreiraum - eine Einleitung, in: dies. (Hg.), Technik und Lebenswirklichkeit. Philosophische und theologische Deutungen der Technik im Zeitalter der Moderne (Stuttgart: Kohlhammer, 2014), 9–15.

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Simmels aufzunehmen.146 Beide Aspekte werden in der Analyse der Systematischen Theologie von 1913 näher eingeordnet. Jedoch wurde die frühe Verwendung der Termini „Technik“ und „sachliche Kultur“ in der Examensarbeit bislang in der Forschung nicht gesehen.147 In Bezug auf den zweiten Abschnitt des systematischen Teils „Die geistigteleologische Stufe des Monismus und das religiöse Verständnis des geistigen Geschehens“148 ist im Zusammenhang dieser Untersuchung zu fragen, wie Tillich seinen Begriff der „Sittlichkeit“ respektive „sittlichen Persönlichkeit“ näher konzeptualisiert, und besonders, wie er den Übergang vom Physischen zum Geistigen am Begriff des Rechts festmacht. Gegliedert wird der zweite Abschnitt des systematischen Teils dazu in zwei größere Schritte: „I. Die rein teleologische Stufe und das religiöse Verständnis des geschichtlichen Geschehens“ und „II. Der Ansatz zur Synthese von ontologischem und teleologischem Monismus: Die religiöse Stufe“.149 Die Pointe im Übergang vom ersten zum zweiten Schritt bündelt Tillich zum Ende nochmals, indem er den Zielpunkt des idealistischen Monismus als Hinausgehen des Geistes über die Natur bestimmt und die endgültige Überwindung des rein physischen Zustands wiederum am Freiheitsgedanken festmacht.150 Hinausgehen besagt, dass der Mensch sich seiner Freiheit und damit seiner Fähigkeit bewusst wird – das eben bildet die Differenz zwischen physischem (naturhaftem) und geistigem (freiheitlichem) Zustand. Hier wird einmal mehr deutlich, wie sehr Tillich in der Frühzeit in einer naturphilosophischen oder auch prozesshaften Struktur denkt. Dies wird wiederum in der Systematischen Theologie von 1913 umfassender verständlich.151 In der Monismus-Arbeit liest es sich wie folgt Der entscheidende Punkt ist die geistige Selbstsetzung des Individuums, die im Christentum als selbstverständlich vorausgesetzt ist, und nach der die religiöse Beziehung zu Gott gedeutet ist. [...] Hier kommt es darauf an, ‚was für ein Mensch einer ist‘, wie auch Fichte erkannt hat, d. h. auf die persönliche Tat, eben die Selbstsetzung, die immer nur erkannt werden kann, insoweit sie geschieht.152

 Vgl. G. Neugebauer/Rochus Leonhardt, „Technik als Problem theologischer Kulturhermeneutik. – Der Beitrag Paul Tillichs“, in: Hans-Günter Heimbrock (Hg.), Evangelische Theologie und urbane Kultur. Tillich-Lectures Frankfurt 2010–2013. Siehe auch unten: Teil 1: B.2.3.2.  Auch bei G. Neugebauer/Leonhardt, „Technik“ fehlt ein Hinweis auf die Verwendung in der Tillich, Monismusarbeit, in der somit fünf Jahre vor der Systematischen Theologie von 1913 sachliche Kultur und Technik gemeinsam von Tillich bedacht werden.  Tillich, Monismusarbeit, 95.  Tillich, Monismusarbeit, 95 f.  Vgl. Tillich, Monismusarbeit, 121.  Siehe besonders unten: Teil 1: B.2.  Tillich, Monismusarbeit, 121.

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Das bedeutet, es geht hier – generell gesprochen – um die Selbsterkenntnis des Menschen und seine Freiheit. Der Mensch erfährt sich als handelnd gegenüber der Natur, nicht mehr allein als von dieser abhängig. Konkret verläuft dieser Weg in Tillichs Konzeption, indem er zuerst das höchste Gut des Christentums bestimmt. Sodann bildet das Recht beziehungsweise die Rechtsidee den Übergang vom physischen zum geistigen Bereich. Auf dieser Grundlage erfasst sich der Mensch selbst als sittliches, handelndes Individuum und erreicht die Autonomie als Selbstbestimmung.153 Das Ziel des so bestimmten „idealistischen Monismus“ setzt Tillich nun als das „höchste Gut des Christentums“, womit für ihn der Übergang aus dem „Reich der Natur in das der Geschichte“154 gegeben ist.155 Das höchste Gut wird umrissen als „das vollkommene Bestimmtwerden durch Freiheit und Geist. Überwindung von allem, was als Unfreiheit, also Nicht-Sein in uns erfahren wird, das Einswerden mit dem göttlich-geistigen Gesamtleben.“156 Diesen Zielzustand erörtert Tillich mit einer Ellipse aus den Symbolen Gotteskindschaft und Gottesreich. Während die Kinder Gottes die durch den Geist Gottes Bestimmten darstellen, bildet das Reich Gottes die eschatologische „Liebesgemeinschaft“ in der Vollendung als „telos des idealistischen Monismus“157. Alles läuft somit auf diesen Zustand zu, der jedoch antizipativ bleibt. Somit steht die Gotteskindschaft als Sinnbild für die Gemeinschaft derer, die sich im Bewusstsein der antizipierten Vollendung verstehen. Es ist bemerkenswert, dass Tillich den ersten Schritt der geistigen Stufe, also dem Bewusstsein über das telos im Reich Gottes, im Rechtsbegriff ansetzt, der nun zur Sprache kommt. (3) Der Abschnitt „Das rechtliche Geschehen als Übergang vom Physischen zum Geistigen, religiöse Wertung von Inhalt und Durchsetzung des Rechts“158 stellt die erste explizit auf Hegel und seine Rechtstheorie rekurrierende Passage dar. Diese wird zugleich mit einer deutlich politisch gefärbten Option Tillichs für die Sozialdemokratie verbunden. Wie die ethischen Momente der Monismus-Arbeit im Ganzen wurde auch der Passus zur rechtsphilosophischen und theologischen Grundlegung der Ethik und der politische Bezug des Rechts bisher in der Forschung nicht behan-

 Vgl. Tillich, Monismusarbeit, 95 f.  Tillich, Monismusarbeit, 121.  Zur Erklärung gibt Tillich, Monismusarbeit, 121, die Bestimmung dieses Telos bei seinen idealistischen Helden an: „Nach Fichte ist es das Ziel des Weltgeschehens, daß das göttliche Sein durch Überwindung des Nichtich zum Dasein, d. h. zur Selbstdarstellung in der angeeigneten Natur komme. Bei Schelling wird daraus die Überwindung der Differenz, bei Hegel die Synthese des Seins und Andersseins im absoluten Geiste.“  Tillich, Monismusarbeit, 121.  Tillich, Monismusarbeit, 122.  Tillich, Monismusarbeit, 122.

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delt.159 Aufgrund einiger Pointen und der etwas ausgeweiteten Form wird der entsprechende Abschnitt hier aus der Urfassung zitiert. Die Argumentation vollzieht sich unter drei Aspekten, die im Folgenden systematisch voneinander abgehoben werden sollen. Zunächst bestimmt Tillich die theologische Rechtsidee, sodann füllt er sie im Ansatz als soziale Idee, um schließlich unmittelbar auf Hegels Strafrechtstheorie zu rekurrieren. Zunächst nimmt Tillich den Einstieg über die These, dass das Recht die „Grundlage für alles geschichtliche Werden“ darstelle und, davon abgeleitet, den Überschritt von der physischen zur sittlichen Stufe bilde.160 Dieser Schritt lässt sich als Hinaustreten des Menschen über seine naturgebundene, eben physische, Bindung verstehen. Es wird an dieser Stelle ein weiterer für die Ethik-Entwicklung zentraler Schritt angedeutet, der insbesondere auf die Systematische Theologie von 1913 vorverweist.161 Somit kann unter Sitte oder Recht zunächst ganz basal die Herstellung von Konventionen bis hin zu expliziten Rechtsformen resp. Gesetzen verstanden werden. Dementsprechend enthält der Rechtsgedanke schon im Ansatz einen deutlichen Entwicklungsschritt in sich, da für Tillich die Freiheit der einzelnen beteiligten Persönlichkeiten anscheinend die Voraussetzung für Rechtskonzeptionen darstellt. Dafür spricht der Begriff der „sittlichen“ Stufe, in der der Mensch über die Naturgebundenheit hinaustritt. Die theologische Begründung des Rechtsgedankens entfaltet Tillich dann anhand einer konkreten Abgrenzung zu bestimmten Modellen positivistischer Rechtstheorie: Die Rechtsidee wird in der christlichen Dogmatik als eine göttliche betrachtet und damit der positivistischen Betrachtungsweise widersprochen, die sie aus utilitaristischen Vertragsverhältnissen ableitet.162

Auf der ersten Ebene ist hiermit gesagt, dass aus theologischer Sicht jegliches Recht letztlich in der Rechtssetzung Gottes fundiert ist. Das Recht kann in Tillichs Urteil nicht positivistisch, also vollständig aus dem Gegebenen, abgeleitet werden. Zudem könne das Recht nicht in letzter Instanz auf einer kontraktualistischen Einigung zwischen Parteien beruhen. Das sei auch dann nicht möglich, wenn ein utilitaristisches Prinzip zugrunde gelegt werde. Letzteres könnte darin bestehen, dass die Einhaltung des Rechts im größtmöglichen Nutzen für alle Beteiligten begründet wird. Für Tillich liegt dagegen die „Rechtsidee“ in der göttlichen Ordnung selbst begründet.

   

Auch Wrege, Rechtstheologie, nimmt keinen Bezug auf die Passage der Examensarbeit. Vgl. Tillich, Monismusarbeit, 62. Siehe dazu unten: Teil 1: B.2. Tillich, Monismusarbeit, 62.

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In Tillichs Konzeption stellt nun aber das Recht nicht nur eine „Gabe“ zur „Ordnung der persönlichen Beziehungen dar“, da es in diesem Falle tatsächlich „lediglich Mittel für höhere Zwecke“ darstellen würde, wodurch es seine „Kraft“163 verlöre. Die verwickelte Argumentation lässt sich in die Richtung deuten, dass die Durchsetzung des Rechts stets auch eine Selbstdarstellung Gottes sein muss, um nicht in der erwähnten Zweck-Mittel-Beziehung aufzugehen. So wird, wie Tillich es weiter formuliert, die Kraft des Rechts gewahrt, wenn die rechtliche Entwicklung als eine göttliche gedacht wird, d. h. als eine der Formen, in der sich göttliches Sein durchsetzt. Natürlich bleibt die Betrachtungsweise hier teleologisch. Überall, wo wirkliches Recht vorhanden ist, ist göttliche Offenbarung.164

Indem Recht und Offenbarung derart im Ansatz verbunden werden, macht Tillich wirkliches Recht also von seiner göttlichen Begründung abhängig. Sodann geht Tillich über zu seiner klaren Positionierung für die Begründung des Sozialen bereits im Gottesgedanken selbst. Diese Positionierung macht den vorigen Schritt erst eigentlich verständlich, indem Tillich ganz konkret darauf zielt, der sozialen und namentlich sozialdemokratischen Bewegung eine gleichsam theologisch-göttliche Fundierung zu empfehlen: Der Gedanke erweist sich namentlich fruchtbar im Hinblick auf soziale Bewegungen wie die sozialdemokratische. Wie ist es möglich, daß das soziale Ideal der Sozialdemokratie für viele ein religiöses wird, das das christliche verdrängt, das sogar fähig ist, ohne Unsterblichkeitshoffnung als Ziel einer vielleicht noch fernen Zukunft Begeisterung des Kampfes zu geben, wenn hier nicht wirklich etwas Religiöses dahinter läge. Es wäre gut, wenn in den christlichen Kreisen das soziale Verständnis tiefer wäre; und das würde erreicht, wenn es viel eindrucksvoller gemacht würde, daß die soziale Sache eine göttliche Sache ist, daß überall, wo Recht nicht zum Durchbruch kommt, ein Stück der Selbstdarstellung Gottes im Geschichtsverlauf verhindert ist.165

Tillichs weitreichende Annahme stellt also die soziale Dimension des jüdischchristlichen Gottesgedankens in das Zentrum der Rechtstheologie. Dies wird umso deutlicher, als er im direkten Anschluss die alttestamentliche Sozialethik als biblischen Idealtypus dieser Auffassung anbringt.166 In diese Punkt zeichnet sich eine fundamentalethische Kernaussage ab: Überall dort, wo Recht sich durchsetzt, komme auch der Wille Gottes zum Tragen. Die kompetitiven Elemente des „Kamp-

 Tillich, Monismusarbeit, 62.  Tillich, Monismusarbeit, 62.  Tillich, Monismusarbeit, 62.  Tillich, Monismusarbeit, 62: „Dem entspricht die Energie der Durchsetzung des Rechts. Der Gedanke kann als der Schlüssel des alttestamentlichen Gottesgedankens gelten. Darum war auch das Alte Testament so außerordentlich sozial interessiert.“

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fes“ in Gestalt der „Begeisterung“ für eine andere „Zukunft“ und die Erwähnung der fehlenden „Unsterblichkeitshoffnung“ machen deutlich, dass Tillich in der Bewegung der Sozialdemokratie einen eigentlich religiösen Impetus sieht. Inwiefern er hier auf Marxʼsche Theoriebildung, marxistische Strömungen oder die soziale Frage um 1900 insgesamt anspielt, ist schwerlich zu sagen. Offensichtlich ist jedenfalls, dass Christentum und soziale Bewegung in der Sicht Tillichs prinzipiell nur voneinander profitieren können, sofern das Recht im Ansatz religiös begründet und zugleich sozial ausgerichtet wird. Es zeigen sich an dieser Stelle deutliche Parallelen zu prominenten Vertretern der Religiösen Sozialisten in der Generation vor Tillich. Das gilt insbesondere für ihren Blick auf die Sozialdemokratie als prophetische Bewegung. In dieser Hinsicht zeigt bereits der „eigentliche Initiator der religiös-sozialistischen Bewegung“167, der Schweizer Pfarrer Hermann Kutter (1863–1931), 1903, ein Verständnis der Sozialdemokratie, das ähnlich zu Tillichs Einlassungen in der Monismusarbeit angelegt ist. Bezüglich der politischen Situation und der Rolle einer sozial ausgerichteten Partei beziehungsweise Bewegung, sieht Kutter die „Sozialdemokraten“ als „revolutionär“, „weil Gott es ist. Sie müssen vorwärts, weil Gottes Reich vorwärts muß. Sie sind Männer des Umsturzes, weil Gott der große Umstürzler ist.“168 Aus einem weiteren Blickwinkel betrachtet stellt Tillichs Sympathiebekundung gegenüber der Sozialdemokratie für sich genommen schon ein werkbiographisches Signal dar. Tillichs politische Ausrichtung wurde für die Zeit bis 1918/ 19 – und somit dem Beginn der Weimarer Republik – bisher wenig beachtet. Zudem muss bereits an dieser Stelle das in der Forschung häufig wiederholte Diktum korrigiert werden, dass der religiöse Sozialist nach dem Krieg plötzlich und unerklärt vor uns stehe.169 Durch die Emphase der politischen wie sozialen Di-

 Traugott Jähnichen/Norbert Friedrich, „Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Protestantismus“, in: ders./Helga Grebing/F.-J. Stegmann/Peter Langhorst/Traugott Jähnichen/Norbert Friedrich, Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – Katholische Soziallehre – Protestantisches Sozialethik. Ein Handbuch, hg. von Grebing, Helga (Wiesbaden: Springer, 22005), 865–1104, 980.  Hermann Kutter, Sie müssen. Ein offenes Wort an die christliche Gesellschaft (Berlin: Walther, 1906), 89.  Siehe exemplarisch die inflationär zitierte Behauptung in diese Richtung bei Matthias Kroeger, „Paul Tillich als religiöser Sozialist“, in: Hermann Fischer (Hg.), Paul Tillich. Studien zu einer Theologie der Moderne (Frankfurt a.M.: Athenäum, 1989), 93–137, 95. Auch Tillichs spätere Selbstbeschreibung wird zu diesem Bild eines schlicht unpolitischen Theologen vor dem Ersten Weltkrieg beigetragen haben. Vgl. Tillich, „Auf der Grenze“, 23: „Schwieriger wurde der Konflikt zwischen Theorie und Praxis, als mit der Revolution zum erstenmal das Politische machtvoll in mein Bewußtsein trat. Wie die meisten deutschen Intellektuellen vor dem Krieg stand ich der Politik im wesentlichen indifferent gegenüber.“

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mension des Gottesgedankens kann hier ein erster Hinweis auf Tillichs Entwicklung hin zum Religiösen Sozialismus konstatiert werden, den er ab 1918/19 dann konzeptualisieren wird.170 Diese schon vor dem Krieg erkennbare Ausrichtung wird sich dann umso deutlicher in der Ethik der Systemischen Theologie von 1913 zeigen.171 Schließlich kommt auf Basis der beiden geschilderten Aspekte der erwähnte Bezug zu Hegel zur Sprache. Tillich hebt diesbezüglich den strafrechtstheoretischen Ansatz Hegels hervor und bezieht sich dabei explizit auf die Frage nach dem Sinn der Strafe. Im Rückgriff auf die erwähnte Bezugnahme auf die Sozialethik der israelitischen Religion sieht Tillich den Schutz vor Willkür in Hegels Konzeption verwirklicht: Hegel hat in der absoluten Rechtstheorie dem Gedanken den kraftvollsten Ausdruck gegeben. Das Recht auch als sich durchsetzendes Strafrecht hat seine Motive und Entscheidungen rein in sich selbst, nicht in irgendwelchen pädagogischen oder utilitaristischen Erwägungen. Der Verbrecher hat Recht auf Strafe. Das ist ein monistischer Gedanken, denn er befreit das Recht von individueller Willkür und stellt es in den universalen Zusammenhang des geschichtlichen Geschehens.172

Tillichs Deutung der Rechtstheorie Hegels als monistisch-universale Konzeption bezieht sich auf Hegels späteres praktisch-philosophisches Hauptwerk Grundlinien der Philosophie des Rechts von 1821173, in dem Hegel seine Anerkennungstheorie im Rahmen seiner Rechtstheorie entfaltet. Tillich bezieht sich in der Monismus-Arbeit eindeutig darauf, allerdings ohne explizit den Terminus der Anerkennung zu erwähnen. In der Hegel-Forschung ist es umstritten, inwiefern es größere Änderungen in Hegels Konzept der Anerkennung gibt. Doch kommt der Anerkennung als Grundbegriff zweifelsfrei von der sogenannten Jenaer Realphilosophie über die Phänomenologie des Geistes bis zu den Grundlinien eine Schlüsselfunktion zu.174 Tillichs Hegel-Rezeption – und der Anerkennungstheorie in der Phänomenologie insbesondere – ist dokumentiert in der bereits erwähnten Hegel-Vorlesung.175 Doch an dieser Stelle soll es lediglich um die Hervorhebung seines frühen Bezugs auf Hegel gehen. Um den Ansatz der Rechtstheologie bei Tillich in der Monismus-Arbeit zu verstehen, ist es hilfreich, Hegels Ausführungen zum Recht als eine Anerkennungs-

 Siehe dazu unten: Teil 2: C.  Siehe dazu unten: Teil 1: B.4.  Tillich, Monismusarbeit, 122 f.  Georg F.W. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1821), Bd. 7, Werke (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986).  Vgl. Jakub Kloc-Konkolowicz, „Anerkennung bei Hegel“, in: Siep/Ikäheimo/Quante (Hg.), Handbuch Anerkennung, 127–131.  Vgl. Tillich, Vorlesungen über Hegel (Wintersemester1931/32), bes. 460–497.

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beziehung einzubeziehen. Obwohl Tillich den Anerkennungsbegriff nicht explizit gebraucht, liegen seine Ausführungen der Sache nach ganz auf der Linie von Hegels Verknüpfung von Rechts- und Anerkennungsbegriff. Grundlegend ist zunächst, dass Hegel ebenso wie Fichte das Recht mit der Anerkennung zwischen Personen in Verbindung bringt und somit das Recht als eine Anerkennungsbeziehung setzt. „Die Verletzung des Rechts“176 zwischen Personen, die sich als gleiche, vernünftige und freie Personen anerkennen, bricht also eine Anerkennungsbeziehung.177 Im einschlägigen Paragraphen formuliert Hegel dann konkret den Sinn der Strafe. Die Verletzung, die dem Verbrecher widerfährt, ist nicht nur an sich gerecht – als gerecht ist sie zugleich sein an sich seiender Wille, ein Dasein seiner Freiheit, sein Recht –, sondern sie ist auch ein Recht an den Verbrecher selbst, d.i. in seinem daseienden Willen, in seiner Handlung gesetzt. Denn in seiner als eines Vernünftigen Handlung liegt, daß sie etwas Allgemeines, daß durch sie ein Gesetz aufgestellt ist, das er in ihr für sich anerkannt hat, unter welches er also als unter sein Recht subsumiert werden darf.178

Auf diese Bestimmung Hegels spielt Tillich an, sofern er die Pointe des allgemein geltenden Rechts im Recht auf Strafe markiert. Damit ist die „Strafe nichts anderes als das durch den Verbrecher in seiner Tat gesetzte und anerkannte Recht auf ihn selbst angewandt.“179 Indem Hegel argumentiert, „[d]aß die Strafe darin als sein eigenes Recht enthaltend angesehen wird, darin wird der Verbrecher als Vernünftiges geehrt“180, spielt er wiederum auf die grundsätzliche Bedeutung des Rechts als Anerkennungsbeziehung zwischen gleichen, vernünftigen Personen mit einem freien Willen an. Wenn ein Verbrechen begangen wird und das Recht verletzt wird, welches zuvor von der handelnden Person anerkannt wurde, um die je andere Person zu schützen, verletzt das Verbrechen immer zugleich die ausführende Person selbst. Die zentrale Rolle des Anerkennungsbegriff in Hegels Rechtskonzept insgesamt kann also als

 Hegel, Grundlinien, § 97, 185. Genauer heißt es bei Hegel: „Die Verletzung des Rechts als Recht“. Diese Formulierung, die hier nicht im Einzelnen entfaltet werden kann, ist in Hegels System fest verankert. Vgl. Georg Mohr, „Unrecht und Strafe (§§ 82–104, 214, 218–220)“, in: Ludwig Siep (Hg.) G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2017), 95–125.94.  Mit den Voraussetzungen schließt Hegel an Fichte an, der grundlegend die wechselseitige Anerkennung am Kriterium der freien Person konzipiert hatte. Vgl. Heikki Ikäheimo, „Johann Gottlieg Fichte“, in: Siep/Ikäheimo/Quante (Hg.), Handbuch Anerkennung, 121–125, 122.  Hegel, Grundlinien, § 100, 190.  Mohr, 100.  Hegel, Grundlinien, § 100, 191.

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ein Schutzmechanismus verstanden werden, der vor „Missachtungserfahrungen“181 schützt. Die weitere Ausgestaltung kann im Rahmen dieser Arbeit nicht weiterverfolgt werden. Tillichs explizite Bezugnahme in der Monismus-Arbeit zeigt jedoch, dass für ihn Hegels sozialphilosophischer Ansatz schon sehr früh eine Rolle spielte. Die immense Bedeutung der an Hegel angelehnten Rechtsfigur äußert sich im weiteren Verlauf bereits darin, dass sie sowohl für die „geistige Selbsterfassung“ als auch für die „sittliche Selbstsetzung“ die Bedingung darstellt. Die „geistige Selbsterfassung“ führt Tillich wiederum anhand der dreifachen Bestimmung aus Denken, Fühlen und Handeln ein. Hatte er zuvor den Übergang vom Reich der Natur in das der Geschichte am Rechtsbegriff festgemacht, so vollzieht sich in dieser Geschichte nun die „Selbsterfassung des universalen Geistes“ in „Gemeinschaften“182, Strömungen und in den einzelnen Individuen. In Gemeinschaftsformen, Denkrichtungen und im jeweiligen Subjekt selbst entwickelt sich demnach – denkend, fühlend und handelnd – die Geschichte, die Tillich als „Selbstdarstellung Gottes“183 begreifen möchte, fort. Tillich identifiziert die Geschichte mit der Überwindung des Nicht-Ich: „Selbsterfassung = Gotteserfassung“184. Worauf Tillich mit der Selbsterfassung abzielt, ist die Erfahrung oder das „Bewußtsein“ des „Soll“ als „Inhalt der Selbsterfassung“185. So wird auch verständlich, inwiefern Tillich an dieser Stelle die „normative Bedeutung des Gewissens“186 als einen weiteren ethischen Grundbegriff einführen kann. Ganz grundsätzlich lässt sich also sagen: Im Gewissen als meinem „inneren Gerichtshof“ (Kant) tritt in mir die Forderung als das „Sollen“ hervor. Diese Forderung bleibt zunächst unbestimmt und fordert als Gewissen zunächst „nur“, dass gehandelt werden muss. Tillich kann die Forderung respektive das innere Gewissen geradezu mit der Offenbarung Gottes am Menschen identifizieren. Diesen Aspekt konkretisierend betont Tillich, dass von diesem Konzept des Gewissens deshalb ausgegangen werden muss, weil das Christentum keine exklusive Religion für einige bestimmte Personen sein kann, sondern sich stets universell an die Menschheit richtet. Das heißt dann aber zweierlei: Einmal ist Tillichs frühe Behauptung über das Christentum als absolute, einzigartige Religionsform bekräftigt, indem hier – universell – etwas völlig Neues in die Ge-

 Vgl. Honneth, Kampf um Anerkennung, 218.  Tillich, Monismusarbeit, 123.  Tillich, Monismusarbeit, 123.  Tillich, Monismusarbeit, 123.  Tillich, Monismusarbeit, 123.  Tillich, Monismusarbeit, 123. Zum späteren Gewissensbegriff bei Tillich vgl. auch Freund, Annegret, Gewissensverständnis in der evangelischen Dogmatik und Ethik im 20. Jahrhundert (Berlin/ New York: Walter de Gruyter), 1994, 66–73.

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schichte tritt, welches sich an alle Menschen richtet. Zweitens geht Tillich davon aus, dass jeder Mensch als potenziell freies Wesen auch potenziell auf diese „Gewissensreligion“ hin ansprechbar ist. Das gilt mit folgender Einschränkung, die den Freiheitsbegriff nochmals in seiner Schlüsselfunktion bestätigt: „natürlich nur bei denen, die aus der Wahrheit sind, d. h. bei denen, die die grundlegende Tat der Freiheit vollzogen haben.“187 Damit ist die enge Verbindung von Wahrheit und Freiheit unterstrichen. Der Mensch ist nach Tillich dazu bestimmt, sich als frei zu verstehen und dabei zugleich offen zu bleiben für die im Gewissen geoffenbarte Wahrheit. Sodann stellt sich die „sittliche Selbstsetzung“ als Präzisierung dieser noch äußerst abstrakten Gedanken Tillichs heraus. Bereits der Einführungssatz bestätigt das: „Die Verwirklichung der Normen ist das Handeln, das Tun der Wahrheit.“188 Und demnach sei die sittliche Tat nicht die Naturnotwendigkeit, sondern eine sittliche Notwendigkeit von Anfang bis zu Ende, nämlich Freiheit. Das entspricht ganz dem Verhältnis von Glaube und Liebe im Christentum. [Das] ist eine sittliche Notwendigkeit [...] Die zusammenfassende sittliche Norm ist die Liebe. Jeder Akt der Liebe ist ein Akt der Selbstdarstellung Gottes, eine Überwindung des Nichtich, ein Schritt des Geistes auf dem Weg zu sich selbst.189

Schlichter ließe sich formulieren: Ich erkenne, dass ich handeln muss, nur was konkret zu tun ist, ist damit nicht gesagt. Dies entspricht dem oben konturierten Begriff des Gewissens als Forderung. Zugleich stellt die Korrelation Erkenntnis und Tat wiederum die Untrennbarkeit von theoretischem wie praktischem Handeln bzw. Selbsterfassung oder Selbstsetzung heraus. Im Blick auf beide Aspekte – die Selbsterfassung und die sittliche Selbstsetzung – ist nochmals unverkennbar der tiefe Einfluss Fichtes während der frühesten Zeit greifbar.190 Wie eingangs bemerkt denkt Tillich den Menschen als Geist oder Freiheit, der sich im Handeln gegenüber seiner Umwelt selbst erfasst und erst auf dieser Grundlage aus Freiheit, d. h. sittlich, zu handeln in der Lage ist.191 Dieser Gedanke gipfelt schließlich im Gedanken der „Theonomie“ als „Synthese von Heteronomie und Autonomie“, mit dem Tillich auf der Basis der vorigen Überlegungen „Gott als Quelle der Norm“192 nochmals zum Tragen bringt. An dieser Stelle wird der

 Tillich, Monismusarbeit, 123 f.  Tillich, Monismusarbeit, 125.  Tillich, Monismusarbeit, 125.  Auch diese Spur kann im Rahmen dieser Arbeit nicht weiterverfolgt werden. Ersichtlich ist aber, dass Tillich mit seiner Begriffsverwendung auf Fichtes Konzepte sowohl der „Thathandlung“ als auch der Sittlichkeit als Selbstbestimmung zurückgreift.  Siehe in diesem Abschnitt die Anmerkung zum Fichte-Bezug und dem Geist-Begriff.  Tillich, Monismusarbeit, 130.

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werkgeschichtlich überaus konstante Dreischritt aus Heteronomie, Autonomie und Theonomie begründet.193 Theonomie lässt sich für Tillich als eine eigentliche Freiheit bestimmen, weil sie einerseits die Autonomie der Einzelnen wahrt, diese aber zugleich auch erst ermöglicht. Daher kommentiert Medicus zu Recht präzise: „Nein, die Theonomie ist vielmehr die Vollendung der Autonomie.“194 Theonomie steht also für eine Freiheit, die sich ihrer Begründung in Gott bewusst ist. Um die Bedeutung der dargestellten Rechtsidee in einem letzten Schritt zu erhärten, lässt sich die unmittelbare Verknüpfung zur Rechtfertigungslehre herausgreifen. Diese stellt Tillich in der konzentrierten Gotteslehre her, die er unter der Zwischenüberschrift „Der Ansatz zur Synthese von ontologischem und teleologischem Monismus: Die religiöse Stufe“195 anschließt. Die „überleitende Idee“, so Tillich die Rechtsidee wieder aufgreifend, „ist wieder die Rechtsidee. Die Gerechtigkeit ist in der Theologie eine Eigenschaft Gottes; ihre Hauptbedeutung liegt in der Rechtfertigungslehre.“196 Hierbei handelt es sich für den Zusammenhang dieser Arbeit insofern um eine Schlüsselstelle, als Tillich explizit auf die zuvor dargestellte Rechtsidee verweist. Für unsre Betrachtung bezeichnet der Begriff [Rechtfertigung] nur die Hypostasierung der Rechtsidee im Gottesgedanken: das heißt: die Garantie der unbedingten Realisierung des Rechts. Nun bezieht sich der Rechtsgedanke insofern auf Sachen, als er die Durchsetzung des Anspruchs jeder Persönlichkeit auf den ihr zukommenden Teil der Wirklichkeit fordert, insofern auf Personen, als er mit dem Anspruch eines Gesetzes auftritt, das die Kraft hat, sich auch gegen die Einzelpersonen durchzuführen [sic!].197

In der zweiten Beziehung – zwischen Einzelpersonen – erblickt Tillich nun eine Analogie für „Normen der sittlich-religiösen Wirklichkeit.“198 Nicht bestimmte, sachliche Zwecke sollen aus der Erfahrung der Rechtfertigung erwachsen, sondern die „innere Realität“199 werde durch sie angesprochen und verändert. Sodann gehe die Rechtfertigung über das Recht hinaus, indem sich die Norm auch

 Vgl. dazu den Überblick und die Interpretation bei Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 240–250, der die Entwicklung zum ersten Mal hervorgehoben hat. Da die Trias in der theologischen Ethik der Systematischen Theologie 1913 wiederauftaucht, wird sie für diese Untersuchung dort näher eingeordnet. Siehe unten: Teil 1: B.4.2 1. Der Begriff der „Theonomie“ wurde von Tillich bereits im Zusammenhang mit der „Autonomie“ – noch ohne Verknüpfung mit der „Heteronomie“ – in der Fichtes Religionsphilosophie verwendet (siehe oben: Teil 1: A.2).  Tillich, Monismusarbeit, 130, Anm. 62.  Tillich, Monismusarbeit, 96.  Tillich, Monismusarbeit, 132.  Tillich, Monismusarbeit, 132.  Tillich, Monismusarbeit, 132.  Tillich, Monismusarbeit, 132.

4 Ertrag

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unbedingt gegen die Person durchsetze.200 Das geschehe jedoch nicht durch konkrete Mittel, wie beispielsweise im Rechtssystem. Vielmehr werde darin sichtbar, ob die „geistige Persönlichkeit“201 ihr telos – sich aus der Rechtfertigung heraus als frei zu verstehen – erreicht oder nicht. Deshalb, so Tillichs abschließender Gedanke, könne Gerechtigkeit auch nicht eigentlich als Eigenschaft Gottes bestimmt werden, sondern vielmehr als „Form“, in der sich der „göttliche Lebensinhalt unbedingt durchsetzt“.202 Im Rahmen der zuletzt behandelten Überlegungen hat Tillich somit auch in der Monismus-Arbeit eine erste eigene Formulierung der Rechtfertigung gegeben, die für das ethische Denken zentral bleiben wird.

4 Ertrag Vergegenwärtigt man sich die in diesem Kapitel skizzierte Grundausrichtung der Theologie Tillichs, sind im Hinblick auf diese Arbeit sechs grundsätzliche Aspekte hervorzuheben. Zunächst konnte gezeigt werden, wie Tillich die Frage nach der Stellung der Religion im Menschen schon früh als zentrale Frage der Theologie heraushebt. Zusammenfassend kommt der Religion geradezu die Rolle einer alles überragenden Überfunktion zu: In allen Sphären der menschlichen Vollzüge im Denken, Wollen und Fühlen wird sie zum Ausdruck gebracht. Zugleich stellt sie selbst die letzte Fundierung jener Sphären dar und erhält somit schon im Ansatz eine doppelte Funktion, einmal als Grundfunktion des Geistes und sodann als Begründung jeglicher Vollzüge des Menschen. Auch das menschliche Handeln basiert auf dieser prinzipiellen Gestalt der Religion und der Bestimmung des Geistes in seinen unterschiedlichen Ausdrucksweisen. Sodann – mit dem Geist-Begriff unmittelbar verbunden – belegen die ersten Texte, wie sehr Tillich durch die Lektüre des philosophischen Idealismus beeinflusst ist. Insbesondere die Beziehung von Natur und Geist genauso wie die zentrale Funktion der Freiheit treten in ersten Ansätzen hervor. Dass die Freiheit als Selbstbestimmung die Voraussetzung auch des moralischen, also interpersonalen Handelns darstellt, deutet sich in den ersten Texten bereits an. Zudem wurde – im Anschluss an die Position der Religion und an die ersten Ansätze der Bestimmung des Menschen als Geist, der über die Natur hinaus geht – die „sittliche Persönlichkeit“ als ein Theorem markiert, das sich für die frühe Zeit als grundlegend erweist. In den folgenden Texten wird Tillich auch dieses Konzept weiterentwickeln und insbesondere das Verhältnis zwischen Sittlich-

 Vgl. Tillich, Monismusarbeit, 132.  Tillich, Monismusarbeit, 132.  Tillich, Monismusarbeit, 132.

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keit, Religion und Kultur bearbeiten. Des Weiteren – und für den Zusammenhang dieser Untersuchung entscheidend – verbindet bereits der frühe Tillich grundsätzliche Fragen des menschlichen Handelnden im Ansatz mit ihrer theologischen Begründung, die im johanneischen Begriff der Liebe zu Tage tritt. Der Anfang des ethischen Denkens konnte in der Auseinandersetzung mit dem für Tillich überragend zentralen Liebesbegriff des Neuen Testaments und namentlich der johanneischen Theologie gekennzeichnet werden. Auch konnten in diesem Zusammenhang die ersten Spuren der konstitutiven Beziehung von Individualität und Sozialität aufgezeigt werden. Die Ausrichtung der Ethik am Liebesbegriff wird sich fortsetzen. Gleiches gilt für die bereits im Ansatz zu erkennende Verbindung des ethischen Denkens mit der Rechtfertigungslehre. Darüber hinaus konnte ein werkgeschichtlicher Markstein gesetzt werden, der die frühen Überlegungen in eine geweitete und zugleich konkretere Perspektive rückt. So wurde hier erstmals Tillichs klares Votum für eine sozial ausgerichtete Theologie im direkten Zusammenhang mit der Option für die politische Ausrichtung der Sozialdemokratie herausgehoben. Im Zusammenhang von Recht und Rechtfertigung konnten zuletzt Tillichs frühen Bezüge zu Hegels Rechtstheorie nachgewiesen werden. Anhand von Tillichs Rezeption der Rechtstheorie Hegels konnte gezeigt werden, dass für Tillich schon früh ein Zusammenhang besteht zwischen Recht, Rechtfertigung und der Sittlichkeit der Person. Alle genannten Grundeinsichten werden in den folgenden Texten Tillichs ihr Gewicht behalten, wenngleich in modifizierter und fortentwickelter Form. Demzufolge bilden schon die beiden frühen Texte erste Schritte, die ins Zentrum von Tillichs System führen.

B Die Entfaltung von Freiheit und Nächstenliebe in der Systematischen Theologie von 1913 Nachdem das vorangegangene Kapitel Tillichs frühe Überlegungen in ethischer Absicht aufzeigte, wird im Folgenden sein erster Entwurf einer theologischen Ethik interpretiert, den er in der Systematischen Theologie von 1913 dargelegt hat. Hierzu werden zunächst (1.) die Umstände, der Aufbau und der werkgeschichtliche Ort des Textes skizziert. Der anschließende Abschnitt (2.) analysiert Tillichs Verständnis von „Sittlichkeit“ und „Ethik“ in der Apologetik beziehungsweise Fundamentaltheologie als erstem Systemteil und stellt beide als Grundbegriffe für den Zusammenhang dieser Arbeit heraus. Der folgende Abschnitt (3.) bezieht sich auf Tillichs Konzept von Sittlichkeit und Ethik, so wie er es in der Dogmatik als dem zweiten Teil des Systems ausführt. Darin wird insbesondere die Rechtfertigungsidee näher bestimmt. Sowohl Fundamentaltheologie als auch Dogmatik müssen in die Interpretation insofern ausführlich aufgenommen werden, als die Theologische Ethik aus diesen Überlegungen unmittelbar hervorgeht. Dem dritten Teil des Systems – Tillichs werkgeschichtlich einziger genuin theologischer Ethik – ist schließlich der letzte und zentrale Abschnitt (4.) gewidmet.

1 Kontextualisierung Am 1. Oktober 1914 meldet sich Tillich als eben examinierter und ordinierter Vertretungsprediger freiwillig zum Dienst als Feldgeistlicher an der Westfront. Erst zum Ende des Jahres 1918 wird er nach Berlin zurückkehren.1 Auch vor Kriegseinbruch liegen bewegte Zeiten hinter dem gerade 27-jährigen Theologen. Nach dem Abschluss der theologischen Licentiaten-Promotion im April 1912 und dem zweiten theologischen Examen im Mai2 erfolgte im August die Ordination zum Pfarrer der Kirche der Altpreußischen Union. Im Anschluss hatte Tillich zunächst bis zum Feld Vgl. Sturm/Schüßler, Tillich, 8; vgl. Pauck/Pauck, Tillich, 53–66.  Die Datierung des Examens ist weiterhin nicht letztgültig geklärt. So geben Marion und Wilhelm Pauck in ihrer Biographie noch den 12. Juli als Datum an, vgl. dies., Tillich, 47. Werner Schüßler, „Die Jahre bis zur Habilitation (1886–1916)“, in: ders./Renate Albrecht, Paul Tillich: Sein Werk (Düsseldorf: Patmos, 1986), 9–27, 18; G. Neugebauer, Christologie, 252 (Anm. 442) und die Herausgeberinnen der Habilitationsschrift, Hummel und Lax, geben ein früheres Datum an, vgl. Der Begriff des Übernatürlichen, sein dialektischer Charakter und das Prinzip der Identität – dargestellt an der supranaturalistischen Theologie vor Schleiermacher, in: Frühe Werke, Bd. IX, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Gert Hummel und Doris Lax (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1998), 435–592, 453. https://doi.org/10.1515/9783111025490-003

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predigerdienst verschiedene Predigtstätten im Berliner Raum zu vertreten3 und sein Lehrvikariat zu absolvieren.4 Auch die Beziehung zu Margarete Wever, welche Tillich im September 1914 heiraten sollte, wird im Sommer des Jahres 1913 begonnen haben.5 Zeitgleich installierte der junge Geistliche gemeinsam mit Richard Wegener im Herbst 1912 die sogenannten „Vernunft-Abende“, welche die apologetische Ausrichtung in Tillichs frühem Denken praxisbezogen zum Ausdruck brachten. Der Impetus der beiden Nachwuchsgelehrten, die – nach einer konventionellen Studienzeit samt Einbindung in der Wingolf-Verbindung – nun den Geist der Großstadt atmeten, bestand darin, aus dem Elfenbeinturm zu den kirchen- und bildungsfernen Schichten vorzudringen. Die häufig bemerkte Inspiration dieser Salon-Events durch Schleiermachers Reden an die Gebildeten ist daher sicher nicht zu bestreiten.6 Der Titel „Vernunft-Abende“ sollte vorsorglich die „Werbung für irgendeine Idee“7 ausschließen und den Weg für die freie Disputation zwischen den unterschiedlichsten Menschen ebnen. So trafen sich in den von vier Berliner Familien bereitgestellten Häusern Künstlerinnen und Künstler, Philosophen, Juristen, Katholiken, Jüdinnen und Juden, Monisten, Theosophen und Offiziere, um den Vorträgen Wegeners, Tillichs und des Pfarrkollegen Eduard Le Seurs zu lauschen.8 Theologie als Apologie zu betreiben, bedeutet für Tillich während dieser Zeit einen entscheidenden Entwicklungsschritt. Das wird nicht zuletzt am Titel des begründenden und ersten Teils der Systematischen Theologie von 1913 sichtbar: Die Apologetik beziehungsweise Fundamentaltheologie stellt vor Dogmatik und Theologischer Ethik den ersten Teil des Entwurfs dar. Bereits in dem zeitnahe 1912 ver-

 Mit Sicherheit angeben lassen sich: Treptow, Moabit, Lankwitz (vgl. die Anmerkungen zur Textgeschichte von Gert Hummel und Doris Lax, in: Der Begriff des Übernatürlichen, 435). Vgl. G. Neugebauer, Christologie, 252.  Vgl. Schüßler, Tillich (1997), 12.  Anneliese Hamann, „Erinnerungen an Paul Tillich und Greti Wever“, in: Ein Lebensbild in Dokumenten. Briefe Tagebücher, Berichte, Bd. V, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich hg. von Renate Albrecht und Margot Hahl (Stuttgart/Frankfurt a.M.: Evangelisches Verlagswerk, 1980), 65 f. 65; ferner Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 110 (Anm. 2). Im Jahre 1921 erfolgte die Scheidung, 1924 wird Tillich Hannah Werner Gottschow heiraten: vgl. Christophersen, „Tillich und Bultmann“, 202.  Vgl. G. Neugebauer, Christologie, 252; Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 110 (Anm. 5).  „Brief Maria Rhines: Tillich, der Apologet“, in: Impressionen und Reflexionen. Ein Lebensbild in Aufsätzen, Reden und Stellungnahmen, Bd. XIII, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1972), 543–545, 544; vgl. ferner: Schüßler, „Jahre der Habilitation“, 19.  Vgl. den „Lebenslauf von Richard Wegener (1883 – 1967)“, in: Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische und politische Stellungnahmen und Gespräche, Bd. VI, Ergänzungsund Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich hg. von Renate Albrecht und René Trautmann (Frankfurt a.M.: Evangelisches Verlagswerk, 1983), 87–89, 87.

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fassten Memorandum Die Kirchliche Apologetik9 summiert Tillich die Idee einer apologetischen Form der Theologie und bündelt somit die Erfahrungen der SalonDiskussionen zu einem kirchlichen Thesenpapier. Und auch in den Feldpredigten verbindet sich deutlich ein apologetisches mit einem seelsorglichen Interesse, sodass das biographische Zugleich von theoretischer und praktischer Arbeit abgebildet wird, in dem Tillich sich in dieser Zeit befindet.10 Vor diesem Hintergrund steht die Interpretation des folgenden Kapitels (B), das auf die Theologische Ethik der Systematischen Theologie von 1913 zielt. Hierbei handelt es sich um den dritten Teil (nach Fundamentaltheologie und Dogmatik) in Tillichs erstem großen Entwurf vor dem Ersten Weltkrieg. Von ihm selbst nie publiziert, ist die Bedeutung der Systemschrift für die Entwicklung seines Denkens dennoch nicht zu unterschätzen.11 Insbesondere die neuere Forschung hat sich des Manuskripts von 1913 wie kaum eines anderen Textes in Tillichs Werkbiographie angenommen.12

 „Kirchliche Apologetik“ (1912), in: Impressionen und Reflexionen. Ein Lebensbild in Aufsätzen, Reden und Stellungnahmen, Bd. XIII, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart 1972, Evangelisches Verlagswerk, 34–63. Dieses Memorandum sollte nach Eingang bei der Kirchenbehörde schließlich zur Gründung einer „Apologetischen Zentrale der Inneren Mission“ führen (vgl. Tillich, „Auf der Grenze“, 39, ferner Schüßler, „Jahre der Habilitation“, 19).  Tillichs erhaltene Feldpredigten sind zugänglich in: Frühe Predigten (1909–1918), Bd. VII, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. v. Erdmann Sturm (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1994). Vgl. dazu die Deutung der Verknüpfung von Apologie und Seelsorge bei Erdmann Sturm, „Zwischen Apologetik und Seelsorge. Paul Tillichs frühe Predigten (1908–1918)“, in: Ilona Nord/Yorick Spiegel (Hg.), Spurensuche. Lebens- und Denkwege Paul Tillichs (Münster: Lit, 2001), 85–104; Erdmann Sturm, „Holy Love Claim Life and Limb. Paul Tillichs War Theology (1914–1918)“, in: ZNThG 2 (1995), 4–12.  G. Neugebauer, Christologie, 284, hat beispielsweise darauf hingewiesen, dass Tillich 1913 bereits die wesentlichen Grundlagen für seine Theologie der Kultur bereitet, die er nach dem Ersten Weltkrieg konzeptualisiert. Siehe dazu ausführlich unten: Teil 1: B.4.5.  Uwe Carsten Scharf, The Paradoxical Breakthrough of Revelation. Interpreting the DivineHuman Interplay in Paul Tillich’s Work 1913–1964 (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 1999), 25–76, bietet den ersten Ansatz einer Interpretation der Ethik des Systems und stellt im Anhang zudem eine englische Übersetzung des Textes nach (vgl. 333–478); G. Neugebauer, Christologie, 252–289, untersucht die Bedeutung des frühen Systems für Tillichs christologisches Geschichtsdenken und hat insbesondere die Präfigurationen der Kulturtheorie aufgezeigt. Ebenfalls bietet Neugebauer einen kurzen Abschnitt zur Ethik (vgl. 283–287); Dienstbeck, Transzendentale Strukturtheorie, 37–234, nimmt zu Recht in Anspruch, die erste umfassende Interpretation der Schrift zu bieten (vgl. 19 f.); Christian Danz, „Theologie als normative Religionsphilosophie. Voraussetzungen und Implikationen des Theologiebegriffs Paul Tillichs“, in: ders. (Hg.), Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul (Wien: Lit, 2004), 73–106, bietet eine grundlegende Skizze der Ausbildung von Tillichs Theologieverständnis in werkgeschichtlicher Perspektive von den Anfängen bis in die 1920er Jahre

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Allen strittigen Datierungsfragen zum Trotz wird der frühe Entwurf Tillichs im atemberaubend kurzen Zeitraum von etwa einem halben Jahr entstanden sein.13 Die Systematische Theologie von 1913 stellt Tillichs ersten Versuch dar, die Theologie in das System der Geisteswissenschaft einzuzeichnen.14 Der Anspruch, ein systematisches Gebilde zu schaffen, welches der Theologie ihren Ort und ihre Funktion in der Geisteswissenschaft zuweist, durchzieht das Gesamtwerk und endet 1951–1963 mit der Publikation der späten Systematischen Theologie.15 Auch

hinein. Hinzu kommen weitere Interpretationen zu speziellen Fragestellungen: Mit der Rezeption Schellings und insbesondere seines Freiheitsbegriffs durch den frühen Tillich befassen sich wiederum Dienstbeck, „Hierarchische Reziprozität“, 123–147; Danz, „Das Absolute“, 113–121. Vgl. ferner: Bernet-Strahm, Vermittlung des Christlichen 161–184; John P. Clayton, The Concept of Correlation. Paul Tillich and the Possibility of Mediating Theology (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 1980), 22–30; Mokrosch, Theologische Freiheitsphilosophie 17. Vgl. zudem die Aufsätze Gert Hummels, der die Edition in den Ergänzungs- und Nachlassbänden mitverantwortete: Hummel, Gert, „Das früheste System Paul Tillichs, „Die Systematische Theologie von 1913“, in, NZSTh 35/2 (1993), 115–132; „Tillich’s 1913 Systematische Theologie“ and his 1925 „Dogmatik – A Comparison“, in: Jean Richard u. a. (Éd.), Études sur la Dogmatique (1925) de Paul Tillich (Paris/Québec: Presses de lʼUniversité Laval, 1999), 361–381; „The Concept of Religion in Paul Tillich’s „Systematische Theologie of 1913“, in: Robert. P. Scharlemann (Hg.), NAPTS Newsletter XXII/2, Charlottesville VA 1996, 3–12. Den Fokus auf Tillichs Verständnis des theologischen Prinzips legt Johannes Kubik, Paul Tillich und die Religionspädagogik. Religion, Korrelation, Symbol und protestantisches Prinzip (Göttingen: V&R Unipress, 2011) 237–252. Doris Lax, Rechtfertigung des Denkens, 117–286, vergleicht das 1913er System mit andern Schriften aus dem unmittelbaren zeitlichen Kontext; Vgl. zudem Folkert Wittekind „‚Allein durch den Glauben‘. Tillichs sinntheoretische Umformulierung des Rechtfertigungsverständnisses 1919“, in: Christian Danz/Werner Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919–1920) (Wien/Berlin: Lit, 2008), 39–65; ders., „Das Dämonische in Tillichs Dresdner Dogmatik. Theologie- und werkgeschichtliche Hintergründe der schöpfungstheologischen Sündenlehre und ihrer Bezüge zur Kultur- und Geschichtsphilosophie“, in: Christian Danz/Werner Schüßler (Hg.), Das Dämonische. Kontextuelle Studien zu einer Schlüsselkategorie Paul Tillichs (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2018), 69–123, bes. 96–109; Erdmann Sturm: „Die Genese von Tillichs Kulturtheologie in seinen frühesten Texten“, in: Christian Danz/Werner Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur. Aspekte – Probleme – Perspektiven (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2011), 64–93. Barth: „Protestantismusverständnis und Kulturtheorie. Kontinuität und Wandel im Werk Tillichs“, in: ders., Kritischer Religionsdiskurs (Tübingen: Mohr Siebeck, 2014), 408–430; M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 110–115.  Vgl. Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 111.  Zu Recht weist Heinemann darauf hin, dass bereits Tillichs Monismusarbeit das Interesse am Systemdenken aufweist, wie oben gezeigt wurde (vgl. Teil 1: A.3). Hier gilt Tillichs Blick vornehmlich dem Problem des Verhältnisses von Monismus und Dualismus. Allerdings kann die Schrift nicht als eigenständige Systemkonstruktion neben den großen Entwürfen gelten (vgl. Heinemann: Sinn, 66).  Systematische Theologie, Bd. I–III.

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hier wird mit der Frage nach dem Standpunkt des Denkens respektive der Theologie überhaupt begonnen. Zwischen beiden Schriften liegen 42 Jahre einer theologischen Biographie, in der sich der studentische Traum eines ganzen Systems16 stetig entlang der sich wandelnden Verhältnisse fortentwickelt hat. Aufgrund der veränderten Quellenlage lassen sich fünf Ansätze zu einem systematischen Gesamtentwurf ausmachen, an deren Anfang der zu analysierende Text von 1913 steht. Zehn Jahre nach dem ersten Entwurf entsteht die zweite große Systemschrift in der Werkbiographie Tillichs. Diese Ernst Troeltsch zugeeignete Wissenschaftsenzyklopädie trägt den Titel Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden.17 Den Ausgangspunkt bildet hier nicht mehr die absolutheitstheoretische Begründung des Denkens unmittelbar am Wahrheitsbegriff, sondern die Relation aus Denken und Sein. Die Vorstellung vom Wissen selbst wird zur Leitidee. Sämtliche Formen der Wissenschaft seien als Schöpfungen des Geistes zu verstehen, welche sich strukturell in Denk-, Seins- und Geisteswissenschaften aufspalten ließen.18 Während die Systematische Theologie von 1913 also durchweg den idealistischen Anfängen des jungen Theologen entspringt, setzt das System der Wissenschaften seinen ganz eigenen wissenschaftssystematischen Fluchtpunkt.

 1963 sinniert Tillich: „In diesem Moment erinnere ich mich an den Sommer 1905, wo ich Student in Tübingen war [...] und der Gedanke, die Welt durch ein System des Denkens zu erobern, schon in mir war. Daß ich es je im Ernst versuchen würde, war damals nur ein Traum. Aber dann versuchte ich langsam diesen Traum zu verwirklichen.“ Zitiert nach Werner Schüßler, in: Paul Tillich, Dogmatik. Marburger Vorlesung von 1925, hg. v. Werner Schüßler (Düsseldorf: Patmos, 1986), 4.  Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden, in: Frühe Hauptwerke, Bd. I, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht, (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 21959), 113–121. Seinem Untersuchungsgegenstand entsprechend unterzieht Heinemann diese Schrift einer eingehenden Untersuchung und verknüpft sie als Doppelwerk mit der im selben Band veröffentlichen Religionsphilosophie von 1925. Diese wurde zwar erst 1925 erstmals publiziert, aber ebenfalls bereits 1923 abgefasst (vgl. Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 218). Siehe zu dieser Schrift in der vorliegenden Untersuchung Teil 2: A.3. Die Religionsphilosophie wird in dieser Arbeit deshalb mit Jahreszahl geführt. Tillich hat die Schrift zunächst als Teil für ein Lehrbuch konzipiert und später mehrfach als eigenes Werk publiziert. Vgl. Tillich, „Religionsphilosophie“, in: Max Dessoir (Hg.), Die Geschichte der Philosophie (Berlin: Ullstein, 1925); Tillich, Religionsphilosophie (Stuttgart: Kohlhammer, 1962).  Siehe dazu unten: Teil 2: B.

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Die in Dresden vorgetragene Dogmatik-Vorlesung von 1925–2719 stellt sodann bereits eine sinntheoretische Deutung des Offenbarungsbegriffs dar.20 Hier zeigt sich im Gegenüber zu dem von Fichte und Schelling geprägten Wahrheits- und Absolutheitsgedanken ein weiterer Schritt im Denken Tillichs: Das Symbol des Durchbruchs, das für die Offenbarung des Unbedingten steht, rückt ins systematische Zentrum. 1927/28 erarbeitet Tillich anschließend sein System der religiösen Erkenntnis21, dessen Bedeutung für Tillichs Entwicklung in der jüngeren Forschung herausgestellt wurde.22 Diese Schrift verdient es, in das werkgenetische Netzwerk der Systementwürfe aufgenommen zu werden, da Tillich zentrale Einsichten seiner Idee der Systematischen Theologie hier bereits ausführt.23 Nach der Emigration 1933 bietet Tillich dann 1936–1938 in New York einen regelmäßigen Vorlesungszyklus an, welcher unter dem Titel Advanced Problems in Systematic Theology. Courses at Union Theological Seminary, New York24 ediert vorliegt. In diesen Manuskripten lässt sich der Weg nachvollziehen, der Tillich zur fünfgliedrigen Struktur der Systematic Theology führte. Die New Yorker Vorlesungsreihe ist die unmittelbare Vorstufe des großen Hauptwerks.25 In der Fortsetzung schließlich dieser Vorlesungen im Wintersemester 1940/41 erst fügt Tillich die Pneumatologie als fünften Hauptteil unter dem Titel Life and Spirit an die Christologie an und hat damit seine Struktur protestantischer Systematik komplettiert.

 „Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925–1927)“, Bd. XIV, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Werner Schüßler und Erdmann Sturm (Berlin/ New York: Walter de Gruyter, 2005).  Vgl. zu dieser in Teilen Fragment gebliebenen Schrift insbesondere Wörn, Ambiguität, 173–247, ferner Folkert Wittekind, „Die Vernunft des Christusglaubens. Zu den philosophischen Hintergründen der Christologie der Marburger Dogmatik“, in: Christian Danz/Werner Schüßler/ Erdmann Sturm (Hg.), Wie viel Vernunft braucht der Glaube? (Wien: Lit, 2005) 133–157.  Das System der religiösen Erkenntnis, in: Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908–1933), zweiter Teil, Bd. XI, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Erdmann Sturm (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1999), 76–147. Tillich hatte ursprünglich geplant, das als zweibändige Dogmatik zu veröffentlichen, die den Titel „Die Wissenschaft vom religiösen Symbol“ erhalten sollte, so Erdmann Sturm in seinen Anmerkungen zur Textgeschichte („System der religiösen Erkenntnis“, 78).  Erste Interpretationen finden sich bei Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 476–479 und Fritz, Menschsein als Frage, 346–353.  Vgl. Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 390–408.  Advanced Problems in Systematic Theology. Courses at Union Theological Seminary (New York, 1936–1938), Bd. XIX, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. v. Erdmann Sturm (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2016).  Vgl. Erdmann Sturm: „Historische Einleitung zur Vorlesung Advanced Problems in Systematic Theology“, EN XIX, XXI–XLI.

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Dieser Blick in Tillichs Systemansätze deutet bereits an, dass es am Ende doch eher werkgeschichtlich konsequent und eben nicht rätselhaft scheint, dass Tillich sein frühes Gedankenexperiment von 1913 – vermutlich mit einer knappen Ausnahme26 – nicht wieder erwähnen, geschweige denn publizieren sollte.27 Wie erwähnt wird der idealistisch-absolutheitstheoretische Zugang – beginnend mit der Frontkorrespondenz – zugunsten der 1917/18 ansetzenden Kultur- und Sinntheorie in den Hintergrund treten. Auch wenn die jüngere Forschung28 tiefgreifende Interpretationen erarbeitet hat, befindet sich die Diskussion um Tillichs erstes Hauptwerk nach wie vor an ihrem Beginn. Dies zeigt sich schon daran, dass von einer Übereinstimmung hinsichtlich der fundierenden ersten drei Paragraphen und der Architektur der Fundamentaltheologie insgesamt keine Rede sein kann.29 Wie auch immer sich die Diskussion über Tillichs erste Systemskizze fortsetzen wird: Offensichtlich ist, dass sie das vorgezogene Ende des „frühen Tillich“ bedeutet, während sich die Grundentscheidungen im Briefwechsel mit Emanuel Hirsch 1917/18 dann als konkreter

 In einer während des Krieges eingetragenen Tagebuchnotiz, welche die bewegten letzten fünf Jahre (1909–1914) bündeln möchte, schreibt Tillich: „Und nun heißt es schweigend verzeichnen, was geschah. Es ist die Grundlage, auf der mein Lebensbau steht. Da ist es zu gefährlich, die Fundamente bloßzulegen. Im August 1913 war die Verlobung, im Winter das Zusammensein [mit Greti] in Berlin, die Arbeitszeit in Butterfelde, die Dogmatik und Habilitationsschrift [...]“, „Tagebucheintrag“ (1913), in: Ein Lebensbild in Dokumenten. Briefe Tagebücher, Berichte, Bd. V, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Renate Albrecht und Margot Hahl (Stuttgart/Frankfurt a.M.: Evangelisches Verlagswerk, 1980), 70–74, 72. Obgleich es nicht mit letzter Sicherheit zu sagen ist, fällt es schwer, einen anderen Text als die Systemische Theologie von 1913 mit der erwähnten Dogmatik zu identifizieren. Der einzige Grund, der dagegensprechen mag, ist, dass die Bezeichnung als Dogmatik etwas seltsam anmutet, wenn die Anlage und der Aufbau des Systems bedacht werden.  Siehe dazu: Erdmann Sturm, „Historische Einleitung zur „Dresdner Dogmatik-Vorlesung 1925–1927)“, EN XIV, XXI: „Weshalb Tillich sein erstes System nie wieder erwähnen sollte, geschweige denn veröffentlichte, bleibt ein Rätsel.“ Heinemann bilanziert zum Abschluss seiner Analyse des Systems, dass jene spekulative Ausrichtung der Schrift in ihrer durchweg idealistischen Formatierung für den frühen Tillich singulär blieb. Im Gegenüber zu den von Tillich auch später oftmals erwähnten Texten aus der Zeit – so etwa der Kasseler Thesenreihe (1911) – musste das System gerade im Übergang zur Sinntheorie 1917/18 für Tillich zum „Relikt“ werden, vgl. Heinemann, Sinn – Geist – Symbol 171 f. Die oben genannte Notiz wird dabei allerdings von Sturm und Heinemann nicht einbezogen.  Vgl. Insbesondere G. Neugebauer, Christologie, 252–292; Dienstbeck, Transzendentale Strukturtheorie, 37–234; Danz, „Religionsphilosophie“; Kubik, Religionspädagogik, 237–252; Heinemann, Sinn – Geist -Symbol, 110–172; Shearn, Pastor Tillich, 153–181. So verhandelt G. Neugebauer, Christologie, 283–287, entsprechend seiner Fragestellung die christologischen Implikationen der Ethik zum Abschluss der Analyse.  Vgl. Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 113.

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Überschritt in die „mittlere Zeit“ herausstellen werden.30 Insoweit stellt die Systemschrift auf die vorangehenden Schriften die Bündelung der Suchbewegungen von der Studienzeit bis zum Kriegsausbruch dar. Mit Blick auf die angesprochenen Forschungen der letzten zehn Jahre lässt sich festhalten, dass die Theologische Ethik als drittem Systemteil bislang sehr randständig und ergänzend beachtet worden ist.31 Tillich Entwurf von 1913 ist grundsätzlich strukturiert in eine klassische Dreiteilung aus Apologetik oder Fundamentaltheologie (§§ 1–28), Dogmatik (§§ 29–49) und Ethik (§§ 50–72).32 Der erste Teil des Systems begründet die drei Standpunkte des Denkens: den absoluten (§§ 1–15), den reflexiven (§§ 16–21) und den paradoxen oder theologischen Standpunkt (§§ 22–28). Die Dogmatik ist gleichermaßen dreifach gegliedert und behandelt klassische Topoi evangelischer Lehrbildung in trinitarischer Abfolge: Im Rahmen der Gotteslehre behandelt Tillich (§§ 29–36) die Lehre von der Dreieinigkeit bis zur Gnadentheologie. Sodann wird die Christologie im Dreischritt von Offenbarung, Versöhnung und Erhöhung (§§ 37–43) expliziert. Die Pneumatologie (§§ 44–49) umfasst zuletzt die christliche Soteriologie, die Eschatologie und schließlich das ewige Leben. Schließlich thematisiert die Theologische Ethik das religiöse (§§ 50–56), sittliche (§§ 57–67) und kulturelle (§§ 68–72) Leben auf der Grundlage der beiden ersten Systemabschnitte. In der nachfolgenden Interpretation des Entwurfs von 1913 wird die Genese des ethischen Denkens kleinschrittig rekonstruiert. Dazu werden Tillichs Weg zur Theologischen Ethik im System verfolgt und die grundlegenden Entwicklungsschritte dargelegt. Aufgrund der komplexen Struktur des Textes sollen hier knapp die Leitgesichtspunkte der Interpretation zusammengefasst werden, um dem Kapitel von Beginn an einen Fokus zu geben.

 Vgl. dazu Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 173–215.  Eine Ausnahme stellen die Ausführungen bei Scharf, Breakthrough, 50–65, dar. G. Neugebauer, Dienstbeck, Heinemann und auch Danz konzentrieren ihre Analyse deutlich auf die Apologetik. Sowohl bei Dienstbeck als auch bei Neugebauer wird die Dogmatik breit behandelt. Neugebauer bietet zudem eine knappe Skizze zur Ethik und setzt sie in Bezug zur geschichtstheologisch angelegten Christologie. Die instruktive Orientierung von Gert Hummel bietet erste Hinweise zur Struktur der Ethik, was ebenfalls für den Ausblick bei Doris Lax gilt. Trotz ihrer notwendigen Kürze ist Matthias Neugebauers Interpretation die bislang präziseste Erörterung der Ethik im System von 1913.  Die Inspiration zu dieser Struktur wird Tillich dem Hallenser Lehrer Martin Kähler verdanken, obgleich dessen Bedeutung für Tillich insgesamt in der neueren Forschung zunehmend skeptisch gesehen wird. Siehe dazu die Gliederung des Hauptwerks: Martin Kähler Die Wissenschaft der christlichen Lehre von dem evangelischen Grundartikel aus (Leipzig: Deichert, 31905). Zum Einfluss auf Tillich insgesamt: Wenz, Subjekt und Sein, 24–28; kritisch dazu Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 81 f.

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Formelhaft und einleitend lässt sich das System von 1913 als ein Durchdenken der Beziehung von „Wahrheit“ und „Freiheit“ und der von „Freiheit“ und „Liebe“ kennzeichnen.33 Schon bei der ersten Annäherung an das ethische Denken im Text fällt auf, dass Tillich insbesondere die überragende Bedeutung des Freiheitsgedankens mit dem Denken Kants und des deutschen Idealismus teilt. Wo immer es dabei um menschliches Handeln geht, geht es um die Frage nach der menschlichen Freiheit.34 Mit dem argumentationslogischen Einsatz des Systems beim Begriff der Wahrheit (§§ 1–3) bis zum Zustand des Denkens als Reflexion (§§ 16–20) skizziert Tillich letztlich nichts anderes als die Entwicklung des Menschen, den er mit dem Geist gleichsetzt und den er ebenso zum Wesen der Freiheit erklärt.35 Mit der Skizzierung der Geistesentwicklung versucht Tillich sich darüber klar zu werden, wie es zu dem Zustand gekommen ist, den er schließlich als relativen Standpunkt beschreibt: Der Mensch als Geist sei völlig auf seine rationale Selbstverwirklichung ausgerichtet.36 Von all seinen Möglichkeiten, theoretisch wie praktisch auf die Natur und seine Mitwelt einzuwirken, fixiere er sich völlig auf seine Reflexionsfähigkeit.37 Diesen Status identifiziert Tillich theologisch gewendet mit dem Sündenstandpunkt.38 Sünde wird von Tillich als das Verlieren wirklicher Freiheit verstanden. Denn, wie im Verlauf der Interpretation zu sehen sein wird, geht es Tillich durchweg um die Konturierung des Menschen als Wesen, welches erst dann wirklich frei wird, wenn es sich als abhängig von einer Wahrheit empfindet, die jene Freiheit schafft. Letzteres lässt sich auf die Formel „endliche Freiheit“39 kürzen. Und für diesen Aspekt der Freiheit steht in Tillichs Konzept die Religion. In der Religion, so Tillichs theologische Pointe, gewinnt der Mensch seinen Bezug zur Wahrheit respektive zu Gott zurück. Religion steht für die Rückkehr des Menschen zur Wahrheit. Summarisch gesagt durchläuft der Mensch als Wesen der Freiheit – in Tillichs transzendentaler Beschreibung – drei Phasen: Erstens befindet er sich mit der Wahrheit in absoluter Einheit und ist daher auch absolut frei.40 Zweitens rückt er als reflektierendes Wesen von der Wahrheit ab, indem er versucht, sich denkend selbst zu begründen. Dafür steht beim theologisch denkenden Idealisten Tillich die Sünde für Fixierung auf sich selbst und damit für Unfreiheit. Doch

       

Vgl. M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 111. Vgl. dazu exemplarisch Mohr, „Freiheit“, 144. Siehe dazu unten: Teil 1: B.2.2. Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 287 f. Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 307–14, bes. 308–311. Siehe Teil 1: B.2.4. Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913: 312. So der Begriff bei Christian Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein, 3. Siehe unten: Teil 1. B.2.2.

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B Die Entfaltung von Freiheit und Nächstenliebe

endet die Geschichte des Menschen nicht in Unfreiheit, sondern der Mensch kehrt, drittens, zur Wahrheit zurück, aus der er hervorging. Ermöglicht wird diese Rückkehr durch die Rechtfertigung als der liebenden Hinwendung Gottes zum Menschen. Diese Umstände bilden die Voraussetzung der theologischen Ethik: Ihr Gegenstand ist die gedankliche Beschreibung jener Rückkehr zur Wahrheit, von der sich der Mensch in der Fixierung auf die Reflexion entfernt hat. Die Rückkehr, die vordergründig in der Frage nach dem sittlichen Leben thematisiert wird, vollzieht sich aber nicht nur abstrakt durch den Bezug der Einzelnen zur Wahrheit, sondern ausdrücklich als gemeinschaftliches Leben, das vom Rechtfertigungsgedanken her zu verstehen ist. In der Theologischen Ethik – das ist der Zielpunkt der Ausführungen – stellen dann nicht mehr Wahrheit und Freiheit, sondern Freiheit und Liebe die basale Konstellation dar.41 Beide bestimmt Tillich sodann als Theonomie beziehungsweise Christonomie.42 Während die Theonomie als eigentliche Freiheit bestimmt wird, weil sie sich als abhängig von einer höheren Freiheit erkennt, steht die Christonomie für die Liebe als praktische Anwendung der Freiheit. Beide Aspekte, die abstrakte Theonomie und die konkrete Christonomie, bilden die Grundlage der gesamten Theologischen Ethik. Um den Weg von der Konstellation Wahrheit – Freiheit zu Freiheit – Liebe zu beschreiben und den Ort und die Aufgabe der Theologischen Ethik aufzuweisen, unterteilt Tillich das Wissenschaftssystem in der Fundamentaltheologie zunächst in die drei erwähnten Standpunkte, nämlich den absoluten, den relativen und den theologischen. Waren der absolute und der relative Standpunkt oben bereits angeklungen, so stellt der theologische seinerseits deren Synthese dar:43 Der theologische Standpunkt soll es ermöglichen, zwei Zustände des Menschen zusammenzudenken. Den absoluten Zustand, in welchem der Mensch sich in der völligen Einheit mit der Wahrheit befindet, und den relativen Zustand, in dem der Mensch sich von der Wahrheit entfernt hat, aber zu ihr zurückdrängt. Die Funktion der theologischen Ethik ist demnach schon durch ihre Auszeichnung als „theologisch“ vorgegeben. Hier wird thematisiert, wie der Mensch, nachdem er den Weg der Reflexion oder Sünde eingeschlagen hat, zur Wahrheit zurückkehrt. Ebendas ist aber für Tillich grundsätzlich nur möglich, sofern das Handeln des Menschen unter dem Vorzeichen der Rechtfertigung steht. Theologische Ethik ist die Beschreibung des individuellen sozialen wie kulturellen Lebens in Anerkennung der Rechtfertigung. Die

 Vgl. dazu auch M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 112.  Vgl. besonders Systematische Theologie 1913, 394. Siehe dazu unten: Teil 1: B.4.2.1.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 314 f. Siehe dazu unten: Teil 1: B.4.

2 Die Entfaltung der Sittlichkeit in der Fundamentaltheologie

71

fundierende Position des Rechtfertigungsgedankens kann nach Tillich nicht genug betont werden und wird im weiteren Verlauf des Werks konstant bleiben.44 Auf dieser Basis zielt Tillich generell auf eine transzendentale Beschreibung dieser Entwicklung, nicht auf eine geschichtliche Darstellung. Mit dem Terminus „transzendental“ soll angedeutet werden, dass Tillichs nachfolgenden Beschreibungen des Menschen, seines Verhältnisses zur Geschichte und seines Denkens, Handelns und Fühlens in Kultur, Sittlichkeit und Religion nicht zuerst historische Darlegungen sein wollen. Vielmehr versucht Tillich – so wird im Folgenden klar werden – sich über die Voraussetzungen und Bedingungen der Verfasstheit des Menschen klar zu werden und das begrifflich darzustellen. Konkreter gesagt versucht er zu verstehen und zu rekonstruieren, wie sich der zeitgenössische Mensch im Hinblick auf sein kulturelles Handeln, insbesondere aber sein religiösen Bewusstsein und sein „Verwiesen-sein“ auf ein „Absolutes“ umschreiben lässt. Dieser Aspekt ist insbesondere hinsichtlich der folgenden Erörterungen zu Kultur, Sittlichkeit und Religion stetig im Blick zu behalten. Denn obwohl Tillich durchaus geschichtliche Vorgänge beschreiben will, geht es ihm vordergründig zunächst um eine phänomenologische Beschreibung der Entwicklung des Menschen in der Geschichte.

2 Die Entfaltung der Sittlichkeit in der Fundamentaltheologie Der folgende Abschnitt (2.) ist allein mit der Fundamentaltheologie/Apologetik befasst und folgt dem Aufbau des Systems. Zuerst wird (2.1) der Einsatz bei dem Verhältnis von Wahrheit und Denken erörtert. Zweitens (2.2) wird die Entwicklung der Sittlichkeit auf dem absoluten Standpunkt der Vernunft analysiert. Es folgt drittens (2.3) die Interpretation der Sittlichkeit auf dem relativen Standpunkt des Verstandes und viertens (2.4) die Darlegung des Theologischen Standpunkts. Auf der Basis dieser grundlegenden Aspekte wird dann zur Dogmatik (3.) und Theologischen Ethik (4.) übergeleitet. Bestimmt man die „Apologetik“ – ins Allgemeine gewendet – als rationalwissenschaftliche Verteidigung des Glaubens und nicht etwa als „selbstgerechtes [...] Prahlen“45, so wird darin die systematische Begründung eines theologischen Systems gegeben, um auf dieser Basis dann Fragen zu dogmatischen und ethischen Gehalten zu thematisieren. Eleganter lässt sich Apologetik als „antwortende Theolo-

 Vgl. grundsätzlich den theologischen Standpunkt oder das theologische Prinzip: Teil 1: B.2.5.  Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I,2: Die Lehre vom Wort Gottes (§§ 16–18). Prolegomena zu Kirchlichen Dogmatik: Die Offenbarung Gottes (Zürich: Theologischer Verlag 1993), 365.

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B Die Entfaltung von Freiheit und Nächstenliebe

gie“46 bezeichnen, wie Tillich etwa 50 Jahre später in seiner Systematischen Theologie formuliert. Die darin konstitutive Methode der Korrelation ist ein ausdrücklich apologetisches Verfahren.47 Apologie versucht, „Fragen und Antworten, Situation und Botschaft, menschliche Existenz und göttliche Selbstoffenbarung in Korrelation“48 zu setzen. Noch offensichtlicher wird die Begründungsfunktion der Apologetik, wenn man Tillichs Bezeichnung „Fundamentaltheologie“49 in der später von ihm hinzugefügten „Skizze“50 des Entwurfs von 1913 ernst nimmt. Hier ersetzt er also den Begriff der Apologetik und weist damit auf die begründende Funktion des ersten Teils im System hin. Die genannte Skizze enthält überdies eine spätere Gliederung des Systems. Sie wird deshalb im Folgenden dort herangezogen, wo sie zu einem besseren Verständnis von Tillichs Zugriff dient und sich der Fließtext dadurch näher erschließen lässt. Die editions- und publikationsgeschichtlichen Probleme reichen noch weiter, sind aber für den vorliegenden Zusammenhang nicht zentral.51

 Tillich, ST III, 13.  Vgl. dazu Michael Roth, Gott im Widerspruch? Möglichkeit und Grenzen der theologischen Apologetik (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2003), 289 ff.  Tillich, ST III, 15.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 426.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 426–430.  Wie Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 112, anmerkt, waren bis zur ersten vollständigen Zusammenstellung in den Ergänzungs- und Nachlassbänden bereits länger „72 Thesen“ zum System von 1913 bekannt, welche vor Veröffentlichung der ersten Edition des Gesamttextes mehrmals eigenständig publiziert wurden und für sich in Anspruch nehmen, die Erstpublikation zu bieten (vgl. die editorischen Anmerkungen von Gert Hummel und Doris Lax, Systematische Theologie 1913, 273, die aber die Arbeiten nicht nennen): Manfred Baumotte (Hg.), Tillich-Auswahl, Bd. 1: Das neue Sein (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1980), 105–119; Clayton, Concept, 253–268; Bernet-Strahm, Vermittlung des Christlichen, *62–*76. Schließlich wurden die 72 Thesen 1992 auch in den Mainworks wiederabgedruckt: „Systematische Theologe 1913/14“, in: Theological Writings/ Theologische Schriften, hg. von Gert Hummel (Berlin/New York Walter de Gruyter, 1992), 63–81. Problematisch ist innerhalb der Gesamtedition des Textbestandes, welche aus den Boxen des Harvard-Archivs zusammengestellt wurde, dass hier verschiedene „Schichten“ ineinander gewoben sind, was ein zu einheitliches Bild suggeriert. Drei Stränge müssen dahingegen voneinander abgehoben werden: Zunächst sind die als Leitsätze geführten Thesen zu Beginn eines jeden Abschnitts identisch mit den 72 Thesen und wurden aller Wahrscheinlichkeit nach im Herbst 1914 von Richard Wegener – allerdings in Rücksprache mit Tillich – abgefasst. Die 72 Thesen sind somit „materialiter ein Werk Tillichs, formaliter aber ein Werk Wegeners“ (Hummel/Lax zur Textgeschichte, Systematische Theologie 1913, 275). Sodann liefert die Edition die erwähnte und von Tillich gefertigte Gliederung des Systems, die allein die Überschriften der einzelnen Paragraphen abbildet und als Skizze geführt. Die Skizze ist dem Anhang in Systematische Theologie 1913, 426–429, der Edition angefügt. Schließlich werden Auszüge aus zwei von Tillichs Arbeitsheften geboten, aus denen der Fließtext erarbeitet wurde. Die je an die Thesen angehängten Ausführun-

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Worauf Tillich in der Systematischen Theologie von 1913 grundsätzlich antworten möchte, ist – basal und einleitend bestimmt – die Frage, wie sich christliche Theologie angesichts der modernen Geistesentwicklung von Skeptizismus, naturwissenschaftlichem Fortschritt und Rationalismus weiterhin begründen lässt.52 Um sich dieser Aufgabe anzunähern, konzipiert Tillich den Entwurf eines eigenständigen Systems, das sich in vielerlei Hinsicht deutlich durch seine idealistische Prägung von den Philosophien Hegels, Fichtes und Schellings inspiriert zeigt. Bereits der Ausgangspunkt beim Begriff der Wahrheit selbst und Tillichs eigene Notizen heben das hervor.53 Aber auch Tillichs Formulierungen und seine inflationäre Verwendung von Termini wie „Setzen“, „Begriff“, „Rückkehr“, „Bewegung“, „Absolutes“ und „Relatives“, „abstrakt“ und „konkret“, „Ideal“ und „real“, „Synthese“54 und vie-

gen bilden den quantitativen Hauptbestand der Quelle. So erklärt sich die abweichende Paragraphenzählung, wie exemplarisch der Abschnitt „Die Aufhebung des Standes der Sündhaftigkeit“ zeigen kann, der in den Ausformulierungen den § 17, in der Skizze den § 47 darstellt. (371.428). Da nun die Herausgebenden jene Ausformulierungen wie ein Raster über die 72 Thesenparagraphen gelegt haben, erscheinen sie unmittelbar zugehörig. Daher ist das von Heinemann gegenüber Dienstbeck vorgebrachte Argument überzeugend, die Interpretation an den Paragraphen der Skizze zu orientieren. Einerseits hat Tillich eben hierdurch dem System seine eigene Struktur gegeben, wohingegen die abweichende Zählung von Wegener stammt. Andererseits setzen die Thesen und der Text auch thematisch teils unterschiedliche Akzente. Vgl. dazu Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 114 Anm. 14.  Vgl. dazu auch Tillichs Schilderungen in seinem Vortrag in unmittelbarem zeitlichem Kontext: „Die Grundlage des gegenwärtigen Denkens“ (1912/13), in: Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908–1933), erster Teil, Bd. X, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Erdmann Sturm, (Berlin/ New York: Walter de Gruyter, 1999), 75–84, 83: „Eine Abwendung vom Geistesleben, gewaltig unterstützt durch die Entwicklung der Technik und Industrie und die Hebung des Wohlstandes, vollzog sich. Auch Theologie und Kirche verließen zu ihrem Schaden den scheinbar gänzlich zertrümmerten Bau. Die Theologie hätte tiefer sehen sollen, sie hätte sehen sollen, daß die Fundamente und Mauern noch standen, obgleich dieser oder jener Zierrat, ja dieses oder jenes Gewölbe zerfallen waren. Sie hätte eine Trägerin des Idealismus, des Glaubens an die Kraft [und] Wahrheit des Princips der Innerlichkeit, bleiben sollen, anstatt ängstlich zurückzukehren in die Trümmer des Systems der Autorität und zu versuchen, mit allerlei neuem Putz aus den Trümmern das Alte wieder erstehen zu lassen. Die Kluft zwischen ihr und den Gebildeten wäre nicht so groß geworden.“  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 229, wo Tillich in der kurzen Zusammenfassung im „Arbeitsheft I“ zur „Apologetik“, die „Forderung einer wissenschaftlichen systematischen Theologie“ auch an der „Theologie und Philosophie bei Kant, Hegel und Schleiermacher“ festmacht.  Vgl. dazu auch Folkert Wittekind, „Das Dämonische in Tillichs Dresdner Dogmatik. Theologieund werkgeschichtliche Hintergründe der schöpfungstheologischen Sündenlehre und ihrer Bezüge zur Kultur- und Geschichtsphilosophie“, in: Christian Danz/Werner Schüßler (Hg.), Das Dämonische. Kontextuelle Studien zu einer Schlüsselkategorie Paul Tillichs (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2018), 69–123, 97 f.

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ler anderer zeichnen den Text als Versuch aus, mit den Mitteln der sogenannten Systemphilosophie des deutschen Idealismus eine eigene Systematik der Geisteswissenschaften zu entwerfen.55 Damit setzt sich die Zuordnung Tillichs zu einem theologischen „Neuidealismus“56 um 1900 fort, wie es im ersten Kapitel hervorgehoben wurde.57

2.1 Wahrheit und Denken: Ausgangspunkt des Systems Tillich setzt ein mit sechs begründenden Paragraphen (§§ 1–6). Zur Debatte steht dabei in den ersten drei Paragraphen zunächst nur die Frage, was das Denken selbst sei und wie es zur Wahrheit im Verhältnis stehe. Bereits der Beginn in Bezug auf die konstitutive Verbindung von Wahrheit und Denken ist dabei eine Prämisse, die nicht geteilt werden muss. Für Tillich aber – geschult an idealistischer Philosophie – ist kein anderer Anfang des Denkens möglich. Ausgehend von dieser Grundsignatur des Systems bestimmt Tillich dann drei Standpunkte – die Intuition, die Reflexion und das Paradox. Dazu geht er von einer idealistisch geprägten Grundthese aus, nämlich der Selbstsetzung der Wahrheit durch das Denken selbst. Das Denken denkt der Wahrheit nach, ohne diese dabei reflexiv selbst schaffen zu können. Zugleich aber muss das Denken die Wahrheit setzen, um eine Voraussetzung für jegliches Denken oder Handeln überhaupt anzunehmen. Mit dieser erkenntnistheoretischen Voraussetzung bewegt Tillich sich auf dem Boden eines „transzendentalidealistischen“58 Wahrheitsbegriffs. Er grenzt sich zugleich ab von zeitgenössisch konträren Positionen – beispielsweise dem Kantianismus, dem Neukantianismus, dem positivistischen Empirismus oder dem Materialismus, was Tillich durch diverse Beispiele wie das folgende verdeutlicht: Will z. B. der Empirist seine Theorie begründen, daß die Erfahrung die ausschließliche Erkenntnisquelle sei, so muß er eine Theorie der Erfahrung aufstellen, die nicht selbst wieder aus der Erfahrung entnommen sein kann, sondern aus einem Prinzip stammt, daß alle bestimmte Erfahrung ermöglicht.59

 Zum Systembegriff vgl. Ulrich Barth, „Theologie und Systemgedanke. Schleiermacher und der Aufstieg eines epochalen Methodenbegriffs“, in: ders., Kritischer Religionsdiskurs (Tübingen: Mohr Siebeck, 2014), 279–292.  Danz, „Neuidealismus“.  Siehe oben: Teil 1: A.2.  Hummel, „Das frühe System“, 120.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 279.

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In Tillichs Sicht ist folglich der Empirismus beispielsweise von vornherein inkonsistent, weil er den Ausgang beim Absolutheitsgedanken überspringt. Aus Tillichs idealistischer Auffassung gesehen, ist dies nicht denkbar, „denn jede denkende Bestreitung der Wahrheit will selbst Wahrheit sein.“60 Ein System des Denkens muss für Tillich daher beim Wahrheitsbegriff selbst ansetzen, weil nur eine absolute Wahrheit die Voraussetzung für die Frage nach der Wahrheit darstellen kann. Das Prinzip des Systems bedeutet, dass die Trennung von Wahrheit und ihrer Erkenntnis bereits abgeleitet und „sekundär“61 ist. Dieses Verhältnis von Wahrheit und Wahrheitserkenntnis, so argumentiert Tillich, hat darin seinen Ursprung, dass dem Wahrheitsprinzip im absoluten Zustand ein zweites Prinzip zur Seite gestellt wird – das Prinzip des Denkens. Für die ideale oder absolute Einheit beider Prinzipien steht der Identitätsbegriff, der auf Tillichs tiefe Prägung durch Schellings Philosophie verweist.62 Auf diese Einheit als Identität drängt das Denken. Es versucht gewissermaßen, sich mit der Wahrheit wieder zu vereinen.63 Dem Wahrheitsgedanken kommt so ein „doppelter Voraussetzungsstatus zu. Einmal fungiert er als konstitutive Voraussetzung des Denkens [...]“, andererseits „soll er die Erfüllbarkeit der Wahrheitsintention des Denkens garantieren.“64 Infolgedessen ist das Verhältnis von Wahrheitsprinzip und Denken für Tillich dialektisch gedacht: Wahrheit ist keine objektive Realität, die zunächst ausgemacht wird, um dann im zweiten Schritt nach der Möglichkeit ihrer Erkenntnis zu fragen. Sondern: „Die Wahrheit ist nicht abgesehen von der Erkenntnis der Wahrheit.“65 Der Identitätsbegriff steht also in Tillichs Konzept für die absolute Identität des Denkens mit der Wahrheit – eine Identität, die allein im absoluten Standpunkt bestehen kann. „Der absolute Wahrheitsgedanke enthält also in sich ein Prinzip des Widerspruchs gegen sich; er hat einen absoluten Gegensatz, mit dem er zugleich in absoluter Identität steht. Dieser Gegensatz ist das Denken.“66 In dieses Grundprinzip jeder Geisteswissenschaft, so Tillichs Intention, muss sich die Theologie – genauer zunächst der Gottesgedanke – einzeichnen lassen

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 278.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 279.  Vgl. Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 121.  So auch Dienstbeck: „Hierarchische Reziprozität“, 128.  Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 122.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 279. Im gleichen Atemzug muss und kann Tillich folglich die Unsinnigkeit einer Trennung zwischen Metaphysik und Erkenntnistheorie abwehren: Das Denken kann nicht etwas erkennen, ohne das Sein des Erkannten zu beschreiben, vgl. 297 f. Diese Grundeinsicht ist aus der Monismusarbeit bekannt und wurde im entsprechenden Kapitel erörtert (siehe oben: Teil 1: A.2).  Tillich, Systematische Theologie 1913, 281 (im Original kursiv).

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B Die Entfaltung von Freiheit und Nächstenliebe

und zugleich aus dem System unmittelbar folgen – nicht andersherum.67 Dies bedeutet, dass ein System des Denkens nicht mit der theologischen Entfaltung des Gottesgedankens beginnen kann. Vielmehr zeigt sich andersherum, dass die Reflexion auf die theologischen Gehalte in Dogmatik und Ethik erst mit dem paradoxalen Standpunkt beginnen kann. Die „systematische Theologie ist Wissenschaft und als solche ein notwendiges Glied des Systems der Wissenschaften“68, wie Tillich im Arbeitsheft zur Apologetik notiert. Jene Wissenschaftlichkeit müsse als theologische unmittelbar aus dem wissenschaftlichen Prinzip heraus expliziert werden.69 Aus diesen erkenntnistheoretischen Vorüberlegungen erörtert Tillich nun den absoluten Standpunkt. In seiner Sicht existieren – wie erwähnt – zunächst zwei Standpunkte, die der Mensch innehaben kann: Den ersten bezeichnet er als Intuition und setzt ihn mit der Vernunft gleich. Im zweiten Standpunkt werden Verstand und Reflexion miteinander identifiziert.70 Diese Identifizierung von Vernunft und Intuition beziehungsweise Verstand und Reflexion erinnert zunächst an Immanuel Kants Unterscheidung von Vernunft und Verstand.71 Möglicherweise rekurriert Tillich jedoch schlicht auf die platonische Unterscheidung von nous und dianoia.72 Eine weitere Möglichkeit zur näheren Klärung des Terminus „Intuition“ könnte darin bestehen, dessen Nähe zum naturphilosophisch geprägten Terminus des „Instinkts“ aufzuzeigen.73

 Vgl. Dienstbeck, „Hierarchische Reziprozität“, 133 f. Siehe auch wiederum Tillichs Zusammenfassung im „Arbeitsheft Apologetik I“: „Der wissenschaftliche Charakter der systematischen Theologie ist begründet in der Entwicklung des theologischen Prinzips aus dem wissenschaftlichen überhaupt.“ (Tillich, Systematische Theologie 1913, 430 (im Original kursiv).  Tillich, Systematische Theologie 1913, 430 (im Original kursiv).  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 430.  Gemäß dem Aufbau des Systems wird der Standpunkt der Reflexion im nächsten Unterkapitel ausführlich behandelt. Um den absoluten Standpunkt der Vernunft jedoch hier präzise darzustellen, muss die Reflexion als Abgrenzung bereits einbezogen werden.  Vgl. dazu auch Kubik, Religionspädagogik, 239, der ebenfalls betont, dass Kants Unterscheidung von Verstand und Vernunft demgegenüber anders gelagert sei. Zudem und mit Blick auf Tillichs eigenen Hinweis auf Fichtes Wissenschaftslehre in § 3 der Systematischen Theologie 1913, 282, merkt Kubik dessen Verwendung von Verstand und Vernunft an, was wiederum durch die frühe Auseinandersetzung mit Fichte erklärt wird. Allerdings geht Kubik von einer inhaltlich hegelianischen Verwendung aus, während allein die Ausdrücke von Fichte übernommen seien, vgl. Kubik, Religionspädagogik, 239. Zu Tillichs Bezügen auf Kant im Kontext von „Autonomie“ und „Heteronomie“ siehe unten: Teil 1: B.4.2.1.  Tillichs Identifizierung der Intuition mit der menschlichen Vernunft und der Reflexion mit dem Verstand entspricht nach G. Neugebauer, Christologie, 256, der platonischen Unterscheidung. Diese gewinne er aus der grundlegenden Bestimmung der Apologie im Ausruf des „‚Erkenne dich selbst!‘“.  Unten wird dieser Vorschlag zur Herkunft der Unterscheidung von Intuition und Reflexion dargestellt. An dieser Stelle bliebe dieser Vorschlag noch unverständlich. Siehe unten: Teil 1: B.2.2.

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Das intuitive Denken der Vernunft zeichnet sich auf dem absoluten Standpunkt als eine Art des Denkens aus, das sich mit dem Absoluten in einer Einheit befindet: Solches Denken steht nicht für eine (kritische) Reflexivität. Es hinterfragt nicht, sondern handelt vielmehr „instinktiv“ oder eben „intuitiv“. Es ließe sich demnach auch als unmittelbares Denken charakterisieren. Der Mensch – so kann interpretiert werden, um die abstrakte Ebene zu verlassen – befindet sich noch nicht auf einer Stufe selbstreflexiver Subjektivität und verharrt stattdessen in „träumender Unschuld“74 in Einheit mit der Wahrheit. Mit Blick auf die Bestimmung von Wahrheit und Denken wird verständlich, was Tillich mit dem Begriff des absoluten Standpunkts vor Augen hat: Er bezeichnet eine Beziehung zwischen der Wahrheit und dem Denken, in der es kein Auseinanderklaffen zwischen beiden gibt. In einem solchen Zustand kommt es also auch nicht zu Problemen, die mit dem reflexiven Denken stets gegeben sind: Erst ein reflexives Denken macht sich selbst zum Thema. Ein absolutes Denken dagegen, das sich in der Identität mit der Wahrheit befindet, versucht nicht zu ihr zurückzukehren. Für das reflexive Denken des Verstandes hingegen ist es geradezu der Ausgangspunkt des Denkens, dass die besagte Identität gebrochen ist und die Wahrheit das Ziel der Reflexion darstellt. Der Mensch denkt einer absoluten Wahrheit nach, die er zu erreichen sucht. In Ansätzen des Idealismus – exemplarisch bei Hegel – ist dieses Ziel erreichbar und wird vom Menschen als denkendem Geist erreicht werden: Es wird also die gebrochene Identität wieder eingeholt und reflektierend rekonstituiert. Aus der Perspektive Tillichs aber – der theologischen – wird sich zeigen, dass es keinesfalls Ziel des Denkens sein soll, die Einheit zwischen Wahrheit und Denken eigenständig wiederherzustellen. Ausgehend von dieser Beziehung von Wahrheit und Denken legt Tillich im Anschluss die Entwicklung des Menschen hin zum Standpunkt der Reflexion aus, wie im Folgenden dargestellt wird.

2.2 Der Mensch als Freiheit oder als Geist: Sittlichkeit auf dem absoluten Standpunkt Prinzipiell gründet Tillichs gesamte frühe Theologie in besonderer Weise auf den drei Begriffen Religion, Kultur und Sittlichkeit. Dies konnte durch den Einbezug der frühesten Dokumente gezeigt werden.75 Tillich nähert sich demnach in den

 So Søren Kierkegaards Metapher, die Tillich im Kontext seiner Sündenlehre zur Beschreibung des Paradieszustands verwendet. Die Parallele besteht darin, dass auch der paradiesische Zustand keine Reflexion im Sinne des kritischen Fragens oder Reflektierens kennt, sondern sich der Mensch „vor der Sünde“ in der Einheit mit Gott befindet. Vgl. Tillich, ST II, 39–46.  Siehe oben: Teil 1: A.2–3.

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zuvor interpretierten Texten der Konzeption im System von 1913 an. Der Themenstellung dieser Arbeit entsprechend wird der Begriff der Sittlichkeit in den folgenden Ausführungen in den Vordergrund gestellt. Allerdings wird er nur in seiner Beziehung zu Religion und Kultur transparent. Demgemäß können die nachfolgend erörterten Ausführungen Tillichs als Keimzelle der späteren Theologischen Ethik verstanden werden. Die folgenden Abschnitte sollen zeigen, dass es sich bei „Sittlichkeit“ um den ersten Grundbegriff in Tillich ethischer Entwicklung handelt. Es sei deshalb hier die Struktur des Systems in Erinnerung gerufen: Tillich konzipiert an dieser Stelle eine Wissenschaftstheorie, in die die Theologie erst an einem späteren Punkt als „theologischer Standpunkt“ (§§ 23–29) eingezeichnet wird. Er entwirft also zuerst Religionsphilosophie, Kulturtheorie und auch die Ethik, um die Theologie anschließend in die Wissenschaftslehre einzugliedern. Auf dem absoluten wie dem reflexiven Standpunkt existiert die Theologie als Wissenschaftsbereich folglich noch nicht. Vorbereitend seien drei Aspekte zum Aufbau des absoluten Standpunkts (§§ 7–15) skizziert. Zunächst ist zur Architektur des absoluten Standpunkts zu sagen, dass Tillich im Anschluss an die ersten sechs Paragraphen die erwähnte und werkgeschichtlich erste „Wissenschaftstheorie“ (§§ 7–15) entwirft. Darin wird der Mensch als Freiheit oder Geist und in seinem Verhältnis zur Natur bestimmt (§ 8). Zudem skizziert Tillich hier die „Formen der Freiheit“, das Denken, Handeln und das kulturelle Leben als Thema der „Philosophie des Geistes“ (§ 9). Mit dieser Anordnung ist schon hier deutlich, dass der von Tillich verwendete Terminus der „Geistesphilosophie“ den Sammelbegriff für die theoretischen und praktischen Vollzüge des Menschen darstellt. Nach der Bestimmung des Religionsbegriffs wird schließlich das Verhältnis von Religion, Kultur und Sittlichkeit (§ 12) thematisiert. Sodann steht Sittlichkeit in Tillichs Konzeption – grundsätzlich und einleitend gesagt – für die humane Selbstbestimmung zur Freiheit. Sie gehört in Tillichs Gebilde – neben Kultur und Religion – zu den Grundfunktionen des Geistes oder des Menschen. Dass in der Interpretation insgesamt Religion und Kultur ebenfalls ausführlich zur Sprache kommen müssen, liegt schon darin begründet, dass Tillich die drei Funktionen in der nachgestellten Gliederung („Skizze“) unter die Überschrift „Religionsphilosophie“76 fasst. So setzt Tillich an dieser Stelle also noch einmal neu ein und akzentuiert seinen Entwurf im Ganzen als ein religionsphilosophisches, die Theologie begründendes Unternehmen.77  Tillich, Systematische Theologie 1913, 426.  Vgl. exemplarisch Danz, „Theologie als Religionsphilosophie“, der schon im Titel seines Aufsatzes die letztliche Gleichsetzung von Theologie und „normative[r] Religionsphilosophie“ andeutet. Weitläufig aufgearbeitet wurde dieses am Ende tautologische Verhältnis zuletzt von Sabrina

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Schließlich müssen die so benannten einschlägigen Paragraphen in den nächsten Schritten ineinandergreifend interpretiert werden, um sie als Vorbereitung der Theologischen Ethik in den Blick zu bekommen. Um den Ort der Sittlichkeit in der Organisation der Geistesphilosophie zu lokalisieren, wird die Philosophie des Geistes zunächst für sich systematisiert. Erst auf der Basis der darin platzierten Grundunterscheidung von Natur und Geist und der Charakterisierung des Menschen als Wesen der Freiheit kann eine genaue Bestimmung von Sittlichkeit erfolgen. Auf dieser Grundlage wird im Folgenden Tillichs anthropologische Grundlegung des Menschen als Freiheit oder als Geist erörtert. Dazu soll in einem ersten Schritt der Einstieg über die Struktur der Wissenschaften genommen werden. In einem zweiten Schritt wird auf dieser Grundlage ein Vorschlag zur Interpretation des Intuitionsbegriffs bei Tillich gemacht, indem auf seine Schellingdeutung rekurriert wird. Das System der Wissenschaften insgesamt (§§ 7–15) basiert auf dem Verhältnis von Denken und Wahrheit, also auf dem oben skizzierten Prinzip von Identität (Wahrheit) und Widerspruch (Denken). Hiervon leitet Tillich zwei grundsätzliche Beziehungen des Denkens gegenüber der Wahrheit ab: Einmal den Modus der Natur und sodann den Modus des Geistes. Da beispielsweise der Begriff der Naturwissenschaften oder auch eine andere Abgrenzung zur Wissenschaft des Geistes für Tillich hier keine Rolle zu spielen scheint, steht bis hierher lediglich fest, dass er sein System eindeutig als Geisteswissenschaft versteht. Dass der Naturbegriff selbst für Tillich ebenso unwichtig sei wie die Naturwissenschaft, ist allerdings möglicherweise etwas zu kurz gegriffen.78 Unten wird die wichtige Stellung der Natur mehrfach wiederauftauchen.

Söchtig, Absolute Wahrheit und Religion. Der Wahrheitsbegriff des frühen Tillich und seine Beurteilung außerchristlicher Religionen (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2020).  So Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 127. Zuzustimmen ist Heinemann jedoch gegen Dienstbeck, Transzendentale Strukturtheorie, 48. Eine Abwertung des Naturbegriffs gegenüber dem Geistbegriff ist von Tillich weder impliziert noch intendiert und wäre auch im Blick auf seine sonstige Hochschätzung des Naturbegriffs und seiner Schelling-Lektüre seltsam. Eine klassische Unterscheidung von Geistes- zu Naturwissenschaften stammt von Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), hg. von Manfred Riedel (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1993), bes. 177–185. Dieser unterschied beide Wissenschaften derart, dass in den Naturwissenschaften konkrete Objekte untersucht würden, die sich in allgemeingültige Gesetze fassen ließen. Zudem seien Naturwissenschaften dadurch charakterisiert, dass hier eine möglichst distanzierte Haltung gegenüber den zu studierenden Objekten eingenommen werde und das gewonnene Wissen nicht persönlich nacherlebt werde. Damit habe das Wissen in dieser Form auch deutlich weniger Einfluss auf die forschende Person, als es bei der geisteswissenschaftlichen Arbeit der Fall sei. Hier gehöre es geradezu zum Wesen der Wissenschaft, dass der Mensch als Geist schöpferisch tätig und vom Gegenstand seiner Erkenntnis ebenfalls geprägt wird. Tillich scheint jedoch hier noch sehr klar von der idealistischen Standardunterscheidung Natur und Geist geprägt, wie er schon in der Monismusarbeit durch seine vielfachen Bezüge auf Fichte gezeigt hatte.

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Wendet man sich von hier aus wieder dem Text zu, zeigen sich Natur und Geist als zwei Grundmodi. So kann sich das Denken in Tillichs Sicht einmal als bestimmt durch die Wahrheit verstehen. Für diese Form des Verhältnisses steht der Leitbegriff Natur. Diesen Zustand beschreibt Tillich auch mit Begriffen wie „Objektivität“, und „Unmittelbarkeit“79. Das Denken befinde sich in diesem Zustand – das ist entscheidend – in einer unbewussten Einheit mit der Wahrheit, womit die Brücke zur Begründung des Prinzips aus Wahrheit und Denken geschlagen ist. Zudem ist deutlich: Der unmittelbare Zustand der Einheit bezeichnet für Tillich den absoluten Zustand. Demgegenüber bezieht sich das Denken als Geist bewusst auf die Wahrheit, im Status der „Subjektivität“ oder „Mittelbarkeit“80. Tillich umschreibt diesen Zustand weiter als zur Wahrheit zurückdrängend. Folglich ist sich der Geist seiner selbst bewusst und zielt im Denken auf die Rückkehr zur Wahrheit. Geist und Natur lassen sich näher dadurch unterscheiden, dass in der Natur die Bestimmtheit vorherrscht, im Geist das Bestimmende. Beide Formen, Natur und Geist, kann es für Tillich demnach nur gemeinsam in dialektischer Verbindung geben. In der Natur herrscht die Bestimmtheit, Einzelheit, im Geist das Bestimmende, die Einheit. In der Natur ist das Denken der Wahrheit näher, sofern es sich noch nicht frei gemacht hat von ihr und ferner, weil es sich noch nicht seiner Entfernung bewußt ist. Im Geist ist es umgekehrt.81

Insofern ist das Denken im Geist – im Gegenüber zur Natur – der Wahrheit näher, als es sich von ihr bereits entfernt hat und sich dessen bewusst ist. Von der Wahrheit entfernt ist es, weil es sich von ihr befreit, indem es sich selbst als frei bestimmt. Folglich steht der Freiheitsbegriff hier zunächst für das Hinausgehen des Menschen über seine naturhafte Gebundenheit. Damit sind die Voraussetzungen gegeben, den Menschen als das Wesen der Freiheit zu umschreiben: Der Mensch in Tillichs Vorstellung ist stets Natur und Geist zugleich. Er wird dazu als Übergang beschrieben, weil er einerseits am Ende der Naturentwicklung, andererseits am Beginn der Geistesentwicklung steht: „In ihm ist das Gleichgewicht beider, wo weder das Denken noch die Wahrheit das Bestimmende ist.“82 Deshalb muss von diesem Punkt an das System insgesamt vom Weg des Geistes beziehungsweise des Menschen oder der Freiheit handeln. Der Mensch ist nichts anderes als dasjenige Wesen, in dem sich jene Freiheit äußert.

   

Tillich, Systematische Theologie 1913, 286. Tillich, Systematische Theologie 1913, 286. Tillich, Systematische Theologie 1913, 287. Tillich, Systematische Theologie 1913, 288.

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Die Unterscheidung der beiden Grundmodi Natur und Geist und die anthropologische Bestimmung des Menschen als Übergangswesen werden in Passagen behandelt, die zu den verwickeltsten der Systematischen Theologie von 1913 gehören. Tillichs eigene Beschreibungen von „Objektivität“ oder „Subjektivität“ und „Unmittelbarkeit“ oder „Mittelbarkeit“ und dergleichen tragen zum näheren Verständnis von Intuition und Reflexion nämlich wenig bei. Hier beginnt das Problem schon bei der Frage nach ihrer präzisen Unterscheidung. Was explizit mit der Intuition vor Augen steht, ist – wie angedeutet – bei Tillich recht unklar. Deshalb wurde oben bereits der Begriff „Instinkt“ als nähere Bestimmung der Intuition eingeführt. In ebendiese Richtung weist der naturphilosophische Ansatz Schellings. Und diese Spur soll hier im Anschluss an die Schelling-Forschung zu den naturphilosophischen Hintergründen von Schellings späterer Philosophie andeutungsweise weiterverfolgt werden. Es geht dabei allein darum, für die dichte, anthropologische Skizze Tillichs einen denkbaren Hintergrund aufzuzeigen, der klarer darlegen kann, was Tillich hier vor Augen stehen könnte. Zunächst kann auf der begrifflichen und terminologischen Ebene festgehalten werden, dass allein Tillichs Verwendung von „Organismus“ beziehungsweise „Organismus der Freiheit“, „Naturwesen“, „Geisterwelt“ „Übergangpunkt“ und auch dem „Verstand“83 als Kategorie der Höherentwicklung den Hintergrund bei Schelling bereits suggerieren. Schelling denkt insgesamt die Natur als organisches Geschehen, das sich als „unendliche Produktivität“84 vollzieht, weshalb es auch in der Naturentwicklung keine Differenz von Anorganischem und Organischem geben kann.85 Beide sind vielmehr Teil eines evolutiven Organismus. Seine Konzeption baut Schelling anhand des Dreischritts von Materie, Leben und Geist auf. Darin kommt der Naturprozess in der Entwicklung der Potenzen von „bewusstlose[r] Materie bis zum selbstbewussten Menschen“86 zur Geltung. Am Anfang steht so unter anderem die Schwerkraft. Durch ihr Einwirken auf Anziehungs- und Expansionskraft besteht die Möglichkeit der Herausbildung von Himmelskörpern. Am Ende der Potenzen steht der Mensch als bewusstes Wesen, das sich durch die Möglichkeit freier Handlung und Kreativität auszeichnet.87  Tillich, Systematische Theologie 1913, 305.288.287.303.288.287. Vgl. auch den Gebrauch von „Naturwesen“ im Zusammenhang von Geist und Natur in der Monismusarbeit, 111.129 und in der ersten Schelling-Dissertation (1910): Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, 162.216. Zum Begriff „Geisterwelt“ bei Schelling vgl. 192.  Karen Gloy, „Schellings Naturphilosophie. Grundzüge und Kritik“, in: Reinhard Hiltscher/Stefan Klingner (Hg.), Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2012), 85–102, 92.  Vgl. Gloy, „Naturphilosophie“, 91 f.  Gloy, „Naturphilosophie“, 93.  Vgl. Gloy, „Naturphilosophie“, 94.

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Es tritt zudem die deutlich theologische oder auch religiöse Ausrichtung seiner Naturdeutung zutage. Denn insgesamt zeichnet Schelling den Naturprozess als „Selbstwerdung Gottes, der vom Unvollkommenen, der bewußtlosen Natur, zum Vollkommenen, dem selbstbewußten Geist, voranschreitet.“88 Dies verweist in diesem Zusammenhang auf die zentrale Beziehung von Natur und Geist, also auf die auch für Tillich fundamentalen Begriffe in der Beschreibung der menschlichen Vollzüge. Letztlich bilden bei Schelling Natur und Geist eine Einheit. Dadurch wurde der menschliche Geist frühzeitig auf die Idee einer sich selbst organisierenden Materie geführt und, weil Organisation nur in Bezug auf einen Geist vorstellbar ist, auf eine ursprüngliche Vereinigung des Geistes und der Materie in diesen Dingen. Er sah sich genöthigt, den Grund dieser Dinge einerseits in der Natur selbst, andererseits in einem über die Natur erhabenen Princip zu suchen; daher gerieth er sehr frühzeitig darauf, Geist und Natur als Eines zu denken.89

Damit sind Natur und Geist als zwei Seiten zu verstehen, die sich gegenseitig bedingen. Sie können nun als Reelles (Natur) und Ideelles (Geist) bestimmt werden.90 In einem dritten, übergeordneten Prinzip befinden sich beide in absoluter Einheit. Der Verlauf der Natur als Herausbildung von Materie, Leben und Geist vollzieht sich ausgehend von diesem Prinzip aus Identität und Differenz. Das bedeutet, die Entwicklung vollzieht sich als Bewegung von These, Antithese und Synthese und ermöglicht so den evolutionär organischen Prozess. Nun ist Schellings Naturbegriff von Beginn an, so zeigt Barth, mit dessen identitätsphilosophischen Überlegungen verbunden. Dies äußere sich besonders an der eben erwähnten Grundunterscheidung von „Reellem“ und „Ideellem“. Im frühen Text Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie von 1802 schreibt Schelling: Es gibt keine reale Endlichkeit, keine Endlichkeit an sich. – Was überhaupt und in jedem Sinn wahrhaft real ist, ist nie weder rein real noch rein ideal, sondern immer und nothwendig die Einheit von beiden. Die absolute Einheit beider und darum die absolute über alle andere erhabene Realität ist im Absoluten. Jene absolute und an sich ewige Einheit nun reflektiert im Endlichen oder auch im Unendlichen, wird zu einem Verhältnis der Zeit und der Ursache und Wirkung, indem jene das Ideale von dieser, diese das Reale von jener ist.91

 Gloy, „Naturphilosophie“, 95.  Friedrich W.J. Schelling, Einleitung zu den Ideen einer Philosophie der Natur, in: Bd. II, Sämmtliche Werke, hg. von K.F.A. Schelling (Stuttgart/Augsburg: Cottaʼscher Verlag, 1857), zitiert nach Gloy, „Naturphilosophie“, 97.  Vgl. Neugebauer, Christologie, 86.  Schelling: Darstellung (1801), 131.

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Damit seien sämtliche Erscheinungen in der Wirklichkeit Reflexionen der Identität von Ewigem (Idealen) und Endlichem (Reellem). Die wirkliche Einheit beider bestehe allein in Gott als dem Absoluten. Dieser Grundsatz verweist erstens auf die Verknüpfung von Identitätsphilosophie und Naturphilosophie. Gemäß Schellings Begriff der Identität muss die Gesamtwirklichkeit als Erscheinung der ontisch-noematischen Selbstidentität begriffen werden. Sie läßt sich darum nicht in einen absoluten Gegensatz von Natur und Geist aufspalten, sondern in beiden Bereichen mischen sich Reelles und Ideelles, wenn auch mit unterschiedlicher Dominanz.92

Zweitens gilt diese Grundlegung durch den Einbezug von Natur und Geist genauso für den Menschen. Alles in der Natur Vorhandene hat als Reelles stets Teil am Ideellen. Jede Form von Materie ist immer schon darauf ausgelegt, einen Moment der „Bestimmtheit“ und einen der „Gesetztheit“93 in sich zu tragen. Dies verbildlicht Schelling im Rahmen seiner Naturphilosophie wiederum an den physikalischen Grundkräften. So stehen sich Anziehungs- und Expansionskraft gegenüber. Dabei bildet die Anziehungskraft in diesem Beispiel die Bestimmtheit, „da sie jene [Expansionskraft] begrenzt“94. Die Expansionskraft stellt also die „gesetzte“ Kraft dar. Dem muss in Schellings Konzeption nun eine synthetisierende Kraft hinzugestellt werden, die das Vorhandensein von Ideellem im Reellem abbildet. Hierfür steht die Schwerkraft als Synthese oder auch Vermittlung beider Kräfte, sodass die Schwerkraft „gleichsam zum Bild der absoluten Identität“95 wird. Damit wird also – um im Beispiel zu bleiben – die eingangs benannte Entstehung von Himmelskörpern erklärt. Materie – so Schelling – ist aber schon in ihrer Grundgestalt mehr als nur Materie. An jedem Reellen finden sich vielmehr immer zugleich ideelle Komponenten – wir würden heute sagen: Struktur und Information. Reelles und Ideelles stehen für die jedem Sachverhalt zukommenden Momente von Gesetztheit und Bestimmtheit.96

Im Fortschreiten des dreifachen Prozesses „fungiert“ die „dritte Stufe“ als „Ausgangspunkt einer neuen Einheit, die jedoch [...] Wiederherstellung auf einer höheren Stufe bedeutet.“97 Insofern, als ausnahmslos alle Formen der Natur für

 U. Ulrich Barth, „Annäherungen an das Böse. Naturphilosophische Aspekte von Schellings Freiheitsschrift“, in: ders., Kritischer Religionsdiskurs (Tübingen: Mohr Siebeck, 2014), 205–221, 210.  U. Barth, „Annäherungen“, 211.  U. Barth, „Annäherungen“, 211.  U. Barth, „Annäherungen“, 211.  U. Barth, „Annäherungen“, 211.  Gloy, „Naturphilosophie“, 95.

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Schelling auf „Erhaltung“, „Steigerung“ und letztlich auf Abbildung der „Dynamik des Absoluten“ zielen, trägt die „Natur [...] immer beides zugleich: den Drang nach Selbstsein und den Drang nach Bestimmtheit.“98 Von hier aus verweist Barth auf die ähnliche Zuordnung Schellings in Bezug auf den „Tierinstinkt“ als eine Stufe innerhalb der „Evolution oder Selbstorganisation der Natur“ als „Ausdifferenzierung und Komplexitätsanreicherung, worin reelle und ideelle Momente zu immer höherstufigen Konfigurationen zusammenfinden.“99 Während es sich bei der Schwerkraft auf einer niedrigen Stufe allein um Materie handele und der Mensch schließlich durch sein Bewusstsein eine weitaus höhere Stufe erreiche, nehme der tierische Instinkt – so Ulrich Barth – bei Schelling gewissermaßen eine weitere Position ein. Tiere seien in Schellings Konzeption ihrer Instinkthaftigkeit zwar unterworfen, wonach der Instinkt hier also als Bestimmungsmoment gelten kann. Dennoch könne das Tier sein Verhalten insoweit steuern, als es einer „gattungsmäßigen“ „Zweckhaftigkeit“100 dient. Wie die Schwerkraft eine Synthese von Naturkräften darstelle, bilde der Instinkt nach Schelling im Tierreich die synthetisierende Vermittlung von Reellem und Ideellem.101 Das heißt heruntergebrochen, dass der Instinkt dem Handeln gewissermaßen ein Ziel gibt, über das sich jedoch das Tier nicht bewusst ist. „Instinkte stehen gleichsam auf der Grenze von Bewußtem und Unbewußtem.“102 Zentral im Übergang zum Menschen werden an dieser Stelle die Begriffe Geist und Wille. Hierzu unterscheidet Schelling schließlich in der Freiheitsschrift einen Partikular- von einem Universalwillen. Der Partikularwille steht für den Willen der einzelnen Lebewesen, den Schelling auch als „Egoismus“103 bezeichnen kann. Der Universalwille steht daneben als „Verstand“104 dem Partikularinteresse der Einzelnen gegenüber. Wenn aber endlich durch fortschreitende Umwandlung und Scheidung aller Kräfte der innerste und tiefste Punkt der anfänglichen Dunkelheit in einem Wesen ganz in Licht verklärt ist: so ist der Wille desselben Wesens zwar, inwiefern es ein einzelnes ist, ebenfalls ein Partikularwille, an sich aber, oder als das Centrum aller andern Partikularwillen, mit dem Urwillen oder den Verstand Eins, so dass aus beiden jetzt ein einiges Ganzes wird. Diese

 U. Barth, „Annäherungen“, 212.  U. Barth, „Annäherungen“, 213 f.  U. Barth, „Annäherungen“, 214.  Vgl. U. Barth: „Annäherungen“, 214.  U. Barth, „Annäherungen“, 214.  Friedrich W.J. Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und damit zusammenhängende Gegenstände, hg. von Thomas Buchheim (Hamburg: Meiner, 2011), 36.  Schelling, Freiheit, 35.

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Erhebung des allertiefsten Centri in Licht geschieht in keiner der uns sichtbaren Kreaturen außer im Menschen.105

Der Mensch sei in der Lage, danach zu „streben, das, was er nur in der Identität mit dem Universalwillen ist, als Partikularwille zu sein.“106 Daher wird der Mensch von Schelling dezidiert als Geist bestimmt, wie es Tillich im Text oben bereits selbst formuliert hat. Der für Tillich grundlegende Begriff des Verstandes steht hier für die übergreifende Kraft zunächst der gesamten Natur, nach einem Fortschreiten zu streben. Als Geist sehe sich der Mensch in der Lage, sich „gegen die göttliche Ordnung [zu] stellen, d. h. gegen die in Gott vorliegende Ordnung und damit auch gegen die von ihm vorgesehene Ordnung.“107 Die präzise Unterscheidung des Menschen als Übergangswesen lässt sich am Willensbegriff insbesondere festmachen, weil hier der Mensch als geistiges Wesen in Erscheinung tritt. In der Promotionsschrift von 1912 setzt sich Tillich explizit mit der Unterscheidung von Partikular- und Universalwillen im Zusammenhang mit dem Sündenbegriff auseinander. Die Prinzipien, die in Gott vermöge des ewigen Bandes unauflöslich sind, werden in der Kreatur auflöslich: das ist die Möglichkeit von gut und böse. Im Menschen ist das Band der Prinzipien vollendet; er ist Geist und dadurch Herr über beide. Aber er hat in dem dunklen Prinzip, aus dem er geboren ist, eine von Gott unabhängige Basis der Selbstheit; solange die Selbstheit mit der Liebe geeint bleibt, ist der Mensch Universalwille [...] Der Mensch ist als Partikularwille (im Verhältnis zur Natur) zugleich Universalwille (im Verhältnis zu Gott). [...] In Gott ist vermöge der ewigen Identität der Gegensatz ewig aufgehoben, in der Natur herrscht die eine Seite des Gegensatzes; nur im Menschen ist der Geist Herr über beide Gegensätze, so daß er frei ist nicht nur von der Knechtschaft der Natur, sondern auch von der ewigen Notwendigkeit des göttlichen Geistes.108

Hiermit zeigt sich die ethische Bedeutsamkeit in der Frage nach der Entwicklung des Menschen und seinem Willen. Die Sünde als Möglichkeit von Gut und Böse zeichnet den Menschen als Geistwesen aus. Die Freiheit des Menschen ist demnach schon derart ausgeprägt, dass er sich zwischen Gut und Böse entscheiden kann. In der Näherbestimmung des Menschen von Schelling ausgehend – darauf hat M. Neugebauer hingewiesen – klingt wiederum der Begriff der Liebe aus der Fichte-Arbeit an.109 Denn auch im obigen Zitat zeigt sich, dass Tillich von einem

 Schelling, Freiheit, 35.  Schelling, Freiheit, 37.  Christian Brouwer, Schellings Freiheitsschrift. Studien zu ihrer Interpretation und ihrer Bedeutung für die theologische Diskussion (Tübingen: Mohr Siebeck, 2011), 212.  Tillich, Mystik und Schuldbewusstsein, 88 f.  Vgl. dazu auch M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 7.

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Idealzustand ausgeht, in dem Wahrheit und Liebe vereint sind. Die Identität steht hier in Tillichs Sicht für den Universalwillen. Durch die Grundunterscheidung von Gut und Böse ist jene Identität aber im Menschen offensichtlich gebrochen. Was Tillich hier als Selbstheit kennzeichnet, stellt damit einen Zustand dar, in dem die Identität von Liebe und Wahrheit oder auch Denken und Wollen nicht mehr besteht.110 Durch die ethischen Fragen von Sünde und Erkenntnis des Guten und Bösen ist schon auf den weiteren Verlauf ausgegriffen. Denn Tillichs Verständnis der Sünde wird sich, wie erwähnt, dann im Standpunkt der Reflexion erst eigentlich erklären lassen. Durch den Einbezug dieses geistesgeschichtlichen Hintergrunds und Tillichs tiefe Prägung durch Schellings Philosophie erklärt sich näher, wohin die Freiheit als völlige Selbstbegründung beziehungsweise hier „Selbstheit“ in Tillichs Sicht führen kann. Mit dem hier endenden Einschub zu den Bezügen von Schellings naturphilosophischem Terminus des „Instinkts“ zu Tillichs Terminus der „Intuition“ sollte im Anschluss an einschlägige Schellingdeutungen ein möglicher problemgeschichtlicher Hintergrund der dichten anthropologischen Überlegungen Tillichs aufgezeigt werden. Bezieht man die referierten Überlegungen Schellings auf Tillichs Intuitionsbegriff, so lässt sich dieser im Anschluss an Schelling als Form eines Instinkts deuten. Instinkt kann somit für eine Form des Denkens stehen, die zwar noch nicht Reflexion ist, zugleich jedoch auch keine reine Unmittelbarkeit mehr. Der Geist bewegt sich in seinem Drängen nach Freiheit aus der Unmittelbarkeit heraus und schafft sich erste Ansätze von Freiheit. In diesem Emporsteigen aus der völligen Naturgebundenheit erfährt der Geist erste Freiheitmomente. Er befindet sich noch nicht im „Idealen“, bleibt aber zugleich auch nicht gänzlich der Natur als dem „Realen“ verhaftet. Im Gegenüber zum Status der Reflexion stellt der Geist noch keine Fragen beziehungsweise stellt er sein Handeln nicht kritisch zur Disposition. An einem ganz konkreten Beispiel instinktiver Natur lässt sich das verdeutlichen: Als instinktiv handelndes Wesen befindet sich der Vogel als Tier stärker im Modus der Bestimmtheit durch die Natur. Zugleich ist es jedoch kein Zustand reiner Unmittelbarkeit und ohne jede Form der Freiheit. Der Vogel lebt nicht in der Form eines reinen Pflanzenwachstums, sondern erfährt instinktiv, dass er bestimmte Handlungen vollziehen muss und in der Lage ist, diese zu vollziehen. Der Vogel stellt dabei – so ließen sich Tillich und Schelling hier zusammenführen – seine Handlungen zwar noch nicht reflexiv in Frage, ist aber durch seinen

 Vgl. dazu auch M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 7 f.

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Instinkt dennoch mehr als eine Pflanze, die wächst, weil sie wächst. Von hier aus lässt sich die Intuition also möglicherweise genauer als ein Denken im Modus der Natur bezeichnen. In diesem Modus arbeitet sich die Natur respektive die Wesen der Natur sukzessive aus der Naturgebundenheit bis zum Geist und schließlich zur Freiheit empor. Ein konkreter Beleg für die Nähe zur hier angedeuteten Naturphilosophie Schellings und die darin evolutionär vorgestellte Differenz zwischen tierischem und menschlichem Leben, zeigt der kulturtheoretische Abschnitt der Theologischen Ethik im dritten Teil der Schrift. Hier formuliert Tillich, dass sich der Mensch in der Nutzung von technischen, also sachlichen Gütern, Gegenständen (Werkzeuge und dergleichen) stetig fortentwickelt. In der Technik befreit sich der Geist von den banden des tierischen Daseins. Durch sie wird die Gemeinschaft der Menschen, die Einheit des Menschengeschlechts, die Aufhebung der trennenden Raum- und Zeitkategorien ermöglicht.111

Auch hier steht Tillich demnach eine fortschreitende Evolution von der Verwendung sachlicher Dinge bis hin zur Gemeinschaft geistiger Wesen im direkten Vergleich mit der Tierwelt vor Augen.112 Diese ersten Versuche Tillichs, den Menschen in seinem Verhältnis zur Natur zu beschreiben, tragen auch zu einem fundierteren Verständnis dazu bei, wie er in der Folge das Denken, Handeln und Fühlen im Rahmen der Grundfunktionen des Menschen oder Geists – Religion, Sittlichkeit und Kultur – verortet. Vorgreifend und weniger abstrakt lässt sich vor diesem Hintergrund mit Blick auf den Menschen sagen: In seinem Einwirken auf die kulturellen Formen in Rationalität, Sitte, Recht, sozialer Praxis bis hin zum künstlerischen Ausdruck realisiert der Mensch sich als freies Wesen und kommt so zu sich selbst. Die Freiheit entwirft sich mittels der Natur stetig in neuen Formen und löst sich dazu notwendig von ihrer Unmittelbarkeit mit der Wahrheit ab. „Der Mensch ist Freiheit“113, und die Philosophie des Geistes als Teil des Systems der Wissenschaften thematisiert in der Folge die Entwicklung des Menschen als Freiheit im Verlauf der Geschichte. Die denkbare Einordnung von Tillichs Grundunterscheidung aus Intuition und Reflexion, die sich schon durch ihren Hintergrund bei Schelling nahelegt, wird das folgende Verständnis des Menschen als Wesen der Freiheit erheblich verlebendigen. Das zeigt sich schon im Blick auf Tillichs Bezeichnung „Organismus der Freiheit“,

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 417.  Zur genauen Ausgestaltung von Technik als „sachlicher“ Kultur im Verhältnis zur „objektiven“ (Sitte, Recht) und „subjektiven“ (Wissenschaft, Kunst) Kultur siehe unten: Teil 1: B.2.3.1.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 288.

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mit der er – wie sogleich gezeigt wird – den Weg des Menschen von der schlichten Nutzung der Technik bis zum Ausdruck in der Kunst bestimmt.

2.3 Kultur, Sittlichkeit und Religion als Grundformen der Freiheit Im Paragraphen 9 gibt Tillich unter der Überschrift „Die Philosophie des Geistes“114 eine erste Differenzierung der Leitbegriffe Kultur, Sittlichkeit und Religion. Wie die Gliederung und die Reihenfolge der Paragraphen im Ganzen ist auch hier die Anordnung nicht ohne Weiteres verständlich. Zunächst ist lediglich klar, dass die Geistesphilosophie die „Erscheinungsformen der Freiheit“115 zur systematischen Darstellung bringen soll. Schematisch thematisiert werden jene „Erscheinungsformen“ entsprechend in Bezug auf die Kulturphilosophie, die Ethik und die Religionsphilosophie. Jede Ausdrucksstufe oder-weise des Geistes hat hierdurch ihren zugehörigen Wissenschaftsbereich, in dem die Erscheinungen der Freiheit systematisch dargestellt werden. Tillich differenziert diese Erscheinungsformen zudem näher in phänomenologische und geschichtliche Formen.116 Damit ist gemeint, dass es prinzipiell keine Formen geben kann, die vollkommen unabhängig von Kultur, Sittlichkeit und Religion existierten. In Tillichs Worten: Insofern sie in allen bestimm[t]en historischen Erscheinungen vorausgesetzt sind und nicht aus ihnen abgeleitet werden können, sind sie a priori. Es ist z. B. nicht möglich, aus der Fülle der geschichtlichen Erscheinungen die religiösen herauszustellen, ohne a priori einen Begriff von Religion zu haben.117

Folglich muss eine genaue Entfaltung von Religion, Sittlichkeit und Kultur am Beginn der geistesphilosophischen Arbeit stehen. Entscheidend für die weitere Interpretation ist es, das Augenmerk auf die Beziehung der drei Grundformen zueinander zu richten: Wie verhalten sich Kultur, Religion und Sittlichkeit zueinander? Dazu seien die drei Grundformen der Freiheit zunächst näher erläutertet, welche in der Folge auch als Grundfunktionen des Geistes bezeichnet werden können.118 In dieser Hinsicht führt Tillich in diesem Paragraphen sein Konzept von Freiheit aus der obigen Bestimmung des Menschen weiter fort und gestaltet dies näher aus:

    

Tillich, Systematische Theologie 1913, 288. Tillich, Systematische Theologie 1913, 289. Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 289 f. Tillich, Systematische Theologie 1913, 290. Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 289.

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Die Grundformen der Freiheit ergeben sich aus der Stellung der Freiheit zur Natur. Insofern die Freiheit sich unmittelbar als naturbestimmend setzt, ist sie Kultur, insofern sie sich selbst als Freiheit bestimmt, ist sie Sittlichkeit, insofern sie sich und die Natur aufhebt zur absoluten Wahrheit, die jenseits des Bestimmenden und Bestimmten liegt, ist sie Religion.119

Demgemäß führt Tillich also die erste Näherbestimmung des Menschen zwischen Natur und Geist weiter. Sodann gibt er einen ersten Fingerzeig auf die Beziehung der drei Elemente Religion, Kultur und Sittlichkeit zueinander. Die hier noch kryptisch erscheinende Definition umschreibt gewissermaßen die Aktivität des Geistes und seiner Entwicklung. In einem ersten Schritt, so Tillich, werde sich der Mensch bewusst, dass er auf seine Bezugswelt einwirken könne und daher nicht völlig von der Natur determiniert sei. Er könne sich als naturbestimmend zum Ausdruck bringen und Natur formen. Im Folgeschritt emanzipiere er sich in der Sittlichkeit zur Selbstbestimmung und verstehe sich in Tillichs Sicht als frei. Schließlich stehe Religion – so viel kann bis hierher gesagt werden – dafür, dass sich der Mensch auf eine absolute Sphäre beziehe, die ihm die Freiheit erst ermögliche.120 Nachfolgend werden ausgehend von Tillichs anthropologischen Grundbestimmungen Kultur, Religion und Sittlichkeit voneinander abgegrenzt, um wiederum ihr gegenseitiges Verhältnis herauszustellen. Dabei ist in den drei Schritten (Kultur, Religion, Sittlichkeit) jeweils auf ein Doppeltes zu achten: Es wird jeweils erklärt, was Tillich unter den drei Begriffen grundsätzlich versteht, und es geht darum, wie die zugehörigen Aufgabenbereiche Kulturphilosophie, Religionsphilosophie und Ethik angelegt sind. 2.3.1 Kultur und Kulturphilosophie Um die Beziehung der drei Grundfunktionen näher in den Blick zu bekommen, bietet es sich an, mit dem kulturtheoretischen Setting zu beginnen, das Tillich an dieser Stelle entwirft. Die Kultur wird dazu in drei Unterbereiche differenziert, die gewissermaßen drei Ebenen der geistigen Interaktion mit der Welt abbilden, nämlich einen sachlichen, einen objektiven und einen subjektiven Bereich geistiger Vollzüge. Für die sachliche Geisteskultur steht bei Tillich im weitesten Sinne die Technik. In der Verwendung sachlicher Kultur vollziehe sich die erste Stufe der menschlichen Geistesentwicklung.121 Wie so häufig bei Tillich fällt es schwer zu konkreti-

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 289.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 2.  Vgl. dazu auch die Gleichsetzung von Technik und sachlicher Kultur in der Theologischen Ethik: Tillich, Systematische Theologie 1913, 416.

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sieren, was genau ihm vor Augen steht. Offenkundig hat er jedenfalls durchaus eine über die Naturgebundenheit hinausgehende Stufe im Sinn und bei der Technik „Dinge“ oder „Sachen“ im Blick, die vom Menschen als „Mittel der Freiheit“122 zur Anwendung gebracht werden. Allein die Thematisierung des Technikbegriffs im Jahre 1913 ist indessen erstaunlich, da dieser bis dato – jedenfalls als etablierter Begriff – in der Theologie „noch gar nicht angekommen war.“123 Um sich der Bedeutung bewusst zu werden, welche die sachliche Kultur – im weitesten Sinne Technik – für den frühen Tillich innehat, erscheint der Vorblick auf die Theologische Ethik angebracht. Im dritten Abschnitt der Ethik, der das kulturelle Leben der Menschheit thematisiert, fragt Tillich nach dem Verhältnis von „Technik und Reich Gottes.“124 Hier formuliert Tillich deutlich: „Die sachliche Kultur tritt in den Dienst des Reiches Gottes. Geisteskultur, Sittlichkeit und Religion wären nicht möglich ohne sie.“125 Darin äußert sich die grundlegende Funktion der sachlichen Kultur, die hier sogar als nötige Basis von Sittlichkeit und Religion angesetzt wird. Im Blick auf die objektive Geisteskultur trifft Tillich sodann eine nähere Bestimmung der Formen „Sitte“ oder „Recht.“126 Indem der Mensch durch diesen – so lässt sich deuten: kulturellen – Fortschritt seine Bezugswelt in eine nähere Ordnung bringt, schreitet der „Organismus der Freiheit“127 voran. Hält man sich diesen Schritt explizit mit Tillichs Beispielen vor Augen, kann man konkret an die Herausbildung bestimmter Sitten und Praxen in sozialen Gruppen denken. Im Recht kann insofern ein weiterer Fortschritt gesehen werden, als hier eingeübte oder traditional vermittelte Konventionen in Regeln überführt werden, die dann bereits ein tieferes Verständnis sozialer Ordnung voraussetzen als die Sphäre der Sitten allein. Konkret kommt es demnach zur bewussten Gestaltung von Rechtsformen oder Normen, die auf diskursiver Kommunikation fußen, welche über reine Sitte deutlich hinaus geht. Die Natur wird gestaltet, um das soziale Leben zu regulieren. Der neue Freiheitsgrad besteht somit darin, dass ich mich nicht einer Sitte schlichtweg anschließe, sondern sie hinterfrage und gegebenenfalls Vorschläge zur Erneuerung einbringe.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 289.  Vgl. G. Neugebauer/Leonhardt, „Technik als Problem“, 26. Eine gewisse Faszination für die Technik als Theoriebeispiel behält Tillich zeitlebens bei. Darauf wird zurückzukommen sein. Siehe dazu unten: Teil 1: B.4.5 und Teil 1: A.3 mit der erstmaligen Verwendung in der Monismusarbeit, ebenfalls im Zusammenhang mit der Wendung „sachliche Kultur“.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 416.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 417. Zur näheren Ausgestaltung des kulturellen Lebens siehe unten: Teil 1: B.4.5.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 289.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 289.

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In den Formen der subjektiven Geisteskultur stellt Tillich schließlich Wissenschaft und Kunst heraus. Diese Ausdruckweisen des Geistes stehen für das Hinaustreten des Geistes in die „Subjektivität“. Beim Beispiel der Kunst wird Tillich den Ausdruck verschiedener Stimmungen durch die einzelnen Werke im Blick haben. Eine Stimmung, welche die Künstlerin oder der Künstler durch die Anwendung bewusst ausgewählter Farben vermitteln will, beruht auf einer subjektiven Entscheidung und bringt eine subjektive Stimmung zur Geltung. Bezüglich der Wissenschaft ist die Erhellung schwieriger. Womöglich rekurriert Tillich auf die subjektive Aneignung von Wissen, was ein individuelles Verstehen voraussetzt. Zusammengenommen liegt die Pointe der drei Ebenen in ihrem Aufstiegsschema zwischen Geist und Natur. Die Natur im ersten Stadium, so Tillich, bleibe Natur, doch werde sie bereits als Mittel verwendet, das zu neuen und komplexeren Möglichkeiten führe, mit denen der Geist sich in seiner Formung der Natur zum Ausdruck bringen könne – deshalb werden von ihm auch die technischen Mittel als Mittel der Freiheit bestimmt.128 Sodann erzeuge der Geist in der exemplarisch mit Sitte und Recht skizzierten Ordnung einen Organismus der Freiheit129 und geht damit im Konzept Tillichs über die reine Verwendung vorhandener „Dinge“ deutlich hinaus. Schließlich werde im subjektiven, theoretischen wie anschauenden Kulturschaffen (Wissenschaft und Kunst) die Natur, wie Tillich formuliert, in die „Sphäre des Subjektiven und der Freiheit gehoben“.130 Systematisch dargestellt wird dieses Kultursetting von der Kulturphilosophie, die Tillich interessanterweise mit der Wendung „deskriptive Ethik“131 in Bezug setzt. Insofern wird die deskriptive Ethik als ein Teilaspekt der „systematische[n] Darstellung des Kultursystems“ verortet. Die normative Funktion hingegen kommt der Ethik als Theorie des Sittlichen zu: Der Gegensatz von normativer und deskriptiver Ethik löst sich nach dem Gesagten dahin auf, daß die deskriptive Ethik nichts anderes ist als ein Teil der Kulturphilosophie, nämlich die Darstellung des Systems der objektiven Geisteskultur (in der natürlich Kunst, Wissenschaft und Technik als Persönlichkeits- und Gemeinschaftsfunktionen, aber nur in dieser Beziehung, nicht an sich, vorkommen). [...] Ethik im Sinne einer Wissenschaft des Sittlichen (Moral) ist dagegen immer normativ.132

 Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 289.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 289.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 289.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 299.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 299. Zur normativen Seite – der Ethik – siehe unten den Abschnitt zur Sittlichkeit.

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Zunächst ist die damit erstellte Unterscheidung von Kulturphilosophie einschließlich deskriptiver Ethik und der normativen Ethik beziehungsweise Theorie des Sittlichen, „maßgebend [...] für den dritten Teil des theologischen Systems“133. Die Unterteilung weist die Theologische Ethik demnach – das ist für diese Arbeit zentral – bereits hier als den normativen Teil Systems insgesamt aus. Für die Bereiche der objektiven Kultur (Staat, Recht, Familie etc.) bedeutet dies: Sie werden deskriptiv bestimmt und eingeordnet, was Teil der Kulturphilosophie ist. Und sie werden normativ von der Ethik betrachtet, was dann die Aufgabe der Theologischen Ethik sein wird. Sodann ist im Blick auf die weitere Ausgestaltung in Tillichs Ansatz ebenjene Verfeinerung der objektiven Kultur in die Sphäre der „Persönlichkeits- und Gemeinschaftskultur“134 grundlegend. Blickt man auf die zuvor benannten Beispiele für die objektive Kultur – „Sitte“ und „Recht“ –, dann repräsentieren beide Formen stellvertretend zwei Funktionen der objektiven Persönlichkeits- und Gemeinschaftskultur, wie aus den Paragraphen der Theologischen Ethik hervorgeht.135 Auch hier ist demnach auf die Struktur der Theologischen Ethik vorauszublicken, um die enge Verbindung zur Fundamentaltheologie herauszustellen: Im dritten Teil des Systems unterscheidet Tillich nämlich im Zusammenhang des grundlegenden Kapitels zum sittlichen Leben in der Theologischen Ethik (§§ 8–18/ 57–67) implizit zwischen Persönlichkeits- und Gemeinschaftskultur.136 In ersterer werden die prinzipiellen Fragen nach der sittlichen Person und ihrer Konstitution verhandelt, während die gemeinschaftliche Kultur in den Formen der Sozialität (Staat, Familie usw.) thematisiert wird. Sicherlich scheint es nicht weit hergeholt, dass Tillich zur Unterscheidung derartiger Kulturbereiche durch die Überlegungen des Kulturphilosophen Georg Simmel inspiriert wurde.137 Nicht nur gehörten die subjektive und objektive Kultur zu dessen kulturtheoretischen Grundbegrif-

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 299.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 289.299.289.  Siehe dazu die Behandlung von „gesellschaftliche[r] Sitte“ und „persönliche[m] Takt“ im § 14/63 der Theologischen Ethik (Systematische Theologie 1913, 405).  Vgl. Systematische Theologie 1913, 391–416. Siehe dazu unten: Teil 1: B. 4.2.–4.  Das legt bereits seine erwiesene Begeisterung für Simmels Rembrandt-Buch nahe, das seinerzeit viel beachtet und diskutiert wurde. Vgl. „Tillich an Emanuel Hirsch (12.11.1917)“, in: Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische und politische Stellungnahmen und Gespräche, Bd. VI, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich hg. von Renate Albrecht und René Trautmann (Frankfurt a.M.: Evangelisches Verlagswerk, 1983), 97 f. Auf die Parallele weisen auch G. Neugebauer/Leonhardt, „Technik als Problem“, 23, hin. Einen weiteren Hinweis bildet die Bezeichnung „Tragik“, mit der Tillich den Status des Reflexionsstandpunkts beschreibt. Zu Tillichs Rezeption des Rembrandt-Buches und Simmels im Allgemeinen vgl. auch Werner Schüßler, Jenseits von Religion und Nicht-Religion. Der Religionsbegriff

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fen, sondern er „lancierte“138 auch um 1900 in mehrere Publikationen die Wendung „sachliche Kultur“.139 Des Weiteren verweist Tillichs Verwendung der „objektive[n] Geisteskultur“140 möglicherweise erneut auf Hegels Philosophie. Mit Hegel als einer Folie des verzweigten Zugriffs bei Tillich ist ohnehin zu rechnen.141 Der Bezug zu Hegel legt sich bei Tillich schon aufgrund seiner generellen Prägung durch die idealistische Philosophie nahe, konkret aber auch durch die eingangs erwähnte Nähe zur Hegelschen Terminologie in der Systematischen Theologie von 1913.142 Durch die Verwendung der Wendung „objektive Geisteskultur“ zeigt sich dabei in Tillichs Zugriff zugleich schon terminologisch eine Weiterentwicklung. Wie auch Simmel143 scheint Tillich

im Werk Paul Tillichs (Frankfurt a.M.: Athenäum, 1989), 108–116; Fritz, Menschsein als Frage, 47–49.  So G. Neugebauer/Leonhardt, „Technik als Problem“, 23, mit direktem Bezug zur Systematischen Theologie von 1913. Die Formulierung, Tillich bediene sich eines Begriffs, den Simmel in mehreren Publikationen um 1900 verwendete, wirkt bei Leonhardt und Neugebauer indes etwas holzschnittartig. Zumindest wird nicht ersichtlich, ob sie mit Sicherheit von einer Lektüre in der Vorkriegszeit ausgehen oder allein den Begriff einordnen möchten. G. Neugebauer/Leonhardt, „Technik als Problem“, 23.  Allerdings nimmt Simmel selbst – so jedenfalls die einschlägige Forschung – bereits eine deutlich „funktionale [...]“, Willfried Geßner, „Georg Simmel“, in: Ralf Könersmann (Hg.): Handbuch Kulturphilosophie (Stuttgart: Metzler, 2012), 101–109, 102, Ausgestaltung des Kulturbegriffs vor. Seinen spezifischen Kulturbegriff gewinnt Simmel ebenso aus der Abgrenzung zur Natur, sodass Kultur als Inbegriff aller Bereiche fungiert, in denen der Mensch sein Verhältnis zu sich und zu anderen aktiv formt. Vgl. Simmel: Georg, Philosophie des Geldes, Bd. 6, Gesamtausgabe (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 21999), 618, ferner Volkhard Krech, Georg Simmels Religionstheorie (Tübingen: Mohr Siebeck, 1998), 88.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 299.311.  Der „objektive Geist“ findet sich bei Hegel unter anderem als grundlegender Teil seiner Rechtsphilosophie, die in dieser Untersuchung bereits im Zusammenhang mit der „Rechtstheologie“ der Monismusarbeit Erwähnung fand (siehe: Teil 1: A.2). Die wesentlichen Bereiche des objektiven Geistes stellen das „abstrakte Recht“, „Moralität“ und „Sittlichkeit“ dar (vgl. Hegel, Grundlinien, passim). Der objektive steht als grundlegendes Element in Hegels Werk zwischen subjektivem und absolutem Geist. Der subjektive Geist steht in der Phänomenologie des Geistes (1807) für die Entwicklung des Geistes bis zum Bewusstsein und schließlich der Freiheit. Der absolute Geist wird von Hegel in der Religion, der Kunst und der Philosophie ausgedrückt und stellt die Synthese beider dar.  Siehe oben: Teil 1: B.2.1.  Der Leitgedanke besteht dabei in der Grundausrichtung Simmels, „die Bedingung der Möglichkeit von Kultur“ als „objektiver Geist“ aus dem Zentralgedanken der subjektiven Kultur heraus darzustellen (Geßner, Simmel, 101). Simmel fasst den Begriff der objektiven Kultur in Auseinandersetzung mit Hegel äußerst weit und rechnet ein ganzes Konvolut aus Religion, Kunst, Wissenschaft, Recht, Technik, Sitte und gewachsenen Normen hinzu.“ (Geßner, Simmel, 102). Kultur – so Simmels Formulierung – ist etwas, worin ein „geistiger Sinn“ an etwas

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Hegels Grundbegriff des „objektiven Geistes“ hier nicht einfach zu übernehmen, sondern schon an seine dezidiert kultur-/sozial- und religionsphilosophische Fragestellung anzupassen.144 Es kann festgehalten werden, dass Tillich durch die Aufnahme solcher Wendungen – „sachliche Kultur“ und „objektiver Geist“ – bereits geformte Konzepte aufnimmt und für seine Überlegungen produktiv umsetzt. Dieser Rezeptionsstrang kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht weiterverfolgt werden. Gleichwohl zeigt er exemplarisch einmal mehr Tillichs ständige Verarbeitung aktueller Debatten und geistesgeschichtlicher Diskurse. Genauso zeigt sich die häufig willkürliche erscheinende Verwendung verschiedener Konzepte, Begriffe oder Wendungen, was eine treffsichere Bestimmung des Hintergrunds wiederum erschwert. Im Anschluss an die Überlegungen zum Verhältnis zwischen Natur und Geist können die zuletzt skizzierten Schritte insgesamt als Modi der Freiheitshaltigkeit bezeichnet werden. Von der schlichten Nutzung der „Sachen“ steigt der Mensch empor bis zum künstlerischen Ausdruck. Wichtig ist zudem zu sehen, dass beim Menschen eher von Stufen, nicht von Entwicklung zu reden ist. Denn offenbar denkt Tillich die Bereiche zugleich ineinander, sodass eine gewisse Anhaftung an die Natur auch im Menschen bestehen bleibt: Ich werde möglicherweise ein Bild, das ich zuvor als Ausdruck meiner Subjektivität gemalt habe, anschließend mit „sachlichem“ Werkzeug an einer Wand anbringen. 2.3.2 Religion und Religionsphilosophie Bevor die Sittlichkeit als Funktion zwischen Kultur und Religion ins Blickfeld rücken kann, müssen drei Aspekte der Religionsphilosophie (§ 10) hinzugezogen werden. Einmal die Verortung des Religiösen im Menschen, sodann das Verhältnis zwischen Religion und Freiheit und schließlich die Beziehung zwischen Kultur und Religion. Der erste Aspekt bezieht sich auf das religiöse Bewusstsein und steht noch unabhängig von seinem Verhältnis zu Kultur und Sittlichkeit. Tillich führt hier seine frühe Auseinandersetzung mit dem sogenannten „vermögenspsychologi-

„[M]aterielle[s]“ gebunden wird: Georg Simmel, „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“, in ders., Hauptprobleme der Philosophie. Philosophie der Kultur, Bd. 14, Gesamtausgabe (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004), 385–416, 407). Der so benannte Sinn ist also insofern objektiv, als dass er „für jedes Bewusstsein reproduzierbar“ (Simmel: „Tragödie der Kultur“, 407) ist.  Daher ist es weniger relevant und zudem schwerlich zu sagen, von wem genau Tillich diese Wendungen übernimmt. Interessanter sind die Dynamik und die Rezeptivität, die solche Aufnahmen problemgeschichtlicher Wendungen, Begriffe oder Termini zeigen können.

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schen Schema“145 fort. Wie schon für die Fichte-Arbeit und die Monismus-Arbeit gezeigt, versteht Tillich Religion ausdrücklich nicht als einen gesonderten Bereich im Bewusstsein des Menschen, der sich speziell und abgetrennt von den dessen praktischen, emotiven oder theoretischen Aktivitäten vollzieht. In Tillichs Sicht sind diejenigen Ansätze plausibler, die die Religion besonders einem Bereich des humanen Bewusstseins zuweisen, was beispielsweise bei Schleiermacher (Fühlen), Kant (Wollen) oder Hegel (Denken) der Fall ist.146 Dieser Aspekt zeigt Tillichs lebenslange Auseinandersetzung mit der Verortung des Religiösen im Menschen. Im Hintergrund steht die Frage, ob sich Religion einem bestimmten Bereich (Praxis, Theorie, Emotion) zuordnen lässt oder ob sie in allen Bereichen wirkt. Entscheidender ist jedoch der zweite Aspekt und demnach die Frage, wie sich die Beziehung zwischen Freiheit und Religion gestaltet. Denn auch die Religion selbst wird von Tillich konsequent vom Freiheitsbegriff aus durchdacht: Während sich der Mensch – so fasst er es noch einmal zusammen – in der Kultur gegenüber der Natur bestimme und in der Sittlichkeit sich als frei verstehe, werde mit der Religion eine weitere, die Freiheit begründende Form eingeführt. Hier

 Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 327. Diesen Aspekt hat Heinemann ausführlich aufgearbeitet und Tillichs werkgeschichtliche Entwicklung diesbezüglich nachgezeichnet. Heinemann zeigt werkchronologisch, wie Tillich schließlich auch die Zuordnung zu einem Bereich aufgeben wird. Dafür stehen besonders die Ausführungen im Aufsatz Über die Idee einer Theologie der Kultur (1919) und die Vorlesung Religionsphilosophie (Sommersemsester 1920). Siehe dazu unten Teil 2: A.2.3. Vgl. exemplarisch Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 327 ff.582 f. Siehe dazu auch unten: Teil 2: A.2.  Tillich dürfte sich zunächst im Zuge der Lektüre von Wilhelm Windelbands programmatischem Aufsatz Was ist Philosophie? mit jener Systematik der psychischen Vermögen vertraut gemacht haben. Mit dieser Grundlegungsstudie initiiert Windelband die von Tillich im Literaturverzeichnis notierten Präludien, welche die wichtigsten Aufsätze und Reden des Begründers der Wertphilosophie versammeln. Vgl. Wilhelm Windelband, „Was ist Philosophie? Über Begriff und Geschichte der Philosophie“ (1882), in: ders., Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd 1 (Tübingen: Mohr Siebeck, 1915), 1–54, 40. Zumeist wird jenes Schema der Seelenvermögen neuzeitlich – wie auch Heinemann zeigt – auf den Philosophen Johannes Nicolas Tetens (1736–1807) zurückgeführt (vgl. oben Teil 1: A.2). Das Schema hat jedoch eine verzweigte Vorgeschichte, welche bereits beim Begründer des Rationalismus, Christian Wolff (1679–1754), der seinerseits Tetens stark beeinflusste, bemerkbar ist. „Für Tetens bestehen ‚alle Thätigkeiten der Erkenntniskraft, von den ersten sinnlichen Außerungen an bis zu ihren feinsten und höchsten Spekulationen, [...] im Fühlen, im Vorstellen und im Denken‘; er unterscheidet also ‚drey Seelenvermögen‘“ (Ursula Franke/Günther Oesterle, „Gefühl“ III., HWPh 3 (1974), 82–89, 89. In der Studie „Das Heilige. Skizze zur Religionsphilosophie“, in: ders., Präludien, 295–332) verfolgt Windelband dann die Frage nach der Position der Religion respektive der Religionsphilosophie im Schema der wissenschaftssystematischen Einteilung. Zum werkgenetischen Überblick bezüglich dieses Aspekts vgl. den schematischen Überblick bei Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 582–584.

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setze sich der Mensch als Freiheit in sein Verhältnis zur „absoluten Wahrheit“147. Dieses Verhältnis, so Tillichs Schluss, vollziehe sich als „Doppelverhältnis“, nämlich als ein zugleich „positives“ und „negatives“148 Verhältnis der Freiheit zur absoluten Wahrheit. Die Freiheit steht in Gegensatz zur absoluten Wahrheit und bejaht diesen Gegensatz [...]; dadurch wird die Wahrheit für sie [...] ein ihr Gegenüberstehendes. Nun aber kann der Freiheit nichts [...] schlechthin gegenüberstehen als [...] die Freiheit; alles andere steht unter ihr [...]. Zugleich aber steht die Freiheit in absoluter Identität mit der Wahrheit, es ist also unwahr für sie, sich der Wahrheit gegenüber zu behaupten [...] Die Freiheit ist schlechthin abhängig von der absoluten Freiheit.149

Das zweifache Verhältnis resultiert in Tillichs Zugriff daraus, dass sich der Mensch zwar als frei bestimmt, dabei aber diese Freiheit von der absoluten Wahrheit ermöglicht wird. Der Mensch ist also nur frei in dem Sinne, dass er sich auf seinen Ursprung im Absoluten bezieht.150 Theologiegeschichtlich eingeordnet und somit verständlicher wird das Konzept von Freiheit und Religion durch die formelhafte Umschreibung „Abhängigkeitsbewußtsein aufgrund eines Freiheitsbewußtseins“151. In dieser Verknüpfung, die Tillich andeutungsweise aus einer Verbindung Hegel und Schleiermacher herleitet, sieht er ein fundamentales „Doppelverhältnis“ gegeben. Anders gesagt: nur sofern ich mich gegenüber dem Absoluten als frei verstehe, kann ich mich als wirklich frei verstehen. Indem ich mich aber gegenüber dem Absoluten erst als frei erkenne, bin ich im selben Augenblick doch von jenem Absoluten wiederum abhängig. Aus dem letztgenannten Aspekt leitet Tillich nun den für die weitere Verhältnisbestimmung von Kultur und Religion maßgeblichen dritten Aspekt ab: Religion existiert nämlich als Freiheits- und Abhängigkeitsbewusstsein in zwei Formen, die nicht abgetrennt, sondern in dialektischer Verbindung auftreten: Die Religion als Prinzip, als substantielle Gebundenheit der Freiheit an die absolute Wahrheit ist etwas gewissermaßen Punktuelles, jeder Aktualität und Breite Enthobenes, absolute Innerlichkeit. Die Religion als Aktualität ergibt eine Bestimmtheit sämtlicher psychischer Funktionen, eben die spezifisch religiöse Bestimmtheit: ein Denken, Fühlen und Handeln, das sich auf Gott richtet; ohne dieses ist keine Religion lebendig; und doch wird dadurch die Religion hineingezogen in die übrigen Bestimmtheiten des Geistes, ein Stück Kultur.152

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 291.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 291.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 291.  Zum Freiheitsbegriff siehe ausführlicher die Passagen zum Begriff der Sittlichkeit unten in diesem Abschnitt.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 291.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 297.

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Tillich fasst in dieser Passage sein kulturtheologisches Anliegen präzise zusammen. Der Religion kommt eine doppelte Stellung zu. Sie bildet das Prinzip aller Formen des Denkens, Handelns und Anschauens. Zugleich ist sie auf die Formen angewiesen, um sich akut realisieren zu können. Indessen ist die Prinzipialität der Religion für sich genommen noch nicht sonderlich überraschend. Sie verweist vorläufig nur auf die Begründung aller Kultur in einem höheren Gehalt. Verschlungen wird die Religionsdefinition erst durch ihre elementare Doppelung in Bezug auf die Kultur: Religion bedeutet nach Tillich als Abbild des Absoluten das Prinzip sämtlicher Kultur wie auch der Sittlichkeit als Selbstbestimmung. Zugleich komme sie jedoch stets als Aktualität in den Formen zum Ausdruck, mit denen sie in Symbiose treten müsse, um sich äußern zu können. Hierdurch, so Tillichs Analyse, sei Religion grundsätzlich ausgezeichnet durch eine „Tiefe“ und eine „Breite.“153 Sie sei als Prinzip die Tiefe der Kultur, müsse jedoch, „um aktuell existieren zu können, [...] selbst Kultur werden.“154 Diese Aktualisierung geschehe in ebenjenen Funktionen des Geistes: im Denken, Handeln und Anschauen – konkreter: in Wissenschaft, Kunst, Sitte, Recht, Technik und dergleichen mehr. Wenn also, so lässt sich bündeln, Religion immer zugleich Prinzip und Wirken aller Formen des kulturellen, religiösen und sittlichen Vollzugs ist, ist die gesamte Kultur in der Religion fundiert. In der Folge, so Tillich weiter, entstehe eine „religiöse Kultur“ neben der bereits vorhandenen, woraus sich bereichsspezifische „Konfliktmöglichkeiten“155 zwischen profanen und religiösen Funktionen ergäben. Die zuletzt zitierte Stelle stellt somit die werkgenetisch erste Fassung von Tillichs Kulturtheologie im Gesamtwerk und zugleich die erste Bestimmung des religiösen Prinzips dar. Die damit justierte Religionsauffassung wird Tillich konsequent fortführen, wenngleich er begriffliche Änderungen vornimmt und so beispielsweise die Wendung der absoluten Religion fallen lassen wird.156 Allerdings war bislang von einer religiösen Fundierung der kulturellen Fortschrittsliste – von Technik bis zur Kunst – gar nicht die Rede. Das System gewinnt somit an dieser Stelle deutlich an Komplexität. Denn neben den benannten Formen im theoretischen, praktischen wie auch emotiven oder ästhetischen Bereich bilden sich, so Tillichs springender Punkt, parallel ebenfalls spezifische religiöse Formen heraus: Damit kommt es zu Begriffspaaren, die sich als religiöse und profane Komplemente herausstellen: Religion sei als Akt menschlicher Geistesfunktion ein Erkennen, bei dem sich religiöse Dogmen als Glaubensaussagen entwickelten, die in    

Tillich, Systematische Theologie 1913, 297. Tillich, Systematische Theologie 1913, 297. Tillich, Systematische Theologie 1913, 297. Siehe dazu unten: Teil 2: A.2.

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der Folge notwendig in Konflikte mit profaner Wissenschaft gerieten. Religion als Erleben vollziehe sich in den Formen des Kultus, der für gelebte Religionserfahrung stehe und Konflikte mit Formen der Ästhetik provoziere. Gleiches geschieht nach Tillich, wenn Religion sich in konkreter Wirklichkeitsgestaltung zum Ausdruck bringt, wofür die Kirche stehe. Diese begebe sich in potenzielle Konflikte mit der nicht-religiösen Form des Staates als profaner Gestaltung von Gesellschaft.157 Damit sind bei Tillich je drei religiöse und drei profane Formen auf einer Ebene angesiedelt. Im theoretischen Bereich Dogma und Wissenschaft, im emotiven-ästhetischen Bereich Kunst und Kultus, im praktischen Bereich Staat und Kirche. Hiermit hat Tillich nochmals sämtliche Funktionen des Geistes, in denen der Mensch sich äußert, auf die drei vermögenspsychologischen Bereiche von Theorie, Anschauung und Praxis zurückbezogen. Schließlich – das ist der entscheidende Argumentationsschritt in Bezug auf die Sittlichkeit – sieht Tillich neben diesen „Scheinkonflikten“158 ein Konfliktpotenzial, das sich gegenüber den angeführten Konfliktfeldern nochmals prinzipieller darstellt: Und nun ist auch der prinzipielle Grund der Scheinkonflikte zwischen Sittlichkeit und Religion gegeben; insofern Religion eine Breite hat, Kultursphären eigener Art schafft, erzeugt sie eine darauf gerichtete Sittlichkeit; und diese Sittlichkeit kann in Konflikt geraten mit der auf die übrigen Kultursphären gerichteten Sittlichkeit, dann nämlich, wenn das Verhältnis von Religion als Prinzip und Religion als Kultursphäre nicht klar erkannt ist.159

Damit ist erstens gesagt, dass es grundsätzlich die Möglichkeit gibt, Konflikte zwischen religiösen und profanen Formen der Kultur zu unterlaufen. Voraussetzung dafür sei es allerdings, in jeder Form (Wissenschaft, Kunst, Ethik, Technik usf.) die enthaltene religiöse Letztbegründung zu sehen. In diesem Zustand würde es keine Konflikte geben und das gesamte Leben des menschlichen Geistes würde sich in träumender Unschuld auf dem absoluten Standpunkt abspielen. Die Situation jedoch, zu der die Entwicklung im Wechselspiel zwischen Natur und Geist geführt hat, ist offensichtlich für Tillich ein enorm konfliktreicher Standpunkt.

 Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 297, und ferner: Erdmann Sturm, „Die Genese von Tillichs Kulturtheologie in seinen frühesten Texten“, in: Christian Danz/Werner Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur. Aspekte – Probleme – Perspektiven (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2011) 64–93, 79.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 297. „Scheinkonflikte“ nennt Tillich die Konflikte, weil es einen „grundsätzlichen“ Konflikt zwischen religiösen und profanen Formen – in seinem Konzept der Kulturreligion – nur geben könnte, wenn es um einen Gegensatz dieser Formen ginge. Ein solcher Gegensatz ist aber durch die religiöse Fundierung letztlich aller Formen in sich widersprüchlich.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 397.

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Zweitens will Tillich herausstreichen, dass das Nebeneinander zweier Sittlichkeitsformen letztendlich nicht begründet werden kann, wenn es grundsätzlich doch nur eine Begründung aller Formen gibt – die religiöse. Im Blick auf Tillichs bis hierher erörtertes Konzept zeichnen sich die Erscheinungen der Kulturaktivität als Formen aus, die ihren religiösen Gehalt beziehungsweise ihre religiöse Fundierung in der Religion äußern. In einer solchen kulturreligiösen Beschreibung kann es nicht eine profane und eine religiöse Sittlichkeit nebeneinander geben, oder einfacher: Wenn es nur eine Kultur gibt, nämlich die religiös begründete, wie sollte es dann mehrere Arten der Sittlichkeit geben, die diese religiöse Kultur regulieren sollen? Die Brücke zur Funktion der Sittlichkeit und der Ethik ist damit geschlagen. 2.3.3 Sittlichkeit und Ethik Erst die soeben erörterte Religionsdefinition gibt den Blick frei für die genaue Bestimmung der Sittlichkeit in Tillichs Konzept. Im einschlägigen § 12 zum Verhältnis von Religion, Kultur und Sittlichkeit differenziert er den Begriff der Sittlichkeit nochmals feiner aus. Das geschieht vor allem, indem auch die Rolle der Ethik als Theorie der Sittlichkeit näher abgegrenzt wird. Tillichs Ausführungen, so geben es auch die Herausgeberinnen und Herausgeber der Systematischen Theologie von 1913 an, sind besonders an dieser Stelle teils bruchstückhaft und aus verschiedenen Arbeitsheften kompiliert.160 Das macht die Interpretation zunächst nicht einfach. Zugleich aber zeigen Tillichs Selbstkorrekturen, wie er mit seinem Ansatz ringt. Versucht man, davon ausgehend die Darstellung von Sittlichkeit und Ethik zu sortieren, lassen sich drei zentrale Gesichtspunkte für die Interpretation systematisch abgrenzen. Es geht erstens um den Vollzug der Sittlichkeit im Menschen. Dabei steht Sittlichkeit zunächst für nichts anderes als die Selbstbestimmung des Menschen als Freiheit. Dieser Gesichtspunkt wird im Folgenden als subjektivitätstheoretischer geführt. Bei dem zweiten Gesichtspunkt geht es um das Verhältnis der Sittlichkeit zu ihren Geschwisterfunktionen Kultur und Religion und somit um die Frage, worin die Aufgabe der Sittlichkeit im Blick auf die vermeintlichen religiös-kulturellen Konfliktfelder besteht. Dieser Gesichtspunkt kann als funktionaler bezeichnet werden, um seinen Bezug zur Religion und Kultur hervorzuheben. Mit dem dritten Gesichtspunkt kommt die Aufgabe der Ethik zum Tragen. Mit diesem normativen

 Vgl. die Anmerkungen zur Textgeschichte von Gert Hummel/DorisLax, Systematische Theologie 1913, 296, Anm. 58: „Die folgenden drei Abschnitte sind die ursprünglichen Ausführungen Tillichs zu diesem Paragraphen; die danach folgenden Abschnitte sind Neuformulierungen aus dem Ergänzungsheft II.“

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Gesichtspunkt entwirft Tillich ein Modell objektiver Kultur als Gegenstandsbereich der Ethik und gibt damit zugleich die Struktur der späteren Theologischen Ethik exakt vor. Der erste, subjektivitätstheoretische Gesichtspunkt kommt wiederum in einer hermetischen Formel zum Ausdruck: „Sittlichkeit ist die Selbstbestimmung des Geistes als Geist.“161 In Abgrenzung zur Kultur erklärt Tillich die Sittlichkeit konsequent als das Sich-frei-Machen von der Gebundenheit an die Natur.162 Die Kultur, die ja, wie oben gezeigt wurde, darin besteht, dass der Geist sich entweder von ihr bestimmt oder sie bestimmend versteht, ist noch keine Freiheit: In der Kultur erhebt sich der Geist zwar über seine Unmittelbarkeit; aber [...] gebunden an ein bestimmtes Objekt, ein bestimmter einzelner Geist [...]. Selbst in der Persönlichkeitskultur ist der Geist hingegeben an sein Objekt, nicht sich selbst macht er zum Objekt seines Bestimmens, sondern ein gegebenes Individuum; selbst hier kommt er nicht über die Naturgebundenheit heraus [...]. Eben dadurch wird bewirkt, daß der Geist in seiner unmittelbaren Freiheit als Kulturwirken wiederum unfrei wird, [...]. Der Geist soll aber schlechterdings frei sein [...]. Diese schlechthinnige Freiheit erreicht der Geist in dem sittlichen Bewußtsein.163

Die Formel „sittliches Bewusstsein“ steht synonym zu Sittlichkeit und bezeichnet gleichsam das Kreisen um sich selbst.164 Dieses Kreisen oder eben die Selbstbestimmung als ein freies Wesen ist, so Tillichs Abgrenzung, keine Kulturtätigkeit neben den anderen. Vielmehr seien jene Kulturformen – sei es Technik, Gesellschaft oder Kunst – relative Formen. Dagegen bedeute die individuelle Selbstbestimmung des Geistes „Unbedingtheit“ und sei gleichzusetzen mit dem „kategorische[n] Imperativ“165. Dieser – oder eben die Forderung, sich als frei zu verstehen – sei nicht relativ, sondern unbedingt. Deshalb verwendet Tillich die Kant’sche Formel nicht zufällig. Der kategorische Imperativ oder auch das – Sittengesetz – „trennt das sittliche Bewußtsein von aller Kulturtätigkeit“166. Die Konsequenz besteht – so kann interpretiert werden – darin, dass der Mensch durch seine Selbstbestimmung über die kulturelle Bindung so weit hinaus geht, bis er eine „reine Autonomie“ erreicht, durch die er sich von seiner  Tillich, Systematische Theologie 1913, 298.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 298.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 298.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 298.299.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 298. Auch die ein Jahr zuvor fertiggestellte zweite Dissertation gibt Auskunft über Tillichs Auseinandersetzung mit Kant im Kontext seiner IdealismusLektüre. Vgl. Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, bes. 28–31. Es zeigt – wie schon in Bezug auf die beiden frühen Texte gesehen (siehe oben: Teil 1: A.2–3.) –, dass Tillich sich an seinem Verständnis von Begriffen wie der „Autonomie“ beziehungsweise Selbstbestimmung als Freiheit im Verhältnis zur „Sittlichkeit“ gearbeitet hat.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 298.

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„Bindung an das Relative“167 loslöst. Indes bleibt es für Tillich nicht dabei, denn der „Geist selbst ist dem Absoluten gegenüber relativ“168. Das bedeutet im Rückgriff auf die obige Religionsbestimmung: Gegenüber dem Absoluten kann es nur eine abhängige Freiheit geben. Auch wenn der Geist sich als frei bestimmt, ist Freiheit durch das Absolute ermöglicht. Das führt für Tillich schlussendlich in die „Dialektik des Sittlichen“169, weil auch die Selbstbestimmung in Bezug auf das Absolute relativ bleiben muss – eben in einem Abhängigkeitsbewusstsein aufgrund eines Freiheitsbewusstseins. Der Freiheitsbegriff lässt sich nach Tillich in der Wendung der „endlichen Freiheit“ zum Ausdruck bringen, mit der Christian Danz Tillichs Freiheitsbegriff insgesamt bestimmt sieht. Eine unbestimmte Freiheit wäre Willkür, und eine einseitig bestimmte Freiheit wäre von Determinismus nicht zu unterscheiden. Diesem Dilemma kann man nur entgehen, wenn man Freiheit als Bestimmtheit zur Selbstbestimmung begreift. Beide Momente müssen in dem Freiheitsbegriff gleichursprünglich sein.170

Die basale Verschränkung von Bestimmtheit zur Selbstbestimmung – also der Definition von Sittlichkeit in diesem Teil des Systems – und Bestimmtwerden von außen – also hier dem Absoluten – kennzeichnet für Danz die paradoxe Grunderfahrung des Menschen. Der zentrale Punkt lässt sich aus ethischer Sicht indes erst durch den Bezug zu den obigen Überlegungen bezüglich Natur und Geist sowie den Kulturformen als Formen der Freiheit herausheben. Mit der Sittlichkeit zeigt sich im Menschen eine in der Freiheitshaltigkeit nochmals deutlich aufsteigende Stufe. Ohne diesen Fortschritt, vom naturhaften Handeln gegenüber der Kultur zur Sittlichkeit als weiterer Stufe zwischen Kultur und Religion, hätte die Sittlichkeit im Gesamtsystem überhaupt keinen Anhalt. In dem soeben mit dem kategorischen Imperativ oder Sittengesetz eingeführten Autonomiegedanken jedoch kommt es nach Tillich im Menschen zum ersten Mal zur Unterscheidung eines äußeren, universellen „Sollen“, gegenüber dem das Individuum sich frei verhalten kann, und einem schlichten Befolgen bestimmter Regeln. Diesem Sollen entspricht wiederum der Gewissensbegriff, wie Tillich ihn in der Monismus-Arbeit bereits etabliert hatte.171

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 299.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 299.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 299.  Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein, 3. Danz richtet seine gesamte Analyse an diesem Konzept aus: „Dieser Begriff einer endlichen Freiheit, welcher nicht äußerlich an Tillich herangetragen ist, sondern an die bei ihm vorliegenden Problemdifferenzierung anschließt, wird in der vorliegenden Untersuchung als Leitfaden, als einheitlicher Grundgedanke aufgefaßt, auf den alle Äußerungen Tillichs zu beziehen sind.“ (3 f.).  Siehe oben: Teil 1: A.2.

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Die für die protestantische Theologie nicht untypische Verknüpfung von Sollen, Gewissen und Forderung tritt auch bei Tillich zutage.172 Als konkretisierendes Beispiel an dieser Stelle eignet sich abermals die Sitte als Einhaltung von Konventionen, die nicht in Frage gestellt werden. Für Tillich hält oder bricht der Geist als reflektierendes Wesen solche Konventionen aufgrund seines freiheitlichen Verhaltens dazu. Noch konkreter formuliert: Es ist etwas anderes, wenn ich einen bestimmten Beruf im Rahmen einer sozialen Gruppe ausübe, weil es erwartet wird oder der Regel entspricht, als wenn ich mich für einen Beruf frei entscheide. Bei Letzterem liegt der Grund vermutlich mehr in meiner Überlegung und der Sinnhaftigkeit der Tätigkeit als im reinen Mittel zum Zweck.173 Mit der Bestimmung der Sittlichkeit als „Prinzip des Kulturwirkens“ gelangt Tillich zur Verhältnisbestimmung zu Kultur und Religion und damit zum zweiten, funktionalen Gesichtspunkt. Zusammenfassend lässt sich bis hierher sagen: Für Tillich umfasst Kultur die Summe aller Geisteshaltungen, anhand derer der Mensch oder der Geist auf die Formen seiner Umwelt einwirkt. Die Religion führt eine neue Sphäre ein, die sich als religiöse Kultur vollzieht und zugleich alle Kultur begründet. Die Sittlichkeit wiederum bildet das „Prinzip alles kulturellen Handelns“174 bezogen auf sämtliche, denkbare Kulturformen. Für die Sittlichkeit gilt daher eine Art Sonderstellung zwischen Religion und Kultur.175 Unter Sittlichkeit versteht Tillich folglich in dieser funktionalen Hinsicht, dass der Mensch als selbstbestimmtes Wesen die kulturellen Formen betrachtet. Diese Betrachtung geschieht nicht – wie in der Kulturphilosophie – rein deskriptiv. Vielmehr betrachtet die Sittlichkeit die Formen schon auf ihren religiösen Gehalt hin. Somit ist an dieser Stelle ein präskriptives Moment enthalten. Zugleich wird verständlich, warum Sittlichkeit keine Funktion neben anderen sein kann.176 Jede Bestimmung der Natur durch den Geist ist vermöge des sittlichen Prinzips zugleich eine Selbstbestimmung des Geistes. Das gilt indirekt für alle Seiten der Kultur, direkt nur für die objektive Geisteskultur. Das technische Handeln [sachlich], Kunst [subjektiv] und Wissenschaft [objektiv] sind an sich ethisch indifferent, das erste steht vor, das zweite jenseits der Ethik.177

 Vgl. exemplarisch Herrmann, Ethik, 51 f. Siehe zu Tillichs Begriff der Forderung in der Theologischen Ethik unten: Teil 1: B.4.2.  In eine ähnliche Richtung geht auch der Berufsgedanke als Kulturarbeit bei Wilhelm Herrmann: vgl. zum Beispiel Herrmann, Ethik, 140 f.196 f.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 296.  „Sittlichkeit ist nicht eine Tätigkeit neben andern, sonst würde sie zur Kultur gehören, sondern sie ist das Prinzip aller Kulturtätigkeit als Tätigkeit.“ (Systematische Theologie 1913, 298).  Vgl. Systematische Theologie 1913, 298.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 298.

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Sittlichkeit erstreckt sich also zunächst auf nichts anderes als die normative Betrachtung der Kultur. Dies aber noch nicht im Sinne der Ethik, also der normativen Systematik, sondern durch die Selbstbestimmung „der Natur durch den Geist“178. Sittlichkeit als Prinzip bedeutet somit, dass in allen Handlungen der objektiven Kultur ihre letztlich religiöse Fundierung aufgezeigt wird. Im Anschluss an die genaue Bestimmung der Sittlichkeit als freier Selbstbestimmung stellt sich nun die Frage nach der konkreten Gestalt der Ethik als wissenschaftlicher Verhandlungsbereich des sittlichen Prinzips. Dies behandelt der dritte, normative Gesichtspunkt. Ausgehend von der Sittlichkeit als Prinzip gilt: Die objektive Geisteskultur dagegen in ihren beiden Formen als Persönlichkeits- und Gemeinschaftskultur hat es mit dem Kulturträger als solchem, dem einzelnen und der Gemeinschaft zu tun; sie schafft den Kulturorganismus. Hier dreht sich alles um dasjenige Handeln, durch das Kultur ermöglicht wird; hier handelt es sich um das Bestimmtwerden des individuellen Geistes durch den Geist überhaupt, um eine Selbstbestimmung des Geistes, und darum ist hier der Ort für das sittliche Prinzip.179

Der Überschritt zur Ethik als Wissenschaft ist damit gegeben, denn „jede Ethik hat in dieser doppelten Hinsicht, als Persönlichkeits- und Gemeinschaftskultur, das Sittliche zu behandeln“.180 Wie in der Darstellung der Kulturphilosophie bereits angedeutet wurde, schließt die Kulturphilosophie in Tillichs Konzept die deskriptive Ethik ein. Währenddessen verfahre die Ethik als Schematisierung von Sittlichkeit normativ und sei auf den Bereich der objektiven Kultur bezogen – also wiederum Staat, Familie, Gesellschaft, Recht und dergleichen. Dafür gibt Tillich der Einteilung der Kulturformen eine dritte Differenzierung: Während also die Kulturphilosophie das Werden des Geistes in der Persönlichkeit und den Gemeinschaften lediglich beschreibe, sei die „Ethik im Sinne einer Wissenschaft des Sittlichen (Moral) [...] immer normativ, d. h., sie hat zu zeigen, wie für den einzelnen die Einfügung in das objektive Kultursystem sittliche Pflicht wird.“181 Der normative Ansatz der Ethik besteht offenkundig darin, die einzelnen Glieder des „Kulturorganismus“ und das oben skizzierte „Bestimmtwerden“ zu regulieren. Es geht Tillich darum, sowohl im persönlichen wie gemeinschaftlichen Leben das sittliche Prinzip als Grundlage des Handelns zu aufzuzeigen. Alle Formen, in denen der Mensch auf persönliche wie soziale Umwelt einwirkt, sollen also, so Tillichs Zielrichtung, daran gemessen werden, inwieweit sie Freiheit ermöglichen. Wie

   

Tillich, Systematische Theologie 1913, 298. Tillich, Systematische Theologie 1913, 298 f. Tillich, Systematische Theologie 1913, 299. Tillich, Systematische Theologie 1913, 299.

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das konkret geschieht, kann erst die Theologische Ethik zeigen, die genau dies zum Thema hat. Tillichs Konzeption des absoluten Standpunkts endet mit drei Paragraphen, die ausblickhaft eine konkrete Religion (§ 13) von einer absoluten Religion (§ 14) unterscheiden und zuletzt mit der Mystik den vollendeten Standpunkt (§ 15) aufzeigen sollen. Die natur- und geistphilosophische Freiheitstheorie erreicht darin – obwohl nicht expliziert – ihren Höhepunkt. Wie schon Tillichs Rückverweise im Text zeigen, soll zunächst mit der „konkreten Religion“ nochmals der Zustand demonstriert werden, der aus der Beziehung von Religion, Kultur und Sittlichkeit entsteht. Daher bedeutet konkrete Religion schlichtweg „[d]as Leben der Geschichte“ und der „Freiheit“182, in dem sich der Mensch als Wesen der Freiheit seine Entwicklung vollzieht. Im Verlauf der Geschichte verbindet sich für Tillich – wie oben mit den Konfliktpotenzialen gezeigt – das religiöse Prinzip mit den Formen der Kultur und der Sittlichkeit und es entsteht die „konkrete Religion“183. Der Gipfel der Entwicklung zeigt sich in der Sicht Tillichs im Begriff des Heiligen. Denn hierin komme alles zum Ausdruck, was sich an der Beziehung zum Göttlichen orientiert. Konkret bestimmt Tillich den Glauben schließlich nochmals im Rückgriff auf die drei Bereiche des menschlichen Vermögens. So sei der Glaube nicht eine bestimmte theoretische, praktische oder ästhetische Handlung, sondern er sei die Ausrichtung dieser Funktionen am Heiligen beziehungsweise dessen Bejahung.184 Die Erklärung weist der Sittlichkeit abermals ihre zentrale Funktion zu. Tillich wägt hierzu ab, dass der „Heiligkeitsbegriff“ zwar gegenüber dem Sittlichen „indifferent“185 sei. Zugleich gehe das Sittliche in die Sphäre des Heiligen ein, indem Gott als sittlicher erkannt werde. Mit dieser Näherbestimmung spielt Tillich auf die Religionsgeschichte Israels an und zitiert Leviticus 11,45.186 Für die Beziehung des Heiligen zum Sittlichen bedeutet das in Tillichs Worten: Der Begriff der Heiligkeit enthält hier also zugleich die allgemeine Bedeutung des Gott Angehörigseins und die grundlegende Bedingung, unter der eine Persönlichkeit Gott angehören kann. Damit hat er diejenige Stufe erreicht, die dem Wesen des religiösen Prinzips entspricht: die Einheit von Sittlichkeit und Religion.187

     

Tillich, Systematische Theologie 1913, 301. Tillich, Systematische Theologie 1913, 301. Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 302. Tillich, Systematische Theologie 1913, 302. „‚Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig‘“ (vgl. Systematische Theologie 1913, 302). Tillich, Systematische Theologie 1913, 302.

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Mit dem Glaubensbegriff fasst Tillich nochmals die drei Vollzugsebenen des menschlichen Handelns, Denkens und Fühlens als die letztlich religiös fundierte Ausrichtung am Göttlichen zusammen. Den Zielpunkt des Systems erblickt Tillich schließlich in der absoluten Religion der Mystik. Dieser Zustand ist jedoch schon der vollendete Zustand. Er bezeichnet ein „Idealreich“, welches „für den absoluten Systematiker“ konstruiert wird, doch im Realen lediglich antizipiert werden kann. Durch die Ausführungen zu den Passagen über Religion, Kultur und Sittlichkeit ist einerseits das spätere Verständnis der Theologischen Ethik und ihres Aufbaus vorbereitet. Andererseits hat die Analyse gezeigt, wie Tillich bereits im ersten Teil des Entwurfs Ethik als religiös fundierte Kulturtheorie aufbaut. Im nachfolgenden Abschnitt (2.4.) wird nun der relative Standpunkt der Reflexion erörtert.

2.4 Die Auflösung der Sittlichkeit auf dem relativen Standpunkt Der beschriebene Weg des Menschen – von seiner Verwendung sachlicher Kulturgüter bis zum wissenschaftlichen und künstlerischen Ausdruck seiner Subjektivität – erweist sich zunächst als positive Darstellung einer Evolution von Geist und Natur. Dass in der Sicht Tillichs die positive Note für den absoluten Zustand konstitutiv ist, ergibt sich von selbst, solange der Zustand der Einheit von Wahrheit und Denken besteht. Mit dem Prozess der Kulturentwicklung jedoch treten die Konfliktpotenziale zutage, aus denen Tillich das Auseinanderdriften von Kultur und Religion ableitet. Dieser „Drift“ kann geradezu als Rubrum der frühen Kulturtheorie bezeichnet werden. Damit sind die überaus negativen Folgen dieser Entwicklung für Tillich vorgezeichnet: Der Mensch als Geist ist dazu bestimmt, sich als frei zu verstehen; geht diese Freiheit aber mit dem Ziel einer vollständigen Selbstbegründung einher, führt diese zu einem Auseinandertreten zwischen selbstbestimmter Individualität (Freiheit) und ihrer absoluten Begründung (Wahrheit). Für eine solche Selbstbegründung steht der Begriff Reflexion, der in den §§ 16–20 thematisiert wird. Die Folgen der Reflexion – in dieser Negativbeschreibung – sind das Thema dieses Abschnitts. Mit diesem Fokus zeigt sich Tillich schließlich – endlich – als Theologe: Obwohl er es noch nicht derart formuliert, weil das System eben noch nicht bei der Theologie angekommen ist, klingt die rechtfertigungstheologische Grundlage seines Denkens darin an, dass er die Reflexion als Standpunkt mit dem Begriff „Sündenstandpunkt“188 identifiziert.

 Vgl. zum Beispiel: Tillich, Systematische Theologie 1913, 312.

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Es ist für die Perspektive dieser Untersuchung weiterhin maßgeblich, die enge Verknüpfung zwischen Fundamentaltheologie und dem ethischen Denken herauszustellen. Deshalb muss sich im Folgenden zeigen, wie Tillich sein Begriffsnetzwerk aus den kulturtheoretischen, religionsphilosophischen und ethischen Überlegungen weiterführt. Dazu konzentriert sich dieser Abschnitt auf drei Gesichtspunkte. Erstens wird der Übergang vom intuitiven zum reflexiven Denken in Tillichs Konzept dargelegt. Zweitens wird erörtert, wie Tillich die sachliche, objektive und subjektive Kultur als Grundlage von Sittlichkeit und Ethik weiterführt. Drittens wird die Fortentwicklung der Sittlichkeit hervorgehoben. Insgesamt liegt der Fokus auf der durchgängigen Kritik an der Vereinzelung, welche für Tillich das grundlegende Problem der Reflexion darstellt. Damit ist auch dieser Aspekt eine dezidierte Vorbereitung der Theologischen Ethik, weil darin das sittliche Leben als Verhältnis von Einzelnen und der Gemeinschaft konzipiert wird. Erstens folgt – wie schon eingangs betont – in Tillichs Konzeption der reflexive auf den absoluten Zustand. Damit geht aus dem intuitiven Denken der Vernunft der zweite Standpunkt hervor, den Tillich als Reflexion (§§ 16–21) bestimmt und den er mit dem Verstand gleichsetzt. Mit der Bezeichnung Reflexion verweist Tillich bereits auf seine Darstellung des skeptischen Denkens, das er mit den logischen Formen von Induktion und Deduktion beschreibt.189 Die anschaulichste Annäherung an Tillichs Verständnis der Reflexion ergibt sich aus ihrem Verhältnis zum intuitiv-absoluten Standpunkt: Insofern das absolute System das einzelne, das Relative, setzt (vergl. § 5), bejaht es den Standpunkt der Relativität und gibt ihm eine Existenz im System. Insofern es alles Relative aufhebt in die absolute Einheit, verneint es den Standpunkt der Relativität und gibt ihm keinen Ort im System.190

Ein erstes Charakteristikum des relativen Standpunkts besteht also darin, dass er vom absoluten Standpunkt begründet ist und zugleich von ihm verneint wird. Verdeutlicht wird dieser Umstand von Tillich im Rückgriff auf das Verhältnis von Denken und Wahrheit: Die Beziehung zwischen absolutem und relativem Standpunkt spiegele den Zustand, bei dem die Einheit von Denken und Wahrheit nicht mehr bestehe. Dadurch aber, so Tillich weiter, vernichte der relative „Standpunkt die Einheit des absoluten Systems. Weil das einzelne sich dem Absoluten entgegenstellt, hebt es die Identität [...] von Wahrheit und Denken auf.“191 Der Mensch als Subjekt – der sich bereits in den Bereich der subjektiven Kultur erhoben hat – verfällt für

 Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 308.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 307.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 307.

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Tillich nun in einen Zustand „abstrakte[r] Reflexion]“.192 Diese abstrakte Reflektiertheit, oder schlichter gesagt die Anwendung des Verstandes, äußert sich in der zeitgenössischen Situation – also dem modernen, rational logischen Denken – zum Beispiel in rein logischen Denkweisen. Dafür führt Tillich die Unterscheidung von induktivem und deduktivem Denken an.193 Als neues Prinzip des Denkens tritt aus diesem rationalen Denken, so Tillich, der systematische Zweifel hervor. Im Blick auf die gesamten bisherigen Erwägungen rekurriert Tillich hier offensichtlich die „Sünde“ als Versuch, sich völlig selbstständig und ohne Bezug zum Absoluten, zu Gott, selbst zu begründen. Er verbindet hierdurch seine Zeitdiagnose mit der grundsätzlichen Beobachtung, dass der zeitgenössische Mensch seine Abhängigkeit von Gott durch Rationalismus ersetzen will. Der Zweifel steht charakteristisch für diese Diagnose. Sofern der Zweifel zum Prinzip erhoben wird, geht der Bezug – so könnte man simpler formulieren – zu etwas Höherem verloren. Tillich demonstriert diesen Sachverhalt etwas konkreter an der nachidealistischen Periode, welche Tillich namentlich an Hegel festmacht: Es war der Grundmangel dieses Idealismus, [...] daß er den Standpunkt der Reflexion für etwas ausschließlich Überwundenes, im absoluten System Aufgehobenes erklärte, anstatt das dialektische Verhältnis zu durchschauen, in dem der Reflexionsstandpunkt dauernd zu dem absoluten Standpunkt sich befindet, nämlich in ihm aufgehoben zu sein und ihm entgegenzustehen.194

Mit dem „Reflexionsstandpunkt“ bezeichnet Tillich geistesgeschichtlich also den Standpunkt vor allem der in der griechischen wie auch modernen Aufklärung verwurzelten Reflexion. Der darin entstehende Zweifel als Grundeigenschaft der Reflexion führt in Tillichs Sicht schließlich zur Verzweiflung des Geistes an der Wahrheit. Genau das ist mit der „Tragik“195 des Reflexionsstandpunkts beschrieben. Es kommt in seiner Sicht – so lässt sich deuten – zu dem Versuch, alle Funktionen des Geistes in den kulturellen Formen des Sachlichen, Objektiven oder Subjektiven vollständig reflexiv zu begreifen. Diese „Selbstermächtigung“ allerdings „[...] übersieht die lebendige Beziehung der Freiheit zu den Begriffen, von denen er [Freiheitsbegriff] herkommt, und lässt ihn erstarren.“196 Freiheit sei in der Folge keine Freiheit mehr, da sie in der Reflexion jetzt wesentlich aus der Fixierung von Zielen, Individuen oder Geistesrichtungen bestehe. Diese seien aber aus der Freiheit selber resultierende Erscheinungen:

    

Tillich, Systematische Theologie 1913, 307. Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 308. Tillich, Systematische Theologie 1913, 309. Tillich, Systematische Theologie 1913, 310. Tillich, Systematische Theologie 1913, 311.

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also wiederum technisches Handeln, Sitte, Recht, Persönlichkeit, Gemeinschaft, Kunst, Wissenschaft. Die Aufhebung der Freiheit bestehe deshalb darin, dass sie sich nicht ihrem Wesen nach über die Erscheinungen erhebe, sondern sie in der Reflexion fixiere.197 Damit ist – zweitens – der Übergang zu den konkreten Auswirkungen dieser Form von Freiheit aufgezeigt. Tillich buchstabiert jene Auswirkungen zunächst an den jetzt bekannten Kulturbereichen des Sachlichen, Objektiven wie Subjektiven durch. Sodann geht er zur Rolle der Sittlichkeit in diesem Zusammenhang über. Zunächst zu den Kulturbereichen. Tillich wird hier nun gegenüber der Fundamentaltheologie ein Stück weit konkreter und setzt bei der sachlichen Kultur mit dem Negativbeispiel des „wirtschaftlichen Individualismus“ ein, der die sachlichen Güter zum „Zweck“198 statt zu Mitteln erkläre. Die soziale Konsequenz daraus bestehe im „Sturm des Sozialismus, d. h. des Ertötens aller sachlichen Kultur“199. Demgemäß hat Tillich mit sachlicher Kultur also offenkundig auch den Geldwert vor Augen. Reflexion bestehe hier darin, dass im Individualismus die „Erträge“ „zugunsten einzelner“ im Vordergrund stehen, worauf der Sozialismus reagiere. Auf Ebene der objektiven Kultur werde in der Reflexion ein Staatsgebilde entworfen, in dem – wiederum einzelne – Träger sich verabsolutieren. Darauf bilde die Demokratie dann die entsprechende Reaktion. Bezeichnend ist schon an dieser Stelle Tillichs stetige Betonung der Einzelnen oder kleiner Gruppen, die sich zum Beispiel im Staat ihre Macht sicherten. Auf der Stufe subjektiver Kultur greift Tillich für die Wissenschaft auf die oben erörterte Skepsis als reflexiven Methodenkampf zurück.200 Die Kunst schließlich verfalle in eine „ästhetische Dekadence“201.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 311. Die Sündenlehre in Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, 89, ist ganz ähnlich gelagert: „Wenn er sich nun als einzelnes Wesen erfaßt, als abstrakte Subjektivität, als individuelles Ich, d. h. wenn er den ewigen Prozeß der Gottheit aufhalten will, so sündigt er. Sünde ist der Versuch des einzelnen, sich dem Prozeß der Wiederaufhebung alles Einzelnen in die Einheit der absoluten Synthesis zu widersetzen. Sünde ist Selbstheit, die sich als Selbstheit aufrichten will, Sünde ist der potenzierte Widerspruch, der sich selbst mit der Kraft des Wesens als Widerspruch setzende Widerspruch.“  Tillich, Systematische Theologie 1913, 311.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 311.  Vgl. Systematische Theologie 1913, 312.  Die daraus entstehende „abstrakt-idealistische und ideenlose“ Kunst spiegelt in ihrer Darstellung zwar Freiheit, verliert aber ihren Konkretheitsbezug. Die „skeptisch-realistische“ (Systematische Theologie 1913, 312, kursiv im Original) Kunst vollzieht sich gleichsam allein als Anschauung und fixiert sich so in der Unfreiheit des rein Konkreten anstelle der im Absoluten begründeten Freiheit. Aus dieser Spannung resultiert „ästhetische Dekadence“, die das scheiternde Erheben der Kunst über alle Geistesfunktionen bezeichnet und somit dem schauend-übersittlichen Mystikstandpunkt zu entsprechen versucht. Nach Wittekind hat Tillich kunsthistorisch eine Verknüpfung von Dekadenz und Kunst vor Augen, wie sie beispielsweise von „Emile Zola 1886“ verwendet worden sei.

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Sodann geht Tillich – drittens – zu dem im Zusammenhang dieser Arbeit zentralen Aspekt der Sittlichkeit über. Hierzu definiert er nochmals den Reflexionsstandpunkt als Sündenstandpunkt, in dem es geradezu zur „Auflösung“202 von Religion und Sittlichkeit komme. Mit der Auflösung spielt Tillich allem Anschein nach auf die Bestimmung der Reflexion als Fixierung einzelner, ganz konkreter Güter, Theorien, Kunstformen und dergleichen an. Durch die Fixierung, so lässt sich deuten, verlieren die Formen sachlicher, subjektiver und objektiver Kultur ihren eigentlichen Sinn, nämlich als Freiheitsformen die freien Vollzüge des Menschen zu realisieren. Im Blick auf die Ethik resultieren daraus zwei Grundformen, die Tillich verhältnismäßig konkret benennt. Bei den beiden Formen der Ethik handelt es sich um eine „abstrakt-gesetzliche“ und eine „individualistische Ethik“203. Beide können als „unfreie“ Formen von Ethik verstanden werden und zeigen sich charakteristisch für die Folgen der Reflexion, wie sie bis hierher charakterisiert wurde. Zunächst ist hier die Kursivsetzung der Termini durch Tillich nicht trivial. Er setzt derartige Betonungen äußerst sparsam ein. Das weist darauf hin, dass er den Bezug zur Theologischen Ethik hier selbst setzen wollte. Dort nimmt er dieselbe Unterscheidung in der Frage nach dem sittlichen Prinzip vor.204 In der näheren Erklärung wird der Bezug zur Theologischen Ethik durch weitere Begriffe verstärkt. Somit handelt es sich bei dieser Stelle um eine weitere, direkte Vorbereitung der Theologischen Ethik im System.205 So erörtert Tillich die gesetzliche Ethik als implizite Kritik an einer – klassisch von Kant konzipierten – Ethik, die auf der Einhaltung eines völlig abstrakten, universellen Gebots basiert. Diese Art der Ethik könne „weder dem sittlichen Willen ein Motiv noch der sittlichen Erkenntnis eine Gewißheit geben“206. Demgegenüber fehle der individualistischen Ethik dasjenige, was die gesetzliche Ethik zu viel habe. In der ganz auf die subjektiven Bedürfnisse und Empfindungen ausgerichteten Ethik gehe jede universell nach außen gerichtete Norm verloren. Somit hat Tillich – wie auch in der Theologischen Ethik deutlich wird – Formen eudämonistischer Moralvorstellungen vor Augen. Möglicherweise spielt er ebenso auf die Weiterbildung

„Auch an den Ästhetizismus des ‚Jungen Wien‘ ist möglicherweise gedacht. Natürlich muss Tillich 1913 noch nicht den Expressionismus im Blick haben – aber auch andere moderne Richtungen der letzten 10 Jahre werden nicht aufgenommen.“ (Wittekind, „Das Dämonische“, 100, Anm. 48).  Tillich, Systematische Theologie 1913, 312.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 312.  Siehe unten: Teil 1: B.4.  Siehe exemplarisch die Verwendung von „Motiv“ oder auch „Lieblosigkeit“ im Kapitel zur Theologischen Ethik: Systematische Theologie 1913, 395.405.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 312.

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derartiger, güterethischer Ansätze der Aufklärung an.207 Das Subjekt kreise also um sich selbst. Die Folge der individualistischen Ethik seien „Selbstsucht“ oder auch „libertinistisch[e] oder heidnische Sündhaftigkeit“. Aus der gesetzlichen Ethik folge eine „pharisäische“ Sittlichkeit, die sich vollständig auf die radikale Einhaltung bestimmter Pflichten fixiere und damit wiederum die Individualität des Andern aus dem Blickfeld verliere. Gemeinsam münden solche unfreien Formen der Ethik für Tillich in einer relativistischen Sittlichkeit.208 Der entscheidende Aspekt im Rekurs auf die grundlegende Beziehung von Religion, Kultur und Sittlichkeit besteht nun darin, dass in Tillichs Sicht mit dem Verlieren der Sittlichkeit auch die Vernichtung des religiösen Prinzips einhergeht.209 Auf der Grundlage der vorangegangenen Interpretation wird dieser Schritt verständlich. Denn die Sittlichkeit bestand ja im absoluten Standpunkt gerade darin, sich als frei zu bestimmen. Damit ist der reflexive Zustand nochmals besser charakterisiert. Er bezeichnet den Zustand, auf dem eben keine optimale Form von Sittlichkeit mehr denkbar ist. Der Mensch hat sich nach Tillich von der idealen Form der Sittlichkeit durch die Reflexion entfernt. Gleichzeitig dränge er zu ihr, zum Absoluten, zurück. In diesem eigenständigen Zurückdrängen konzipiert der Mensch – so lässt sich interpretieren – vorläufige Formen von Ethik, auf die er sich jedoch derart fixiert, dass sie in Unfreiheit führten.

2.5 Der paradoxe Standpunkt und das theologische Prinzip Es konnte bislang gezeigt werden, dass Tillich von zwei Formen des Denkens ausgeht, die sich darin unterscheiden, dass sich der Mensch in der zweiten Denkform mit der Reflexion von der Wahrheit – vom absoluten Standpunkt (der ersten Denkform) – entfernt, indem er die Wahrheit eigenständig zu begründen versucht. Somit stellt sich im Folgenden erstens die Frage, welche Antwort die Theologie auf diesen Status des Denkens oder des Menschen geben kann. Hierbei handelt es sich konkret um die Denkfigur des Paradoxes, mit der Tillich den theologischen Standpunkt konzipiert. Zweitens ist zu fragen, wie genau Tillich das „theologische Prinzip“ und davon ausgehend die Rechtfertigung als Grundlage theologischen Denkens und zumal Theologischer Ethik konstruiert.

 Siehe unten: Teil 1: B.4.2.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 313.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 313.

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2.5.1 Das Paradox als theologische Denkform Für Tillich liegt – erstens – die Aufgabe der Theologie in einem Denken, welches die beiden erörterten Standpunkte verbindet, folglich in der Lage ist, den absoluten Standpunkt der Intuition mit dem relativen der Reflexion zusammenzudenken. Dabei gilt für Tillich die eindeutig theologische Voraussetzung, dass die Einheit von Relativem und Absolutem durch den Menschen gedanklich nicht vollständig erreicht werden kann. Insoweit bildet für Tillich der theologische Standpunkt (§§ 22–28) den Versuch, das Relative mit dem Absoluten wiederzuvereinigen und somit die Synthese von Intuition und Reflexion abzubilden. Wenn es zu der obigen Trennung zwischen Wahrheit und Denken gekommen ist, so argumentiert Tillich, dann muss der Theologie die Aufgabe im System des Geistes zukommen, jene Trennung zu denken. Für diese Synthese reserviert Tillich das Paradox im Paragraphen 22. Das Paradox, ursprünglich das, was dem Meinen widerspricht, aber dem Erkennen offenbar ist, wird dann auch für das verwandt, was dem gewöhnlichen Erkennen, der Meinung des natürlichen Denkens widerspricht und etwas Übernatürliches [...] enthält. Tatsächlich handelt es sich dabei um die Menschwerdung Gottes, um die Identität des Absoluten mit einem bestimmten Relativen. Wesentlich in diesem Sinne ist der Begriff auch hier gemeint; doch es ist der Zweck dieser ganzen Apologetik, zu zeigen, daß das Paradox in diesem Sinne, wenn auch weder von der Intuition (Vernunft) noch von der Reflexion (Verstand) gesetzt, so doch von beiden gefordert und für beide gesetzt ist.210

Für Tillich macht es demnach allein die Denkfigur des Paradoxes möglich, das Absolute mit dem Relativen zusammenzudenken. Für den Eingang des Absoluten in das Relative stehe – wiederum im Rückgriff auf Schelling211 – die Menschwerdung im Christusereignis. Mit dieser Bestimmung macht Tillich sowohl zweifelsfrei deutlich, dass im theologischen Standpunkt das Ziel des bisherigen Denkweges besteht, als auch, dass mit dem Paradox ein eindeutig christologischer Zugriff benannt ist. Indem das Paradox die Rückkehr des Relativen zum Absoluten umschreibt, ist es als die dritte Art des Denkens bestimmt, in der Absolutes und Relatives in eine gedankliche Synthese treten. Diese Synthese geschieht nicht beliebig, sondern „[d]ie Sphäre des Paradox ist die Religion; denn die Religion ist die Rückkehr der Freiheit zur Wahrheit“212. Die Pointe in Tillichs paradoxem Religionsbegriff ist es, dass die Religion der einzige Ort ist, an dem das Absolute

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 315.  Vgl. hierzu nochmals bei G. Neugebauer, Christologie, der Tillichs Rezeption Schellings anhand dessen Geschichtsdenkens und speziell der Christologie tiefgreifend aufgearbeitet hat.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 315.

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(Gott) mit dem Relativen (der Mensch und seine Mitwelt) wirklich zusammengedacht werden kann. Tillichs Gedankengang lässt sich wiederum im Rückbezug auf die apologetischen Grundlegungen mit ihrem Verhältnis von religiösen und kulturellen Formen erklären. Dort wurde gezeigt, dass die Religion notwendig in Synthesen mit der Kultur treten muss, um sich darzustellen. Der Struktur nach ähnlich lasse sich also in der Menschwerdung Gottes das Absolute herab zum Relativen. Der theologische Standpunkt versuche genau das auszudrücken. Des Weiteren wird das Paradox von Tillich nicht beliebig, sondern in der Religion als der grundlegenden „Geistesfunktion“213 – neben Sittlichkeit und Kultur – verortet. Diese Verortung trägt zum Verständnis erheblich bei. Tillich argumentiert, es sei notwendig, das Paradox in einer Geistesfunktion explizit zu lokalisieren, weil andernfalls dasjenige rein abstrakt bliebe, was doch gerade konkret in die Welt des Menschen eingehen wolle. Tillich begründet zusammenfassend gesagt die Theologie des Kreuzes mit den Mitteln seiner idealistischen Vorüberlegungen. An dieser Stelle rekurriert er explizit auf die Beziehung von absolutem Standpunkt und dem Reflexionsstandpunkt sowie auf das Verhältnis von absoluter und konkreter Religion. Damit soll erklärt werden, dass das Paradox als Standpunkt einer konkreten Form der Religion zu verstehen sei. Interpretierend könnte man hier von positiver Religion sprechen. So zielt Tillich auf das Christentum als konkrete Form der Religion ab, in der sich das Absolute zum Relativen begibt, ohne die Religion selbst zum Absoluten zu erheben. Deshalb betont Tillich in diesem Zusammenhang eingehend, dass der Ort des Paradoxes nicht die absolute Religion sein könne. Es ist gerade das Wesen des Reflexionsstandpunktes, einen dialektischen Begriff der absoluten Religion nicht zu kennen; und darin liegt der ganze Konflikt, daß die Reflexion sich jeder Absolutheit systematischer Art entgegenstellt. Auf dem Standpunkt der Reflexion also, der ja nicht aufgegeben werden soll, ist der Begriff etwas rein Abstraktes, Problematisches.214

Die Denkform des Paradoxes kann es in einer absoluten Religion nicht geben, weil eine absolute Religion nur auf dem absoluten Standpunkt besteht. Deshalb „muß der Ort des Paradox also eine konkrete Religion sein“215. Auf dem absoluten Standpunk brauche es schlichtweg kein Zusammendenken von Absolutheit und der Reflexion, die sich von ihr respektive der Wahrheit entfernt. Mit der Einführung der Differenzierung von Wissen und Glauben expliziert Tillich sodann den theologischen Standpunkt präziser.

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 315.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 316.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 316.

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Der Standpunkt des Paradox ist der theologische; ‚Theologie‘ enthält schon dem Begriff nach etwas Paradoxes in sich: Sie ist Wissenschaft von Gott, d. h. das, was Objekt des Glaubens ist, soll Objekt des Wissens werden, ohne daß der Glaube als solcher verneint wird. [...] Darum aber gibt es auf dem absoluten Standpunkt keine Theologie, sondern nur eine Religionsphilosophie. Auf dem Standpunkt der Reflexion dagegen gibt es nur den Glauben auf der einen, das Wissen auf der andern Seite, und den Kampf beider.216

Damit führt Tillich also die Grundlegung des Systems konsequent fort. Nochmals wird so deutlich, dass es auf dem absoluten Standpunkt keine Diskrepanz zwischen Wissen und Glauben gibt. Erst aufgrund der Reflexion tritt nach Tillich beides auseinander. Mit dem „Kampf“ bezieht sich Tillich auf die Darstellung der Reflexion zurück.217 Erst auf dieser Grundlage werde ein theologischer Standpunkt notwendig. Das Auseinandertreten von Wissen und Glauben sei folglich das exakte Thema der Theologie. Sie denke auf einem Standpunkt, auf dem beides zugleich bestehe und doch keine Einheit bilde. Durch die Bestimmung des theologischen Standpunkts zeigt sich, dass die theologische Pointe von Tillichs eigenem System in der Annahme liegt, dass der Mensch die Einheit mit der Wahrheit nicht – denkend, handelnd oder fühlend – erreichen kann. Damit ist nicht nur implizit zurückverwiesen auf Tillichs Bestimmung des Menschen mit seinem „Abhängigkeitsbewußtsein aufgrund eines Freiheitsbewußtseins“218. Vielmehr klingt schon in dieser ersten Annäherung die rechtfertigungstheologische Grundlegung an, insofern der Mensch, theologisch gesprochen, auf die Hinwendung Gottes angewiesen sei. 2.5.2 Rechtfertigung als theologisches Prinzip Im Anschluss (§ 23) an die Erörterung der Denkfigur des Paradoxes entwickelt Tillich sein Verständnis des theologischen Prinzips, aus dem sich dann die Rechtfertigung als grundlegender Ausgangspunkt der Theologie erklärt.219 Um die Konstruktion verständlich zu machen, sollen die drei Momente in ihrem Zusammenhang erörtert werden. Dabei liegt der Fokus auf Tillichs Konzept der Rechtfertigung als der Grundlage der Theologie insgesamt und folglich auch der Ethik.

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 316.  Siehe oben: Teil 1: A.2.4.  So die dort erörterte Kennzeichnung der menschlichen Freiheit im religionsphilosophischen Abschnitt des ersten fundamentaltheologischen Teils: Systematische Theologie 1913, 291.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 317. Dass Tillich zwischen Paradox und theologischem Prinzip noch einmal genauer unterscheiden möchte, zeigt sich auch an seiner späteren Teilung der beiden Paragraphen. Zuerst waren beide Aspekt zusammengefasst. Vgl. Systematische Theologie 1913, 317, Anm. 111.

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B Die Entfaltung von Freiheit und Nächstenliebe

Zunächst nimmt Tillich die Unterscheidung von abstraktem, konkretem und vereinendem Moment wieder auf und stellt die „Konstruktion“220 des theologischen Prinzips anhand der drei Formen dar: Ein abstraktes Moment steht dabei für den Zugriff auf den theologischen Standpunkt aus der Sicht des Wissens; ein konkretes für den Zugriff aus der Sicht des Glaubens. Im dritten Moment werden beide Seiten gedanklich – paradox – zusammengeführt. Grundsätzlich muss für ein weiteres Verständnis dieser Konzeption klar sein, dass sie unmittelbar auf dem Paradox – als Versuch, das Absolute mit dem Relativen zusammenzudenken – basiert. Das Paradox muss demnach – um es einfach zu sagen – die Grundprobleme christlich-theologischen Denkens zum Ausdruck bringen. Aus dieser Grundbestimmung gehen in Tillichs Konzeption zwei spezifische Paradoxgedanken hervor, denen jeweils eine starke Tendenz zum abstrakten oder zum konkreten Moment des theologischen Prinzips entsprechen. Als eine Synthese zweier einander ausschließender Standpunkte (Intuition und Reflexion) kann das theologische Prinzip unter dem Übergewicht des einen oder des anderen Moments betrachtet werden.221

Das erste Paradox repräsentiert für Tillich die Rechtfertigung (§ 24) und hat in seinem Modell eine klare Tendenz in Richtung des abstrakten Moments des theologischen Prinzips.222 Im Gedanken der Rechtfertigung – der ja bereits eine theologische Denkform darstellt – überwiegt nach Tillich also das absolute Moment, welches der Seite des Wissens und somit der Intuition nähersteht. Das Prinzip der Rechtfertigung wird durch Tillich präziser als „allgemeines“223 bestimmt und kann terminologisch als „Materialprinzip“224 bezeichnet werden.225 Tillichs Ver Tillich, Systematische Theologie 1913, 317.  G. Neugebauer, Christologie, 272.  Der Leitsatz zum Materialprinzip der Rechtfertigung, Systematische Theologie 1913, 318, lautet: „Das Urteil Gottes, durch das ein bestimmter Einzelstandpunkt zugleich absolut verneint und absolut bejaht wird, ist die Rechtfertigung; insofern das Urteil absolut und ohne Voraussetzung in dem Beurteilen [in Anm. 16 korrigiert in „Beurteilten“] geschieht, ist es Prädestination“ (im Original kursiv).  Tillich, Systematische Theologie 1913, 317.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 320.  Die Unterscheidung zwischen zwei Prinzipien des Protestantismus als Formal- und Materialprinzip beziehungsweise Schrift- und Rechtfertigungsprinzip geht nach Malte Dominik Krüger, Das andere Bild Christi. Spätmoderner Protestantismus als kritische Bildreligion (Tübingen: Mohr Siebeck, 2017), 9, Anm. 17, womöglich auf Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche (1816) zurück. Die Frage, was das eine Prinzip des protestantischen Glaubens sei, ist folglich erst eine Debatte des 19. Jahrhunderts. Für Luther sei das Schriftprinzip, wie er es in De servo arbitrio (1525) entfaltet habe, noch unverrückbar das einzig denkbare Prinzip der Theologie und des Glaubens gewesen. Diesen theologiegeschichtlichen

2 Die Entfaltung der Sittlichkeit in der Fundamentaltheologie

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ständnis der Rechtfertigung soll hier zum einen anhand seiner Bestimmung als „Ja-/Nein-Struktur“, zum anderen im Blick auf seine universelle Ausrichtung knapp erörtert werden. Zum einen macht Tillich die Grundstruktur der Rechtfertigung anhand des Duals aus Ja und Nein wiederum am Ausgangspunkt der Reflexion im Sinne der Sünde deutlich. Was gerechtfertigt werden müsse, sei immer der „Einzelstandpunkt“ der Reflexion.226 Tillich fasst die Rechtfertigung eindeutig als Urteil Gottes. In diesem Urteil erkennt er eine grundlegende Struktur aus Ja und Nein, die womöglich ein weiteres Mal auf die Prägung durch den Hallenser Lehrer Wilhelm Lütgert verweist.227 Religiös gesprochen: Der Sünder wird um des Guten willen, das in ihm ist, getragen von Gott, das absolut Böse würde dem Nichts verfallen; zugleich aber steht der Sünder unter Gottes Zorn. [...]. Er sagt ein absolutes Nein dazu, aber eben deswegen auch zugleich ein absolutes Ja.228

Tillich unterscheidet in diesem Ineinander von Ja und Nein, von Gnade und Zorn, die absolute Kategorie der Rechtfertigung gegenüber relativen Formen der Reflexion, die schon in das zweite, das „Formalprinzip“ gehören.229 Mit den Formen der Reflexion hat Tillich in diesem Kontext spezifische Erklärungen der historischkritischen Geschichts- und Bibelwissenschaft im Blick. Darunter fallen zum Beispiel Fragen zum Wissen um den historischen Jesus oder nach der Historizität biblischer Überlieferung. Beispielhaft für absolute Kategorien stehe die Prädestination, weil in ihr zum Ausdruck komme, dass Rechtfertigung als ein übergeordnetes Prinzip durch nichts bedingt sein könne. Durch die Verbindung von Rechtfertigung und Prädestination komme gerade zur Geltung, dass „durch die Prädestination, d. h. die grundlose Rechtfertigung einzelner, prinzipiell der Standpunkt der Reflexion aufgehoben ist.“230 Mit dem Zusammenhang von Rechtfertigung und Prädestination will Tillich – so kann interpretiert werden – die Untrennbarkeit von Ja und Nein erhärten. Dazu ist es notwendig – darin liegt der Kern der Argumentation –, auf der einen Seite die gerade erwähnte Aufhebung des Sündenstandpunkts oder der Refle-

Sachverhalt habe Albrecht Ritschl in seiner klassischen Studie Ueber die beiden Principien des Protestantismus. Antwort auf eine 25 Jahre alte Frage (1876) aufgearbeitet und damit gezeigt, dass das Problem zweier möglicher Prinzipien der evangelischen Konfession erst einen sehr späten Streit darstellt.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 318.  Vgl. Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 147–149.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 318 f.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 319. Das Formalprinzip wird im Anschluss in diesem Abschnitt erläutert.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 319.

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xion als prinzipielle Aufhebung zu betonen. Dafür steht in Tillichs Sicht das Ja im Urteil Gottes. Auf der anderen Seite sei aber durch diese Aufhebung nicht die Relativität an sich aufgehoben. Dafür steht hier das Nein im Urteil Gottes. Durch diese Dialektik von Ja und Nein, Gnade und Zorn, wird in Tillichs Gedankengang der „ganze Standpunkt der Relativität gerechtfertigt, ungeachtet der unendlichen Relativität“231. Sofern also der absolute Standpunkt nicht erreicht ist – was in der theologischen Konzeption nur in der Vollendung der Fall sein könnte – geht es für Tillich darum, die Spannung von Ja und Nein abzubilden. Zum anderen stellt Tillich heraus: „Das theologische Prinzip als allgemeines ist Rechtfertigung.“232 Somit kommt der besondere Status der Rechtfertigung im Verhältnis zu einem formalen Prinzip zum Ausdruck. Die Überordnung des Rechtfertigungsgedankens über spezielle Fragen beispielsweise zum Schriftprinzip oder zum historischen Jesus entspricht Tillichs Zuneigung zur Logos-Christologie, die die Universalität des Christusgeschehens bedeutet.233 Die Folgen dieser Grundentscheidung sind immens: Sie weisen der Rechtfertigung das Wesen einer „allgemeinen Idee“234 zu, und eine solche kann von einem Formalprinzip nicht abhängig gemacht werden. Mit der Universalität grenzt Tillich sich theologiegeschichtlich von einer Konzentration auf die individuelle Vergebung als Rechtfertigung (Pietismus) genauso ab wie von der Idee einer Rechtfertigung der sittlichen Gemeinschaft namentlich bei Albrecht Ritschl.235 Für Tillich muss nicht weniger als der ganze „Weltzustand“236 als gerechtfertigt angesehen werden. Wie er ausführt, wird so die Bahn frei für eine universale [...] Durchführung des Rechtfertigungsgedankens auf allen Gebieten, welches Aufgabe des dritten Teils des Systems ist.237

Entscheidend im Zusammenhang dieser Arbeit ist der hiermit bereits im theologischen Prinzip gesetzte Ort der Theologischen Ethik in engster Verknüpfung mit dem Rechtfertigungsgedanken.238 Denn hierdurch ist die Struktur sämtlicher Teilaspekte in der Theologischen Ethik vorweggenommen.239

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 319.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 318. Damit sind die Bezeichnungen „Theologisches Prinzip“ als Paradox und „Rechtfertigungsprinzip“ in der Systemschrift gleichbedeutend (so bereits Bernet-Strahm, Vermittlung des Christlichen, 167 f.; G. Neugebauer, Christologie, 377–391.  Vgl. dazu Systematische Theologie 1913, 351, ferner Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 150; G. Neugebauer, Christologie, 279 f.  Wittekind: „Allein durch den Glauben“ (2008), 44.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 320.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 320.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 320.  Siehe zur Bedeutung der Rechtfertigung für die Theologische Ethik unten: Teil 1: B.4.  Siehe die durchgängige Ja-Nein-Struktur in den Feldern der Ethik in Teil 1: B.4.

2 Die Entfaltung der Sittlichkeit in der Fundamentaltheologie

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Bei dem zweiten Paradox – dem konkreten Moment (§ 25–26) des theologischen Prinzips – handelt es sich insbesondere um Fragen nach einem Schriftprinzip oder auch nach dem „historischen Jesus“ als theologischen Grundproblemen der (zeitgenössischen) Theologie. In Abgrenzung zum Materialprinzip der Rechtfertigung kennzeichnet Tillich diese Probleme als „Formalprinzip“, welches er unter der Überschrift „Glaube und Geschichte“240 entfaltet. Anders als das „allgemeine“ Materialprinzip sei es ein „besonderes“241 Prinzip. Damit spielt Tillich darauf an, dass es hier um – man könnte sagen: eben formale – Fragen, wie der nach der Entstehung der Schrift, geht. Deshalb steht dieses Prinzip dem Glauben und demnach der Reflexion näher. Tillich erblickt hier das „theologische Zentralproblem. Hier oder nirgends wird der Charakter der Synthese zwischen absolutem und relativem Standpunkt deutlich.“242 Konkret und historisch ist dieses Moment in Tillichs Blickwinkel deshalb, weil es hier explizit um schrifthermeneutische Fragen, um „historischkritische Betrachtung der neutestamentlichen Geschichte“, gehe. Und genau von hier aus stellt Tillich die Überordnung der Rechtfertigung gegenüber konkreten, historischen und exegetischen Sachfragen heraus. Würde das christologische Urteil nicht unter dem Rechtfertigungsgedanken stehen, so würde das konkrete Moment des theologischen Prinzips, die ganze Breite der Beziehungen, die das christologische Urteil in sich trägt, fixiert werden; es würde eine bestimmte Kultursphäre zur Absolutheit erhoben und damit der Zerstörung durch die Reflexion preisgegeben werden.243

Damit ist nach Tillich das Formalprinzip zwar vom Materialprinzip der Rechtfertigung bedingt.244 Doch geht es ihm darum zu zeigen, dass eine Fixierung auf bestimmte Fragen oder wissenschaftliche Zugänge wiederum zu den Problemen führt, die im relativen Standpunkt aufgekommen waren. Wenn man sich also vollkommen auf bestimmte „Tatsachen“ fixiere, gerieten diese in Gefahr, verabsolutiert zu werden. Demgegenüber widerspricht für Tillich eine solche Fixierung

 Der Leitsatz zum Formalprinzip, Systematische Theologie 1913, 321 f., lautet: „Das Urteil, daß in Jesus von Nazareth das Absolute sich herabgelassen hat zum Relativen und das Relative zurückgekehrt ist zum Absoluten, ist der Inhalt des konkreten Moments des theologischen Prinzips. In diesem Urteil ist naturgemäß ein geschichtliches und ein Glaubensurteil verbunden“ (im Original kursiv).  Tillich, Systematische Theologie 1913, 317.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 321.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 322.  Vgl. Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 149 f.: „Als [...] Prinzip des Christentums als ‚Ort des Paradox‘ [...] fungiert folgerichtig nicht das christologische Moment, sondern eben der ihm gegenüber formal nochmals weiter angelegte Rechtfertigungsgedanke.“

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gerade dem „Kreuz“, weil hier der „Christus“ sich an das Absolute hingebe. „Am Kreuz stirbt alles Konkrete, das sich verabsolutieren will, auch die Konkretheit des Erlösers.“245 Gleichzeitig stellt sich das Problem heraus, dass das Christusgeschehen als Eingang des Absoluten in die Relativität nicht beliebig sein kann. „[D]enn nicht, daß irgendeiner, sondern Jesus von Nazareth stirbt, ist ja das Entscheidende. Und das setzt eben ein historisches Urteil voraus.“246 In dieser Dialektik bleibt das Verhältnis zwischen Rechtfertigungs- oder Materialprinzip und Formal- oder Schriftprinzip behaftet. Um das zu präzisieren, bestimmt Tillich schließlich beide Formen als eine „abstrakte“ und eine „konkrete Gewißheit“.247 Beide bleiben so anscheindend doch aufeinander angewiesen248, wofür auch die Verhältnisbestimmung im Paragraphen zur Rechtfertigung spricht. In Bezug auf die Angewiesenheit des Rechtfertigungs- auf das Schriftprinzip formuliert Tillich: Das theologische Prinzip in dieser absoluten Form ist [...] nicht möglich ohne das andre Moment. Es würde der Kritik verfallen, abstrakt, rein ideell zu sein. Und dieser Vorwurf würde bedeuten, daß es wieder nichts als ein Gedanke ist, der erlösen soll, während die Not doch gerade aus der konkreten Realität der Reflexion stammt, daß doch nichts erreicht ist, wenn die absoluten Kategorien da sind, aber die relativen weiter bestehen. Nur dann ist dieser Vorwurf ungültig, wenn [...] das andre Moment [...] wirksam ist.249

Tillich ist sich also durchaus bewusst, dass die abstrakte Idee der Rechtfertigung ohne eine konkrete Form nicht zur Geltung kommen kann. Das dritte Moment (§ 29) des theologischen Prinzips kann nicht wie die vorigen als eigenes Paradox benannt werden. Denn das Wesen dieses Moments ist es ja, beide zusammenzuführen.250 Zudem bezeichnet Tillich dieses dritte auch als „eschatologische[s]“251 Moment. Damit ist angezeigt, dass die Überwindung des

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 322.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 322.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 323.  „Diese lebendige, im Kampf sich behauptende Gewißheit ist nun dargestellt in der inneren Antinomie des theologischen Prinzips, in der Notwendigkeit, jederzeit die Rechtfertigung zu rechtfertigen durch die Christologie und die Christologie [...] durch die Rechtfertigung. Die Rechtfertigung, die vom Absoluten kommt, hat die abstrakte Gewißheit für sich und gibt sie weiter an die Christologie“ (Systematische Theologie 1913, 323).  Tillich, Systematische Theologie 1913, 319 f.  Der Leitsatz zum dritten Moment, Systematische Theologie 1913, 320 f., lautet: „Der Gegensatz von abstraktem und konkretem Moment des theologischen Prinzips ist aufgehoben im absoluten. Insofern jedoch der theologische Standpunkt dem absoluten gegenübersteht, ist das absolute Moment nicht als realisiert gesetzt, sondern im Begriff realisiert zu werden; es ist das Moment der Selbstaufhebung des theologischen Standpunkts und seiner Rückkehr zum absoluten“ (im Original kursiv).  Tillich, Systematische Theologie 1913, 327.

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Widerspruchs zwischen abstraktem und konkretem Denken nur in einem Zustand der Vollendung (Reich Gottes) realisiert sein kann, nicht aber vom Menschen erreicht wird. Aus diesem Grund wird es näher als das „geschehende“252 Moment oder als „Synthesis“253 konturiert. Hiermit soll die Verknüpfung beider Momente verdeutlich werden, ohne eine Überwindung zu suggerieren. Dass das dritte Moment als eine Art Vollendung des konkreten und des abstrakten Moments gedacht ist, formuliert Tillich wie folgt. Der religiöse Gedanke, der die Botschaft ‚Das Himmelreich ist nahe herbeikommen‘, nie wird verklingen lassen, ist, begrifflich gefaßt, das dritte, absolute Moment des theologischen Prinzips, das eschatologische. Es ist der klare Ausdruck für die Doppelstellung der Religion, Bejahung und zugleich Aufhebung der Freiheit zu sein, und für die Stellung des theologischen Prinzips, auf dem Boden der Reflexion Aufhebung der Reflexion, Rückkehr zum Absoluten zu sein.254

Die „Aufhebung“ oder Überwindung könne wiederum von zwei Seiten gesehen werden. Werde die „Rückkehr zum Absoluten“ von der Rechtfertigung aus gedacht, so wäre die universale Rechtfertigung des Menschen und der Welt realisiert; werde die „Rückkehr“ von dem Blickwinkel des konkreten Moments aus gedacht, dann wäre die Parusie Christi verwirklicht.255 „Beides ist das gleiche und bedeutet die Aufnahme des Paradox in das Absolute.“256 Da Tillich versucht, im Rahmen der drei Momente die basalsten Fragen christlicher Denkformen in ein Konzept zu fassen, wird für ihn in der Konsequenz das theologische Prinzip schließlich als „Chiffre“ für das Christentum oder als dessen „Wesensbestimmung“ deutlich.257 Dass Tillich in diese Richtung denkt, legt auch sein beiläufiger Hinweis auf Ernst Troeltsch nahe.258 Auf welche Weise diese Bestimmung des theologischen Wesenskerns praktisch angeeignet wird, wie demnach die „Gewißheit des theologischen Stand-

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 317.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 317.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 327 f.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 328.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 328.  G. Neugebauer, Christologie, 272.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 316. Zudem weist auch G. Neugebauer, Christologie, 272, auf Tillichs erste Vorlesung als Privatdozent in Berlin im Sommersemester 1919 hin. Dort bezeichnet Tillich das theologische Prinzip explizit als Ersatzbegriff für das Christentum. Vgl. Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart (Sommersemester 1919), in: Berliner Vorlesungen 1 (1919–1920), Bd. XII, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Erdmann Sturm (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2001), 27–213, 40. Siehe dazu unten: Teil 2: A.2.1 und 2.

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punkts zu erreichen ist, gehört in die theologische Ethik“259, wie Tillich schließlich summierend und im Vorgriff auf die kommenden Systemteile festhält. Entscheidend für das Verständnis der nachfolgend zu behandelnden Dogmatik und der Ethik ist die Einsicht in die dreiteilige Struktur des theologischen Prinzips. Auf der Grundlage seines Rechtfertigungsverständnisses kommen für Tillich im theologischen Prinzip die drei Grundelemente des absoluten Standpunkts der Intuition, des relativen Standpunkts der Reflexion und des theologischen Standpunkts des Paradoxes zusammen. Aufgrund dessen – so hat dieser Abschnitt aufgezeigt – werden die Grundfragen der Theologie im theologischen Prinzip ebenfalls dreigliedrig, und zwar in der Struktur von abstraktem, konkretem und paradoxem Moment abgebildet. Die drei Momente lassen sich nicht als Stufen bestimmen, sondern kommen vielmehr unterschiedlich und mit verschiedener Gewichtung (Material- und Formalprinzip) theologischer Aussagen zum Austrag. Sowohl der Dogmatik als auch der Ethik ist hiermit ihre Struktur exakt vorgegeben.

3 Liebe in der Dogmatik: Pneumatologische Grundlegung der Theologischen Ethik Nachdem die Apologetik die Begründung des theologischen Prinzips gegeben hat, bietet die Dogmatik die „Entfaltung des theologischen Prinzips“260. Dogmatik als theologisches Durchdenken der Zuwendung Gottes zur Welt und zum Menschen stellt also die Durchführung des theologischen Prinzips anhand der grundlegenden Bereiche der christlichen Symbolwelt – von Schöpfung bis zum ewigen Leben – dar. Dem Thema dieser Untersuchung entsprechend wird der dogmatische Abschnitt – als zweiter Teil des Systems zwischen Fundamentaltheologie und Theologischer Ethik – verhältnismäßig knapp einbezogen. Die Interpretation beschränkt sich dazu auf die Pneumatologie als dritten Teil der Dogmatik. Die Pneumatologie (§§ 44–29) folgt auf die Gotteslehre (§§ 29–36) und die Christologie (§§ 37–43). Während die Gotteslehre den „Hervorgang der Welt aus Gott bis zum vollendeten Widerspruch (Gott der Vater)“ entfaltet, thematisiert die Christologie „Das Eingehen Gottes in die Welt des Widerspruchs (Gott der Sohn)“ und die Pneumatologie „Die Rückkehr der Welt zu Gott bis zu der vollendeten Einheit (Gott der Geist)“261. Dass die „Grundlegung der Theologischen Ethik“ (§ 46) im Rahmen der Geistlehre konzi-

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 327.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 427.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 427 f.

3 Liebe in der Dogmatik: Pneumatologische Grundlegung der Theologischen Ethik

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piert wird, stellt nicht nur eine werkgenetisch interessante Konstante dar,262 sondern zeigt, wie die Dogmatik von der dreiteiligen Struktur des theologischen Prinzips bestimmt ist: Die Gotteslehre repräsentiert „primär“263 das abstrakte Moment, die Christologie besonders das konkrete und die Pneumatologie das absolute, wie Tillich in der Einleitung zur Dogmatik ausführt: Das dritte ist die Einheit der beiden anderen, das Prinzip der Rückkehr des Unterschiedes zur Einheit, also ein durch beide Bedingtes: Der Geist geht aus vom Vater und Sohn.264

Damit ist der Aufbau der Dogmatik am theologischen Prinzip gezeigt und zugleich der Bezug zum Rückkehrmotiv der Fundamentaltheologie aufgegriffen. Die Pneumatologie beschreibt folglich, wie es dem Menschen ermöglicht wird, sich vom Reflexions- oder Sündenstandpunkt hin zur Einheit mit Gott zurückzubewegen. Die Geistlehre stellt somit gewissermaßen die „Durchsetzung“265 des theologischen Prinzips in der Geschichte dar. In vier Schritten wird die Bedeutung der Dogmatik für die nachfolgende Theologische Ethik in Tillichs Systemdenken aufgezeigt. Zunächst (1) ist zu klären, was Tillich unter Dogmatik als dem theologischen Denken des Paradoxes versteht. In einem zweiten Schritt (2) wird Tillichs dogmatisches Verständnis des Liebesbegriff konkretisiert. Der dritte Punkt (3) zielt auf eine nähere Bestimmung der Gerechtigkeit Gottes als Hinwendung Gottes zum Geschöpf Mensch. Zuletzt kommt (4) Tillichs „Grundlegung der theologischen Ethik“ in seinem Konzept von „Kirchengeschichte und Weltgeschichte“266 zur Sprache. (1) Zunächst schließt Tillich in seinem Ansatz der Dogmatik mit dem Paradoxgedanken unmittelbar an die Vorarbeiten in der Apologetik an. Aufgabe des dogmatischen Denkens sei die Thematisierung der theologischen Zusammenhänge in direkter Anwendung des theologischen Standpunkts. Das bedeutet – um ein Beispiel zu geben – für den Gottesgedanken, mit dem Tillich einsetzt, dass hier die Einsichten aus der Apologetik unmittelbar aufgenommen werden. Im expliziten Rekurs auf die Religionsphilosophie (§ 10) kann in Tillichs Annahme von Gott aus-

 Vgl. die Grundlegung und Durchführung der Ethik in der Pneumatologie in ST III, 487–772. Siehe zu diesem Zusammenhang und der Bedeutung der Geistlehre für die Theologische Ethik insgesamt unten Teil 1: B.4.2.2.  Dienstbeck, Transzendentale Strukturtheorie, 128.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 332.  Christian Danz, „Die Gegenwart des göttlichen Geistes und die Zweideutigkeiten des Lebens (III 134–337)“, in: ders. (Hg.), Paul Tillichs ‚Systematische Theologie‘. Ein werk- und problemgeschichtlicher Kommentar (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2017), 227–265, 231.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 369.

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schließlich als dem Absoluten oder der absoluten Persönlichkeit gesprochen werden. Dabei könne Gott indes vom „religiösen Bewußtsein“267 nie ganz erfasst werden, denn dies würde eine vollständige Begründung Gottes durch die menschliche Reflexion bedeuten. Deshalb bleibe die Erfassung des Göttlichen immer eine Bestimmung und eine Abstraktion zugleich.268 Ebenfalls sei durch das Auftreten der Reflexion die Unterscheidung von konkreter und absoluter Religion zu Tage getreten. Es existiere also eine konkrete Form des Religiösen, die sich nicht mehr auf dem absoluten Standpunkt befinde. Das Christentum – um es plastisch zu sagen – stellt demnach eine konkrete Religion dar, deren Glieder sich nicht in der Einheit mit der Wahrheit befinden, sondern zu ihr zurückdrängen. Indessen ist auf dem Reflexionsstandpunkt der Gegensatz von [...] konkreter Religion und Vernunftreligion hervorgetreten. Hier hat die dogmatische Arbeit einzusetzen. Sie hat zu zeigen, daß dieser Gegensatz auf dem theologischen Standpunkt durch das Paradox überwunden ist. Sie hat das Paradox anzuwenden auf den Gottesbegriff.269

Mit der hier wiederaufgenommenen Grundunterscheidung zwischen konkreter und absoluter Religion ist der Konnex zur Apologetik gegeben. Erst nach Aufkommen der Reflexion respektive der Sünde und dem darauf reagierenden theologischen Standpunkt kann von einem dezidiert theologischen, also dogmatischen Denkansatz gesprochen werden. Deshalb stellt die Dogmatik die Durchführung des theologischen Prinzips dar. Dass die Dogmatik im Ansatz und in den einzelnen Themenkreisen trinitarisch aufgebaut ist, geht schon aus dem Beginn mit dem Paradox hervor. Letzteres besteht ja wie gezeigt darin, dass Gott in Jesus von Nazareth als der Ewige in das Zeitliche eingeht. Zugleich aber baut Tillich das gesamte dogmatische System trinitarisch auf.270 Folglich wird für die Gotteslehre, die Christologie und die Pneumatologie jeweils „unter einem anderen Gesichtspunkt“271 die trinitarische Gottesvorstellung vorausgesetzt. Insofern der Dreischritt von Vater, Sohn und Geist das Organisationsprinzip aller Abschnitte bildet, stellt das theologische Paradox die systematische Grundlage sämtlicher Abschnitte dar.272 An einem Beispiel veranschaulicht bedeutet diese Struktur für „§ 10 Die Offenbarung der Herrlichkeit des Christus in Jesu Wort und Tat“273, dass das abstrakte (Rechtfertigung), das konkrete (historischer Jesus) und das vollendete (Reich Gottes) Moment       

Tillich, Systematische Theologie 1913, 329. Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 329. Tillich, Systematische Theologie 1913, 329. Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 330. Tillich, Systematische Theologie 1913, 330. Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 427. Tillich, Systematische Theologie 1913, 353.

3 Liebe in der Dogmatik: Pneumatologische Grundlegung der Theologischen Ethik

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des theologischen Prinzips zum Austrag kommen: Für das erste Moment steht hier die absolute Form der Verkündigung. Die Rechtfertigung wird in der „Bergpredigt“ als Nein gegenüber jeglicher Selbstheit und zugleich als Ja in Form der „Vergebung“274 verstanden. Im konkreten oder relativen Moment des theologischen Prinzips sieht Tillich das „messianische Bewußtsein“275 im Vordergrund, mit welchem Jesus in der Verkündigung seines Leidens und Sterbens – konkret – auftritt. Schließlich kommt das eschatologische Moment des theologischen Prinzips in Jesu Predigt vom vollendeten Gottesreich zur Sprache und bezieht sich damit auf die Verkündigung des nahen Himmelreichs. Die Verkündigung des Gottesreichs bleibt Antizipation und eignet sich darum insbesondere zur symbolischen Darstellung des dritten Moments im theologischen Prinzip. Wie gezeigt wurde, ist das dritte Moment stets als geschehend zu verstehen. Es bildet – vereinfacht gesagt – eine theologisch-paradoxe Vorstellung ab. Die Überwindung der paradoxen Vorstellung aber wäre nur im absoluten Zustand denkbar, der mit der Reflexion nicht mehr besteht. Dieses Beispiel zeigt einmal mehr und in präziserer Form die fundierende Position des theologischen Prinzips. Es wird an dieser Stelle deshalb als grundlegend hervorgehoben, weil auch die einzelnen Bereiche der Theologischen Ethik analog aufgebaut sind.276 (2) Seine dogmatische Präzisierung des Liebesbegriff entfaltet Tillich in der Gotteslehre (§§ 29–36). Diese unterteilt er in der „Skizze“ wiederum näher in die drei Argumentationsreihen „Allmacht und Liebe“, „Heiligkeit und Zorn“ und „Gerechtigkeit und Gnade“277. Für das Konzept der Liebe Gottes interessiert zunächst nur die Bestimmung, die Tillich unter den „§ 3 Die freie Liebe Gottes (Der Mensch)“ fasst und als „theologische Anthropologie“278 kennzeichnet. In der Bestimmung des Menschen kommen nun mehrere Faktoren zum Austrag, die für das System insgesamt grundlegend sind. Zum einen verweist schon die Benennung des Menschen als „freie“ Liebe auf den zentralen Freiheitsbegriff. Zum anderen verknüpft auch die nähere Differenzierung des Menschen von anderen „Einzelwesen“ die dogmatische Anthropologie mit den Überlegungen aus der Fundamentaltheologie: In allen Einzelwesen bis auf den Menschen offenbart sich mehr die göttliche Allmacht als die göttliche Liebe; sie sind gebunden an die Formen und Gesetze ihres Wesens und ihnen unfrei anheimgegeben.279

     

Tillich, Systematische Theologie 1913, 353. Tillich, Systematische Theologie 1913, 354. Siehe unten: Teil 1: B.4. Tillich, Systematische Theologie 1913, 427. Tillich, Systematische Theologie 1913, 335. Tillich, Systematische Theologie 1913, 335.

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B Die Entfaltung von Freiheit und Nächstenliebe

Im Blick auf die Interpretation der Anthropologie auf dem absoluten Zustand wird offenkundig, dass Tillich hier wiederum die Differenzierung zwischen Natur und Geist respektive Natur- und Geistwesen vor Augen steht. Demnach setzt die theologische Anthropologie die zuvor konzipierte Entwicklung des Menschen als Geist in seinen Bezügen zur Mitwelt unmittelbar voraus. An dieser Stelle fällt folgende Implikation ein weiteres Mal ins Auge: Die Entwicklung des Menschen vom Wesen der Vernunft zum Wesen des Verstandes (vom Absoluten zum Reflexiven) ist nicht schlicht ein Sprung von absoluter Einheit mit der Wahrheit zur selbstüberschätzenden Freiheit. Vielmehr hatte sich in der Erörterung der Freiheitshaltigkeit – im Kulturhandeln von Gebrauchstechnik zu Kunst – gezeigt, dass auch der Mensch noch an der Natur haften bleibt. Zugleich stellt er aber dasjenige Wesen dar, welches zu der größtmöglichen Freiheit emporsteigt. Dies erklärt erstens, dass Tillich mit der dogmatischen Bestimmung des Menschen im obigen Zitat an die fundamentaltheologische Anthropologie anschließt. Zweitens wird daran noch einmal näher verständlich, was ihm mit dem paradoxen, theologischen Standpunkt vor Augen schwebt. Auch die begrenzte Freiheit des Menschen kann allein paradox gedacht werden – als endliche Freiheit, die in ihrer Abhängigkeit von ihrer Ermöglichung erst echte Freiheit darstellt. Verdeutlichen lässt sich diese Umschreibung des Menschen wiederum im Blick auf die Grundlagen in der Fundamentaltheologie. Denn Tillich weist nochmals darauf hin, dass dort der Mensch als Freiheit bestimmt wurde. Mit der Reflexion – oder dem, was oben als Tillichs inhaltliche Bestimmung der Sünde erörtert wurde – tritt die Unfreiheit auf den Plan. Nun thematisiert die Dogmatik diese „Freiheit in der Unfreiheit.“280 Blickt man von hier auf den Gesamttext, zeigen sich somit drei Stufen der Freiheit, die jeweils vom humanen Standpunkt abhängig sind: eine Freiheit auf dem absoluten Standpunkt, die ihrer Einheit mit der Wahrheit noch sehr nahe steht; eine reflexive Freiheit, die sich im Verstand von der Wahrheit abkapselt, und schließlich eine Freiheit, die den theologischen Standpunkt schon voraussetzt. Letztere ist Gegenstand der Dogmatik als theologischer Reflexion. Vor diesem Hintergrund definiert Tillich die Gottesliebe als freie Hinwendung zum Menschen. Zentral hierbei ist die dezidiert christologische und zugleich anthropologische Abgrenzung. Tillich gibt zwei Kriterien für den Versuch, Gott theologisch als Liebe zu beschreiben, insoweit diese Beschreibung nicht nur „sentimental“281 sein wolle. Die Bezeichnung Gottes als Liebe müsse daher erstens ausdrücken, dass Gott als Sohn zur Welt kommt, und zweitens, dass Gott sich aus

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 335.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 336.

3 Liebe in der Dogmatik: Pneumatologische Grundlegung der Theologischen Ethik

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Liebe im Menschen ein Gegenüber schafft, in dem Freiheit zu ihrem höchsten Ausdruck komme.282 Der Konnex von Schöpfung des Menschen und Inkarnation des Gottessohnes verweist an dieser Stelle deutlich auf Tillichs Prägung durch eine lutherische Gotteslehre.283 Tillichs Fazit aus diesen Überlegungen besteht nun in der Einsicht, dass gemäß der „theologischen Methode“284 in sämtlichen Topoi beim Gottesbegriff eingesetzt werden müsse. In der abschließenden Zuspitzung wird unzweideutig, dass Theologie von Gott aus den Menschen als Geschöpf zu denken hat: Der Mensch wird dadurch Mensch, daß er Ebenbild Gottes wird. Das ist der normative Begriff des Menschen, ein Wesen zu sein, das Gott lieben kann.285

Indem an dieser Stelle die Projektionsthese des Philosophen Ludwig Feuerbach (1804–1872)286 eingebracht wird, der zufolge sich der Mensch in seiner Imagina Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 336.  Vgl. zu Luthers Bestimmung der Liebe Anne Käfer, „Von Abgötterei und Selbsthingabe. Theologische Überlegungen zur Selbstliebe“, in: NZSTh 53/2 (2011), 187–207, 190: „Was Liebe ist, kann adäquat nur im Blick auf Gott beschrieben werden, weil er die Liebe selber ist. Was Liebe ist, vergegenwärtigt der dreieinige Gott in Jesus Christus durch den Heiligen Geist. [...] Die Selbsthingabe des Menschgewordenen in Leiden und Tod vergegenwärtigt Gottes Liebe gegenüber den Menschen. Der inkarnierte Gottessohn, wahrer Mensch und wahrer Gott zugleich, ist auf Grund der Liebe Gottes aus Liebe zu den Menschen nicht nur als Mensch den Menschen nahe gekommen. Vielmehr hat er überdies Leid, Gewalt und Tod auf sich genommen, um den Menschen seine Liebe, die Liebe Gottes zu zeigen.“ Zur Bedeutung des Verhältnisses von Schöpfung und Christologie vgl. grundlegend Anne Käfer Inkanation und Schöpfung. Schöpfungstheologische Voraussetzungen und Implikationen der Christologie bei Luther, Schleiermacher und Karl Barth (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2010), 34–51. Insbesondere die von Käfer aufgezeigte Verknüpfung von Liebe, Christologie und Schöpfung bei Luther und der hohe Stellenwert des Freiheitsbegriffs bestätigen im Blick auf Tillich einerseits, wie sehr er sich bei bestimmten Aspekten in den Bahnen lutherischer Dogmatik bewegt. Siehe dazu das Fazit bei Käfer, Inkarnation und Schöpfung, 366: „Mit dem deus revelatus, dem inkarnierten Wort Gottes, sei jedoch das ewige Wesen Gottes, das eitel Liebe sei, vollkommen offenbar. Die Schöpfung als Ergebnis des göttlichen Gespräches und als Manifestation des Wortes Gottes muß dementsprechend selbst Darstellung und Ausdruck der ewig-treuen Liebe Gottes sein.“ Andererseits entfernt Tillich sich offensichtlich mit der mehrfach benannten universalen Rechtfertigungsidee von Luther und dem entsprechenden reformatorischen Konzept. Dieser Aspekt kann hier nicht weiterverfolgt werden, würde aber ein interessantes Thema für eine dogmatische Untersuchung darstellen, die Tillich theologiegeschichtlich als Theoretiker der Rechtfertigung zum Gegenstand machen würde.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 336.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 336.  Die Projektionsthese entwickelte Feuerbach in seiner Studie Das Wesen des Christentums (1841), Stuttgart 2011. Sie besagt in aller Kürze, dass die Theologie letztlich Anthropologe sei, weil alles, was Menschen über Gott sagen, eigentlich Aussagen über Vorstellungen des Menschen von sich selbst seien.

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B Die Entfaltung von Freiheit und Nächstenliebe

tion einen Gott nach seinem eigenen Bilde geschaffen habe, setzt Tillich also ausdrücklich den Ausgangspunkt der Theologie im Gottesbegriff.287 (3) Mit Blick auf die Frage nach der „Gerechtigkeit Gottes“ gibt Tillich eine nähere Erörterung der Rechtfertigungslehre. Allerdings implizieren die Passagen an dieser Stelle eine deutlich ethische Ausrichtung. Diese kam in der Grundlegung der Rechtfertigung respektive des Theologischen Prinzips noch nicht zur Geltung. Bevor Tillich Gerechtigkeit und Gnade Gottes (§§ 7/35–8/36) thematisiert, folgt die Sündenlehre (§§ 5/33–6/34). Die Sünde verbindet somit die Beschreibung der göttlichen Liebe mit der göttlichen Gerechtigkeit im Rechtfertigungsgedanken. Tillichs Verständnis der Sünde kann für den Zusammenhang dieser Studie knapp und wiederum im Rekurs auf die Überlegungen der Fundamentaltheologie geschildert werden. Dort wurden – wie erwähnt – Sünden- und Reflexionsstandpunkt miteinander identifiziert. Die Gründe dafür sollen hier nicht wiederholt werden. Doch aufgrund der Stellung der Sünde zwischen der Begründung der Liebe Gottes – und damit auch der endlichen Freiheit des Menschen – und dem theologischen Standpunkt kommt es geradezu zu einer Vorordnung der Sündenlehre vor den theologischen Standpunkt. Tillich begreift die Sünde im ‚transzendentalen‘ Sinne, d. h. sie bildet die Voraussetzung des theologischen Standpunktes sowie der endlichen Tätigkeit des humanen Geistes überhaupt.288

Wird nun bei der Zuwendung Gottes gegenüber den Sündern und Gerechten zugleich angesetzt, wird „die allmächtige Liebe Gottes zur heiligen Liebe“289. „Heilige Liebe“ beschreibt Gottes konkreten Bezug zum Menschen. Im Gegensatz zu einem abstrakten Bezug liegt der konkrete in Tillichs Sicht in der Überwindung der Sünde.290 Auch hier liegt der Aufbau des theologischen Prinzips zugrunde, sodass „konkret“ für den Eingang Jesu in die konkrete Geschichte steht. Erst durch die Zusammenführung zweier Momente der göttlichen Liebe kann nach Tillich die gleichzeitige Bejahung und Verneinung des Menschen ausgedrückt werden, weil so Gottes allmächtige Liebe zum negativen (Verneinung), seine heilige Liebe (Bejahung) aber zum positiven Moment werde. Beide seien im paradox gedachten Verhältnis Gottes zum Menschen in Gott selbst vereint: „Es gibt keine Heiligkeit Gottes abgesehen von seiner heiligen Liebe.“291 Indem es also eine negative

 Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 336.  G. Neugebauer, Christologie, 276.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 339.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913: „Gott hat kein abstraktes, sondern ein konkretes Verhältnis zur Sünde, nämlich daß er sie überwindet.“  Tillich, Systematische Theologie 1913, 339.

3 Liebe in der Dogmatik: Pneumatologische Grundlegung der Theologischen Ethik

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und eine positive Seite der Liebe im Paradox des Sündenstandpunkts gebe, erweise sich der Mensch als Wesen mit endlicher Freiheit. Seine Voraussetzung für das gerechte Handeln liegt also – so lässt sich deuten – im Standpunkt der Gerechtigkeit Gottes begründet. Das heißt dann aber auch, dass er am eigenständigen Gerechtsein gegenüber dem Schöpfer notwendig scheitern muss, zugleich aber sein gerechtes Handeln am Gegenüber rechtfertigungstheologisch ermöglicht wird. Wie eng dieser Systemteil mit der Theologischen Ethik genauso wie mit der Sündenthematik verwoben ist, zeigt sich an der Grundthese des folgenden Abschnitts zur Gerechtigkeit Gottes in ihrem Verhältnis zur Geschichte des Menschen292: Im Begriff der Menschheit liegt schon unmittelbar das sündenüberwindende Moment; denn Menschheit ist Überwindung des Einzelmenschen, ist Organismus und damit Verneinung der abstrakten Selbstheit.293

Folglich bezieht sich die Bejahung der Sünde auf die Rückkehr des Einzelwesens in die Gemeinschaft mit Gott. Letzteres ist für Tillich nichts anderes als die Annahme der Gnade, die in der Form der Gerechtigkeit geschenkt wird und damit jene Gemeinschaft ermöglicht. Die Verneinung markiert insofern das Verhältnis gegenüber der völligen Selbstbehauptung der Reflexion, also die Abwendung von der Freiheit. Entsprechend der zitierten These bildet damit die Geschichte der Menschheit in Tillichs Sicht immer schon das wechselhafte Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf ab: Die Überwindung der Trennung wird durch den Schöpfer ermöglicht, und das Geschöpf kann sich aufgrund seiner Freiheit gegen diese Überwindung wenden. Die Religion als geschichtliche „Form“ sei somit Schauplatz dieses Ringens zwischen „Sündhaftigkeit und Göttlichkeit“294. Sie sei die „höchste und entscheidende Form“295, weil sie diejenige Form sei, in der die Rückkehr zu Gott als Bewegung der Geschichte erkannt werde. Die Religion als Form sei deshalb grundsätzlich missbrauchsfähig und könne sich dann zur „absoluten Form der Sünde“296 entwickeln, wenn der Mensch sie instrumentalisiere, um bestimmte Ausgestaltungen der Religion zu verabsolutieren. Das geschichtlich-unbedingte Handeln des Schöpfers am Geschöpf ermöglicht demnach für Tillich das geschichtlich-bedingte Handeln des Geschöpfs in der Geschichte. Wie sich das geschichtliche Leben und Handeln nach Eintreten der Sünde beziehungsweise Reflexion vollzieht, schildert Tillich gleichsam apokalyptisch als „Kampf“ zwischen „Sündhaftigkeit und Göttlichkeit“ in der „Weltgeschichte“, der

 „§ 7 Die Gerechtigkeit Gottes und die Geschichte der Menschheit“ (Systematische Theologie 1913), 342.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 343.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 343.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 343.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 343.

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B Die Entfaltung von Freiheit und Nächstenliebe

sich als Kampf von „Einzelnen“, „Gemeinschaft“, „Volk“, „Kirche“, „System“ und „Institution“ vollziehe297. Mit diesem kompetitiven Vokabular des „Kampfes“ bereitet Tillich an dieser Stelle die Schilderung der Konflikte vor, welche durch Synthesen von Welt- und Kirchengeschichte entstehen.298 Nun ist zentral, dass die oben verhandelte Gerechtigkeit Gottes unmittelbar den Rechtsanspruch der Individuen begründet, und zwar als Rechtfertigung. Dies ist zum einen für den Begriff der Anerkennung markant. Zum anderen bildet diese Prämisse einen Aspekt, der später im Kontext des Religiösen Sozialismus einzubinden ist: Tillich betont nämlich, es sei falsch, den Begriff der Gerechtigkeit dem einzelnen gegenüber im Vergleich mit anderen anzuwenden. Dies ist ein Ausfluß des Reflexionsstandpunktes, der eine bestimmte Quantität von Gütern [...] beansprucht. Der einzelne hat aber keinen andern Anspruch, als Moment der Einheit des göttlichen Lebens zu sein; [...]. Aber nicht die relative Beziehung macht die Sphäre der Gerechtigkeit aus, sondern die absolute Beziehung zur göttlichen Liebe.299

Mit der Betonung der absoluten Beziehung, die durch die Rechtfertigung ermöglicht wird, legt Tillich also in der Darstellung der Gerechtigkeit Gottes die Grundlage der absolut begründeten Würde des Einzelnen als Individuum. Damit liegt zugleich die Forderung nach der unbedingten Anerkennung der Personen untereinander in der Rechtfertigung begründet.300 Tillich verbindet die Überlegungen wiederum mit Ausführungen zu einer „mystischen“ und einer „abstrakt-gesetzlichen Ethik“, die er im Standpunkt der Reflexion erörtert hatte. Er greift hierdurch die abstrakt-gesetzliche oder individualistische Ethik wieder auf und kennzeichnet sie wie im ersten Teil des Systems als Pharisäismus.301 Wie dort bestimmt er diese Form der Sittlichkeit als eine negative Konsequenz der Reflexion, die – so lässt sich deuten – an Werkgerechtigkeit erinnert.302 Der gesetzliche „Pharisäismus“

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 343 f.  Siehe dazu unten in diesem Abschnitt.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 344.  Siehe: Systematische Theologie 1913, 345: „Insofern das einzelne Objekt dieser Liebe ist, hat es ewige Bedeutung, ist es in der Einheit vor Gott.“  Siehe oben: Teil 1: B.2.4. Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 312 f. Auf den Bezug weist auch Wegener in seiner Randkommentierung hin. Vgl. Systematische Theologie 1913, 345, Anm. 199.200.  Tillich verwendet diesen Terminus hier nicht. Doch sein in Teilen deutlich lutherisch geprägter Zugriff wie auch der wiederholt abschätzige Gebrauch des Ausdrucks „Pharisäismus“ weisen in diese Richtung.

3 Liebe in der Dogmatik: Pneumatologische Grundlegung der Theologischen Ethik

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benutzt relative sittliche Positivität, die er erreicht hat, um von Gott ein absolut positives Urteil zu erlangen; d. h. er benutzt den Lohngedanken, um den Einzelstandpunkt zu verabsolutieren.303

Das bedeutet, dass die gesetzliche („pharisäische“) Sittlichkeit durch einen bestimmten Lohn motiviert ist. Dies stellt in Tillichs Konzept eine übersteigerte Form der Reflexion dar, die sich in einen bezugslosen Relativismus auflöse.304 So verabsolutiere der „Pharisäer“ in seinem Lohndenken seine – eben die von ihm reflexiv bestimmte – Sittlichkeitsidee. Das ist aber, so lässt sich deuten, widersprüchlich, weil doch die Gesetze menschengemacht, folglich relativ und nicht absolut sind. Auch diese wiederum dichten Andeutungen lassen sich also über die Folgen der Reflexion entschlüsseln, wie sie im Übergang vom absoluten zum relativen Standpunkt aufgezeigt wurden. Denn hier hatte Tillich beiläufig den Sozialismus als „Sturm“305 gegen den auf sachliche Güter fokussierten Wirtschaftsindividualismus beschrieben. Der theologisch gesetzte Rechtsanspruch der Individuen stellt sich gegen beide politische Optionen. Ob sich hier allerdings eine Verschiebung in Tillichs politischen Präferenzen erkennen lässt, wie es für die Monismus-Arbeit gezeigt wurde, muss offenbleiben. Für eine Bewertung in dieser Hinsicht ist der Befund zu schmal. Insgesamt zeigt sich jedenfalls, dass Tillichs Kritik einer beispielsweise am Lohngedanken orientierten Ethik dezidiert theologisch begründet ist. Nach Tillich wird in einer solchen Ethik das positive Moment der Gerechtigkeit – die Bejahung des menschlichen Handelns – als einseitiges Kriterium verwendet. Die ebenso konstitutive Seite – die Verneinung, die Gottes Gerechtigkeit zugleich ausspricht – wird hingegen ignoriert. Von der Bejahung der einzelnen Personen handelt sodann der folgende Abschnitt, der zeigt, dass Gnade das von Gott gestiftete unbedingte Rechtsverhältnis der gerechtfertigten Person unabhängig von der positiven und negativen „Relativität“306 betrachtet. So stehen die Begriffspaare Wahrheit – Denken, absolut – relativ, Religion – Kultur, Gnade – Gerechtigkeit auf einer Linie.307 Der Begriff der Gerechtigkeit steht für die Durchsetzung des Rechtsanspruchs der Einzelnen, welche unter dem Urteil des Materialprinzips stehen. Anders formuliert: Die Gerechtigkeit bleibt abstrakt, solange sie nicht als Form der Gnade verstanden wird, welche der Geschichte der Freiheitswesen ihren Grund im Gehalt des Absoluten zukommen lässt.

    

Tillich, Systematische Theologie 1913, 345. Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 313.345. Tillich, Systematische Theologie 1913, 311. Tillich, Systematische Theologie 1913, 346. Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 346.

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B Die Entfaltung von Freiheit und Nächstenliebe

Die ganze Menschheit ist erfüllt von ihr [Gnade]; ohne sie gäbe es keine Menschheit, an der abstrakten Gerechtigkeit wäre sie zugrunde gegangen; es ist die Langmut Gottes, die die Menschheit und den Standpunkt der Gerechtigkeit fort und fort trägt durch die Gaben seiner Gnade in Kultur, Sittlichkeit und Religion.308

Die Relation der drei Geistesfunktionen, insbesondere aber die Aufgabe der Ethik, ist damit rechtfertigungstheologisch begründet. (4) Tillich konzipiert schließlich im Paragraphen 16/46 zur „Kirchengeschichte und Weltgeschichte“ eine „Grundlegung der theologischen Ethik“. Die Kirchenlehre wird aufgrund ihrer zentralen Bedeutung für den Ansatz der Theologischen Ethik hier miteinbezogen.309 Etwas unvermittelt legt Tillich zunächst die Basis für eine ausdrücklich Theologische Ethik im Kirchenbegriff. So formuliert er im § 15 zur Ekklesiologie: Die Kirche ist als Organismus vorzustellen [...]. Seine sachliche Begründung hat er darin, daß die Überwindung des Zustandes der Sündhaftigkeit [...] nur möglich ist durch die Zusammenfassung des einzelnen zu der Einheit einer in Gott begründeten Gemeinschaft.310

Im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung ist hier nochmals Tillichs emphatische Betonung der Gemeinschaft hervorzuheben. Es steht für ihn außer Frage, dass sich die Realisierung der Gerechtigkeit nur in einer auf der Rechtfertigung gegründeten Gemeinschaft vollziehen kann. Infolgedessen besteht die Voraussetzung des zwischenmenschlichen Handelns in einer Gemeinde von denjenigen Personen, die sich gegenseitig als solche anerkennen und die ihren Rechtsanspruch durch die Zuwendung der Liebe Gottes erhalten haben. Die Gemeinschaft der Glieder besteht in dem Teilhaben an dem durch die Erlösung beschafften Gute und der Auswirkung dieses Gutes im gegenseitigen Austausch. [...]. Dies aber fordert eine gesonderte Betrachtung zur Grundlegung der theologischen Ethik.311

Diese Betrachtung gibt Tillich im § 16 zur „Grundlegung der Ethik“. Hier stellt er die Verschränkung von Kirchen- und Weltgeschichte als eine Synthese heraus, in welcher die Anwendung des theologischen Prinzips – die Ethik – ihren eigentlichen Ort erhält. Die Beziehung zwischen beiden Geschichtsprozessen bildet also

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 347.  Siehe unten: Teil 1: B.4.1. Dieser Aspekt ist aus ethischer Hinsicht von Bedeutung, als auch die Theologische Ethik im dritten Teil des Systems selbst mit der Kirchen- und Frömmigkeitslehre einsetzt.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 367.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 367–369.

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zum einen den Raum, in dem sich geschichtlich die Beziehungen zwischen Religion, Kultur und Sittlichkeit vollziehen.312 Zum andern zeigt sich hier, dass – wie eingangs bemerkt – die Pneumatologie als drittes Moment des theologischen Prinzips zum Ausdruck kommt und als vereinigendes Moment die Verbindung von Absolutheit und Relativität abbildet. Für die Menschheit bedeutet dies die Möglichkeit der Rückkehr zur Einheit mit Gott.313 Es ist wichtig, diese geschichtsphilosophische bzw. theologische Fundierung im Blick auf die Theologische Ethik zu sehen, da hieran nochmals der prozesshafte Charakter der Entwicklung des Geistes in seiner Beziehung zur Wahrheit oder dem Absoluten deutlich wird. Tillich skizzierte in seinem Konzept bisher, wie sich diese Entwicklung des Geistes vollzieht. Durch den Einbezug dieser geschichtstheoretischen Grundlegung möchte er – so lässt sich interpretieren – diesem Prozess ein Fundament geben, das den Verlauf der Geschichte einfängt, und zwar jetzt ausdrücklich aus theologischer Sicht. Das heißt: Tillich fragt sich mit diesen Überlegungen, wie sich der Weg des Menschen – als Freiheit – von der Reflexion als Sündenstandpunkt zurück in Richtung der Wahrheit beschreiben lässt. Dazu setzt er mit der folgenden Grundbestimmung zum Verhältnis von Kirchen- und Weltgeschichte ein: Beide Seiten können zunächst in Tillichs Sicht des Geschichtsverlaufs nicht als Antithesen zu verstehen sein, weil letztlich auch die Weltgeschichte vom theologischen Prinzip begründet sei. Sodann bezeichnet für Tillich die Kirchengeschichte diejenige Seite des Geschichtsverlaufs, in der das Zusammen von absolutem und relativem Standpunkt abgebildet wird. Schließlich wird die Weltgeschichte von ihm als der gesamte Verlauf des Relativen bestimmt.314 Daraus schließt Tillich die wechselseitige Bewegung beider Prozesse: Durch die Kirchengeschichte – als Raum in dem das theologische Prinzip zum Ausdruck gebracht wird – erkenne die Weltgeschichte ihre eigentliche Begründung im theologischen Prinzip. Andersherum erhalte die Kirchengeschichte durch die Weltgeschichte die „Motive ihrer Bewegung.“315 Schlicht könnte man sagen: Vom theologischen Prinzip getragen, blickt die Kirchengeschichte auf das Leben der Menschheit und sieht die „Motive“ in der Abwendung des Menschen von seiner Begründung in Gott. Tillich sieht das Verhältnis von Kirchen- und Weltgeschichte daraufhin abgebildet in einer Dop-

 Es sei nochmals auf den Aufbau der Theologischen Ethik verwiesen, der sich mit den „religiösen“, „sittlichen“ und „kulturellen“ Teilen an den Grundfunktionen orientiert. Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 428 f. Siehe dazu unten: Teil 1: B.4.  Vgl. nochmals die Einteilung der Dogmatik in den Hervorgang der Welt aus Gott, den Eingang Gottes in die Welt und die Rückkehr der Welt zu Gott: Systematische Theologie 1913, 427 f.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 370.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 370.

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B Die Entfaltung von Freiheit und Nächstenliebe

pelbewegung. Zum einen gehe die Kirchengeschichte in die „Mannigfaltigkeit“316 (die religiösen, sittlichen, kulturellen Formen) der Weltgeschichte ein. Zum andern bewege sich genauso die Weltgeschichte in Richtung des theologischen Prinzips.317 Was er exakt vor Augen hat, wird in der Unterscheidung beider Formen und wiederum im Rückblick auf das Gesamtsystem verständlich. Die erste Bewegung – der Kirchengeschichte in die Weltgeschichte hinein – bestimmt Tillich als „synthetisch[]“318. Denn hier gehe es eben um die erwähnte Vereinigung von absolutem und relativem Standpunkt. Diese Bewegung bildet die Anwendung des theologischen Prinzips auf sämtliche Seiten des geschichtlichen Lebens, auf das Tun der Freiheit in all ihren Formen.319

Mit der „Anwendung“ weist Tillich ganz offenkundig auf die Struktur und die Gebiete der Theologischen Ethik voraus, sofern diese sich in die „Anwendung des theologischen Prinzips“ auf das „religiöse“, „sittliche“ und „kulturelle“ „Geistesleben der Menschheit“320 gliedert. Damit sind exakt die „Seiten des geschichtlichen Lebens“ im obigen Zitat angesprochen. Die synthetische Bewegung stellt Tillich als die im Titel des Paragraphen genannte „Grundlegung der theologischen Ethik“ dar; sie ist für die Fragehinsicht dieser Untersuchung von besonderer Bedeutung. Die wissenschaftliche Betrachtung dieser Synthesen des theologischen Prinzips mit der Geschichte der Welt ist Aufgabe der theologischen Ethik, eine Aufgabe, die notwendigerweise die gleiche Unendlichkeit hat wie der Prozeß, von dem sie handelt.321

Bezüglich der „Synthesen“ kann hier präzisiert werden, dass offensichtlich die Verschmelzungen von religiösen mit profanen Formen in den kultischen, sozialen oder wissenschaftlichen Bereichen gemeint sind. Diese hatte Tillich in der Fundamentaltheologie als Konfliktpotenziale herausgestellt.322 Tillich rekurriert demnach implizit auf die im § 9 zu Kultur, Sittlichkeit und Religion dargelegte Bestimmung der Synthesen. Zu erinnern ist deshalb ganz konkret an die Begriffspaare der theoretischen, praktischen wie emotiv-ästhetischen Formen: Kirche und Gesellschaft,

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 370.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 370.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 370.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 370.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 428 f. Auf die Verbindung der Paragraphen an dieser Stelle weist auch G. Neugebauer, Christologie, 284, hin.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 370.  Siehe oben: Teil 1: B.2.3.2.

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Kultus und Kunst, Dogma und Wissenschaft.323 Dass letztlich auch die profanen Formen vom Absoluten begründet sind und dieses im Relativen repräsentieren sollen, wird durch den von Tillich postulierten Bezug zwischen religiösem Prinzip (ebenfalls grundgelegt in § 9) und theologischem Prinzip (im vorliegenden § 16) verständlich. Das religiöse Prinzip stand nach Tillich im absoluten Standpunkt dafür, dass einerseits sämtliche Formen der Bezugswelt vom Religiösen als Prinzip begründet sind. Andererseits sei das Religiöse wiederum auf profane Formen angewiesen, um sich aktualisieren zu können.324 Das theologische Prinzip, das erst nach Eintreten der Reflexion in Erscheinung tritt, thematisiert das Verhältnis von Religion und den Formen der Kultur (von Absolutem und Relativem) aus der Perspektive seiner drei Momente. Es geht also um die Frage, wie sich Absolutes und Relatives wieder zusammendenken lassen.325 Somit ist auch der vorliegende – die Ethik vorbereitende – Teil der Dogmatik nicht zuletzt Teil der „Kulturtheologie“, die sich mit dem System von 1913 in Tillichs Denken abzeichnet. „So findet die Theologie der Kultur in der Ethik ihre materiale Durchführung“326, weil in der Theologischen Ethik der Umgang mit den Synthesen – mit dem Verhältnis von Welt- und Kirchengeschichte – thematisiert wird. Die Theologie als Standpunkt des Paradoxes reagiere immer schon auf die Formen, die dem humanen Geist in der Weltgeschichte gegenüberstehen. Diese frühe Grundlegung der Kulturtheologie wurde in der neueren Forschung – wie gezeigt – bereits hervorgehoben.327 Doch soll hier auf ein weiteres, für die Entwicklung der Ethik Tillichs entscheidendes Element hingewiesen werden. Es kann demnach auch kein System theologischer Ethik in strengem Sinn geben, sondern nur ein[en] unendlichen Ausgleich von Deduktion und Induktion, wie es dem Wesen des Reflexionsstandpunkts entspricht.328

 Die Formen als religiös-profane Paare tauchen fast identisch im programmatischen Aufsatz, Tillich, „Theologie der Kultur“, 17, wieder auf, wie G. Neugebauer, Christologie, 284, zu Recht betont.  Siehe oben: Teil 1: B.2.3.1–2.  Siehe oben: zum theologischen Prinzip Teil 1: B.2.5.  G. Neugebauer, Christologie, 284, der den Bezug zur Kulturtheologie erstmals hervorgehoben hat: „Hält man sich diese strukturelle und inhaltliche Parallelität des Vorgehens vor Augen, so wird deutlich, dass Tillichs Kulturtheologie aus den Fragestellungen der theologischen Ethik erwachsen ist.“ Neugebauer benennt die Schrift somit als Ursprung der Kulturtheologie, die Tillich dann ab 1919 entfaltet. Auf die Verbindung von Kulturtheologie vor und nach dem Ersten Weltkrieg wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. Siehe unten: Teil 1: B.4.5 und Teil 2: A.3.  Vgl. dazu auch Sturm, „Die Genese von Tillichs Kulturtheologie“, 79–81 und wiederum G. Neugebauer, Christologie, 283 f.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 370.

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Die Formulierung „Ausgleich von Deduktion und Induktion“ im „Reflexionsstandpunkt“ erklärt sich zunächst durch den kulturtheologischen Bezug und die Verbindung zum System insgesamt. Mit dem Verhältnis von Induktion und Deduktion nimmt Tillich Bezug auf die erörterte Beziehung von Kirchen- und Weltgeschichte, also dem religiösen Prinzip und der Gesamtgeschichte.329 Und genau darin spielt sich ja das Verhältnis von Religion und Kultur ab. Dass es sodann keine theologische Ethik im strengeren Sinne ist, erschließt sich nicht von selbst, sondern stellt einen weiteren Vorgriff auf die ab 1918/19 näher erarbeitete Kulturtheologie dar. Im Sinne der werkgenetischen Interpretation von Tillichs Ethik muss daher hier auf die Ersetzung von theologischer Ethik durch die Kulturtheologie im Programmaufsatz von 1919 Über die Idee einer Theologie der Kultur verwiesen werden: „Was in einer theologischen Ethik letztlich beabsichtigt war, kann seine Erfüllung nur finden in einer Theologie der Kultur, die sich nicht nur auf die Ethik, sondern auf alle Kulturfunktionen bezieht.“330 Mit dieser Grundbestimmung des kulturtheologischen Programms führt Tillich die Verhältnisbestimmung von Kultur und Religion fort und zeigt daran, warum es keine genuin theologische Ethik braucht. Sofern gilt, dass sämtliche Formen in Theorie, Praxis und Ästhetik im Letzten auf die Darstellung des Religiösen zielen und zugleich in diesem fundiert sind, kann es nicht verschiedene Ethiken geben, in der jene Formen betrachtet werden. Diesen grundsätzlichen Aspekt hatte Tillich auch schon in der Entfaltung der Sittlichkeit auf dem absoluten Standpunkt vorgebildet.331 An dieser Stelle kann also als ein Zwischenergebnis festgehalten werden: Tillichs Einsicht, dass letztlich die theologische Ethik durch die Kulturtheologie zu ersetzen ist, wird 1913 bereits deutlich vorbereitet.332 Sodann kommt es in der Folge zu einer „analytischen“333 Bewegung. Die Weltgeschichte bewegt sich – andersherum – hin zum theologischen Prinzip beziehungsweise zur Kirchengeschichte als dessen Trägerin. In dieser Bewegung kommt wiederum die Beziehung von Freiheit und Natur zum Tragen. Insofern Tillich diese Bewegung als Streben nach „immer größerer Tiefe“ umschreibt, durch die der

 Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 370.  Tillich, „Theologie der Kultur“, 16 f. Tillich erläutert im selben Abschnitt zudem seinen Religionsbegriff, der dem Konzept aus der Apologetik im 1913er System entspricht: Religion könne nicht einer psychischen Seite des Menschen – Theorie, Praxis oder Ästhetik bzw. Emotion – zugeordnet werden, sondern komme stets in allen zum Ausdruck (vgl. 16 f.).  Siehe oben: Teil 1: B.2.3.3.  Vgl. Sturm, „Die Genese von Tillichs Kulturtheologie“, 81.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 370.

4 Theologische Ethik: Nächstenliebe als Anerkennung der Person

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Mensch die „Möglichkeiten“334 zu verwirklichen suche, die mit dem Bezug zum Absoluten gegeben seien, wird hiermit wiederum auf das Fortschreiten des Menschen über die Naturverbundenheit hinaus angespielt. Anders und im Rekurs auf die Interpretation der Fundamentaltheologie ließe sich auch sagen: In der eigenständigen Bewegung hin zum theologischen Prinzip verwirklicht der Mensch zusehends mehr und mehr Freiheitsgrade. Damit hat der Mensch innerhalb der Weltgeschichte und bei seinem Fortschreiten als Freiheitswesen das Ziel, vollends zum Absoluten zurückzukehren. Zugleich bleibt er von seiner Abhängigkeit im theologischen Prinzip begrenzt. Auch dieser Aspekt bereitet die Theologische Ethik näher vor, sofern auch dort die einzelnen Formen des individuellen und sozialen Lebens jeweils von der Struktur des theologischen Prinzips her aufgebaut sind. Die Kennzeichnung als „analytisch“ bezieht sich womöglich darauf, dass Tillich diese Bewegung schlichtweg voraussetzt, ohne dies näher zu erklären oder zu begründen. Dass die Bewegung für Tillich notwendig und nicht ableitbar ist, trägt wiederum der Anlage des idealistischen Gesamtsystems Rechnung: Das in der Apologetik erarbeitete Rückkehrmotiv des Menschen als Geist zu seiner unmittelbaren Einheit mit der Wahrheit (Intuition) gehört zu den Setzungen Tillichs, die sich einer weiteren Begründung entziehen. Schließlich würde jener Zustand der vollständigen Vereinigung mit dem Absoluten das vollendende, dritte Moment des theologischen Prinzips abbilden und würde damit auch die „Aufhebung“335 des theologischen Standpunkts bedeuten. Folgerichtig ist diese dritte Bewegung nicht mehr Teil der theologisch-ethischen Reflexion.

4 Theologische Ethik: Nächstenliebe als Anerkennung der Person Nachdem die Fundamentaltheologie das theologische Prinzip begründet und die Dogmatik es entfaltet hat, stellt die Theologische Ethik zuletzt die „Anwendung des Theologischen Prinzips“336 dar. Blickt man einleitend auf die enge Verbindung zu den vorangegangenen Kapiteln, lässt sich Tillichs direkter Anschluss wie folgt kennzeichnen: Die Theologische Ethik basiert auf zwei Voraussetzungen: Zum einen setzt sie die „sittlichen Probleme“ aus der „Apologetik“ voraus, zum anderen die „Kritik der Reflexion an den Synthesen des absoluten Standpunktes. Und um dieser Kritik willen ist die theologische Ethik da.“337 Hiermit setzt die    

Tillich, Systematische Theologie 1913, 371. Tillich, Systematische Theologie 1913, 371. Tillich, Systematische Theologie 1913, 428. Tillich, Systematische Theologie 1913, 392.

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B Die Entfaltung von Freiheit und Nächstenliebe

Ethik unmittelbar an dem bislang interpretierten Weg des Geistes oder des Menschen an. Sie thematisiert das Handeln des Menschen in seiner individuellen Moralität, seinen sozialen Beziehungen und kulturellen Bezügen, und zwar nachdem die benannte „Kritik der Reflexion“ zum Vorschein gekommen ist. Der Standpunkt der Reflexion kommt – wie gezeigt wurde – in der Sicht Tillichs der Sünde gleich. Folglich ist auch die Sünde als der Versuch einer restlosen Begründung auf sich selbst eine Voraussetzung theologischer Ethik.338 Die Wendung „Theologische Ethik“ – so fasst es Tillich nochmals in seinen Arbeitsheften zusammen – kann entsprechend entweder für den dritten Teil des theologischen Wissenschaftssystems – die Theologische Ethik insgesamt – stehen oder aber für den zweiten Teil der Ethik selbst, also für die Paragraphen zum „sittlichen Leben“ (§§ 8–18/57–67).339 Die philosophische Ethik sei Teil des absoluten Systems, sodass der Aufbau konsequent weitergeführt wird: Theologische Ethik reagiert auf die behandelten Fragen und Probleme, wie sie im Leitparagraphen 12 der Fundamentaltheologie erörtert wurden.340 Zudem weist Tillich an selbiger Stelle auf die Gründe für eine Notwendigkeit Theologischer Ethik hin, die erst mit den Umbrüchen der Reformationszeit und den seitherigen Konflikten mit der philosophischen Ethik einsetzen. Diese Konflikte nach dem Zerbrechen des „theologischen Universalismus“ hätten auch zu einer „Neuordnung“341 im Verhältnis von Dogmatik und Ethik geführt. Somit spielt Tillich auch auf die rationalistischen Ethiken als Konkurrenten der theologischen an, wie sie in der Zeit zwischen Reformation und dem 19. Jahrhundert aufbrachen. Ziel dieses letzten Abschnitts ist es, vor dem Hintergrund der apologetischen und dogmatischen Vorarbeiten die Ethik als Ethik der Nächstenliebe herauszuarbeiten. Der Fokus wird dazu auf der Ausgestaltung der Liebe in den einzelnen Sozialformen liegen, die in den Passagen zum „konkret Sittliche[n]“342 (§§ 12–18/ 61–67) thematisiert werden. In den einzelnen Bestimmungen dieser sozialen Beziehungen liegt Tillichs erste ethische Theorie vor, welche sich gebündelt als Theorie unbedingter Anerkennung im Sinne des Nächstenliebegebots bestimmen lässt. Die zentrale Voraussetzung für die Anwendung des theologischen Prinzips liegt im nachgezeichneten Weg der Freiheit vom absoluten über den relativen bis hin zum theologischen Standpunkt. Im Paradox wird sich nach Tillich das Denken seiner Endlichkeit bewusst; es entspricht darin der Rechtfertigung. Anhand der

 Vgl. in dieser Hinsicht auch nochmals Wittekind „Das Dämonische in Tillichs Dresdner Dogmatik“.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 431.  Siehe oben: Teil 1: B.2.3.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 430 f. (im Original kursiv).  Tillich, Systematische Theologie 1913, 429.

4 Theologische Ethik: Nächstenliebe als Anerkennung der Person

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nun bekannten Struktur aus einem absoluten oder auch abstrakten, einem konkreten oder auch relativen und einem absoluten oder auch vollendeten Moment des theologischen Prinzips sind alle Themen der Theologischen Ethik organisiert. Vor diesem Hintergrund ist der dritte Teil des Systems aufgebaut in drei größere Abschnitte, die den Grundfunktionen Religion, Sittlichkeit und Kultur entsprechen: Benannt sind diese als Anwendung des theologischen Prinzips auf das „religiöse“, das „sittliche“ und das „kulturelle“ Leben der Menschheit. Zur Darlegung der Ethikkonzeption wird dementsprechend zunächst (4.1) die Kirchen- und Frömmigkeitslehre kurz skizziert. Gemäß dem Schwerpunkt dieser Untersuchung wird das „sittliche Leben“ schwerpunkthaft behandelt. In je einem Abschnitt kommen die Grundlegung der Ethik (4.2), die Nächstenliebe (4.3) und die Entfaltung der Ethik (4.4) zur Sprache. Es folgt (4.5) die Interpretation von Tillichs erstem Versuch einer Theologie der Kultur.

4.1 Kirchen- und Frömmigkeitslehre Im Folgenden wird der erste Teil der Theologischen Ethik – „Die Anwendung des theologischen Prinzips auf das religiöse Leben“343 – verhältnismäßig knapp und aufgrund zweier Beobachtungen mitaufgenommen: Erstens ist bemerkenswert, dass Tillichs erster Ethikentwurf seinen Anfang bei einer Kirchen- und Frömmigkeitstheorie nimmt.344 Zweitens und damit eng verbunden ist auf die terminologische Kontinuität hinzuweisen, mit der Tillich die Theologische Ethik immer wieder als Frömmigkeitslehre kennzeichnet. So erscheint beispielsweise auch im System der Wissenschaften von 1923 die „Theologische Ethik“ als „Lehre vom theonomen Ethos

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 428.  In seiner knappen Interpretation merkt auch Scharf, The Paradoxical Breakthrough of Revelation, 50, an, dass Tillichs Einstieg bei der Kirche als Institution und seine ausführliche Diskussion von Wort und Sakrament zunächst irritiert. Scharf sieht in Tillichs Zugriff eine „church Ethics“ (50) und weist auf eine Schieflage gegenüber Tillichs stetiger Betonung der Ja-NeinStruktur der Rechtfertigung hin (vgl. 52). Am Beispiel von Tillichs Betonung, es sei für die Kirche möglich, beispielsweis ihre Wortverkündigung zu verweigern, sofern eine Mehrheit des Volkes sich gegen die Kirche positioniert (vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 381 f.) zeigt Scharf zu Recht die Diskrepanz zu Tillichs Zentralstellung der universell gefassten Rechtfertigung in der Systemschrift auf. Es ist demnach nicht von der Hand zu weisen, dass Tillichs Einstieg bei der Kirche überrascht und eine starke Exklusivität suggeriert. Allerdings relativiert sich die Bedeutung dieses ekklesiologischen Einstiegs, wenn Tillichs Ethik im Zusammenhang der ganzen Schrift dargestellt wird. Siehe dazu oben: Teil 1: B.2.5.2 sowie unten: Teil 1: B.4.4 und Resümee: 2).

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B Die Entfaltung von Freiheit und Nächstenliebe

(Frömmigkeitslehre).“345 Dort identifiziert er die „theonome Ethik“ mit der „Frömmigkeitslehre“. In den ersten Vorlesungen nach dem Ersten Weltkrieg bezeichnet er dann beispielsweise die theologische Individualethik als Frömmigkeitslehre.346 Die Struktur des Abschnitts zum religiösen Leben besteht gemäß dem theologischen Prinzip aus drei Momenten: Der objektiven Religiosität als „Kirchlichkeit“ (§§ 1–3/50–52), der subjektiven Religiosität als „Frömmigkeit“347 (§§ 4–6/53–55) und ihrer Vereinigung als subjektiv-objektiv Religiosität (§ 7/56) im Kultus. Zuerst soll im Folgenden knapp dargestellt werden, inwiefern Tillich die Kirche als grundsätzlichen Ort der Theologischen Ethik setzt. Anschließend werden die Grundlagen der Frömmigkeitstheorie erläutert und schließlich die Verbindung beider im Kult skizziert. (1) Zunächst bestimmt Tillich die Einzelkirche als Ort, an dem das theologische Prinzip abgebildet wird. Der allgemeine Ort der theologischen Ethik ist die Kirche, weil sie der Ort ist, wo das theologische Prinzip mit dem Geistesleben überhaupt in Synthese tritt; insofern aber die Kirche diese Synthese eingeht, ist sie schon nicht mehr Kirche im dogmatischen, sondern Kirche im ethischen Sinn oder Einzelkirche.348

Im Anschluss an den Reflexionsstandpunkt aus der Apologetik und in Bezug auf das Verhältnis von Welt- und Kirchengeschichte in der Dogmatik erklärt sich Tillichs Beschreibung der Kirche als Ort des theologischen Prinzips sowie als Einzelkirche oder ethische Kirche. Blickt man nämlich auf die Theoriebildung aus den vorangegangenen Teilen zurück, treten hier besonders zwei Momente wieder hervor. Zum einen kann es nicht eine einzig wahre und einheitliche Kirche geben, weil diese in Tillichs Konzept nur im absoluten Standpunkt denkbar wäre. Nach Eingang des Menschen und damit auch der Kirchen- und Weltgeschichte in den reflexiven Standpunkt kommt es aber zu den zuvor erörterten Verbindungen religiöser und profan-kultureller Formen in allen Bereichen des menschlichen

 Vgl. die häufig herangezogene Definition der Theologischen Ethik im dritten, geisteswissenschaftlichen Teil des Systems der Wissenschaften von 1923: „Theologische Ethik ist Lehre vom theonomen Ethos (Frömmigkeitslehre)“ (System der Wissenschaften, 281).  Vgl. Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart. Hier geht die Gleichsetzung aus der Gegenüberstellung von Sittlichkeit und Frömmigkeit hervor. Vgl. auch Encyklopädie der Theologie und Religionswissenschaft, in: Berliner Vorlesungen 1 (1919–1920), Bd. XII, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Erdmann Sturm (Berlin/ New York: Walter de Gruyter, 2001), 259–333, 265. Siehe hierzu insgesamt unten: Teil 2: A.1.  So die Präzisierung Tillichs im späteren § 15 zur Kirche als Sozialform: Systematische Theologie 1913, 406.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 377.

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Handelns, Fühlens und Denkens: so zum Beispiel Kult und Kunst, Wissenschaft und Dogma und entsprechend auch Kirche und Gesellschaft.349 Dies ist mit den Synthesen gemeint, die auch von der Religion und ihren Ausdrucksformen – hier der Kirche – eingegangen werden müssen, um sich zu realisieren. Es wird hier nochmals der frühe Ursprung der späteren Kulturtheologie deutlich.350 Der zweite Aspekt, der hier zur Erklärung angeführt werden soll, ist die „Fixierung“351 des Einzelnen auf eine bestimmte Form, sei es intellektuell, ästhetisch oder praktisch. Auch hier erklärt sich Tillichs Bezug nur im Rückblick auf die Entfaltung der Reflexion im vorigen Teil. Dort hatte er – wie gezeigt – auch mit den drei Vermögen des Praktischen, Fühlenden und Denkenden operiert. Zudem hatte er dort argumentiert, dass die völlige Konzentration auf eine rationale Begründung in allen Bereichen mit der Sünde gleichzusetzen sei. Eine solche Fixierung muss also notwendig auch da erkannt werden, wo eine Religionsform als Kirche vom relativen Verstand des Menschen für absolut erklärt wird. Für Tillich muss also jede empirische Kirche Einzelkirche sein: sie ist einerseits getragen durch das absolute Moment, zugleich aber notwendig relativ. Sofern die Wahrung des theologischen Prinzips ihre Aufgabe darstelle, schreite sie im Relativen der „Annäherung an die absolute [dogmatisch anvisierte] Kirche“352 entgegen. Das Wesen der Kirche lässt sich in Tillichs Sicht mit den drei Formen Bekenntnis, Sakramentsverwaltung und Wortverkündigung wie auch durch ihren Charakter als Volkskirche präzisieren. Verdeutlicht am Beispiel des Bekenntnisses bedeutet das: Tillich versteht die Behütung dieses Zeichens der Kirche als Ausdruck der Absolutheit des theologischen Prinzips. Die rituelle Fortführung der Merkmale der Kirche vollziehe sich jedoch notwendigerweise innerhalb relativer Formen der jeweiligen Einzelkirche, die zunächst nur eine „Zweckmäßigkeit“353 darstellen. Nun gebe das absolute Moment jeder am theologischen Prinzip orientierten Form ihre Absolutheit, welche aber in der Relativität nur in relativer Form mitgeteilt werden könne. Die Form habe demnach absolute Bedeutung und „göttliche Autorität“, sofern sie sich ihrer

 Siehe oben: Teil 1: B.2.4.  Sieh dazu unten: Teil 2: A.1.  Der Terminus „Fixierung“ wurde von Tillich in der Erklärung des Standpunkts der Reflexion eingeführt. Die Fixierung auf eine bestimmte Form wie z. B. der Deduktion als einzig richtige Methode stellt für Tillich dort eine Ausprägung der Sünde dar, insofern diese als Versuch der Selbstbegründung verstanden wird. Siehe oben: Teil 1: B.2.4.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 377.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 379.

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Relativität bewusst sei, und entspreche in dieser Hinsicht anderen Formen des Geisteslebens wie „Wissenschaft, Sittlichkeit, Soziales.“354 Die Kirche müsse also dem relativen Moment seinen Ort geben, um sich selbst nicht für absolut zu erklären. Hierdurch erst sei sie in der Position, in die Synthesen mit den ihr entgegentretenden Kulturformen einzutreten. Dies bedeutet nun im Rückblick auf den Religionsbegriff in der Unterscheidung von Prinzip und Aktualität: Auch wenn die Kirche als der Ort gesehen wird, an dem das religiöse Leben vom religiösen Prinzip fundiert wird, muss sie Synthesen mit kulturellen, profanen Formen eingehen, um sich in der je aktuellen Situation realisieren zu können. Diese Justierung entspricht der in der Apologetik herausgearbeiteten Verbindung von Kirche und Staat.355 Auch dort ging es ebendarum, dass es der religiösen Form – also hier der Kirche als Ausdruck konkreter Religion – nicht anders möglich sei, als bis zu einem bestimmten Grad Synthesen mit der nicht-religiösen Kultur einzugehen. Gleiches gilt im vorliegenden Kontext auch beispielsweise für den religiösen Kult. Auch im Gottesdienst, der Andacht und dergleichen müsse die Religion kulturelle und profane Elemente aufnehmen, um sich zum Ausdruck zu bringen. (2) Sodann geht Tillich über zu den Formen der individuellen Frömmigkeit als der subjektiven Seite des religiösen Lebens. Tillich skizziert sein Verständnis der frommen Person anhand von vier Formen, die er einem klassischen Schema von ordo salutis entnimmt.356 Dazu ist es zunächst grundsätzlich bemerkenswert, dass die Ethik „und nicht die Dogmatik das klassische Feld der ordo salutis betritt“357 und damit einschließt. Wie bereits bei der Interpretation der Dogmatik und der dortigen Grundlegung der Theologischen Ethik in der Pneumatologie hervorgehoben, konzipiert Tillich die Ethik unter pneumatologischer Perspektive.358 Die Ethik wurde im Zusammenhang der Dogmatik in der Geistlehre begründet, weil nach Tillich im Geist das dritte Moment des theologischen Prinzips zum Ausdruck kommt: Dem Menschen wird die Rückkehr zur Einheit mit dem Absoluten ermöglicht. Durch die Verortung der ordo salutis am Anfang wird diese nochmals geisttheologisch fundiert.359

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 378.  Siehe oben: Teil 1: B.2.3.2.  ordo salutis bezeichnet klassisch und rechtfertigungstheologisch die Stadien, Formen oder Stufen der „Heilserfahrung“ der göttlichen Gnade in „Berufung“, „Erleuchtung“, „Bekehrung“, „Wiedergeburt“, „Rechtfertigung“, „Heiligung“, „Bewahrung“, „Erneuerung“, „Verherrlichung“ (Kirsten Huxel/Manfred Marquardt, „ordo salutis“, RGG4 6 (2003), 637–639, 637).  G. Neugebauer, Christologie, 285.  Siehe dazu oben Teil 1: B.3.  Vgl. Danz, „Gegenwart des göttlichen Geistes“, 231.

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Die Bekehrung, die Buße einschließt, als Abwendung vom Sündenstandpunkt führe zum Glauben als Wendung zu Gott. Praktisch folge daraus die Teilnahme der Einzelnen an der Gemeinschaft, die sich vermittelst der Sakramente der unbedingten Bejahung des Versöhnungshandelns versichere. Dasjenige Freiheitsverständnis bildet hier die Voraussetzung, welches die Freiheit als „[...] Tat Gottes am Menschen“360 bestimmt. Insofern also die Überwindung des Reflexionsstandpunkts durch die Zuwendung Gottes prinzipiell ermöglicht sei, fänden die einzelnen Personen zu der Form von Freiheit, in der alles menschliche Handeln auf Gott hin ausgerichtet werde. Es ist damit also angespielt auf die Verbindung von Religion und menschlicher Freiheit beziehungsweise derjenigen Freiheit, die sich als abhängig von einem tieferen Grund empfindet.361 In der Heiligung greifen in Tillichs Verständnis ein dogmatisches und ein ethisches Moment ineinander, wobei ersteres das Freiwerden von der Sünde, letzteres die Vereinigung mit dem Absoluten bezeichnet. Dieser Vollzug ist nach Tillich Gegenstand der Ethik, weil darin ein Fortschreitungsprozess zum Vorschein komme. Er entfaltet diesen Prozess als eine unio mystica, welche jeden Zustand zu einem Zustand in Bezug auf Gott erkläre. Mystik im Sinne der Frömmigkeit sei somit einmal vermittelte Erkenntnis der Gnade innerhalb des Geisteslebens und zugleich eschatologisch die Vorwegnahme der ewigen Einheit mit Gott.362 In der Individualisierung der Frömmigkeit – als letztem Schritt im frommen Werden der Person – bilden sich in der Sicht Tillichs zwei Typen heraus, welche zugleich in jeder Person, allerdings mit je unterschiedlichem Gewicht vorhanden sind. Tillich sieht einen Gegensatz zwischen einem „rationalistische[n]“ und einem „naiv orthodoxe[n]“363 Typus. Der rationalistische Typus entspricht implizit sehr genau dem, was Tillich in der Apologetik als ein völliges Fokussieren auf eine rationale Selbstbegründung beschrieben hatte. Tillich sieht diesen Typus in Gläubigen mit „reflektierendem Bewußtsein“364 repräsentiert; es handelt sich um einen Typus, der sich stark auf die abstrakte Seite des theologischen Prinzips konzentriert. Es ist bemerkenswert, wie konsequent Tillich die grundlegende Stellung des theologischen Prinzips und die Grundunterscheidung darin weiter zur Anwendung bringt: Von da aus steht der soeben benannte, konkret-rationalistische Typus einer gläubigen Person für eine klare Betonung der Rechtfertigung innerhalb des theologischen Prinzips.365 Tillich wird hier exakter in seiner Umschreibung. Entsprechend der Be-

     

Tillich, Systematische Theologie 1913, 383. Siehe oben: Teil 1: B.2.3. Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 386. Tillich, Systematische Theologie 1913, 387. Tillich, Systematische Theologie 1913, 387. Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 387.

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stimmung des theologischen Prinzips und seiner drei Momente (abstrakt, konkret, vollendet) orientiere sich also eine gläubige Person in dieser ersten Form an der Überordnung des Rechtfertigungsgedankens gegenüber den Fragen des Konkreten, also dem historischen Jesus und der Bedeutung der Schrift. Dieser abstrakte, rationale Typ müsse allerdings – das ist entscheidend – das Konkrete im Blick behalten. Für das Konkrete steht demgemäß der zweite Typus, der sich stärker am Formalprinzip, also an der konkreten Seite des theologischen Prinzips, orientiert. Dieser Typus leite die „Rechtfertigung aus der Schrift“366 ab, wohingegen der abstrakte Typus ein stärkeres Gewicht auf die Rechtfertigung als dem universalen, theologischen Materialprinzip lege.367 Der konkrete Typus bleibe in einem, wie Tillich hervorhebt, übermäßigen Übereinstimmen mit dem konkreten, unmittelbaren Dasein. Dieser Typ gehe über „naive Selbstheit“ nicht hinaus und sei eher als Teil einer „Masse“368 denn als individualistisch zu kennzeichnen. Aus der Kombination verschiedener Elemente, die in diesen beiden Grundtypen vorherrschen, ließe sich eine ganze christliche Typenlehre ableiten; doch würde immer der Grundtypus vorherrschen. Der kann zwar in einzelnen Persönlichkeiten nahezu verdeckt sein, vorhanden ist er notwendigerweise, da zwischen dem abstrakten und konkreten Moment des theologischen Prinzips eine nie absolut auszugleichende Differenz besteht.369

Eben hier zeigt sich, was diese Unterscheidung zur Theoriebildung der Ethik austrägt. Tillich will bereits im Vorfeld der eigentlich ethischen Fragestellungen – im anschließenden Teil zum sittlichen Leben – die grundlegende Relation von Individualität und Gemeinschaft als Korrelation, nicht als Gegensätze darstellen. Die stärker auf die subjektive Reflexion und die stärker auf die konkrete, gemeinschaftliche Handlung zielende Persönlichkeit werden so vermittelt und haben in Tillichs Sicht ihre gleichwertige Berechtigung. Geht man noch einen Schritt zurück, lässt sich eine etwas weniger abstrakte Interpretation auch aus einer anderen Richtung andeuten, die eher religionssoziologisch ausgerichtet wäre. Tillich hat an dieser Stelle womöglich schlicht zwei unterschiedliche Formen von Religiosität beziehungsweise Kirchlichkeit im Blick. Anhand der Abwägung, dass beide Momente ihr Recht innerhalb einer konfessionellen Gemeinschaft haben, beschreibt er zunächst nur eine stärker auf die Schriftautorität und eine stärker auf das rationale Denken einer theologischen

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 387.  Tillich rekurriert also auf die Darstellung des theologischen Prinzips (siehe oben: Teil 1: B.2.5).  Tillich, Systematische Theologie 1913, 387.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 388.

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Idee gerichtete Frömmigkeit. In dieser Untersuchung klingt wiederum die Differenz von voluntaristischer und intellektualistischer Religion aus der Seminararbeit zu Fichte an, die beide Formen ähnlich charakterisiert hatte.370 (3) Schließlich thematisiert Tillich die Verbindung der objektiven (Kirche) und subjektiven (Frömmigkeit) Seite des religiösen Lebens. Für diese Verbindung steht in Tillichs Konzept der Kultus. Als subjektiv-objektive Form des Religiösen vereinige der Kultus die subjektiven und objektiven Momente. Dazu erinnert Tillich zunächst an den Begriff der Aktualität, welche im Gegenüber zur Potentialität als konkrete Religion in der Fundamentaltheologie zur Sprache kam.371 „Die Religion als Aktualität ist Kultus (Gottesdienst).“372 Von da aus ist die Bestimmung der drei Kultusformen Gebet, Andacht, Gottesdienst zu verstehen.373 Insofern diese Formen des Kultus ein Handeln an den Nächsten einschließen, klingt an dieser Stelle erstmalig das Paradigma der Nächstenliebe an.374 Entscheidend ist die Abbildung des theologischen Prinzips in Gebet (Konkretion), Andacht (Abstraktion) und Gottesdienst (Einheit): Folglich korrespondiere das Gebet der konkreten Seite als „[...] Verkehr[] mit Gott“375 und sei damit unmittelbar verzahnt mit der Lebensform des Konkreten in der Frömmigkeit. Im Gebet tritt in Tillichs Sicht das Persönliche der Beziehung des Einzelnen im Hinblick auf den Gottesgedanken zutage. Mit dem abstrakten Moment korreliere die Andacht und entspreche also der Lebensform des Abstrakten in der Frömmigkeit. In der Andacht komme der absolute Gottesgedanke zum Vorschein, wodurch sie die „allgemeinere“ Kultform darstelle, „[...] immer mit der Gefahr, überpersönlich und abstrakt-unwirksam zu werden.“376 Beide bedingen sich wiederum gegenseitig, was Tillich in direktem Bezug zur unio mystica veranschaulicht. Da es

 Siehe oben: Teil 1: A.2.  Siehe dazu oben: Teil 1: B.2.3.2.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 388.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 388. Womit auch die Überschrift „Die subjektivobjektive Darstellung des theologischen Prinzips: Der Kultus“ verständlich wird (Systematische Theologie 1913, 388). Das Einzelne bringe sich erstens im Gebet zu Gott. Zweitens schaue in der Andacht alles Einzelne über allem Einzelnen die Gegenwart Gottes. Der Gottesdienst werde drittens zur Symbiose beider Kultformen und spiele sich ab als Darstellung des „Besitzes“ und als Erneuerung in Form von Bekenntnis und Erbauung. Dieses darstellende und erbauende Handeln gehöre dann in den Bereich des Kultes, wenn sämtliche dem Kultus zugesprochenen Handlungen sich zur Ehre Gottes vollziehen.  Tillich unterscheidet innerhalb der Gebetstheologie weiterhin Fürbitte, Dank und Gebet im Namen Jesu (vgl. Systematische Theologie 1913, 389 f). Die kultischen Handlungen werden damit zu den lebendigen Betätigungen des unmittelbaren Verhältnisses des Subjekts zum Absoluten.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 390.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 390.

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keinen Bereich gebe, in dem Gebet nicht zur Andacht werden könne, führe das Gebet alles Einzelne über sich hinaus zu Gott bis hin zu „[...] der betenden Sehnsucht, mit Gott eins zu werden.“377 Das Gebet werde Andacht, die Andacht Gebet.378 Im Kult der Gemeinde werden für Tillich beide über die für die Subjektivität notwendige Einzelheit hinaus zum Allgemeinen. Dies kommt schließlich im Gottesdienst als subjektiv-objektiver Kulthandlung zum Ausdruck. Zugleich werde die Gemeinde Subjekt des Kultus und erhalte die darstellende neben der erneuernden Bedeutung. Die Gemeinde werde im Kult das, was sie ist, durch Bekenntnis und Erbauung, in denen sie sich ihrer selbst und damit ihrer Gründung im theologischen Prinzip versichere.

4.2 Grundlegung individueller Sittlichkeit Das auf den drei Momenten (1. absolut/abstrakt/Intuition, 2. relativ/konkret/Reflexion/Sünde, 3. paradox/theologisch/Rechtfertigung) beruhende und in unterschiedlichen Variationen entfaltete theologische Prinzip379 gibt auch Tillichs Darstellung der Theologischen Ethik ihre Richtung vor. Seine Ausführungen zur Ethik wollen zeigen, wie der gerechtfertigte Mensch das individuelle, gemeinschaftliche und kulturelle Leben gestaltet und hierin von Sünde (2. Moment) zu Gott (1. Moment) zurückdrängt (3. Moment) und wie sich dieses Zurückdrängen praktisch beschreiben lässt. Das Grundmotiv von Einheit, Trennung und Rückkehr zur Einheit ist damit aufgegriffen. Nach der Verortung des religiösen Lebens und der Frömmigkeit der einzelnen Person geht Tillich zur Grundlegung der Ethik über. Diese bildet den ersten Teil der „Anwendung des theologischen Prinzips auf das sittliche Leben“380. Wie eingangs gesagt unterteilt Tillich das „sittliche Leben“ (§§ 8–18/57–67) nochmals in eine abstrakte und eine konkrete Seite. Erstere wird im Folgenden, die zweite im daran anschließenden Abschnitt (4.3) thematisiert. Mit der Aufteilung wird einmal mehr deutlich, dass die Theologische Ethik direkt aus der Grundlegung in der Apologetik entwickelt und die dort getroffene Unterscheidung von „Persönlichkeitsund Gemeinschaftskultur“ für die Struktur der Ethik aufgenommen wird.381 Dazu

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 390.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 390.  Siehe oben: Teil 1: B.2.5 und 3.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 428.  Deshalb strukturiert Tillich das sittliche Leben in den Bereich der Persönlichkeitskultur und in den der Gemeinschaftskultur und greift damit auf die Einteilung sachliche, objektive und subjektive Kultur in der Apologetik unmittelbar zurück: Dort hatte Tillich die Differenzierung der

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gibt Tillichs nachgetragene Gliederung des Textes den Blick auf die Verbindung zu den vorigen Teilen frei: Die abstrakte Seite des Sittlichen bezeichnet er dort präziser als „Die Erhebung der sittlichen Persönlichkeit über das Unmittelbare“382. Damit ist die Verbindung zur Erörterung der Sittlichkeit im ersten Teil der Systematik angezeigt.383 Mit der „Erhebung“ der sittlichen Person über das Unmittelbare holt Tillich die Selbstbestimmung des Menschen als freies Wesen ein, die einen maßgeblichen Bestandteil seines Konzepts von Sittlichkeit darstellt. Sittlichkeit in dieser Hinsicht steht – wie gezeigt wurde – für das Hinausgehen aus dem natürlichen Zustand der Unmittelbarkeit in die freiheitliche Gestaltung der Bezugswelt. Bevor es also um die „konkrete“ Sozialität des Menschen – also um sein intersubjektives Handeln – gehen kann, muss deren theoretische Grundlage thematisiert werden. Die Grundlegung der Ethik vollzieht sich in Tillichs Konzept in vier Schritten. Innerhalb der ersten drei Paragraphen (8–10/57–58) werden in einem Dreischritt die Fragen nach dem Prinzip, der Motivation und der Ausbildung des moralischen Handelns fokussiert. Der letzte und entscheidende Schritt (§11/59) stellt dann die Grenzen der persönlichen Sittlichkeit heraus und führt die Nächstenliebe als Zentrum der Theologischen Ethik ein.384 Im Blick auf diese Struktur nimmt Tillich zu Anfang eine – für den Text verhältnismäßig präzise – Klärung vor, unter welchen Gesichtspunkten menschliches Handeln zu betrachten sei. Das hat wiederum Auswirkungen auf die Struktur Theologischer Ethik. Was sich Tillich grundsätzlich unter dieser Einteilung vorstellt, bringt er etwas beiläufig und versteckt im dritten Paragraphen auf den Punkt. In dieser Dreiheit von Fragen (Prinzip – abstrakt [§ 8/57], Motiv – konkret [§ 9/58], Besitz – Identität beider [§10/59]) erschöpft sich die allgemeine Ethik. Es kommt darin das alte ethische Schema der Güter-, Pflichten- und Tugendlehre zum Ausdruck, aber nicht als Dispositionsschema, sondern als Betrachtungsweisen, die für jedes konkrete sittliche Problem von Gültigkeit sind.385

objektiven Kultur in Persönlichkeits- und Gemeinschaftskultur vorgegeben. Und ebendiese beiden Teile der objektiven Kultur wurden entsprechend als Gegenstand der Ethik ausgewiesen. Nun verhandelt die Theologische Ethik die Persönlichkeitskultur (§§ 8–11/57–60) als Grundlegung der Ethik und fokussiert die (abstrakte) Begründung des sittlichen Prinzips und die Herausbildung der sittlichen Persönlichkeit. Sodann werden unter dem Gesichtspunkt der Gemeinschaftskultur (§§ 12–18/61–67) die (konkreten) Formen des sozialen Lebens in Familie, Gesellschaft, Kirche, Staat, Freundschaft und Ehe verhandelt.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 428 (im Original kursiv).  Siehe oben: Teil 1: B.2.3.2.  Vgl. M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 110.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 396. Dass die Struktur von Tillich so angelegt ist, wird auch durch Wegeners Aufforderung markiert, diese schematische Einteilung solle doch besser

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B Die Entfaltung von Freiheit und Nächstenliebe

Die drei hier benannten „Grundprobleme“386 der Ethik werden demnach je für sich in einem Paragraphen verhandelt. Zunächst stellen sich so drei Ebenen der Ethik heraus, die klassische Zugänge miteinander verbinden: In der Frage nach dem sittlichen Prinzip sieht Tillich die Güterlehre, in der Frage nach dem Motiv die Pflichtenlehre und in der sittlichen Bildung die Tugendlehre repräsentiert.387 Die drei Ebenen sollen nun nicht getrennt werden oder in Konkurrenz zueinander treten, sondern geben für Tillich jeweils eine Perspektive auf das moralische Handeln des Menschen frei. Sodann – und für die bisherige Interpretation wesentlich – verknüpft er die drei Formen der Ethik unmittelbar mit einem Modus („abstrakt“, „konkret“, „Identität“) des theologischen Prinzips. Den Terminus der „Identität“ verwendet er hier wiederum im Rückgriff auf das mehrfach benannte Schema von Einheit – Trennung – Vereinigung. Bemerkenswert ist an diesem Aspekt, dass Tillich der „Tugendlehre“ und ihrer Frage nach dem Besitz – man könnte auch sagen: der Aneignung, Ausbildung oder Festigung – des Sittlichen die Stellung der „Identität“ zuerkennt. Damit steht die Tugendhaftigkeit des Menschen für die Verbindung von Prinzip und Motiv der Sittlichkeit. Da Tillich das stetige Zusammen der drei Ethikformen betont, ist die Tugendethik hier dennoch nicht als höchste der drei zu verstehen – wie es beispielsweise bei der Güterlehre im Konzept Friedrich Schleiermachers der Fall ist.388 Die Näherbestimmung gibt an den Anfang der Theologischen Ethik gestellt werden (vgl. STh [1913], 396, Anm. 354: „Dies in § 1“. Siehe zur Einteilung der §§ 8–10 auch Hummel, „Das frühe System“, 127.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 395.396.  Die grundsätzliche Frage nach der schematischen Einordung wichtiger Ethiktheorien in diese drei Felder ist umstritten und komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint. Darauf kann hier nicht eingegangen werden. Zumeist wird von einer Tugendethik (ausgehend von Platon, Aristoteles oder Thomas von Aquin) gesprochen, und eine „deontologische Ethik“ oder „Pflichtethik“ wird mit Kant (bzw. im Anschluss an seine Ethik) davon unterschieden. Schließlich wird – zumindest aufklärerisch und neuzeitlich – die Güterlehre mit Konsequentialismus und spezifischer mit der ethischen Richtung des Utilitarismus (z. B. John S. Mill oder Jeremy Bentham) in Verbindung gebracht. Vgl. systematisch wie historisch instruktiv zu dieser Einteilung grundlegender Ethiktheorien im Sinne einer „Fundamentalethik“ oder „Allgemeinen Ethik“ Reuter, „Grundlagen und Methoden“, 24–44. Dass dies aber schematische Unterscheidungen sind, die Expertinnen und Experten als verkürzt ansehen werden, zeigt sich bereits an dem Beispiel der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Diese ist sowohl klassische Güter- sowie auch Tugendethik. Das Streben nach dem höchsten Gut ist der Ausgangspunkt der Handlungstheorie, auf deren Grundlage dann das System der Tugenden entwickelt wird. Siehe dazu: Wolf, „Einleitung“, in: Aristoteles: Nikomachische Ethik, übers. und hg. von Ursula Wolf (Hamburg: Meiner, 22015), 9–22, 10–19.  So stellt möglicherweise die erwähnte Organisation der Ethik als Ineinander von Güter-, Pflichten- und Tugendlehre bei Schleiermacher einen konkreten Bezug von Tillichs Ansatz dar. Vgl. besonders Friedrich D.E. Schleiermacher, Ethik, mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre hg. von Hans-Joachim Birkner Birkner (Hamburg: Meiner, 21990), pas-

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vielmehr einen Fingerzeig auf die Verbindung der drei Teile der Ethik insgesamt. Die Kennzeichnung des dritten Modus der Ethik – der Aneignung oder Bildung respektive der Tugendlehre – als „Identität“ soll lediglich anzeigen, dass in der Theologischen Ethik die abstrakte wie die konkrete Seite grundsätzlich zusammen gedacht werden müssen, wofür hier die Identität in der Tugend steht. Dessen ungeachtet gibt die Dreiteilung einen Hinweis auf die naheliegenden theorie- und theologiegeschichtlichen Hintergründe des Ethikzugangs. Die drei Ethikzugänge aus den – im weitesten Sinne – benannten Schritten von Prinzip, Motiv, Besitz bzw. Ausbildung der Sittlichkeit werden nachfolgend schrittweise analysiert, um ihren Zusammenhang zu erhellen. Dabei richtet sich die Interpretation wie folgt aus: In der ersten Form (Güterlehre) kommt die Beziehung von Freiheit und Liebe als sittliches Prinzip zum Ausdruck. Die zweite Ebene (Pflichtenlehre) konzipiert ausgehend vom Gesetzesbegriff einen pneumatologisch begründeten Gemeinschaftsbegriff. Drittens wird die Aneignung (Tugendlehre) des Sittlichen fokussiert. 4.2.1 Das sittliche Prinzip – Theonomie und Christonomie Wendet man sich von der Struktur dem sittlichen Prinzip zu, sticht ein Aspekt hervor, der für alles Weitere maßgeblich wird. Worum es Tillich in der Frage (§ 8/57) nach einem Prinzip der Sittlichkeit geht, ist direkt abhängig von dem zuvor entwickelten theologischen Prinzip. Das zeigt sich vordergründig schon an der analogen Wendung im Ausdruck „sittliches Prinzip“. Inhaltlich zeigt es sich speziell an der ersten zu treffenden Grundunterscheidung ethischer Prinzipienfragen. Vor der Interpretation muss hier folgender Aspekt klar zum Ausdruck gebracht werden, um Tillichs wiederum verwickelte Konstruktion auf das Wesentliche zu fokussieren: Er etabliert im Rahmen dieses Paragraphen seine Idee der „Theonomie“ als ethischer Leitkategorie. Diese verhandelt er hier gemeinsam mit „Heteronomie“ und „Autonomie“ als basales Dreifachschema. Im Zuge dessen entfaltet er die Theonomie erstmals eindeutig in einem ethischen Kontext. Der Begriff „Theonomie“ steht nach Tillich dabei für die eigentliche oder auch religiöse Freiheit. Demgegenüber steht „Heteronomie“ in seinem Verständnis für das Bestimmtsein von einem konkreten und greifbaren Gesetz (beispielsweise der Erhal-

sim. Schleiermacher argumentierte ebenfalls, dass alle drei Ebenen in der Ethik zugleich bedacht werden müssten. Die Güterlehre steht bei ihm aber als „Grund- und Hauptform“ (Birkner, „Einleitung“, in: Schleiermacher, Ethik, VII–XXXIV, XI) deutlich an höchster Stelle. „Das Unzulängliche der Nebenformen Tugend- und Pflichtenlehre erblickt Schleiermacher darin, daß in ihnen nur der Einzelne als Subjekt des Handelns erfaßt wird und daß das Handeln getrennt wird von dem daraus hervorgehenden Werk.“

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B Die Entfaltung von Freiheit und Nächstenliebe

tung der Art). Als „Autonomie“ schließlich bestimmt Tillich den Versuch, sich individualistisch vollständig auf sich selbst zu gründen. Hierfür gibt er das Beispiel einer „sittlichen Genialität“ der „Romantiker“389. Für beide Zugänge – den heteronomen wie den autonomen – gilt als zentrale Voraussetzung, dass sie keinen Bezug zu einer letzten Begründung im – in Tillichs Sprache – Absoluten aufweisen. Genau darin sieht Tillich ein Problem, das sich durch die im Folgenden eingeführte „Theonomie“ lösen lasse. Diese Lösung, so muss nun gezeigt werden, basiert eindeutig auf der rechtfertigungstheologischen Grundlegung. Zunächst muss aber für sich genommen geklärt werden, was Tillich mit der Differenzierung von „autonom“ und „heteronom“ im Sinn hat. Erst im Anschluss kann die Theonomie als Tillichs Lösungsvorschlag erörtert werden. Für dieses Vorgehen spricht auch bereits Tillichs Überschrift des Paragraphen „Das sittliche Prinzip: Autonomie und Heteronomie.“390 Beide Termini führen also hin zur Theonomie als der eigenständigen Lösung Tillichs. Hinzu kommt als interpretative Schwierigkeit, dass Tillich mit der „Christonomie“391 einen weiteren – werkgeschichtlich nur hier auftauchenden392 – Terminus einführt, der das Begriffsschema nochmals verkompliziert und deshalb für sich genommen am Ende dieses Abschnitts erörtert wird. Vor diesem Hintergrund hat die Geistesgeschichte in Tillichs Sicht – summarisch gesagt – zwei Grundformen ethischer Theoriebildung hervorgebracht. Die eine beschreibt er als konkret-heteronome Linie, die andere als abstrakt-autonome.393 Um diesen Ausgangspunkt und schließlich sein Modell der Theologischen Ethik zu verstehen, bietet es sich wiederum an zu zeigen, was ihm bei seinem Ethikkonzept problemgeschichtlich vor Augen steht. Anders lässt sich Tillichs dichte Bestimmung – wie so oft – nicht veranschaulichen. In der konkret-heteronomen Form konstatiert er drei Erklärungsmodelle, die beispielsweise und in verschiedener Ausrichtung das gute Handeln zu begründen versuchen: Erstens stellt er ein biologistisches Modell heraus, das (prominent durch Nietzsche vertreten) sich ganz auf einen evolutionären Selbsterhaltungstrieb ausrichtet. Zweitens benennt er ein psychologisches Modell, das sich „eudaimonistisch“ an einem bestimmten höchsten Gut orientiert. Drittens macht er als „Utilitarismus“394 eine soziale Variante heteronomer Ethik aus, in der die Sittlichkeit am

     

Tillich, Systematische Theologie 1913, 393. Tillich, Systematische Theologie 1913, 391. Tillich, Systematische Theologie 1913, 394. Vgl. Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 245. Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 392. Tillich, Systematische Theologie 1913, 392.

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höchsten Nutzen für die Selbsterhaltung des Organismus bemessen wird.395 Dass Tillich hier den Terminus „sozial“ in Bezug auf den Utilitarismus explizit anführt, verweist auf die Bezeichnung utilitaristischer Ansätze als „Sozialeudämonismus.“396 Hiermit werden namentlich klassische Vertreter wie Francis Hutcheson, John Stuart Mill oder Jeremy Bentham in Verbindung gebracht.397 Mit diesem Bezug ist auch die Unterscheidung solcher für Tillich „heteronomer“ Ansätze zu den von ihm unten als „autonom“ bestimmten Ansätzen deutlich. Denn der Sozialeudämonismus zielt auf die direkte Abgrenzung von Kant oder kantischer Ethik und „widerspricht der kantischen Gleichsetzung von Egoismus und Eudämonismus und will ein Moralprinzip der Sorge für das Allgemeinwohl aufstellen“398. Das Prinzip des Utilitarismus besteht in der Herstellung des größten Nutzens für möglichst viele. Tillich rückt mit dieser Differenzierung in auffällige Nähe zur Ethik Wilhelm Herrmanns, die 1913 ihre fünfte Auflage erreichte399 und von Tillich spätestens 1911 intensiv studiert wurde.400 Herrmann unterscheidet in seiner Grundlegung einen „individuellen“ von einem „sozialen Eudämonismus“401 und beschreibt damit dasselbe Problem. Mit dem individuellen Eudämonismus hat Herrmann ein Streben nach einem bestimmten höchsten Gut insbesondere in „antiken“402 Ethiken (Aristoteles, Stoa) vor Augen, welches ganz konkret in der „Lust“ oder  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 392.  Vgl. Helmut Hühn, „Sozialeudämonismus“, HWPh 9, 1139: „An die Stelle des Ausdrucks ‚S.‘ treten häufig – je nach Akzentuierung – Wendungen wie ‚Gemein-Eudämonismus‘, ‚gesellschaftlicher Eudämonismus‘, ‚universeller Eudämonismus‘, ‚objektiver Eudämonismus‘, ‚Sozialutilitarismus‘ und ‚altruistischer Eudämonismus‘. Die Unscharfe des modernen Eudämonismus-Begriffs als einer Sammelbezeichnung höchst unterschiedlicher Entwürfe spiegelt sich auch in der Thematisierung des S. wider.“  Vgl. Hühn, „Sozialeudämonismus“, 1139.  Hühn, „Sozialeudämonismus“, 1139.  Herrmann, Ethik (11900, 21901, 31904, 41909, 51913). Dieser Umstand ist bereits interessant, weil Tillich Herrmann neben Albrecht Ritschl – wie gezeigt (siehe Teil 1: A.2) zumeist in kritischer Abgrenzung aufnimmt. Vgl. dazu abgesehen von der Monismusarbeit besonders die Kasseler Thesenreihe (1911): „Die christliche Gewissheit und der historische Jesus“ (1911), in: Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische und politische Stellungnahmen und Gespräche, Bd. VI, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich hg. von Renate Albrecht und René Trautmann (Frankfurt a.M.: Evangelisches Verlagswerk, 1983), 35–37, wo Tillich sich speziell auch mit dem Zusammenhang von Sittlichkeit und Glaube bei Herrmann befasst. Vgl. dazu G. Neugebauer, Christologie, 204–208, Dienstbeck, Transzendentale Strukturtheorie, 159–174, Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 97–106.  Vgl. dazu die Tillich, „Die christliche Gewissheit“, in der sich Tillich hauptsächlich mit der Ethik Herrmanns auseinandersetzt, um sein eigenes christologisches Konzept davon abzugrenzen, wie auch G. Neugebauer, Christologie, 199, hervorhebt.  Herrmann, Ethik, 25.31.  Herrmann, Ethik, 31.

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der Vorliebe für bestimmte „Güter[]“403 liegen kann. „Der Mensch, der sein Herz an solche Güter hängt, hat damit auch eine Gesinnung. Es ist aber für jeden Menschen von entscheidender Bedeutung einzusehen, daß eine solche Gesinnung selbst nicht Kraft, sondern Ohnmacht ist.“404 Im Anschluss an Kant will Herrmann zeigen, dass sich der Mensch sein Leben in dieser Ausrichtung (heteronom) vom „Erwerbe solcher Dinge“ abhängig macht. „Der Eudämonismus will den Menschen in dem, was ihm gefällt, den Inhalt seines Wollens finden lassen.“405 Der soziale Eudämonismus hingegen steht bei Herrmann für die „modernen Vertreter“406 (vermutlich wiederum Mill, Bentham oder Hutcheson) und damit analog zum Utilitarismus bei Tillich. Hier, so Herrmann, wird das „höchste Gut“ „jetzt in aller Regel die allgemeine Wohlfahrt genannt oder das möglichst große Glück für möglichst viele.“407 Alle benannten Theorien sind vor diesem Hintergrund nach Tillich deshalb der „Heteronomie“ zuzuordnen, weil Menschen darin einem „fremden“ „Gesetz“408 folgen. Tillich nimmt den Terminus „Heteronomie“ vergleichsweise wörtlich und beschreibt damit die Befolgung fester Prinzipien, die beispielsweise durch eine Person oder eine soziale Gruppe ratifiziert wurden. Das Gesetz ist in Tillichs Konzept deshalb „fremd“, weil es keinen Bezug zum Absoluten hat, zu dem in Tillichs Sicht aber das Subjekt stets zurückdrängt. Anders ausgedrückt: Da nach Tillich der Mensch von der Gottesbeziehung, vom Absoluten, abhängig ist, ist die Bindung an das Selbsterhaltungsprinzip der heteronomen Linie zuzuordnen, weil dieses Prinzip nicht aus dem Absoluten heraus begründbar ist. Zwar könnten Menschen von einer Autonomie sprechen, sofern sie einem der genannten Prinzipien folgen, weil sie dies unter Umständen als Loslösung von etwas Übermenschlichem empfinden, von dem sie sich frei machen wollen. Sofern jedoch, mit Tillich, der Mensch von der Gottesbeziehung abhängig ist, ist der Versuch alleiniger Selbsterhaltung heteronom, weil sie nicht aus dem Absoluten heraus begründet wird. Hiermit kristallisiert sich nochmals schärfer die Ausgangsposition der theologischen Ethik Tillichs heraus: Im religiösen, sittlichen wie kulturellen Leben wird das Zurückkehren von der Sünde hin zu ihrer Überwindung in Gott thematisiert. Heteronome Ansätze stellen sich diesem Zurückkehren in den Weg. Sie binden den Menschen an sich selbst und halten ihn so auf

 Herrmann, Ethik, 26.27.  Herrmann, Ethik, 27.  Herrmann, Ethik, 30. Das „Wollen“ gehört zu den Zentralbegriffen der Ethik Herrmanns und wird unten nochmals aufgenommen.  Herrmann, Ethik, 32.  Herrmann, Ethik, 32.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 392.

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dem Reflexions- oder Sündenstandpunkt fest. Diese Formen der Sünde vom theologischen Standpunkt aus zu betrachten, ist Aufgabe der Theologischen Ethik. In der anderen Linie (abstrakt-autonome) ethischer Theoriebildung geht die Ethikbegründung umgekehrt allein von einem Prinzip oder einer unbedingten „Forderung“ aus, die durch nichts bedingt ist als durch sich selbst; sie hat die Form des kategorischen Imperativs [...], aber es entsteht die Frage nach der Begründung des konkret sittlichen Urteils, und eine Antwort darauf ist in der reinen Form nicht zu finden. Wird aber das konkrete Urteil nicht mit dem sittlichen Prinzip in notwendige Beziehung gesetzt, so verliert es seine Unbedingtheit, womit auch diese Theorie sich selbst aufhebt.409

Damit hat Tillich durch die Verwendung des Kategorischen Imperativs insbesondere wiederum Kants Ethik des Selbstgesetzgebung im Visier.410 Somit steht der einseitig konkreten Orientierung eine einseitig auf das abstrakte Prinzip des Sittengesetzes orientierte Ethikausrichtung gegenüber. Tillich trifft also bis hierher eine recht eigentümliche Unterscheidung zweier basaler Ethikausrichtungen. Entweder fokussiere sich der Mensch vollkommen auf ein selbst erstelltes Prinzip – ein Beispiel könnte die Wahrung des Organismus sein. Oder der Mensch richte sich ganz auf ein nicht greifbares Prinzip aus – wie den kategorischen Imperativ. Die erste, konkret-heteronome Form bleibe in der Fremdbestimmung durch ein bestimmtes Gesetz, wohingegen die zweite, abstrakt-autonome Form keine Basis für die je akute Handlung darbiete. Versucht man diesen Zugang nochmals herunterzubrechen, sieht sich jede Ethik vor dem folgenden Grundproblem: Ich kann mich entweder auf ein abstraktes Prinzip wie das Sittengesetz stützen und versuchen, diesem ausnahmslos zu folgen. In diesem Fall fehlt es aber dann an einem Grundgerüst, auf das ich für die je aktuelle Situation zurückgreifen kann. Oder ich folge ganz konkreten Prinzipien, die scheinbar auf ein (Utilitarismus/Konsequentialismus) direkt greifbares Ziel zusteuern. In diesem Fall weiß ich zwar für eine konkrete Situation, was akut zu tun ist. Jedoch mache ich mich – so Tillichs Behauptung – hierdurch von diesen festen Handlungszielen abhängig. In radikaler oder auch archaischer Form steht Tillich für die heteronome Seite möglicherweise auch eine Kasuistik vor Augen, die ein noch einfacheres Tat-Folge-Schema („wenn dies getan wird, geschieht das“) darstellen würde.411

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 392 f.  Vgl. Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 245.  Vgl. dazu auch in theologiegeschichtlicher Sicht Richard Hauser/Frieder O. Wolf/Johanna Bleker, „Kasuistik“, HWPh 4 (1976), 703–707, 703: „Ob mit Hilfe von Deduktion oder Abstraktion geht es kasuistischem Denken stets darum, im konkreten Fall das Allgemeingültige zu erfassen. K. erstrebt gern das geschlossene System aller umfaßten Fälle.“

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Es tritt hiermit ein fundamentales und ebenso klassisches Grundproblem der Ethik zum Vorschein, welches sich für den zeitlichen Kontext um 1900 und im Anschluss an Max Scheler als Problem des „Formalismus“412 bezeichnen lässt. Dass sich diese Fragestellung als zeitgenössisch hochaktuelles Thema geisteswissenschaftlicher Ethikdebatten herausstellt, zeigt schon der kurze Blick auf zwei theologische Positionen aus Tillichs Umfeld. Und um Tillichs Ausführungen ein weiteres Mal vom Abstrakten ins Lebendige zu ziehen, soll sein Ansatz knapp und exemplarisch in diese Debatte eingeordnet werden. Das Problem eines ethischen Formalismus lautet basal: Wie kann im moralischen Handeln zwischen einem „unbedingten“, „universalen“ oder auch „unverrückbaren“ Gesetz oder eben einem „sittlichen Prinzip“ einerseits und der konkreten Handlungssituation andererseits vermittelt werden? Der Formalismus kritisiert – allgemein gewendet – Kants oder daran anknüpfende Ethiken als „Rationalismus, Logizismus und Intellektualismus. [...] Danach gründet die formale Ethik rein auf der Vernunft und auf einem transzendentalen Apriorismus, dessen Kennzeichen Allgemeinheit und Gesetzmäßigkeit sind.“413 Die explizite Kritik an einer ganz auf Vernunft und Autonomie basierenden Ethik besteht darin, dass darin sämtliche – auch für Tillich relevanten Bereiche – des menschlichen Geistes, wie das Empfinden oder das Streben nach dem Guten radikal ausgeschlossen werden;414 „sittliche Akte“ wie „Liebe“, „Wollen“, „Streben“ oder „Vorziehen“415 werden damit im Ansatz von der Begründungsebene ausgeschlossen. Wie erwähnt stellt dieses ethische Fundamentalproblem den Hintergrund von Max Schelers 1913 publizierter Schrift Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik dar. Scheler befasst sich in dieser Hinsicht explizit mit Kant und  Vgl. klassisch und für den Kontext einschlägig Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, hg. von Christian Bermes/Annika Hand (Hamburg: Meiner, 2014). Ferner mit expliziter Verwendung des Terminus in Bezug auf Scheler auch Helmut Holzhey/Renate Renz, „Neukantianismus“, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Bd. 2 (Hamburg: Meiner, 2010), 1776–1781.  Heinz Hülsman/ Ulrich Dierse, „Formalismus“, HWPH 2 (1972), 967–971, 967: „‚F.‘ bezeichnet einen kritischen und – wie die Endung -ismus‘ anzeigt – einen polemischen Begriff vor allem der materialen Wertethik Schelers.“  Vgl. Hülsmann/Dierse, „Formalismus“, 967: „Hier setzt nun die Kritik ein, die Kant des F. überführen will, insofern eine solche Ethik in sich leer bleibe und einer konkreten Motivationskraft entbehre, die emotionalen Kräfte des Fühlens vergesse, somit anthropologisch zu kurz greife und also auf Prämissen beruhe, die sich als unzulänglich erweisen. Axiologisch und praxeologisch bleibe solcher Formalistik der Bezug auf die sittliche Welt versagt, deren Konkretheit äußerlich. Sie vermöge den intentionalen Charakter der sittlichen Akte (des Fühlens, des Vorziehens, Nachsetzens, des Liebens und Hassens, des Strebens und Wollens), ihr eigengesetzliches Etwas nicht zu fassen und die Wesensgesetze nicht zu sehen.“  Hülsmann/Dierse, „Formalismus“, 967.

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geht schon methodisch ähnlich wie Tillich vor, indem er zuerst alle Ansätze einer Ethik, die „von der Frage: was ist das höchste Gut? Oder: was ist der Endzweck aller Willensbestrebungen? ausgeht, [...] durch Kant ein für alle mal als widerlegt“416 betrachtet. In der Abgrenzung stellt für Scheler interessanterweise Kant das zentrale Beispiel für eine „heteronome“ Ethik dar, weil „jeder Imperativ einen von einer Autorität ausgehenden Befehlsakt voraussetzt.“417 Als „Wertethik“ richtet sich Schelers Kritik an der Formalethik Kants insbesondere darauf aus, dass in einer Ethik des Imperativs keine „unmittelbare“ oder auch „gefühlsmäßige Erfassung des Guten“418 möglich sei. Der eben einseitig formalistische Charakter der Ethik Kants lasse folglich keine Verständigung über Werte zu, die für sich und unabhängig vom Sittengesetz als gut oder richtig erfahren werden.419 Blickt man sodann auf die theologische Diskussion und nochmals in die Ethik und in frühere Grundtexte Wilhelm Herrmanns, zeigt dieser Verweis, dass auch Hermann wie Tillich mit dem Problem befasst ist, wie sich eine Ethik auf die reine Autonomie, d. h. die Selbstbestimmung des Menschen in Form der Sittlichkeit, gründen lasse. Herrmanns Ethik löst dieses Problem, indem sie als dezidiert theologische „Gesinnungsethik“420 das sittliche Wollen ins Zentrum stellt. Klarer Ausgangspunkt der Ethik ist für Herrmann das Sittengesetz, sodass er mit Kant die wahre Sittlichkeit in der Erkenntnis der Freiheit zur Selbstbestimmung sieht.421 Demgemäß könne nur ein sich als frei erfahrendes Subjekt sittlich sein. Das Sittengesetz werde verwirklicht durch das wahrhafte Wollen, welches im Gewissen respektive in der Forderung dem Menschen gegenübertritt. Nun können wir aber nur das wahrhaftig wollen, was wir uns selbst von uns aus vornehmen. Also ist uns auch der sittliche Gehorsam, der auf das unbedingt Notwendige geht, als ein wahrhaftiges Wollen nur dann möglich, wenn wir von uns aus sagen können, was das unbedingt Notwendige sei, das unserm Wollen eine feste Richtung geben will.422

 Scheler, Formalismus in der Ethik, 2.  Holzhey/Röd, „Neukantianismus“, 173.  Holzhey/Röd, „Neukantianismus“, 173.  Holzhey/Röd, „Neukantianismus“, 173.  Hartmut Kreß, „Einleitung. Wilhelm Herrmann und Ernst Troeltsch: Protestantische Ethik im Kontext der Moderne“, in: ders./Frank Surall (Hg.), Wilhelm Herrmann: Ethik/Ernst Troeltsch: Grundprobleme der Ethik. Erörtert aus Anlaß von Herrmanns Ethik (Waltrop: Hartmut Spenner, 2002), 5–31, 8.  Vgl. Stefan Atze, Ethik als Steigerungsform der Theologie? Systematische Rekonstruktion und Kritik eines Strukturprozesses im neuzeitlichen Protestantismus (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2008), 113.  Herrmann, „Religion und Sittlichkeit“, in: ders., Schriften zur Grundlegung der Theologie Teil 1, hg. von Peter Fischer-Appelt (München: Kaiser, 1966), 264–281, 271 f.

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Das wahrhaftige Wollen – sprich die Erfüllung der Forderung – kann somit allein als Zugleich von Unterwerfung und Selbstständigkeit verstanden werden. Damit ist die Ähnlichkeit zum Verhältnis von Autonomie und Heteronomie bei Tillich schon angezeigt: Im direkten Blick auf die Systematik von 1913 hat Matthias Neugebauer eine sachliche Entsprechung gesehen zwischen Herrmanns These vom „Irrewerden am kategorischen Imperativ“423 und Tillichs Hin- und Hergerissensein zwischen individueller Freiheit und Gesetzen einer äußeren Instanz. Auf einen weiteren wichtigen Punkt der Ethikdebatte im Protestantismus um 1900 weist Ernst Troeltschs Grundprobleme der Ethik (1901) mit dem sprechenden Untertitel Erörtert aus Anlaß von Herrmanns Ethik. Hier zeigt sich, in welcher Intensität die Diskussion um das Problem des Formalismus einer einseitigen Ethik – besonders im Gefolge Kants – geführt wurde. Troeltsch konzipierte im Gegenüber zu Herrmann eine „objektive Güterethik“424 und legte das Gewicht deutlich auf die Ausarbeitung einer Ethik als Theorie der Kultur und der Werte, die sich in der Kultur und ihren konkreten, objektiven Formen des Lebens (zum Beispiel Familie oder Staat) zeigen.425 Die Hauptprobleme der Ethik liegen daher nicht auf dem Gebiete der subjektiven Ethik, das verhältnismäßig einfach ist, sondern auf dem der objektiven Ethik, das schwierig und verwickelt ist. Sie erfordern einen umfassenden geschichtsphilosophischen Horizont, einen Einblick in das Werden und Machen der Kultur und die Herausbildung sittlicher Güter aus der bloßen Kultur [...] und vor allem die Frage nach der Auffassung des Verhältnisses dieser Güter zu einander.426

Damit entfaltet Troeltsch seine Überlegungen nicht nur direkt als Kritik an einer nach wie vor deutlich von Kant geprägten Individualitätsethik wie der Herrmanns, sondern setzt zugleich bei der Behandlung der konkreten Gemeinschaften ein. Im Vorgriff auf die Behandlung der Gemeinschaftsformen im nächsten Paragraphen der Systematik Tillichs kann hier darauf hingewiesen werden, dass sich damit eine deutliche Parallele zu Troeltsch auftut. Auch Tillich will die rein auf Autonomie basierende Ethik durch die Fokussierung auf die kulturellen Güter und Formen überwinden.427 Für den Zusammenhang dieser Untersuchung kann und soll dieses Problem nicht weiterverfolgt werden. Der Seitenblick auf Herrmann, Troeltsch und Sche M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 113.  Troeltsch, „Grundprobleme der Ethik. Erörtert aus Anlaß von Herrmanns Ethik“ (1901), in: Hartmut Kreß/Frank Surall (Hg.): Wilhelm Herrmann: Ethik/Ernst Troeltsch: Grundprobleme der Ethik. Erörtert aus Anlaß von Herrmanns Ethik (Waltrop: Hartmut Spenner, 2002), 140.  Vgl. Troeltsch, Grundprobleme der Ethik, 140; Kreß: Einleitung (2002), 23.  Troeltsch, Grundprobleme der Ethik, 140 f.  Siehe unten: Teil 1: B.4.4.

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ler zeigt gleichwohl, dass Tillichs frühe Denkversuche sich durch eine Öffnung im Blick auf die möglichen Einflüsse veranschaulichen lassen. Kehrt man auf dieser Grundlage zum Text zurück, so versucht Tillich das skizzierte Grundproblem dadurch zu lösen, dass er den beiden von ihm akzentuierten Zugängen (konkret-heteronom und abstrakt-autonom) mit den Begriffen der „Theonomie“ (erstens) und der „Christonomie“ (zweitens) eine eigene Lösung geben möchte. Der Zielpunkt seiner Überlegungen liegt darin, dadurch die Vereinigung von Freiheit und Liebe im Sinne des dritten Moments des theologischen Prinzips (das vollendet, vereinigende) zu zeigen, um das Problem von abstraktkonkret theologisch zu lösen. Diese zwei Schritte werden im Folgenden erörtert. In einem ersten Schritt will Tillich zeigen, wie die „Autonomie“ durch die „Theonomie“ vollendet werde. Mit der Einführung der „Theonomie“, die bereits in der Fichte-Arbeit428 von 1906 aufgetaucht war und von Tillich in der MonismusArbeit429 von 1908 in eine Reihe mit Heteronomie und Autonomie gestellt worden war, ist eine wichtige werkgeschichtliche Wegmarke gegeben.430 Zum einen wird dieser Zusammenhang hier zum ersten Mal – wie erwähnt – in einer ausdrücklich theologisch-ethischen Konzeption verwendet. Zum anderen gehört dieser Dreischritt zu den konstanten Theoriebausteinen, die sich über das gesamte Werk Tillichs zeigen lassen.431 Auf den ersten Blick erschließt sich, dass Tillich mit der Trias eine Grundunterscheidung zwischen Fremd-/Selbst- und Gottesbestimmung begrifflich abzubilden versucht. Damit steht die Frage nach einem theologisch sinnvollen Begriff von Freiheit zur Diskussion. Zudem liegt es nahe, dass Tillich bei dieser Begriffsverwendung wiederum die Freiheitstheorien Kants und Fichtes vor Augen hat. Zum problemgeschichtlichen Bezug ist darauf hinzuweisen, dass Tillich das Ge-

 Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 5.  Tillich, Monismusarbeit, 130.  Siehe dazu oben: Teil 1: A.2.  Vgl. exemplarisch Tillich, Fichtes Religionsphilosophie, 5; Tillich, Monismusarbeit, 130; „Über die Idee einer Theologie der Kultur“, in: Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, Bd. IX, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1967), 13–31; „Religionsphilosophie“ (1923/25), in: Frühe Hauptwerke, Bd. I, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 21959), 330.385–387; ST III, 725–727; „Kairos – Theonomie – Das Dämonische. Ein Brief zu Eduard Heimanns siebzigsten Geburtstag“, in: Begegnungen. Paul Tillich über sich selbst und andere, Bd. XII, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1971), 312–314. Die Bedeutung der Trias wird besonders im Kontext des religiösen Sozialismus wiederauftauchen und im entsprechenden Kapitel nochmals aufgenommen: Vgl. dazu besonders: „Grundlinien des religiösen Sozialismus. Ein systematischer Entwurf“, Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum Religiösen Sozialismus, Bd. II, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 21962, 98–101.117. Siehe dazu auch unten: Teil 2: B.2.

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genüber von „Autonomie“ und „Theonomie“ wie auch die „Theonomie“ in den bisherigen Texten jeweils in seiner „Kant-Exegese“432 eingeführt hat. Kant selbst entwickelt seine Unterscheidung von Autonomie und Heteronomie im Zusammenhang mit der Differenzierung von Sinnwelt und Verstandeswelt: Weil der Mensch gleichzeitig Teil der Sinnwelt und (als Wesen mit Vernunft) Teil der Welt des Intelligiblen ist, muß ein vernünftiges Wesen sich selbst, als Intelligenz (also nicht von Seiten seiner untern Kräfte), nicht als zur Sinnen-, sondern zur Verstandeswelt gehörig, ansehen; mithin hat es zwei Standpunkte, daraus es sich selbst betrachten, und Gesetze des Gebrauchs seiner Kräfte, folglich aller seiner Handlungen, erkennen kann, einmal, sofern es zur Sinnenwelt gehört, unter Naturgesetzen (Heteronomie) zweitens, als zur intelligiblen Welt gehörig, unter Gesetzen, die, von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet sein.433

Auf den zweiten Blick stellt sich die Frage, inwiefern eine Bestimmtheit durch Gott als Theonomie die Autonomie „vollendet“. Im vorliegenden Zusammenhang steht die Theonomie für eine Art eigentlicher Freiheit. Dazu bringt Tillich die Rechtfertigung als „Standpunkt der Autonomie“ unmittelbar mit der Theonomie als „Vollendung“ der Autonomie in Verbindung: „Der Gerechtfertigte ist der absolut Freie.“434 Tillich sieht offenkundig in der Theonomie die Lösung im Umgang mit der abstrakten Seite der Sittlichkeit. In der Sprache der Systematischen Theo-

 G. Neugebauer, Christologie, 255, Anm. 459. Die Herkunft des Terminus bei Tillich ist nach wie vor umstritten. Tillich stellt bereits in Fichtes Religionsphilosophie, 5, „Autonomie“ und „Theonomie“ gegenüber. In der Monismusarbeit, 70.13, findet sich erstmals die Trias gemeinsam mit der „Heteronomie (siehe dazu oben Teil 1: A.2 und 3). Im zentralen § 12 der Fundamentaltheologie im 1913er System bringt Tillich – wie gezeigt wurde – dann die „Autonomie“ bereits mit dem Sittengesetz beziehungsweise Kants Kategorischen Imperativ in Zusammenhang. Der zumindest terminologisch naheliegende Bezug zu Kant in der Unterscheidung von „Auto- und Heteronomie“ sowie ihrer Erweiterung durch die „Theonomie“ wurde noch nicht ausführlich untersucht. G. Neugebauer hat darauf hingewiesen, dass bei Friedrich W. Graf, Theonomie. Fallstudien zum Integrationsanspruch neuzeitlicher Theologie (Gütersloh: Mohn, 1987), der Bezug nicht weiterverfolgt wird (vgl. G. Neugebauer, Christologie, 255, Anm. 459. Auch Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 242–246, spricht sich klar für den Hintergrund bei Kants Autonomiegedanken aus. Heinemann argumentiert, dass Tillich seine Ausformung der drei Begriffe letztlich den Fichte-Vorlesungen (1905) seines Lehrers Fritz Medicus verdanke. Dies ergebe sich einmal aus der Verwendung der Theonomie bei Fichte, sodann aus der späteren Parallelität von AutoHetero- und Theonomie zu Tillichs Schema aus Gehalt, Form und Inhalt im „Über die Idee einer Theologie der Kultur“ von 1919. Hans Blumenberg verwendet in seinem Artikel „Autonomie und Theonomie“, RGG3 1 (1957), 788–792, 788, die Begriffe, um die Kant’sche „Selbstgesetzlichkeit“ (Autonomie) von der „Gottesgesetzgebung“ zu differenzieren. In der Durchsicht des Kant-Lexikons findet sich jedoch der Begriff Theonomie nicht: vgl. Marcus Willaschek u. a. (Hg.), Kant-Lexikon, 3 Bde. (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2015).  Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 88.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 393.

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logie von 1913 müsste er also sagen: Es entsteht das Freiheits- aufgrund eines Abhängigkeitsbewusstseins. Dass die Autonomie zur Theonomie wird, lässt sich folglich rechtfertigungstheologisch beschreiben als Erfahrung wirklicher Freiheit, die sich nicht auf sich selbst, sondern auf ihre Abhängigkeit von der Zuwendung Gottes gründet. Damit ist bereits impliziert, dass in Tillichs Konzeption letztlich das theologische Prinzip, also die Rechtfertigung, die Lösung des Problems darstellt, wie zwischen abstraktem Prinzip und konkretem Handlungsurteil vermittelt werden kann. Dies zeigt der folgende Gedankenschritt dadurch, dass allein in der Rechtfertigung das Ja und das Nein paradox verbunden sind. Im Rückblick auf die Apologetik steht fest, dass im absoluten Zustand die Trennung von Prinzip und akuter Handlung nicht vorhanden wäre. Denn in diesem Zustand wären ja die Selbstbestimmung als Selbstbehauptung der Freiheit und die freie Gestaltung in den Funktionen des menschlichen Handelns ideal verbunden.435 Es ließe sich anders formulieren: Auf dem absoluten Standpunkt stellen sich die Probleme nicht, da ich mich zum einen selbst als frei bestimme und aus dieser Freiheit heraus auf meine Umwelt einwirke und handle. Da ich auf dem absoluten Standpunkt aber in diesem Einwirken und Handeln nicht fremdbestimmt bin, kommt es auch nicht zu einer Unterscheidung von Autonomie – die ich erreichen will – und Heteronomie – in der ich mich befinde. Doch thematisiert die Theologische Ethik eben nicht den absoluten, sondern den Sündenstandpunkt. Hier bestehe die Einheit von abstraktem und konkretem Moment nicht mehr. Das schlichte Befolgen eines biologistischen, eudämonistischen oder utilitaristischen Prinzips – so kann interpretiert werden – ist für Tillich eine genuine Folge des Sündenstandpunkts. Deshalb bezeichnet er diese Formen als heteronome Ethiken. Im Zustand, der sich von der Einheit mit der Wahrheit bereits gelöst habe – dem reflexiven oder sündhaften Standpunkt –, so Tillichs Argument, bleibt die Unbedingtheit der sittlichen Forderung abstrakt; sie ist nicht realisiert im System der Beziehungen, die den Zustand der Sündhaftigkeit ausmachen, und dementsprechend ist es nicht möglich, unmittelbar aus diesen Beziehungen die sittliche Forderung zu entnehmen.436

Tillichs Gedankengang zielt darauf, dass aus den interpersonalen wie sozialen Bindungen nicht das unbedingte, absolute Prinzip des Handelns abgeleitet werden könne. Diese Ableitung wäre ein Widerspruch in sich, weil diese „Beziehungen“ – die Freundschaft, die Familie, die Kirche und dergleichen – ja stets relative, also

 Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 393.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 393.

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nicht „perfekte“ respektive „absolute“ Beziehungen seien. Andererseits führt er mit der „Forderung“ einen Aspekt ein, der mit dem „Gewissen“437 zu identifizieren ist.438 In der religiösen Gewissenserfahrung vernimmt der Mensch die göttliche Forderung. Doch auch diese Vorstellung eines inneren „Richters“439 bleibt abstrakt und löst nicht das Formalismusproblem. Dies können für Tillich erst die Gemeinschaften der Liebe, wie er sie im nachfolgenden Paragraphen zur konkreten Ethik darstellen wird.440 Alles bis hierher Gesagte bildet die „Voraussetzung der theologischen Ethik. Ihre Lösung kann für Tillich allein in der Sphäre des Paradox liegen.“441 Dem theologischen Prinzip entsprechend – so kann bis hierher interpretiert werden – liegt die Lösung ethischer Grundfragen weder in einer heteronomen noch in einer autonomen Einseitigkeit. Beide können der Komplexität der Bezüge genauso wenig gerecht werden wie der Verfasstheit des Menschen. Letzteres vermag nur die Verbindung beider im Gedanken der Theonomie. Der Rechtfertigungsgedanke wendet die absoluten Kategorien auf den einzelnen an, ungeachtet seiner Relativität. Gott spricht den einzelnen an, damit aber verliert die unbedingte sittliche Forderung ihren abstrakten Charakter, sie ist aufgenommen in die Sphäre der Einzelheit durch [das] Paradox. Die Autonomie hat sich vollendet zur Theonomie.442

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 394.  Der Mensch, so Tillichs Erörterung des Gewissens- oder Forderungsbegriffs, handelt stets aus seinem Gewissen heraus, weil es dem Menschen als freiem Wesen als Forderung entgegentrete. In der Verknüpfung der Begriffe „Forderung“ und „Gewissen“ äußert sich wiederum eine werkgenetische Fortführung. In der Monismusarbeit von 1908 behandelt Tillich den Gewissensbegriff unter dem Abschnitt zur „geistigen Selbsterfassung“ und bestimmt ihn inhaltlich wie folgt: „Selbstbestimmung ist immer ein Akt der Selbstsetzung [...]. Nun liegt dieser Gedanke in der christlichen Theologie überall dort vor, wo [...] die normative Bedeutung des Gewissens als der göttlichen Offenbarung in uns behauptet wird. Die Offenbarung muß etwas im Menschen finden, das sie bejaht. [...], bei denen, die die grundlegende Tat der Freiheit vollzogen haben.“ (123 f.) Die Identifizierung von „Gewissen“ mit der „Offenbarung“ im Menschen bringt Tillich mit der Selbstbestimmung- oder Erfassung zusammen. Insofern tritt im Menschen das Gewissen als die oben benannte unbedingte Forderung hervor, sodass der Mensch die unbedingte Aufforderung empfängt, handeln zu müssen. Die Gleichsetzung von Gewissen und Forderung zeigt sich schon an der Auszeichnung des Gewissens als „normativ“.  Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: ders., Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 2, Bd. 8, Theorie-Werkausgabe (Frankfurt a.M. 1956), 309–634, 334. Auf die Verbindung zu Kant weist dessen Bestimmung des Gewissen als „innere[m] Richter“ in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten (A 37, 29) hin.  Siehe unten: Teil 1: B.4.4.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 394.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 393.

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Tillich setzt somit grundsätzlich zwei Voraussetzungen einer theologischen Ethik. Zum einen muss der Mensch als ein auf Rechtfertigung angewiesenes Geschöpf gedacht werden, das die geforderte sittliche Norm – wie immer diese auch bestimmt ist – nicht vollständig erreichen kann. Das bedeutet zum anderen, dass „nur die theologische Ethik“443 die Spannung aus abstraktem, konkretem und paradoxem beziehungsweise vereinigendem Moment denken und thematisieren kann. In der Theologischen Ethik sollen sich nach Tillich die abstrakte Forderung und die konkrete Frage nach dem jeweiligen sittlichen Urteil verbinden. Bevor mit dem zweiten Schritt (Christonomie) die nähere Ausgestaltung des Ethikkonzepts weiter skizziert wird, ist es sinnvoll, das Bisherige zu resümieren. Denn trotz der begrifflichen Unterscheidungen bleibt das Konzept nach wie vor abstrakt. Bis zu diesem Punkt steht Tillichs Theorie wie folgt vor Augen: Aus der Trias von „Heteronomie“, „Autonomie“ und „Theonomie“ gestaltet er seine eigene Lösung eines ethischen Kernproblems, welches hier in problemgeschichtlicher Anknüpfung als „Formalismusproblem“ markiert wurde. Hierdurch wird einmal mehr deutlich, dass Tillichs Denken sich zwar durch eine kontextsensible Anschlussrationalität auszeichnet, die direkten Hintergründe dabei aber nur durch Bezüge zu seinem geistesgeschichtlichen Umfeld aufgehellt beziehungsweise vermutet werden können. Die Theonomie erhält bis zu diesem Punkt den Status einer – paradoxen – Vermittlung zwischen dem Festhalten an fremden Gesetzmäßigkeiten und dem Insistieren auf die individuelle Freiheit. Um es einmal wörtlich zu nehmen, stellt die „Gottesgesetzmäßigkeit“ in Tillichs Sicht keine überkommene Theokratie dar. Vielmehr vollendet sie das Ideal der Selbstbestimmung (Sittlichkeit) durch ihre Begründung in Gott (Absolutem). Das System ist damit konsequent fortgesetzt. In einem zweiten Schritt folgt vor diesem Hintergrund der schwierigste Teil des Abschnitts, indem Tillich mit der „Christonomie“ einen vierten Terminus einführt. Dadurch wird auf den ersten Blick das dreifache Schema zu einem vierfachen erweitert. Zudem wirkt die Erweiterung eigentümlich, weil sie eine weitere Steigerung der Theonomie suggerieren könnte. Letztere würde jedoch bedeuten, dass es gewissermaßen eine höhere Freiheit über der Freiheit gibt, welche die Theonomie nochmals übersteigt. Dass dies bei Tillich nicht anvisiert sein kann, soll nachfolgend gezeigt werden. Klar ist zunächst, dass Tillich das Verhältnis von Heteronomie und Christonomie analog zu dem von Autonomie und Theonomie aufbaut: Die Autonomie „vollendet“ sich – wie dargestellt – zur Theonomie. Parallel dazu formuliert Tillich

 M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 113.

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jetzt: „Die Heteronomie ist vollendet zur Christonomie.“444 Interpretativ zeigt sich überdies, dass der Begriff der Christonomie zwei Funktionen erfüllen soll. Zum einen differenziert Tillich mit der näheren Unterscheidung die systematische Trennung einer abstrakten (Grundlegung) und einer konkreten (Entfaltung) Ethik aus. Der erste Teil handelt von „der abstrakten Gestaltung des Sittlichen durch die Theonomie“, der zweite von der „konkreten Gestaltung des Sittlichen durch die Christonomie“445. Damit ist also wiederum die Aufteilung des „sittlichen Lebens“ in eine grundlegende (sittliche Person) und eine konkrete (sittliche Gemeinschaften) Ethik gemeint. Entscheidend ist indes die weitere Bestimmung beider Ebenen als Bewegung der sittlichen Personen. Für Tillich unterscheiden sich beide, indem sich auf der ersten Ebene (Theonomie) die Menschen als Personen in die konkreten Gemeinschaften begeben. Auf der zweiten Ebene (Christonomie) kehren sie – so lässt sich deuten – durch das wechselseitige Handeln in ihre Freiheit zurück.446 Christonomie steht auf einer ersten Ebene also dafür, dass der Mensch in seinem Handeln zugleich von der Gemeinschaft bestimmt ist. In der Christonomie wird diese Bestimmung – so lässt sich zuspitzen – nicht mehr als heteronom (fremdbestimmt), sondern als wechselseitige Liebe erfahren. Bis hierher kann allgemein festgehalten werden, dass die Christonomie als eine „richtig verstandene Heteronomie“ und die „Theonomie“ als „richtig verstandene Autonomie“447 zu fassen sind. Damit stellt sich im ersten Hinsehen ein relativ klares Viererschema heraus. Die konkreten Formen des Lebens werden als „christonom“ bestimmt und emanzipieren sich darin von „Heteronomie“ als fremder Gesetzgebung. Daneben stellt die „Theonomie“ die eigentliche „Autonomie“ dar. Zum andern liegt damit der Konnex von Freiheit und Liebe auf einer Ebene mit abstrakt und konkret sowie mit Theonomie und Christonomie. „Wie nun im theologischen Prinzip der Gegensatz von abstrakt und konkret ins Unendliche bleibt, so in der Ethik der von Freiheit und Liebe.“448 Die Christonomie steht also in dieser Anordnung „schematisch“449 für die konkrete Form des Sittlichen im interpersonalen und sozialen Handeln der Gemeinschaft, die sich unter dem Vorzeichen der liebenden Hinwendung Gottes – der Rechtfertigung – versteht. Die Theonomie steht schematisch für die individuelle Konstitution der sittlichen Person.

     

Tillich, Systematische Theologie 1913, 394. Tillich, Systematische Theologie 1913, 394. Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 394. Dienstbeck, Transzendentale Strukturtheorie, 167, Anm. 95. Tillich, Systematische Theologie 1913, 394. Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 246, Anm. 145.

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Für Tillichs Konzept muss deshalb deutlich gemacht werden, dass es ihm in beiden Beschreibungen – der Theonomie und der Christonomie – um die Vereinigung von abstraktem Prinzip und konkreter Handlung geht. Das zeigt eindeutig die Zusammenführung beider als Freiheit und Liebe im dritten Moment des theologischen Prinzips. Für das praktische Handeln ergibt sich daraus die Folge, daß der Gerechtfertigte unbedingt seinem Gewissen folgt (Theonomie), für die Bildung seiner Gewissensurteile aber in dauernder Aufmerksamkeit auf sein Leben in der Gemeinde beharrt (Christonomie) und drittens die vollendete Einheit von Freiheit und Liebe in der Vollendung erwartet.450

Obwohl Tillich die Liebe in eine stärkere Nähe zur Christonomie und zu den später behandelten Beziehungsformen (Familie, Gesellschaft und dergleichen) und die Freiheit in eine nähere Beziehung zur Theonomie rückt, kann letztlich nur die Vereinigung von Liebe und Freiheit – von beiden Seiten aus gedacht – dem theologischen Prinzip entsprechen. Demnach ist es einleuchtend, von verschiedenen Modi oder einer „konkreten“ und „abstrakten“ „Wirksamkeit“451 der Liebe zu sprechen. Anders gesagt: Wäre durch die Einführung der Christonomie ein vierfaches Modell hegestellt worden, dann wäre der fundamentale Bezug zum Schema Einheit – Trennung – Wiedervereinigung im theologischen Prinzip verlassen. Tatsächlich sind Theonomie und Christonomie hier als Modi zu verstehen, in denen das Auseinanderfallen von Prinzipienethik und Situationsethik gemäß dem theologischen Prinzip in der Liebe überwunden werden soll. Allein das Ineinander von Freiheit und Liebe in der Theologischen Ethik löst also zusammenfassend gesagt in Tillichs Sicht das Grenzproblem der Ethik. 4.2.2 Sittliche Motivation und Geistgemeinschaft Im zweiten Grundproblem (§ 9/58) der Ethik kommt die Frage zum Ausdruck, wie und wodurch das „sittliche Prinzip sittliches Motiv wird“452. Mit der Überschrift „Das sittliche Handeln“ und der Näherbestimmung „Gesetzesmoral und Persönlichkeitsmoral“453 schließt Tillich insofern an den vorigen Paragraphen an, als dort bereits das Gesetz als eine fremde Macht beschrieben wurde. Die dortigen Bestimmungen der Formen (biologistisch etc.) standen für eine heteronome Sittlichkeit. Während das sittliche Prinzip im Austarieren von abstrakter und unbedingt geltender Forderung (Autonomie – Theonomie) und der konkre   

Tillich, Systematische Theologie 1913, 394. M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 115. Tillich, Systematische Theologie 1913, 395. Tillich, Systematische Theologie 1913, 394, Anm. 346.

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ten Handlungssituation (Heteronomie – Christonomie) bestand, stellt sich nun die Frage nach dem Motiv dafür, nach diesem Prinzip zu handeln. Ähnlich wie beim „Eudämonismus“ nimmt Tillich mit dem Motivationsproblem wiederum eine Grundfrage der Ethik auf. Braucht die Motivation zum Handeln eine Fundierung in einem letzten Prinzip oder einem Absoluten? Ein klassischer theologiegeschichtlicher Ansatz wird diesbezüglich Augustinus und die Bedeutung des Liebesbegriffs für die theologische Ethik sein.454 In der grundsätzlichen ethischen Unterscheidung von zu gebrauchenden (uti) und zu genießenden (frui) Dingen erscheint die Gottes- und Nächstenliebe als fundamentale Handlungsorientierung. „Alle irdischen Güter dagegen sind solche, die wir als Mittel zum Zweck gebrauchen [...] (uti) sollen. Alles wahrhaft gute Handeln [...] ist aus der Liebe zu Gott, dem frui deo motiviert, und in dieser Liebe zu Gott ist die künftige Seligkeit schon jetzt gegenwärtig.“455 Dementsprechend steht das Motiv zum Handeln gemäß dem sittlichen Prinzip als dezidiert theologisches Problem zur Debatte.456 Tillichs Ziel liegt darin, zum einen eine „Gesetzesmoral“ und zum andern eine „Persönlichkeitsmoral“ in einer dritten, paradox erfassten Option zusammenzubringen. Dazu ist es, so Tillich, notwendig, auf der einen Seite die Gesetzesmoral in eine „Ethik der Gnade“ zu überführen, wohingegen die Persönlichkeitsmoral in eine „Ethik des Geistes“457 transformiert werden solle. Obwohl Tillich es nicht explizit sagt, bezieht sich diese Transformation offensichtlich auf die zwei Grundpole des theologischen Prinzips: Zum einen wird in der abstrakten Theonomie die Person als gerechtfertigt bestimmt, und diese handelt aus dieser Einsicht heraus, die sie im Gewissen als wirkliche Freiheit erfährt. Also stellt diese Transformation diejenige von Gesetzesethik in eine Ethik der Rechtfertigung dar. Zum andern soll die Per-

 Vgl. dazu Reuter, „Grundlagen und Methoden“, 33–35.  Reuter, „Grundlagen und Methoden“, 34.  Interessanterweise finden sich zwei alternative Terminologien für das Gegensatzpaar: Einmal erwähnt die Skizze im Anhang des Systems „Gesetzesmoral und Geistesmoral“, sodann bietet der Fließtext in der Überschrift die Kombination „Gesetzesethik und Geistesethik“. Vgl. Systematische Theologie 1913, 394, Anm. 346. Im vorliegenden Zusammenhang werden die Bezeichnungen „Gesetzesmoral und Persönlichkeitsmoral“ verwendet, weil sie vermutlich die letzten Änderungen Tillichs wiedergeben (vgl. Systematische Theologie 1913, 394, Anm. 346). Zudem wird in der weiteren Analyse deutlich, weshalb die beiden erstgenannten Begriffspaare eher verwirren. Bedeutsam sind die alternativen Termini, weil durch die Verwendung von „Moral“ anstelle von „Ethik“ und „Persönlichkeit“ an Stelle von „Geist“ nochmals bestimmte Akzentsetzungen vorgenommen werden: Es geht konkret um das Handeln gemäß einer bestimmten Moralvorstellung, und der Mensch wird weiterhin als Geist, als sittliche Persönlichkeit geführt.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 396. Dass die Persönlichkeitsmoral zur Ethik des Geistes werden soll, zeigt deutlich, warum das dritte Begriffspaar das präziseste ist.

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son in der Christonomie auf Basis der Rechtfertigung in der konkreten Gemeinschaft handeln, wofür wiederum die Liebe steht. Diese Gemeinschaft, so die folgende Deutung, wird von Tillich als Gemeinschaft des Geistes expliziert. Wie im sittlichen Prinzip deutlich wurde, existieren beide Formen der Ethik stets nur in ihrem Zusammenhang und können nicht als zwei künstlich getrennte Ansätze verstanden werden. Das Grundproblem wird dazu wiederum konsequent an der Struktur von abstrakter, konkreter und paradoxer Denkweise durchdekliniert, um im paradoxen Standpunkt eine Lösung vorzuschlagen. Dazu nimmt Tillich erneut eine genaue Abgrenzung von zwei gewöhnlich zur Orientierung genutzten Optionen vor. Die erste Option liegt in einer überwiegenden Orientierung an der abstrakten und unbedingten Forderung. Dafür steht in Tillichs Sicht das „Gesetz, von dessen unbedingt verpflichtender Kraft das Gewissen überführt wird.“458 Im direkten Bezug auf Kant sieht er in dieser Form eine Pflichterfüllung, in der alles darauf gerichtet sei, gegen die „Neigung“ und eigene „Selbstheit“459 anzukämpfen, um das Sittengesetz beziehungsweise den kategorischen Imperativ zu erfüllen. Allerdings bleibt diese einseitige Konzentration auf die Erfüllung des Gesetzes in der Sicht Tillichs ohne die konkrete Seite unvollständig und kann der – theologisch gedachten – Ethik keine Orientierung bieten. „[D]as Gesetz bleibt dem einzelnen gegenüber als Gesetz in Ewigkeit fremd.“460 Die Erfüllung der abstrakten Forderung könne zwar die „Negation der Selbstheit“ bedeuten und – so könnte man vereinfachen – das Handeln moralisch sinnvoll am Gegenüber ausrichten, dabei fehle jedoch die „konkrete, erlösende, am Kreuz wirksame“461 Negation. Die zweite Option liegt in der Überbetonung der Konkretheit. Diese bildet im Urteil Tillichs das andere Extrem. Es bestehe dabei nämlich die Möglichkeit, dass die Orientierung an einem übergeordneten Prinzip oder Gesetz überhaupt verneint wird. Diese Option führe in den Versuch der einzelnen Person, eine „Vollendung des Sittlichen“462 vollständig durch den reflexiven Bezug auf die eigene Freiheit herzustellen, sodass das Auseinanderfallen von Neigung und Pflicht für sich genommen schon geleugnet werde. Aus der Sicht des theologischen wie sittlichen Prinzips – so wird deutlich – ist auch dieses Extrem für Tillich inkonsistent. Denn auf diese Weise werde nicht beachtet, dass selbstverständlich auch die freie, sich selbst optimierende sittliche Persönlichkeit unter dem Ja und Nein der

    

Tillich, Systematische Theologie 1913, 395. Tillich, Systematische Theologie 1913, 395. Tillich, Systematische Theologie 1913, 395. Tillich, Systematische Theologie 1913, 395. Tillich, Systematische Theologie 1913, 395.

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Rechtfertigung und damit im Standpunkt der Sünde stehe: „Niemand erreicht durch reine Unmittelbarkeit die sittliche Norm.“463 Für ein Gleichgewicht beider Optionen auf Grundlage des sittlichen Prinzips, welches auf dem theologischen Prinzip fußt, bedarf es für Tillich auch bei der Frage der Handlungsmotivation einer paradoxen Zusammenfügung. Es ist im Rückblick auf die konsequent fortgeführte Struktur des theologischen Prinzips verständlich, dass explizit die versöhnende Handlung Gottes, in der das Absolute sich zum Relativen herabbegibt, die beiden Extreme in ihr Gleichgewicht aufhebt: Das übergeordnete Gesetz, die im Gewissen aufscheinende Forderung, wird durch das „Kreuz“464 konkret, sodass auch die Forderung selbst nicht mehr fremd sein kann. Freilich gilt dies alles durch das Paradox, denn insofern die Gnade Tat Gottes ist, steht sie dem einzelnen gegenüber, er bleibt in seiner Relativität erhalten; aber insofern das Kreuz Christi die Tat Gottes ist, ist der einzelne mit eingeschlossen in die Tat der Gnade. So wird aus der Gesetzesethik durch die Versöhnung Ethik der Gnade. Ebenso aber wird aus der Persönlichkeitsethik durch die Wiedergeburt Ethik des Geistes. Der einzelne, insofern er wiedergeboren, in die Sphäre des Geistes versetzt ist, ist in seiner neuen Unmittelbarkeit [...] eins mit der sittlichen Norm.465

Interpretativ können hier zwei zentrale Aspekte ausgemacht werden, die sich als Transformierung zunächst der „Ethik des Gesetzes“ in „Ethik der Gnade“, sodann der „Persönlichkeits- in eine Geistethik“ bestimmen lassen. Zunächst erörtert Tillich die Überwindung der ersten Extremform, die als „Gesetzesmoral“ ganz auf das abstrakte Gesetz konzentriert ist. Dazu nimmt er an dieser Stelle mittels „Ethik der Gnade“ eine terminologische wie inhaltliche Konturierung theologischer Ethik vor. Hierdurch lässt sich auch dieser Teil der Grundlegung Theologischer Ethik mit dem theologischen Prinzip und der darin hervorstechenden Rechtfertigung koppeln. Es kann festgehalten werden: Theologisch ist nach Tillich eine Ethik, sofern sie in der Gnade fundiert wird, die sich als Rechtfertigung äußert. Der Mensch ist in Tillichs Formulierung also nicht mehr auf das Gesetz, sondern auf die Hinwendung Gottes – auf das Evangelium – gerichtet. Darin aber müsse die „Relativität“ der einzelnen Person erhalten bleiben, womit wiederum auf die Grundlegung im theologischen Prinzip verwiesen ist. Wenn Tillich ausführt, die Individuen blieben in ihrer Relativität erhalten und stünden zugleich unter der Rechtfertigung, so ist hierein die Spannung der Rechtfertigung aus Ja und Nein genau abgebildet. Der gerechtfertigte Mensch ist demnach hineingenommen in die Gnade; er bleibt aber gleichzeitig ein relatives

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 395.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 395.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 395 f.

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Wesen, das auf die Hinwendung Gottes angewiesen ist. Mit der ersten Transformation ist die auf das abstrakte Moment fokussierte Gesetzesmoral in eine Ethik der Gnade respektive der Rechtfertigung überführt. Sodann transformiere sich die einseitig auf die konkrete Seite gerichtete „Persönlichkeitsmoral“ in eine „Ethik des Geistes“. Diese Umstellung ist schwieriger zu greifen, weil Tillich mit der „Wiedergeburt“ einen weiteren Begriff einführt. Er vermerkt allerdings selbst, dass sich das Verhältnis von Gnaden- und Geistethik dem Paragraphen zur Wiedergeburt in der Dogmatik entnehmen lasse. Dort bestimmt Tillich die Wiedergeburt – neben der Auferstehung Jesu – als das zweite Moment der Tat Gottes am Menschen.466 Das Verhältnis von Gnade und Geist wird an der entsprechenden Stelle der Dogmatik implizit ganz auf die Theologische Ethik bezogen: Diese andere Seite der Tat Gottes in Christo ist die Wiedergeburt; sie überwindet den selbstischen Willen und den Widerstand gegen Gott, sie verwandelt ihn in einen Willen der Hingabe an Gott und seine Einheit, sie schafft die Gemeinschaft mit Christus [...] und gibt teil an den Gütern des Gottesreichs, Seligkeit in der Einheit mit Gott, sittliche Freiheit gegenüber der Welt, Gemeinschaft der Liebe mit allen, die in gleicher Freiheit stehen467.

So liegt eine dezidiert moraltheoretisch ausgerichtete Anwendung des theologischen Prinzips vor: Das Einssein mit der sittlichen Norm wird gleichgesetzt mit der Rückkehr des Menschen in seine Unmittelbarkeit (Intuition), also in seine Einheit mit Gott. Diese Einheit kann aber auf dem theologischen Standpunkt, der die Sünde voraussetzt, allein paradox abgebildet, nicht vollends erreicht werden. Durch die Hinwendung Gottes in der Gnade hat der Mensch in seiner „sittlichen Freiheit“ Anteil an dem, was im Reich Gottes vollendet sein wird. Durch die Ethik des Geistes wird dies in der endlichen Welt antizipiert. Summarisch gesehen, ist es für Tillich Aufgabe der theologischen „Pflichtenlehre“, im Paradox die reine Fokussierung auf die individuelle Sittlichkeit der Person oder die Ausrichtung allein auf das Gesetz zu überwinden. Dies ist in seiner Sicht nur denkbar in der Orientierung an der christologischen Einsicht in die Gnade und den Geist, der durch die Rechtfertigung im Menschen wirksam wird. Eine bemerkenswerte werkgenetische Konstante darf hier nicht unerwähnt bleiben: Tillich wird im dritten Band seines späten Hauptwerks, der Systematischen Theologie, exakt in der Pneumatologie die Durchführung der Ethik anset-

 Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 362.  Die Wiedergeburt wird sodann von Tillich auch konsequent in drei Momente anhand des theologischen Prinzips strukturiert: das abstrakte bilde der Glaube, das konkrete die Liebe (was überdies der Christonomie entspricht) und das absolute die Hoffnung. Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 363.

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zen.468 Als fünfter Teil des Systems insgesamt bietet die Pneumatologie ebenfalls eine Grundlegung der Ethik. Unter der Überschrift „Das Leben und der Geist“ skizziert Tillich parallel zum vorliegenden Frühwerk das Verhältnis von „Religion“, „Kultur“, „Moralität“469 und befasst sich mit der Frage nach der Möglichkeit eines moralischen Gesetzes.470 Zwar wird in der Systematischen Theologie von 1913 der Paragraph zur Wiedergeburt als letzter Teil der Christologie und damit unmittelbar vor der Pneumatologie platziert. Dennoch gibt Tillich der Ethik einen deutlich pneumatologischen Zuschnitt, nämlich als Ethik des Geistes beziehungsweise der Sittlichkeit, die eine Gemeinschaft des Geistes ermöglicht. Dies hängt wiederum mit der bisherigen Bedeutung und Verortung der Geistlehre im Blick auf die Ethik zusammen. Wie an den entsprechenden Stellen erwähnt, verortet Tillich erstens die „Grundlegung der theologischen Ethik“ im pneumatologischen Teil der Dogmatik. Hier stand sie für die „Durchsetzung“471 des theologischen Standpunkts innerhalb der Geschichte, und zwar bezogen auf die Gemeinschaft der auf dem Reflexions- oder Sündenstandpunkt Stehenden. Zweitens wurde hervorgehoben, dass die ordo salutis (bei Tillich beschränkt auf Bekehrung, Buße, Heiligung,) von Tillich nicht klassisch in der Pneumatologie und auch nicht in der Christologie der Dogmatik platziert wird, sondern eben im ersten Teil der Ethik zum religiösen Leben der Menschheit.472 An der vorliegenden Stelle zum Motiv des sittlichen Handelns wird demnach ein dritter Schritt in der pneumatologischen Ausrichtung der Theologischen Ethik vermerkt: die Ermöglichung der Gemeinschaft der Gerechtfertigten im Geist als paradoxe Lösung einseitiger Gesetzes- oder Individualitätsmoral.

 Einleitend zur späten Pneumatologie vgl. Danz, „Gegenwart des göttlichen Geistes“, grundlegend zur Pneumatologie als Entfaltung christologisch begründeter Sozialethik bei Tillich vgl. wiederum den Aufsatz Falk Wagners, „Christus und Weltverantwortung als Thema der Pneumatologie Paul Tillichs“.  Vgl. ST III, 506–588. Dass der späte Tillich den Begriff „Moralität“ anstelle der „Sittlichkeit“ verwendet, wird schlichtweg daran liegen, dass er die Systematische Theologie während der amerikanischen Zeit verfasste und es für Sittlichkeit nicht wirklich ein englisches Pendant gibt. Zur verwickelten Entstehung der ST vgl. Friedrich W. Graf, „Zur Publikationsgeschichte von Paul Tillichs ‚Systematic Theology‘, Teil 1, in: ZNThG 23/2 (2016), 192–217/Teil 2, in: ZNThG 24/2 (2017), 51–121.  Vgl. nochmals bes. ST III, 520–525, wo Tillich die Grundlagen und die Durchführung der Theologischen Ethik in der Geistlehre entfaltet. Hier entwickelt er zudem die Formel des „Moralischen Imperativs“ (siehe dazu oben: Einleitung: A.).  Danz, „Gegenwart des göttlichen Geistes“, 231. Siehe dazu oben: Teil 1: B.3.  Siehe oben: Teil 1: B.4.1. Vgl. dazu nochmals G. Neugebauer, Christologie, 285, der diesen Aspekt zuerst hervorgehoben hat; ferner: Danz, „Gegenwart des göttlichen Geistes“, 231.

4 Theologische Ethik: Nächstenliebe als Anerkennung der Person

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4.2.3 Aneignung des sittlichen Prinzips Die Frage des dritten ethischen Zugriffs lautet: Wie kann sich der Mensch das sittliche Prinzip aneignen? Genauer gefragt: „Wie wird das sittliche Prinzip sittlicher Besitz?“473 Diese Frage (§ 10/59) zur Grundlegung der Ethik ist das klassische Thema der „Tugendlehre“ – sie zielt auf die Konstitution und auf die Konditionierung des Menschen durch bestimmte Verhaltensweisen, Übungen und durch persönliche Entwicklung. Während die Güterlehre fragt „Was ist das Ziel meiner Handlung?“ und die Pflichtenlehre fragt „Was ist die universelle Regel meines Handelns?“, fragt die Tugendethik „Wie sollte oder könnte ich sein beziehungsweise handeln?“474 Das dritte, „tugendethische“ Grundproblem der Ethik wird von Tillich allerdings präzisiert und als Frage nach der Herausbildung der bisher erörterten Sittlichkeit im Menschen bestimmt. Obwohl – wie eingangs dargestellt – Tillich das sittliche Prinzip, das sittliche Motiv und die sittliche Bildung selbst in die Nähe des Schemas aus Güter-/Pflichten- und Tugendethik rückt, liegen die Dinge komplizierter. Er übernimmt hier nicht unbedacht ein Schema, sondern nutzt die Dreiteilung für eine lose systematische Sortierung, um in den einzelnen Aspekten dann seinen ganz eigenen Zugang zu legen. Dazu gibt er ein weiteres Mal zwei alternative Typen vor, die für ihn eine erhebliche Neigung zum abstrakten oder konkreten Moment des theologischen Prinzips aufweisen. Die Struktur bleibt also konstant, und das Paradox fungiert wiederum als vermittelnde Lösung beider Extremfälle. Gegenüber stehen sich ein asketischer und ein ästhetischer Mensch, die den abstrakten beziehungsweise konkreten Typus repräsentieren. Der abstrakte Typus des Asketismus versuche zunächst, sich aller humanen Bindungen so weit als möglich zu entledigen und sämtliche „Beziehungen aufzugeben“475, um allein eine Beziehung mit Gott zu perfektionieren. Den Grund hierfür leitet Tillich aus seiner Konstruktion der Rechtfertigung als zentralem Ausdruck des theologischen Prinzips ab. Die Rechtfertigung – so wurde gezeigt – äußert sich als zweifaches Urteil: Der Mensch werde stets im Erlösungshandeln Gottes zugleich verneint und bejaht.476 Verneint wird der Standpunkt der Sünde, bejaht wird der Einzelne als relatives Individuum. Rückblickend auf die vorigen Überlegungen zum Gesetz und zur unbedingten Forderung, die dem Einzelnen – eben abstrakt – entgegentreten, zeigt sich beim Asketismus eine ähnliche Linie: „Für den abstrakten

   

Tillich, Systematische Theologie 1913, 396. Vgl. instruktiv: Reuter, „Grundlagen und Methoden“, 24–44. Tillich, Systematische Theologie 1913, 397. Siehe oben: Teil 1: B.2.5 und 3.

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Standpunkt bedeutet die sittliche Norm eine abstrakte Verneinung des einzelnen als solchen.“477 Nun bestehe das gesamte Leben des Einzelnen in „Beziehungen“ der „Sündhaftigkeit“478, und dem asketischen Mensch erscheint als einziger Ausweg, sich von all diesen Beziehungen zu lösen. Dadurch verneine er oder sie die Welt, um sich keinen weltlichen Gütern hinzugeben. Historisch werde dies in einer Entwicklung von katholischer „Weltverneinung“ hin zu einer protestantischen „Weltverachtung“ greifbar, die sich insbesondere in der „Nichtachtung“479 von Gütern äußere. Auf der einen Seite wird Tillich demnach eremitische oder monastische Lebensformen im Blick haben. Für den Protestantismus auf der anderen Seite fügt er etwas beiläufig die Unterscheidung zwischen „Reichgottesarbeit“ und „Kulturarbeit“480 ein. Mit der „Reichgottesarbeit“ ist ebenjene Verneinung gegenüber allen weltlichen Gütern angesprochen. Da Tillich es nicht explizit macht, lässt sich wiederum nur vermuten, dass er zu Gütern materielle Besitztümer genauso zählt wie möglicherweise ein besonderes Wissen in bestimmten weltlichen Bereichen. „Reichgottesarbeit“ steht also hier exemplarisch für einen Asketismus, der ganz dem abstrakten Moment des theologischen Prinzips zuneigt. In der „Reichgottesarbeit“ kommt für Tillich der Versuch zum Austrag, das Leben vollständig auf die Religiosität auszurichten und jegliche Kulturformen des profanen Lebens auszublenden. Als Neigung zum abstrakten Moment wird dies von Tillich verstanden, weil der Mensch darin vollständig auf sein religiöses, eben auf das Reich Gottes ausgerichtete Handeln konzentriert ist. Dass das daraus folgende Handeln keineswegs innerlich bleibt, lässt sich schon daran ablesen, dass Tillich mit der Kategorie der Arbeit am Reich Gottes in auffällige Nähe zu der zeitgenössisch jungen Bewegung des Religiösen Sozialismus rückt, in der der Reich-Gottes-Begriff eine überragende Bedeutung für die ethische Handlungsbegründung erhielt.481 Hierfür spricht auch der eschatologische Sinn des Reich-Gottes-Gedankens. Die Handlungsmotivation,

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 396.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 397.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 397.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 397.  Dies kommt schon bei den drei bedeutendsten Denkern des Religiösen Sozialismus um 1900 – Christoph Blumhardt (1842–1919), Hermann Kutter (1863–1931) und Leonhard Ragaz (1868–1945) – zum Ausdruck. Vgl. Christoph Blumhardt, Ansprachen, Predigten, Reden, Briefe 1865–1917, Bd. I: Von der Kirche zum Reich Gottes (1865–1889), Neue Texte aus dem Nachlaß, hg. von Johannes Harder, (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1978); Hermann Kutter, Die Revolution des Christentums (Jena: Eugen Diederichs, 21912); Leonhard Ragaz: Dein Reich komme. Predigten, Basel, 2 Bde. (Erlenbach-Zürich: Rotapfel-Verlag, 31922); „Religiös und sozial“, in: Arnold Pfeiffer (Hg.): Religiöse Sozialisten (Olten: Walter 1976), 153–166; zum Überblick vgl. Daniela Dunkel, „Religiöser Sozialismus“, TRE 28 (1997), 504–512.

4 Theologische Ethik: Nächstenliebe als Anerkennung der Person

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so lässt sich interpretieren, äußert sich im Versuch, in dieser Welt auf die Vollendung im Reich Gottes hinzuarbeiten, dies aber stets im Bewusstsein, die Vollendung nicht selbst und in dieser Welt erreichen zu können. In diese Richtung weist beispielsweise auch die deutlich auf missionarisches Handeln gerichtete Verwendung des Begriffs bei Karl Barth im Jahr 1909 und damit im nahen zeitlichen Umfeld von Tillichs Gebrauch.482 Dieser „eschatologische Vorbehalt“ wird schließlich in Tillichs eigenem Ansatz eines Religiösen Sozialismus nach dem Ersten Weltkrieg theoriebildend wiederauftauchen.483 In der „Reichgottesarbeit“ führt nun die Bejahung jener Güter in Tillichs Sicht zu einem „böse[n] Gewissen“. Daraus resultiere aber – ausgehend vom theologischen Prinzip – ihre Verneinung: „Gewisse an sich erlaubte Dinge werden als prinzipiell gefährlich verboten“484. Es wird also versucht, schlecht erscheinende Dinge des weltlichen Bezugs als verboten herauszustellen, weil darin eine Hinderung an der religiösen Ausrichtung des Lebens gesehen wird. Diese negative Konnotation weltlicher Güter führt in Tillichs Urteil zum schlechten Gewissen, welches dann wiederum die radikale Verneinung der Güter initiiert. Dies lässt sich derart interpretieren, dass Tillich hinter der besonders strengen religiösen Lebensweise und der gleichzeitigen Verachtung von weltlichen Dingen wiederum das Motiv einer völligen Selbstbegründung der eigenen Sittlichkeit sieht. Weil sich folglich das „böse Gewissen“ aufgrund der Verwendung von Gütern nicht durch deren abwertende Verneinung auflösen lässt, „schafft auch diese Form der Sittlichkeit keine wahrhaft sittliche Freiheit.“485 Im Gegenüber zur „Reichgottesarbeit“ steht – so lässt sich deuten – dann die „Kulturarbeit“ implizit für eine positive Haltung gegenüber den kulturellen For Vgl. Karl Barth, „Moderne Theologie und Reichgottesarbeit“, in: ZThK 19 (1909), 317–321.  Vgl. einschlägig: Tillich, „Kairos I“, in: Der Widerstand von Raum und Zeit. Schriften zur Geschichtsphilosophie, Bd. VI, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk), 1963, 9–28; ferner ST III, 852–899. Zur Bedeutung der Eschatologie und der Kategorie des Reiches Gottes für die Ethik Tillichs vgl. Hermann, Der Reich-Gottes-Begriff im Denken Paul Tillichs; „Eschatologie als Zeitdiagnostik. Paul Tillichs Studie zur religiösen Lage der Gegenwart von 1926 im Kontext ausgewählter Krisenliteratur der Weimarer Ära“, in: Gert Hummel (Hg.), New Creation or Eternal Now? Is there an Eschatology in Paul Tillich’s Work?/Neue Schöpfung oder ewiges jetzt? Hat Paul Tillich eine Eschatologie? Beiträge des III. Internationalen PaulTillich-Symposions in Frankfurt a.M. 1990 (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1991), 57–126 und die weiteren Beiträge im genannten Band; Christophersen, Kairos; Harald Matern: „Eschatologie und Ethik bei Paul Tillich“, in: Christian Danz/Werner Schüßler/Mary Ann Stenger/Marc Dumas/ Erdmann Sturm (Hg.), Ethics and Eschatology (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2015), 19–39 sowie im selben Band, 1–17: Christian Danz, „‚Ethik des Reiches Gottes‘. Moralität und Eschatologie bei Paul Tillich.“ Sieh dazu unten: Teil 2: B.2.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 397, Anm. 357.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 397.

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B Die Entfaltung von Freiheit und Nächstenliebe

men, die dem Menschen als freiem Wesen in der Welt gegenüberstehen. Im Terminus „Kulturarbeit“ kommt gegenüber der „Reichgottesarbeit“ wiederum eine deutlich kulturaffinere „Ausrichtung“ zur Geltung, welche man mit dem später geprägten Begriff eines „liberalen“ – „Kulturprotestantismus“486 in Verbindung setzen könnte.487 Auch dadurch erscheint die Gegenüberstellung der beiden Begriffe „Reichgottesarbeit“ und „Kulturarbeit“ sinnfällig. Aus dieser Perspektive ließe sich Tillich dann im Rückgriff auf die apologetischen Grundlegungen so verstehen, dass die dem Menschen zur Verfügung stehenden Güter sehr wohl aufgenommen und verwendet werden können.488 Dafür spricht auch Tillichs spätere Einfügung, die die „Kulturarbeit“ ausdrücklich als „Gegensatz“489 zur „Reichgottesarbeit“ kennzeichnet. Sofern das Rechtfertigungsprinzip als Grundlage gilt, ist dabei allerdings vorauszusetzen, dass auch in der positiven Aufnahme kultureller Güter ihre gleichzeitige Bejahung und Verneinung zu betonen ist.490 Das bedeutet – um ein Beispiel zu geben – für die Verwendung der Technik, dass diese nicht als Zweck für sich oder die Selbstoptimierung des handelnden Subjekts verstanden wird, sondern letztlich auf die Abbildung des Reiches Gottes in der Welt zielt.491 Entsprechend steht an dieser Stelle zwar die „Reichgottesarbeit“ als Folie für einen Asketismus. Theologiegeschichtlich lässt sich Tillich dennoch nicht einfach der stärker kulturaffinen Seite der „Kulturarbeit“ zuordnen. Vielmehr betont er durch das Prinzip der Rechtfertigung ebenso die negative Schlagseite der Nutzung kultureller Güter. Dem asketisch-abstrakten steht sodann der ästhetizistische Typus gegenüber. Dieser versucht in Tillichs Sicht, sich den konkreten Gütern vollständig hinzugeben. Hier komme es zu dem anderen Extrem, indem „alles Relative“492 bejaht

 Zur Begriffsgeschichte des schillernden Begriffs „Kulturprotestantismus“, zu dem im Anschluss an Albrecht Ritschl für gewöhnlich besonders Ernst Troeltsch, Martin Rade und Adolf von Harnack gerechnet werden, vgl. Friedrich W. Graf, „Kulturprotestantismus. Zur Begriffsgeschichte einer theologiegeschichtlichen Chiffre“, in: Hans Martin Müller (Hg.), Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums (Gütersloh: Mohn, 1992), 21–77.  Mit dem Begriff kann z. B. allgemein die geistesgeschichtliche Bedeutung des Neuprotestantismus als Teil einer „modernen welt- und lebensbejahende[n]“ (Volker Drehsen, „Neuprotestantismus“, TRE 24 (1994), 363–383, 372) Haltung ausgedrückt werden. Zur Verwendung bei Herrmann vgl. Ethik, besonders 191–213: „§ 27. Der Dienst an der Kulturgesellschaft“.  Siehe dazu oben die Erörterung der Geistesfunktionen (Teil 1: B.2.4.2).  Tillich, Systematische Theologie 1913, 397, Anm. 356.  Vgl. im Vorgriff Tillichs Lösung des Gegensatzes von Askese und Ästhetik im Paradox im selben Paragraphen: Systematische Theologie 1913, 398.  In diesem Sinne wird die Technik auch unten in der „Kulturethik“ (Teil 1: B.4.3) wiederaufgenommen.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 397.

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werde. Die „sittliche Persönlichkeit“493 handelt hier gegensätzlich zur asketischen, indem sie sich jeglicher Eingrenzung individueller Freiheit zu entledigen versucht. Alles wird in Tillichs Deutung hier darauf konzentriert, keine Bindung einzugehen, die die Freiheit der eigenen Person in irgendeiner Weise begrenzen könnte. Diese Lebensanschauung lässt sich für Tillich mit einer ästhetischen Anschauung vergleichen, weil sowohl die sittliche als auch die ästhetische Anschauung gewissermaßen über den Dingen der relativen Welt schwebe.494 Gerade aber, weil eine solche Freiheit jegliche Bindung an die „Weltbeziehungen“ ablehne, führe sie in das Gegenteil, welches Tillich mit der „Selbstheit“495 konturiert und implizit mit dem Liebesbegriff aus dem „sittlichen Prinzip“ verknüpft. Tillich argumentiert, dass diese ästhetische Form nicht eigentlich konkret werden kann, weil sie nicht bereit ist, bestimmte Bindungen einzugehen. Im Umkehrschluss – so kann gedeutet werden – wird die eigentliche Freiheit (Theonomie) der Person so verhindert, weil sie in der eigenen Selbstheit stehen bleibt und nicht zur Liebe (Christonomie) in der Gemeinschaft wird. Nimmt man von hierher beide Positionen – den Asketismus wie den Ästhetizismus – zusammen, ergibt sich, dass sie jeweils für sich genommen dem sittlichen Prinzip – dem Austarieren zwischen Freiheit und Liebe – nicht entsprechen können, weil sie sich ganz auf eine Seite fokussieren. In der Lösung beider Einseitigkeiten zeigt sich, dass die Beziehung von persönlicher Freiheit und handelnder Liebe in der Sozialität der Geistgemeinschaft für Tillich wiederum im Rechtfertigungsprinzip liegt. Das Ja der Rechtfertigung bejahe den Menschen als relatives Wesen, ohne ihn in die Sphäre des Absoluten zu erheben, so präzisiert es Tillich am Ende nochmals. Dahingegen stehe das Nein der Rechtfertigung für die Freimachung vom Relativen, insoweit relative Formen, seien es Güter, seien es Beziehungen, über den Gerechtfertigten nicht verfügen. Der Balanceakt zwischen Abhängigkeit und gleichzeitiger Freiheit von der Bezugswelt des Menschen bleibt die grundlegende und spannungshafte Bestimmung des gerechtfertigten Menschen. Tugendethisch könnte man in Tillichs Perspektive schließen, dass die Ausbildung der Handlungsmotivation im Menschen darin besteht, sich das Bewusstsein für jene Spannung anzueignen.

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 397.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 397.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 397.

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B Die Entfaltung von Freiheit und Nächstenliebe

4.3 Nächstenliebe: Zentrum der Theologischen Ethik Mit der Erörterung des „neutestamentlichen“ Liebesbegriffs (§ 11/60) tritt Tillich unter der Überschrift „Die Grenzen der sittlichen Persönlichkeit (Persönlichkeit und Liebe)“496 in das theologische Zentrum der Ethik ein. Dem Paragraphen kommt eine Schlüsselfunktion zu, weil er der Ethik erstmals in Tillichs Werk eine biblische, d. h. am jesuanischen Doppelgebot der Liebe (Mk 12,29–31; Mt 22,36–40) orientierte Fundierung gibt. Diese Fundierung setzt Tillich exakt am Übergang zur konkreten Sittlichkeit, die dann auf dieser Basis die Bereiche des sittlichen Lebens beleuchtet. Um Tillichs Bezugnahme auf das neutestamentliche Liebesgebot zu erörtern, werden in diesem Abschnitt systematisch zwei Aspekte in den Blick genommen. Erstens geht es um die strukturelle Verortung der Nächstenliebe im System und zweitens um Tillichs spezifische Fassung des christlichen Liebesbegriffs. Im Blick auf die strukturelle Verortung der Nächstenliebe ist zunächst festzuhalten, dass Tillich im Aufbau der Ethik seine Konzeption der Selbst- und Nächstenliebe an das Ende der „abstrakten Sittlichkeit“ setzt. Letztere – die abstrakte Sittlichkeit – hatte die Konstituierung der sittlichen Person anhand der bekannten Dreiteilung aus Güter-, Pflichten- und Tugendethik umschrieben. Die sittliche Person erhebt sich nach Tillich über ihre Unmittelbarkeit und erreicht damit die im absoluten System skizzierte Freiheit.497 Diese Freiheit ist jedoch für ihn auf dem theologischen Standpunkt immer nur eine gebrochene und konstituiert fortan gemeinsam mit der Liebe das sittliche Prinzip. Neben der abstrakten Freiheit (Theonomie) der einzelnen Person stehen nun die konkreten Gemeinschaften (§§ 12–17/61–67) – Familie, Kirche und dergleichen – für die Formen der Liebe (Christonomie), in denen die gerechtfertigten Personen wechselseitig handeln. Hierdurch wiederum kehrt nach Tillich die sittliche Person in die Unmittelbarkeit zurück.498 Der fragliche Paragraph zur Nächstenliebe stellt demnach die Schaltstelle zwischen abstrakter sittlicher Person und den konkreten Handlungsfeldern der Gemeinschaft dar. In diesem Verhältnis von Person und Gemeinschaft oder Freiheit und Liebe bewegt sich die gesamte Ethik. Die Sphären der menschlichen Praxis in den darauffolgenden Abschnitten werden hierdurch als Ausstrahlungen des sittlichen Prinzips verständlich.499 Einen zusätzlichen Aspekt in der Architektur stellt Tillichs Präzisierung des Paragraphen durch die „Grenzen der sittlichen Persönlichkeit (Persönlichkeit und  Tillich, Systematische Theologie 1913, 398 f.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 428.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 429. Siehe die Erörterung der entsprechenden Paragraphen unten: Teil 1: B.4.3.  Siehe unten: Teil 1: B.4.3.

4 Theologische Ethik: Nächstenliebe als Anerkennung der Person

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Liebe)“ dar. Dieser Punkt muss mit dem Schlussparagraphen zu den Gemeinschaftsformen (§ 18/67) in Zusammenhang gebracht werden, um die grundlegende Bestimmung der Spannung von Person und Gemeinschaft auch hier in den Blick zu bekommen. In diesem Abschnitt zur Gemeinschaft bestimmt Tillich wiederum die „Grenzen der sittlichen Gemeinschaft und die sittliche Wahrhaftigkeit“500, nachdem er die einzelnen Sozialformen (Gesellschaft, Staat und dergleichen) problematisiert hat. Wie eng diese beiden Grenzpunkte – der individuelle und der kollektive – verzahnt sind, zeigt sich prägnant an den jeweiligen Eingangsthesen: Auf der einen Seite führe die Ethik, sofern sie sich „ausschließlich auf die Bildung der sittlichen Persönlichkeit“501 ausrichte, in eine „egozentrische Verkehrung“. Denn damit funktionalisiere die Person die Liebe als „Mittel zur eigenen Vollendung“502. Auf der anderen Seite führe die Ethik, sofern sie sich allein „auf die Teilnahme an der sittlichen Gemeinschaft“ richte, in „Unwahrhaftigkeit“.503 Diese beiden Pole – Person und Gemeinschaft – stellen also sowohl systematisch als auch darstellerisch die Klammern (§§ 11/60 und 18/67) dar, zwischen denen dann die konkreten Bereiche des menschlichen Lebens (Familie, Gesellschaft und dergleichen) verortet werden. Das genaue Verhältnis von Grenzen der sittlichen Person und denen der Gemeinschaft erklärt Tillich wiederum erst an späterer Stelle im Paragraphen zu den Grenzen der Gemeinschaft: Die sittliche Persönlichkeit hat die Grenze ihrer abstrakten Selbständigkeit in der sittlichen Liebe [Formen wie Familie etc.]. Dies ist die Bewegung des sittlichen Prinzips vom Abstrakten zum Konkreten. Die sittliche Liebe hat die Grenze ihrer konkreten, Gemeinschaft stiftenden Kraft in der sittlichen Wahrhaftigkeit. Dies ist die Bewegung des sittlichen Prinzips vom Konkreten zum Abstrakten.504

Hierbei sind zwei Elemente zentral. Zum einen legt Tillich ein Verhältnis beider Pole fest, in dem keine der beiden Seiten die andere aufhebt. Als Voraussetzung von Tillichs Darstellung der einzelnen Beziehungen im humanen Leben ist das hier vorab festzuhalten. Aus der Interpretationsperspektive lässt sich so ein mögliches Missverständnis vermeiden, als ob Tillich der einzelnen Person ihren Wert durch die Betonung der Gemeinschaft nehmen wolle. Zwar liegt sein Hauptaugenmerk deutlich auf der Sozialität der Gerechtfertigten, weil er gemäß den apologetischen Vorarbeiten in der Vereinzelung die akute Gefahr der geistigen Situation des Indivi-

    

Tillich, Systematische Theologie 1913, 413. Tillich, Systematische Theologie 1913, 413 (im Original kursiv). Tillich, Systematische Theologie 1913, 398 (im Original kursiv). Tillich, Systematische Theologie 1913, 413 (im Original teils kursiv). Tillich, Systematische Theologie 1913, 414.

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duums sieht. Dem aber durch die Aufhebung der sittlichen Persönlichkeit zu begegnen, wäre keine Lösung, sondern ebenso widersprüchlich. Zum andern macht die dialektische Gegenüberstellung von „Abstrakt“ und „Konkret“ nochmals den Aufbau der Ethik anschaulich. So zeigt sich, dass sich die Bewegung der einzelnen Personen von ihrer abstrakten Unmittelbarkeit (Freiheit) in die konkreten Formen (Liebe) und vice versa vollzieht. Die Menschheit – so lässt sich sagen – geht Formen der Beziehung ein und gestaltet diese nach dem sittlichen Prinzip, um von der Sünde (Reflexion) in Richtung der Intuition zurückzudrängen. Mit dieser Differenzierung zweier ethischer Extreme, die vom sittlichen Menschen in ein Gleichgewicht gebracht werden sollen, trifft Tillich eine Grundentscheidung, die wiederum bis in das Spätwerk konstant bleiben wird. Eine zentrale Aufgabe theologisch-ethischen Denkens besteht für ihn darin, die wechselseitige Spannung von Personalität und Sozialität oder „Individuation und Partizipation“505 auszuloten. Tillich rekurriert hiermit implizit auf die Polarität von Freiheit der Person und Liebe in der Gemeinschaft. Somit ist in der einleitenden Strukturierung der Ethik der Nächstenliebe vorausgesetzt, dass sie durchweg das wechselhafte Verhältnis von Person und Gemeinschaft zu bedenken hat. Im Blick auf Tillichs Liebesbegriff kommen sodann drei grundlegende Aspekte zum Ausdruck: Zum einen wird das Verhältnis von sittlichem Prinzip (Freiheit und Liebe) und den Beziehungsformen präzisiert, zum andern die Rechtfertigung als Grundlage der Gemeinschaft begründet. Drittens wird die Äußerung der Liebe näher als „Wille“ zur eigenen und der „Seligkeit“ der Nächsten bestimmt. Mit der ersten Präzisierung schließt Tillich direkt an die zuvor noch allgemein gehaltene Polarität von sittlicher Person und handelnder Liebe in der Gemeinschaft an. Das sittliche Prinzip enthält die beiden Momente Freiheit und Liebe in sich; es entsteht nun das Problem, wie das Verhältnis beider zu bestimmen sei. Da im absoluten System die Selbstbestimmung der Freiheit als Wesen der Sittlichkeit erkannt ist, wird die nächstliegende Antwort die sein, daß die Freiheit [...] das grundlegende Moment ist und die Liebe [...] das notwendige Mittel [...] zur Seligkeit.506

Aus diesem Grund hängt das Verständnis der christlichen Äußerung von Nächstenliebe grundsätzlich an der Verhältnisbestimmung der beiden prinzipiellen Pole menschlicher Sittlichkeit: der individuellen Freiheit und der sozialen Ausgestaltung der Liebe. Gemäß den fundamentaltheologischen Vorarbeiten ist Sittlichkeit für Tillich die Selbstbestimmung als Wesen der Freiheit. Daneben wird die Liebe als aku-

 Tillich, Mut zum Sein, 66–67, bes. 68 f.; ferner nochmals exemplarisch die Darstellung der Geistgemeinschaft in ST III (1963), bes. 632–635.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 398.

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tes Handeln in den Gemeinschaftsformen erst an dieser Stelle und damit in der Theologischen Ethik erstmals thematisiert. Die Charakteristik von Tillichs Zugriff besteht nun in der Frage nach der „Liebe als Mittel zur eignen Seligkeit.“507 So wird offenkundig, dass der – man könnte sagen individualistische – Versuch, allein auf sich selbst gerichtet (durch Reflexion oder Werke) die individuelle Freiheit zu verwirklichen, notwendig scheitert. Hiermit ist eine Form von Sittlichkeit gemeint, welche nur auf dem Standpunkt der Intuition realisiert werden könne, denn dort bestehe ebenjene Einheit mit der Wahrheit.508 Nach Tillich ist diese Einheit – wie durchweg hervorgehoben – auf dem theologischen Standpunkt und nach Eintreten der Reflexion nicht mehr gegeben. Eine Ethik, welche auch auf dem theologischen Standpunkt versucht, sich ganz auf die Ausbildung der eigenen Person und somit der eigenen Selbstbestimmung als Sittlichkeit zu fokussieren, sieht nach Tillich das Handeln der Liebe in den einzelnen Beziehungen nur als notwendiges Mittel, die eigene Seligkeit zu erreichen. Zwar könne „dieser Ethik“, so veranschaulicht er diesen Punkt, „nicht vorgeworfen werden, daß sie es mit der Liebe nicht ernst meine, vielmehr [...] kann sie die tiefsten sittlichen Werte schaffen.“509 Allerdings führt sie für Tillich dazu, dass die „einzelne Person im Zentrum steht; es entsteht die egozentrische Form der Ethik“.510 Ein Ansatz der Sittlichkeit in dieser Form widerspricht nun gänzlich einer Ethik, deren Grundlage die Gemeinschaft der Gerechtfertigten darstellt. Außerdem schließt dieser Einsatz bei der auf die Gemeinschaft gerichteten Rechtfertigung nicht nur sinnvoll an die vorige Grundpolarität von Person und Gemeinschaft an, sondern trägt genauso Tillichs Hinweis Rechnung, der die Vereinzelung als prekär herausstellt. Es ist dieser Aspekt – der Zusammenhang von Rechtfertigung und Gemeinschaft –, der dem System entsprechend erklärt, warum es keine „Seligkeit“ für die einzelne Person und somit ohne das Handeln im Rahmen ihrer Gemeinschaft geben kann: „Gerechtfertigt ist der einzelne ja nur in Christus, als Glied der Kirche. Gerechtfertigt ist der Standpunkt als solcher.“511 Tillich geht –

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 398 (im Original kursiv).  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 399.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 398. Dies formuliert Tillich meines Erachtens nicht „im modus der Selbstbeschreibung“, wie M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 110, schreibt. Tillich gibt hingegen als Beispiele einer solchen Form der Sittlichkeit lapidar den Stoizismus und den Protestantismus an (vgl. 398), ohne dies näher auszuführen. Im nächsten Schritt zeigt er dann, weshalb eine auf die eigene Person gerichtete Sittlichkeit nicht die christliche sein könne.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 399.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 399. Auf das damit zusammenhängende Problem, wie sich eine solche Aussage mit dem mehrfach betonten universalen Rechtfertigungsverständnis verträgt, wird an späterer Stelle zurückzukommen sein, siehe: Teil 1: B.4.4 und 5.

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B Die Entfaltung von Freiheit und Nächstenliebe

im Blick auf die apologetischen Grundlagen – konsequent davon aus, dass die Selbstfixierung der einzelnen Person der Sittlichkeit auf dem theologischen Standpunkt entgegenarbeitet. Im Anschluss an die zentrale Funktion der Rechtfertigungsidee richtet Tillich hiermit die christliche Ethik unzweideutig an der Gemeinschaft derer aus, die sich als Gerechtfertigte anerkennen: „Die Realisierung dieser seiner Beschlossenheit [Rechtfertigung der Gemeinschaft in Christus] in das Ganze aber ist die Liebe.“512 Die Realisierung des sittlichen Prinzips, das Ineinander von Freiheit und Liebe, kann sich damit allein innerhalb der Sozialformen vollziehen, die in den anschließenden Abschnitten erörtert werden, und die das wechselseitige Handeln der Gerechtfertigten darstellen.513 Schließlich verknüpft Tillich diese rechtfertigungstheologische Bestimmung der christlichen Nächstenliebe mit der expliziten neutestamentlichen Forderung und verdeutlicht diese anhand des „Willens“ zur „Seligkeit“.514 Das Merkmal der sittlichen Liebe ist in der neutestamentlichen Forderung gegeben, den Nächsten wie sich selbst zu lieben. Sich selbst lieben hat aber im absoluten Sinn die Bedeutung: seine Seligkeit schaffen; und darum heißt sittliche Liebe der Wille, der auf des andern Seligkeit wie auf die eigne gerichtet ist. Diese abstrakte Begriffsbestimmung gewinnt ihre konkrete Erfüllung in den verschiedenen relativen Formen der Liebe entsprechend den verschiedenen relativen Formen der Gemeinschaft. Der abstrakte Wille der Liebe ist niemals als solcher vorhanden, sondern er ist immer in, mit und unter einer konkreten Form der Liebe. Jede konkrete Form aber hat die Bestimmung, jenen ewigen Sinn der Liebe in sich zu tragen und zur Wirksamkeit zu bringen.515

Im Sinne der Struktur aus abstraktem und konkretem Moment kommt demnach in der Nächsten- und Selbstliebe der „Wille zur Seligkeit“ zum Ausdruck. Dies geschieht eindeutig in einem gleichwertigen Verhältnis zwischen der einzelnen Person und ihrem jeweiligen Gegenüber, sodass Tillich die beiden intersubjektiven Aspekte des Doppelgebots (Selbst- und Nächstenliebe) für untrennbar erachtet: Er setzt damit voraus, dass gelingende Gemeinschaft sich nur dann ereignen kann, wenn das eigene Handeln zwar altruistisch auf das Gegenüber ausgerichtet wird, dabei die eigene Persönlichkeit aber nicht aufgegeben wird. Die doppelte Grundbedingung als Selbst- und Nächstenliebe hat nun zwei konkrete Auswirkungen. Diese lassen sich nach Tillich auf die eingangs benannten Grenzen der sittlichen Person auf der einen und die Grenzen der sittlichen Gemeinschaft auf der ande-

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 399.  Siehe den folgenden Abschnitt: Teil 1: B.4.3.  Zu Recht hebt M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 114, hervor: „und an dieser Stelle werden all’ die Lügen gestraft, die in Tillich abschätzig nur den bibelfremden Religionstheoretiker und -philosophen erblicken[], wenn Tillich explizit auf das Neue Testament abstellt.“  Tillich, Systematische Theologie 1913, 399.

4 Theologische Ethik: Nächstenliebe als Anerkennung der Person

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ren Seite beziehen. Auf der einen Seite führe das hier skizzierte Verständnis der Ethik dazu, dass die „Gefahr des Egozentrismus überwunden“516 werde. Denn sofern das Ziel des Willens in der Seligkeit des anderen liegt, könne dieser nicht als Mittel zur eigenen Seligkeit gesehen werden. Auf der anderen Seite macht Tillich geltend, dass die einzelne Person eben dazu nicht in der Lage sei, ohne den Blick auch auf die eigene Seligkeit zu richten. In Tillichs Konzeption steht hierfür die „Selbstliebe“ als „Ausdruck der aktuelle[n] Einzelpersönlichkeit“517. Und hiermit spielt er ein weiteres Mal auf die Unterscheidung von Intuition und Reflexion an: Aber eben weil diese Selbstliebe etwas rein Unmittelbares ist, kann sie die sittliche Liebe nicht stören. Der Konflikt tritt erst ein, wenn sie reflektiert wird. Dann entsteht die egozentrische Verkehrung der Sittlichkeit.518

Auf dem Standpunkt der Intuition, so kann im Rekurs auf Tillichs System gesagt werden, stellt die Selbstliebe kein Problem dar, weil der Mensch sich in der Einheit mit der Wahrheit befindet. Selbstliebe ist deshalb dort etwas „rein Unmittelbares“, welches die „sittliche [gemeinschaftliche] Liebe“519 nicht stört. Doch auf dem theologischen Standpunkt besteht für Tillich diese Unmittelbarkeit nicht mehr, sodass es erst zu Konflikten zwischen Selbst und den Nächsten kommt, sobald die Sünde im Modus der Reflexion eingetreten ist. Beides – die Grundbedingung von Person und Gemeinschaft im „Willen“, der auf das Gegenüber und sich selbst als Geschöpfe gerichtet ist, und die zentrale Funktion der Rechtfertigung – weisen einmal mehr eine deutliche Nähe zu Tillichs theologischem Lehrer aus der Tübinger Zeit, Wilhelm Lütgert, auf, bei dem er etliche Veranstaltungen besuchte.520 Lütgerts Ethik der Liebe stellt die Summe seiner insbesondere durch Studien zum Johannesevangelium inspirierten Ethik dar.521 Der wechselhafte Bezug von Nächstenliebe und Anerkennung liest sich bei Lütgert wie folgt: Die Nächstenliebe, die aus der Liebe zu Gott entsteht, ist Wille. Liebe ist nicht in erster Linie Empfindung, sondern ein Verhältnis zum Nächsten. Es äußert sich in der Schätzung des

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 399.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 400.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 400.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 400.  Siehe dazu oben: Teil 1: A.2–3.  Vgl. dazu – neben der Ethik der Liebe (1938) – besonders Lütgerts Studien Die Liebe im Neuen Testament. Ein Beitrag zur Geschichte des Urchristentums (Leipzig: Deichert, 1905) und Die johanneische Christologie (Gütersloh: Bertelsmann, 1899); ferner Zeisset, Die Liebe ist das Gute und besonders Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 146–153, der Lütgerts Bedeutung für Tillichs Verständnis der Rechtfertigung aufgezeigt hat.

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Nächsten. Es spricht sich in einem Urteil aus, und zwar in einem Werturteil. Dabei handelt es sich nicht um eine individuelle Sympathie wie in der Freundschaft, sondern um ein Verhältnis, das von persönlicher Sympathie oder Antipathie frei ist. Es ist eine Schätzung der Persönlichkeit, die nicht auf ihrer individuellen Besonderheit beruht. Die Anerkennung eines eigenen Wertes, den die Persönlichkeit hat, ist der innerste Kern aller Liebe. Sie ist nicht selbstsüchtig, denn sie erkennt den Wert an, den der Nächste an sich, für sich selber hat. Einen objektiven Wert hat er dadurch, daß er einen Wert für Gott hat. Er hat dadurch einen Wert für Gott, daß Gott ihn geschaffen hat und daß er Gottes Ebenbild ist. [...] Der innerste Kern, das Wesen der Liebe ist die Hochschätzung der Persönlichkeit um ihrer selbst willen.522

Mithin stellt für Tillich die „Selbstliebe“ das notwendige Pendant zur Nächstenliebe dar. Der Zusammenhang beider erklärt sich erneut als konsequente Fortführung des sittlichen Prinzips. Denn in dem Moment, in dem sich die eigene Persönlichkeit vollständig aufgäbe, würde sie die Sittlichkeit als freie Selbstbestimmung aufgeben. Und in dem Moment, in dem sie sich allein reflexiv auf sich selbst bezöge, würde sie die gemeinschaftsbildenden Formen der Liebe abstoßen. Mag dieser Sachverhalt beim ersten Hinsehen trivial erscheinen, zeigt sich darin doch eine weitere fundamentale Grundentscheidung, die wiederum für Tillichs ethisches Denken werkgeschichtlich konstitutiv bleiben wird. Wie M. Neugebauer pointiert herausstellt, ist hier der tatsächlich „später von Tillich so beschriebene moralische Imperativ [...] [eine Person in Gemeinschaft von Personen zu werden]“ ganz eindeutig auf die Grundlage des „jesuanischen Liebesgebot[s]“523 gestellt. Das heißt dann aber auch, dass nur die konkreten Gemeinschaften diejenigen Formen sind, die im jeweiligen Mikrokosmos ihrer Anwendung den Willen zur Seligkeit der andern wie der eigenen Person praktisch ausdrücken.524 „Dass Liebe [...] nur als Nächstenliebe die angezeigte Kalamität des humanen Lebens zu bewältigen in der Lage ist, wird deutlich.“525 Das wechselseitige Handeln, wie es im 1913er System von Tillich vorgestellt wird, arbeitet gleichsam gegen die Reflexion oder die Sünde an und bewegt sich damit zum absoluten Ziel der sittlichen Liebe mit seiner Doppelbestimmung der eignen und der fremden Seligkeit. In diesem Hin [und] Her vom Abstrakten zum Konkreten, vom Konkreten zum Abstrakten lebt die konkrete Sittlichkeit nach Analogie des theologischen Prinzips.526

    

Lütgert, Ethik der Liebe, 90, zum Bezug zu Lütgert siehe auch unten: Teil 1: B.4.4. M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 114. Vgl. M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 114. M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 114. Tillich, Systematische Theologie 1913, 400.

4 Theologische Ethik: Nächstenliebe als Anerkennung der Person

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Durch den Bezug auf die Momente des theologischen Prinzips wird die dialektische Beschreibung von Selbst- und Nächstenliebe im Gesamtkontext nochmals erheblich veranschaulicht. Entsprechend verstärkt Tillich die Bedeutung konkreter Anwendung der Nächstenliebe als „Ausdruck“ und „Verwirklichung“ und macht damit deutlich, dass sich eine Annäherung an die Überwindung des Sündenstandpunkts notwendig innerhalb der relativen menschlichen Beziehungen abspielt. In den einzelnen Formen wird das dritte Moment, das „Reich Gottes“, abgebildet, wo „weder das eigne noch das fremde Ich Absolutheit hat.“527 Dieser Aspekt kann nicht genug betont werden, weil er eine theoriebildende Linie in Tillichs Ethikverständnis fortführt, die schon mehrfach hervorgehoben wurde. Tillich legt ein deutliches Gewicht auf die Gemeinschaft der Gerechtfertigten gegenüber einer individualistischen Überhöhung der sittlichen Persönlichkeit. Damit geht keine Abwertung der Person als Subjekt einher. Vielmehr trägt dieser Zugriff der stetigen Kritik an der Vereinzelung und der Fixierung auf sich selbst Rechnung, wie sie im Rahmen der Fundamentaltheologie entfaltet wurde. Eine Abwertung der einzelnen Person kann dies schon deshalb nicht bedeuten, weil der unbedingte Wert der Einzelnen doch zum einen durch die grundlegende Einheit von Freiheit und Liebe (oder Theonomie und Christonomie beziehungsweise schlicht Person und Gemeinschaft) gewahrt ist. Worum es Tillich geht, ist die Darstellung einer auf Rechtfertigung basierenden Sozialität, in der sich die einzelne Person in Richtung ihrer Unmittelbarkeit zurückbewegen kann. Dies ist mit der Überwindung gemeint, die dem Ansatz entsprechend nie ganz erfüllt werden kann. Die Bewegungen zwischen abstrakter Individualität und konkreten Gemeinschaften werden konsequent im „Paradox“ zusammengedacht, „dessen Anwendung auf verschiedene Formen der Gemeinschaft die Aufgabe des konkreten Teils der Ethik ist.“528 Mit den wiederaufgenommenen drei Momenten des theologischen Prinzips und der Fassung des Liebesbegriffs ist der nachfolgende Teil zu den praktischen Beziehungsformen vorbereitet: Das Zentrum der Theologischen Ethik lässt sich nach Tillich in der Balance aus Selbst- und Nächstenliebe verorten, die beide – gemäß dem Doppelgebot der Liebe – von der Gottesbeziehung her erst ermöglicht werden. Die für das Gebot der Nächstenliebe maßgebende Forderung der Liebe zu Gott wird durch die fundierende Position der Rechtfertigung schon im Ansatz eingeholt. Hierdurch hat Tillich beide Seiten des neutestamentlichen Liebesgebots – Gottesliebe wie Selbst- und Nächstenliebe – als Grundlage des ethischen Denkens in seinem Werk etabliert. Die im Folgenden darzustellenden Beziehungs-

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 400.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 400.

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formen der konkreten Sittlichkeit bilden die Überwindung des Sünden- oder Reflexionsstandpunkts theologisch beziehungsweise paradox ab.

4.4 Entfaltung: Das rechtfertigungstheologische Konzept von Anerkennung Tillichs Entfaltung der Sittlichkeit thematisiert die grundlegenden Formen menschlicher Praxis, welche sich in seinem Konzept als Ausdruck des sittlichen Prinzips herausstellen. Im zwischenmenschlichen „Geben und Nehmen“529 kommt in Tillichs Sicht das sittliche Prinzip praktisch in der „Gemeinschaft der Liebe“530 zur Anwendung und begründet die basalen Variationen des menschlichen Lebens in Familie, Staat, Gesellschaft, Kirche, Freundschaft bis hin zur Ehe (§§ 12–17/61–66). Zuletzt lotet dieser Teil der Ethik parallel zu den Grenzen der sittlichen Persönlichkeit die Grenzen der sittlichen Gemeinschaft aus (§ 18/67). Durch das Handeln in den Beziehungen der konkreten Sittlichkeit, so Tillichs Annahme, kehren die einzelnen Persönlichkeiten in Richtung ihrer Einheit mit der Wahrheit zurück. Das hochabstrakte Rückkehrmotiv, wie es für die Grundlegungen des Systems zwischen intuitivem und reflexivem Standpunkt skizziert wurde, erhält darin seine praktische Ausformung. In und nur in der Praxis, die sich auf das Gebot der Liebe gründet und sich als Ausgestaltung der Gemeinschaft von Gerechtfertigten versteht, wird das Verhältnis von abstraktem und konkretem Moment im Paradox abgebildet. Wie also die kulturellen, sittlichen und religiösen Ausdrucksweisen in der Apologetik als Formen der Freiheit bestimmt wurden, bilden für Tillich die konkreten Gemeinschaftsformen die Formen der handelnden Liebe. Es ist aber in allen Grundformen des Gemeinschaftslebens ein Widerstand, der zugrunde liegt und der auch für den abstrakten Teil der Ethik maßgebend war, eben der Gegensatz von abstrakt und konkret. Hier [in der konkreten Ethik] nimmt er die Gestalt an, daß das sittliche Ideal abstrakt bleibt und die konkreten Verhältnisse, die sich ihm widersetzen, nicht zu bewältigen vermag. Daraus ergibt sich dann für die theologische Ethik [...] die Aufgabe zu zeigen, wie der einzelne den ideefremden und feindlichen Verhältnissen gegenüber dennoch eine totale Bejahung der sittlichen Gemeinschaft erreichen kann.531

Wie erwähnt unterscheidet Tillich sechs Gemeinschaftsformen (Familie, Staat, Gesellschaft, Kirche, Freundschaft, Ehe), die von ihm nacheinander abgehandelt werden. Die Anordnung der einzelnen Beziehungssphären beziehungsweise Gemeinschaftsformen stellt auf dieser Grundlage keine zufällige Auflistung dar, son-

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 405.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 394.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 401.

4 Theologische Ethik: Nächstenliebe als Anerkennung der Person

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dern zeigt ein übergeordnetes Muster. Die sechs Bereiche lassen sich nochmals in drei Ebenen einteilen, was Tillich andeutet: Als „natürliche[r] Gemeinschaft“ kommt der Familie (§ 12/61) – erstens – die grundlegende Funktion zu, aus der die anderen „Beziehungen“ „erwachsen“, nämlich „Achtung“, „Pietät“, „Autorität“ und „Freundschaft“532. Mit diesen Begriffen sind demnach – zweitens – die nächsten vier Formen (§§ 13–16/62–65) als mittlere Ebene prinzipiell vorweggenommen: Mit der „rechtlichen“ Gemeinschaft des Staates (Autorität), der „sozialen“ Gemeinschaft der Gesellschaft (Achtung), der „religiösen“ Gemeinschaft der Kirche (Pietät) und der „geistigen“533 Gemeinschaft der Freundschaft differenziert Tillich das Leben in den grundlegenden Sozialbezügen aus. Zuletzt behandelt er die Ehe (§ 17/66) – drittens – gesondert als vollkommene Gemeinschaft. In diesem Aufbau zeigt sich insgesamt ein Schema, das die Familie bei der Entwicklung der individuellen und sozialen Sittlichkeit der Einzelnen an den Anfang stellt und die Ehe als höchsten Ausdruck der wechselseitigen Liebe gemäß dem sittlichen Prinzip versteht. In den folgenden Ausführungen wird der Fokus auf den Bereich der „Gesellschaft“ gelegt, weil dabei besonders deutlich wird, wie sich Tillich das Handeln innerhalb der Gemeinschaft der Gerechtfertigten vorstellt. Ergänzend werden dann noch zwei weitere Bereiche berücksichtigt, nämlich der der Familie und der des Staates. Im Zusammenhang der Behandlung der Gesellschaft als sozialer Gemeinschaftsform (§ 17/66) liegt Tillichs werkgeschichtlich erste systematische Verbindung von christlichem Liebesbegriff mit dem sozialtheoretischen Grundbegriff der „Anerkennung“ vor. Die herausragende Bedeutung der Sozialgemeinschaft wird bereits im Leitsatz des Abschnitts zum Ausdruck gebracht. „Das sittliche Problem der Gesellschaft ist in der Aufgabe begründet, den relativen gesellschaftlichen Beziehungen einen absoluten sittlichen Gehalt zu geben. Gelöst wird das Problem durch die wirksame Anerkennung der absoluten sittlichen Würde einer jeden Persönlichkeit ohne Aufhebung der Relativität der gesellschaftlichen Beziehung.“534 Nähert man sich dieser Grundaussage im Blick auf den bisherigen Weg von der idealistisch geformten Sittlichkeit zur Theologischen Ethik, rückt zuerst die Differenz von „relativen“ Beziehungen und dem „absoluten“ Gehalt in das Blickfeld. Mit dieser zweifachen Bestimmung führt Tillich sein Konzept fort. Die gesellschaftlichen Beziehungen sind notwendig relativ, da sie sich in der Sphäre der Sünde

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 401 f.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 429.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 405 (im Original kursiv).

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und auf dem Standpunkt der Reflexion vollziehen. Demnach braucht es einen „absoluten sittlichen Gehalt“, der den einzelnen Persönlichkeiten unbedingt zukommt. Die soziale Interaktion soll davon bestimmt sein, dass auch in den unvollendeten Beziehungen jeweils ein vollendeter Gehalt durchscheint, der auf die transzendente Begründung jener Beziehungen verweist. Hierin besteht der entscheidende Aspekt hinsichtlich der geforderten Anerkennung, wie sie das obige Zitat ausdrückt. Die Darstellung des unbedingten Gehalts realisiert sich demgemäß in der gegenseitigen Anerkennung: Was abstrakt Anerkennung genannt wird, äußert sich konkret in der wechselseitigen Handlung. Durch den konsequenten Bezug zur Relation von „absolut“ und „konkret“ liegt hiernach Tillichs erste Mikrotheorie eines theologischethischen Anerkennungskonzeptes vor. Theologisch ist dieses Konzept insofern, als zweifellos die Rechtfertigung der einzelnen Personen und ihrer Gemeinschaft im Hintergrund des benannten absoluten sittlichen Gehalts steht: „jeder Mensch ist als Gerechtfertigter im prinzipiellen Sinne zu betrachten und zu behandeln.“535 Der Zielpunkt der Sozialität des Menschen liegt nach § 17/66 offensichtlich in der liebenden Gemeinschaft als der Gemeinde Jesu: Es ist das höchste Ziel der sittlichen Liebe, eine Gesellschaft zu schaffen, in der die absoluten Beziehungen aller gegen alle Norm geworden sind, d. h. aber die Gesellschaft umzuwandeln zu dem, was sie der Idee nach ist und um deretwillen sie besteht: Gemeinde Jesu Christi.536

Damit nimmt Tillich eine deutlich theologische Lösung des im Leitsatz benannten „Problems“ der Gesellschaft vor. Die nötige Umwandlung der Gesellschaft im Sinne einer radikalisierten – nämlich unbedingt und uneingeschränkt geforderten – Nächstenliebe stellt sich als Konsequenz der Rechtfertigung heraus. Der Paragraph läuft demnach insgesamt darauf zu, das beschriebene Problem und die „profane“ Lösung der Anerkennung personaler Würde in der rechtfertigungstheologisch verstandenen Nächstenliebe zu verankern. Blickt man von hier nochmals auf den Leitsatz, so verweisen der „Würde“Terminus als Inbegriff des individuellen Wertes der Person und der Begriff der Anerkennung einmal mehr sowohl auf Kants Ethik und die Anerkennungskonzepte Fichtes und Hegels. Im Blick auf Kant ist die Verwendung des Würdebegriffs hervorzuheben, mit der hier nochmals Tillichs frühe Beschäftigung mit der Ethik Kants hervortritt.537 In Die Metaphysik der Sitten (1797) postuliert Kant mit der Würde eben jenen „absoluten nicht gegenrechenbaren Wert der Menschheit, der

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 406.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 406.  Der Hintergrund des Begriffs durch Kants „epochale Neubestimmung“ (Sören Hoffmann, „Würde“, in: Marcus Willaschek u. a. (Hg.), Kant-Lexikon, Bd. 3 (Berlin/Boston: Walter de Gruyter,

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im einzelnen Menschen konkret instantiierbar ist.“538 Die Würde bringt er mit der entsprechend wechselseitigen Anerkennung in Verbindung und formuliert die Forderung, „die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen.“539 An dieser Stelle zeigt sich indessen ein gut greifbarer und fundamentaler Unterschied zu Kants Ethik der Selbstbestimmung: Denn in Kants Konzeption besteht die Möglichkeit, seine Würde aufgrund von Handlungen zu verlieren, die der Forderung des kategorischen Imperativs widersprechen. Und zwar bezieht sich dieses Problem auf die Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“540 Für Kant liegt der einzige und fundierende Grund der Würde des Menschen darin, dass er Person und damit ein Zweck an sich ist, der niemals als ein Mittel instrumentalisiert werden darf. Die Würde beruht – das ist die Pointe – auf der Autonomie, die den Menschen als Vernunftwesen auszeichnet. In der Argumentation bezüglich der Selbsttötung sieht Kant nun das Problem, dass sich der Mensch in dieser Handlung zum reinen Mittel, zu einer Sache mache und „sich selbst zerstört“, um „dem beschwerlichen Zustand zu entfliehen“541, der durch die Situation gegeben ist. An Kants Autonomiebegriff der Würde wird im Rückblick auf Tillichs sittliches Prinzip in der Grundlegung der Ethik nochmals die Differenz deutlich: In Kants Ethik ist es möglich, die Würde, die durch das Dasein als autonomes Vernunftwesen gegeben ist, aufgrund von Handlungen zu verlieren, die genau dem widersprechen. Tillich hatte sich zum einen in der Grundlegung des sittlichen Prinzips von Kants Ethik deutlich abgegrenzt, sofern sie eben allein und einseitig auf der abstrakten Forderung des Sittengesetzes beruhe und nicht konkret werde. Zum anderen liegt die zentrale theologische Differenz darin, dass Tillich die Würde unmittelbar in der Rechtfertigung verankert und ein Verlust der Würde damit im Ansatz ausgeschlossen wird. Dass Tillich darüber hinaus sich mit Fichtes Werk ausführlich und mit Hegels Rechtsphilosophie früh auseinandersetzte und diese bereits 1908 theologisch verarbeitete, wurde im ersten Kapitel gezeigt.542

2015), 2693–2696, 2693) kann hier nicht weiterverfolgt werden. Dass Tillich diese stets auch mitführt, ist bei seinem bildungsbiographischen Weg nicht sonderlich überraschend.  Hoffmann, „Würde“, 2693.  Kant, Metaphysik der Sitten, 462.  Kant, Grundlegung zu Metaphysik der Sitten, 61.  Kant, Grundlegung zu Metaphysik der Sitten, 79 f.  Siehe zu Hegel oben: Teil 1: A.2. Zu Fichte, von dem aus Hegel seinen Anerkennungsbegriff weiterdenkt, vgl. insbesondere seine Grundlage des Naturrechts (1796) sowie dazu Honneth: „Die

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Auf eine andere und dezidiert theologische Spur führt wiederum Tillichs theologischer Lehrer aus der Tübinger Zeit, Wilhelm Lütgert, bei dem Tillich etliche Veranstaltungen besuchte.543 Lütgerts Ethik der Liebe stellt die Summe seiner insbesondere durch Studien zum Johannesevangelium inspirierten Ethik dar.544 In diesem Werk bringt er die Anerkennung der einzelnen Personen untereinander als eine äußerst tragfähige Grundlage christlicher Ethik zum Ausdruck. Gleichwohl Lütgerts Ethik ein spätes Werk von 1938 darstellt, lässt sich auf Basis der tiefen Prägung Tillichs durch Lütgert dennoch ein inhaltlicher Bezug herstellen. Liebe ist Anerkennung der Persönlichkeit dann, wenn sich mit ihr Freude an der Persönlichkeit des anderen verbindet und der Wunsch nach Gemeinschaft mit ihr.545

Es zeigt sich, dass Tillich nicht nur im Rahmen der sozialen Gemeinschaft, sondern in den Passagen zu den Beziehungssphären insgesamt eine auffällige begriffliche Nähe zu Lütgert aufweist. Neben der bereits im Kapitel zur Nächstenliebe erwähnten Parallelität zu Lütgert ließe sich dieser Bezug beispielsweise auch im Blick auf die Freundschaft aufzeigen, die Tillich als die geistige Gemeinschaft kennzeichnet und wie Lütgert besonders am Terminus „Sympathie“ erörtert.546 Auch die tragende Rolle, die sowohl bei Lütgert als auch bei Tillich der Begriff der Humanität einnimmt, weist in diese Richtung. Beide nutzen den Terminus Humanität, um sich anhand des theologischen Liebesbegriffs kritisch davon abzugrenzen.547 Kehrt man zum Paragraphen zurück, nimmt Tillich den Einstieg über eine knappe Charakterisierung persönlicher Beziehungen im Allgemeinen. Er geht davon aus, dass die im sozialen Austausch begründeten Formen des menschlichen Miteinanders im „Geben und Nehmen der einzelnen“548 fundiert sind, aus dem dann Konstellationen persönlicher Beziehungen entstehen, denn „in jeder Berührung von Persönlichkeit und Persönlichkeit liegt ein wenn auch noch so kleines Moment persönlichen Wesens.“549 In impliziter Parallelität zu Kants grundlegender

transzendentale Notwendigkeit von Intersubjektivität“, in: Jean-Christophe Merle (Hg.), Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 22016), 57–74; Ikäheimo, „Fichte“ und Siep, „Anerkennung“.  Siehe dazu oben: Teil 1: A.2–3.  Vgl. dazu oben: Teil 1: B.4.3.  Lütgert, Ethik der Liebe, 90.  Vgl. Systematische Theologie 1913, 408 f. sowie Lütgert, Ethik der Liebe, 90.  Vgl. Systematische Theologie 1913, 405 f.421 f., ferner Lütgert, Ethik der Liebe (1938), 80–88. Lütgerts Überschrift lautet an dieser Stelle „Nächstenliebe. 1. Nächstenliebe und Humanität“ (80), bei Tillich lautet die parallele Überschrift im dritten Teil der Ethik „Humanität und Liebe“ (421). Zu diesem Bezug siehe auch unten: Teil 1: B.4.5.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 405.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 405.

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Einsicht, dass es gemäß dem kategorischen Imperativ keine Zweck-Mittel-Relation zwischen Personen geben dürfe, führt Tillich aus, dass ausnahmslos jede Kommunikation in irgendeiner Weise zur Ausprägung der Person beitrage und deshalb der „Leib“ nie „mechanisch“550 verstanden werden dürfe. Der Leib wird von Tillich, so lässt sich deuten, als Träger der geistigen Akte verstanden und kann folglich auch nicht als bloßes Mittel begriffen werden. Das gelte in besonderer Weise vom „Wort, das nie ganz ins Bedeutungslose herabgedrückt werden kann.“551 Tillich denkt also hier ganz konkret an die unmittelbare Kommunikation im persönlichen Austausch. Seine Schlussfolgerung aus dieser in jeder Interaktion gegebenen Bedeutungshaftigkeit liegt darin, dass es demnach auch keine vollständig bedeutungslose Kommunikation zwischen Personen geben könne.552 Der Grundaspekt der nachstehenden Überlegungen stellt dann den Bezug auch zum grundlegenden Freiheitsbegriff her: „Der ganze Reichtum der lebendigen Beziehungen ist damit in die Sphäre der Freiheit aufgenommen.“553 Auch hier äußert sich die grundsätzliche Differenz von Natur und Geist aus der Fundamentaltheologie. Aus der Gebundenheit an die Natur werden geistige Formen, die das gegenseitige Handeln aus Freiheit ermöglichen. Der Bezug zur Freiheit und zur Bedeutung jeglicher Handlung für die Ausbildung der Person – positiv oder negativ – lässt erahnen, dass Tillich wiederum von der zweifachen Ausgangslage persönlicher Beziehungen ausgeht: einerseits sind sie begründet in einem vollendeten Gehalt, andererseits bleiben sie auf dem Standpunkt der Sünde fixiert und können ihrerseits eine Vollendung nicht durch Worte und Werke konstituieren. Dem entspricht die rechtfertigungstheologische Konkretion im weiteren Verlauf des Abschnitts. Darin zeigt sich zunächst, dass im Urteil Tillichs genau die zuvor benannte Zweck-Mittel-Relation im Rahmen der sozialen Beziehungen stets wieder entsteht und gleichsam als Gefahr über den menschlichen Handlungen schwebt. Entsprechend ist es die Aufgabe des sittlichen Handelns, dem durch theologisch begründete Formen entgegenzuarbeiten. Denn obwohl das Ideal eines auf wechselseitiger Anerkennung beruhenden Miteinanders angestrebt wird, entsteht dennoch in sämtlichen Sozialbeziehungen stets und erneut ein „rein sachliches Verhältnis“, in dem eine Person die andere bewusst als „Mittel zum Zweck“554 benutze. Der darauf antwortende Schlüsselsatz bringt die theologische und in Tillichs Konzept letzte Begründung der unbedingten Anerkennung der einzelnen auf den Begriff:

    

Tillich, Systematische Theologie 1913, 405. Tillich, Systematische Theologie 1913, 405. Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 405. Tillich, Systematische Theologie 1913, 405. Tillich, Systematische Theologie 1913, 405.

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[E]s ist aber die Grundform der Unsittlichkeit, den absoluten Zweck, den jede Persönlichkeit durch die Rechtfertigung erhalten hat, in einen relativen zu verwandeln.555

Bis hierher steht erneut ein abstraktes Gebilde vor Augen, das außerdem zunächst in seiner moraltheoretischen Diagnose nicht sonderlich komplex erscheint: Innerhalb persönlicher Beziehungen kommt es stets wieder zu Formen der Instrumentalisierung, die die Gefahr bergen, das Gegenüber nicht als Zweck, sondern als Mittel zu sehen. So stellt sich einmal die Frage, ob und inwiefern Tillich hiermit über Kants Perspektive bezüglich der Zweck-Mittel-Relation hinaus geht. Sodann ist einmal mehr fraglich, was Tillich möglicherweise problem- oder auch zeitgeschichtlich vor Augen steht. Hinsichtlich der zweiten Frage sind die Optionen vielfältig und es kommen wohl bereits Rationalisierungsprozesse in Frage, die mit der sogenannten „sozialen Frage“ um 1900 und damit auch der weiter voranschreitenden Industrialisierung zusammenhängen.556 Die von Tillich im Weiteren dann näher ausgeführte gemeinschaftswidrige Form der „Benutzung des Menschen als bloße Arbeitskraft“557 jedenfalls deutet darauf hin. Im Blick auf die erste Frage sticht indes zuerst die rechtfertigungstheoretische Fundierung ins Auge. Dieser Zug fehlt den rationalen Ethiken – besonders Kants –, welche Tillich im Hintergrund hat. Allerdings ist auch dieses Hinausgehen über die ethischen Ansätze in Tillichs Weg bis hierher alles andere als neu. Ebenso ist die Fundierung des Moralischen in der Hinwendung Gottes zum Menschen (Rechtfertigung) zunächst nur eine stringente Fortsetzung des Konzepts im Ganzen. Vor diesem Hintergrund erlangt Tillichs Konzeption seine Eigenheit erst durch den Schritt in die expliziten Formen des anerkennenden Handelns. Dazu ist folgende Differenzierung zentral: In einem ersten Schritt konzipiert Tillich eine positive und eine negative Seite des sozialen Handelns und unterscheidet dazu Formen der „Lieblosigkeit von gemeinschaftszerstörender Selbstheit“ von Formen der „Humanität“, welche darauf reagieren. Demgegenüber stehen auf der negativen Seite „Sklaverei“, „Ausbeutung“, „Tyrannis“, „Entehrung der Frau“, „Entwürdigung der Geselligkeit“, „kalter Geschäftsgeist“558. Diesen Formen stellt sich nun laut Tillich die „Idee der Humanität“ entgegen und prägt die Formen „soziale Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, persönliche Ehre eines jeden, Schutz der Frau, gesellschaftliche Sitte, persönlicher Takt.“559 Die Ausbildung solcher Gegenpole, die sich den gemeinschaftszersetzenden

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 405.  Vgl. zur „sozialen Frage“ nach wie vor wegweisend: Günther Brakelmann. Die Soziale Frage des 19. Jahrhunderts (Bielefeld: Luther-Verlag, 51977).  Tillich, Systematische Theologie 1913, 405.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 405.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 405.

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Formen widersetzen, stellt nun eine durchaus – so lässt sich vereinfachen – positive und notwendige Entwicklung dar. Allerdings liegt die Pointe dem System im Ganzen entsprechend darin, dass diese Formen in der Relativität der Sünde für sich genommen nicht ausreichen, um letztlich zu einer Lösung zu kommen. Inwiefern nun wiederum das Paradox als Lösung fungiert, macht Tillich an der „Konvention“ als kritischem Leitterminus des Abschnitts deutlich: Das Problem, so Tillichs Argumentation, der genannten Formen von Humanität liege darin, dass sie selbst zu bloßen Konventionen verkommen könnten. Ihre Einhaltung könne zwar eine „Übereinkunft“ zum persönlichen Verhalten darstellen, darin aber die Persönlichkeit an ihrer Entwicklung gerade hindern. Hiermit ist gemeint, dass eine „Bejahung“ der Humanitätsformen zur reinen Befolgung bestimmter Regeln werde und dabei im intersubjektiven Handeln nicht eigentlich die Person, sondern eben die Form – der sozialen Gerechtigkeit und dergleichen – bejaht werde. Konventionen in Tillichs Verständnis an dieser Stelle sind eine Art Veräußerlichung der Formen. Hierdurch geht jedoch der eigentlich anvisierte Effekt der konkreten, humanitätsbildenden Formen verloren: Sobald nicht mehr, so lässt Tillich sich verstehen, die andere Person als anzuerkennende Person adressiert wird, sondern die Einhaltung der Form im Vordergrund steht, handelt es sich nicht mehr um gute Handlungen im geforderten Sinne. Eben hier setzt in einem zweiten Schritt die theologische Lösung ein: Gelöst werden kann das Problem nur durch das Paradox der Anwendung der absoluten Kategorien auf jedes Glied der Gesellschaft ohne Aufhebung der relativen Beziehungen; ein jeder Mensch ist als Gerechtfertigter im prinzipiellen Sinne zu betrachten und zu behandeln. Sobald er durch irgendeine Beziehung – unter Umständen lediglich räumlicher Art – Nächster geworden ist, gilt es, ihn im absoluten Sinne zu lieben, d. h. die absoluten Kategorien ihm gegenüber wirksam werden zu lassen.560

Die theologische Erweiterung der Humanitätsideale sozialer Gerechtigkeit der übrigen oben genannten Formen führt folglich in Tillichs Konzeption zu einer unbedingt geforderten Sicht auf das Gegenüber. Diese Kurzfassung einer theologisch begründeten Anerkennung der anderen Person als gerechtfertigter fordert demnach, die andere Person unbedingt als Teil jener Gemeinschaft zu sehen, die sich als Gemeinschaft der Hinwendung Gottes zum Menschen versteht. Folgerichtig liegt die Differenz der Handlungen aus Humanität und denen aus dem Motiv der Rechtfertigung in ihrer Begründung, nicht in der Handlung selbst. Zur konkreten Ausgestaltung nennt Tillich eine Reihe von Verhaltensweisen, die das wechselseitige Handeln als Humanitätsformen erkennen lassen. Sie lassen sich als komprimierte Anerkennungsformen lesen. Die Annahme der Anderen in der Liebe der Gemeinschaft  Tillich, Systematische Theologie 1913, 406.

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kann geschehen durch Gebärde und Wort, durch Kritik und Anerkennung, durch Teilnahme und Dank, durch Hilfe und Annahme von Hilfe. Es gibt keinen Menschen, der für einen andern im absoluten Sinne gleichgültig wäre. In jeder Beziehung kann durch Ton der Rede und Blick des Auges ein absoluter Gehalt gelegt werden.561

Tillich geht davon aus, dass sich das soziale Leben aus dem sittlichen Prinzip in sämtlichen Formen menschlicher Kommunikation zum Ausdruck bringt und der Maßstab dieses Handelns in der Anerkennung des Gegenübers als geliebtem Geschöpf besteht. Bemerkenswert und nicht näher durch Tillich ausgeführt ist die geradezu leiblich gefasste Bezugnahme auf die humane Gestik und Mimik, auf die Sprache und den Blick auf das Gegenüber als nächste Person mit absolut zugesprochener Würde. Die Pointe dieser mikrosozialen Handlungsweisen besteht nun darin, dass sie, so lässt sich interpretieren, das Potential zur Brechung der zuvor eingeführten Konventionen haben. Dazu differenziert Tillich den eingängig betonten Zielpunkt des Handelns insgesamt aus: die Umwandlung der Gesellschaft zu dem, was sie eigentlich sein sollte – sittliche Gemeinschaft Jesu Christi. Diese Umwandlung macht er unmittelbar an der Überwindung der Konventionen fest. Zusammenfassend lässt sich schließlich die Essenz des Gesellschaftsparagraphen in der Aufstellung eines ersten begrifflichen Gerüsts kennzeichnen, welches auf der Basis der Anerkennung und ihrer rechtfertigungstheologischen Fundierung auf die praktische Umsetzung der Nächstenliebe zielt und wahrhafte Gesellschaft als Gemeinschaft der Liebe Gottes durch das Handeln Jesu versteht. Die unmittelbar folgenden Paragraphen zur religiösen (Kirche), geistigen (Freundschaft) und vollendeten (Ehe) Gemeinschaft bieten nochmals Beispiele der gegebenen Probleme in persönlichen Beziehungen und einer jeweiligen Lösung durch das Paradox.562 Als interessanter für den Zusammenhang dieser Untersuchung erweisen sich Tillichs Ausführungen zur Familie als grundlegender und zum Staat als institutionell-rechtlicher Gemeinschaft. Deutlich liegt für Tillich die Wurzel menschlicher Handlungen in der Familie als natürlicher Gemeinschaft. Im einschlägigen Paragraphen schlussfolgert Tillich:

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 406.  In Bezug auf die Kirche wiederholt Tillich praktisch die Spannung von subjektiver und objektiver Frömmigkeit. Bei der Freundschaft geht es nach Tillich um eine religiös fundierte Treue, die über reine Sympathie hinausführt. Die Ehe sieht er als „vollendete“ Gemeinschaft, weil darin wie nirgends sonst die paradoxe Forderung derart stark zum Ausdruck komme, gegenüber einer anderen Person ein absolutes Ja zu sagen. (vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 411, ferner 406–413).

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Und daraus [dem sittlichen Familienleben] erwachsen dann die verschiedenen sittlichen Beziehungen, je nach den individuellen Voraussetzungen: Achtung, Pietät und Autorität, Freundschaft.563

Für die Familie stellt der „Gegensatz von natürlicher Gebundenheit“ und „geistiger Selbstständigkeit“564 den Ausgangspunkt von Tillichs Überlegungen dar. Hier nimmt Tillich offensichtlich den Übergang von Gebundenheit an die Natur zur geistigen Selbstbestimmung auf.565 Er führt hier ein Grundmuster der Systemschrift fort und nimmt an, dass der „normale Weg“ aus der Natur bis hin zur „Selbstbestimmung“566 in der Sittlichkeit führen würde. So wäre es – in Anlehnung an die naturphilosophischen Überlegungen – ein evolutionärer Aufstieg zu einem höheren Freiheitsgrad. Gegenüber diesem „natürlichen“ Weg steht nun aber – auch dies entspricht der Struktur der apologetischen Grundlagen – die Freiheit des einzelnen Menschen als Geist. Zunächst wirkt die Bestimmung von Natur und Geist als „Gegensätze“ im vorliegenden Kontext und im Rückblick auf die Fundamentaltheologie nicht präzise, da es sich dabei doch um einen prozesshaften Vorgang handeln soll. Allerdings sieht Tillich in der Spannung, die aus dem Gegenüber von Selbstbestimmung aus Freiheit und gleichzeitiger Gebundenheit an die Natur entsteht, ein Verhältnis, das durchaus als Gegensatz verstanden werden kann, sofern man auf die Anthropologie im ersten Systemteil zurückblickt. In der Erhebung über die natürlichen Lebensbezüge bleibe immer auch ein Moment der Anhaftung an die Natur bestehen, der die Persönlichkeit durch ihre Freiheit entgegenwirken müsse.567 Der von Tillich häufig verwendete Terminus der Selbstbestimmung wird im Kontext der Familie anschaulicher, weil es hier ebendarum geht: Die einzelne Person löst sich von ihrer natürlichen und verwandtschaftlichen Gebundenheit ab, um zu einer selbständigen Person zu erwachsen. Damit stehen sich, so Tillichs Formulierung, die „Selbstheit“ des Einzelnen und die bleibende Gebundenheit als familiäre Bindung gegenüber, was das „Familienleben zu einer dauernden sittlichen Aufgabe macht“568. Wie es der Leitsatz zum Paragraphen zusammenfasst, besteht das „sittliche Problem der Familie“ in dem dargelegten Gegensatz von Gebundenheit und Freiheit; die „Lösung“ besteht in der „Einheit der erziehenden und unbedingt verzeihenden Liebe“.569 Daraus resultiert für Tillich die Erziehung

      

Tillich, Systematische Theologie 1913, 402. Tillich, Systematische Theologie 1913, 401. Siehe die grundlegenden Überlegungen dazu in: Teil 1: B.2.2. Tillich, Systematische Theologie 1913, 401. Siehe dazu oben Teil: 1: B.2.2. Tillich, Systematische Theologie 1913, 401. Tillich, Systematische Theologie 1913, 401 (im Original kursiv).

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beziehungsweise die erziehende und verzeihende Liebe als konkrete Aufgabe dieser Beziehungsform. Erziehung ist demnach in Tillichs Sicht, wie eingangs bemerkt, das Fundament für die weiterführenden Formen in der Gesellschaft, der Freundschaft und den weiteren Beziehungen.570 Indem die einzelne Person also als Selbstheit hervortritt, wird Erziehung als Gegengewicht notwendig. In der Lebensform Familie kann daran anschließend für Tillich ein grundsätzliches Problem in zwei möglichen Formen auftreten. Entweder die Familie als solche „lehnt die absoluten Kategorien ab [...] oder ein einzelner im Gegensatz zur Familie.“571 Obwohl Tillich wiederum mit der abstrakten Terminologie hantiert, beschreibt er an dieser Stelle ein ganz simples Problem: Es geht um die für den Ansatz im Ganzen zentrale Polarität von Gebundenheit und freiheitlicher Entwicklung. Im ersten Fall können zum Beispiel die Eltern oder die gesamte Familiengemeinschaft den Bezug zum Absoluten, also zur Begründung wahrer Gemeinschaft in der Hinwendung Gottes (Rechtfertigung), ablehnen. So liegt gewissermaßen keine Atmosphäre im Sinne der Sittlichkeit und der auf Rechtfertigung gründenden Liebe vor. Damit ist aber auch kein Hort gegeben, in welchem sich die Person gleichzeitig gebunden weiß und zur eigenen Emanzipation motiviert wird. Im zweiten Fall geht es um die Möglichkeit, dass eine oder mehrere Personen versuchen, sich gänzlich vom Sinn der Familie abzukapseln oder sich ihm entgegenzustellen. Dies kann durch eine Verleugnung geschehen, die in einer völligen Abkehr von der Gemeinschaft besteht und somit die eigene Emanzipation absolut setzt. Tillich könnte genauso eine autoritäre Haltung der Eltern im Blick haben, die andersherum die autonome Entwicklung unterdrückt. In einer Ethik der Familie geht es laut Tillich darum, auf das Problem eines solchen Auseinandergehens der familialen Gebundenheit zu antworten. Tillichs Antwort auf dieses Problem lautet, dass in denjenigen Fällen, wo eine Abwendung vom sittlichen Prinzip das familiale Leben stört, eine Abwendung von den Bezugspersonen niemals die Reaktion sein darf. Dennoch ist in beiden Fällen die sittliche Forderung unbedingt die, das natürlich begründete Band zu bejahen; es ist in gleicher Weise unnatürlich und unsittlich, sich selbst oder ein andres Glied der Familie nicht mehr als Glied der Familie zu betrachten. [...] Auch die Trennung von der Familie in der Nachfolge Jesu ergibt niemals ein Recht zur Verleugnung der Familie.572

Erneut im direkten Bezug auf ein jesuanisches Wort – „Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert“ (Mt 10,37a) – sieht Tillich das Grund-

 Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 402.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 402.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 402.

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problem der Familie in der möglichen Abwendung ihrer Glieder voneinander. Hierdurch tritt zur erziehenden Liebe das zweite Moment der familiären Liebe, die verzeihende Liebe, hinzu. Die paradoxe Einheit beider zeigt sich darin, dass eine Gebundenheit auch dann nicht abgebrochen werden soll, wenn ein Teil der Gemeinschaft sich von seiner letzten Fundierung im Absoluten abwendet. Tillich versucht das mit seinem Verweis auf das Jesuslogion in Mt 10 zu erhärten. Denn die darin explizit geforderte Höherstellung der Nachfolge darf in Tillichs Sicht nicht zu einer Abwendung von der Familie führen. Die Lösung kennzeichnet Tillich als paradox, weil in ihr die „suchende“ und „verzeihende Liebe“ bestehen bleibe. Die Lösung ist allein darin gegeben, daß einerseits in keinem Moment die erzieherische Wirkung aufhört, auch dann nicht, wenn eine [...] Trennung als letztes Mittel der Selbsterhaltung oder Erziehung nötig wird, und daß andrerseits in keinem Moment die [...] verzeihende Liebe aufhört, ohne welche die Erziehung überhaupt nicht möglich ist. Es darf zwischen Familienmitgliedern weder ein Moment der Gleichgültigkeit eintreten [...] noch ein Zustand der Feindschaft.573

Letztlich besteht also für Tillich – so lässt sich deuten – das dialektische Verhältnis von Erziehung und Vergebung darin, die Beziehung aufrecht zu erhalten, auch wenn sich die persönliche Freiheit und die natürliche Gebundenheit so weit entfernt haben, dass selbst der Bezug zur Begründung der Beziehung im Absoluten nicht mehr besteht. In Tillichs Sicht schützt folglich dieses Aufrechterhalten vor der Möglichkeit einer Feindschaft oder Gleichgültigkeit. Neben der Annahme der Familie als Grundlage für die folgenden Beziehungen liegt hierin für Tillich der Sinn der ersten Form konkreter Sittlichkeit. Neben der Familie soll hier zweitens der „Staat“ als „rechtliche Gemeinschaft“ (§ 13/62) in den Blick genommen werden. Auch Tillichs Sicht auf den Staat wird nur dann verständlich, wenn er hier einbezogen wird und als Sicherungsinstitut der ausgeführten Anerkennung würdetragender Personen zur Geltung kommt. Tillich schließt mit dem Staat insofern an die Familie an, als er den Sinn des Staates in der Vermittlung zwischen „sittlicher Freiheit“ der einzelnen Personen und der sittlichen „Naturordnung“574 als solcher erblickt. Der Staat fungiert als Garant der Freiheit und reguliert das soziale Leben durch die Herstellung einer „höheren Rechtsordnung“575. Auf den ersten Blick sind zwei Beobachtungen interessant. Zum einen lehnt sich die Darstellung wiederum an die Überlegungen der fundamen-

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 402.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 403.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 403.

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taltheologischen Anthropologie an. Nachdem also – so lässt sich verdeutlichen – die einzelnen sittlichen Persönlichkeiten aus der familialen Gebundenheit zu ihrer geistigen Selbstbestimmung emporgestiegen sind, schaffen sie sich durch das Recht einen regelgeleiteten Schutzraum. Zum anderen gibt Tillich strukturell den Blick frei für eine nähere Unterscheidung dreier systematischer beziehungsweise methodischer Bereiche konkreter Ethik. Er unterscheidet an dieser Stelle „Rechtsphilosophie“, „Kulturtheologie“ und „theologische Morallehre“576. Die Rechtsphilosophie (erstens), so Tillichs Einteilung, hat die Aufgabe, das staatliche Leben derart zu organisieren, dass die jeweils angemessene „Reaktion des Staates gegen widerstrebende Einzel-Willkür“577 gegeben werden kann. Diese Rechtsphilosophie, so lässt sich hinzufügen, hätte folglich ihren Ort im Rahmen der apologetischen Bestimmungen kultureller Formen, zu denen Tillich auch das Recht zählt.578 Daneben kommt es (zweitens) der „Kulturtheologie“ zu, das wechselhafte Verhältnis von theologischem Prinzip und dem profanen Gebilde des Staates auszuloten. Tillich etabliert hier werkbiographisch den Terminus der „Kulturtheologie“. Zugleich stellt er heraus, dass die Beziehung zwischen dem theologischen Prinzip – der Denkweise und Perspektive des Christentums ausgehend von der Rechtfertigung – und der jeweiligen kulturellen Form (Technik und dergleichen) einen Gesichtspunkt des dritten und letzten Teils der Theologischen Ethik darstellen wird.579 Die genaue Aufgabe der „theologischen Morallehre“, wie Tillich hier formuliert, besteht (drittens) darin, das Auseinanderklaffen von sittlicher Freiheit auf der einen und der benannten Rechtsordnung auf der anderen Seite einzufangen und theologisch zu verarbeiten. Die theologische Morallehre bezieht sich folglich auf die Problematisierung des Staates Die theologische Morallehre dagegen setzt mit dem Problem ein, das durch das mögliche Auseinanderfallen von Rechtsordnung und sittlicher Freiheit gegeben ist. Die Rechtsordnung wirkt als eine höhere Naturordnung, der niemand sich entziehen kann; sie zwingt jeden einzelnen in seine Sphäre.580

Hier zeigt sich das analoge Problem zur Familie: Die Spannung des sozialen Lebens, die der Staat ordnen soll, stellt wiederum das Ineinander von Freiheit und Gebundenheit dar. Die überdeutliche Formulierung als „Zwang“ verweist auf die dialektische Aufgabe, die Freiheit der Einzelnen zwar stets zu ermöglichen, dabei aber nötigenfalls das Gemeinwohl in den Vordergrund zu stellen. Tillichs frühe und deutliche Fokussierung auf die Gemeinschaft klingt auch hier an. Tillich sieht

    

Tillich, Systematische Theologie 1913, 403. Tillich, Systematische Theologie 1913, 403. Siehe oben: Teil 1: B.2.3.1. Siehe unten: Teil 1: B.4.4. Tillich, Systematische Theologie 1913, 403.

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im Staat damit die Rechtsordnung, durch die die einzelnen Personen ihren Ort erhalten. Hier tritt die Orientierung am theologischen Prinzip deutlich zu Tage. Denn einerseits wird hierdurch der Staat als soziale Institution dezidiert bejaht. Andererseits bestimmt Tillich die Rechtsordnung konsequent als eine Sphäre, der „notwendigerweise ein Moment der Relativität anhaftet, das eine unmittelbare Bejahung der Rechtsordnung nicht aufkommen läßt.“581 Somit führt er seine durchgängige Grundlegung aus der Fundamentaltheologie auch hier fort. Eine „unmittelbare“ Bejahung wäre, so lässt sich deuten, allein auf dem absoluten Standpunkt möglich. In der Sphäre der Relativität und nach Eintreten der Reflexion – theologisch: Sünde – muss auch dieser Bereich des menschlichen Handelns zugleich verneint werden, um der Rechtfertigung als theologischem Prinzip zu entsprechen. In der praktischen Konsequenz – auch wenn Tillich das nicht näher ausführt – würde so überdies eine Verabsolutierung des Staates verhindert. Die Lösung, die Tillich ein weiteres Mal implizit am Neuen Testament (Mt 22,15–22) festmacht, liegt im theologischen Paradox, indem das Christentum ein „absolutes Ja zur Staatsautorität mit einem absoluten Nein ihr gegenüber“582 untrennbar verbindet. Insofern das Gegenüber von sittlicher Freiheit und sittlicher Rechtsordnung das Grundproblem in der staatlichen Sphäre des Rechts darstellt, bewegt sich der Mensch für Tillich konsequent zwischen Bejahung und Verneinung dieses Sozialbereichs. Damit entspricht die Struktur wieder dem theologischen Prinzip. Konkret äußert sich dies für Tillich darin, dass der Staat als Gebilde nicht allein und unhinterfragt bejaht werden soll, sondern ebenso die potentielle Verneinung des Staates ausgedrückt wird. In der äußersten Konsequenz besteht daraus abgeleitet ein Recht zur „Revolution“, und zwar in dem Fall, in dem die Sicherung der Freiheit der Personen im Staat durch das „Regiment“583 selbst gefährdet wird. Nur erweist sich diese Revolution gewissermaßen als eine „von oben“, sofern ihr Ziel darin liegt, die ursprüngliche Rechtsordnung nicht zu überwinden, sondern wiederherzustellen.584 Mit der gleichzeitigen Bejahung des Staates als Sicherung der sittlichen Person und der Verneinung im Sinne der Abwehr einer Verabsolutierung einer relativen Form ist der Staat am theologischen Prinzip orientiert und sichert die sittliche Freiheit der Person. Letztere ist dadurch aufgerufen zur „indirekten oder direkten Teilnahme“ als „Arbeit am Staat“585.

    

Tillich, Systematische Theologie 1913, 403. Tillich, Systematische Theologie 1913, 404. Tillich, Systematische Theologie 1913, 403. Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 404. Tillich, Systematische Theologie 1913, 403 (im Original nicht kursiv).

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Im Rückblick auf die erörterte Sozialtheorie und die Ethik der konkreten Formen im „sittlichen Leben“ (von Familie bis Ehe) bleibt also die Rechtfertigung für Tillich die Grundlage der Theologie und speziell auch der Ethik. So äußert sich das universale Rechtfertigungsverständnis, für das Tillich nach eigener Auskunft im ersten Teil die „Bahn frei“586 gemacht hatte, als stringent fortgesetzt. Er sieht hier – durch die deutliche Überordnung der Rechtfertigung über Fragen nach Formalprinzipien – Freiheit für eine „kosmische Betrachtung des Christentums, frei für eine Durchführung des Rechtfertigungsgedankens auf allen Gebieten, welches Aufgabe des dritten Teils [...] ist.“587 Die Nennung des Christentums an dieser Stelle kann nicht unmittelbar als Einschränkung verstanden werden. Dafür spricht, dass die „Kulturtheologie“, die im nächsten Abschnitt thematisiert wird, genau das ist: die Anwendung der Rechtfertigung auf sämtlichen Gebieten des Geisteslebens.588 Dahingehend wird deutlich, wie sehr Tillich auf der Hinwendung Gottes zu allen Menschen insistiert und dies als Grundlage des Sozialverhaltens darstellt. So stellen sich für ihn ausnahmslos alle Personen des Sozialwesens als von Gott akzeptierte Geschöpfe dar, die auch als solche anzusehen sind.589

4.5 Liebe und Reich Gottes: Etablierung der Kulturtheologie Nicht nur die Theologische Ethik, sondern das System von 1913 insgesamt läuft auf den letzten Teil zum „kulturellen Leben“ (§§ 68–72) zu und endet mit dem ersten Versuch einer „Kulturtheologie“590. Dieser Kulturtheologie teilt Tillich die Aufgabe zu, das Verhältnis und somit das Zusammenwirken von profanen und religiösen Ausdruckweisen des menschlichen Geistes zu betrachten. Schon an der Oberfläche und bereits 1913 zeigt sich demzufolge, dass Tillich nicht erst nach dem Ersten Weltkrieg mit der theologisch vorangingen Frage nach der künftigen Rolle der Religion in einem rationalisierten Zeitalter befasst ist, in dem der Einfluss der religiösen und konfessionell bestimmten Kultur deutlich zurückzugehen scheint.591  Tillich, Systematische Theologie 1913, 320.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 320.  Siehe unten: Teil 1: B.4.5.  Siehe zu diesem Aspekt kritisch: Resümee: 2.  Vgl. die werkgenetisch erste Einführung im Paragraphen zum Staat in der konkreten Ethik: Tillich, Systematische Theologie 1913, 403. Dazu wurde in dieser Untersuchung Tillichs Unterscheidung in philosophische, theologische Ethik und Kulturtheologie hervorgehoben (siehe oben: Teil 1: B.4.4).  Vgl. dazu auch oben Einleitung: 1. Dass diese Fragen im zeitgenössischen Denken virulent waren und dass Tillich in besonderer Weise von Ernst Troeltsch darin beeinflusst ist, wurde im ersten Teil bereits angezeigt: Siehe Teil: A.2.

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Mit dem Ansatz, Theologie als Reaktion auf den Relevanzverlust der Religion zu betreiben und darin das Verhältnis zur Kultur in den Mittelpunkt zu stellen, reiht sich Tillich sowohl theologiegeschichtlich als auch zeitgenössisch in einen bereits etablierten, kulturtheoretischen Zugriff auf theologische Fragen ein. Hier ist insbesondere an die „liberalen“ Vertreter des später sogenannten „Kulturprotestantismus“ zu denken. Doch auch das kulturtheologische Programm Richard Rothes, den Tillich schon im 1913er Text erwähnt, klingt in seinen Überlegungen an.592 Tillich stellt zum Ende der Fundamentaltheologie eine direkte Verbindung her zwischen der vollendeten, idealen Religion der Freiheit593 (also der Rückkehr von Reflexion zur Intuition im Reich Gottes) und Rothes Vorstellung einer Verschmelzung religiöser und kultureller Formen zu einem christlichen Kulturstaat.594 Der Einfluss Georg Simmels – auf den Tillich im kulturtheologischen Programmtext Über die Idee einer Theologie der Kultur von 1919 dann explizit referiert595 – lässt sich im Rückblick auf den ersten Teil des 1913er Textes ebenso vermuten.596 In einem weiteren Blick auf die geistesgeschichtliche Situation kann der Kulturbegriff zweifelsohne als Leitthema der Geisteswissenschaft um 1900 bezeichnet werden.597 Die Frage, wie sich zeitgenössisch Geisteswissenschaft – und

 Hier bezieht sich Tillich explizit auf Rothes Idee einer Aufhebung sämtlicher Gegensätze von „Heilig und Unheilig“ im „Idealreich“ der „absoluten Religion“. „Wenn aber auch in der absoluten Religion bestimmte Formen als religiöse erhalten bleiben, so doch nicht unter dem Gesichtspunkt freier Auswahl aus lauter an und für sich Heiligem (Richard Rothe), ohne Autorität und Dogma, ohne Priester und Sakramente, ohne Prophet und Offenbarung: Die Religion der vollkommenen Freiheit“ (Tillich, Systematische Theologie 1913, 304). Rothes Konzept der letztendlichen Einheit von Religion und Kultur gehört zu den gedanklichen Voraussetzungen, die Tillich registriert hatte. Dies äußert er konkret dann auch in den Manuskripten rund um die Tambacher Tagung vom September 1919; vgl. „Die prinzipiellen Grundlagen und Aufgaben unserer Bewegung“, in: Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908–1933), zweiter Teil, Bd. XI, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Erdmann Sturm (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1999), 237–262, 245. Auf die mögliche Verbindung zu Rothe wurde bislang selten abgehoben, obwohl sie früh vermutet wurde: vgl. Heinz-Dietrich Wendland, „Der Religiöse Sozialismus bei Paul Tillich“, in: Marxismus-Studien, 4. Folge, Tübingen: Mohr, 1962, 171–176, 208; Erdmann Sturm, „Tillichs religiöser Sozialismus im Rahmen seines theologischen und philosophischen Denkens“, in: Christian Danz/Werner Schüßler/ Erdmann Sturm (Hg.), Religion und Politik (Wien: Lit, 2009), 15–34, 18. Siehe zur Tambacher Tagung 1919 und dem Beginn des Religiösen Sozialismus unten Teil 2: B.1; ferner grundlegend Christophersen, Kairos, 27–39.  Siehe dazu oben Teil 1: B.2.3.3.  Vgl., Friedrich Wilhelm Graf, „Richard Rothe“, RGG4 7 (2004), 646–649, 647.  Vgl. Tillich, „Theologie der Kultur“, 23.  Siehe oben: Teil 1: B.2.3.1. Zur Simmelrezeption Tillichs vgl. Fritz, Menschsein als Frage, 33–35.47–50.  Vgl. dazu vom Bruch/Graf/Hübinger, Kultur und Kulturwissenschaft.

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darunter auch Theologie – systematisch betreiben lässt, bestimmt auch in hohem Maße Tillichs Denken zu dieser Zeit. Im Folgenden werden zunächst die für diese Untersuchung zentralen Paragraphen des Kulturteils interpretiert. Sodann wird die Forschungsfrage aufgegriffen, inwieweit Tillich eine „Ersetzung“ theologischer Ethik durch die Kulturtheologie 1913 bereits vor Augen steht. Es soll also an dieser explizit kulturtheologischen Stelle des Systems auf die Frage eingegangen werden, ob Tillich bereits 1913 implizit eine ausdrücklich theologische Ethik in eine „Theologie der Kultur“ überführt und es damit für ihn bereits zu dieser Zeit keine dezidiert theologische Ethik mehr geben kann. In diesem Fall wäre der explizite Schritt im Kulturaufsatz von 1919 vorweggenommen.598 Betrachtet man vor diesem Hintergrund zunächst die einzelnen Analysen in der „Kulturtheologie“ von 1913 (§§ 68–72), so ist die enge Verbindung zu den vorigen Abschnitten des Textes offenkundig. Tillich kennt fünf Verhältnisse, in denen sich die Beziehung von Religion und Kultur in besonderer Weise zum Ausdruck bringt: Für jene Verhältnisse stehen die Formen „Technik und Reich Gottes“, „Staat und Kirche“, „Humanität und Liebe“, „Kunst und Kultus“ sowie „Wissenschaft und Dogma“599. Damit nimmt er also die drei Grundverhältnisse von religiösen und profanen Formen aus der Apologetik600 auf und erweitert sie um zwei weitere Aspekte (Technik und Reich Gottes sowie Humanität und Liebe), welche im Folgenden insbesondere fokussiert werden. Methodisch geht Tillich analog zur Behandlung der Sozialformen vor: Es wird jeweils eine profane Form analysiert, die sich in einer „dialektische[n] Not“ befindet, wobei das theologische Prinzip wiederum auf die „Erlösung“601 aus jener prekären Spannung verweist. Die religiösen Formen (Reich Gottes und dergleichen) repräsentieren diejenigen Bereiche, die der Kultur ihren eigentlichen Gehalt geben.602 Die Frage der Theologischen Ethik im dritten Teil lautet demgemäß in allen Beziehungen zwischen Kultur und Religion: Wie steht das theologische Prinzip dazu? Ist es kulturverneinend, überläßt es die Kultur ihrer Selbstzerstörung, oder hat es [...] auch ein erlösendes Ja? Ist es auch auf diese Geistestätigkeit anwendbar?603

 Vgl. dazu Tillich, „Theologie der Kultur“, 16 und unten in diesem Abschnitt.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 429.  Siehe dazu oben: Teil 1: B.2.3.3 und Systematische Theologie 1913, 297 f.  So jeweils die zusammenfassende Formulierung Richard Wegeners in den Leitsätzen der Abschnitte: Tillich, Systematische Theologie 1913, 416.418.421.423.424 (im Original kursiv).  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 418.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 416.

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Im Anschluss an die Grundbestimmung der Rechtfertigung als Ja und Nein gegenüber dem Menschen, den Schöpfungen seiner Umwelt und seinem Handeln entscheidet auch hier das theologische Prinzip über den Umgang mit den profanen Formen der Kultur. Mit dem Einsatz der Kulturethik bei der Verbindung „Technik und Reich Gottes“ (§ 19/68) äußert sich zunächst einmal mehr Tillichs frühe Affinität zum Technikbegriff. Unter Technik versteht Tillich sowohl hier als auch den bisherigen Texten zufolge die „sachliche Kulturarbeit [...] im weitesten Sinne.“604 Insofern handelt es sich bei der Technik um Errungenschaften des Menschen, in denen er sein Entwicklungspotenzial als kreatives Geistwesen und gegenüber der Natur zum Ausdruck bringt. Im direkten Verweis auf die Folgen der Reflexion stellt sich in Tillichs Sicht die „dialektische Not“ als Differenz von „Weltbeherrschung“ und „Weltknechtschaft“605 heraus. Er rekurriert damit explizit auf die dargelegten Folgen der Sünde oder Reflexion im ersten Systemteil. Für den sachlichen Bereich hatte Tillich dort exemplarisch eine auf Egoismus beruhende Wirtschaft in den Blick genommen, in welcher sachliche Güter von Mitteln zu Zwecken verwandelt werden, die den Einzelnen scheinbar zur individuellen Freiheit verhelfen. Die Reaktion darauf sei die Entstehung des Sozialismus als Gegenbewegung gewesen.606 Tillich spielt aber genauso auf die Differenzierung von Kulturarbeit und Reichgottesarbeit an, wie er sie in der Grundlegung zur Ethik als Differenz von Askese und Ästhetizismus in Anschlag gebracht hat. Dort stand die Reichgottesarbeit für den Versuch, durch alleinige Konzentration auf religiöse Arbeit eine Güterverachtung herzustellen.607 Die Kulturarbeit hingegen zielte auf den gegenteiligen Weg, also die positive oder auch genießende Haltung gegenüber weltlichen Gütern, zu denen eben auch die technischen zu zählen sind. Jetzt – im Rahmen der theologisch-ethischen Kulturanalyse – geht Tillich davon aus, dass die Technik durch das theologische Prinzip durchaus positiv bejaht und somit „gerechtfertigt durch das Paradox“608 werde, allerdings nur dann, wenn sie der Durchsetzung des Reich Gottes dient.609 Das wird anhand dreier Merkmale skizziert, die für Tillich direkt an den drei Momenten des theologischen Prinzips orientiert sind. Zum einen äußere sich das erste – abstrakte – Moment des theologischen Prinzips in der Technik als sachlicher Kultur, indem der

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 416. Siehe zur parallelen Terminologie in der Monismusarbeit und der Systematischen Theologie von 1913 oben Teil 1: A.2 beziehungsweise B.2.3.1.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 416.  Vgl. oben: Teil 1: B.2.4, und Tillich, Systematische Theologie 1913, 311.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 397 und oben Teil 1: B.4.2.3.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 416.  Vgl. wiederum den zusammenfassenden Leitsatz Wegeners: Systematische Theologie 1913, 416.

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„Geist sich befreit von seiner Unmittelbarkeit“ im „ewigen in Gott gesetzten Verhältnis von Geist und Natur.“610 Das bedeutet für Tillich eine geradezu wundergleiche Darstellung der göttlichen Offenbarung in und durch die sachlichen Errungenschaften der menschlichen Geisteskultur. In den damit einhergehenden Entwicklungen und Schöpfungen ereigne sich eine „Anschauung der absoluten Wahrheit“611. Mit dieser überaus positiven Umschreibung der religiösen Begründung technischen Fortschritts kommt eindeutig das bejahende Moment der Rechtfertigung zum Austrag. Jene Bejahung äußert sich auch im konkreten Moment des theologischen Prinzips. Für diese Bejahung des Konkreten durch die Rechtfertigung steht als Beispiel die Kirche: „Die sachliche Kultur tritt in den Dienst des Reiches Gottes. [...] Sie ist die ständige Basis alles geschichtlichen Werdens, auch des Wachsens der Kirche. Das Reich Gottes könnte sich nicht realisieren ohne sie.“612 Es besteht für Tillich also eine direkte Wechselwirkung zwischen den Formungen und Entwicklungen der sachlichen Güter durch den Menschen und der Entfaltung der Kirche als Raum des theologischen Prinzips im religiösen Vollzug der Menschen. Darüber hinaus kommt wiederum der klare Bezug zu den anthropologischen und geistphilosophischen Überlegungen der Fundamentaltheologie zum Ausdruck. Wie bei deren Erörterung bereits vorausblickend angemerkt, weist Tillich der sachlichen Kultur eine fundierende Stellung im Blick auf Sittlichkeit und Religion zu: „Geisteskultur, Sittlichkeit und Religion wären nicht möglich ohne sie. In ihr befreit sich der Geist zuerst aus den Banden tierischen Daseins.“613 Tillichs deutlich positive Fortschrittsrhetorik, die er in der Grundbestimmung des Menschen als Geist angelegt hatte, erfährt hier ihre ethisch-kulturhermeneutische Anwendung.614 Möglich ist dieser optimistische Zugriff auf sachliche Güter dabei allein durch die andere, verneinende Seite der Rechtfertigung. Denn dort, wo technische Mittel verwendet werden, besteht ständig auch die Gefahr des Gebrauchs ohne den Bezug zum Reich Gottes. Diesen negativen Gebrauch macht Tillich wiederum am „geistlosen Luxus“ fest und bezeichnet ihn ebenso als „Macht“. Hiermit übernimmt er sein eigenes Vokabular aus der Monismusarbeit615 und wählt als Beispiel den Kapitalismus:

     

Tillich, Systematische Theologie 1913, 417. Tillich, Systematische Theologie 1913, 417. Tillich, Systematische Theologie 1913, 417. Tillich, Systematische Theologie 1913, 417. Siehe nochmals oben: Teil 1: B.2.2. Siehe oben: Teil 1: A.3.

4 Theologische Ethik: Nächstenliebe als Anerkennung der Person

199

Und auch die gewaltigsten Konzentrationen sachlicher Kultur (Kapitalismus) führen dann zu keiner zerstörenden Kulturkritik, weil sie die kraftvollsten Mittel im Dienst des Reiches Gottes werden.616

Hier geht Tillich also so weit, dass es durch die positive Ausrichtung der sachlichen Formen auch zu einer positiven Ausrichtung der Wirtschaftsformen in der gebrochenen Welt der Reflexion oder Sünde kommen kann. Dazu ist es aber notwendig – hier kommt die Verneinung zum Tragen –, sich der gleichzeitigen Negativität der Technik bewusst zu sein. Denn jeder Fortschritt birgt, so lässt sich Tillich verstehen, dem theologischen System gemäß das Risiko der Verkehrung sachlicher Errungenschaften, welche dann der Reflexion beziehungsweise Sünde, nicht aber dem Reich Gottes dienten.617 Das dritte Moment des theologischen Prinzips schützt vor der „Verzweiflung des Geistes an der sachlichen Kultur“618, weil darin die Vollendung, das Reich Gottes, erahnt werde. Das bedeutet: Die Nutzung der kulturellen Güter stellt eine positive Repräsentation der Reich-GottesIdee dar, sofern sich der nutzende Mensch im Rahmen der Verwendung über den Bezug zum begründenden Absoluten bewusst ist. Nach den Ausführungen zur Technik thematisiert Tillich nochmals das Verhältnis von Staat und Kirche619, um dann den ethisch tragenden Liebesbegriff ein Tillich, Systematische Theologie 1913, 417.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 418.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 418.  Die „Not“ des Staates besteht darin, dass er einerseits „Träger des gesamten Kulturgehaltes“ (Tillich, Systematische Theologie 1913, 418, folgende Seiten beziehen sich weiter auf den Text) ist, dabei jedoch den eigentlichen Gehalt nicht herstellen kann, sondern ihn von der Kirche als religiöser Form erst erhält. Der Staat gerät so in Gefahr, sich als alleinigen Garanten des gesellschaftlichen Lebens in „Recht und Sitte, Wahrheit und Sittlichkeit, Kunst und Religion“ (418) zu sehen. Das theologische Prinzip bejahe den Staat daher in „analoger Weise wie [...] die sachliche Kultur“ (419). Das bedeutet, das theologische Prinzip rechtfertigt den Staat als irdische Repräsentation des Reiches Gottes, insofern er sich daran ausrichtet. Diese Rechtfertigung oder Bejahung werde in der Relation zur Kirche virulent, weil der Staat erst durch die religiöse Form der Kirche seinen eigentlichen „Inhalt“ (419) bekomme. Tillich erklärt das näher anhand der in der Dogmatik eingeführten Synthesen von Welt- und Kirchengeschichte: „Insofern nun die Kirche dieses Paradox in sich trägt und von ihm aus die Synthese mit der Kultur schafft, ist sie die Trägerin des Gehaltes, ohne den der Staat nicht sein kann“ (419). Die Synthesen in der Verbindung von Staat und Kirche seien aber notwendig relativ, sodass der Staat nicht religiöse Formen der Kirche schlicht übernehmen könne (419). Eine präzisere Verortung des Staates im Sinne der Kulturtheologie nimmt Tillich durch die Abgrenzung zu zwei Seiten hin vor: Weder sei die mittelalterliche Idee eines Gottesstaates denkbar, weil darin vorausgesetzt sei, dass die Kirche in allen Bereichen des Lebens, also in allen Synthesen ausnahmslos die Verkörperung des Reiches Gottes darstelle (vgl. 419). Noch sei die moderne liberale Staatsidee eine Alternative, weil der Staat Träger aller Formen – auch der Kirche – sei. Sofern es zu einer Trennung von Staat und Kirche komme, könne der Staat diese Aufgabe nicht mehr wahrnehmen (419). Deshalb muss für Tillich das Ver-

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B Die Entfaltung von Freiheit und Nächstenliebe

zuführen. Dazu setzt er die Liebe als religiöse mit der Humanität als profaner Form in Beziehung (§ 21/70). Er schließt mit dem Bezug der beiden Formen unmittelbar an die Thematisierung im Teil zur anerkennenden Gesellschaft an. Dort etablierte Tillich die Humanität als Versuch des Menschen, sich gegen Formen der Lieblosigkeit zu stemmen.620 Hier – wie in allen Formen des Handelns – bestehe aber durchweg die Gefahr, dass die Formen – wie soziale Gerechtigkeit und dergleichen – zu Konventionen werden, die sich selbst zum einzigen Maßstab machten und keinen Bezug zu ihrer religiösen Begründung mehr aufweisen würden. Tillich schließt im vorliegenden Teil zu Humanität und Liebe daran an und sieht in der Humanität die menschlichen Handlungen im Kontrast zu „menschenerniedrigenden und zerstörerischen Konsequenzen der Sündhaftigkeit; sie steht auf dem Standpunkt der Gerechtigkeit.“621 Indem Tillich die profan gehaltene Humanität mit dem Versuch des gerechten Handelns und dann wörtlich mit dem „Gesetz“ identifiziert, kommt bemerkenswerterweise erst im letzten Teil des Systems eine unübersehbare Nähe zur lutherischen Differenz zweier Regierweisen Gottes – also der später so genannten „Zwei-Reiche-Lehre“ – zum Tragen, die auf der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium beruht. Sie [Humanität] sucht Sünde zu verringern und die Güte zu heben [...]. Und ihre Waffen bleiben, wie es auf dem Standpunkt notwendig ist, gesetzlich [...]. Sie bessert Gesetze und soziale Zustände, um die Menschen zu bessern, und gibt den Menschen Gesetze, nach denen sie sich bessern sollen. Ohne sie ist keine Gesellschaft möglich, aber durch sie allein kann die Gesellschaft nicht leben. So hat denn auch das theologische Prinzip ein Ja und Nein für sie wie für den ganzen Standpunkt der Gerechtigkeit.622

Die gleichzeitige und rechtfertigungstheologisch begründete Bejahung und Verneinung der Humanitätsformen zielt darauf, dass es einen Schutzmechanismus gegen die Verabsolutierung profaner Form geben muss. Damit spielt Tillich auf den Begriff der Konvention im Paragraphen zur Gesellschaft an. Strukturell ähnlich zur Beziehung von Autonomie und Theonomie beschreibt Tillich das Verhältnis von Humanität und Liebe so, dass die berechtigten und notwendigen Formen der Humanität von der Liebe zu Formen mit „konkretem Gehalt“623 vertieft werden. Beide Seiten sind aufeinander angewiesen, weil einerseits die Humanität in

hältnis beider dialektisch sein, sodass der Staat der Träger aller Kulturfunktionen (Sitte, Recht, Kirche etc.) ist, dabei aber seinen eigentlichen Gehalt durch den Bezug zum Religiösen erhält.  Siehe oben: Teil 1: B.4.4.1.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 421.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 421.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 422.

4 Theologische Ethik: Nächstenliebe als Anerkennung der Person

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Tillichs Sicht Probleme sehen kann, die der Liebe verborgen seien. Andererseits lasse erst die Liebe die Humanität wirklich verstehen, worin der Gehalt ihres Handelns liege.624 Die Humanität „macht zum allgemeinen menschlichen Gesetz [...], was die Liebe nur gemeint hatte als Wirken von Person zu Person.“625 Liebe stellt sich so als Begründung der konkreten Formen in der Humanität heraus. Entsprechend dem dritten, vereinigenden Moment des theologischen Prinzips vollendet somit die Liebe als sittliches Prinzip die bedingten Handlungen des Menschen, indem sie ihren Bezug zur unbedingten Begründung in der Rechtfertigung Gottes herstellt.626 Tillich sieht folglich in der Liebe die motivierende Vertiefung der konkreten Forderungen nach Gerechtigkeit. „Das theologische Prinzip [...] gibt ihr [der Humanität] neue Motive zur tieferen Erfassung dessen, was wahrhaft human ist, und gibt ihr Persönlichkeiten, die Humanität [...] in Liebe verwandeln.“627 Tillich berührt hiermit eine ethische Grundfrage nach dem Motiv von Handlungen, wie sie bereits im Rahmen seiner Behandlung der sittlichen Motivation („Güterethik“) thematisiert wurde.628 Der vorliegende Abschnitt in der Kulturtheologie schließt dort unmittelbar an. Das zeigt sich bereits daran, dass es in der Güterlehre genau um das Problem geht, wie eine „Gesetzesethik“ in eine Gnaden- respektive Rechtfertigungsethik umgewandelt werden könne. In der Geistgemeinschaft wird nach Tillich das fremde Gesetz in das wechselseitige Handeln überführt, welches aus der Überzeugung geschieht, im Anderen ein gerechtfertigtes Gegenüber zu erkennen. So liegt die Motivation letztlich in der Nächstenliebe begründet. In Bezug auf das Gesamtsystem erscheint es plausibler, die Differenzierung aus dem Blickwinkel der phänomenologischen Beschreibung der Geistesentwicklung zu betrachten. In dem Fall hätte Tillich mit der Erfüllung des Gesetzes in der Liebe wiederum einen entscheidenden Schritt in der Entwicklung der Sittlichkeit vor Augen: Auf dem theologischen Standpunkt und gemäß dem sittlichen Prinzip kommt es zur Begründung des sittlichen Handelns durch die Gemeinschaft der Liebe. Die Brechung von Sitte und Recht – wie sie bereits auf dem absoluten Standpunkt für Tillich aufkommt629 – kann auch ohne Bezug zur Hinwendung Gottes erkannt werden. Das gegenseitige Handeln erhält – theologisch gesehen – indessen seine „Qualität“ durch die Liebe als letztendlicher Motivation.

 Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 422.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 422.  Vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 422.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 421. Siehe kritisch zu diesem Aspekt das Resümee am Ende der Arbeit.  Siehe oben: Teil 1: B.4.2.2.  Siehe oben: Teil 1: B.2.5 die Erörterung der Sittlichkeit mit Aufkommen der Sünde.

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B Die Entfaltung von Freiheit und Nächstenliebe

Die Verbindung zum sittlichen Prinzip signalisiert bereits die Verbindung zur grundlegenden Unterscheidung von Autonomie und Heteronomie sowie Theonomie und Christonomie. Legt man diese vier Grundelemente an das vorliegende Problem von Gesetz und Liebe an, lässt sich die Liebe entsprechend als die ethische Gestalt (Christonomie) der eigentlichen Freiheit (Theonomie) bestimmen. Das, was als fremdes Gesetz oder innerer Gerichtshof entgegentritt, wird erfüllt in der Ausrichtung an der in Gottes Zuwendung fundierten Forderung nach unbedingter Anerkennung meines Nächsten aus Liebe. Die Annahme jedenfalls, eine Handlung im Sinne des theologischen Prinzips müsse aus der Überzeugung der Nächstenliebe geschehen, bestätigt sich im Blick auf Tillichs Konkretisierung verschiedener Gesellschaftsbereiche. Er geht davon aus, dass die profane Humanität für die gesellschaftliche Sicherung in Sitte, der sozialen Frage oder der Gesetzgebung allein zuständig sei. Gemäß dem theologischen Prinzip muss indes zugleich erkannt werden, dass letztlich auch diese Bereiche von der Liebe bestimmt beziehungsweise vollendet werden. An diesem Punkt bleibt Tillich allerdings – das ist entscheidend – nicht stehen. Vielmehr geht er davon aus, dass die konkreten Beziehungen allein durch das „Allerpersönlichste: die absolute Bejahung eines jeden, in welcher Form es auch sei, um der Liebe willen“630 – also die unbedingte Anerkennung aus dem Prinzip der Nächstenliebe heraus – ihren eigentlichen Gehalt zeigen. Es komme, so Tillich weiter, einer Entwürdigung der Person gleich, wenn das Handeln am Anderen ohne die „persönliche Gabe“631 der wechselseitigen Liebe geschehe. Die Gabe werde andernfalls zu einer reinen Sache, die ihren Bezug, so lässt sich deuten, zum sittlichen Prinzip verliert. Damit ist deutlich die rechtfertigungstheologische Forderung der unbedingten Anerkennung der anderen Person fortgeführt. Mit Blick auf die eingangs erwähnte Frage, inwieweit Tillichs Theologie der Kultur als Ersatz einer ausdrücklich theologischen Ethik bereits 1913 vorliegt, sei hier knapp an die Weichenstellungen erinnert, die Tillich in Fundamentaltheologie und Dogmatik diesbezüglich gestellt hat. Auf die Bezüge und die deutlichen Parallelen zum Programm einer „Theologie der Kultur“, welches Tillich nach dem Ersten Weltkrieg dann bis in das Spätwerk verfolgt, wurde hier bereits mehrfach hingewiesen.632 Bis hierher lässt sich sagen, dass Tillich den Schritt zu einem Verzicht auf die theologische Ethik 1913 noch nicht endgültig geht. Ersichtlich ist

 Tillich, Systematische Theologie 1913, 422.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 422.  Siehe dazu oben besonders die Erörterung von Religion und Sittlichkeit in Teil 1: B.2.3.2 und 3 und die Interpretation der Dogmatik und Tillichs „Grundlegung der theologischen Ethik“ in Teil 1: B. 3. Auf die Frage, inwiefern Tillichs kulturtheologisches Programm bereits vor dem Ersten Weltkrieg angedacht war, wird in der Darstellung der Kulturtheologie ab 1919 zurückzukommen

4 Theologische Ethik: Nächstenliebe als Anerkennung der Person

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zwar, dass die „Kulturtheologie aus den Fragestellungen der theologischen Ethik erwachsen ist“633, doch stellen sich die Wendungen „theologische Ethik“ und „Kulturtheologie“ noch nicht als auswechselbar heraus. Zunächst ist zu bemerken, dass Tillich 1913 noch die Theologische Ethik als eigenen Systemteil konzipiert und die Kulturtheologie darin einfügt. Obwohl er – wie an der Dogmatik gezeigt wurde – bereits 1913 eine „theologische Ethik in strengem Sinn“634 ablehnt, ersetzt die Kulturtheologie noch nicht die theologische Ethik als wissenschaftliche Disziplin. So gehören die Fragen von sittlichem Prinzip, dem Verhältnis von Liebe und Freiheit oder der Konstitution der Person – kurzum: die prinzipiellen Begründungsmöglichkeiten moralischen Handelns (wie sie in den vorigen Abschnitten erörtert wurden635) in gleicher Weise zu einer theologischen Ethik dazu. Insofern gehört es zu den wesentlichen Aufgaben der Ethik, die „Scheinkonflikte“ von „Kunst und Kultus“, „Wissenschaft und Dogma“ oder „Kirche und Gesellschaft“ theologisch zu analysieren, wie es im Rahmen der Fundamentaltheologie im Kontext von Religion, Kultur und Sittlichkeit dargestellt wurde. Gleichwohl geht die Theologische Ethik von 1913 noch nicht vollständig in einer Theologie der Kultur auf. Theologische Ethik stellt sich insgesamt bereits 1913 als Reaktion auf den Verlust der Deutungshoheit der Religion heraus und wird damit fast zwangsläufig zu einer religiösen Hermeneutik der Kultur.636 Dementsprechend gilt für die Analyse der Begriffspaare im kulturtheologischen Teil von 1913 und ihre Parallelen im Kulturaufsatz von 1919 in der Tat: „An Stelle des Begriffs ‚theologische Ethik‘ (EW IX, 377) hätte Tillich auch den Begriff ‚Kulturtheologie‘ wählen können.“637 Insgesamt ist jedoch die „theologische Ethik“ 1913 noch nicht mit der „Kulturtheologie“ zu identifizieren. Es ist demnach festzuhalten, dass Tillich den Kulturteil 1913 nochmals bewusst abtrennt und ihm zugleich eine spezielle Aufgabe zuerkennt – nämlich die Verhältnisbestimmung von kulturellen zu religiösen Ausdrucksformen im Leben der Menschheit. Wie im Kontext des Staates als Rechtsgemeinschaft gezeigt wurde, un-

sein. Siehe dazu unten Teil 2: A.2. Vgl. ferner zu dieser Frage nochmals Sturm, „Die Genese von Tillichs Kulturtheologie“, 79–81; G. Neugebauer, Christologie, 283 f.  G. Neugebauer, Christologie, 284.  Tillich, Systematische Theologie 1913, 370.  Siehe oben: Teil 1: B.4.2.  Vgl. zum kulturhermeneutischen Zugang und seinen Hintergründen Fritz, Menschsein als Frage, 4 f. und 45–49.  So Sturm, „Die Genese von Tillichs Kulturtheologie“, 81, im Rekurs auf die Paare in beiden Texten: vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 416–425; „Theologie der Kultur“ 17. Identisch sind hier „Kirche und Staat“, „Wissenschaft und Dogma“ sowie „Kunst und Kultus“. Auch die „Technik“ und den „Staat“ greift Tillich 1919 wieder auf (vgl. Tillich, Systematische Theologie 1913, 22.26).

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B Die Entfaltung von Freiheit und Nächstenliebe

terscheidet Tillich methodisch zwischen philosophischer, theologischer und Ethik der Kultur. Letztere ist hier deutlich darauf gerichtet, die Frage nach der Beziehung von Kultur und Religion separat von den übrigen Fragen der Ethik – religiöses und sittliches Leben – zu verhandeln. Setzt man zudem hier bereits Theologie der Kultur und theologische Ethik gleich, geht die werkgenetische Pointe im späteren Programmtext von 1919 Über die Idee einer Theologie der Kultur verloren. Dort nämlich nimmt Tillich diese Gleichsetzung zweifelsfrei vor.638 Tillich spricht dann aber eben auch nicht mehr explizit von theologischer Ethik, wie er es im 1913er Entwurf noch bewusst tut. Der werkgenetische Überschritt zu einer Neuformulierung der theologischen Ethik durch die Kulturtheologie steht Tillich 1913 also vor Augen; ihre Durchführung wird jedoch erst 1919 wirklich greifbar.639

5 Ertrag Tillich hat in der Theologischen Ethik im Rahmen der Systematischen Theologie von 1913 eine erste Konzeption vorgelegt, die für das Verständnis seiner intellektuellen Entwicklung von erheblicher Bedeutung ist. In Auseinandersetzung mit Texten des frühen Tillich wurde in diesem Kapitel sein Weg zur ersten Ethikkonzeption dargelegt. Ausgehend von der neuidealistischen Kategorie der Sittlichkeit als Selbstbestimmung des Menschen und der Wechselseitigkeit der Sittlichkeit mit Kultur und Religion erweist sich die Entwicklung des Menschen – von seiner unmittelbaren Einheit mit der göttlichen Wahrheit über die sündengleiche Reflexion auf den theologischen Standpunkt – als zentrales Projekt des jungen Theologen. Für Tillich ist deutlich geworden: Als kreatives Geistwesen emanzipiert sich der Mensch von seiner natürlichen Gebundenheit in höhere Freiheitsgrade und verliert sich schließlich – so lässt sich pointieren – im Versuch der Letztbegründung in sich selbst. Effekt der Freiheit ist somit die Sünde als Entfernung von der Wahrheit. Im theologischen Standpunkt oder eben in der Erkenntnis des Erlösungshandelns Gottes in seiner Hinwendung zum Menschen drängt dieser zur Rückkehr zur Wahrheit. Hiermit wird Rechtfertigung zum begründenden Element der Theologie. Auf dieser Grundlage wird es dem Menschen ermöglicht, sich als Geschöpf und Teil der Gemeinschaft Gottes zu erkennen und durch das wechselseitige, von Nächstenliebe bestimmte Handeln die Rückkehr zu seiner Einheit mit dem Absoluten in den personalen, sozialen wie kulturellen Bezügen zu realisieren.

 Vgl. nochmals Tillichs These in „Theologie der Kultur“, 16 f.  Dieser Überschritt wird dementsprechend auch an späterer Stelle thematisiert: siehe Teil 2: A.2.

5 Ertrag

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Letzteres gedanklich einzufangen und systematisch zu beschreiben, bildet die prinzipielle Obliegenheit der Grundlegung theologischer Ethik. Sie bringt – von der Frömmigkeit der Person ausgehend – das „sittliche Prinzip“ als praktischen Ausdruck des theologischen Prinzips in eine systemische Gestalt: In der Überwindung heteronomer wie autonomer Überfrachtung gelangt die sittliche Persönlichkeit zur Einsicht, dass sie wahrhaft frei (theonom) wird, wenn sie sich ihrer Angewiesenheit der Liebe Gottes bewusst wird und dies im liebenden Handeln (Christonomie) in der Gemeinschaft zur Geltung bringt. Für diese Einsicht bleibt die universell gefasste Rechtfertigung die einzige Grundlage. Aus dieser christlich geformten, zugleich aber universellen Fundierung des moralischen Handelns leitet sich in Tillichs Konzept die ethische Forderung ab, sein Gegenüber als geliebtes Geschöpf unbedingt anzuerkennen. Die konkrete Ethik hat zu beschreiben, wie sich diese Anerkennung als praktische Nächstenliebe in den Bereichen des menschlichen Lebens ausgestaltet. Wie gezeigt wurde, entwirft Tillich von den feinsten Kommunikationsformen wie Blick und Anrede der anderen Person bis hin zum Aufbau einer an der Liebe orientierten Gesellschaft eine theologische Idee unbedingter Anerkennung der Person als gerechtfertigtes Gegenüber. Ausgeweitet wird das Konzept als erste Modellierung einer theologischen Kulturhermeneutik, welche das spanungsreiche Verhältnis christlicher Lebensform zur Technik oder der profanen Idee der Humanität, der Kunst oder Wissenschaft theologisch einzufangen versucht. Damit sind die Implikationen von Tillichs früher theologischer Arbeit und deren erster eigenständige Ausgestaltung für sein Werk unverkennbar. Mit dem ersten großen Entwurf schließt Tillich nahtlos an die ersten Denkversuche der Studienzeit an und konzeptualisiert die zuvor angedeuteten Grundlagen zu einem eigenen System. Es gilt im folgenden zweiten Teil aufzuzeigen, inwiefern sich die frühen Weichenstellungen für den ethischen Ansatz in einem veränderten Kontext fortsetzen und worin die maßgeblichen Kontinuitäten und Diskontinuitäten zu sehen sind.

Teil 2: Liebe und Anerkennung als (sozial-)ethische Leitkategorien im Religiösen Sozialismus (1919–1933)

A Kulturtheologie und Wissenschaftssystematik (1919–1923) Das folgende Kapitel fragt nach der kulturtheologischen und wissenschaftstheoretischen Reorientierung der Ethik als Theologie der Kultur ab 1919. Es stellt die Vorbereitung für die nachfolgenden Kapitel B und C dar. Im ersten Abschnitt (1.) wird die Kulturtheologie im Kontext der Wissenschaftstheorie als ethisches Verfahren analysiert. Dazu wird besonders auf die Programmschrift Über die Idee einer Theologie der Kultur1 von 1919 Bezug genommen. Die Vorlesung Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart und der Entwurf Rechtfertigung und Zweifel2 aus demselben Jahr werden ergänzend herangezogen. Der zweite Abschnitt (2.) fokussiert Tillichs vierfaches Modell der menschlichen Vollzüge, welches sich als Neufassung des bekannten Dreierschemas der Frühzeit herausstellt. Dieses Modell wird besonders in der ersten ausführlichen Verortung der Ethik im System der Wissenschaften nach seinen Gegenständen und Methoden3 (1923) und der Religionsphilosophie4 (1923/25) greifbar. Die Zusammenfassung des Ertrages (3.) schließt das Kapitel ab.

1 Kontextualisierung Während 1915 bereits „Alles Krieg“ ist, „bis in die Themata der Seminare hinein“5, kann Wilhelm Lütgert Tillich im Juli immerhin eine erfreuliche Rückmeldung über den positiven Ausgang seines Habilitationsverfahren in Halle (Saale) über-

 Auf den Kulturaufsatz von 1919 wurde bereits in Teil 1: B.4.5 Bezug genommen, da an dortiger Stelle der eigentliche Ursprung des Konzepts einer theologischen Kulturanalyse liegt.  Tillich, „Rechtfertigung und Zweifel“ (1./2. Version), in: Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908–1933), erster Teil, Bd. X, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Erdmann Sturm (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1999), 127–230.  Tillich, System der Wissenschaften, siehe dazu auch die werkbiographische Einordnung oben: Teil 1: B.1.  Tillich, „Religionsphilosophie“ (1923/25).  „Wilhelm Lütgert an Paul Tillich (08.07.1915)“, in: Ein Lebensbild in Dokumenten. Briefe Tagebücher, Berichte, Bd. V, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich hg. von Renate Albrecht und Margot Hahl (Stuttgart/Frankfurt a.M.: Evangelisches Verlagswerk, 1980), 101–103, 103. https://doi.org/10.1515/9783111025490-004

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A Kulturtheologie und Wissenschaftssystematik (1919–1923)

mitteln.6 Das Ende des Ersten Weltkriegs am 11. November 1918 erlebt Tillich – nach vier Jahren seiner seelsorglichen Tätigkeit im Feld – als Garnisonspfarrer in Berlin Spandau.7 Seinem Vater berichtet er im April 1918 von einem zweiten Nervenzusammenbruch. Lieber Papa! Nachtmärsche – Biwaks – Flieger – Granaten – tote Engländer – Wüsteneien, und als wir dann in den Kampf sollten, versagten die Nerven; unser Arzt schickte mich zur Erholung ins Lazarett; nahe der Front. In spätestens 14 Tagen hoffe ich zurück zu sein; es geht mir nicht einmal besonders schlecht, damals nach Verdun war es viel schlimmer; aber ich konnte es mir nicht mehr leisten; das zeigt mir, daß es an der Zeit ist, überhaupt zurückzukommen, wie so viele, zumal ja noch viele herausmöchten. [...] [H]ier bin ich nichts Ganzes mehr. Steckt mich wohin ihr wollt.8

Als Teil der in den 1880er Jahren geborenen Generation9 erlebt Tillich die Folgen des Ersten Weltkriegs als Symptome absoluten Sinnverlusts und erkennt in seiner Gegenwart Signale für einen Zusammenbruch von Kultur und Zivilisation. Noch ein Jahr vor Kriegsende richtet er sich aus dieser Gestimmtheit an Maria Klein: „Es gibt auch reine theologische Desaster, alles in allem immer dasselbe! Und hier im Feld! An der Theodicee bricht alles zusammen, was denken zu können glaubt.“10 Im vollständig resignierten Tonfall schildert Tillich dem alten Studienfreund Emanuel Hirsch die „Katastrophe“ des Kriegs, der „nur destruktiv“11 gewirkt habe. Re-

 Tillich hatte seine Habilitationsschrift mit dem Titel „Der Begriff des Übernatürlichen, sein dialektischer Charakter und das Prinzip der Identität dargestellt an der supranaturalistischen Theologie vor Schleiermacher“, buchstäblich im Schützengraben fertiggestellt. Anhand der Gutachten und der Rückmeldung Lütgerts zeigt sich, dass Tillich ohne dessen Hilfe wohl „nicht Privatdozent in Halle geworden wäre“ (Georg Neugebauer, „Tillichs Rehabilitierung. Universitätsgeschichtliche Hintergründe“, in: Christian Danz/Werner Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919–1920) (Münster: Lit, 2008), 313–327, 315.  Vgl. Pauck/Pauck, Tillich, 71.  „Tillich an Johannes Tillich (01.04.1918)“, in: Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische und politische Stellungnahmen und Gespräche, Bd. VI, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich hg. von Renate Albrecht und René Trautmann (Frankfurt a.M.: Evangelisches Verlagswerk, 1983), 109.  Vgl. zur Einordnung der sogenannten „Frontgeneration“ nochmals Graf, „Weimarer Republik“, 29–45.  „Tillich an Maria Klein (14.10.1917)“, in: Ein Lebensbild in Dokumenten. Briefe Tagebücher, Berichte, Bd. V, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich hg. von Renate Albrecht und Margot Hahl (Stuttgart/Frankfurt a.M.: Evangelisches Verlagswerk, 1980), 119–120, 120. Maria Klein (später Klein-Rhine) war die älteste Tochter von Tillichs vorgesetztem Pfarrer in Lichtenrade, dessen Pfarrstelle er ab Frühjahr 1909 vertrat. Nach Kleins Rückkehr assistierte Tillich ihm noch bis Oktober 1909 (vgl. Neugebauer, Christologie, 155).  „Tillich an Emanuel Hirsch (12.11.1917)“, 97.

1 Kontextualisierung

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sultat sei ein „hemmungslosen Negieren [...] mitten in den treuesten Kreisen, wo nur Energie des Geistes und Nietzsches Hauch weht“ – und gleichsam rhetorisch schließt er fragend, „Ist es vielleicht ein ‚Ende‘, an dem wir stehen?“12 Geschichtsphilosophische Diagnose- und Krisenformeln unterschiedlichster Couleur wie Oswald Spenglers „Untergang des Abendlands“13 oder Georg Lukácsʼ „transzendentale Obdachlosigkeit“14 lagen im Trend. Und im Duktus nicht unähnlich attestiert Tillich den Menschen seiner Zeit eine „Gebundenheit an die Immanenz“, die keinen Bezug mehr zum „transzendenten Sinn“15 zu erlauben scheint, wie Tillich den daheimgebliebenen Freundinnen und Freunden in einem seiner Rundbriefe erklärt. Seinen religionstheoretischen Ausdruck findet Tillichs Diagnose dann systematisch in seiner ersten größeren Abhandlung nach Ende des Kriegs über Rechtfertigung und Zweifel (1919), mit der er sich in Berlin ursprünglich vorstellen wollte.16 Darin stellt Tillich die Frage nach dem möglichen Anknüpfungspunkt der Rechtfertigungslehre beim zeitgenössischen Menschen, für den der radikale Zweifel eine anthropologische Grundstimmung zu sein scheint. Im Ergebnis steht Tillichs sinntheoretischer Religionsbegriff, der den Zweifel im Ansatz einschließt und nicht zu überwinden versucht.17 Aus der ethischen Perspektive ist es eine ganz bestimmte Erfahrung, die Tillich in der Folgezeit zu einer eigenständigen Analyse von Religion, Gesellschaft und Politik motiviert. Diese Analyse entfaltet er im Sommer 1919 zum ersten Mal ausführlich in seiner ersten Vorlesung als Privatdozent an der Berliner Fakultät

 „Tillich an Emanuel Hirsch (12.11.1917)“, 97.  Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 2 Bde. (München: Beck, 1918/1923).  Georg Lukács, „Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik“, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 11 (1916), 225–271.  Tillich, „Bericht über die Monate November bis Dezember 1915“, in: Impressionen und Reflexionen. Ein Lebensbild in Aufsätzen, Reden und Stellungnahmen, Bd. XIII, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk 1972), 77–79, 79.  Vgl. Sturm, „Zum Text Rechtfertigung und Zweifel (1999), in: EN X, 127.  Vgl. Fritz, Menschsein als Frage, 31: „Unter der Voraussetzung, dass sich Autonomie in der Sphäre des Intellektuellen als reflektierende Distanz zu vormals unbefragten Wahrheiten und mithin als Zweifel darstellt, bedeutet dies: Glaubensgewissheit ist nicht mehr länger von einer Überwindung des Zweifels am religiösen Gehalt abhängig zu machen, sondern unter uneingeschränkter Geltung des letztlich unüberwindbaren Zweifels zu denken, soll sie nicht den Charakter intellektueller Werkgerechtigkeit annehmen und am Ende an der Spannung gegenüber dem beschwerten Wahrheitsgewissen zerreißen.“

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A Kulturtheologie und Wissenschaftssystematik (1919–1923)

unter dem sprechenden Titel Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart.18 Er sieht den Zusammenbruch einer fortschrittsoptimistischen und idealistischen Epoche in den aktuellen Ereignissen vorgezeichnet. Der Grund hierfür liegt für ihn in einer besonders von protestantischer Individualitätskultur beförderten Vereinzelung im Gewand vermeintlicher Bürgerlichkeit, die zwangsläufig zu einem Ende kommen müsse: „[U]nwiderleglich“ – so diagnostiziert Tillich eindeutig in der Christentum-Vorlesung – „sind in den letzten fünf Jahren die Wirkungen der individualistischen Kultur ad absurdum geführt worden.“19 Mit der Betonung der Folgen einer individualistischen Reflexionskultur, die den Sinn für das Transzendente verloren hat, ist unumwunden der Protestantismus als mitschuldig angesprochen. Zugleich ist die Brücke zum frühen Denken geschlagen und ein Bezug zur reflexiven Vereinzelung in der Systematischen Theologie von 1913 zu erkennen: Das Kaprizieren auf die individuelle Persönlichkeit und ihre Vernunftfähigkeit führt zur radikalen Vereinzelung. Exakt darin sieht Tillich den Grund für den Zusammenbruch des bürgerlich-idealistischen Denkens zu dieser Zeit. In der Tat ist diese „Kritik an der protestantisch-bürgerlichen Auffassung der Persönlichkeit [...] der Kern von Tillichs Sozialphilosophie.“20 In der zeitgenössischen Situation sieht Tillich drei soziale Schichten, die je auf ihre Weise von den Wirkungen des Individualismus getroffen sind. Wir, die geistig Lebendigen, ertragen diese Kultur nicht mehr im Geistigen, die Massen der an ungeistige Arbeit gefesselten ertragen sie nicht mehr in ihrer Arbeit, und diejenigen, die

 Die Vorlesung stellt insgesamt eine Durchführung der Kulturtheologie auf Grundlage des theologischen Prinzips dar (folgende Seitenzahlen beziehen sich auf diesen Text). Den maßgeblichen Ausgangspunkt dafür stellen Ernst Troeltschs Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen von 1912 dar, die Tillich unbedingt zum Kauf empfiehlt und die nach seinem Bekunden und gemäß seiner Darstellung in der Vorlesung „Epoche gemacht“ (28) haben, weil Troeltsch „zum ersten Mal die Zusammenhänge zwischen christlicher Ethik und gesellschaftlicher Entwicklung, die wechselseitigen Bedingtheiten und die tiefen Probleme, die sich daraus ergaben und noch ergeben, mit voller Klarheit erfaßt“ (30). Im Januar 1919 konnte Tillich seine Umhabilitierung von Halle an der Saale an die Universität Berlin erwirken. Nach der Hilfe Lütgerts beim Habilitationsverfahren ist es dieses Mal die Fürsprache Reinhold Seebergs, die hierfür wohl ausschlaggebend gewesen ist. Sein akademisches Ziel, an der Alma Mater nun als Lehrer zu wirken, hatte er damit erreicht; vgl. Erdmann Sturm, „‚Vielleicht kommen wir nun doch zu einer gemeinsamen Arbeit in Berlin‘. Paul Tillichs Briefe an Reinhold und Erich Seeberg (1924–1935)“, in: Christian Danz u. a. (Hg.), Theology and Natural Science (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2012), 211–254, bes. 211–215.  Tillich, Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart, 81.  Folkert Wittekind, „Karl Barth und die moderne Predigt. Homiletik und Glaubensverständnis bei Niebergall, Tillich und Karl Barth“, in: ZThK 98/3 (2001), 344–371, 359 Anm. 27.

1 Kontextualisierung

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sich anscheinend wohl dabei fühlen, die oberen ungeistigen Schichten, leiden in tiefster Seele unter der Qual der Entleerung des Lebens durch das Prinzip des Individualismus, das von Kritik zu Kritik führt, aber nicht aufbauen, nicht neue Inhalte geben kann.21

Sich selbst und sein Vorlesungspublikum rechnet er offensichtlich zu den geistig noch Lebendigen und ruft auf zur Mitgestaltung. Es ist Kairos!22 – und Tillich möchte Teil dessen sein, was er vom Pult aus verkündet. „An dem Tempel dieser neuen Idee mit zu arbeiten, möchte ich Sie [...] aufrufen. Es muß sein.“23 Es zeigt sich darin die gleichsam gegenläufige Überzeugung, dass ein tiefes Verlangen nach transzendenter „Sinnbewirtschaftung“24 auch für den modernen Menschen und seine kulturelle Situation weiterhin konstitutiv sei. Das Erleben von Sinnverlust schlägt somit bei Tillich um in den berauschten Aufruf zur Mitarbeit an einer neuen Gesellschaft, die auf der Einheit von Kultur und Religion basieren soll. Tillichs eigene Bewältigungsstrategie besteht demzufolge trotz – oder möglicherweise gerade aufgrund – der um sich greifenden Krisenstimmung in einer optimistischen Aufbruchsstimmung, nicht in nihilistischer Abwendung von jeglicher transzendenten Tiefendimension der Kultur. Und es ist diese Stimmung, aus der heraus auch Tillichs Idee einer Ethik der Kultur, wie er sie in den kommenden Jahren entwickeln wird, allein verständlich wird. In seiner Zeit sieht Tillich nicht weniger als eine Epochenwende, wie es sie seit der Reformation oder dem Sieg des Christentums über die germanischen Völker nicht mehr gegeben habe.25 Das mögliche „Ende“ einer Zeit oder die alles hinwegfegende Sinnlosigkeit, auf die Tillich reagieren möchte, lässt sich seiner Ansicht nach allein durch die Mitarbeit an einer neuen Synthese aus Religion und Kultur positiv verarbeiten. Wie das geschehen soll, beschreibt Tillich zumindest in Umrissen. Jeder, der sich in dieser Zeit als Vertreter der Religion fühlt, in Wissenschaft und Praxis, soll etwas spüren und sich spüren lassen von dem Wehen der neuen Zeit [...]. Und weil es sicherlich eine Zeit sein wird, in der nicht Transcendenz sondern Immanenz des Göttlichen in der Welt die Losung sein wird, so wird nicht nur die Logik und die Ästhetik, nicht nur die Ethik und das Recht, sondern auch die Ökonomie religiösen Sinn und Wert haben. [...] Wir können diesen Geist der neuen Gesellschaft nicht schaffen [...], aber wir können Formen schaffen, [...] in die der neue Geist sich ergießen muß, damit er nicht in Phantasien und kulturlosem Narzißmus verläuft.26

 Tillich, Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart, 81 f.  Zu diesem 1922 von Tillich eingeführten Begriff vgl. unten: Teil 2: B.1 und grundlegend: Christophersen, Kairos, passim.  Tillich, Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart, 81.  Ulrich Barth, „Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs. Betrachtungen zum frühen Tillich“, in: ders., Religion in der Moderne (Tübingen: Mohr Siebeck, 2003), 89–123, 89.  Vgl. Tillich, Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart, 81.  Tillich, Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart, 81 f.

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Die sich schon 1913 anbahnende Kulturtheologie ist damit in Grundzügen skizziert. Sie stellt den wesentlichen Zielpunkt in Tillichs theoretischer Arbeit der kommenden Jahre dar und wird hierdurch auch für die Frage nach der Gestalt der „Ethik“ zentral. Das Ziel der Kulturtheologie wird schließlich von Tillich im Aufsatz Über die Idee einer Theologie der Kultur pointiert ausgerufen und besteht in einem „kulturtheologische[n] Ideal.“27 Als Idealzustand der Wirklichkeit solle zwar, so Tillichs Forderung, der Unterschied zwischen dem Profanen und Heiligem nicht aufgehoben werden, doch solle die „gesamte Kulturbewegung“ zum „Ausdruck eines allumfassenden religiösen Geistes“28 durchzogen werden. Seinen praktischen Ausdruck soll der so angedeutete neue Geist der Zeit im Programm des Religiösen Sozialismus finden. Dieser wird sich in der Konzeption Tillichs als ein Kondensat der Theologie der Kultur interpretieren lassen.29 In der Vermischung politischer Optionen und der Erwartung einer neuerlich religiös durchtränkten Kultur bekennt sich Tillich zu dieser Zeit unumwunden zu einem anarchisch gewendeten Sozialismus, der nur mit dem religiösen Element als Basis Erfolg haben werde.30

2 Ethik als Kulturtheologie Die Kulturtheologie wird von Tillich ab 1919 als normative Methode der Theologie konzipiert, die auch die Ethik miteinschließt. Eine spezifisch theologische Ethik kann für Tillich sinnvoll nicht mehr begründet werden, sofern die gesamte Kultur in der Tiefendimension des Religiösen fundiert ist. Meine Behauptung ist nun die: Was in einer theologischen Ethik letztlich beabsichtigt war, kann seine Erfüllung nur finden in einer Theologie der Kultur, die sich [...] auf alle Kulturfunktionen bezieht. Nicht theologische Ethik, sondern Theologie der Kultur [...]. Eine besondere, auf den religiösen Gegenstand bezügliche Personal- oder Gemeinschaftsethik [...] kann

 Tillich, „Theologie der Kultur“, 29.  Tillich, „Theologie der Kultur“, 29.  Siehe unten: Teil 2: B.1–4.  Vgl. Tillich, Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart, 80 f.: Aber auch Gustav Landauers Programm eines „föderativen Anarchismus“ (193) mit neuem Gemeinschaftsgeist in dessen Aufruf zum Sozialismus (Berlin: Verlag des sozialistischen Bundes, 1911) entspricht Tillichs Vorstellungen dieser Zeit Dazu siehe Erdmann Sturm, „Nicht den Geist wollen wir anbeten, sondern den Geist ...“ Gustav Landauers Programm des anarchischen Föderalismus in Paul Tillichs kulturtheologischem Entwurf von 1919“, in: Hanna Delf von Wolzogen/Gert Mattenklott (Hg.), Gustav Landauer im Gespräch. Symposium zum 125. Geburtstag (Tübingen: Max Niemeyer, 1997), 129–148.

2 Ethik als Kulturtheologie

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es nicht mehr geben. Auch die Ethik ist schlechterdings autonom, aller religiösen Heteronomie frei und ledig und doch als Ganzes ‚theonom‘ im Sinne der religiösen Grunderfahrung.31

So lautet die methodische Kernthese im Kulturaufsatz. Sie stellt die Grundlage für die inhaltliche Begründung der Theologie der Kultur dar, wie sie im Folgenden erörtert wird. Für Tillich stellt das sittliche Handeln eine Funktion der Kultur neben anderen dar. Sämtliche Kulturfunktionen sind für Tillich durch das religiöse Prinzip grundiert, nicht also nur das sittliche Handeln. Deshalb ist für ihn eine „theologische Ethik“ nicht denkbar, die sich gesondert nur mit dem sittlichen Handeln und seiner religiösen Fundierung befasst. Aus diesem Grund ist die Ethik nicht von der Kulturtheologie abgekapselt durchzuführen. Und darum gilt auch in der folgenden Darlegung, dass das Interesse klar auf der Ethik liegt, dies jedoch nur durch ein Verständnis der Kulturtheologie möglich wird. Zum einen wird (2.1) die Kulturtheologie in Tillichs wissenschaftstheoretisches Denken eingefügt. Zum anderen (2.2) wird die Durchführung im Zusammenhang mit Tillichs sinntheoretischem Religionsbegriff verortet. Anschließend (2.3) kommt das Verfahren der Kulturtheologie und somit die Schemata von Inhalt, Form und Gehalt sowie Hetero-/Auto- und Theonomie zur Sprache. Zum Ende (2.4) wird die erste Form des viergliedrigen Schemas aus Theorie und Praxis erörtert. Ziel des Abschnitts ist die Vorbereitung des anschließend ausgeführten Vierfachschemas als Modell der Ethik.32

2.1 Der Ansatz von Kulturtheologie und Wissenschaftssystematik (1919) Als Zugang zur Theologie ab 1919 ist die Kulturtheologie im Ansatz ambivalent. Zum einen stellt sie für Tillich einen Bereich einer komplexen Wissenschaftsstrukturierung dar. Zum anderen erhält sie eine Sonderstellung in dieser Struktur, sofern Tillich von der Prämisse aus denkt, dass letztlich eine Einheit von Religion und sämtlichen Formen des kulturellen und geistigen Lebens besteht. Die Ausdrucksweisen und Formen, in denen sich dieses Leben des Geistes oder des Menschen vollzieht, sind zugleich vom Religiösen fundiert und dienen dazu, das Religiöse als letzten Grund des Sinns zu repräsentieren. Prinzipiell zielt die Theologie der Kultur folglich auf die normative Analyse sämtlicher kultureller Bezugsgrößen in Theorie (Wissenschaft/Logik und Kunst)

 Tillich, „Theologie der Kultur“, 16–18.  Siehe unten: Teil 1: A.3.

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sowie Praxis (Individual- und Sozialethik).33 Jede dieser Formen trägt das Potential, als bedingte Form den unbedingten Gehalt zu repräsentieren. Um das zu erklären, zeichnet Tillich die Kulturtheologie in ein komplexes Wissenschaftsgefüge ein. In den wissenschaftstheoretischen Überlegungen verortet Tillich die Theologie innerhalb der „systematischen Kulturwissenschaften.“34 Diese beinhalten zunächst sämtliche nicht-empirischen Wissensgebiete. Deshalb grenzt Tillich die Kulturwissenschaften grundsätzlich von den „Erfahrungswissenschaften“35 ab, bei denen es um die strikte Differenz von „wahr“ und „falsch“ im Sinne überprüfbarer Fakten geht. Die Kulturwissenschaften hingegen seien „kulturschöpferisch“36 und gingen damit über das Schema von Richtig und Falsch hinaus. Neben dieser Grundbestimmung gibt Tillich der Kulturwissenschaft eine geisttheoretische Grundlegung.37 Dazu greift er ähnlich der 1913er Systematik auf den Standpunktterminus zurück: Der Standpunkt bedeutet demnach, dass jeder Moment der Bestimmung selbst schon eine Wesensgestaltung darstellt und nicht neutral ist, sich also schöpferisch auswirkt, weil ich einen Standpunkt einnehme. Dabei schöpfe ich aus dem Objektiven und begehe zugleich einen subjektiv schöpferischen Akt. Indem der Mensch auf Formen seiner Mitwelt hin handelt, denkt oder fühlt, geht er über sich selbst (als Geist) hinaus und ist an der Bildung der Formen unmittelbar beteiligt. Geist bezeichnet für Tillich nach wie vor das humane Gerichtetsein auf Ausprägungen der Kultur – sei es im logischen, ästhetischen oder ethischen Sinne.38 Der Geist ist an den Schöpfungen der Mitwelt in seiner Betrachtung insofern immer schon beteiligt, als dass die Schöpfungen nicht in „individuelle[r] Willkür“39 geschehen, sondern das Aufgenommene produktiv weiterverarbeiten. Die Unterscheidung zwischen „Allgemeinbegriff“ und „Normbegriff“40 erklärt, was Tillich vorschwebt: Sämtliche kulturellen Objekte oder Ideen unterliegen einem individuellen Zugriff. Folglich kann beispielsweise keine Ethikausrichtung als grundsätzlich falsch oder richtig gesetzt werden. Letzteres wäre der Versuch einer

 Vgl. Tillich, „Theologie der Kultur“, 22–27: für die theoretische Seite Wissenschaft und Kunst, für die praktische Seite Individualethik und Sozialethik inklusive Staatslehre.  Tillich, „Theologie der Kultur“, 13.  Die empirischen Wissenschaften spielen in der Folge keine Rolle mehr für Tillich. Seine eigenen Beispiele für die auf reine Evidenz ausgerichteten Formen zeigen Ihren eigenen Bezugsrahmen deutlich: So nennt Tillich die unsichere Verfasserschaft des Pentateuchs wie auch die Kugelförmigkeit der Erde statt ihrer Vorstellung als „Platte“ (Tillich, „Theologie der Kultur“, 13).  Tillich, „Theologie der Kultur“, 13.  Vgl. Georg Raatz, „Kulturwissenschaft oder Sinnlehre? Zur Genese von Paul Tillichs wissenschaftssystematischem Begriff der Theologie zwischen 1917 und 1923“, in: Christian Danz/ Werner Schüßler/Erdmann Sturm (Hg.): Tillich und Nietzsche (Wien: Lit, 2008), 141–173. 147.  Vgl. Tillich, „Theologie der Kultur“, 13.  Tillich, „Theologie der Kultur“, 13.  Tillich, „Theologie der Kultur“, 15.

2 Ethik als Kulturtheologie

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verallgemeinernden Objektivierung.41 Insofern bedeutet der individuelle Standpunkt ein Eingebettetsein in das „Material“ der „Kulturgeschichte“.42 Die Setzung eines Allgemeinbegriffs von Religion, Kunst oder Ethik bildet nach Tillich eine „Abstraktion“, und diese „vernichtet das Wesentliche, die konkreten Formen und muß alle noch kommenden Konkretionen außer Acht lassen.“43 Die Fokussierung auf einen unverrückbaren Allgemeinbegriff würde demnach dem Potenzial der individuellen Weiterbildung der Formen im Wege stehen. Der Terminus „Normbegriff“ erklärt sich durch Tillichs Einfügung des Schöpferischen in diesem Zusammenhang. Es gehört demnach zur grundlegenden Einsicht eines kulturwissenschaftlichen – und so auch speziell kulturtheologischen – Zugangs, dass die normative Zuschreibung von Bedeutung oder Geltung gegenüber einem Objekt immer einen subjektiven „Standpunkt“ voraussetzt. Dieser Standpunkt ist nun für Tillich nicht etwas Optionales, sondern er ist Voraussetzung dafür, dass etwas geschaffen oder geformt werden kann, indem der Mensch durch seine geistigen Akte in seiner Bezugswelt handelt. Auf Basis dieser Grundunterscheidung formuliert Tillich ein dreifaches Verfahren für sämtliche Gebiete der Kulturwissenschaft. Es gelte – erstens – in der Kulturphilosophie die Formen im Allgemeinen zu betrachten, um das „a priori aller Kultur“44 zu bestimmen. Zweitens ist es Aufgabe der Geschichtsphilosophie, die in der Kulturphilosophie erkannten Formen derart zu sortieren, dass der „individuelle Standpunkt“ in der Flut der „allgemeinen Formen“45 zur Geltung kommt. Hier geht es folglich um die Einfügung, Fortbildung und Umformung der kulturellen Objekte, die der Mensch als Geist aufnimmt und neu verarbeitet. Drittens entwerfen die Kulturwissenschaften in einem normativen Schritt den „konkreten Standpunkt“46. Die Ausrichtung des Geistes auf eine konkrete Frage, Norm, Anschauung oder Ähnliches wird in eine systematische Form gegossen, vergleichbar etwa der Abgrenzung oder Differenzierung von anderen Standpunkten im Feld des Ethischen oder der Kunst. Zum einen hat Tillich mit dem dreifachen Zugriff ein Verfahren konzipiert, das er als Methode der Geisteswissenschaft sehr konstant fortführt.47 Zum anderen – und dieser Punkt wurde bisher in der Forschung nicht eigens hervorgehoben –

 Vgl. Tillich, „Theologie der Kultur“, 13.  Tillich, System der Wissenschaften, 239.  Tillich, „Theologie der Kultur“, 13.  Tillich, „Theologie der Kultur“, 14.  Tillich, „Theologie der Kultur“, 14.  Tillich, „Theologie der Kultur“, 14.  Vgl. exemplarisch Tillich, System der Wissenschaften, passim und Religionsphilosophie (1923/ 25), 300, ferner U. Barth, „Protestantismusverständnis“, 408. Zur Religionsphilosophie (1923/25) und dem System der Wissenschaften siehe genauer unten: Teil 2: A.3

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zeigt sich der Zugang wiederum als Replikat der Überlegungen in der Systematischen Theologe von 1913 und der dortigen Unterscheidung von Kulturphilosophie als deskriptiver Ethik gegenüber einer normativen Ethik, die das Verhältnis profaner und religiöser Formen betrachtet.48 Theologie stellt in diesem Gefüge nun einen Bereich dar, den Tillich als „konkret-normative Religionswissenschaft“49 kennzeichnet. Theologie habe die Aufgabe, auf Grundlage des benannten Dreischritts vorzugehen und die Kultur auf ihre religiöse Struktur hin zu untersuchen: Sie nimmt die allgemeine „Begriffsbildung“ auf, ordnet sie geschichtsphilosophisch ein und erhebt daraus ein „normatives Religionssystem.“50 Aus diesen Voraussetzungen heraus leitet Tillich die Struktur der Kulturtheologie ab: Sie leistet eine allgemeine religiöse Analyse sämtlicher Kulturschöpfungen, sie gibt eine geschichtsphilosophische und typologische Einordnung der großen Kulturschöpfungen unter dem Gesichtspunkt des in ihnen realisierten Gehalts, und sie schafft von ihrem konkreten religiösen Standpunkt aus den idealen Entwurf einer religiös erfüllten Kultur.51

Es stellt sich aber sogleich die Frage, was Tillich mit dem abstrakten Dreischritt – allgemeine Analyse, Typologie, Normsetzung – vor Augen steht. Der dichten Formulierung lässt sich bis hierher entnehmen, dass es im ersten, allgemeinen Schritt um die grundsätzliche und allgemeine Beziehung von Religion und Kultur geht. Es soll das Verhältnis von Religion und Kultur möglichst genau bestimmt und beschrieben werden. In der geschichtsphilosophischen Typologie soll dann zweitens „die Geschichte von Religion und Kultur, also im Prinzip die gesamte Geistesgeschichte mindestens des europäischen Kulturraums, anhand dieses Verhältnisbegriffs typologisch“52 systematisiert werden. Im dritten Schritt kommt es zur normativen Systematisierung des idealen Zustands im Verhältnis von Religion und Kultur. Dabei soll es zur Konzeption für die praktische Umsetzung kommen. Es wird an dieser Stelle bei Tillich bereits das auf einen gesamtgesellschaftlich gerichteten Wandel zielende Grundmotiv der Kulturtheologie dieser Phase deutlich. Es ist eben der Religiöse Sozialismus, in dem Tillich eine Möglichkeit sieht.53 Auf diesen zentralen Aspekt wird in der Interpretation des Religiösen Sozialismus zurückzukommen sein.54

      

Siehe oben: Teil 1: B.2.3. Tillich, „Theologie der Kultur“, 14. Tillich, „Theologie der Kultur“, 15. Tillich, „Theologie der Kultur“, 20. Fritz, Menschsein als Frage, 48 f. Vgl. Tillich, „Theologie der Kultur“, 31 und unten Teil 2: A.2.2. Siehe unten: Teil 2: B.

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2.2 Theologisches Prinzip und sinntheoretischer Religionsbegriff Tillich führt seine Grundbestimmung der Religion, wie sie bereits aus dem 1913er System bekannt ist, fort: Die Religion hat die Eigentümlichkeit, keiner besonderen psychischen Funktion zugeordnet zu sein [...] Religion ist kein Gefühl, sondern ein Verhalten des Geistes, in der Praktisches, Theoretisches und Gefühlsmäßiges in komplexer Einheit verbunden sind.55

Damit lehnt Tillich weiterhin Konzepte ab, die das religiöse Bewusstsein explizit und einseitig entweder als Gefühl, als moralische Motivation oder schlicht als Teil der Vernunft bestimmen. Mit dieser Grundbestimmung ist das viergliedrige Schema vorbereitet, wie es im weiteren Verlauf zur Sprache kommt. Das religiöse „Verhalten“ ist, so zeigt die zitierte Stelle, im Geist als solchem, nicht in einem seiner Vermögen lokalisiert. Mit dieser Religionsdefinition setzt Tillich die Religion als Fundierung aller Aktivitäten des menschlichen Denkens, Wollens und Fühlens fort.56 Damit greift er auf Überlegungen zurück, die – wie im ersten Kapitel erwähnt – bis in die Studienzeit und namentlich die Monismus-Arbeit zurückreichen und grenzt sich wie im Frühwerk ab von einem Schema psychischer Vermögen57. Die Systematische Theologie von 1913 hatte diesen Punkt bereits näher ausgeführt.58 Auch im Blick auf die religiöse Tiefenstruktur der gesamten Kultur geht es um das Religiöse in den Ausprägungen der Kultur: Trägt jede Art der Wissenschaft, der Kunst, des individuellen und sozialen Agierens, trägt also jede „Kultursphäre“ eine religiöse Tiefendimension? Auf diese Frage antwortet nach Tillich das für ihn feststehende „religiöse Prinzip“59. Die im Blick auf Tillichs Kulturtheologie häufig genannte Formel aus dem 1924er Aufsatz Kirche und Kultur hat hier ihren Ursprung: „der tragende Gehalt der Kultur ist die Religion, und die notwendige Form der Religion ist die Kultur.“60

 Tillich, „Theologie der Kultur“, 16.  Plakativ kann Tillich für alle drei Optionen naheliegende Beispiele nennen, ohne den Hintergrund weiter auszuführen: Hegel steht für den theoretischen Religionsbegriff, Kant für den praktischen und Schleiermacher für den emotiven. Vgl. die ausführlichen Erörterungen zu Kant, Hegel und Schleiermacher in: Religionsphilosophie (Sommersemsester 1920), 421–428.  Vgl. dazu Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, bes. 223 f., ferner 331, der diese Entwicklung aufgezeigt hat.  Siehe oben: Teil 1: B.2.3.2.  Tillich, „Theologie der Kultur“, 17.  Tillich, Kirche und Kultur, in: Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, Bd. IX, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1967), 32–46, 42.

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Die rechtfertigungstheologische Fassung der Religion kommt dabei durch das theologische Prinzip zum Tragen. Der unbedingte Sinn ist die in der Religion erkannte „Realität [...], die das Nein und Ja über die Dinge zugleich ist“.61 Mit dem Schema aus Ja und Nein ist der Religionsbegriffs rechtfertigungstheoretisch bestimmt. Dies zeigt noch einmal, dass Tillich von der frühen Zeit und über sein gesamtes Denken hinweg das Rechtfertigungsprinzip als theologischen Nukleus beibehält. Es zeigt zudem, dass jenes Prinzip – wie im frühen System von 1913 – die dogmatische Seite der theologischen darstellt, welche folglich Grundlage für die ethische Seite ist. Damit ist das religiöse Prinzip als Orientierungspunkt der kulturtheologischen Analyse gesetzt. Die Christentum-Vorlesung prononciert dies nochmals klarer mittels einer schematischen Dreiteilung: Das abstrakte Moment steht für die gleichzeitige Bejahung und Verneinung aller Formen, das konkrete für das Aufzeigen der Dialektik von profanem und religiösem Bereich und das dritte für die ideal gedachte Einheit „aller Werte in einem Absoluten“62. Das bedeutet eine weitere werkgenetische Konstante: Die benannte Dreiteilung ist die Fortführung der Einteilung des theologischen Prinzips. Zudem ist die rechtfertigungstheologische Prämisse gesetzt, dass die Formen dem „Ja und Nein über die Dinge“ unterliegen. Es enthält sodann das Wechselverhältnis von Religion und Kultur durch die Dialektik von heilig und profan. Damit sind Religion und Kultur nicht als gesonderte Bereiche, sondern als ineinander verwoben bestimmt. Schließlich entspricht das ideale Moment dem kulturtheologischen Ideal, dass sich letztlich alle Formen als begründet in einem unbedingten Gehalt erweisen. Auf dieser Basis lässt sich zunächst Tillichs – für den Zusammenhang dieser Untersuchung grundsätzliche – Umstellung der „theologischen“ Ethik in die Kulturtheologie erklären. Mit der theologiegeschichtlich eingeleiteten und rhetorischen Frage, „Was ist das für eine eigenartige Wissenschaft, die sich neben die allgemeine philosophische Ethik als theologische stellt?“63, will Tillich zu Anfang klären, weshalb es für ihn zur prinzipiellen Aufgabe der zeitgenössischen Theologie gehört, sie in eine normativ gewendete Religionshermeneutik zu modifizieren. Gemäß dem gesetzten Verhältnis von Religion und Kultur könne es keine spezifisch abgesonderte religiöse und „besonder[e] Gemeinschaftsethik“ neben einer irgendwie anders gelagerten Ethik (wie einer „allgemeinen“ oder „philosophischen“) mehr geben, sondern – so lässt sich pointieren – eben nur noch die Ethik der Kultur. Eine „theologische“ Ethik sei ebenso wenig denkbar wie eine „arische“

 Tillich, „Theologie der Kultur“, 18.  Tillich, Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart, 66.  Im Vorhinein stellt Tillich in „Theologie der Kultur“, 15, fest, dass von „Alters her in der systematischen Theologie neben der Dogmatik die theologische Ethik“ stand.

2 Ethik als Kulturtheologie

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oder auch „bürgerliche“64 Ethik. Voraussetzung dafür, einen Blick auf alle Kulturphänomene (anstelle einer theologischen Ethik) zu haben, ist, dass „man Theologie als normative Religionswissenschaft definiert und sie mit der normativen Ethik, der Ästhetik usw. in Parallele setzt.“65 Das normative Verfahren dieser normativen Religionswissenschaft (als Teil der Kulturwissenschaften) ist dann die Theologie der Kultur. Ganz konkret macht er dies nochmals anschaulich an dem schematischen Aufbau der Wissensbereiche. Sofern es eine theologische Ethik, beispielsweise neben einer philosophischen, gäbe, könnte jene als „normative Ethik“ und diese als „Moralphilosophie“66 bestimmt werden. Jene – so lässt sich deuten – wäre unter Umständen zuständig für die Unterscheidung von „richtig“ und „falsch“, diese für die Beschreibung des „Wesens des Sittlichen“67. Damit käme es indes zu dem grundlegenden und nicht aufzulösenden Problem, dass es auf dem Feld des Ethischen zu einer „doppelten Wahrheit“ kommen würde, weil es sich für Tillich sowohl Philosophie als auch Kulturwissenschaft nicht nehmen lassen könnten, selbst eine normative Ethik zu konzipieren.68 Zusammenfassend lässt sich bis hierher sagen: Eine theologische Ethik, die normativ über sämtliche Bereiche und Formen herrscht, würde nicht die religiöse Tiefenstruktur der gesamten Kultur aufzeigen, sondern alle Bereiche der Kultur heteronom bestimmen. Ein nur auf den ersten Blick unpassendes Beispiel dafür könnte der Eingriff einer „theologischen Ethik“ in die Aufstellung mathematischer Gesetze oder die biologische Erklärung der Evolution sein. Hier könnte der Eingriff darin bestehen, mit derlei Modellen in Konkurrenz zu treten und quasireligiöse Argumente gegen bestimmte Erkenntnisse der Naturwissenschaft vorzubringen. Das hätte mit der Kulturhermeneutik nichts mehr gemein, sondern wäre religiöse Heteronomie. Anders gesagt: Wissenschaftliche Exaktheit, formale Ästhetik oder Ethik behalten ihr Eigenrecht und der Eingriff in ihre – profanen – Ergebnisse oder Aussagen bildet religiöse Heteronomie.69 Die bis hier verortete Ethik der Kultur bildet die Voraussetzung für die weitere Ausgestaltung der Kulturtheologie in den folgenden Schritten. Im Weiteren kommt es im Zuge der Religionsbestimmung zugleich zu der angedeuteten Umbildung in eine Theorie des Sinns.70 Verbunden mit der rechtferti-

 Tillich, „Theologie der Kultur“, 16.  Tillich, „Theologie der Kultur“, 30.  Tillich, „Theologie der Kultur“, 16.  Tillich, „Theologie der Kultur“, 16.  Vgl. Tillich, „Theologie der Kultur“, 16.  Vgl. Tillich, „Theologie der Kultur“, 27.  Vgl. aus der Menge an Literatur zum Verhältnis von Kulturtheologie und Sinntheorie bei Tillich bes. Heinemann, Sinn – Geist – Symbol. Zu den Hintergründen U. Barth, „Die sinntheoreti-

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gungstheologischen Religionsauffassung bestimmt Tillich Religion als „Erfahrung des Unbedingten [...], Erfahrung schlechthinniger Realität auf Grund der Erfahrung schlechthinniger Nichtigkeit [...] des Seienden, [...], der Werte“71. Im Hintergrund dieser Religionsauffassung steht – wie Heinemann gezeigt hat – die Gleichsetzung von „Wert“ und „Sinn“ im 1917/18 geführten Briefwechsel mit Emanuel Hirsch: „Geistiges Leben ist Leben im Sinn oder unablässige schöpferische Sinngebung. So geben wir der Welt einen logischen – ethischen – ästhetischen, so auch einen religiösen Sinn.“72 Und im selben Atemzug setzt Tillich drei Dimensionen des Seins, welche eben vermittelst des Ästhetischen, Ethischen oder Logischen durch den Geist geformt werden: „die des Tatsächlichen, die des Sinnes oder Wertes und die des Religiösen oder Unendlichen oder Numinösen“.73 Die sinntheoretische Dimension der Religion ist hier angelegt. Sie liegt in ausgereifter und prägnanter Form in dem Aufsatz Kirche und Kultur von 1924 vor: „Jedes Leben, das über die Unmittelbarkeit des bloß Biologischen [...] hinausgeht, ist Leben in einem Sinnvollzug.“74 Im Hinblick auf die Ethik des Religiösen Sozialismus wird sich diese sinntheoretische Dimension als ein wichtiges Element zeigen, weshalb sie hier kurz zu berücksichtigen ist.75 Im Rahmen der Sinntheorie verbindet Tillich das Viererschema der Kulturfunktionen direkt mit der Bestimmung des menschlichen Handelns als Sinnproduktion, sodass in allen „logischen und ästhetischen, rechtlichen und sozialen Handlungen [...] Beziehung auf Sinn enthalten“76 ist. Dass das humane Leben eine ständige Sinnproduktion im Rahmen der theoretisch-praktischen Akte darstellt, gilt Tillich als analytischer Satz. „Die geistige Wirklichkeit, in der die geisttragende Gestalt lebt und schafft, ist Sinnwirklichkeit.“77 Insofern ist jeder Versuch, den letzten Sinn auf einen höhe-

schen Grundlagen des Religionsbegriffs“; Claas Cordemann, „Religion und Kultur. Paul Tillichs religionsphilosophische Grundlegung einer Theologie der Kultur“, in: Christian Danz/Werner Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur. Aspekte – Probleme – Perspektiven (Berlin/ New York: Walter De Gruyter, 2011), 94–127.  Tillich, „Theologie der Kultur“, 18. Und insofern wird nicht erst in den ersten Texten zum Religiösen Sozialismus Religion „auf die Rechtfertigungslehre hin ausgelegt“, wie Amelung, Die Gestalt der Liebe, 58, suggeriert.  „Tillich an Emanuel Hirsch (09.05.1918)“, in: Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische und politische Stellungnahmen und Gespräche, Bd. VI, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich hg. von Renate Albrecht und René Trautmann (Frankfurt a.M.: Evangelisches Verlagswerk, 1983), 125.  Tillich an Emanuel Hirsch (09.05.1918), (Herv. M.F.).  Tillich, „Kirche und Kultur“, 33.  Siehe unten: Teil 2.B.2.  Tillich, „Kirche und Kultur“, 33.  Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 318.

2 Ethik als Kulturtheologie

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ren Begriff zu bringen, selbst wieder eine Sinnsetzung. Und hierdurch bildet auch die Bezeichnung Gott für den letzten Sinn eine ebensolche Setzung. Darum sieht Tillich in der Religionsphilosophie die Aufgabe, als Sinnlehre „die im Sinn enthaltenen, ihm untergeordneten, immer gegenwärtigen Elemente jedes Sinnvollzugs zu entwickeln.“78

2.3 Vermittlung des Gehalts in den Formen der Kultur Das Schema, mit dem Tillich in seiner Kulturtheologie operiert, besteht wesentlich in der Verbindung der Trias Heteronomie, Autonomie, Theonomie mit dem Schema aus Form, Inhalt und Gehalt.79 Beide Dreifachstrukturen sind zunächst so verwoben, dass die „Autonomie der Kulturfunktionen begründet ist in ihrer Form, [...], die Theonomie aber in ihrem Gehalt“80. Tillich insistiert folglich auf der Autonomie der Formen. Zugleich sind sie aber darauf angelegt, das Unbedingte in der Kultur zu vermitteln. Eine religiöse Bestimmung der Formen in Wissenschaft, Technik, Kunst, Individual- und Sozialethik wäre wiederum Heteronomie im ausdrücklichen Sinne: Die Autonomie der Wissenschaft ist restlos gewahrt, jede Heteronomie durch die Religion unmöglich gemacht, dafür aber die Wissenschaft als Ganzes unter die ‚Theonomie‘ der paradoxen religiösen Grunderfahrung gestellt.81

Sodann unterteilt Tillich die Theologie der Kultur nochmals in drei Grundaufgaben, die den Schritten der Kulturtheologie, der allgemeinen Analyse von Religion und Kultur, der Typologie und dann der Systematik entsprechen. Alle drei Fragen basieren auf den Triaden Inhalt, Form, Gehalt und Heteronomie, Autonomie und Theonomie. Die erste und allgemeine Aufgabe zielt auf die genaue Unterscheidung der drei Termini Inhalt, Form und Gehalt. Die Vermittlung des theonomen Gehalts vollzieht sich in den Formen der Kultur. Das Verhältnis von Form und Gehalt ist dabei für sich noch nicht besonders komplex. Es erinnert zunächst an eine aristotelische Unterscheidung von Materie und der entsprechenden Form, in der sie

 Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 318. Zur näheren Ausgestaltung der Sinntheorie siehe Teil 2: A.3.  Vgl. aus der unüberblickbaren Literatur zum Schema aus Inhalt, Form und Gehalt: Ulrich, Ontologie, Theologie, gesellschaftliche Praxis, 23–57; Clayton, Concept of Correlation, 191–248; Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 250–263 und Fritz, Menschsein als Frage, 49–55.  Tillich, „Theologie der Kultur“, 19.  Tillich, „Theologie der Kultur“, 18.

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A Kulturtheologie und Wissenschaftssystematik (1919–1923)

zum Ausdruck kommt. Diese „traditionelle“ Gegenüberstellung verwendet etwa auch der von Tillich begeistert rezipierte Begründer der sogenannten „Phänomenologie“ Edmund Husserl, um „Stoff“ und „Form“82 ins Verhältnis zu setzen. Erst in der Erweiterung durch den Inhalt-Terminus wird das Modell komplettiert und eigentlich interessant:83 Tillich identifiziert auf der einen Seite den Sinnbegriff mit dem Gehalt. Auf der anderen Seite steht dann der Inhalt als dritte Komponente für das reine Gegebensein eines Kulturobjekts. In der Form wird jenes Gegebene zu einem kulturellen Objekt – es wird folglich schöpferisch geformt, während der Sinn respektive der Gehalt erst seine Bedeutung darstellt.84 Tillich stellt heraus: „Je mehr Form, desto mehr Autonomie, je mehr Gehalt, desto mehr Theonomie.“85 Der theonome Gehalt, der für die Repräsentanz des Unbedingten – oder eben der Religion – steht, kann allein durch autonome Formen vermittelt sein. Deshalb ist es der entscheidende Schritt in Tillichs Konzept, dass es trotz der Fundierung aller Formen insofern nicht zu einer religiös-heteronomen Bestimmung der Formen kommen darf, als sie ihre Eigenständigkeit verlören. Konkret heißt das – wiederum in fast gleichem Wortlaut wie 1913 –, dass es zu „Konflikten“ nur kommen kann, sofern die „Kulturfunktionen von der Religion her in Heteronomie gehalten werden.“ Diese Konfikte werden überwunden, sobald die Kulturfunktionen ihre Autonomie erkämpft haben.“86 Statt also zu versuchen, die Kultur heteronom einzuhegen, soll sich der religiöse Gehalt gerade durch die Autonomie der Formen erweisen. Nur so lasse sich die Theonomie in den Formen der Wirklichkeit aufzeigen.87 Am Beispiel der Kirche zeigt Tillich dann explizit, weshalb es keine – wie die These zu Anfang sagte – eigentliche theologische Ethik neben anderen Ethiken geben kann, sondern nur eine auf alle Kulturfunktionen gerichtete Ethik. So wird die eingangs noch schematische „Aufgabe“ einer „theologischen“ gegenüber anderen Ethiken nun veranschaulicht. Tillich argumentiert, theologische Ethik, die auf

 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen (Hamburg Meiner 2009), 711 ff. Die ersten beiden Auflagen erschienen 1900/1901 und 1913. Vgl. ferner Tillichs briefliche Auskünfte über seine Lektüre: „Tillich an Emanuel Hirsch (Dezember 1917)“, in: Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische und politische Stellungnahmen und Gespräche, Bd. VI, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich hg. von Renate Albrecht und René Trautmann (Frankfurt a.M.: Evangelisches Verlagswerk, 1983), 98–104, 99, wo er Husserl als Begründer der phänomenologischen Schule bezeichnet. Siehe unten: Teil 2: A.3.  So Fritz, Menschsein als Frage, 51.  „Man kann also sagen: Der Gehalt wird an einem Inhalt mittels der Form ergriffen und zum Ausdruck gebracht“ („Theologie der Kultur“, 20).  Tillich, „Theologie der Kultur“, 19.  Tillich, „Theologie der Kultur“, 17.  Vgl. Tillich, „Theologie der Kultur“, 19.

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die religiöse Kontrolle der autonomen Formen ziele, würde eine – in diesem Fall religiöse – Sozialform, nämlich die Kirche, derart absolut setzen, dass letztlich die gesamte Kultur in ihren Formen von einer Form – der Kirche – bestimmt wäre. So wird der zeitdiagnostische Zug in Tillichs Ansatz erkennbar. Am Beispiel der Kirche erklärt er die Zeit einer religiösen oder gar konfessionellen Vorherrschaft für unwiederbringlich überwunden.88 Statt jene Stellung weiterhin zu verteidigen, muss die Theologie aus Tillichs Sicht zu einer Angriffsstellung zurückkehren, welche die gesamte Kultur theonom einhegt, dabei jedoch die Autonomie der kulturellen Formen gerade bestätigt und verteidigt.89 Tillichs Invektive gegen eine kirchlich-religiös gebundene Gesamtkultur ermöglicht insofern erst eine Kulturtheologie, die auf alle Kulturformen gleichermaßen bezogen ist. Die Kulturtheologie gründet sich auf eine Zeitdiagnostik, die in eine Apologie des Religiösen umschlägt.90 Die zweite, typologisierende Aufgabe macht Tillich am Polaritätsverhältnis von Form und Gehalt fest. Er verwendet dabei das Bild einer Linie: Damit wird ausgedrückt, dass die Relation von Form und Gehalt stets in zwei Enden besteht. An dem einen Ende wird die „reine Form“, an dem anderen der reine Gehalt erreicht und in ihrer Mitte stehen sie im Gleichgewicht. Dabei zeigen sich dann für die Typologie für Tillich Sicht drei Möglichkeiten, die einer Einordnung der „Kulturschöpfungen“ dienen können: „typisch profane und formale“, typisch religiöse und gehaltsüberwiegende, „typisch gleichgewichtige“91. Dies führe für den zweiten Schritt zu einer komplexen Anordnung mit großem Raum für Zwischenbereiche, was Tillich nicht weiter ausführt. Insofern lässt sich dies so verstehen, dass sich für Tillich prinzipiell alle Formen ihrer Tendenz nach eher dem Profanen, dem Religiösen oder einem stärkeren Gleichgewicht zuordnen lassen. Dies hat dann Auswirkung auf ihre Verwendung in der normativen Systematik im dritten Schritt. Beide wirken also ineinander, indem sich der Gehalt in der Form zum Ausdruck bringt. Im Ansatz bezieht sich schließlich die dritte und systematische Aufgabe auf das Problem, inwieweit die beteiligten Personen (der „Kulturtheologe“) selbst an der direkten Schaffung der gehaltsbasierten Kultur teilhaben können.

 Vgl. Tillich, „Theologie der Kultur“, 16.  Vgl. Tillich, „Theologie der Kultur“, 31.  Deshalb erklärt Tillich auch, dass es sinnlos sei, eine theologische Ethik neben eine philosophische zu stellen, was zu der Konfusion einer „doppelten Wahrheit“ führen würde („Theologie der Kultur“, 16). Auch dies hat seine direkte Entsprechung in der Systematik von 1913, wo Tillich eine doppelte Sittlichkeit bemerkte, sofern das Verhältnis von Religion und Kultur nicht recht verstanden werde. Siehe oben: Teil 1: B.2.3.1.  Tillich, „Theologie der Kultur“, 21.

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Weder auf wissenschaftlichem, noch auf sittlichem, noch auf rechtlichem Gebiet ist der Kulturtheologe als solcher produktiv. Aber er nimmt den autonomen Produktionen gegenüber aufgrund seines konkreten Standpunktes eine kritische, verneinende und bejahende Stellung ein; er entwirft mit dem vorhandenen Material ein religiöses Kultursystem durch Ausscheidung und Vereinigung nach Maßgabe des theologischen Prinzips.92

Die Pointe besteht darin, dass die kulturtheologische Arbeit, wenn sie versuchen würde die Formen (Wissenschaft, Kunst, Ethik) gänzlich vom Gehalt her zu bestimmen, die „universale“93 Perspektive der Kulturtheologie verlöre. Sobald sich ein Kulturgebiet bestimmen oder herstellen will, steht nicht mehr die kulturtheologisch intendierte übergreifende Einheit im Fokus.94

2.4 Etablierung des vierfachen Schemas aus Theorie und Praxis Schließlich vollzieht Tillich noch im Kulturaufsatz von 1919 einen zentralen Schritt für die Grundlegung der Ethik. Er möchte die Dreiteilung in eine theoretische, praktische und ästhetische beziehungsweise emotive Sphäre generell hinter sich lassen. Damit lehnt er nicht nur die Zuordnung der Religion zu einer Sphäre ab, sondern geht von hier an von einem Modell aus, das den ästhetischen beziehungsweise emotiven Bereich als eigenständige Sphäre aufgibt. Auch dieser Aspekt ist im Kulturaufsatz vorgezeichnet und wird dann systematisch im System der Wissenschaften, der Religionsphilosophie und in den Vorlesungen und Manuskripten dieser Zeit breit entfaltet.95 Fluchtpunkt der neujustierten Einteilung geistiger Vermögen, die auf weiteren wissenschaftstheoretischen Überlegungen  Tillich, „Theologie der Kultur“, 27.  Tillich, „Theologie der Kultur“, 22.  Vgl. Tillich, „Theologie der Kultur“, 22: „[E]r [der Kulturtheologe] kann die Beziehungen zeigen, die von einer Erscheinung der Kultur zur anderen führen, durch die substantielle Einheit des in ihnen zum Ausdruck gebrachten Gehaltes; er kann dadurch die Einheit der Kultur vom Gehalt her in der gleichen Weise verwirklichen helfen, wie es der Philosoph von den reinen Formen, den Kategorien, her tut.“  Vgl. Tillich, „Theologie der Kultur“, 16 f.; Encyklopädie der Theologie und Religionswissenschaft, 265; Religionsphilosophie (Sommersemester 1920), 421 f.; „Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie“, in: Frühe Hauptwerke, Bd. I, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 21959), 367–388, bes. 377–384; Religionsphilosophie (1923/25), bes. 321–328.350–364; System der Wissenschaften, bes. 246–271; „Grundlinien des Religiösen Sozialismus. Ein systematischer Entwurf“, in: Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum Religiösen Sozialismus, Bd. II, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 21962), 91–119, bes. 101–117; „Das Unbedingte und die Geschichte“, in: Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908– 1933), erster Teil, Bd. X, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul

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beruht, ist die genaue Strukturierung der geistigen Vollzüge. Aus der schematischen Einteilung des Denkens, Fühlens und Handelns in eine theoretische und eine praktische Sphäre konzipiert Tillich ein vierteiliges Modell, welches als Grundlage für das spätere Hauptwerk – die Systematische Theologie – konstant bleiben wird.96 Der Bereich der theoretischen Vollzüge teilt sich in Wissen (konkret z. B. Logik als Erkenntnisakt, Wissenschaft) und Ästhetik. Die praktische Sphäre spaltet sich in ein individual- und ein sozialethisches Moment. Sie enthält zumeist Recht, Wirtschaft, Staatslehre und bisweilen Technik. Augenscheinlich zielt Tillich darauf ab, sämtliche Aspekte menschlicher Aktivität einzubeziehen. Er versteht das theoretische Handeln des Menschen als aufnehmende und das praktische als gestaltende Funktion:97 Entweder ich nehme (theoretisch) denkend oder anschauend etwas auf. Oder aber ich gehe selbst (praktisch) als Geist in „Gegenstände“98 ein, um individuell oder sozial das Sein – die Kultur – zu formen. Tillich nimmt also eine Reduktion auf das Praktische und das Theoretische vor. Diese Einteilung wird er im System der Wissenschaften dann näher ausführen, sie ist jedoch hier bereits angelegt. In der Religionsphilosophie-Vorlesung ein Jahr darauf begründet er diesen Schritt ausführlicher: Das religiöse Princip ist eine bestimmte Qualität, die ein theoretischer oder praktischer Akt erhält, um dadurch zu einem religiösen zu werden. Es gibt also keine an sich religiösen Akte, die weder im Theoretischen noch im Praktischen aktuell würden, sondern eine eigenartige Aktualität hätten. Über die Doppelrichtung des Denkens hinaus, entweder sich bestimmen lassen vom Sein oder von sich aus das Sein zu bestimmen, also über dem Gegensatz von Theoretisch und Praktisch gibt es kein Drittes, Neues. Man kann auch das Ästhetische nicht so nennen. Es hat mit dem Theoretischen dieses durchaus gemeinsam, daß in ihm Anschauungen geformt werden, also das Denken bestimmt wird vom Sein. [...] Die übliche Dreiheit von Theoretischem, Praktischem und Ästhetischem löst sich bei näherem Zusehen auf. Ihre stärkste Stütze war die Dreiheit von Denken, Wollen, Fühlen. Nun ist das aber im Geistigen durchaus keine koordinierte Dreiheit, sondern das Fühlen ist der Ausdruck für die alle Funktionen begleitende Subjektivität.99

Tillich, hg. von Erdmann Sturm (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1999), 335–350, bes. 336–337; „Kirche und Kultur“, bes. 33–36.  Vgl. Tillich, ST III, 534–545. Hier schaltet Tillich dann Sprache und Technik als Grundfunktionen vor.  Vgl. Tillich, „Theologie der Kultur“, 17 und ferner ST III, 534.  Tillich, „Theologie der Kultur“, 17.  Tillich, Religionsphilosophie (Sommersemester 1920), 421 f. Auf dieses bündelnde Zitat hat Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 330 f., hingewiesen.

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Wie im Aufbau des Kulturaufsatzes100 bezieht er die ästhetische Anschauung als eigene, separate Sphäre ein und fügt sie der theoretischen Seite hinzu. Hintergrund hierfür sind die wissenschaftstheoretischen Überlegungen im System der Wissenschaften.101 In der Sicht Tillichs zielt jede bedingte Form kultureller Aktivität – alles Denken, Wollen und Fühlen – letztlich auf die Repräsentation eines unbedingten Gehalts. Oder in der Diktion des Briefwechsels mit Hirsch: Ein unbedingter Wert wird ethisch, theoretisch oder ästhetisch im schöpferischen Handeln vermittelt. Will sagen: Alle denkbaren Gebilde, welche denkerisch, handelnd oder anschauend (theoretisch, praktisch, ästhetisch) geformt und gestaltet werden, sind verbunden in einer Sinnstruktur, die einen letzten, unbedingten Sinn in der Sphäre des Bedingten aktualisiert. Zugleich aber – und das ist zentral für Tillichs Konzept – betont er stupend die Erhaltung der Autonomie der Formen.102 Betrachtet man von hier aus die Wesensbestimmung der Religion, so stellt sich diese als Aktualisierung einer den Formen stets innewohnenden Qualität heraus. Nimmt der Geist praktisch oder theoretisch Bezug auf etwaige Formen, wird jene religiöse Potenz aktiviert.103 Aus den voranstehenden Überlegungen leitet Tillich seine erste, wenngleich äußerst knappe Durchführung kulturtheologischer Analysen ab. Entsprechend dem Vierer-Modell werden Wissenschaft und Kunst als theoretische Sphäre abgeschritten, während die praktische Seite Individual- und Sozialethik umfasst. Hier soll nur exemplarisch und auf den Liebesbegriff konzentriert die sozialethische Passage erläutert werden, um Tillichs weiterhin konstante Betonung der Gemeinschaft herauszustellen. Die Parallelen zum 1913er Text sind ein weiteres Mal offenkundig. Im Ergebnis für den sozialethischen Bereich steht die auf Gemeinschaft gerichtete Liebesethik. Kants Forderung der individuellen Moralität auf Grundlage des Sittengesetzes ist, so Tillich, zwar unhintergehbar, müsse aber vom Einzelnen wegführen und die Liebe als umgreifendes „Seins- und Realitätserlebnis“104 zur Geltung bringen. „Wer vom Einzelnen aus denkt, kann nie zur Liebe kommen, denn Liebe steht jenseits

 Tillich, „Theologie der Kultur“, 17.  Siehe unten: Teil 2: A.3.  Vgl. Tillich, „Theologie der Kultur“, 19.  Vgl. Tillich, „Theologie der Kultur“, 17. Äquivalent zur Darstellung von Religion als Aktualisierung von Potentialität im frühen Entwurf von 1913 entstehen so Dogma als religiöses Erkennen, Kultus als religiöse Ästhetik, Kirche als religiöse Gesellschaftsgruppe und kirchliche Gemeinschaftsethik als Pendant profaner Sozialethik.  Tillich, „Theologie der Kultur“, 25.

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des einzelnen; wer vom Zweck aus denkt, weiß nicht, was Liebe ist.“105 Kurzgefasst: Die Kantsche Formallehre ist eine notwendige, doch keine hinreichende Bedingung der Sittlichkeit, denn – wie Tillich einige Monate später erklärend kommentiert – die kantische Moral sei „a priori profan“106. So ist ersichtlich, dass die formale Ethik die Formebene besetzt. Damit eine Handlung hingegen als Repräsentation des Gehalts – und von diesem fundiert – erscheinen kann, muss sie für Tillich aus Liebe vollzogen werden, die über eine formale Forderung hinaus geht. Der Liebesbegriff verweist auf die Untrennbarkeit von Person und Gemeinschaft. Im Hintergrund klingt wiederum eine Grundentscheidung aus der 1913er Systematik an: Die dortige Grundlegung des sittlichen Prinzips hatte Tillich axiomatisch in der dialektischen Einheit von konkretem Handlungsproblem und abstrakter, sittlicher Forderung verortet. Eine auf dem Rechtfertigungsprinzip gründende Ethik, so das Ergebnis, kann sich nur durch das Wechselspiel von festen Prinzipien (Abstraktion) und konkreter Handlungsfreiheit (Konkretion) auszeichnen. 1919 steht also wie schon 1913 die Ablehnung einer ausschließlich kantisch formulierten Ethik im Hintergrund. Tillichs Zielpunkt besteht augenscheinlich in einer Überwindung der individualethischen Überhöhung des Einzelnen und der damit einhergehenden Ausweitung des unbedingten Sittengesetzes. Erreichen möchte er dies durch die eindeutige Emphase der (jesuanischen) Liebesethik. Sittlichkeit steht in der Grammatik der Kulturethik für dasjenige Handeln, welches über das – unbedingt geltende – Formalgesetz des Kategorischen Imperativs hinausweist. Theonome Sittlichkeit handelt, indem sie durch die Form die Liebe als Gehalt praktisch ausdrückt. Damit ist sittliches Handeln ein Akt des Geistes, der unmittelbar aus dem sinn- und werttheoretischen Religionsbegriff gewonnen wird: Sinn wird im praktischen Handeln zur Geltung gebracht. Denn sofern Religion die Richtung auf das Unbedingte darstellt und nicht in einem Vermögen verortet werden kann, muss auch die praktische Sphäre theonom getragen sein. Wie in anderen Akten (Wissen, Kunst) äußert sich der Sinngrund (Gehalt) im Handeln als eine Möglichkeit der Sinngebung oder Wertsetzung durch die Formen. Von der anderen Seite aus lässt sich Unsittlichkeit dann bestimmen als heteronomes Handeln durch die kulturellen (autonomen) Formen. Der Bezug zum frühen System wird wiederum deutlich: Dort hatte Tillich bereits klargestellt, dass die Religion auf die profanen Formen angewiesen ist, um sich als konkrete Religion

 Tillich, „Theologie der Kultur“, 25.  Tillich, „Beitrag zum Wingolf-Rundbrief (September 1919)“, in: Ein Lebensbild in Dokumenten. Briefe Tagebücher, Berichte, Bd. V, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich hg. von Renate Albrecht und Margot Hahl (Stuttgart/Frankfurt a.M.: Evangelisches Verlagswerk, 1980), 142–145, 145; vgl. Tillich, „Theologie der Kultur“, 27.

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zu aktualisieren. Die Sittlichkeit steht zwischen Religion und Kultur und realisiert sich, wo die Religion als Unbedingtes in der Kultur und unter ihren Formen zur Geltung kommt. Wie genau die Umsetzung der Idee der Kulturtheologie aussehen soll, fasst Tillich im vorliegenden Text am Ende dann in die Verknüpfung von Kulturtheologie und „Kirchentheologie“, wobei es um die praktische Erschaffung einer „auf sozialistischem Boden sich erhebende[n] Einheitskultur“107 geht. Die prinzipielle Erhaltung der Autonomie der Formen trotz ihrer letztlichen Begründung durch die Theonomie bleibt auch hier zentral. Als „Personalunion,“108 so Tillich, blieben dabei Kirchen- und Kulturtheologie aufeinander angewiesen. Die Kirchentheologie steht hier schlicht für den Inbegriff des konservativeren Elements in der Analyse der Kultur, in dem es um den Erhalt des „konkreten Standpunktes“ – also hier der konfessionellen Bestimmung des theologischen Prinzips – geht, während die Kulturtheologie vollkommen „offen für jeden neuen Geist“ die „Kulturbewegung [...] ohne „Interesse an einer kirchlichen Kontinuität“109 betrachtet. Für die gegenwärtige Theologie, so Tillichs Pointe, müssen beide aufeinander bezogen arbeiten, um das theologische Prinzip als alleinige Grundlage sämtlicher Kultur zur Geltung zu bringen. Mit der Umsetzung des kulturtheologischen Ideals würde dann, so Tillichs Annahme, die ideale Einheit von Religion und Kultur in allen Bereichen sichtbar werden. In einer solchen Einheitskultur werde eine neue Form der religiösen Gemeinschaft als „Kirche“ im „kulturtheologischen Sinne“ entstehen: [D]ie universelle, aus Geistgemeinschaften aufgebaute, alle Kulturfunktionen und ihren religiösen Gehalt in sich tragende Menschengemeinschaft, deren Lehrer die großen schöpferischen Philosophen, deren Priester die Künstler, deren Propheten die Seher einer neuen Ethik der Person und der Gemeinschaft, deren Bischöfe Führer zu neuen Zielen der Gemeinschaft, deren Diakonen und Armenpfleger die Leiter und Neuschöpfer des wirtschaftlichen Prozesses sind. Denn auch die Wirtschaft kann ihre bloße Autonomie und Selbstzwecklichkeit zerbrechen durch den Gehalt der religiösen Liebesmystik, die nicht produziert um der Produktion, sondern um des Menschen willen und doch nicht heteronom den Produktionsprozeß beschneidet.110

Mit den Konsequenzen wird nochmals Tillichs Aufbruchsvision zu dieser Zeit überdeutlich. Zugleich zeigt das Beispiel der Ökonomie, dass Tillich auch hier die Autonomie der Formen entsprechend dem dargestellten kulturtheologischen Konzept weiter als Bedingung einer modernen Kulturtheologie veranschlagt. Mit den vorangegangenen Aspekten ist schließlich die Basis für das vertiefte Verständnis von Tillichs sozialethischem Programm des Religiösen Sozialismus gegeben.    

Tillich, „Theologie der Kultur“, 31. Tillich, „Theologie der Kultur“, 29. Tillich, „Theologie der Kultur“, 29. Tillich, „Theologie der Kultur“, 26.

3 Sinn der Gemeinschaft und Anerkennung der Persönlichkeit (1923)

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3 Sinn der Gemeinschaft und Anerkennung der Persönlichkeit (1923) Mit dem System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden111 und der Religionsphilosophie112 stehen in diesem Abschnitt Tillichs erste eigenständige Theorieentwürfe der 1920er Jahre im Fokus. Nach der Konzeptualisierung der Kulturtheologie und zugleich inmitten der Konstitutionsphase des Religiösen Sozialismus werden in beiden Entwürfen wesentliche Eckpfeiler für die darauffolgenden Entwicklungen gesetzt. Die unbedingte Anerkennung der anderen Person kommt dann in den Texten zum Religiösen Sozialismus als Teil der praktischen Umsetzung von Sinn zum Ausdruck. Durch diese praktische Sinnumsetzung bringt sich die theonome Haltung in Richtung des Unbedingten in den menschlichen Beziehungen zur Geltung. Eingebettet ist die sinntheoretische Modifikation der Anerkennungstheorie in die Sinnlehre als solche sowie in das Theorie-Praxis-Gefüge – die beiden Grundelemente der Theologie Tillichs also, die sich schon im Kulturvortrag abzeichnen und seine Denkrichtung der folgenden Jahre wesentlich bestimmen. Auf beide wird sich der Religiöse Sozialismus als sozialethisches Programm implizit oder explizit immer wieder beziehen. Trotz des fehlenden Theologie- oder Religionsbezugs im Titel der Wissenschaftssystematik und im Titel der genuin philosophischen Reihe113, in der sie zuerst erschien, kann von einem rein philosophischen Interesse nicht die Rede sein.114 Das System der Wissenschaften war etwa zeitgleich mit der Religionsphiloso-

 Ähnlich wie bei anderen Werken Tillichs ging auch der Wissenschaftssystematik von 1923 – so zeigt es Friedrich Wilhelm Graf, „Ein unbekannter Systementwurf Paul Tillichs. Zur Entstehungsgeschichte von Tillichs ‚Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden‘, in: ZNThG 27/1 (2020), 26–170 – eine komplexe Publikations- und Entstehungsgeschichte voran, die von manchen Höhen und Tiefen begleitet war. Tillich hatte die Möglichkeit einer monographischen Grundlegung – und damit nicht zuletzt auch akademischer Selbstverortung – wohl seinem Jugendfreund E. Hirsch zu verdanken (vgl. Graf, „Systementwurf“, 27.31). Dieser hatte 1920 die Herausgeberschaft der Reihe „Wege zur Philosophie“ gegenüber dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht aufgrund etwaiger Belastungen abgelehnt. Auf Nachfrage empfahl er eindringlich seinen kongenialen Freund und Kollegen Tillich. Dieser sagte im Oktober 1920 begeistert zu, die Reihe herauszugeben und zugleich eine wissenschaftstheoretische Enzyklopädie beizusteuern, vgl. Graf „Systementwurf“, 27.  Religionsphilosophie (1923/25).  Mit dem Untertitel „Ein Entwurf“ war das Buch zuerst 1923 in Göttingen in der Reihe Wege zur Philosophie erschienen.  Vgl. Fritz, Menschsein als Frage, 118. Anders betont Graf, „Systementwurf“, 27 f., mit Bezug auf Gunter Wenz: „Die in der Tillich-Forschung – vor allem von Theologen! – vertretene Behauptung, dass das System dem ‚apologetischen Ziele‘ dienen sollte, ‚die Wissenschaftlichkeit der Theologie zu erweisen und sie in ihrem Zusammenhang vornehmlich mit der Philosophie gemäß

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A Kulturtheologie und Wissenschaftssystematik (1919–1923)

phie von Tillich angefertigt worden, sodass beide Werke inzwischen als „Doppelwerk“115 geführt werden und seine „ausgereifte Sinnkonzeption“116 zur Darstellung bringen. Es zeigt sich dadurch eine enge Verknüpfung von religionstheoretischer bzw. fundamentaltheologischer oder religionsphilosophischer Arbeit in Tillichs Wirken dieser Phase: Zum einen stellt die Religionsphilosophie – als Beitrag zu einem Philosophielehrbuch117 verfasst – eine komprimierte Darstellung seines sinntheoretischen Religionsbegriffs dar. Zum anderen versucht die Wissenschaftssystematik Theologie und Ethik als Teil einer vollständigen Enzyklopädie des Wissens zu lokalisieren. Tillichs spätere Selbsteinschätzung, es habe sich bei der Wissenschaftssystematik um eine „Erstorientierung in der verwirrenden Mannigfaltigkeit des wissenschaftlichen Betriebs“ und „eine Ortsbestimmung der theologischen Arbeit gehandelt“118, erscheint demnach zutreffend. Im Folgenden werden die beiden Schriften zusammen erörtert, um die sinntheoretische Fortentwicklung der Anerkennung herauszuarbeiten. Dazu können einige Grundlagen knapp zusammengefasst werden, da sie in der Behandlung des Kulturaufsatzes bereits gezeigt wurden. Zunächst (3.1) wird die Ethik in den „Geistes- oder Normwissenschaften“ verortet. Im Anschluss (3.2) werden die praktischen Implikationen und somit die systematischen Grundlagen des sinnfundierten Anerkennungskonzepts aufgezeigt.

3.1 Die Struktur der Normwissenschaften und die Sinntheorie Der Grundaufbau des Wissenschaftssystems in die drei aufeinander aufbauenden Bereiche Denk- oder Idealwissenschaften, Seins- oder Realwissenschaften und Geistes- oder Normwissenschaften entspricht nach Tillich relativ genau der klassischen Dreiteilung von Wissenschaft in Logik, Physik und Ethik.119 Damit sind die Norm-

der Eigenart ihres Gegenstandes und ihrer Methode präzise im System der Wissenschaften zu verorten‘, ist falsch. Tillich verfolgte im System vorrangig ein genuin philosophisches Interesse.“  Vgl. Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 218, Anm. 15.  Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 287.  Die Religionsphilosophie erschien – wie schon erwähnt – 1925 zuerst als thematisches Kapitel in Max Dessoir (Hg.): Lehrbuch der Philosophie, Bd. 1: Die Geschichte der Philosophie, Berlin 1925.  Tillich, „Vorwort“, in: Frühe Hauptwerke Bd. I, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 21959).  Vgl. Tillich, System der Wissenschaften, 122. Zur Ausarbeitung der Wissenschaftstheorie in den Jahren zwischen 1917/18 und 1923 und speziell zum System der Wissenschaften vgl. Katja Bruns, Anthropologie zwischen Theologie und Naturwissenschaft bei Paul Tillich und Kurt Goldstein (Göttingen: Edition Ruprecht, 2011), 15–114; Thorsten Moos, „Paul Tillichs Interpretation der

3 Sinn der Gemeinschaft und Anerkennung der Persönlichkeit (1923)

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wissenschaften im Ansatz als Bereich gesetzt, der es mit den praktischen Ausprägungen der geistigen Vollzüge zu tun hat. In den Denkwissenschaften werden erkenntnistheoretische Grundlagen im Sinne formaler Gesetze in Mathematik und Logik thematisiert. Die Seinswissenschaften umfassen eine enorme Bandbreite fachwissenschaftlicher Disziplinen. Hier geht es sowohl um anorganische als auch organische Bereiche, von der Biologie über die Psychologie bis zur Technik. Schließlich beruhen die normativen Geisteswissenschaften auf der „merkwürdigen“ Prämisse, dass das „Denken sich nicht nur auf das Sein richtet, sondern auch auf sich selbst, daß es sich gewissermaßen zuschaut, während es denkt. Dadurch macht es sich selbst zu einem Objekt neben anderen Objekten.“120 Hier klingt das elementare Verhältnis von Denken und Sein bereits an. Dieses Verhältnis bildet für Tillichs System die grundlegende erkenntnistheoretische Prämisse. „In jedem Wissensakt ist ein Doppeltes enthalten, eben der Akt und das, worauf er sich richtet, das Meinen und das Gemeinte.“121 Tillich sieht drei Grundaus-

Naturwissenschaften im ‚System der Wissenschaften‘ von 1923“, in: Christian Danz/Werner Schüßler/Mary Ann Stenger/Marc Dumas/Erdmann Sturm (Hg.), Theology and Natural Science (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2012), 1–31; Paul Ziche, „Orientierungssuche im logischen Raum der Wissenschaften. Paul Tillichs System der Wissenschaften und die Wissenschaftssystematik um 1900“, in: Christian Danz (Hg.): Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs (Wien: Lit, 2004), 49–68; Raatz, „Kulturwissenschaft“, 162–173; Fritz, Menschsein als Frage, 118–137. Zwischen 1917/18 und 1923 erfährt Tillichs Wissenschaftstheorie eine Entwicklung, in der sich spezielle Aspekte und Details verändern, aber sich die Grundmuster im Ansatz nicht verschieben. Die grundlegenden Texte dazu sind der Hirsch-Briefwechsel von 1917/18; Tillich, „Theologie der Kultur“, Encyklopädie der Theologie und Religionswissenschaft (Wintersemester 1920), bes. 377–384, die Religionsphilosophie (Sommersemester 1920), bes. 348.362, die Religionsphilosophie (1923/25) und das System der Wissenschaften. Insbesondere der Dreischritt (allgemeine Analyse beziehungsweise Wesensbestimmung/Typologisierung/Normsetzung) bezüglich Religion und Kultur bleibt Tillichs Instrument kulturtheologischer Analysen.  Tillich, System der Wissenschaften, 119.  Tillich, System der Wissenschaften, 118. In den Termini „Gemeintes“ und „Meinen“ zeigt sich Tillichs Lektüre der Phänomenologie Edmund Husserls, die er noch während des Kriegs intensiv studierte. Zu den Bezügen Tillichs zu Husserl siehe Michael Moxter: „Kritischer Intuitionismus. Tillichs Religionsphilosophie zwischen Neukantianismus und Phänomenologie“, in: Christian Danz/Werner Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte [1919–192]) (Wien: Lit, 2008), 173–196; Georg Neugebauer, „Die geistphilosophischen Grundlagen der Kulturtheologie Tillichs vor dem Hintergrund seiner Schelling- und Husserlrezeption“, in: Christian Danz/Werner Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur. Aspekte – Probleme – Perspektiven (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2011), 38–62; Dirk-Martin Grube, Unbegründbarkeit Gottes? Tillichs und Barths Erkenntnistheorien im Horizont der gegenwärtigen Philosophie (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 1998); U. Barth „Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs; Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 335–348.

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A Kulturtheologie und Wissenschaftssystematik (1919–1923)

richtungen des Denkens, also des „Gerichtetseins“ des Geistes auf das vorfindliche Sein: Zunächst könne sich das Denken auf das Sein derart beziehen, dass es darin als „gesetztes“ oder „begriffen“ erscheint – ähnlich dem Status der Intuition in der Systematischen Theologie von 1913, in dem sich das Denken noch nicht reflexiv thematisiert. Sodann driften auf einer mittleren Ebene Denken und Sein auseinander – man denke an den Status der Reflexion 1913. In einem dritten Schritt – der Charakterisierung der Geistes- oder Normwissenschaften – wird das Denken „sich selbst gegenwärtig“ und „ist selbst Sein.“122 Diese abstrakte Bestimmung der Geisteswissenschaften wird insbesondere durch den Begriff des Schöpferischen erhellt. Wie schon der Kulturvortrag deutlich machte, ist der Geist nie bloß „uninteressierter Zuschauer“, sondern die Pointe liegt darin, dass Geisteswissenschaften „produktiv“ sind und damit das „Denken schöpferisch“123 ist. Mit dieser Grundausrichtung, so könnte man vereinfachen, ist eine Idee von reiner Objektivität abgewehrt, weil der Geist in seinem Bezug auf theoretische wie praktische Formen stets gestaltend teilnimmt. In der Konsequenz erklärt sich der Übertitel „Normwissenschaften“ dadurch, dass diese den Teil der Wissenssystematik darstellen, in dem das Schöpferische normativ wird: In Akten der Kunst, der Wissenschaft oder des Rechts und der Gemeinschaft wirkt der jeweils individuelle Einfluss der Beteiligten normativ – vergleichbar etwa der Präferenz für eine ethische Ausrichtung, die dadurch eine andere ablehnt.124 Unter Normen versteht Tillich „Gesetze geistigen Schaffens“125. Insofern also die Geisteswissenschaft derlei Normen zu erkennen versucht, wird sie notwendig zu einer normgebenden Wissenschaft. Entscheidend ist nun, dass „der normative Charakter“ der Geisteswissenschaft für Tillich darin besteht, dass „sie die Normen, die sie erkennt, mitschafft“126. Somit sind sämtliche Akte des Bewusstseins eine Setzung von Normen. Die wiederum anklingende Lektüre der Phänomenologie und der Intentionalitätstheorie Husserls wird auch hier nicht weiter ausgeführt. Es sollte aber immerhin zum Ausdruck kommen, wie deutlich sich Tillich gegen ein Normenverständnis abgrenzt, welches zum Beispiel positivistisch an festgesetzten, zumal objektiven Geltungsansprüchen orientiert ist. Normen in Tillichs Sicht haben vielmehr eine „eigentümliche Realität, die der schöpferische Prozess des Geistes ihnen gibt“.127 Für den vorliegenden Zusammenhang interessieren im Folgenden allein die praxisbezogenen Grundbegriffe der Geistes- oder Normwissenschaften. In den nor-

     

Tillich, System der Wissenschaften, 118 f. Tillich, System der Wissenschaften, 121. Vgl. Tillich, System der Wissenschaften, 246–272 und unten in diesem Abschnitt. Tillich, System der Wissenschaften, 220. Tillich, System der Wissenschaften, 221. Tillich, System der Wissenschaften, 221.

3 Sinn der Gemeinschaft und Anerkennung der Persönlichkeit (1923)

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mativen Geisteswissenschaften werden somit auch die hier fraglichen Bestimmungen auf dem Feld des Ethischen behandelt: „Recht“, „Gemeinschaft“, „Ethos“ oder „theonome Ethik“. Dazu folgen die Normwissenschaften einer komplexen Struktur, die auf zwei für den vorliegenden Zusammenhang entscheidenden Prämissen beruht. Erstens liegt für Tillich das „Erkenntnisziel“ der Geisteswissenschaften im „Sinnbegriff“.128 Zweitens basiert ihre Konstruktion auf dem Verhältnis von Form und Gehalt, wie es ebenfalls im Kulturvortrag präsentiert wurde. Der Sinnbegriff bildet – erstens – insofern das Fundament sämtlicher geistiger Ausdrücke, als die „Akte der geisttragenden Gestalt“ „sinngebende Akte“129 sind, in denen ein „Sinnzusammenhang“ hergestellt wird. Dazu spielt Tillich bereits auf die Repräsentation des Gehalts in den Formen an und führt aus: „Der dem Sein innewohnende Sinn kommt in den geistigen Akten zu sich selbst, der Sinn der Wirklichkeit verwirklicht sich im Geistigen.“130 Mit dem Geistigen sind – in einer Linie bis 1913 – wiederum die theoretischen oder praktischen Vermögen angesprochen. Die Sinntheorie lässt sich näher durch Hinzunahme der Religionsphilosophie konturieren und pointiert in drei Hauptmomente unterteilen: Das erste besteht im „Bewußtsein des Sinnzusammenhangs, in dem jeder einzelne Sinn steht und ohne den er sinnlos wäre.“131 Der einzelne Sinn ist für Tillich demnach nur sinnvoll als Teil eines Sinnzusammenhangs, sodass es in einer sinnerfüllten Schöpfung nicht unverbundenen oder unvermittelten Sinn geben kann. Das zweite Moment besteht im „Bewußtsein um die Sinnhaftigkeit des Sinnzusammenhangs [...], d. h. das Bewußtsein um einen unbedingten Sinn, der in allem Einzelsinn gegenwärtig ist.“132 Gäbe es keinen übergreifenden Sinn, so wären die Akte des Geistes sinnlos. Im grundlegenden Form-Gehalt-Schema bedeutet dies, dass der unbedingte Sinn in den Formen der Kultur repräsentiert wird. Folglich muss es einen transzendenten Sinn geben, der selbst nicht bedingte Form ist. Das dritte und für die Ethik wesentliche Moment besteht im Bewusstsein der „Forderung, unter der jeder Einzelsinn steht, den unbedingten Sinn erfüllen zu müssen.“133 Die zentrale Position der Forderung war im 1913er System bereits im Kontext der sittlichen Forderung beziehungsweise des Gewissens angeklungen. Auf die Forderung wird im Zusammenhang mit der praktischen Seite der geistigen Akte zurückzukommen sein.

 Tillich, System der Wissenschaften, 222 (im Original kursiv).  Tillich, System der Wissenschaften, 222.  Tillich, System der Wissenschaften, 222.  Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 318.  Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 318.  Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 318. Siehe dazu ausführlich im Kontext des religiösen Sozialismus unten Teil 2: B.1.2.3.

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A Kulturtheologie und Wissenschaftssystematik (1919–1923)

Für den Aufbau der Geisteswissenschaften ergibt sich auf dieser Grundlage für Tillich zunächst die Dreiteilung in Sinnprinzipienlehre oder Sinnnormenlehre, Sinnmateriallehre sowie Sinnsystemlehre.134 Auch hier knüpft er direkt an die grundlegende Einteilung in ein allgemeines, ein typologisches und ein normatives Moment an, wie es auch im Vorgehen der Kulturtheologie elementar war. Folglich entsprechen für ihn die Sinnprinzipienlehre der Philosophie, die Sinnmateriallehre der Geistesgeschichte und die Sinnsystemlehre der normativen Systematisierung.135 Wiederum wird zunächst das geschichtliche Material aufgespürt, in dem es zur Verwirklichung von Sinn kommt. Sodann wird das Material geistesgeschichtlich eingeordnet. Und schließlich werden systematisch Normen daraus erhoben. Der Aufbau wird nun erhellt durch die Wiederaufnahme von Form und Gehalt. Tillich führt das Form-Gehalt-Schema – zweitens – konsequent fort und verknüpft dies unmittelbar mit der Sinnkonzeption. „Jeder schöpferische Akt ist der Intention nach auf die unbedingte Form gerichtet.“136 Diese unbedingte Form, so Tillich, gibt es indes nicht. Das heißt, dass in dem Versuch, eine unbedingte Form zu erfassen, das Verhältnis von Denken und Sein wieder zum Ausdruck kommt: Sofern jedes Denken auf das Sein gerichtet ist und versucht, es vollständig zu erfassen, richtet es sich für Tillich an dem „unbedingten Sinn, der jeder Einzelform Realität und Sinn gibt“137, aus. Damit ist der Gehalt angesprochen. Zentral ist hier für Tillich die Annahme, dass jeglicher geistige Akt nach dem unbedingten Sinn, dem Gehalt, strebt, was er mit der Kategorie des „Eros“ verdeutlicht, der gleichsam für den „Willen“138 zum Unbedingten steht. Um das zu konturieren, nimmt er auch hier wieder die Relation von Autonomie und Theonomie auf. Und zwar differenziert Tillich anhand derer zwei Geisteshaltungen. Einmal könne der benannte Wille, das Unbedingte aufzuzeigen beziehungsweise in Formen (Kunst, Praxis, Recht) zu realisieren, autonom ausgerichtet sein. Das geschieht, sofern versucht werde, den unbedingten Sinn durch die Formen aufzuzeigen. Dabei stehe ganz ihre Geltung139 im Zentrum. Das bedeutet: der Sinn kommt dann zum  Vgl. Tillich, System der Wissenschaften, 224.241.  Vgl. Tillich, System der Wissenschaften, 224.  Tillich, System der Wissenschaften, 227.  Tillich, System der Wissenschaften, 227.  Tillich, System der Wissenschaften, 227.  Der Ausdruck der „Geltung“ gehörte zu den Grundbegriffen der neukantianischen Philosophie, die von Tillich ab 1917/18 – wie des Öfteren erwähnt – regelmäßig und kritisch rezipiert wird. „Die Philosophie des N. (Kritizismus) ist Geltungsreflexion, näherhin Reflexion darauf, was die Geltung (Gültigkeit, Wahrheit, Wert) theoretischer und praktischer Urteile ausmacht und begründet.“, Helmut Holzhey/Renate Renz, „Neukantianismus“, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Bd. 2 (Hamburg: Meiner, 2010), 1776–1781.1778. Typisch sei hierzu der

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Austrag, wenn eine Form richtig ausgeführt wird. Auch hier lässt sich wieder an die korrekte Einhaltung einer bestimmten Ethikausrichtung oder eines Regelsystems denken. Die autonome Haltung lässt sich, auch wenn Tillich es nicht benennt, als vermittelte Haltung kennzeichnen: „In der Richtigkeit, in der Gültigkeit einer Form enthüllt sich ihre Kraft, das Unbedingte zu erfassen.“140 Demgegenüber steht die theonome Haltung des Geistes, in der sich der Geist danach richte, in welcher Form das Unbedingte am unmittelbarsten zum Vorschein kommt. Die grundlegende Differenz beider liegt folglich darin, dass der Geist sich in der gehaltsbestimmten Richtung allein daran orientiert, unbedingten Sinn zu realisieren. In der autonomen Richtung versucht er, so könnte man vereinfachen, sich rein an einer konkreten, bedingten Form zu orientieren. Diese Unterscheidung erinnert an Tillichs durchgängige Kritik an einer rein formalistischen Ethik (für die meist Kant steht), in der der Mensch sich an einer Form als Regel ausrichtet, die zur Konvention verkommen kann.141 Von hier aus erst kann Tillich näher bestimmen, was unter Ethik zu verstehen ist. Denn aus der zweifachen Geisteshaltung – autonom/formbestimmt und theonom/gehaltsbestimmt – resultiert die Notwendigkeit, dass die Normwissenschaft auch für beide Bereiche Normen erstellen muss. Dies wäre nur dann nicht der Fall, wenn es ausschließlich theonome Formen gäbe. Auf den ersten Blick verkompliziert sich so der Aufbau nochmals. Auf den zweiten Blick lässt sich indes endlich die Struktur des Theorie-Praxis-Schemas erklären. Sie basiert unmittelbar auf der Differenz von Form/Autonomie und Gehalt/ Theonomie und fügt mit den Begriffen Metaphysik und Ethik zwei grundlegende Bereiche hinzu. Die Normwissenschaften sind folglich sortiert in die bereits vertrauten Formen Wissenschaft und Kunst auf der theoretischen Ebene und demgegenüber Recht und Gemeinschaft (hier für Individual- und Sozialethik) auf der praktischen. Hinzukommen jeweils Metaphysik und Ethik.142 Damit stehen zunächst sechs Bereiche vor Augen, die von Tillich weiter sortiert werden: Auf der theoretischen Seite stellt die Wissenschaft die formorientierten Akte und die Kunst die gehaltsorientierten Akte dar. Die Metaphysik steht gewissermaßen über beiden, indem sie diese „fundiert“143. Auf der praktischen Ebene sind die formorientierten Akte bestimmt als Recht, während die gehaltsorientierten Akte

Einbezug anderweitiger Bereiche der „Objektivationen“, also Formen von Religion, Sittlichkeit, Kultur oder Kunst (vgl. 1778).  Tillich, System der Wissenschaften, 227. Die Kennzeichnung als vermittelt liegt nahe, weil Tillich sodann die theonome Haltung als unmittelbare bezeichnet.  Siehe oben: Teil 1: B.4.5.  Vgl. zur Parallelität von Ethik und Metaphysik auch Scheliha, „Politische Ethik“, 143–146.  Tillich, System der Wissenschaften, 230.

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A Kulturtheologie und Wissenschaftssystematik (1919–1923)

in der Gemeinschaft verortet sind. Hier ist es die Ethik beziehungsweise Sittlichkeit144, die beide fundiert. Die nähere Bestimmung der geistigen Akte, die in diesen Formen vollzogen werden, nimmt Tillich vor, indem er die theoretische Sphäre als „sinnerfüllende Akte des Aufnehmens“ und die praktische Sphäre als die des „Sich-hinein-Gestaltens in die Wirklichkeit“145 konturiert. Alle Akte seien letztlich Akte der Freiheit, „geistige Akte sind solche, in denen die individuelle Gestalt ihre Beziehungen zur Wirklichkeit in Freiheit oder als gültige herstellt.“146 Letztlich besteht der zentrale Aspekt weiter darin, dass sich in den Akten von Wissenschaften bis zur Gestaltung von Gemeinschaft Sinn verwirklicht. Die unterschiedliche Weise, in der dies theoretisch und praktisch geschieht, zeigt sich dadurch, dass in Ersteren die Formen aufgenommen werden, um dann in Letzterer in einem Akt eine „Seinsbeziehung“147 herzustellen. Diese Seinsbeziehung kann nur vollzogen werden zwischen „geisttragenden“148 Gestalten. Bevor die praktische Reihe aus Recht, Gemeinschaft und Ethos näher erörtert werden kann, muss konkretisiert werden, was Tillich mit den beiden fundierenden Sphären Metaphysik (theoretisch) und Ethik (praktisch) genau vor Augen steht. Zum einen versteht er unter Metaphysik eine grundlegende Reflexion auf den Begriff des Unbedingten. In ihr geht es für ihn nicht in klassischer Form um rationale Letztbegründung, sondern um das Aufzeigen der „Richtung auf das Unbedingte [...]. Es ist eine selbständige, von wissenschaftlicher und ästhetischer Welterfassung grundsätzlich unabhängige Sinngebung, die in der Metaphysik vorliegt.“149 Es geht Tillich bei der Metaphysik folglich um den Versuch, einen unbedingten Sinn des Seins zu konturieren, dabei aber von dem Ziel abzusehen, diesen Sinn vollständig zu begründen. Zum anderen versteht er unter Ethik auf der praktischen Seite „Wissenschaft vom Ethos, d. h. von der handelnden Verwirklichung des Unbedingten“.150 Die Formulierung „handelnde Verwirklichung“ gibt einen deutlichen Fingerzeig auf die enorme Bedeutung der praktischen Umsetzung einer sinnerfüllten Gemeinschaft, die für Tillich zu dieser Zeit nach wie vor den Zielpunkt des Interesses darstellt. Es darf nicht übersehen werden, dass das Jahr 1923 gleichzeitig noch mitten in die Herausbildung des Religiösen Sozialismus fällt, der für Tillich auf eine sol-

      

Tillich verwendet im System der Wissenschaften Ethik und Sittlichkeit synonym. Tillich, System der Wissenschaften, 229. Tillich, System der Wissenschaften, 229. Tillich, System der Wissenschaften, 229. Tillich, System der Wissenschaften, 229. Tillich, System der Wissenschaften, 253. Tillich, System der Wissenschaften, 270.

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che Sinngemeinschaft abzielt.151 Das gilt auch, obwohl er sich hier erneut an einem hochabstrakten System versucht. Kehrt man zum Text zurück, so gibt Tillich eine verhältnismäßig deutliche Abgrenzung von Ethik als Wissenschaft. Das Grundproblem sieht er geistesgeschichtlich darin, dass die Ethik in „Gemeinschafts- resp. Persönlichkeitslehre aufgelöst wurde“152, weshalb er auch bis hierher bewusst die Termini „Individualethik“ und „Sozialethik“153 vermieden habe. Tillichs Diagnose lautet, dass es parallel zur Metaphysik zu einer verharrenden Entwicklung in der Ethik gekommen sei, indem diese mit dem Ethos gleichgesetzt worden sei. Dies sei sowohl in der Überhöhung der Pflichten- als auch der Güterethik in der Moderne geschehen: „Der rationalen Metaphysik entsprach eine rationale Ethik“154, in der beispielsweise das pflichtgemäße Handeln aufgrund seiner, so lässt sich veranschaulichen, scheinbaren rationalen Überlegenheit selbst Ethos wurde. Wenn aber, so Tillichs Analyse, vergessen werde, dass alle „sozialen und personalen Formen nur symbolische Bedeutung für die Realisierung des Unbedingten haben können“, werde Ethik zu Moral. Eine „gehalterfüllte Gemeinschaftslehre“ aber sei nur möglich durch eine „ethostragende Ethik“155. Sofern Ethik damit von der Gemeinschaftslehre zu unterscheiden ist, behandelt jene allein das Ethos selbst, folglich die Bedingung sinnhafter Gemeinschaft. Ethik ist damit für Tillich „Wissenschaft vom Ethos“156. Das Ethos steht für ihn parallel zur Metaphysik und fundiert demzufolge Recht und Gemeinschaft als Überbegriffe für die individuelle und soziale Seite der praktischen Reihe.

3.2 Theonome Ethik und Anerkennung als praktische Sinnrealisierung In der Darstellung der praktischen Reihe geht es in den folgenden zwei Abschnitten darum, zum einen Tillichs Verständnis von Recht und Gemeinschaft zu klären und zum anderen darauf aufbauend seine Vorstellung von der Verbindung zwischen Recht, Anerkennung und Liebe zu skizzieren. Für den ersten Aspekt wird stärker auf das Wissenschaftssystem, für den zweiten auf die Religionsphilosophie zurückgegriffen.

     

Siehe unten: Teil 2: B. Tillich, System der Wissenschaften, 267. Tillich, System der Wissenschaften, 267. Tillich, System der Wissenschaften, 268. Tillich, System der Wissenschaften, 268. Tillich, System der Wissenschaften, 270.

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3.2.1 Theonome Ethik im Kontext der Normwissenschaften In den nachstehenden Ausführungen wird das Augenmerk auf die „praktische Reihe“157 der menschlichen Vermögen gelegt. Die wird von Tillich parallel zur theoretischen (Wissenschaft, Kunst, Metaphysik) in Recht, Gemeinschaft und Ethos eingeteilt.158 Wie bereits der Kulturaufsatz deutlich machte, lassen sich die theoretischen Akte als weltaufnehmende und die praktischen als weltgestaltende Akte umschreiben.159 In den theoretischen Vollzügen, so Tillichs Analyse, nimmt der Geist schöpferisch durch Wissenschaft, Kunst und die – beide fundierende – Metaphysik (die Haltung des Geistes in Richtung des Unbedingten) das „Wirkliche“ auf. Mit den Konturierungen des Rechts und der Gemeinschaft in Beziehung zur Persönlichkeit konzeptualisiert Tillich sein Modell sinnhaften Handelns. Insbesondere an dieser Schaltstelle der praktischen Akte wird nunmehr die Religionsphilosophie einbezogen. Darin verknüpft Tillich seine Vorstellung sinnhafter Gemeinschaft unmittelbar mit der Anerkennung zwischen Personen. Demzufolge wird in diesem Abschnitt – nach der Entwicklung der neuidealistisch-rechtfertigungstheologischen Stoßrichtung der Anerkennung in der Zeit vor 1919 – das sinntheoretisch geprägte Anerkennungskonzept im Rahmen seines kultur- und wissenschaftssystematischen Kontextes herausgehoben. Der komplexen Struktur der Wissenschaftslehre entsprechend konzentriert sich die folgende Analyse auf die dritte Ebene in Tillichs dreifacher Bestimmung geisteswissenschaftlicher Arbeit, die zuvor als Sinnnormenlehre oder Sinnsystemlehre bezeichnet wurde. Entscheidend für die Interpretation ist mit Blick auf Tillichs Vorgehen, dass die einzelnen Formen (Recht, Gemeinschaft, Ethos) von Tillich jeweils zweifach thematisiert werden. Das hat seinen Grund in der fundamentalen Differenz von Autonomie und Theonomie, die zuvor als Geisteshaltungen und im Zusammenhang mit Form und Gehalt bestimmt wurden. Strukturell bedeutet das: Tillich skizziert zunächst die Sinnnormenlehre – als dritten Schritt des generellen Schemas der Geisteswissenschaft – aus der Pers-

 So Tillichs Bezeichnung in Religionsphilosophie (1923/25), 322 und Tillich, System der Wissenschaften, 246.257.  Zum Recht im Gesamtwerk Tillichs siehe Wrege, Rechtstheologie, 57–61, der allerdings das System der Wissenschaften nur knapp in seiner Grundstruktur darstellt und das Recht darin nicht näher interpretiert. Auch in seinem Beitrag mit dem Titel „Rechtstheorie und christliche Rationalität. Annäherungen aus der Perspektive Paul Tillichs“ (1997) wird das System nicht erwähnt: vgl. Wrege, „Rechtstheorie“. Auch Dreier, „Rechtstheologie“, analysiert nur Tillichs Rechtsbegriff im Spätwerk: vgl. ST III (1963), 738–742 und die dortige Verhältnisbestimmung von Macht und Gerechtigkeit.  Vgl. Teil 2: A.2.4 und 3.1; Tillich, System der Wissenschaften, 257.

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pektive der Autonomie und erörtert die Formen von Wissenschaft bis Ethos.160 Das gleiche Verfahren wendet er dann aus der Perspektive der Theonomie an.161 Auch hier gilt der Dreischritt aus allgemeiner Analyse (Philosophie), Geistesgeschichte und normativer Systematik. Doch werden jetzt explizit eine theonome Metaphysik und eine theonome Ethik behandelt. Aus diesem Zusammenhang sind vor allem drei Überlegungen festzuhalten. Erstens hebt Tillich deutlich hervor, dass es zwar eine explizit theonome Metaphysik und Ethik gebe, nicht aber eigene, explizit theonome Formen der anderen vier Sinngebiete (Wissenschaft, Kunst, Recht und Gemeinschaft). „In den übrigen Sinngebieten kommt der Unterschied nur insofern zur Auswirkung, als sie von der Metaphysik und Ethik abhängig sind.“162 Insofern führt Tillich die prätentiöse Forderung einer Autonomie der Formen aus dem Kulturvortrag fort und hebt eindeutig darauf ab, dass die Formen von Gemeinschaft und dergleichen „[a]n sich betrachtet [...] immer autonom“163 seien. Theonomie ist Wendung zum Unbedingten um des Unbedingten willen. Während die autonome Geisteshaltung sich auf das Bedingte richtet und auf das Unbedingte nur, um das Bedingte zu fundieren, gebraucht die Theonomie die bedingten Formen, um in ihnen das Unbedingte zu erfassen. Theonomie und Autonomie sind also nicht verschiedene Sinnfunktionen, sondern verschiedene Richtungen der gleichen Funktion, und sie stehen nicht in einem einfachen, sondern dialektischen Gegensatz: Sie beruhen auf der Dialektik der Sinnelemente, Denken und Sein.164

Diese Grundentscheidung liegt darin begründet, dass die Fundamentaldifferenz von Autonomie und Theonomie sich als Haltung zur Geltung bringt. Dabei kann gewissermaßen das Gewicht stärker auf der autonomen Form liegen – zum Beispiel auf der konkreten Ausdrucksweise einer wissenschaftlichen Erkenntnis oder der Gestalt eines Kunstwerks, sodass der Gehalt noch nicht eigentlich erkannt ist. Oder der Schwerpunkt liegt auf dem theonomen Gehalt, der letztlich in den Formen repräsentiert werden soll. „Der Kampf von Theonomie und Autonomie ist die tiefste Triebkraft des schöpferischen Geistprozesses“165. So bleibt die Grundidee der Kulturtheologie im Vehikel der Wissenschaftssystematik erhalten und bezieht sich hier darauf, wie sich der Sinn in Wissenschaft, Kunst, Recht und

 Tillich, System der Wissenschaften, 246–271.  Tillich, System der Wissenschaften, 271–289.  Tillich, System der Wissenschaften, 228.  Tillich, System der Wissenschaften, 228, und weiter: „Darum entsprechen der autonomen Wissenschaft, Kunst und Gemeinschaft keine analogen theonomen Funktionen.“  Tillich, System der Wissenschaften, 271 f.  Tillich, System der Wissenschaften, 272.

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A Kulturtheologie und Wissenschaftssystematik (1919–1923)

Gemeinschaft zwischen Form und Gehalt zum Ausdruck bringt.166 Im Verhältnis von autonomer und theonomer Haltung kommt die „Spannung der Sinnelemente zu ihrer letzten Tiefe, zugleich aber zu ihrer grundlegenden Lösung“, weil nur „in der Einheit beider Richtungen alle Sinnerfüllung möglich ist.“167 Das bedeutet für Tillich auf die gesamte Geistesgeschichte bezogen, dass jeweils zwar die Formseite oder die Gehaltseite überwiegen kann – für letztere Option steht zum Beispiel die „griechisch-abendländische Aufklärung.“168 Doch die Konzentration auf reine Autonomie führe zur „gehaltslosen Form“, während Theonomie ohne autonome Formen in „formlosen Gehalt“169 führe. So kann Tillich zudem auf die potentiellen Konflikte zwischen Religion und Kultur zurückkommen und diese wiederum am Problem der rechten Verbindung von Autonomie und Theonomie festmachen. Denn auf der einen Seite braucht die Autonomie den theonomen Gehalt, um ihre Formen wirklich zu erfassen, auf der anderen Seite ist die Theonomie auf die Formen angewiesen, um sich auszudrücken. Erst hier kommt Tillich explizit auf die Religion zu sprechen. Sie führe dann zu Konflikten, wenn sie die autonomen Formen heteronom bestimmen wolle. Denn in der heteronomen Auffassung der Formen durch die Religion ergebe sich im Effekt das Gegenteil: fremdbestimmte Formen seien nicht mehr in der Lage, den Gehalt und so ihren eigentlichen Grund zur Wirkung zu bringen.170 Zweitens erhält die Theologie ihre präzise Definition als „theonome Systematik“ oder noch genauer als „theonome Sinnnormenlehre“171. Folglich stellt die Theologie den dritten normativen Schritt innerhalb der theonomen Betrachtung von Sinnvollzügen (Wissenschaft bis Ethos) dar. Das bedeutet nach Aufgabe der bis in das Mittelalter heteronomen Stellung der Theologie, dass Theologie nur ihr Recht behält, insofern sie das Verhältnis von theonomer und autonomer Geisteshaltung systematisch betrachtet. Für die Systematische Theologie ganz konkret hat das wiederum das Problem einer ausdrücklich theologischen Ethik zur Folge. In dieser Hinsicht stellt erneut das Nebeneinander einer philosophischen und theologischen Ethik und die daraus resultierende „doppelte Wahrheit“ den „Ausdruck eines Kulturkonfliktes zwischen Theonomie und Autonomie“172 dar. Dieser Konflikt kann für Tillich nur überwunden werden, indem die dialektische Zusam-

 So bezeichnet Tillich auch die Philosophie als ersten Schritt in der geisteswissenschaftlichen Methodik als „Lehre von den Sinnelementen“.  Tillich, System der Wissenschaften, 272.  Tillich, System der Wissenschaften, 272.  Tillich, System der Wissenschaften, 272.  Vgl. Tillich, System der Wissenschaften, 272.  Tillich, System der Wissenschaften, 274.  Tillich, System der Wissenschaften, 281.

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mengehörigkeit von „theonomer Intention und autonomen Ausdrucksformen in einem theonomen Ethos“173 vorausgesetzt wird. In diesem Argumentationsschritt gibt Tillich nun eine in dieser Form werkgeschichtlich singuläre Definition theologischer Ethik. Theologische Ethik ist Lehre vom theonomen Ethos (Frömmigkeitslehre). Entsprechend der Spannung von Mythos und Metaphysik besteht in der Frömmigkeitslehre die Spannung von Kultus und Ethos. Wie Mythos vor Entstehung einer rationalen Wissenschaft liegt, so der Kultus vor Entstehung eines rationalen Rechts- und Gemeinschaftsbewußtseins. [...] In jedem Kultakt, durch welche das Unbedingte in den Seinsbeziehungen verwirklicht werden soll, ist ein Element der rationalen Gemeinschafts- und Persönlichkeitssauffassung vorhanden; und in jedem ethischen Akt, der noch nicht rationale Seinsformung ist, liegt der kultische Wille, das Unbedingte in sich zu verwirklichen.174

Zunächst wird hier durch die Verwendung des Ausdrucks „theologische Ethik“ keine der grundlegenden Einsichten in Tillichs Konzeption relativiert. Wie zuvor gezeigt, gilt ihm weiterhin ein Nebeneinander zweier Ethiken als unmöglich sowie eine theologische Bestimmung autonomer Formen als kulturtheologisch überwunden. Er verwendet den Begriff „theologische Ethik“ hier, um mit der „Frömmigkeitslehre“ eine spezielle Unterkategorie der theologischen Arbeit abzugrenzen. Darin wird die Beziehung von „Kultus“ und „Ethos“, also letztlich religiösem Handeln und der entsprechenden Haltung, thematisiert. Unter Kultformen versteht Tillich solches Handeln, das Persönlichkeits- und Gemeinschaftsformen verwendet, um eine praktische Frömmigkeit, einen Kult, konkret zu machen. Gemäß dem obigen Zitat verwendet das Ethos die Ausdruckweisen Persönlichkeits- und Gemeinschaftsformen, um seinen Gehalt in den Formen des Kultes auszudrücken. Das theonome Ethos, welches letztlich das Ziel oder die „Synthese von Kultus und Ethos“175 in der Frömmigkeit darstellt, entspricht erneut sehr genau der kulturtheologischen Grundeinsicht: Das Ethos ist auf den Gebrauch der „rationalen“ Formen von Persönlichkeit und Gemeinschaft angewiesen, um die Frömmigkeit zur „Darstellung“176 zu bringen. Das bedeutet in Tillichs Sicht, dass einerseits in jeglicher kultischen Handlung, die auf die Darstellung des Unbedingten im Bedingten abzielt, weiterhin rationale, formbasierte Anteile enthalten sind. Andererseits sei genauso in jeder nichtkultischen, sondern ethischen Form der „Wille“ enthalten, „das Unbedingte in sich zu verwirklichen.“177 Darin besteht folglich die dialektische Synthese von Kult und Ethos. Für die Ausprägung der Ethik allerdings ist es zentral, dass Til-

    

Tillich, System der Wissenschaften, 281. Tillich, System der Wissenschaften, 281. Tillich, System der Wissenschaften, 281. Tillich, System der Wissenschaften, 281. Tillich, System der Wissenschaften, 281.

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A Kulturtheologie und Wissenschaftssystematik (1919–1923)

lich hier ausdrücklich in jedem ethischen Handeln den „Willen“ sieht, das „Unbedingte“ zu realisieren, das heißt praktisch umzusetzen.178 Dieses Element der Ethik wird sich in der Anwendung auf den Religiösen Sozialismus dann näher konturieren lassen.179 Es ist indes an dieser Stelle festzuhalten, dass Tillich davon ausgeht, sinnhaftes Handeln richte sich auf den Versuch das Unbedingte praktisch abzubilden und dass er mit dieser Umsetzung auch hier implizit die Praxis der „Nächstenliebe“180 im Blick hat. Dies wird bereits an der Ausführung der Persönlichkeits- und Gemeinschaftsauffassung deutlich. Zudem wird der Bezug zum Verhältnis von Heteronomie, Autonomie und Theonomie ersichtlich: „Theonomie meint ein Ethos, dessen Inhalte in Bezug auf ihren unbedingten Gehalt transparent sind; mehr noch, die die konkreten Formen und Inhalte des Ethos aus dem Unbedingten beziehen.“181 In den Handlungen der Frömmigkeit besteht durch dieses Verhältnis wiederum stets die Gefahr der heteronomen Einhegung. Diese geschieht immer dann, wenn Frömmigkeit versucht, die Formen der Persönlichkeit und Gemeinschaft derart zu bestimmen, dass sie ihre Autonomie vollständig verlieren.182 Hieraus resultieren für Tillich wiederum die Konflikte zwischen der theonomen, gehaltbestimmten und der autonomen, formbestimmten Seite des – in diesem Fall religiösen – Lebens. Die Frömmigkeit verliert das Ethos als Haltung, die der Kultus benötigt, um Gehalt auszudrücken. In diesem Fall werde die Synthese im theonomen Ethos nicht erfüllt.183 Andersherum würde das theonome Ethos genauso verfehlt werden, sobald die autonome Seite ausgeblendet wird. Das bedeutet konkret, dass weiterhin die kulturtheologische Grundeinsicht gilt, der Gehalt könne sich nur in Formen der Kultur ausdrücken. Die Spannung und die dialektische Einheit von Theonomie und Autonomie bleiben insofern die basale Grundlage zur Betrachtung von Recht und Gemeinschaft. Auf der Basis dieser sinntheoretisch begründeten Struktur aus Autonomie und Theonomie sowie dem Modell aus Form und Gehalt wird im Folgenden zu zeigen sein, wie die Bereiche Recht und Gemeinschaft von Tillich als sinnproduzierende Praxen konstruiert werden. Darin wird sich explizit das anerkennungsethische Element der Sinntheorie als Grundlage für die nachmalige Interpretation der religiössozialistischen Sozialethik erweisen.

     

Vgl. M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 118. Siehe dazu oben Teil 2: B.1.2.2. M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 118. M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 118. Vgl. Tillich, System der Wissenschaften, 281. Vgl. Tillich, System der Wissenschaften, 281.

3 Sinn der Gemeinschaft und Anerkennung der Persönlichkeit (1923)

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3.2.2 Das Recht und die Anerkennung der Persönlichkeit In den praktischen Formen Recht und Gemeinschaft „knüpfen“ die geisttragenden Personen „Seinsbeziehungen mit den übrigen geisttragenden Gestalten“ und so auch mit der „Wirklichkeit überhaupt.“184 Wie die theoretischen von der Metaphysik fundiert sind, so werden die praktischen Funktionen vom Ethos fundiert, welches die Haltung im Handeln auf das Unbedingte ausrichtet. Dies zeigt sich bereits im Übergang von der theoretischen in die praktische Reihe. Denn zum einen wird der praktischen Umsetzung von Sinn in den Beziehungen sinntragender Personen der Zielpunkt der sinntheoretischen Überlegungen zugesprochen: „Praktische Sinngebung ist die Verwirklichung sinnvoller Seinsbeziehungen. – Geisttragend können psychische oder soziale Gestalten in allen Sinnsphären sein.“185 Der Zielpunkt der sinntheoretischen Begründung menschlicher Vollzüge liegt damit in der praktischen Umsetzung von Sinn. Die Pointe besteht allerdings darin, dass der Geist in der praktischen Realisierung von Sinn noch über diese geisttragenden Formen hinaus geht. Während theoretische Akte rein psychisch – zu denken wäre an die Betrachtung eines Kunstwerks oder die Erfassung einer komplexen Theorie – bestimmbar seien, sei dies für praktische nicht denkbar, weil sie konstitutiv als soziale Akte zu verstehen seien: Eine sinnvolle Seinsbeziehung ist immer getragen von sozialen Beziehungen. Es gibt keine Persönlichkeit, d. h. keine psychische Einzelgestalt als Träger geistiger Seinsbeziehungen, außer der Gemeinschaft186.

Tillichs bis hierher konsequent durchgeführte antiindividualistische Stoßrichtung schlägt sich so auch im Zuge der abstrakt wissenschaftstheoretischen Überlegungen nieder. Zudem führt er an dieser Stelle ein anerkennungstheoretisches Element ein, welches sich in späteren Texten dann noch deutlicher aufweisen lässt.187 Denn Tillichs Näherbestimmung von sozialen Seinsbeziehungen besagt, dass der gegenseitige Widerstand mehrerer sinnhafter „Gestalten“ erst den zentralen Unterschied zu sämtlichen anderen Formen der Beziehungen darstellt. Das bedeutet: ohne das Aufeinandertreffen von geisttragenden Personen kann keine sinnvolle Gemeinschaft entstehen, und die Seinsbeziehungen bleiben „untergeistig“188. Derlei Beziehungen existieren zwar, sie verbleiben aber – so lässt Tillich sich verstehen – auf einer organischen Ebene, die nicht dem Handeln des Geistes in Bezug auf Denken und Sein entspricht. Dahingegen sind „sinnerfüllende Seins    

Tillich, System der Wissenschaften, 257. Tillich, System der Wissenschaften, 257 (kursiv im Original). Tillich, System der Wissenschaften, 257 (kursiv im Original). Siehe dazu insbesondere unten: Teil 2: B.2.2 und 2.3. Tillich, System der Wissenschaften, 257.

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beziehungen des einzelnen zu den Dingen und zur Wirklichkeit immer sozial bedingte Beziehungen, solche, in denen die sozial geformte und gebundene Persönlichkeit handelt.“189 Es bleibt demnach bis zu diesem Punkt festzuhalten, dass Tillich zum einen die praktische Realisierung von Sinn in der Gemeinschaft sinntragender Personen sieht, die jeweils ihre Grenze des Handelns im Gegenüber haben. Zum anderen ist schon in den einleitenden Überlegungen die bereits zuvor erwähnte Überwindung einer künstlichen Trennung von Individual- und Sozialethik impliziert. Diese Begriffe, so Tillich in Bezug auf die Gemeinschaft, habe er bewusst vermieden.190 Und hier wird deutlich, dass der Grund dafür in seiner Annahme liegt, eine Person könne ausschließlich in der Gemeinschaft mit anderen Personen ein Individuum werden.191 Auf dieser Basis untersucht Tillich in der Folge zunächst den Begriff des Rechts und entfaltet dazu Probleme von „Rechtsformalismus“ beziehungsweise „Rechtslogismus“ und „Rechtsalogismus“. Sodann diskutiert er Bereiche der Rechtslehre („Naturrecht“ und „Rechtspositivismus“192), die gemäß der geisteswissenschaftlichen Arbeit in „Rechtsphilosophie“, „Geistesgeschichte“ und „Rechtsnormenlehre“193 strukturiert ist. Schließlich wird das Verhältnis von Recht und Staat thematisiert.194 In diesen Ausführungen sind die vielfältigen Inspirationen durch die zeitgenössische Diskussion der Rechtstheorie – besonders im Neukantianismus – deutlich sichtbar.195 Tillichs eigenes grundsätzliches Verständnis des Rechts lässt sich

 Tillich, System der Wissenschaften, 257.  Siehe oben: Teil 2: A.3. Vgl. Tillich, System der Wissenschaften, 257.  Vgl. hierzu das bereits 1913 entfaltete Verständnis von Person und Gemeinschaft besonders im Gebot der Nächstenliebe: Teil 1: B.4.3.  Vgl. Tillich, System der Wissenschaften, 258 (im Original teils kursiv).  Vgl. Tillich, System der Wissenschaften, 259–262.  Vgl. Tillich, System der Wissenschaften, 262–263.  Vgl. dazu Michael Moxter, „Tillich und die neukantianische Rechtstheorie“, in: Christian Danz/ Werner Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur. Aspekte – Probleme – Perspektiven (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2011), 228–249. bes. 237–247. Moxter zeigt, dass Tillich sich schon mit der Verwendung des Terminus Normwissenschaften an die zeitgenössische neukantianische Diskussion anlehnt. Dass Tillich sich zu dieser Zeit bereits intensiv mit der neukantianischen Rechtsphilosophie auseinandergesetzt hatte, zeigt auch seine 1922 erschienene Rezension zu Rudolf Stammlers Lehrbuch der Rechtsphilosophie, Berlin 1922, worin in Tillichs Urteil die „kantisch-neukantische Richtung der Rechtsphilosophie [...] eine Vollendung erreicht, die kaum überboten werden kann.“ („Rechtsphilosophie. Zu einem Lehrbuch von Rudolf Stammler“, in: Begegnungen. Paul Tillich über sich selbst und andere, Bd. XII, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht [Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1971], 200–203, 200). Stammler stand den „Marburger Neukantianern“ um Hermann Cohen und Paul Natorp nahe und versuchte zwischen

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erneut über die tragende Relation von Form und Gehalt herausfiltern. Wie bereits bezüglich der Struktur der Normwissenschaften gezeigt, stellt das Recht die formbestimmte Sinnfunktion dar, während Gemeinschaft von Tillich als gehaltsbestimmte Seite gesetzt wird und beide vom Ethos fundiert werden. Erneut tritt das basale Verhältnis von Form und Gehalt derart zu Tage, dass zwar die Orientierung an einem von beiden jeweils überwiegt, es aber nie zu einer „reinen“ Form oder „reinem“ Gehalt kommen kann. Wie in der theoretischen Sphäre [...] können in der praktischen Sphäre die Seinsbeziehungen sich darstellen entweder in Formbeziehungen oder in Gemeinschaft des Seinsgehaltes. Aber der Gegensatz ist nicht absolut. Die Formbindungen sind der Ausdruck von Getragensein durch gemeinsamen Gehalt, und die Gemeinsamkeit des Gehaltes muß sich darstellen in sinnerfüllenden Formen.196

Differenzieren lassen sich die formorientierte und die gehaltsorientierte Seite demnach für Tillich, indem erstere („Formbindungen“) allein als Formen erscheinen, die zweiten („Gemeinschaft des Seinsgehaltes“) nur Formen in dem Sinne sind, dass sie den Gehalt aus sich heraus zum Ausdruck bringen. Deutlich bleibt es gemäß Tillichs Aussage bei der dialektischen Beziehung beider Seiten, insofern der Gehalt auf seine Vermittlung in den Formen angewiesen ist. Mit der „Gemeinschaft des Seinsgehaltes“ ist folglich auf die Gemeinschaft als zweite praktische Sinnfunktion ausgegriffen, während das Recht die erste, formbestimmte Sinnfunktion darstellt. Zugleich wird nochmals deutlich, dass sich Recht und Gemeinschaft keineswegs im Sinne einer Individual- und einer Sozialethik künstlich voneinander abgrenzen lassen, sondern vielmehr nur über die Differenz von Form und Gehalt in Bezug setzen lassen. Entscheidend ist für das Recht sein Bezug zum Ethos, das parallel zu der Beziehung zwischen Metaphysik und Wissenschaft in der theoretischen Sphäre verläuft: „Wie diese kann das Recht nicht direkt, sondern nur vermittelt über Anderes (hier: der Ausbildung eines Ethos) mit Unbedingtheit in Kontakt treten, also auch nur indirekt theonom erfüllt werden.“197 Folglich setzt sich auch hier Tillichs stetige Betonung der Erhaltung einer Autonomie der Formen fort: Weil das Recht die formbestimmte Praxis darstellt, darf es gerade nicht durch den Gehalt heteronom eingehegt werden.198

Rechtspositivismus und Naturrechtsdenken zu vermitteln: vgl. Holzhey/Renz, „Neukantianismus, 1779, ferner oben: Teil 1: B.2.1. Zu Tillichs Bezügen zur zeitgenössischen Diskussion des Rechts im Neukantianismus vgl. Moxter, „Rechtstheorie“.  Tillich, System der Wissenschaften, 258 (im Original teils kursiv).  Moxter, „Rechtstheorie“, 238.  Vgl. Moxter, „Rechtstheorie“, 238.

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Ins Prinzipielle gewendet bildet das Recht die rationale Absicherung der gehaltsbezogenen Gemeinschaft. Recht als praktisches Pendant zur Wissenschaft steht auf der rationalen Seite der Praxis.199 Das Charakteristikum beider formbestimmten Bereiche besteht in ihrer „rationalen Erzwingbarkeit“, welche das Recht zu einem unbedingt durchzusetzenden Aspekt des sozialen Lebens erklärt. Allerdings mit folgender Einschränkung, was die Konsequenz beziehungsweise die Durchsetzung des Rechts betrifft: Wie aber die Wissenschaft um so weniger von der reinen rationalen Form bestimmt ist, je mehr sie das Sein selbst in den Dingen erfassen will, so hat auch die rationale Erzwingbarkeit der Rechtform in dem Maße ihre Grenze, als das Recht ein lebendiger Ausdruck des Gemeinschaftsgehaltes sein will.200

Die Ausführung des Rechts ist also für sich schon eine auf gehaltserfüllte Gemeinschaft zielende Handlung und demnach eine Sinnfunktion wie zum Beispiel Wissenschaft. Die Durchsetzung des Rechts ist – so lässt sich verstehen – nicht für sich genommen gut, weil sie einem geltenden Recht entspricht, sondern gut wird sie vielmehr, sofern sie auf die Gemeinschaft im Sinne der Sinnrealisierung gerichtet ist. Um sein Rechtsverständnis näher zu konturieren, grenzt Tillich sich in der Folge von vier Richtungen der Rechtsphilosophie ab: erstens Rechtslogismus und Rechtslogismus als Grundverständnisse dessen, was Recht sein könnte, und zweitens Naturrecht und Rechtspositivismus als Anwendungsprinzipen des Rechts. Die zwei Grundverständnisse können – erstens – für Tillich das Recht nicht als Sinnfunktion zur Geltung bringen. Im „Rechtformalismus“ oder Rechtslogismus wird, so Tillich, das „Prinzip der formalen Gerechtigkeit und Gleichheit“201 von der einzelnen Person abgetrennt festgelegt. Damit geht für Tillich die grundlegende schöpferische und auf sinnerfüllte Gemeinschaft zielende Richtung der Geistesfunktion verloren, weil nicht von den realen Bedingungen und den sinnstiftenden Beziehungen der Einzelnen ausgegangen werde, sondern Prinzipien von außen übergestülpt würden. Tillich wird hier liberale Rechtsansätze im Blick haben, worauf sein Hinweis auf liberale Staatsverständnisse deutet.202 Die Alternative bestehe in einem gegenteiligen „Rechtsalogismus“. Letzterer könne entweder in einer Indifferenz gegenüber den realen Begebenheiten bestehen oder er könne das Recht als Motor eines bestimmten konkreten „sozialen Organismus“203 verstehen. Im ersten Fall würde das Recht nur daran abgelesen, inwieweit es schafft, sich durchzuset-

    

Vgl. Tillich, System der Wissenschaften, 258. Tillich, System der Wissenschaften, 258. Tillich, System der Wissenschaften, 258. Vgl. Tillich, System der Wissenschaften, 262. Tillich, System der Wissenschaften, 258.

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zen, es würde hingegen nicht austariert oder von der Gemeinschaft kontrolliert festgelegt. Das Recht verbleibe im „Strukturgesetz der Gestaltsphäre“204 und setze sich gewissermaßen durch, ohne dass es zu bewussten Schlagrichtungen oder Reflexionen darüber komme. Im zweiten Fall gehöre es nicht mehr in die geisteswissenschaftliche Sphäre, sondern sei eine reine Technik, die einen bestimmten Zweck erfüllt und damit Teil der Seinswissenschaften ist. Das Recht bleibe eine rein „außergeistige Nützlichkeit“205, weil, so lässt sich deuten, es nur einen Zweck zur Durchsetzung niederer Interessen bildet. In diesen Formen, das ist für Tillich zentral, verliert das Recht seine Beschaffenheit als Sinnfunktion, weil die am Recht partizipierenden Personen ganz aus der Schaffung der Rechtsprinzipien ausgeschlossen und an das festgelegte Recht angepasst würden. Recht kommt somit nicht als schöpferische Geistesfunktion zum Ausdruck.206 Gegenüber beiden Formen steht nun Tillichs Rechtsverständnis, welches sich unmittelbar aus den Vorüberlegungen zu den normativ-schöpferischen Geisteswissenschaften speist. Recht in Tillichs Konzept muss als direkt vom Ethos abhängig verstanden werden. Diese Abhängigkeit „gibt dem gesamten Rechtssystem einen Gehalt, der aus dem Wissen stammt, das Unbedingte in den Seinsbeziehungen zu verwirklichen.“207 Nur ein Recht, das im Unbedingten fundiert ist, kann in Tillichs Sicht die Extreme des Formalismus oder Alogismus überwinden. So wird deutlich, dass auch das Recht nur dann seinen Sinn – als Sinnfunktion – trägt, sofern es auf die Produktion sinnhafter Seinsbeziehungen oder unkomplizierter: die Gemeinschaft abzielt. Dieser Sachverhalt erscheint nur auf den ersten Blick trivial, da er die Grundlage dafür bereitstellt, jegliche Willkür genauso wie jegliche Indifferenz abzufedern. „Das Recht ist konstitutive Sinnfunktion und ein notwendiges Element jeder sinnvollen Wirklichkeit.“208 Tillichs Schlussfolgerung bezieht sich darauf, dass die formbestimmte Seite des Praktischen nicht vollständig in der gehaltsorientierten Gemeinschaft aufgeht, sondern vielmehr die Durchsetzungskraft des Rechts eine zeitlos geltende, also keine empirische Konstante darstellt, die für das Verhältnis von Person und Gemeinschaft konstitutiv ist.209 Nur durch das Recht wird die Eigenform der Persönlichkeit in den Seinsbeziehungen aufrecht erhalten, während in einer grundsätzlich rechtlosen Gemeinschaft alle Persönlichkeitsformen ineinander fließen würden210.

      

Tillich, System der Wissenschaften, 259. Tillich, System der Wissenschaften, 259. Vgl. Tillich, System der Wissenschaften, 259. Tillich, System der Wissenschaften, 259. Tillich, System der Wissenschaften, 259. Vgl. Tillich, System der Wissenschaften, 259. Tillich, System der Wissenschaften, 259.

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Ohne das Recht verlöre also die einzelne Person ihre Möglichkeit, Person in Gemeinschaft zu sein. Auch hier bleibt zwar Tillichs antilibertäre Grundhaltung zweifelsfrei aufrechterhalten, indem letztlich der Sinn der Rechtsform in der sinnerfüllten Gemeinschaft liegt. Doch zugleich ist die Erhaltung der freien Persönlichkeit weiterhin ein elementarer Bestandteil in Tillichs Theorie menschlicher Sozialität. Die zwei Rechtsanwendungen (Naturrecht und Positivismus) verhindern – zweitens – für Tillich den schöpferischen Charakter, der für eine Sinnfunktion in seiner Konzeption tragend ist.211 Gegen das Naturrechtsdenken wendet Tillich ein, dass hier eine umgreifende, rationale Idee des Rechts einfach gesetzt werde, um sich von da aus dann Rechtsnormen anzunähern.212 So werden geltende Rechtssätze daraufhin betrachtet, ob sie der allgemeinen Norm entsprechen, welche aber wiederum schwer bestimmbar ist. Für Tillich führt die Idee des Naturrechts letztlich dazu, dass es auch Inhalte aus „schöpferischen Rechtssystemen“213 aufnehmen muss, weil diese sich – so ließe sich verstehen – notwendig unabhängig vom Naturrecht und dazu parallel herausbilden. Somit könne die Norm des Naturrechts aber nicht mehr „allgemeingültiges Naturrecht“214 sein. Den Rechtspositivismus muss Tillich schließlich ablehnen, weil sein Prinzip darin besteht, anstelle eines Naturrechts eine „Volksseele“ anzunehmen, die eine „Rechtsintention“215 in sich trägt. Diese Intention bildet für Tillich im Positivismus das Zentrum der Rechtsidee und deshalb sei hier die Rechtslehre nur dazu da, jene Intention zu systematisieren. Dagegen kann für Tillich wahres Recht – im Rahmen der Sinntheorie – sich nur dann entfalten, wenn es schöpferisch aus dem wechselseitigen Handeln der sinntragenden Personen hervorgeht. Um dies zu veranschaulichen, führt Tillich an dieser Stelle den Staat als diejenige Gemeinschaft ein, die das Recht festsetzt. Indem die Personen diese Festsetzung forcieren, handeln sie bereits sinnschöpferisch, weil sie sich ihrer Möglichkeiten als freie Personen bedienen. Die Rechtsnorm wird geboren aus dem Willen der rechtsmächtigen Gemeinschaften [...] Die Rechtsnormenlehre kann aber nur dann rechtsschöpferisch sein, [...] wenn sie auf Rechtspraxis [...] einwirkt. Das aber ist nur möglich, wenn sie aus der konkreten Rechtslage heraus ihre Forderungen stellt.216

     

Vgl. Tillich, System der Wissenschaften, 258–262. Vgl. Tillich, System der Wissenschaften, 260. Tillich, System der Wissenschaften, 260. Tillich, System der Wissenschaften, 260. Tillich, System der Wissenschaften, 260. Tillich, System der Wissenschaften, 261 (im Original teils kursiv).

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Diesen Umstand – den Willen und die Möglichkeit, Recht zu setzen und zu formen – beschreibt Tillich mit dem Terminus „rechtsmächtig“217, der impliziert, dass es bei den beteiligten Personen eine „Macht“ über das Recht gibt. Damit ist darauf angespielt, dass die sinntragenden Personen sich zum Beispiel über einen bloßen Formalismus erheben und gemeinschaftlich sinnvoll Normen ins Recht setzen. Durch diese Näherbestimmung erhält die Rechtssystematik ihren „schöpferischen Charakter“ und geht über die kritisierten Bestimmungen des Rechts sinntheoretisch hinaus. Vor diesem wissenschaftstheoretischen Hintergrund soll für den Zusammenhang der Arbeit an dieser Stelle ein stärkeres Augenmerk auf die rechtsethischen Passagen der Religionsphilosophie gelegt werden. Hier zeigt sich Tillichs eigentümliche Bestimmung von Anerkennung und Recht auf Basis der Sinntheorie. Die Religionsphilosophie ist strukturell ebenso aufgebaut wie die Wissenschaftslehre, konzentriert sich aber thematisch auf die spezifisch religiösen Formen in den theoretischen und praktischen Akten. So stehen sich als „Kategorien der Religion“ theoretisch „Mythos“ und „Offenbarung“ und praktisch „Kult“ und „Kultgemeinde“218 gegenüber. Der grundlegende Bezug zur Anerkennung der Persönlichkeit wird von Tillich indes im Zuge des ersten Teils zum Wesensbegriff der Religion eingeführt, der zudem die Grundlagen der Sinntheorie enthält. Die hier von Tillich ausgearbeitete Sinnkonzeption als fundamentales Element in seiner Theoriebildung wird maßgeblich in der Religionsphilosophie entfaltet und wurde bereits konzentriert aufgezeigt.219 Für den vorliegenden Zusammenhang ist der Umstand zu betonen, dass Tillich die Sinnfunktionen der theoretischen und praktischen Sphäre hier aus speziell religionsphilosophischer Perspektive deutet. Recht und Gemeinschaft werden somit aus dem grundlegenden Religionsbegriff als „Richtung auf das Unbedingte“220 – wie im Kulturvortrag bereits festgehalten – entwickelt. Ausgehend von der basalen Gegenüberstellung von Denken und Sein221 geht Tillich wiederum Wissenschaft, Ästhetik, Recht und Gemeinschaft durch und expliziert ihre religiöse Grundausrichtung sinntheoretisch. Auf der theoretischen Seite erhebt sich der Geist oder Mensch in der Wissenschaft von seiner kulturellen Gebundenheit und richtet sein Erkennen „auf das alle Einzelnen fundie-

 Tillich, System der Wissenschaften, 261.  Vgl. Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 350–364.  Siehe oben: Teil 2: A.3.1. und Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), bes. 318–329 und passim.  Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 320 (im Original kursiv). Vgl. Teil 2: A.2.  Diese Grundausrichtung von Denken und Sein wie zum Beispiel auch die konkrete Einordnung der Religionsphilosophie in die „Geistes- und Normwissenschaften“ (Religionsphilosophie [1923/25], 300, im Original kursiv) zeigt nochmals die enge Verbindung der Religionsphilosophie zur Wissenschaftssystematik von 1923.

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rende und transzendierende unbedingte Sein.“222 Währenddessen besteht die religiöse Ausrichtung der Sinnfunktion Kunst in der emotionalen oder ästhetischen Anschauung, die den „universalen Bedeutungszusammenhang“223 allen Fühlens oder Anschauens im Blick hat. Die wesentliche Bedingung für die Konzeption sieht Tillich in der Untrennbarkeit von theoretischer und praktischer Sinnverwirklichung.224 Das Recht hat sinntheoretisch gewendet zunächst die Aufgabe, eine Ordnung herzustellen, die den sinnhaften Austausch von Person zu Person gewährleisten kann, wobei Tillich bei Personen weiterhin deutlich von geistigen Personen ausgeht. In seiner Konzeption – in Bezug auf den Geistbegriff rückführbar bis in die frühesten Texte – bezieht sich dies stets auf das freiheitliche, über die Naturgebundenheit hinausgehende Wesen. Zugleich nimmt Tillich in der vorliegenden Passage die „unterpersönliche Wirklichkeit“225 mit auf, um zu zeigen, dass das Recht auch die Korrelationen zwischen Personen und anderen Formen des Lebens – sei es der Natur oder Umwelt – in eine Ordnung versetzt. Mit der Einführung des tragenden Freiheitsbegriffs fährt Tillich auf dieser Linie fort und auch hier zeigt sich konstant, dass die Termini Geist, Freiheit und Mensch bei Tillich Wechselbegriffe darstellen: [D]as Verhältnis des Persönlichen zu allem unmittelbar Seienden (und auch die andere Persönlichkeit und auch die eigene psychophysische Organisation sind ein Seiendes) ist aber das der Freiheit.226

Die Kategorie des Seins steht somit für sämtliche Bezugsgrößen des Geistes, wobei die Freiheit das Merkmal des Persönlichen bildet. Und exakt an dieser Stelle kommt die Rolle des Rechts zum Tragen, weil es seine Sinnfunktion darin hat, die Freiheit der Personen zu sichern und zu ermöglichen. „Alle Rechtsformen sind Formen, durch welche die Freiheit der Persönlichkeit ermöglicht wird.“227 Genauer ausgefüllt wird diese Grundsatzbestimmung des Rechts von Tillich im Weiteren durch die Wendung der „unbedingten Anerkennung“ der Person, welche bereits in der konkreten Ethik der Systematischen Theologie von 1913228 zur Kurzformel der anerkennungsethischen Sittlichkeit des Menschen etabliert wurde: In jedem Rechtssatz liegt die Anerkennung des freien Persönlichen als unbedingt geltende Idee.229

       

Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 324. Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 325. Vgl. Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 326. Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 325. Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 325. Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 325. Siehe oben: Teil 1: B.4.4. Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 325.

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Tillichs nähere Umschreibung dieser „unbedingten Idee“ als „Unbedingtheit des Persönlichen“230 bildet die Fundierung jeglichen Rechtsempfindens und der daraus resultierenden Normen und Handlungsweisen. Zwei Momente werden hierzu verbunden, um die Anerkennung der Persönlichkeit als ausdrückliche Voraussetzung geltend zu machen: Zum einen die bereits ausgeführte Unbedingtheit des Gegenübers, der anderen Person, als Grundlage der eigenen Handlung. Zum anderen tritt in diesem Bewusstsein über die anzuerkennende Unbedingtheit die „Sinnforderung“231 zum Vorschein, da für Tillich hierin zum Ausdruck kommt, dass jede soziale Interaktion im Sinne des sinntheoretischen Religionsbegriffs auf die Verwirklichung von Sinn zielen muss. „Die Intention auf das Unbedingt-Persönliche als Grund jedes Rechts und die Darstellung dieser Intention in einem Reich der Gerechtigkeit ist die religiöse Haltung.“232 Mittels der Konkretisierung durch den Terminus der Gerechtigkeit weist Tillich dem Recht nochmals seine Bestimmung als Sinnfunktion zu. Recht dient als Form der Umsetzung sinnhafter Haltung gegenüber dem anderen Persönlichen, welche in der Forderung unbedingter Anerkennung zum Ausdruck kommt. Gegenüber der so benannten und höchsten beziehungsweise „religiösen Haltung“ steht die kulturelle. Diese richte sich nicht wie die religiöse Haltung auf den „alles Recht transzendierenden Sinngrund“233, sondern auf die einzelne Rechtsform. Das erklärt nochmals die bleibende Autonomie der Formen des Rechts, welche durch die letztliche Ausrichtung am unbedingten Gehalt nicht aufgelöst wird. 3.2.3 Gemeinschaft sinnhafter Anerkennung In der Gemeinschaft als gehaltsorientierter Seite der praktischen Akte kommt auch die wechselseitige Anerkennung als basaler Ausdruck praktischer Sinnverwirklichung zu ihrer Ausgestaltung. Zunächst stellt Tillich in der Wissenschaftssystematik die Gemeinschaft als sinnerfüllende Seite des Praktischen anschaulich einem soziologischen Gemeinschaftsbegriff gegenüber, um seinen normativ-geistigen Gemeinschaftsbegriff davon abzugrenzen. So sei exemplarisch die Familie als soziologische Form etwas deutlich anderes als die Familie als Gemeinschaft im Sinne der Ausrichtung auf den Sinngehalt.234 Gegenüber dem Recht, so Tillich, ist Gemeinschaft

 Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 325.  Siehe zu dieser Formulierung auch unten Teil 2: B.2.3 im Kontext der Beziehung von Macht und Anerkennung.  Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 326 (im Original teils kursiv).  Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 326.  Vgl. Tillich, System der Wissenschaften, 264.

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zudem „eine [...] gehaltsbestimmte Sinnform; dadurch ist sie unterschieden vom Recht.“235 Eine Lehre der Gemeinschaft, die dem generellen Dreischritt aus Philosophie, Geistesgeschichte und Normsetzung folgt, muss für Tillich daher auf der normativen Ebene betrachten, wie in den Formen der Gemeinschaft Sinn realisiert wird. Interpretativ ausdrücken lässt sich das wie folgt: War das Recht als rationaler Ausdruck der praktischen Seite (wie die Wissenschaft in der Theorie) bestimmt worden, so stellt die Gemeinschaft eine überrationale Bedeutungsgestalt dar, in der die Beteiligten Sinn realisieren, sofern sie sich im Bewusstsein des Unbedingten als Gemeinschaft verstehen.236 Die „Formen“ der Gemeinschaft haben ihren Sinn darin, „Ausdruckskraft“ für die „Gemeinschaftsbeziehungen“237 zu sein. Als Pendant zur rationalen Gerechtigkeit auf der formbestimmten Ebene des Rechts kann Tillich an dieser Stelle die Liebe als „gehaltsbestimmte Gemeinschaftsform“ einführen. Tillich zeigt die Differenz zwischen Recht und Gerechtigkeit sowie Gemeinschaft und Liebe deutlich, indem er die Ähnlichkeit zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst auf der theoretischen Ebene anführt: Wie auch die Anschauung oder das Gefühl im Gegenüber zur Wissenschaft nicht rational einholbar sind, ist auch die Liebe als Ausdruck unbedingten Gehalts nicht rational aufzeigbar, wie es für das Recht als Formseite gilt. „Der Logismus kennt die selbständige Gemeinschaftssphäre nicht, weil er das Sein nicht kennt im Unterschied vom Denken und die Liebe nicht kennt im Unterschied von der Gerechtigkeit.“238 So wird Gemeinschaft in Gestalt der Liebe zum sinnhaften Ausdruck von Verhältnissen zwischen freien, geistigen Persönlichkeiten. Durch die Einführung der Liebe weist Tillich der Gemeinschaft und ihrer Ausgestaltung denselben Status zu, wie ihn die Ästhetik im Theoretischen trägt. Denn durch die Sinnrealisierung in der Liebe erhält die Gemeinschaft anerkannter Personen ihren „Bedeutungscharakter“239. Dieser Aspekt wird wiederum in der Religionsphilosophie anerkennungstheoretisch zugespitzt: In der reinen Rechtssphäre ist das Verhältnis der Persönlichkeiten zueinander durch die Gerechtigkeit bestimmt, d. h. durch die Anerkennung der freien Persönlichkeit im Anderen. Dieses Verhältnis ist aber nicht das einzige; neben ihm als lebendiger Gehalt der Persönlichkeitsbeziehungen steht die unmittelbare Gemeinschaft, deren allgemeine, sinnerfüllende Form die Liebe ist. Alle unmittelbaren Formen der Gemeinschaft sind Formen der Liebe.240

     

Tillich, System der Wissenschaften, 263. Vgl. Tillich, System der Wissenschaften, 264. Vgl. Tillich, System der Wissenschaften, 264. Tillich, System der Wissenschaften, 264 f. Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 326. Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 326.

3 Sinn der Gemeinschaft und Anerkennung der Persönlichkeit (1923)

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An diesem Punkt kommt die Beziehung zwischen Liebe und Anerkennung zum Tragen. Dafür stehen die Kennzeichnungen der Anerkennung als „lebendiger Gehalt“ und der Liebe als „unmittelbare Gemeinschaft“. Blickt man hier auf die Ausgestaltung von Anerkennung und Liebe in der Systematischen Theologie von 1913 zurück, zeigt sich eine ähnliche Struktur: Auf die Forderung unbedingter Anerkennung folgen dort die unmittelbar wechselseitigen Handlungen in den Formen der Liebe – von achtsamer Gestik, Mimik und Rede bis hin zu wechselseitiger Kritik und der Achtung der Gemeinschaftsglieder.241 Hier wird der Gehalt gewissermaßen realisiert, während die Anerkennung dafür die Voraussetzung bildet. Das Verhältnis von Liebe und Anerkennung differenziert Tillich, indem er die Anerkennung der anderen Person mit dem gerechten Handeln gleichsetzt. Die Gemeinschaften der „Liebe“ gehen wiederum darüber noch hinaus und zielen darauf, im wechselseitigen Handeln Sinn zu verwirklichen, der auf den letzten oder unbedingten Sinn verweist. Und aus dieser Gemeinschaft folgt wiederum für Tillich die „unbedingte Forderung“, [...] die universelle Liebesgemeinschaft“242 zu verwirklichen. Die „unbedingte Liebe“ stellt zum einen erneut heraus, wie zentral wiederum die Untrennbarkeit von Person und Gemeinschaft bei Tillich bleibt. Damit einher geht die Einsicht, dass „in jedem Akt geistiger Erfüllung, also sinnerfüllender Liebe, die Voraussetzung einer unbedingten Liebe enthalten ist.“243 Die Möglichkeit ihrer praktischen Umsetzung ist im letzten oder unbedingten Sinn fundiert. Zum anderen zeigt die Fokussierung auf die Praxis der gegenseitigen Anerkennung als Weise der Sinnrealisierung nochmals, wie sehr Tillich auf der notwendigen Umsetzung des Sinns insistiert: Der bloß theoretische Weg macht das Unbedingte zu einem Objekt, das von der Persönlichkeit beiseite geschoben werden kann wie jedes andere Objekt. Eben damit aber verliert es seine Kraft der Unbedingtheit. Die kann es nur behalten durch den praktischen Weg, der die Anerkennung des unbedingt Persönlichen zur unbedingt persönlichen Forderung macht.244

Die schlussendliche Pointe besteht in der dialektischen Angewiesenheit von Theorie und Praxis. Das Fehlen der einen führe zur Entleerung der anderen Seite. Denn die Praxis sei ebenso ohne Theorie sinnentleert, weil sie das „Unbedingte in seinem alles zugleich fundierenden Charakter“ verliere und es zu einer „bloßen Forderung ohne Gegenwärtigkeit“245 mache. Das bedeutet für Tillich: die vollstän-

    

Siehe oben: Teil 1: B.4.4. Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 326. Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 326. Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 326. Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 326.

256

A Kulturtheologie und Wissenschaftssystematik (1919–1923)

dige Konzentration auf das Handeln verliert das Seiende aus dem Blick, welches durch Theorie und Anschauung erfasst wird. In diesem Fall werde das Unbedingte, das in den Formen des Handelns repräsentiert werden soll, zu einem reinen „Produkt“ der Praxis. Ohne seine Grundlage im Denken und Fühlen, so ließe sich interpretieren, wird die Praxis zum Zweck in sich selbst und geht ihrer kritischen Reflexion in der Theorie verlustig. Im Rückblick auf die Relation von Metaphysik als Ausrichtung des Denkens auf das Unbedingte und Ethos als die handelnde Haltung lässt sich schließen, dass Tillich sich eine Basis schafft, welche ihn in den nachfolgenden Entwürfen vor dem Risiko eines kollektivistischen Extrems schützt. Mit dem komplexen Theorieweg der wissenschaftstheoretischen Werke von 1923 bis 1925 hat er demnach eine fundamentale Einsicht gewonnen, die für den weiteren ethischen Denkweg äußerst wichtig sein wird, die sich aber zugleich auch im System von 1913 und in der dort entfalteten Ethik bereits abzeichnet.246 Dass sich hierfür auch der Persönlichkeitsbegriff als konstanter Faktor erweist, ist hier schon deutlich geworden und wird für Tillich auch weiterhin in Geltung stehen.

4 Ertrag Die Grundlegung einer wissenschaftstheoretischen wie kulturtheologischen Ausrichtung in der ersten Phase der Weimarer Republik (1919–1923) erweist sich im Verhältnis zur Vorkriegszeit als beständige Fortsetzung. Die überragende Stellung der Kulturtheologie, die Tillich zwischen 1919 und 1923 als Methodik zur Betrachtung von Religion, Kultur und Gesellschaft konzeptualisiert, stellt in weiten Teilen eine Fortsetzung der geistphilosophischen, kulturhermeneutischen und theologisch-ethischen Einsichten der frühen Zeit dar. Unbeschadet einer gänzlich neuen geistesgeschichtlichen, sozialpolitischen und intellektuellen Situation führt der junge Privatdozent sein theologisch-philosophisches Projekt in auffälliger Konstanz fort. Im Rahmen jener Konzeptualisierung hat sich die „theologische“ Ethik für Tillich als Kulturtheologie etabliert. Während sich die Verschmelzung beider Zugänge bereits 1913 abzeichnet, hat Tillich mit dem Kulturaufsatz 1919 zweifellos eine genuin theologische Ethik zugunsten einer Hermeneutik der Polarität von Religion und Kultur aufgegeben. Diese systematische Verschiebung stellt das erste Ergebnis im Ringen um eine moderne Ethik der Kultur – und damit nicht zuletzt eine weitere Ausprägung apologetischer Theologie – dar: Tillich zeigt sich nicht bereit, die Annahme einer religiösen, zumal gehaltgebenden Tiefendimension jeglicher Kul-

 Siehe dazu die Bestimmung von Person und Gemeinschaft in Teil 1. B.4.3.

4 Ertrag

257

turformen aufzugeben. Um diesen Standpunkt zu verteidigen, rechnet er den Formen im Gegenzug ihre unverrückbare Autonomie zu. Doch bleibt dabei ein letztlich nicht auflösbares Spannungsverhältnis bestehen. Die Frage, ob durch die Prämisse einer theonom begründeten Kultur letztlich nicht doch einer religiösen Heteronomie das Wort geredet ist, lässt sich nicht vollständig auflösen.247 Zu den zentralen Kontinuitäten sind darüber hinaus sowohl das theologische Prinzip als auch die Funktion der Religion zu rechnen. Zum einen bleibt die Rechtfertigung in ihrer (ebenso 1913 angelegten) Struktur aus gleichzeitiger Bejahung und Verneinung von Menschen und Welt als das Prinzip theologischen Denkens bestehen. Zum anderen setzt sich die überragende Stellung der Religion als Prinzip der Kultur fort. Dabei bleibt die religiöse Grundstruktur auf die Formen der Kultur angewiesen, um sich ausdrücken zu können. Religionstheoretisch geht hiermit die bleibende Verortung der Religion in allen theoretischen, praktischen und emotiv-ästhetischen Vermögen des menschlichen Geistes einher. Systematisch verschiebt sich zwar der Fokus von einem dreifachen auf ein viergliedriges Modell, indem Tillich die ästhetische Dimension in die theoretische Sphäre einschließt.248 Doch kommt es dadurch nicht zu relevanten Veränderungen im ganzheitlichen Verständnis des Religiösen, welches für Tillich die humane Praxis in Individual- oder Sozialethik oder Recht und Gemeinschaft fundiert. Zusammenge-

 Tillichs durchgängige Forderung zur Erhaltung der Autonomie der Formen wird in der Kritik seines kulturtheologischen Ansatzes des Öfteren übersehen. So hat Folkert Wittekind, Theologie religiöser Rede. Ein systematischer Grundriss (Tübingen: Mohr Siebeck, 2018), 252, Tillichs (und Troeltschs) Konzeption von Religion und Kultur als „rückwärtsgewandte Einheitsprojektion“ bezeichnet und lässt dabei die grundsätzliche Forderung der Autonomie außer Acht. Ausgewogener erscheint hier die kritische Sicht Dietrich Bonhoeffers, der Tillichs Kulturtheologie wie folgt kommentierte: „Tillich unternahm es, die Entwicklung der Welt selbst – gegen ihren Willen – religiös zu deuten, ihr durch die Religion ihre Gestalt zu geben. Das war sehr tapfer, aber die Welt warf ihn vom Sattel und lief allein weiter; auch er wollte die Welt besser verstehen, als sie sich selbst verstand; sie aber fühlte sich völlig mißverstanden und wies ein solches Ansinnen ab. Zwar muß die Welt besser verstanden werden, als sie sich selbst versteht! aber eben nicht ‚religiös‘“, Dietrich Bonhoeffer, „Brief an Eberhard Bethge“ (06.06.1944), in: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Bd. 8, Dietrich Bonhoeffer Werke, hg. v. Eberhard Bethge/Christian Gremmels in Zusammenarbeit mit Ilse Tödt (Sonderausgabe, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2015), 474–483. 480). Für den Hinweis auf Bonhoeffer ist Erdmann Sturm zu danken. Zur Komplexität des Inhalt-Form-Gehalt-Schemas vgl. nochmals Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 250–263 und Fritz, Menschsein als Frage, 49–55.  Wie gesehen, geht Tillich ab etwa 1920 nicht mehr von einem dreifachen, vermögenspsychologischen Schema aus, sondern differenziert zumeist Wissenschaft und Kunst auf der theoretischen Seite und Recht und Gemeinschaft auf der praktischen Seite. Siehe oben: Teil 2: A.2.4 und 3.2.1.

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A Kulturtheologie und Wissenschaftssystematik (1919–1923)

nommen können die benannten Aspekte als Theoriemodule bestimmt werden, ohne die Tillichs spezifisch ethischer Ansatz nicht verständlich wird. Die wesentliche Neuerung für Tillichs Werk insgesamt und somit auch für das ethische Denken von Liebe und Anerkennung tritt mit der Theorie des Sinns ab 1917/18 auf den Plan. In ausgereift systematischer Gestalt wird der Sinnbegriff in den Werken von 1923/25 zu einem Grundbaustein in Tillichs System, der neben Wissenschaftssystematik und Kulturtheologie auch der Ethik ihre Richtung gibt. Konkret für die Perspektive dieser Untersuchung konnte so die menschliche Praxis – schematisch gefasst in Recht und Gemeinschaft – als sinnverwirklichendes Handeln herausgestellt werden. Handeln, das auf die Realisierung sinnhafter Gemeinschaft abzielt, ermöglicht den beteiligten Personen erst eigentlich freie Personen zu sein. Sinnhaft kann die entsprechende Praxis indes nur dann sein, wenn sie sich als Handeln in Richtung auf das Unbedingte versteht und versucht, die Praxis je danach auszurichten. Die Ethik bleibt demnach theonom begründet. Das ist das kulturtheologische Erbe in der Sinntheorie. Mit aller Vorsicht lässt sich hinsichtlich der Praxis sozialer Anerkennung von einer sinnfundierten „Konturierung“ sprechen. Maßgeblich ist allerdings für diesen zweiten großen Schritt – nach 1913 – in Tillichs Fassung der Anerkennung, dass sie in einem neuen Referenzrahmen steht und auf neue Herausforderungen reagiert. Dabei kommt es indessen nicht zu einer Bedeutungsverschiebung. Vielmehr zeigt schon die durchgängige Orientierung an der Rechtfertigungslehre, dass Tillich an der Prämisse festhält: Aus der Zuwendung Gottes zum Menschen folgt die unbedingte Forderung einer Anerkennung des Gegenübers als gerechtfertigte Person. Dies wurde fortgesetzt beispielsweise durch den Konnex von Anerkennung und Liebe im System der Wissenschaften.249 Zugleich zeigt sich aber in den Schriften von 1923 gegenüber 1919 ein vermindertes Gewicht jener eingängigen rechtfertigungstheologischen Begründung. Dieser Sachverhalt veranschaulicht, wie Tillich seinen Ansatz einem geänderten Kontext – exemplarisch in der wissenschaftstheoretischen Selbstverortung – anpassen kann. Die Anerkennung – das ist für diese Arbeit zentral – lässt sich so als Konstante verfolgen, die von Tillich in unterschiedlichen Nuancen verwendet wird, dabei gleichwohl ihre grundsätzliche Bedeutung nicht verändert. Das wird sich auch in den weiteren Kontexten zeigen. Insbesondere bei der sozialethischen „Konturierung“ – also dem dritten Schritt nach der Etablierung 1913 und der sinntheoretischen Entfaltung 1919–1923 – wird erkennbar werden, dass sich die Kategorie der Anerkennung für eine praktische und bisweilen sozialpolitische Anwendung von Tillichs Sicht als tragfähig erweist.

 Siehe oben: Teil 2: A.3.2.2. und 3.

B Sozialethische Anschlussperspektiven (1919–1933) Wie in der Einleitung erwähnt, sollen die sozialethischen Anschlussperspektiven unterschiedliche Theoriedimensionen von Anerkennung zur Sprache bringen. Hierzu widmet sich der erste Abschnitt (1.) den Anfängen und ersten Entwürfen in Tillichs Religiösem Sozialismus (1919–1926). Chronologisch erfolgt dabei ein kleiner Schritt zurück in Tillichs Werk. Auf diese Weise kann die sozialethische Ausgestaltung auf Basis der kultur- und sinntheoretischen Grundlagen skizziert werden. Der Religiöse Sozialismus soll somit als praktisches Kondensat der grundlegenden Überlegungen aus Wissenschafts-, Sinn- und Kultursystematik aufgefasst werden. Der zweite Abschnitt (2.) fokussiert die ausgereifte Sozialismuskonzeption, wie sie den Texten zwischen 1926 und 1933 zu entnehmen ist. In dieser Zeit zeichnen sich mit anthropologischen wie existentialontologischen Fragen wiederum veränderte Kontexte und Interessen bei Tillich ab, die auch in den ausgewählten Texten und ihrem Bezug zur Anerkennung zum Ausdruck kommen.

1 Der frühe Religiöse Sozialismus (1919–1926) 1.1 Kontextualisierung Als geistesgeschichtliche Bewegung reicht der Religiöse Sozialismus weit hinter die Weimarer Republik zurück. Sein Beginn wird zumeist auf das Denken der Schweizer Leonhard Ragaz und Hermann Kutter oder auch Christoph Blumhardt zurückdatiert1, während die französischen Frühsozialisten als erste Vorläufer angesehen werden.2 In diese Ahnenreihe der „romantisch-frühsozialistischen“3 Strömungen

 Vgl. Dunkel, „Religiöser Sozialismus“, 504, die anmerkt, dass die Wendung 1906 von Kutter und Ragaz geprägt worden sei.  Vgl. Wolfgang Deresch, „Historischer Abriss“, in: Der Glaube der religiösen Sozialisten. Ausgewählte Texte, hg. und eingeleitet von Wolfgang Deresch (Hamburg: Furche-Verlag, 1972), 18–32, 18–20. Dazu zählten vor allem Henri de Saint-Simon (1760–1825), Félicité de Lamennais (1782– 1854), Saint-Amand Bazard (1791–1832) und Charles Fourier (1722–1837).  Erdmann Sturm, „Historische Einleitung. Paul Tillichs frühe Berliner Vorlesungen (1919–1920)“, in: Berliner Vorlesungen 1 (1919–1920), Bd. XII, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Erdmann Sturm, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2001 XII (2001), 1–26, 4. https://doi.org/10.1515/9783111025490-005

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B Sozialethische Anschlussperspektiven (1919–1933)

stellt sich auch Tillich in der Christentum-Vorlesung (1919)4. In der Weimarer Zeit blieb die weitverzweigte Bewegung5 des Religiösen Sozialismus in Deutschland verhältnismäßig klein und ohne großen politischen Einfluss.6 Tillich selbst stand – wie zuvor erwähnt – 1919 insbesondere zeitgenössischen Formen des föderativen Anarchismus nahe, wie er von Gustav Landauer in dessen Aufruf zum Sozialismus vertreten wurde.7 Für sein konkretes – intellektuelles – Engagement in religiös-sozialistischen Kreisen steht Tillichs rege Beteiligung an der Arbeit des Kairos-Kreises oder Berliner Kreises.8 Diese Arbeitsgemeinschaft, welche sich ab 1919 unter der Leitung Günther Dehns und Carl Mennickes formierte, aber „sehr bald von Tillich dominiert wurde“9, zeichnete sich durch eine disziplinäre Pluralität aus. So gehörten dem Intellektuellenzirkel unter anderem auch die Wirtschaftswissenschaftler Adolf Löwe, Eduard Heimann und Alexander Rüstow oder der Neutestamentler Karl Ludwig Schmidt an. Der KairosKreis wurde rasch zu einem kleinen Netzwerk der Gleichgesinnten und mit den

 Vgl. Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart, 81: „Meine Damen und Herren! Ich bekenne mich im Allgemeinen zu dieser romantisch-sozialistischen Geschichtsphilosophie.“ Hiermit spielt er auf die französischen Frühsozialisten Saint-Simon und Fourier an, die er zuvor thematisiert hatte (80).  Zu den einzelnen Kreisen, Zusammenschlüssen und Zirkeln siehe Renate Breipohl, Religiöser Sozialismus und bürgerliches Geschichtsbewußtsein zur Zeit der Weimarer Republik (Zürich: Theologischer Verlag, 1970), 13–64.  Vgl. zur Geschichte des Religiösen Sozialismus im Rahmen der ideengeschichtlichen Entwicklung des Sozialismus in Deutschland insgesamt: Jähnichen/Friedrich, „Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Protestantismus“. Siehe zur Vorgeschichte nach wie vor grundlegend: Brakelmann, Die Soziale Frage. Zur historischen Einordnung des religiösen Sozialismus neben „Lutherrenaissance“ und „Theologie der Krise“ während der Weimarer Zeit vgl. Nowak: Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932, Weimar: Böhlau, 21988), 213–216; ders., „Religiöser Sozialismus in der Weimarer Republik. Historische Reminiszenzen nach dem Ende der bipolaren zu einer umstrittenen Bewegung der zwanziger Jahre“, in: Carsten Mehlhausen (Hg.), ... und über Barmen hinaus. Studien zur kirchlichen Zeitgeschichte, Festschrift für Carsten Nicolaisen zum 4. April 1994 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1995), 102–111. Zur theologiegeschichtlichen Einordnung der politischen Richtungen im Protestantismus siehe zudem Scheliha, Protestantische Ethik, 160–166.  Vgl. Sturm: „Nicht den Geist wollen wir anbeten, sondern den Geist ...“ und Sturm/Schüßler, Tillich, 97.  Vgl. Christophersen, Kairos, 12–18; Pauck/Pack, Tillich, 81 f.; Sturm/Schüßler, Tillich, 11 f.195–213.  Christophersen, Kairos, 14.

1 Der frühe Religiöse Sozialismus (1919–1926)

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Blättern für den religiösen Sozialismus10 schaffte man sich ein multiplizierendes Medium für die eigenen „Sprechprobe[n] für Propheten“11. Seinen systematischen Zugang zum Religiösen Sozialismus baut Tillich dabei von Beginn an auf Kultur- und Sinntheorie sowie den wissenschaftssystematischen Grundlegungen im Allgemeinen auf.12 Zugleich ist bei seiner Option für die politische Richtung des Sozialismus aber genauso die Diagnose der eigenen Zeit maßgeblich. Im September 1919 erklärt Tillich in seinem Beitrag zum Wingolfrundbrief die unmittelbaren Gründe für seine politische Gesinnung und führt seine Hinwendung zum Sozialismus wiederum auf den von ihm als zivilisatorischen Bruch gedeuteten Krieg zurück: Erst habe ich ihn [den Krieg] als Verhängnis erlebt, nämlich das Verhängnis der europäischen Kultur und ein „Ende“ schlechthin [...] und dann habe ich ihn sehen lernen [sic!] als notwendige Konsequenz einer bestimmten Gesellschaftsordnung und bestimmten, damit verknüpften Ideen.13

Tillich liest die sozialen Missstände am eigenen Umfeld im Krieg ab und hat mit der Gesellschaftsordnung zweifelsfrei den Kapitalismus im Visier.14 So setzt er fort, dass ihm die „erschütternde Größe des sozialen Gegensatzes zwischen [...] Offiziersklasse und der Mannschaftsklasse [...], Arbeitern und Unternehmern, und zerstörten Existenzen an der Front“15 deutlich geworden sei. Das galt für ihn aber zugleich für das Berlin, in das er kurz zuvor zurückgekehrt war. Hier sah Tillich die „ungeheure Größe der Not und die Last, die dem Volk auferlegt war von solchen, die nicht mitzutragen brauchten.“16 Aus den Erfahrungen an der Front sei, so Tillich, eine „zornige Willensbewegung“ erwachsen, die ihn dazu

 Die Blätter für den religiösen Sozialismus erschienen zwischen 1920 und 1927 und wurden von Carl Mennicke im Quäker-Verlag Leipzig herausgegeben. Zu den Hintergründen und den Umständen der Formierung vgl. Christophersen, Kairos, 18–27.  Christophersen, Kairos, 18.  Siehe exemplarisch oben: Teil 2: A.1 und 2.4.  Tillich, „Rundbrief (September 1919)“, in: Ein Lebensbild in Dokumenten. Briefe Tagebücher, Berichte, Bd. V, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich hg. von Renate Albrecht und Margot Hahl (Stuttgart/Frankfurt a.M.: Evangelisches Verlagswerk, 1980), 142–145, 142 f.  Der Kapitalismus dient Tillich besonders in der ersten Phase der Weimarer Republik als wichtigste Negativfolie: Siehe exemplarisch Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 105–108. Vgl. dazu Erdmann Sturm, „Die Kapitalismuskritik Paul Tillichs und des Kairos-Kreises“, in: Matthias Casper/ Karl Gabriel/ Hans-Richard Reuter (Hg.), Kapitalismuskritik im Christentum. Positionen und Diskurse in der Weimarer Republik und der frühen Bundesrepublik (Frankfurt a.M./New York: Campus, 2016), 13–36 sowie unten: Teil 2: B.1.2.  Tillich, „Rundbrief (September 1919)“, 143.  Tillich, „Rundbrief (September 1919)“, 143.

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B Sozialethische Anschlussperspektiven (1919–1933)

bringe, der „Gesinnung nach Sozialist schon vor der Revolution zu sein“17. Daraus leitet Tillich dann unmittelbar seine Präferenz für die Sozialdemokratie ab und weist darauf hin, dass er bei der kommenden Wahl die USPD18 wählen werde, da sich die Kommunisten zu sehr in die Nähe eines „bolschewistischen“ Kommunismus bewegten. Diese Aussage weist demnach darauf hin, dass ihm die SPD im Prinzip schon zu weit in die politische Mitte gerückt war. Tillich betont, dass er gegenüber den Parteien weiterhin höchst kritisch sei und bei allen heftige Einwände benennen könne.19 Erst 1929 wird er aufgrund der erstarkenden NSDAP für einige Jahre Mitglied der SPD werden20, weil er in den sozialistischen Parteien die vielversprechendste „Umgestaltungsmöglichkeit“21 zu einer Gesellschaft sieht, die auf Gemeinschaft und Liebe errichtet sein soll. Konkretes Ziel dieser sozialen Umwandlung ist die Überwindung der kapitalistischen Ideologie.22 Dass die Motivation zu einem sozialethisch gewendeten Konzept des Religiösen Sozialismus unmittelbar aus der geistigen Situation geboren ist, wird unverkennbar. Was ich will, ist eine neue aus dem Geist der christlichen Liebe und dem Sozialismus geborene Gesellschaftsordnung, in der Kapitalismus und Nationalismus grundsätzlich überwunden sind.23

Damit ist ein erster Fingerzeig auf Tillichs konsequente Orientierung am christlichen Liebesgebot gegeben, welches auch der Ethik des Religiösen Sozialismus ihre Basis gibt. Des Weiteren erscheint es nicht plausibel, dass Tillich nach dem Ersten Weltkrieg als religiöser Sozialist gleichsam wie aus dem Nichts auftaucht,

 Tillich, „Rundbrief (September 1919)“, 143.  Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands existierte zwischen 1916–1931 als Abspaltung der SPD.  Vgl. auch die autobiographischen Skizzen „Auf der Grenze“, 53 f: „mein Bekenntnis [...] sagt nichts über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei. Wenn ich aber sagen würde, ich hätte trotz der Zugehörigkeit zur deutschen Sozialdemokratie zwischen den Parteien gestanden, so wäre das in einem anderen Sinne gemeint als das zwischen in den übrigen Teilen dieser Schrift. Es würde bedeuten, daß ich innerlich keiner Partei zugehört habe und zugehöre, weil mir das Wichtigste im Politischen gerade das zu sein scheint, was in den Parteien gar nicht oder nur verzerrt zum Ausdruck kommt. Meine Sehnsucht war und ist ein Bund, der an keine Partei gebunden ist, obgleich er der einen näher steht, als der anderen, und der ein Vortrupp ist für eine gerechte Gesellschaftsordnung aus dem Geiste der Prophetie und gemäß der Forderung des Kairos.“  Später erklärt Tillich, „Auf der Grenze“, 18, hierzu, es habe ihn große Überwindung gekostet, „einer so verbürgerlichten Partei wie der deutschen Sozialdemokratie beizutreten.“ Vgl. dazu Reimer, Emanuel Hirsch und Paul Tillich, 43, der auf die Autobiographie verweist.  Tillich, „Rundbrief (September 1919)“, 144.  Siehe dazu unten Teil 2: B.2.3.  Tillich, „Rundbrief (September 1919)“, 144.

1 Der frühe Religiöse Sozialismus (1919–1926)

263

obwohl dieses Diktum häufig wiederholt wird.24 Dagegen sprechen bereits die hier angedeuteten Umrisse seiner Politisierung durch den Krieg. Hinzu kommt, dass die Wendung zu sozialistischen Ideen zu Beginn und während der 1920er Jahre nichts Außergewöhnliches war. Derart unterschiedliche theologische Charaktere wie Paul Althaus, Friedrich Niebergall, Karl Barth oder Eduard Thurneysen wandten sich seinerzeit dem Religiösen Sozialismus in ganz verschiedener Weise zu – um nur wenige Beispiele zu nennen.25 Zu den zentralen Ereignissen, in denen der Religiöse Sozialismus im Kontext der religiös-sozialen Bewegung aufgearbeitet wurde, gehörte die Tambacher Tagung im September 1919. Diese Veranstaltung junger „revolutionär gestimmter Theologen“, welche die „Vorkriegstheologie attackierten“, ist „insbesondere aufgrund Karl Barths Vortrag ‚Der Christ in der Gesellschaft‘ – fast zu einem Mythos geworden.“26 Noch schwerer hingegen wiegt der Rückblick in die Studienzeit und insbesondere in den Entwurf von 1913: Hier findet sich Tillichs stetige Betonung der Gemeinschaft, die sich als Gemeinschaft der Liebe und der Forderung nach ihrer praktischen Umsetzung zur Geltung bringt. Gleiches gilt für den Vergleich mit den Schriften von 1923 und ihrer Stoßrichtung sinnrealisierender Anerkennung. Die werkgenetischen Hintergründe von Tillichs negativer Sicht auf die Vereinzelung in der Gegenwart legen die Ursprünge seiner sozialistischen Ethik in der Vorkriegszeit nahe. Infolgedessen wird es für die Interpretationshinsicht dieses Kapitels maßgebend, im Rekurs auf die Frühzeit und den entwickelten Gemeinschaftsgedanken die Kontinuitäten in Tillichs Sozialethik der 1920er Jahre aufzuzeigen. Diesbezüglich wird ebenso darauf zu achten sein, wie Tillich die zentrale Spannung von Gemeinschaft und Persönlichkeit weiterführt. Dieser Aspekt wurde für die bisher behandelten Texte deutlich hervorgehoben.27 Er ist für die Ethikauffassung im Religiösen Sozialismus von besonderer Bedeutung, weil hierdurch ein Kollektivismus in Tillichs Ansatz vermieden wird. Im Zuge dieses Abschnitts muss sich also beantworten lassen, inwiefern jene Kontinuität nachweisbar erscheint. So-

 Vgl. exemplarisch Kroeger, „Tillich als religiöser Sozialist“, 95.  Vgl. Karl Barth, „Der Christ in der Gesellschaft“, in: Jürgen Moltmann, (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie, Teil 1: Karl Barth, Heinriche Barth, Emil Brunner (München: Chr. Kaiser, 1962), 3–37; Paul Althaus, Religiöser Sozialismus. Grundfragen der christlichen Sozialethik (Gütersloh: C. Bertelsmann, 1921); Friedrich Niebergall, Evangelischer Sozialismus (Tübingen: Mohr Siebeck, 1920); Eduard Thurneysen, „Sozialismus und Christentum“, in: Jürgen Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie, Teil 2: Rudolf Bultmann, Friedrich Gogarten, Eduard Thurneysen (München: Kaiser, 1963), 221–246.  Christophersen, Kairos, 30. Auch Tillich war unter den Eingeladenen, reiste aber nicht nach Tambach (so Christophersen, Kairos, 30).  Siehe die Behandlung der „sittlichen Persönlichkeit“ bereits in Teil 1: A.3 und sodann Teil 1: B.4.3; Teil 2: A.3.2.2 und A.4.

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B Sozialethische Anschlussperspektiven (1919–1933)

dann gilt es, die konkrete Ausgestaltung der Sozialethik aus Liebe und Anerkennung und ihre mögliche Weiterentwicklung aufzuzeigen. Die Ethik des Religiösen Sozialismus in der Konzeption zwischen 1919–1924 versteht Tillich von Beginn an als sozialethisches Programm. Darin gießt er die Theoriegrundlage der Kultur- und Sinn-Konzeption in eine ethische Form. Die bis hierher aufgezeigten kulturtheologischen Prämissen sollen nicht eigens wiederholt werden. Es genügt der nochmalige Hinweis auf den engen Konnex zwischen der letztlichen Einheit von Religion und Kultur gemäß den Relationen von Autonomie und Theonomie respektive Form und Gehalt und der Sinntheorie. Das praktische Resultat aus jenen Einsichten besteht in der Verbindung von Christentum und Sozialismus. Hierin liegt die religiös-ethische Motivation in Tillichs Beiträgen der kommenden Jahre. Nimmt man die zumeist knappen und dichten Texte der Anfangsjahre (1919–1924) zusammen, ergeben sich vor dem Hintergrund des skizzierten Ethikverständnisses zwei grundlegende Bereiche für eine Ethik wechselseitigen Handelns: Die Konzeption der Sinnforderung und der Zusammenhang von Liebe und Anerkennung. Beide zielen auf ihre Konkretion in der Gestaltung sozialer Praxis. Zunächst wird eine komprimierte Einführung in die geschichtstheologische Rahmung des Religiösen Sozialismus gegeben (1.2). Ohne die prinzipiellen Überlegungen zum Sinnbegriff (1.3) lässt sich die Ethik des Religiösen Sozialismus nicht verständlich machen. Bewusst werden so Tillichs sinntheoretische Grundannahmen der Sozialismuskonzeption den Erörterungen zu Liebe und Anerkennung vorangestellt. Die Liebe in ihrer Prägung durch die „Liebesethik Jesu“ wird dann (1.4) im Einklang mit der bisherigen Analyse als theologisch-ethischer Grundbegriff aufgezeigt. Zur Darstellung wird also der Schritt zurück in das Jahr 1919 an dieser Stelle nötig. Auf diese Weise lassen sich die Sinntheorie und die Liebesethik systematisch und in ihren Bezügen interpretieren.

1.2 Die prophetische Haltung und die geschichtstheologischen Grundbegriffe des Religiösen Sozialismus Die Haltung des Religiösen Sozialismus und die geschichtstheologische Rahmung werden knapp und einführend skizziert, da sie lediglich den Hintergrund andeuten, vor dem die Ethik entfaltet wird. Die beiden Geisteshaltungen, in denen sich die Geschichte wesentlich vollzieht, bezeichnet Tillich als „sakramental-geschichtsunbewußte“ und als „rational-geschichtsbewußte“28 Haltung.

 Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 91.

1 Der frühe Religiöse Sozialismus (1919–1926)

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Beide erinnern deutlich an die Konzeption von 1913.29 Die erste steht für eine enge Gebundenheit an das „Heilige“ und die „Gegenwart des Göttlichen“30 in Mythos und Kult. Der Blick in dieser Haltung sei ganz auf den „Gehalt“, also hier das religiöse Erleben, gerichtet, während die Formen (so zum Beispiel im Kult) für sich nicht hinterfragt würden. Die zweite bezeichnet Tillich ausdrücklich als „Tragik der Reflexion“31; er hat dabei wiederum die überwiegende Konzentration auf die autonome Vernunft im Visier.32 Hier steht stärker die „Form“ im Vordergrund. Die genaue Differenz liegt darin, dass in der sakramentalen Haltung das „Richtige“ identisch sein müsse mit dem „Heiligen“, während in der rationalen Kritik das Heilige nicht notwendigerweise mit dem Richtigen oder dem „Recht“33 übereinstimmen muss. Geistesgeschichtlich ließe sich hier an aufgeklärte Rechtsphilosophie denken, die – exemplarisch in ihrer Ausführung bei Kant – zwischen Religion, Moral und Recht unterscheidet. Somit kann rationalkritisch nicht mehr das Richtige aus dem Heiligen, aus religiös-kultischen Formen abgeleitet werden. Der Fokus wendet sich so mehr und mehr der Autonomie der Formen zu: „Der Geist richtet sich auf die Formen“ und die „Reflexion [...] entleert alles Gegenwärtige zugunsten eines nie verwirklichten Zukünftigen.“34 So führt Tillich seine kulturgeschichtliche Herleitung der Autonomie fort, und die Reflexion fungiert weiterhin als Gefahr, über welche die theonome Fundierung verloren zu gehen droht. Konkret fasst Tillich hier die Reflexion als Unfruchtbarkeit, die eben auch das auf die Zukunft gerichtete Handeln hemmt. Das Beispiel der Jugendbewegung, die sich mittels Reflexion in ein „subjektive[s] Gefühl“35 flüchte, macht dies nochmals anschaulich. Mit der Hinwendung zu romantischen oder subjektivistischen Idealen – so lässt sich deuten – vollzieht sich für Tillich die „Loslösung von dem unmittelbar Heiligen und seiner unbedingt sinnerfüllenden Kraft“36.

 Das zeigt sich besonders an dem Zusammenhang von Natur und Geist sowie der Intuition und Reflexion. Die unmittelbare Intuition steht der mittelbaren Reflexion gegenüber. In Letzterer entfernt sich der Mensch als Geist mittels seiner Vernunft von der engen Gebundenheit an das Absolute. In der Unterscheidung von sakramentaler und rationaler Geschichtsauffassung besteht auch die Differenz in der engen Gebundenheit an den Kult und das „Heilige“ sowie der Reflexion, die die Autonomie stetig weiter steigert.  Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 91.  Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 92.  Vgl. Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 92 f.  Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 92.  Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 92.  Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 92.  Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 93.

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B Sozialethische Anschlussperspektiven (1919–1933)

Der Religiöse Sozialismus reagiert auf die Geistesentwicklung mit einer prophetischen Haltung, welche die sakramentale und die rationale Haltung in sich vereint. Auf dem Boden eines gegebenen Heiligen erhebt sich die Forderung des gesollten Heiligen, Prophetie erfaßt das Kommende, Gesollte aus dem Lebenszusammenhang mit dem Gegenwärtigen, [...]. Sie hat das Heilige, aber sie hat es durch das Recht und die Form hindurch; sie ist losgelöst von der sakramentalen Indifferenz, aber sie verfällt nicht der rationalen Entleerung. [...] Sie ist die religiöse Einheit von Ethos und Geschichtsmetaphysik37.

Der Religiöse Sozialismus müsse dementsprechend Recht und Form radikal bejahen, um nicht hinter die rationale Auffassung zurückzutreten. Damit führt Tillich kulturtheologisch seine stetige Verteidigung der Autonomie der Formen fort, die in ihrer konkreten Ausgestaltung nicht heteronom bestimmt werden dürften. Zugleich müsse der Religiöse Sozialismus aber gerade in der Bejahung der Formen wie Recht und Wissenschaft ständig sichtbar machen, dass in sämtlichen Kulturausdrucksweisen das Unbedingte als „Sinngehalt“38 durchscheint. Nur so könne aus der Einforderung wirkliche Gestaltung erwachsen.39 Vom Religiösen Sozialismus kann für Tillich nur dann eine reale Wirkung ausgehen, wenn verstanden wird, dass sich das Rationale mit dem eigentlichen, tieferen Wesen verbinden lässt. Auch wenn die Wissenschaft scheinbar auf der rein rationalen Ebene angibt, den Sozialismus widerlegt zu haben, so Tillich, wird dabei nicht das eigentliche Wesen der prophetischen Haltung berührt. Dieses Wesen bildet die Einheit von Ethik und Geschichtsmetaphysik. Das bedeutet, dass weder die Haltung (Ethos) als Motivation für das Handeln – wie der Kampf gegen eine bestimmte Ökonomie – noch das Verständnis der Geschichte, die auf ein sinnhaftes Ziel – die Realisierung des unbedingten Sinns – gerichtet ist, von der rationalen Kritik getroffen wird. Indem die prophetische Haltung die Ethik und Metaphysik der Geschichte vereint, geht sie über die einseitige rationale Sicht hinaus und legt den eigentlichen Impetus und den Sinngehalt des Handelns in der Geschichte frei: die Ausrichtung auf das Unbedingte als letzten Sinn und als Ermöglichung der theoretischen und praktischen Formen. Auf dieser Basis lässt sich die geschichtstheologische Rahmung an den drei Begriffen festmachen, die weithin als Grundkategorien von Tillichs geschichtsphilosophischem Programm des Religiösen Sozialismus gelten40: „Theonomie“, „Kai Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 93.  Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 93.  Vgl. Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 93.  Vgl. dazu grundlegend: Sturm, „Sozialismus“; Christophersen, Kairos, 10 f.; zur geschichtsphilosophischen Ausrichtung von Tillichs Sozialismus mit starkem Fokus auf die Sinntheorie vgl. Christian Danz, „Die Krise der Subjektivität und deren geschichtsphilosophische Überwindung. Überlegungen zu Paul Tillichs frühem religiösen Sozialismus“, in: Ingolf U. Dalferth/Phillip

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ros“ und das „Dämonische“. Diese Kategorien hat Tillich überdies mehrfach selbst und rückblickend als Zentralbegriffe seines geschichtstheologischen Denkens benannt.41 Bildet die Theonomie bereits im Kulturvortrag eine zentrale Kategorie, so wird der Kairos 192242 erstmals systematisiert und das Dämonische als ethisches Theorem 1923 in den Grundlinien des religiösen Sozialismus eingeführt.43 In der bereits vertrauten Wendung Theonomie klingt zunächst die kulturtheologische wie sinnbezogene Grundlage des Religiösen Sozialismus an. „Theonomie steht nicht [...] im Gegensatz zur Autonomie“, sondern ist vielmehr die „Antwort auf die Frage der Autonomie nach der religiösen Substanz und dem letzten Sinn des Lebens und der Kultur.“44 Tillichs Diagnose besteht hier darin, dass es geschichtlich im Zuge der immer weiter voranschreitenden Autonomie zu einer Geisteshaltung komme, die „immer leerer, immer formaler, immer mehr aufs Tatsächliche gerichtet wird“45. Parallel zur Kritik an der starken Konzentration auf die eigene autonome Reflexion in der Systematischen Theologie von 1913 kommt Tillich zu dem Schluss: „Am Ende dieses Prozesses sehnt sich die Autonomie in ihrer Ohnmacht zu der verlorenen Theonomie zurück oder blickt auf eine zukünftige neue Theonomie [...] bis der Kairos erscheint.“46 Es kann hier also wiederum konstatiert werden, dass Tillich seinen theologischen Ansatz im Ganzen weiter fortführt und entlang der neuen Umstände modifiziert: Eine letzte Einheit von Kultur und Religion genauso wie die Annahme, dass das einseitige Kaprizieren auf die Autonomie und die rationale Vernunfttätigkeit zu „Skeptizismus“, „Zynismus“ und „Sinnverlust“47 führen, bleibt ein Eckpfeiler von Tillichs Zugang. Diesen Weg hat die Geistesgeschichte für Tillich durchlaufen. Die Theonomie hingegen bildet im Sinne des Religiösen Sozialismus einen „Zustand, in dem die geisStoellger (Hg.), Krisen der Subjektivität. Problemfelder eines strittigen Paradigmas (Tübingen: Mohr Siebeck, 2005), 157–174.  Vgl. exemplarisch: Tillich, „Auf der Grenze“, 26–30; Vorlesungen über die Geschichte des christlichen Denkens, Teil 2: Aspekte des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhunderts (1963), Bd. II, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. u. übers. von Ingeborg C. Henel (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk 1963), 195–119; „Die protestantische Ära“, in: Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung. Schriften zur Theologie I, Bd. VII, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1962), 11–28; ferner „Kairos – Theonomie – das Dämonische. Ein Brief zu Eduard Heimanns 70. Geburtstag“, in: Begegnungen. Paul Tillich über sich selbst und andere, Bd. XII, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1971, 310–415.  Tillich, „Kairos I“.  Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 96 ff. Siehe dazu unten: Teil 2: B.1.3.  Tillich, „Kairos I“, 23.  Tillich, „Kairos I“, 23.  Tillich, „Kairos I“, 23 f.  Tillich, „Kairos I“, 23.

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tigen und sozialen Formen erfüllt sind mit dem Gehalt des Unbedingten als dem [...] Sinn [...] aller Formen.“48 Auch in der Bewegung von der scheinbar vollkommenen Autonomie zur Theonomie zurück zeigt sich also die Fortführung der Kulturtheologie. Denn die Autonomie wird von Tillich weiterhin in keiner Weise abgelehnt, sondern die Pointe besteht – wie bereits 1913 – darin, dass eigentliche Freiheit erst durch ihre Begründung im Unbedingten, also theonom, vollendet wird. Autonomie ist „gehorsame Anerkennung der Normen von Wahrheit und Gerechtigkeit, Ordnung und Schönheit, Persönlichkeit und Gemeinschaft [...], den Prinzipien der individuellen und gesellschaftlichen Kultur.“49 Sofern Tillich weiter ausführt, dass die Autonomie der konkreten Formen zu wahren sei, diese gerade dadurch aber einen letzten Sinn repräsentierten, führt er die Ethik der Kultur einheitlich fort.50 Kurz gefasst steht sodann der erwähnte neutestamentliche Terminus Kairos als „[d]er (schicksalshaft) entscheidende Zeitpunkt“51 bei Tillich für den Augenblick des Durchbruchs des Unbedingten in einem geschichtlichen Moment. Der Begriff hat auch für Tillich zuerst eine spezifisch christologische Bedeutung und kommt grundlegend im geschichtlichen Auftreten Jesu als dem „einzigartigen Kairos“ oder der „Mitte der Geschichte“52 zur Geltung – das Unbedingte begibt sich

 Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 94.  Tillich, „Kairos I“, 22.  Vgl. Tillich, „Kairos I“, 22 f. Einprägsam erscheint das Beispiel der Demut eines Wissenschaftlers, die ihrem Sinn nach religiös ist, sich aber nicht religiös in der Wissenschaft äußert, weil dies wiederum religiöse Heteronomie bedeuten würde.  Gerhard Delling, „Kairos“, ThWNT 3 (1938), 456–463, 461. Zur Bedeutung des Kairos für Tillichs eschatologisches Geschichtsverständnis siehe grundlegend Christophersen, Kairos, passim; vgl. auch Christina Drobe, Was ist der Sinn der Geschichte? Theologische Reflexionen zur Eschatologie von Paul Tillich (Berlin Boston: Walter de Gruyter, 2021), 126–140. Besonders in dem zeitdiagnostisch- und kritischen Ansatz von Tillichs Kairos-Verständnis zeigen sich überdies Parallelen zum Denken von Karl Marx. Vgl. Günter Kehrer, „Theologie/Religionswissenschaft“, in: Michael Quante/David P. Schweikard, (Hg.), Marx-Handbuch. Leben -Werk – Wirkung (Stuttgart: Metzler, 2016), 399–403, 400. Fast didaktisch aufbereitet hat Tillich den Begriff später in seiner Überblicksvorlesung von 1963: Vorlesungen über die Geschichte des christlichen Denkens, Teil 1: Urchristentum bis Nachreformation, Bd. I, Ergänzungsund Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Ingeborg C. Henel (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1971), 23, unter der Überschrift „Die Vorbereitung des christlichen Denkens“: „Nach dem Apostel Paulus besteht die Möglichkeit für ein Ereignis wie das Erscheinen Jesu als des Christus nicht zu jeder Zeit. Ein besonderer Augenblick der Geschichte war nötig, in dem alles für dieses Ereignis bereit war, um es Wirklichkeit werden zu lassen. Auf diese Bereitschaft wollen wir jetzt eingehen. [...] kairos darf nicht mit chronos, der quantitativen Uhr-Zeit, verwechselt werden. [...] Kairos ist qualitative Zeit, die richtige Zeit, die besondere Gelegenheit.“  Tillich, „Protestantische Ära“, 19.

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herab zum Bedingten.53 Im Kairos kommt das Ewige im Zeitlichen zum Vorschein, wobei „das Zeitliche bereit“ sein müsse, „es zu empfangen.“54 Dass ein solcher Zeitpunkt akut gegeben ist, wurde, so Tillich rückblickend, „nach dem ersten Weltkrieg von vielen Menschen empfunden. Er gab den Impetus, die religiössozialistische Bewegung zu beginnen“55. In dem ersten Kairos-Aufsatz klingt dann auch die Aufbruchsforderung konkret an, die Tillichs Zeitdiagnostik seinerzeit ausmachte: Die hier vorgetragenen Ideen sollen ein Aufruf sein zu geschichtsbewußtem Denken [...], dessen Wurzeln hinabreichen in die Tiefen des Unbedingten, dessen Begriffe geschöpft sind aus der Urbeziehung des menschlichen Geistes und dessen Ethos unbereinigte Verantwortlichkeit für den gegenwärtigen Zeitmoment ist.56

So wird deutlich, dass die Betrachtung der aktuellen Krisenlage mit der unmittelbar geforderten Arbeit an einer neuen Gesellschaft unlöslich verknüpft wird. An dem Punkt, an dem für Tillich das Bewusstsein für eine Zeitenwende nach dem Zusammenbruch des idealistischen Fortschrittsoptimismus sich vor allem in den sozialen Verhältnissen spiegelt, gilt es, den Kairos zu erkennen und die eigene Gegenwart neu theonom zu deuten. „Es gibt nun aber für diese Forderung keine andere Erfüllung als die, daß das Bedingte sich selbst aufhebt und sich zum Organ macht für das Unbedingte“, wobei dieses „Offensein für das Unbedingte sich im persönlichen wie im sozialen Leben“57 konkretisieren solle. Nimmt man den so beschriebenen Kairos zusammen mit der prophetischen Haltung, erweist sich die „Prophetie als Bewußtsein des Kairos im Sinne“58 von Markus 1,1559. Wogegen sich schließlich das neue theonome Bewusstsein im erfassten Kairos richten soll, zeigt für Tillich das Dämonische.60 Hierin sieht Tillich die zerstörerische

 Vgl. Tillich, „Protestantische Ära“, 19.  Tillich, „Protestantische Ära“, 19; vgl. Kairos I, 24; Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 94.  Tillich, „Protestantische Ära“, 19.  Tillich, „Kairos I“, 9.  Tillich, „Protestantische Ära“, 19.  Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 94.  „Erfüllt ist die Zeit, und nahe gekommen ist das Reich Gottes. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“  Vgl. zu den Hintergründen des Dämonischen in Tillichs Schellinglektüre Fritz, Menschsein als Frage, 96–114; ferner Christian Danz, „Das Göttliche und das Dämonische. Paul Tillichs Deutung von Geschichte und Kultur“, in: Christian Danz/Werner Schüßler/Mary Ann Stenger/Marc Dumas/ Erdmann Sturm (Hg.), Interpretation of History (Berlin/Boston 2013), 1–14 und wiederum Wittekind, „Das Dämonische in Tillichs Dresdner Dogmatik“.

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Kraft, die als „gegengöttliche Religion“61 der Theonomie entgegenarbeitet. Wie das Göttliche tritt das Dämonische in Formen hervor, zeichnet sich aber dadurch aus, dass es dem Unbedingten widerspricht. Die komplexe Struktur und die Hintergründe des Dämonischen gehören zu den „sperrigsten Komponenten“ von Tillichs Denken, die auch alle bis zu diesem werkgenetischen Punkt auftretenden „Interpretationsprobleme“ „in den Schatten“62 stellen. Für den Zusammenhang dieser Untersuchung genügt es, vorerst hervorzuheben, dass Tillich die Kategorie des Dämonischen für die negative Gegenkraft zum Göttlichen auch in Bezug auf die ganz konkreten Umstände in Anschlag bringt. In der konkreten und auf das ethische Element gerichteten Interpretationshinsicht steht das Dämonische also dafür, dass die Formen – und zwar religiöse wie profane – in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Kirche, Konfession, Wissenschaft, Kunst oder Recht – stets in der Gefahr stehen, sich selbst zu verabsolutieren. Aus diesem Grund bringt Tillich in dieser konkret-ethischen Sicht des Dämonischen als „Dämonien der Gegenwart“63 zumeist Nationalismus und Kapitalismus als autonomiefixierte Wirtschaftsordnung zur Sprache.64 Es zeigt sich bereits in der durchgängigen und hier nur angedeuteten Semantik der drei Termini: Die geschichtsphilosophischen Kategorien sind für sich bereits eschatologisch wie auch ethisch aufgeladen und bilden Tillichs systematisches Gerüst für die Texte der Folgejahre. Darin kommt darüber hinaus mit mehr Klarheit die Erwartung einer unmittelbar bevorstehenden Zeitenwende zum Austrag. Von da aus wird Tillichs Sozialismuskonzeption zu Recht häufig über seine eschatologische Stoßrichtung interpretiert. Somit kommen dann jene drei Kategorien und besonders auch der Reich-Gottes-Begriff als Gegenstände der ethischen Theoriebildung zur Sprache.65

 Erste Ausführungen zum Dämonischen gibt Tillich in „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 98–101 und Religionsphilosophie (1923/25), 338 f. Die Grundlagentexte zum Begriff stammen aus dem Jahr 1926: „Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte“, in: Der Widerstand von Raum und Zeit. Schriften zur Geschichtsphilosophie, Bd. VI, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1963), 42–71; „Der Begriff des Dämonischen und seine Bedeutung für die systematische Theologie“, in: Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II, Bd. VIII, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1970), 285–291.  Fritz, Menschsein als Frage, 95. Fritz zeichnet hier die Hintergründe von Tillichs Verständnis wiederum an der Spätphilosophie Schellings nach.  Tillich, „Das Dämonische“, 67.  Vgl. exemplarisch Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 108–11; „Das Dämonische“, 69–71. „In der praktischen Sphäre sind es gleichfalls zwei Dämonien, die an Bedeutung und Symbolkraft alle anderen überragen und das Antlitz unserer Zeit formen. Es ist die Dämonie der autonomen Wirtschaft, der Kapitalismus, und die Dämonie des souveränen Volkes, der Nationalismus“ (69).  Vgl. Eberhardt, Reich-Gottes-Begriff; Ulrich, Ontologie; Samse, Eschatologie; Matern, „Eschatologie und Ethik“; Danz, „‚Ethik des Reiches Gottes‛“. Zur Einordnung Tillichs in den eschatologischen

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Die Kirche hat eine Botschaft, mit der sie auch gegen sich wie gegen jede andere geistige und soziale Wirklichkeit steht, die Botschaft des Endes. Und daran hat sie einen Maßstab, mit dem sie jede Ethik richten, erschüttern und umwenden kann.66

Diese eschatologische Unterfütterung der Ethik gehört für Tillich durchweg zur kategorialen Grundlegung, welche aber interpretativ und werkgeschichtlich gut erschlossen wurde.67 In den im Folgenden interpretierten Texten gibt Tillich beinahe durchgängig ausführliche geschichtsphilosophische und theologische Herleitungen. Diese zielen konstant auf das Erleben des Kairos, in dem ein neues Bewusstsein der Theonomie dazu auffordert, die Dämonien der Gegenwart im Sinne einer gerechten und auf der Liebe bauenden Gesellschaft zu neutralisieren. Aus der Skizze zur Geschichtstheologie des Religiösen Sozialismus wird sich nachfolgend die mehrfach betonte Forderung nach Verwirklichung von Sinn als zentrales Element erweisen. Darin ist die praktische Stoßrichtung als Moment der sinntheoretischen Überlegungen mit dem Programm der religiös-sozialistischen Ethik unmittelbar verknüpft. Die im Folgenden thematisierte Sinnforderung lässt sich indes ohne den hier erörterten Hintergrund nicht verstehen.

1.3 Sinngrund und Sinnforderung Ins Prinzipielle gewendet stellt die Verknüpfung von „Sinngrund“ (unbedingter Sinn) und der „Forderung“68 nach seiner Erfüllung die theoretische Basis von Tillichs Theorie des Sozialismus dar.69 Die Sinnforderung wird sich überdies als ein Theorem erweisen, das Tillich von hier an konsequent weiterführt und das insbesondere für den Zusammenhang von Persönlichkeit, Anerkennung und Macht ab 1927 zu einem wichtigen Bestandteil der religiös-sozialistischen Ethik werden wird.70 Dessen Grundlagen sind daher im Folgenden zu interpretieren. Um beide Wendungen – Sinngrund und Sinnforderung – in ihrem Zusammenhang greifen zu können, seien hier die Grundlagen der Sinnelementenlehre knapp resümiert, die Tillich im Zuge seiner religionsphilosophischen Arbeit konzeptualisiert hatte Diskurs des 20. Jahrhunderts Christoph Schwöbel, „Die letzten Dinge zuerst? Das Jahrhundert der Eschatologie im Rückblick“, in: ders., Gott in Beziehung. Studien zur Dogmatik (Tübingen: Mohr Siebeck, 2002), 437–468, 442 f.  Tillich, „Zum Problem der evangelischen Sozialethik. Zum gleichnamigen Aufsatz von Wilhelm Loew, in: Begegnungen. Paul Tillich über sich selbst und andere, Bd. XII, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1971), 212–218, 217.  Vgl. zum Zusammenhang der drei Begriffe nochmals Sturm, „Tillichs religiöser Sozialismus“.  Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 318.  Das hat Fritz, Menschsein als Frage, 83–109, zum ersten Mal ausführlich gezeigt.  Siehe dazu unten: Teil 2: B.2.2.

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und auf die in Bezug auf den Religionsbegriff71 sowie den Aufbau der Geisteswissenschaften72 bereits vorausgegriffen wurde. Die Sinnforderung muss daher in den nachstehenden Erörterungen aus dem komplexen Gefüge von Tillichs Sinnlehre erhoben werden, um eine fundierte Basis für die spätere Konzeption von Liebe und Anerkennung zu haben. Wie es prägnant im Aufsatz Kirche und Kultur bestimmt wird, ist das Leben des Menschen als Geistwesen in Tillichs Sicht insgesamt vollständiges Leben im Sinn. Sofern es über seine rein biologische Gebundenheit hinausgeht, ist es Leben als Geist oder Freiheit und steht somit in allen geistigen Akten in einem Netz aus Sinnbezügen.73 Sinn, so definiert Tillich formelhaft in der Religionsphilosophie, ist das „gemeinsame Merkmal und die letzte Einheit von theoretischer und praktischer Geistessphäre, von wissenschaftlichem und künstlerischem, von rechtlichem und sozialem Gestalten.“74 Der Sinnvollzug ist in Tillichs Konzeption der jeweilige Akt des Geistes in einem der bekannten Bereiche. In einem Sinnakt, also jedem theoretischen oder praktischen Ausdruck, richtet sich der Geist auf etwas, webt sich in einen „Sinnzusammenhang“ ein und schafft so „Sinnwirklichkeit“75. In logischer Konsequenz bedeutet das auch, dass der letzte Sinn weder intellektuell noch praktisch auf den Begriff zu bringen ist, da dieser Versuch nurmehr ein Akt des Geistes ist, der den höchsten Sinn nicht vollends erfassen kann. Deshalb kann es für Tillich nur Aufgabe einer Lehre vom Sinn sein, die Elemente des Sinnzusammenhangs strukturiert zur Ansicht zu bringen. Hier kommen die drei bereits an früherer Stelle eingeführten Elemente im „Sinnbewußtsein“ zum Tragen, von denen im Weiteren allein das dritte interpretiert wird.76 Auf einer ersten Ebene liegt das Bewusstsein für jenen Sinnzusammenhang. Die einzelne sinntragende Person wird ihrer Einbettung in die theoretischen und praktischen Sinnvollzüge gewahr und erkennt, dass sie ihren Sinn allein aufgrund des die Wirklichkeit übergreifenden Sinns trägt. Auf der zweiten Ebene äußert sich die Einsicht darüber, dass der Zusammenhang des Sinns und folglich die einzelnen sinntragenden Personen und ihre Akte ihren unverrückbaren Wert – oder tautologisch Sinn – haben. Der Geist wird sich bewusst, dass es einen überragenden, fundierenden, „unbedingten Sinn“77 geben muss, der allen Einzelsinnen ihre Bedeutung verleiht. Auf dritter Ebene kommt nun das praktische Element zum Vorschein als

      

Siehe oben: Teil 2: A.2.2. Siehe oben: Teil 2: A.3.2.3. Vgl. Tillich, „Kirche und Kultur“, 33. Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 318. Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 318. Siehe oben: Teil 2: A.3.1. Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 318 (im Original kursiv).

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Bewußtsein um eine Forderung, unter der jeder Einzelsinn steht, den unbedingten Sinn zu erfüllen. [...] Der Sinngehalt hat für die Sinnform einerseits die Bedeutung des Grundes der Sinnhaftigkeit; andererseits macht er sich ihr gegenüber bemerkbar als Forderung auf unbedingte Sinnerfüllung, eine Forderung, der nur der vollendete Zusammenhang alles Sinnes nachkommen könnte, die unbedingte Form. Nun aber ist die unbedingte Sinnform eine dem Verhältnis von Form und Gehalt widersprechende Idee.78

Die Komplexität des begrifflichen Gefüges erschließt sich erst, wenn man die einzelnen Teile auseinanderlegt. Der Einzelsinn beziehungsweise die Sinnform steht für den jeweiligen Akt, während der unbedingte Sinn den alles andere begründenden – göttlichen – Sinn darstellt. Eine unbedingte Form wäre infolgedessen ein Akt aus beiden Momenten. Darin würde eine geisttragende Person in einer Form von Theorie oder Praxis den unbedingten Sinn vollkommen erreichen beziehungsweise ausdrücken. Die Forderung bezieht sich nun gleichwohl auf die Verwirklichung des Unbedingten, was widersprüchlich scheint.79 Die – hypothetische – unbedingte Form, so erläutert Tillich, widerspricht dem Schema von Form und Gehalt, demgemäß der Gehalt sich in Formen ausdrückt, zugleich aber nie vollends dargestellt werden kann. Weshalb die Forderung nach Verwirklichung dennoch besteht, erklärt Tillich mit der Verbindung von Sinngrund und Sinnabgrund: Die Sinnhaftigkeit alles Sinnes ist der Grund, aber auch der Abgrund jedes Sinnes [...]. Der Gedanke, daß in einer unbedingten Sinnform aller Sinngrund sich erschöpfte, würde die innere Unendlichkeit des Sinnes aufheben; er würde die Möglichkeit, daß aller Sinn im Sinnlosen versänke, nicht bannen können.80

Sinngrund und Sinnabgrund müssen für Tillich zusammengehören, weil nur dadurch die Unerschöpflichkeit von Sinn gewahrt bleibe. Wäre Sinn in den Formen des Bedingten erschöpflich, dann wäre er gleichsam endlich. Dass endlicher Sinn nicht wie unendlicher Sinn vor völliger Sinnlosigkeit schützen könne, betont Tillich, weil der Sinn dann an einem Punkt gewissermaßen aufgehoben sein müsste. Die Pointe der Forderung schließlich besagt, dass der Sinn für alle bedingten Formen und somit für jeden Sinnzusammenhang zwar unerschöpflich sein muss, der Geist aber trotzdem in „jedem Sinnakt“ unter der Forderung steht, die „vollendete Einheit“81 von Sinnakt und unbedingtem Sinn zu erreichen – er versucht folglich stetig, das Unerreichbare in den theoretischen wie praktischen Formen zu errei-

 Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 318 f.  Vgl. in ähnlicher Weise nochmals Tillichs Definition der theologischen Ethik im Tillich, System der Wissenschaften, 281, wo er parallel erklärt: „in jedem ethischen Akt, der noch nicht rationale Seinsformung ist, liegt der kultische Wille, das Unbedingte in sich zu verwirklichen“ (siehe Teil 2: A.3.1).  Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 319.  Tillich, Religionsphilosophie (1923/25), 319.

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chen. Das Handeln aus den Einsichten der Sinnlehre heraus – so lässt sich hier vorerst festhalten – ist Handeln im Bewusstsein, dass zum einen der unbedingte Sinn nicht vollständig umgesetzt werden kann. Zum anderen liegt in diesem Bewusstsein zugleich eine Entlastung. Die Motivation – so kann interpretiert werden – zum Handeln besteht darin, das Unbedingte dadurch zu symbolisieren, dass es nicht erschöpflich ist und den Sinn der einzelnen Formen dadurch ermöglicht. Auch wenn es in diesem Kontext weit hergeholt wirken mag, lässt sich bei dieser ethischen Auffassung von Sinn – vor dem Hintergrund der nachgezeichneten Bildungsgeschichte Tillichs – eine rechtfertigungstheologische Assoziation nicht ganz von der Hand weisen.82 Mit den vorangehenden Überlegungen sind die methodischen Elemente in Tillichs Sinnlehre versammelt. Sie bleiben indessen noch recht abstrakt und erweisen sich eigentlich erst in direkter Anwendung auf den Religiösen Sozialismus als ethisches Fundament. Wendet man sich vor diesem Hintergrund zunächst einem etwas weniger prominenten Manuskript aus der Gründungsphase des Religiösen Sozialismus zu, lassen sich die sinntheoretischen Voraussetzungen des ethischen Ansatzes veranschaulichen. Mit dem 1924 oder 1925 verfassten Dokument Die religionsphilosophischen Grundlagen des „religiösen Sozialismus“83 zeigt Tillich in einem stärker erklärenden Stil als in anderen Texten der Zeit, wie er sich die Bewegung des Religiösen Sozialismus auf dem Boden der Sinnlehre vorstellt, und verbindet damit zugleich den Liebesbegriff. „Der Name ‚religiöser Sozialismus‘“, so leitet Tillich ein, verbinde zwei auf den ersten Blick höchst differente Begriffe, indem Religion mit einer „politisch-soziale [n] Richtung“84 verbunden werde. Indes will laut Tillich der Religiöse Sozialismus mehr sein, nämlich eine „allumfassende geistige Bewegung [...], die sich nur nach dem drängendsten, praktisch wichtigsten und zugleich gemeinschaftsbildenden Element benennt“85. Wegen dieses umfassenden, den Menschen in seinem ganzen Vermögen einnehmenden Anspruchs stellt sich für Tillich zuerst – und ausdrücklich vor sozialpolitischen Anwendungsfragen – die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Kultur. In diese Verhältnisbestimmung integriert er dann im ersten

 Dieser Gesichtspunkt wird hier nicht näher verfolgt, weil er gegenüber der bisherigen Werkanalyse keinen Interpretationsfortschritt ergeben würde.  Tillich, „Die religionsphilosophischen Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, in: Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908–1933), erster Teil, Bd. X, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Erdmann Sturm (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1999), 454–466,  Tillich, „Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, 454.  Tillich, „Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, 454.

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größeren Teil die Sinnlehre. Im zweiten Teil soll es auf Basis der „gewonnenen Begriffe“ um den „Glaubensgehalt, der dem Religiösen Sozialismus innewohnt“86, gehen. Formuliert werde das – so gibt Tillich unumwunden zu – nicht aus der Perspektive einer nicht interessierten, gleichsam objektiven Wissenschaft, sondern „wie alle Darlegung von Glaubensinhalten Bekenntnis, wenn auch in wissenschaftlicher Form.87“ Tillichs eigenes Vorgehen entspricht somit seiner Bestimmung der (theologischen) Ethik als schöpferische Geistes- und Normwissenschaft. Als Betrachter ist er an der inhaltlichen Ausgestaltung subjektiv beteiligt und steht nicht als unbeteiligter Beobachter darüber. Bezüglich des ersten Teils wird hier allein die nähere Ausgestaltung des Sinnbegriffs analysiert. Tillich referiert zunächst seine Grundeinsichten und stellt die ganzheitliche Auffassung der Religion in den wissenschaftlichen, künstlerischen, rechtlich-individuellen und gemeinschaftlichen Formen heraus. Der Sinn, so formuliert Tillich explikativ, beziehe sich dazu als „Begriff“ auf den „Inhalt des Geistigen überhaupt“ und damit auf eine „ideale Sinnverwirklichung im Erkennen und [in] der ästhetischen Anschauung“ wie auf eine „reale Sinnverwirklichung im Recht und in der Gemeinschaft“88. Somit gelten ihm die aufnehmenden, theoretischen als „ideale“ Formen, in denen denkerisch oder anschauend versucht wird, das Unbedingte abzubilden oder zu erfassen, während in der Persönlichkeits- und Gemeinschaftsbildung die reale Praxis ihren Ort hat. Von hier aus wird fraglich – so Tillich –, aus welcher „Geisteshaltung“ heraus die „wirkliche Tiefe eines solchen letzten Begriffes [Sinn] ausgeschöpft werden kann.“89 Jene Tiefe des Geistes müsse aufgespürt werden, um sowohl die ideale als auch reale Sinnrealisierung sichtbar zu machen. Der darin enthaltene ethische Impetus wird an der Schlüsselstelle der Überlegungen deutlich: In jedem Sinnakt ist enthalten das Bewußtsein um eine unbedingte Forderung, die in den verschiedenen Gebieten als Forderung der Wahrheit, des Ausdrucks, der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Liebe auftritt. Man kann sich der Forderung nicht entziehen, will man nicht aufhören Geist zu sein, im Sinn zu leben. Sie gerade ist die Verneinung der Unmittelbarkeit, des bloßen Daseins. Sie ist der Schmerz des Lebens, das [sic!] selber ins Leben schneidet, wie Nietzsche sagt; sie ist zugleich die Würde des Geistes und seine Unruhe. Denn sie treibt ihn über jeden einzelnen Sinnakt hinaus über jedes Erkennen und jede Bedeutungsschau, über jede Persönlichkeitsform und jede Gemeinschaftsgruppe. Sie treibt weiter zur Einheit aller Sinnvollzüge, zur Synthesis der Synthesen, zur vollendeten Sinnwelt, im Theoretischen wie im Praktischen.90

    

Tillich, „Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, 455. Tillich, „Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, 455. Tillich, „Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, 455. Tillich, „Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, 456. Tillich, „Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, 456.

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Das konstante Muster aus Theorie und Praxis in Tillichs System erfährt hier zunächst eine aus ethischer Sicht erhebliche Modifizierung:91 Den bisher bekannten Theorieformen Wissenschaft (Wahrheit) und Ausdruck (Kunst) werden die Bereiche Liebe, Gerechtigkeit und Freiheit hinzugefügt, sodass es sich nun um ein fünffaches Schema mit deutlicher ethischer Stoßrichtung handelt. Diese erweiternde Anpassung an den ethisch ausgerichteten Kontext der Schrift – die kultur- und sinntheoretische Begründung des Religiösen Sozialismus – ist an dieser Stelle bemerkenswert, auch wenn Tillich sein ursprüngliches Schema nicht aufgibt.92 Allerdings wird die Liebe als Grundbegriff hier konsequent – und genau an der Schaltstelle von fundierender Sinnlehre und konkreter Ethik – fortgeführt und in das Schema eingereiht. Überdies gibt Tillich eine Näherbestimmung der Forderung, die nunmehr ausdrücklich in sämtlichen Vermögen als Forderung erscheint, das Unbedingte zu repräsentieren. Auf Seiten der Praxis bedeutet dies unmittelbar die Forderung der „Überwindung jeder heiligen und unheiligen Ungerechtigkeit“.93 Als Negativfolie fungiert wiederum das Dämonische, welches jedwede Kraft symbolisiert, die sich der Sinnforderung entgegenstellt. Die Sinnforderung besteht davon ausgehend zunächst in der „Unabweisbarkeit des Geltungsanspruchs der fundamentalen Werte der verschiedenen Sinnsphären.“94 Zugleich besteht notwendigerweise die Möglichkeit, die Sinnforderung nicht zu erfüllen. Hierin würde die Person versuchen, sich der Geltung benannter Werte von Freiheit, Liebe und Gerechtigkeit zu entziehen, was eine „Selbstaufgabe als Geistwesen“95 zur Folge hätte. Denn die „Würde des Geistes“, so Tillich in der oben zitierten Passage, bestehe darin, dass der Mensch als Geist der Forderung nicht entgehen könne, sofern er Geist bleiben wolle. Vielmehr verbleibe er notgedrungen in der „Unruhe“ und stehe unter dem Anspruch, in allen Bereichen des Theoretischen wie Praktischen die Forderung des Unbedingten zum Ausdruck zu bringen. Zentral ist an der Stelle indessen die explizite Bestimmung der Forderung als „unbedingt“ und Tillichs direkter Verweis auf Kant: In dessen „Worten von der Autonomie und der Erhabenheit des Vernunftgesetzes“ habe die „Unbedingtheit der Sinnforderung ihren klassischen Ausdruck gefunden.“96 Insofern Tillich hier Kants „unbedingtes Sollen“ in der Formel des „kategorischen Imperativs“ im Blick hat, verweist der Bezug erneut

 Vgl. Fritz, Menschsein als Frage, 88.  Vgl. exemplarisch aus demselben Jahr nochmals „Kirche und Kultur“, 33, wo wiederum Logik, Ästhetik, Recht und Soziales zur Anwendung kommen.  Tillich, „Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, 454 f.  Fritz, Menschsein als Frage, 88.  Fritz, Menschsein als Frage, 88.  Tillich, „Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, 457.

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auf Tillichs vielfache Auseinandersetzung mit der Ethik der Autonomie.97 Die Forderung erhält so eine doppelte Ausrichtung: Zum einen ist sie als unbedingt Gesolltes auf die Erfüllung der „Einheit“ aller „Sinnvollzüge“ gerichtet. Auf dieser Ebene stellt die Kant’sche „Pflichtethik das Urbild des Tillich’schen Forderungstheorems“98 dar. Das bedeutet, dass die in den einzelnen Sinnvollzügen auftretende Forderung unbedingt zu erfüllen ist, sofern sie als unbedingtes Sollen auftritt. Diese Seite lässt sich in der Kantischen Diktion als „idealethische“99 kennzeichnen, weil in der Erfüllung der Forderung letztlich der unbedingte Sinn erreicht wäre. Zum anderen widerspräche ebendiese vollständige Erfüllung Tillichs grundsätzlichem Ansatz, nach dem es nicht möglich ist, den unbedingten Sinn vollkommen auf den Begriff zu bringen.100 Deshalb führt Tillich an diesem Punkt das zweite grundlegende Sinnelement ein: Sinngrund und Sinnabgrund. In präziser Aufnahme der Begriffsbestimmungen aus der Religionsphilosophie möchte Tillich herausstellen, dass es von immenser Bedeutung ist, die Unerschöpflichkeit des Sinnzusammenhangs vorauszusetzen. Trotz der Unruhe, die von der unbedingten Forderung ausgeht, ist in jedem Sinnakt das Bewußtsein enthalten, sinnhaft zu sein, d. h. nicht leer, nichtig, bedeutungslos zu sein, sondern in eine Fülle, eine Wirklichkeit, eine Tiefe zu reichen, von der er lebt, aus der er seine Sinnhaftigkeit hat und die er doch nicht erschöpfen kann.101

Wie in der Religionsphilosophie ausgeführt, würde die Erschöpfung des Sinns das Geistwesen in einen „Abgrund der Sinnleere stürzen“102. Aus diesem Grund müssen für Tillich Sinngrund und Sinnabgrund in eins gedacht werden. „Auf der Gegenwart des Sinngrundes und Abgrundes beruht [...] diejenige Tiefe des Wirklichen, des Lebens und des Geistes, die uns erlaubt, von Schöpfung und Gegenwart [...] Gottes zu sprechen.“103 Tillich geht hier in eine dezidiert theologische Formulierung über, um herauszustellen, dass es nicht zu einer idealen Verwirklichung des Sinns kommen kann. Für diesen Grundsatz führt er immer wieder die Ablehnung der Utopie in seiner Konzeption an.104 Denn eine utopische Form des Sozialismus habe immer die besagte Verwirklichung im „Diesseits“ vor Augen, was für Tillich widersprüchlich scheint. Die Verbindung von Sinngrund und Sinnabgrund stellt für Tillich das Ver-

 Siehe dazu besonders Teil 1: B.2.3 und 4.2.1; Teil 2: A.2.4. Vgl. auch Fritz: Menschsein als Frage 89.  Fritz, Menschsein als Frage, 89.  Fritz, Menschsein als Frage, 89.  Vgl. Fritz, Menschsein als Frage, 89.  Tillich, „Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, 454.  Tillich, „Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, 454.  Tillich, „Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, 457.  Vgl. Tillich, „Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, 462.

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hältnis von Religion und Kultur dar: In den Sinnformen der Kultur bewegt sich der Mensch in Richtung der Verwirklichung des Sinngehalts. In der Religion richtet er sich auf Sinngrund und Abgrund, sodass die Religion zum Gehalt der Kultur wird.105 Gegen die religiös-sinnhafte Ausrichtung am unbedingten Sinn richtet sich das Dämonische als das der „Sinnforderung widerstrebende [H]eilige“, das sich der „Forderung nicht beugt.“106 Das Dämonische ist der Widerspruch gegen die Einheit von Sinngrund und Abgrund. So ließe sich beispielsweise die Verabsolutierung von religiös (Kirche) oder profan (Nation) als dämonisch anführen, weil hier suggeriert werden kann, dass der Gehalt ganz durch das eigene Streben erreicht werde. Aus dem Gesagten ergibt sich nun das, was wesensmäßig Ziel menschlichen Strebens sowohl für den einzelnen wie für die Geisteslage und Periode sein muß: Gott zu dienen in der Wahrheit und in der Liebe, d. h. gerichtet sein auf das Ewige, auf den Sinngrund und Abgrund der Dinge und des Geistes. [...] [G]leicherweise in Gegensatz gegen religiöse wie gegen kulturelle Dämonien. Und die Einheit von [...] Religion und Kultur, Gotterfülltheit, Theonomie nennen wir dieses Ziel107.

In diesem Ziel sieht Tillich die notwendige Umsetzung eines auf Sinngrund und Abgrund basierenden Religiösen Sozialismus, der das Ideal der Theonomie im Bewusstsein darüber im Blick hat, dass es nicht vollends erreichbar ist. Mit dem „erarbeiteten Begriffsmaterial“108 will Tillich daraufhin den Religiösen Sozialismus als Bewegung konkretisieren. Dabei sieht er zunächst das Grundproblem, dass einer für sich genommen gegenüber der Religion feindlich eingestellten Bewegung die religiöse „Symbolkraft zugesprochen“109 werden soll. Deshalb muss der Religiöse Sozialismus im Ansatz auf der Verbindung von Religion und Kultur, von religiösen und profanen Formen aufbauen. Tillich veranschaulicht es so: Es mute wohl – für diejenigen, die sich auf Seiten des Religiösen sehen – zunächst sehr seltsam an, dass gerade eine profane Bewegung (Sozialismus) das „Antidämonische“110, das Göttliche als Gegenkraft zu den Negativkräften der Gegenwart, bilden solle. Und genau hier muss für Tillich die letztliche Einheit von Religion und Kultur greifen, sodass der Religiöse Sozialismus die Verschränkung von Form und Gehalt ausdrückt. Somit erst ließen sich scheinbare Gegensätze zwischen „religiös“ und „profan“ auflösen, wie Tillich es am Beispiel der Kirche in Bezug auf den Kapitalismus erklärt: Der Umstand, dass die „Kirchen an dem Kampf gegen den Kapita-

     

Vgl. Tillich, „Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, 458. Tillich, „Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, 460. Tillich, „Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, 461. Tillich, „Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, 464. Tillich, „Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, 464. Tillich, „Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, 464.

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lismus als dämonisches Centralsymbol nicht wesentlich beteiligt sind“111 zeigt für Tillich, dass religiöse Formen ebenso anfällig für die Dämonien sind wie profane. Und somit ist auch der Zusammenschluss von „religiös“ und „sozialistisch“ nicht widersprüchlich, sondern konsequent. Das benannte „Centralsymbol des Dämonischen“112 – der Kapitalismus – wird von Tillich dann nur noch knapp ausgeführt. Er betont, dass es in der „liberalen Marktfreiheit“ zu einem „Machtwillen“113 gekommen sei, der seine zerstörerische und dämonische Wirkung auf allen Gebieten des sozialen Lebens entfaltet. Darum muss es für Tillich in der Bewegung des Religiösen Sozialismus zu einer „Wendung“ hin zur Theonomie kommen, in der die „Einheit von Grund und Abgrund“114 durchsichtig werden kann. Dass Tillich in dieser kapitalismuskritischen Ausrichtung stets konkret den „Arbeiter“ und das Problem des Klassenkampfs im Blick hat, wird regelmäßig deutlich.115

1.4 Ethik der Liebe und Anerkennung der Person Summarisch gesagt, bildet der gesamte Religiöse Sozialismus in der Tillich’schen Gestalt eine Sozialethik des jesuanischen Liebesgebots. Auf dem Boden der Sinnkonzeption und mit der kulturhermeneutischen Zielrichtung auf die letztliche Synthese von religiösem Gehalt und kulturellen Formen erarbeitet Tillich eine Ethik, die den Menschen als Wesen im Blick hat, welches auf die gegenseitige Anerkennung als sinntragendes Geschöpf genauso angewiesen ist wie auf die dafür notwendigen sozialen Bedingungen. Um die inneren Bezüge zwischen den drei Ebenen – Sinnlehre, Kulturtheologie und Sozialethik des Religiösen Sozialismus – zu konturieren, wird in diesem Abschnitt wie angekündigt die werkgenetische Chronologie unterbrochen und in die

 Tillich, „Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, 465.  Tillich, „Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, 465.  Tillich, „Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, 465 f.  Tillich, „Grundlagen des ‚religiösen Sozialismus‘“, 466.  Vgl. dazu auch unten: Teil 2: B.1.2.3 und „Die religiöse und philosophische Weiterbildung des Sozialismus“ in: Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum Religiösen Sozialismus, Bd. II, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 21962), 121–131, wo Tillich den „Arbeiter“ (122) beispielsweise als unter der wirtschaftlichen Situation leidend darstellt und mit denselben sinntheoretischen Kategorien formuliert. Dem Thema „Proletariat“ und Sinn als konkretem Anwendungsfeld wird sich Tillich sukzessive in den Folgejahren immer stärker widmen. Vgl. exemplarisch: „Klassenkampf und religiöser Sozialismus“ von 1929, im selben Band: GW II, 175–192; „Protestantismus und proletarische Situation“ von 1931, in: Writings in Social Philosophy and Ethics/ Sozialphilosophische und ethische Schriften, hg. von Ermann Sturm (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1998), 219–248.

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Zeit zwischen 1919 und 1925 zurückgeblickt. Anhand der religiös-sozialistischen Texte aus dieser Zeit wird die „Ethik der Liebe“ als Herzstück des Religiösen Sozialismus herausgestellt und ihre Verbindung zu den sinn- und kulturtheologischen Rahmentheorien erhellt. Bei den im Folgenden zu interpretierenden Schriften handelt es sich um kürzere Aufsätze, Thesenpapiere und Lexikonartikel, mit denen Tillich in der Formierungsphase in rascher Abfolge seine Deutung des Programms öffentlich präsentieren wollte.116 Das „Grundproblem der sozialistischen Ethik“ – so fasst es Tillich in dem Aufsatz Die religiöse und philosophische Weiterbildung des Sozialismus zusammen – lautet: „Wie kommt es zur sittlichen Gestalt, zur individuellen und zur sozialen, und eins mit dem anderen und durch das andere?“117 Das heißt anders gesagt: Ziel ist die Errichtung einer Gemeinschaft von Personen, die sich als Personen erfahren, indem sie (sittlich) freier Teil der Gemeinschaft sind. Tillich differenziert das Grundproblem in drei Fragenkreise, welche die Perspektive der Frage jeweils erweitern: Auf der ersten Ebene muss der Religiöse Sozialismus darauf antworten, wie aus der „Masse“ eine „Gemeinschaft“ wird, auf der zweiten, wie aus „Klassen“ ein „Volk“ wird, und auf der dritten, wie aus „Völkern“ eine „Menschheit“118 wird. Die Antworten – von denen hier nur die erste von Belang ist – sind komprimiert. Dennoch macht Tillich deutlich, dass die „Solidarität“ untereinander als soziale Norm nicht ausreicht, weil diese sich durch eine „gemeinsame Gegnerschaft“119 konstituiere. Dagegen müsse es in der „Masse“ zu Zusammenschlüssen kommen, die sich darauf ausrichten, eine „Gemeinschaft gehaltserfüllter Persönlichkeiten“120 zu werden. Kleinere „Kerngemeinschaften“, die im Bewusstsein des „Kairos“121 stünden und sich daher bewusst seien, dass auch die jeweils existierende Masse wieder überwunden werde, könnten zur Gemeinschaftsbildung beitragen. Für Tillich kommt alles darauf an, dass auch jene Kerngemeinschaften sich nie vollends aus der Masse lösen, sondern sich stets als Teil von ihr verstehen müssen. Das po-

 Zu den begrifflichen Diskursen der Formierungsphase des religiösen Sozialismus vgl. Christophersen, Kairos, 12–48, der die inneren „Deutungskämpfe“ der Intellektuellenkreise konstellationsgeschichtlich darstellt.  Tillich, „Die religiöse und philosophische Weiterbildung des Sozialismus“ in: Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum Religiösen Sozialismus, Bd. II, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 21962), 121–131, 128. Zum vielverwendeten Begriff der „Gestalt“ vgl. Tillich, System der Wissenschaften und Amelung, Gestalt, 1972; Jahr: Gestaltmetaphysik. Der Terminus „Gestalt“ gehört zu den am schwierigsten einzuordnenden Begriffen in Tillichs Werk und wird hier nicht eigens behandelt.  Tillich, „Weiterbildung des Sozialismus“, 128.  Tillich, „Weiterbildung des Sozialismus“, 128.  Tillich, „Weiterbildung des Sozialismus“, 128.  Tillich, „Weiterbildung des Sozialismus“, 128.

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tentielle Sich-Ablösen bezeichnet Tillich ausdrücklich als „entleerte Bildung der kapitalistischen Epoche, die individualistisch, formal und gemeinschaftszerstörend ist“122. Deshalb sollen die kleineren Gruppen gemeinsam an der Durchsetzung des Gehalts arbeiten, der durch das „Bürgerliche hindurchgebrochen“123 sei. Der Ausflug in Tillichs knappe Bestimmung der Gemeinschaft in der Masse zeigt: Summarisch geht es in der Ethik des Religiösen Sozialismus um die Bedingungen theonom getragener Gemeinschaft, die es den beteiligten Personen ermöglicht, in ihren theoretischen wie praktischen Ausdrucksweisen Sinn zu realisieren. Diese Voraussetzung ist für das Verständnis der Ethikauffassung eminent bedeutend, weil damit erneut die Grundfrage der Balance von Person und Gemeinschaft aufscheint, welche auch in den Folgejahren ein Grundaspekt bei Tillich bleiben wird. Damit ist zudem das Problem angesprochen, ob Tillich zeitweise in einen Kollektivismus verfällt, wie es ihm gerade mit Blick auf die Studie Masse und Geist (1922) in der Forschung bisweilen vorgeworfen wurde.124 Wie sich Tillich die Gestalt der Gemeinschaft im frühen Religiösen Sozialismus vorstellt, wird nachfolgend an den Texten von 1919 bis 1925 und mit dem Fokus auf der liebenden Anerkennung der Person skizziert. Als Anfangspunkt von Tillichs intellektuell-politischem Engagement für die Bewegung des Sozialismus lässt sich vor diesem Hintergrund sein gemeinsamer Auftritt mit dem Freund Richard Wegener am 14. Mai 1919 vor der Ortsgruppe

 Tillich, „Weiterbildung des Sozialismus“, 128.  Tillich, „Weiterbildung des Sozialismus“, 128.  Ob Tillich Anfang der 1920er Jahre mit dem Begriff „Masse“ in die Nähe eines Kollektivismus rückt, kann hier nicht weiterverfolgt werden. Mit Blick auf die konstant von ihm herausgestellte Beziehung von Person und Gemeinschaft erscheint es indes nicht plausibel, sofern man die stupende Betonung der Persönlichkeit als freies Wesen auch beispielsweise im System der Wissenschaften und der Religionsphilosophie (1923/25) bedenkt. Vgl. zum Vorwurf des Kollektivismus z. B. Thomas Rentsch, „Negativität versus Metaphysik – mit Tillich gegen Tillich. Kritische Bemerkungen zu seiner Religions- und Kulturphilosophie der Zwanziger Jahre“, in: ders., Transzendenz und Negativität. Religionsphilosophische und ästhetische Studien (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2011), 86–96; Klaus-Michael Kodalle, „Auf der Grenze? Paul Tillichs Verhältnis zum Existentialismus“, in: Hermann Fischer (Hg.), Paul Tillich. Studien zu einer Theologie der Moderne (Frankfurt/ a.M.: Athenäum, 1989), 301–334. Mit dem Begriff der Masse hat Tillich sich 1922 in einer aus drei Texten zusammengestellten Studie 1922 ausführlich befasst: vgl. Masse und Geist. Studien zur Philosophie der Masse in: Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum Religiösen Sozialismus, Bd. II, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 21962), 35–90. Vgl. dazu bereits Heinz-Horst Schrey, Die neueren Untersuchengen zum Problem der Masse und ihre Bedeutung für die kirchliche Verkündigung (Univ.-Dissertation, Tübingen 1939), der Tillich als Teil eines Diskurses zur Masse untersucht. In dieser Arbeit wird die Frage von Individualismus und Kollektivismus in Teil 2: B.2.2 aufgenommen.

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der Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) in Berlin-Zehlendorf annehmen.125 Beide hatten über den Zusammenhang von „Christentum und Sozialismus“ referiert und sich hiermit offenkundig bei ihrer Kirche der Altpreußischen Union keine Freunde gemacht. Das ablehnende Schreiben126, das sie dazu kurzerhand vom Evangelischen Konsistorium der Mark Brandenburg erhielten, provozierte die beiden jungen Geistlichen zur Abfassung des flugblattgleichen Thesenpapiers Der Sozialismus als Kirchenfrage.127 Für die Nachwuchsgelehrten steht fest, was in der bekannten Eingangspassage zum Ausdruck kommt: Es war die dogmatische Fragestellung, welche bisher die Kirche bewegte; von nun an wird es die ethische sein. Noch sind die evangelischen Kirchen darauf nicht vorbereitet; weder die theoretischen noch die praktischen Probleme sind geklärt.128

Damit wird zweierlei vorausgesetzt: Zum einen steht es – so kann hier mit Blick auf die bisherigen Analysen und Kontextualisierungen gesagt werden – für Tillich außer Frage, dass es in der zeitgenössischen Situation des kulturellen Umbruchs nicht mehr um Lehrstreitigkeiten gehen kann, sondern dass Theologie und Kirche sich als Teil der Kulturbewegung sehen müssen, die sich aus der Sicht Tillichs seinerzeit vollzieht. Zum anderen gilt die Kirche als jene religiöse Form, aus der heraus eine Ethik entfaltet werden soll, die gemäß den kulturtheologischen Annahmen keine heteronome Herrschaft über die Kultur forciert, sondern darauf zu achten hat, dass der Gehalt sich zum Ausdruck bringen kann. Das wird hier ganz deutlich auf die Geistesfunktion der Sittlichkeit, also den Bereich der Ethik, ausgerichtet. Tillich führt dies explizit über die Grundlagen der Kulturtheologie ein, sodass der Religiöse Sozialismus hier bereits unverkennbar als Anwendung des durch den Kulturvortrag  Für diese zeitliche Einordnung spricht zum Beispiel, dass der Monat Mai noch vor Tillichs Christentum-Vorlesung im anstehenden Sommersemester (1919) liegt. Eine genaue Bestimmung des Anfangspunkts ist schwierig.  „Dokumente zum Konflikt mit dem Konsistorium: Tillichs Vortrag in einer USPD-Veranstaltung betreffend“, in: Ein Lebensbild in Dokumenten. Briefe Tagebücher, Berichte, Bd. V, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich hg. von Renate Albrecht und Margot Hahl (Stuttgart/Frankfurt a.M.: Evangelisches Verlagswerk, 1980), 145–146. Der Superintendent von Berlin-Kölln-Stadt schreibt dazu an Wegener: „Jedenfalls steht fest, daß die Anschauungen über den von Ihnen behandelten Stoff in weitgehendem Maß noch ungeklärt sind, daß die Gefahr schädlicher Verquickung von Politik und Religion dabei sehr nahe liegt und daß zweifellos viele Glieder der Kirche an dem Auftreten von Geistlichen in der Weise, wie Sie es getan haben, Anstoß nehmen. In Rücksicht hierauf müssen wir es als unerwünscht bezeichnen, wenn Geistliche unserer Landeskirche in derartigen Versammlungen als Vortragende mitwirken“ (146).  Tillich „Der Sozialismus als Kirchenfrage“, in: Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum Religiösen Sozialismus, Bd. II, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 21962), 13–20, 13.  Tillich „Sozialismus als Kirchenfrage“, 13.

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(1919) initiierten Programms gefasst wird: Zum einen gilt die Autonomie des religiösen Prinzips gegenüber den vorfindlichen Kulturformen. Zum anderen ist das Religiöse auf die Verschmelzung mit der Kultur angewiesen, was nachgerade das Wesen des geschichtlichen Christentums ausmacht. Formelhaft wird in den insgesamt 30 Thesen zunächst das ethische Grundprinzip eindeutig in der „Liebesethik Jesu“ beziehungsweise der „Ethik der christlichen Liebe“ gesetzt, welche die „grundlegende Norm für das Gemeinschaftsleben“129 bildet. Sofern die Ethik vom christlichen Liebesbegriff aus denkt, zeigt sie sich für Tillich notwendigerweise affin für politische Überzeugungen oder Konzepte, die sich durch Kritik an „Gewalt, Unterdrückung“, „wirtschaftliche[m] und politische[m] Egoismus“, „Nationalismus“ oder einer „militaristischen Gesellschaftsordnung“130 auszeichnen. Der zentrale Gedanke besteht darin, dass die „Idee“ oder die „Forderung“ des Religiösen Sozialismus in einem „Bewußtsein der Gemeinschaft als das Fundament des gesellschaftlichen Aufbaues“131 besteht. Das Ideal des Religiösen Sozialismus, so bündelt Tillich es ein Jahr darauf, ist Wille zur Gestaltung der Wirklichkeit, grundlegende der Wirtschaft, nach der Norm der Gerechtigkeit und ist universales, schrankenloses Menschheitserlebnis, das alle Gegensätze der Klassen, Rassen, Nationen, Konfessionen aufheben will, um des Menschen willen.132

Und in ausdrücklich biblischer Begründung kommt die so bestimmte Norm der Gerechtigkeit vornehmlich in der wechselseitigen Achtung im Sinne von Gal 3,28133 zum Austrag. Die formal gesetzte Gerechtigkeit als profan-sozialistisches Element kommt so mit dem religiösen Element überein. Konkret muss demnach die vom Sozialismus geforderte Solidarität durch den Gehalt des „Menschheitserlebnisses“ vertieft werden.134 Indem direkt zu Beginn der Ausführungen dieses Geschichtsbewusstsein mit den kulturtheologischen Grundlagen und der Zeitdiagnose zu den sozialen Umständen verknüpft wird, verbindet Tillich „Religionsphilosophie, Geschichtsphilosophie und Sozialethik“135. Die Glieder jener geschichtsbewussten Gemeinschaft

 Tillich „Sozialismus als Kirchenfrage“, 14.  Tillich „Sozialismus als Kirchenfrage“, 14.  Tillich „Sozialismus als Kirchenfrage“, 14.  Tillich, „Christentum und Sozialismus II“, in: Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum Religiösen Sozialismus, Bd. II, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 21962), 29–33.  „Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus.“  Tillich, „Christentum und Sozialismus II“, 32 f.  Danz, „Krisen der Subjektivität“, 168.

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des Religiösen Sozialismus sind diejenigen, die den „Ruf des Kairos hören.“136 Somit ist der Religiöse Sozialismus eine „ethisch normative Geschichtsphilosophie“, die sich gegen die benannten Formen wie Kapitalismus und Militarismus wendet und diese deutlich als Teil der bürgerlichen Kultur und als „wirkmächtigste Form der Dämonie“137 identifiziert. Die bürgerliche Fokussierung auf die Autonomie hat eine „Atomisierung der Einzelnen“138 zur Folge, die für Tillich durch das sozialistische Bewusstsein für die Dringlichkeit einer neuen theonomen Gemeinschaft überwunden werden kann. Hier greift wiederum das Verhältnis von Masse und Persönlichkeit, welches für Tillich dafür steht, die individualistische Form der Bürgerlichkeit in eine Gemeinschaft zu überführen, in der sich die einzelne Person als Teil der Masse erkennt. Der Ausdruck für jenes Bewusstsein – das ist die religionsphilosophische Ebene – ist der Glaube, in dem sich die Person auf das Unbedingte ausrichtet. „Daher ist mit der im Glauben sich durchsichtig werdenden Persönlichkeit ein verändertes Verständnis der Masse verbunden, und zwar derart daß die wahre Persönlichkeit die Masse zu ihrer Voraussetzung hat“139. Auch hier ist die anerkennungstheoretische Grundaussage enthalten, nach der die Person erst in der Gemeinschaft von Personen, die sich als solche anerkennen, eigentliche Person wird. Die deutlich religiöse Begründung enthält Tillichs Blick auf die Relation von Person und Gemeinschaft durch die theonome, auf den Gehalt gerichtete Masse. In Tillichs Näherbestimmung des ethischen Prinzips kommt sodann ein grundsätzliches Element im Verständnis der Nächstenliebe zur Sprache: „Denn es liegt im Wesen der Liebe, das Einzelne gerade in seiner Besonderheit zu bejahen.“140 In diesem Prinzip kommt für Tillich und Wegener die Liebesethik Jesu als Ethik der christlichen Liebe141 zum Austrag. Die Formel präformiert, was Tillich als Konstitutionsbedingungen gelingender Gemeinschaft ausarbeiten wird: eine Anerkennung des Gegenübers aus der Forderung der Nächstenliebe heraus.142 Indes liegt die Bedeutung der benannten Norm dabei in der ausdrücklichen Forderung, das „Besondere“ im anderen „zu bejahen“. Mit dieser Bestimmung der Nächstenliebe ist eine anerkennungstheoretische Struktur in den sozialen Akten der Personen bereits impliziert: Die Zuwendung zum Anderen in liebender Anerkennung kann – so lässt

 Danz, „Krisen der Subjektivität“, 168.  Danz, „Krisen der Subjektivität“, 170.  Danz, „Krisen der Subjektivität“, 171.  Danz, „Krisen der Subjektivität“, 172.  Tillich „Sozialismus als Kirchenfrage“, 15.  Vgl. Tillich „Sozialismus als Kirchenfrage“, 14.  Siehe hierzu auch unten Teil 2: B.2. Vgl. Scheliha, „Politische Ethik“, 147; M. Neugebauer, „Ethik-Konzeption“, 119.

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sich interpretieren – nicht von spezifischen Eigenschaften, politischen Ansichten und dergleichen abhängig gemacht werden, sondern basiert allein auf der Forderung des Liebesgebots, die andere Peron anzuerkennen. Zudem wird nach Tillich durch diese ethische Prämisse der Anerkennung des Besonderen der Vorwurf einer „Gleichmacherei“143 abgewehrt, mit dem sich der Sozialismus stetig konfrontiert sehe. Ein weiterer zentraler Vorwurf gegenüber dem Sozialismus, den Tillich mithilfe seiner religiösen Fundierung auszuhebeln gedenkt, ist der einer Hemmung der ökonomischen Produktionsweise. Das pariert Tillich, indem er darauf hinweist, dass die Wirtschaft für den Menschen da sei und nicht andersherum, sodass es für „Luxusgüter“ gegenüber „notwenigen Lebensgüter[n]“144 keine Rechtfertigung gebe. Zudem könne dem Sozialismus nicht sinnvoll ein „schwärmerischer Idealismus“145 vorgeworfen werden. Denn, so Tillichs Argument, jede Form eines „ethischen Idealismus“ stehe grundsätzlich vor Hindernissen, die allerdings gerade nicht zu Resignation und „Verzicht auf das Ideal“146 führen dürften – man denke im Abstand zum Text als Beispiel an den Pazifismus, auf den bezogen sich argumentieren ließe, dass dieser nicht deshalb aus der Debatte verschwinden darf, weil er als unrealistisch angesehen wird. Ein aus ethischer Sicht außerdem erhellender Vorwurf liegt darin, der Sozialismus versuche den Menschen in eine bestimmten Richtung zu formen. Tillich entgegnet hier, dass die „Pflicht der Liebe“ auf die Änderung der Umstände ziele, nicht auf die Person, denn erst wo „stumpfmachende Arbeitssklaverei“147 aufgehoben werde, lasse sich geistiges Leben ermöglichen. Damit ist die religiöse Seite des Religiösen Sozialismus bereits angedeutet. Es spricht für Tillich alles für die Einheit von Christentum und Sozialismus, weil darin die Einheit des Geisteslebens wieder zum Ausdruck kommen könne. Die Religion – so lässt sich zusammenfassen – stellt die auf unbedingten Sinn gerichtete Gemeinschaft der geistigen Personen dar, während der Sozialismus auf die dazu nötigen sozialen Bedingungen hinarbeitet. Ausgehend von der Norm des Liebesgebots ist es schließlich Aufgabe der Ethik respektive der Kulturtheologie, sämtliche Gesellschafts- und Wirtschaftsformen von innen her zu kritisieren. Dabei lasse sich, so Tillich an anderer Stelle im Aufsatz Christentum und Sozialismus I aus demselben Jahr, dem Wirken Jesu nicht schlicht eine Anleitung zu einer konkreten „Sozialreform“ entnehmen, sondern „Jesus hat [...] die sittlichen Konsequenzen aus dem absoluten Liebesgebot für seine Anhänger gezogen in dem Bewußtsein, daß das Hereinbrechen des Him-

    

Scheliha, „Politische Ethik“, 147. Tillich „Sozialismus als Kirchenfrage“, 15. Tillich „Sozialismus als Kirchenfrage“, 15. Tillich „Sozialismus als Kirchenfrage“, 15. Tillich „Sozialismus als Kirchenfrage“, 16.

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melreichs unmittelbar bevorsteht.“148 Die Ethik habe somit die Aufgabe, abzuwägen, ob bestimmte – hier soziale – Kulturformen an ihrem Unbedingtheitsbezug orientiert sind. In der Sprache der Kulturtheologie geht es somit um die Aufdeckung des Gehalts, repräsentiert in der Form. Hiermit zeigt Tillich eine realitätsnahe Einschätzung der Bedingungen einer Verschmelzung von Christentum und Sozialismus. Explizit auf dem Boden der kulturtheologischen Grundlagen kann jene Verbindung nicht auf der heteronomen Bindung an die religiöse Überzeugung basieren. Vielmehr kann das Christentum eine „starke Unterstützung“ des Sozialismus sein, wobei die „selbstgewachsene Unterscheidung“ den Primat gegenüber „feststehender Autorität“149 bekommt. Hierdurch erfolgt ein Rückbezug auf die Beziehung von Heteronomie – Autonomie – Theonomie. Es geht Tillich darum, dass eine „Gesellschaftsethik“150 nicht deshalb richtig sein kann, weil sie – zum Beispiel – „schriftgemäß“ sei. So könne eine solche Begründung auch nicht eigentlich als Protestantismus gelten, weil dieser in seinem „Wesenskern autonom“ sei.151 In diesem Schritt repliziert Tillich einmal mehr die frühesten Überlegungen aus der Vorkriegszeit, welche diesbezüglich in der Einsicht zusammengefasst werden können, dass Theonomie die Vollendung der Autonomie darstellt.152 Der Protestantismus gilt Tillich als diejenige Geisteshaltung, in der es zu eigentlicher Freiheit kommen könne, indem die Autonomie zur Theonomie vertieft werde.153 Dieses protestantismustheoretische Argument begründet Tillich – ebenfalls konsequent – mit der rechtfertigungstheologischen Einsicht: Eine „pharisäische“ „Gesetzlichkeit“154, die versuche, ihr scheinbar vollkommenes Wissen aufzudrängen, könne nicht in eine theonome Geisteshaltung führen. Will der Sozialismus – im Gegensatz zu der Auflösung der bürgerlichen Kultur – auf der Grundlage einer Einheitswirtschaft ein neues einheitliches Geistes- und Gesellschaftsleben schaffen, so muß er die Autonomie vertiefen zur Theonomie, das heißt zu einem freien unbedingten Erfassen des Unbedingten durch alle Dinge hindurch.155

 Tillich, „Christentum und Sozialismus I“, in: Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum Religiösen Sozialismus, Bd. II, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 21962), 21–28, 25.  Tillich, „Christentum und Sozialismus I“, 25. „Aber auch abgesehen von der historischen Frage ist auf dem Boden der Autonomie eine Gesellschaftsethik nicht darum richtig und eine Lehre nicht darum wahr, weil sie schriftgemäß ist, auch nicht im Sinne der Autorität Jesu.“  Tillich „Christentum und Sozialismus I“, 25.  So auch Scheliha, „Politische Ethik“, 148.  Vgl. Tillich, „Christentum und Sozialismus I“, 25 und oben: Teil 1: B.4.2.1.  Vgl. Tillich, „Christentum und Sozialismus I“, 25.  Tillich, „Christentum und Sozialismus I“, 25.  Tillich, „Christentum und Sozialismus I“, 25.

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Damit bildet der Protestantismus historisch die Bedingung dafür ab, die Idee der Rechtfertigung allein aus Gnade und im Glauben auf das geistige Leben der Menschheit insgesamt zu beziehen.156 Im Einklang mit den kulturtheologischen Grundeinsichten können sich entsprechend Erkennen, Anschauen, Recht und Gemeinschaft nur dann theonom konstituieren, sofern es nicht zu einer heteronomen Bestimmung der einzelnen Formen kommt. Auch an dieser Stelle scheint das bereits mit dem 1913er System gesetzte Rechtfertigungsprinzip als Grund der unbedingten Anerkennung absoluter Würde der Einzelnen auf. Denn Tillich macht deutlich, dass das Axiom vom „Wert der Persönlichkeit“157 und die „Anerkennung der individuellen Persönlichkeit“158 zu den maßgeblichen Effekten der Verbindung von Autonomie und Theonomie in der Geisteshaltung des Protestantismus gehört. Die Schlüsselstelle stellt heraus: Und es ist ein unverlierbares Ergebnis der sittlich-religiösen Einsicht auf protestantischem Kulturboden, daß die freie, sittlich-wertvolle Persönlichkeit nur möglich ist auf individueller seelisch-leiblicher Naturgrundlage mit ihrer unvermeidlichen logischen, physiologischen und biologischen Selbstheit, in deren Überwindung und Erhöhung der Wert der Persönlichkeit besteht.159

Hiermit gibt Tillich erstens eine religions- und geistesgeschichtliche Herleitung der Anerkennung vom Wert der einzelnen Person, die tiefgreifend allein vor dem Hintergrund der durchgängigen geistphilosophischen Überlegungen verstanden werden kann. In dieser Hinsicht bedeutet der Passus zur „seelisch-leiblichen Naturgrundlage“ eine Fortführung der Differenz von Natur und Geist. Die Entfaltung des Eigenwerts jeder Person macht Tillich fest am Hinausgehen über die Naturgebundenheit. Im Hinausgehen aus dieser Unmittelbarkeit zeige sich der Mensch fähig, sich von der vollständigen Anhaftung an die Naturgrundlage abzulösen. Er gehe über die rationalen wie leiblichen Formen der Selbstheit hinaus und werde sittlich zu einer freien Person, deren Wert sich durch dieses Über-sich-Hinausgehen zur Geltung bringe. Indes gelten für Tillich die zuvor gesetzten Prämissen aus Rechtfertigung und dem Liebesgebot fort. Das heißt: aus ethischer Sicht führt nicht die Ablösung von der Selbstheit zu bestimmten Eigenschaften, die den Wert der Person erst begründen, der ihr rechtfertigungstheologisch zugesprochen ist. Vielmehr will Tillich den Prozess beschreiben, der im Hinausgehen über die Naturhaftung besteht und seinen Höhepunkt in der gegenseitigen Anerkennung des individuellen Wertes findet.

   

Vgl. Tillich, „Christentum und Sozialismus I“, 25. Tillich, „Christentum und Sozialismus I“, 26. Scheliha, „Politische Ethik“, 148. Tillich, „Christentum und Sozialismus I“, 26.

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B Sozialethische Anschlussperspektiven (1919–1933)

Zweitens bleibt Tillichs Emphase der gehaltbezogenen Gemeinschaft ohne Einbußen bestehen. Ähnlich formuliert Tillich in Masse und Geist unter der Überschrift „Die Erhebung der Persönlichkeit aus der Masse“160: Die mystische Masse trägt in ihrer Tiefe in unmittelbarer, ungebrochener Weise ein einheitliches ‚Prinzip‘, ein fundamentales Weltgefühl, eine Grundstellung des Bewußtseins zu dem Unbedingt-Wirklichen [...]. Dieses Grundprinzip gibt jedem Einzelnen und allen Dingen ihre Bedeutung. Es stellt jeden an seinen Platz und gibt allen eine Beziehung, durch die sie Träger des alles erfüllenden Grundgefühls werden. Der Gegensatz von Subjekten und Objekten des gesellschaftlichen Lebens, die Wurzel aller mechanischen Massenbildung, ist aufgehoben. Jeder ist Subjekt, insofern er eine eigenartige Darstellung des Grundprinzips ist, und jeder ist Objekt, indem durch ihn der Sinn des Ganzen zur Verwirklichung kommt.161

Dieses Geschehen nennt Tillich die ideale Synthese von Persönlichkeit und Masse.162 In einer idealen Masse, die er als mystische, vereinigende Masse kennzeichnet, soll es zu einer Gemeinschaft kommen, in der sich Subjekt und Objekt wechselseitig konstituieren. Voraussetzung dafür ist die Ausrichtung auf den Gehalt, der eine solche Gemeinschaft ermöglicht. Pointiert bestimmt Tillich diesbezüglich an anderer Stelle die Aufhebung des Gegensatzes von Person und Gemeinschaft als „Wurzel meiner ‚sozialistischen Sozialethik‘. Für mich offenbart sich Gott nicht nur und nicht primär durch das geformte Individuum, sondern durch die Schicksal-tragende allgemein geformte Masse, dem Mutterboden aller Mystik.“163 Tillichs Vorstellung einer Masse, in der es kein abgetrenntes Subjekt in einer – so könnte man rückblickend auf die frühen Studien deuten – isolierten Vereinzelung mehr geben soll, richtet sich wiederum implizit auf die individualistische Bürgerlichkeit. Dass Tillich hier zeitweise in einen Kollektivismus verfällt, ist wie erwähnt aufgrund seiner stetigen Hervorhebung der werttragenden Einzelpersönlichkeit eher zu verneinen. Aus der Perspektive der gegenseitigen Anerkennung jedenfalls wird mit diesen Überlegungen die Balance von Person und Gemeinschaft nochmals als Grundlage des Handelns verstetigt. Die grundsätzlichen Ausführungen zur Fundierung der religiös-sozialistischen Ethik führt Tillich 1923 in seinen Grundlinien des religiösen Sozialismus zusammen. Auf Basis der kulturtheologischen Grundannahmen, ihrer Verbindung mit den geschichtstheologischen Grundbegriffen (Kairos, Theonomie und das Dämonische) und den bereits erläuterten Haltungen (sakramental, rational und prophetisch) ent-

 Tillich, Masse und Geist, 49.  Tillich, Masse und Geist, 52 (im Original teils kursiv).  Vgl. Tillich, Masse und Geist, 52.  So Tillich in einem Brief an seinen Lehrer Fritz Medicus: „Tillich an Fritz Medicus (18.12.1920)“, in: „Die Korrespondenz zwischen Fritz Medicus und Paul Tillich“, hg. von Friedrich Wilhelm Graf/Alf Christophers, ZNThG 11 (2004), 126–147, 129–131, 130.

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wirft Tillich in direkter Anwendung des Theorie-Praxis-Schemas die nötigen Konsequenzen als „Kampf“164 des Religiösen Sozialismus in Wissenschaft, Kunst, Recht, Wirtschaft, Staat und Gemeinschaft und bietet somit nochmals eine Variante der einzelnen Sphären der Praxis.165 Bevor die relevanten Aspekte aus der praktischen Sphäre betrachtet werden, gilt es, ein zentrales Element mit Blick auf das Verständnis der Liebe aufzuzeigen, weil darin eine erste nähere Bestimmung der Macht zumindest in kurzer Form aufscheint. Denn die Beziehung von Liebe und Macht stellt für Tillich die fundamentale Triebfeder aller positiven wie negativen Entwicklungen der Geistesgeschichte dar. Er unterscheidet dazu Liebe als „Wille zur Hingabe“ und Macht als „Wille zur Selbstbehauptung“.166 Liebe und Macht sind die polaren und doch in der Wurzel identischen Urstoffe aller schöpferischen Formgebung und darum die Träger der göttlichen und der dämonischen Ekstase. [...] Beide Kräfte sind in jeder schöpferischen Wirklichkeit enthalten [...]. Doch ist in jeder Erscheinung das eine oder das andere deutlicher zu erkennen. Die Herrschaft der reinen Form sucht beides auszutreiben; und die vollendete Autonomie der Form würde eine rationale Wirklichkeit ohne Erotik und Dynamik schaffen. Sie würde ohne Dämonie, aber auch ohne Göttlichkeit sein.167

Eine Welt ohne beide Seiten – das Göttliche und das Dämonische – wäre wiederum eine, sinntheoretisch gesagt, entleerte Welt, die nicht „Grund und Abgrund“168 zugleich in sich trüge. Diese Grundbestimmung zweier Urkräfte, die die Dynamik der kulturellen, religiösen und sozialen Formen antreiben, stellt deshalb eine Voraussetzung für das ethische Handeln im Sinne des Religiösen Sozialismus dar, weil darin die prinzipielle Einheit von Form und Gehalt zum Ausdruck kommt. So ist es für Tillich auch hier weiterhin grundlegend, dass die „Dämonien“, die im „gegenwärtigen Kairos“ erkannt werden, nur bekämpft werden können, wenn dies in der Haltung auf das „Unbedingte“169 geschieht. Konkret bedeutet das: nur sofern der Religiöse Sozialismus kulturtheologisch die autonomen Formen aufnimmt und sie autonom belässt und gleichzeitig auf die Darstellung eines neuen Gehalts drängt, kann sich eine prophetische Haltung durchsetzen, die eine theonome Gemeinschaft freier Personen ermöglicht.170 Tillich führt also die sinntheoretisch begründete

 Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 98.  Vgl. Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 98–117. Tillich verweist auf das System der Wissenschaften gleichen Jahres, wo die Geistesfunktionen näher erklärt seien (vgl. 101).  Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 100.  Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 100.  Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 100.  Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 100.  Vgl. Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 101.

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B Sozialethische Anschlussperspektiven (1919–1933)

Spannung von Form und Gehalt fort und nimmt dies als Voraussetzung, um nicht in einen heteronomen Sakramentalismus oder aber eine überhöhte Individualitätskultur zurückzufallen. In der praktischen Sphäre tritt wiederum die anerkennungstheoretische Pointe hervor und wird an der Geisteshaltung transparent gemacht. In den Bereichen Recht und Gemeinschaft sei in der sakramentalen Haltung die „autonome Persönlichkeit“ unterdrückt und ganz dem „Boden“, dem „Volk“ oder der „Familie“171 verhaftet. Der Machtwille überwiege derart, dass zwar die Person und ihre „Bedeutsamkeit“ in das Kollektiv eingeschlossen sei, aber die autonome Entfaltung nicht möglich sei, sodass ungerechte Formen wie etwa die Sklaverei daraus folgten.172 Um ihretwillen beginnt der theokratische Kampf gegen den Sakramentalismus, der Kampf um Gerechtigkeit, Gleichheit, Anerkennung der Persönlichkeit, Befreiung von der Naturknechtschaft. In diesem Kampfe, der am gewaltigsten und erfolgreichsten von der jüdischen Prophetie geführt ist, muß sich der religiöse Sozialismus stellen; er muß alle sakramentalen Dämonien, ihre feudalen, bäuerlichen und kirchlichen Reste bekämpfen.173

In einer Linie mit der alttestamentlichen Sozialkritik soll der Religiöse Sozialismus den Kampf für die Ideale der Gleichheit und der Anerkennung der Person durchsetzen. Es komme dazu darauf an, dass ebendiese Ideale „leere Formen“ „Abstraktionen“ und nicht bereits „Wirklichkeit“174 seien. Dadurch stünden sie in der Gefahr, vom „Machtwillen“ als Trieb zur Selbstbehauptung vereinnahmt zu werden, solange sie nicht auf den Gehalt ausgerichtet würden.175 Die Dimension der Anerkennung und damit das „Verhältnis von Person zu Person“ komme im Recht so zum Tragen, dass zunächst die sakramentale Beziehung durch die autonom-rationale überwunden werde, dann jedoch entsprechend dem Muster der Entleerung den „lebendigen Gehalt der Gemeinschaft“176 verliere. „Die liberale Idee der freien Persönlichkeit wird naturalistisch-subjektiv umgebogen. Die stärkste intellektuelle und willensmäßige Kraft hat die größten Chancen, in dem rationalen Prozeß der Dingausnutzung zu siegen.“177 Die Kapitalherrschaft, so Tillichs Zielpunkt an dieser Stelle, führe zu einem Machtkampf, in dem alle Beziehungen sich an der größtmöglichen wirtschaftlichen Kraft ausrichteten. Tillichs Antwort des Religiösen Sozialismus liegt darin, die einzelne Person dadurch zu       

Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 105. Vgl. Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 105. Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 105. Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 105. Vgl. Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 105. Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 108. Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 108 f.

2 Die ausgereifte Sozialismuskonzeption (1927–1933)

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stärken, dass anstelle der rein „formalen Rechtspersönlichkeit“178, also wiederum einer abstrakten Gleichheit, eine vom Eros, vom Willen zur Hingabe getragene und wiederum anerkennungstheoretisch formierte Idee des Rechts tritt. Tillich verknüpft das anhand des „Lehngedankens“ mit einer explizit ökonomischen Option. Wo dagegen die sozialen Beziehungen bestimmt sind durch die innere Mächtigkeit und Eroskraft der Einzelnen und der rechtssetzenden Gemeinschaften, da tritt, trotz voller Anerkennung der formal rechtsgleichen Persönlichkeit, die Idee des Lehens, d. h. die Idee einer Verfügung über die Güter entsprechend der inneren Mächtigkeit und Bedeutsamkeit des Einzelnen und der einzelnen Gemeinschaft für den Lebensgehalt des Ganzen.179

In dieser rechtlich-ökonomischen Form sieht Tillich eine Entsprechung zum theonomen Ideal, weil darin der überschüssige Besitz seine „Exklusivität“180 verliere und Güter der Gemeinschaft dienten, insoweit sie gebraucht würden.

2 Die ausgereifte Sozialismuskonzeption (1927–1933) 2.1 Kontextualisierung 1924 wird Tillich außerordentlicher Professor in Marburg, übernimmt aber bereits ein Jahr später die Professur für Religionswissenschaft an der Technischen Hochschule in Dresden. 1927 wird er zudem Honorarprofessor für Religions- und Kulturphilosophie in Leipzig. Im April 1929 erhält Tillich dann als Nachfolger von Hans Cornelius den Ruf auf die ordentliche Professur für Philosophie und Soziologie einschließlich Sozialpädagogik in Frankfurt a.M.181. In Frankfurt lernt Tillich auch Max Horkheimer und Theodor W. Adorno kennen, der sich bei Tillich mit einer Studie zu Kierkegaard habilitierte.182 Beide wurden nicht nur zu seinen Mitarbeitern und Schülern, sondern auch zu seinen lebenslangen Freunden.183 Damit hatte  Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 111.  Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 111.  Tillich, „Grundlinien des religiösen Sozialismus“, 111.  Vgl. zu den komplexen Hintergründen und den Vorbehalten gegenüber Tillich bezüglich der Übernahme des Lehrstuhls in Frankfurt: Erdmann Sturm, „Historische Einleitung zu den Vorlesungen über Geschichtsphilosophie und Sozialpädagogik (1929/30)“, in: EN XV, XXIII–LI. So verfasste unter anderem Rudolf Bultmann ein „Sondervotum“, in dem er starke Bedenken gegenüber Tillich äußerte und bezweifelte, dass Tillich in der Absicht stand, „‚kirchlicher Theologe zu sein‘“ (XXVIII). Zur biographischen Einordnung vgl. Pauck/Pauck, Tillich, 105–145.  Theodor W. Adorno, Kierkegaard: Konstruktion des Ästhetischen (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1962).  Vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf, „Paul Tillich im Exil“, in: Christian Danz/Werner Schüßler (Hg.), Paul Tillich im Exil (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2017), 11–77, 11–17.35–68 sowie die

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Tillich bis zur Emigration 1933 in seiner gesamten akademischen Laufbahn keine Professur für Systematische Theologie inne. Das Jahr 1926 stellt eine deutliche Zäsur gegenüber der ersten Hälfte der Weimarer Zeit und den religiös-sozialistischen Hoffnungen dar.184 Die anfängliche Euphorie der kulturtheologischen Aufbruchsstimmung weicht in folgenden Jahren einer ernüchterten und realitätsnahen Sicht auf die politischen, sozialen und geistigen Fragen der gegenwärtigen Situation.185 Darin kommt es bei Tillich zu einer deutlichen Umformung seiner religiös-sozialistischen Theoriebildung. Zudem wendet er sich zusehends einer tieferen Auseinandersetzung mit dem Problem und dem Wesen der Macht zu und integriert in diese Überlegungen eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Konzept der Anerkennung. Damit ist der Zielpunkt dieses Kapitels benannt. Es sollen die wesentlichen Eckpunkte skizziert werden, die Tillich zur weiteren Ausgestaltung der Theorie begegnender Anerkennung in der Frankfurter Zeit führen. Prinzipiell lässt sich die Umformung in Tillichs Denken um 1926 an den Leitgedanken des „Gläubigen Realismus“ und der Abschwächung der religiös-sozialistischen Hoffnung festmachen: Der gläubige Realismus steht dabei für eine neue Sachlichkeit,186 die Theonomie nicht mehr als Realisierung versteht, die „jetzt“ geschieht, sondern als zeitübergreifendes Ideal. Auch der ‚Kairos‘ erhält 1926 eine andere Färbung und wird für Tillich mehr und mehr zu einer Beschreibungskategorie für eine religiöse Haltung. Für den tatsächlichen und konkreten Moment einer neuen kulturreligiösen Synthese – wie er sie noch um 1919 im Blick hatte – scheint sich der Kairos nun nicht mehr zu eignen.187 Mit anderen Worten: Die These des Religiösen Sozialismus

derzeit in Wien entstehende Arbeit von Friedrich Schumann, Paul Tillich und die Frankfurter Schule.  Darüber gibt z. B. ausführlich Tillichs Buch Die religiöse Lage der Gegenwart (1926), in: Die religiöse Deutung der Gegenwart. Schriften zur Zeitkritik, Bd. X, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1968), 9–93, Auskunft.  Vgl. Sturm/Schüßler, Tillich, 12 f.  Vgl. dazu einschlägig den zweiten Kairos-Aufsatz von 1926, „Kairos. Ideen zur Geisteslage der Gegenwart“, in: Der Widerstand von Raum und Zeit. Schriften zur Geschichtsphilosophie, Bd. VI, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1963), 29–41, 40 f. Katharina Wörn, Ambiguität. 180 f., hat das durch eine kontextuelle Einordnung der „neuen Sachlichkeit“ aufgezeigt. Vgl. zudem die knappe Deutung der Wendung aus ethischer Sicht bei Hans Joachim Schliep, „Gläubiger Realismus. Das ‚Ethische‘ bei Paul Tillich“, in: LM 25 (1986), 414 ff.  So Tillich in „Kairos II“, 35: „Es ist, als ob ein Reif gefallen wäre auf all die Dinge, von denen hier gesprochen ist, heißen sie Jugendbewegung oder Lebensphilosophie, heißen sie Expressionismus oder religiöser Sozialismus. War nicht alles Romantik, Rausch, Utopie?“. Allerdings bedeute diese Einschränkung nicht eine Aufgabe der Kairos-Idee. Die Erlösung die Verwirklichung dessen, was die Prophetie schaut, liegt jenseits der Zeit. Das ist die Aufhebung der Utopie. Aber

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bleibt bestehen. Allerdings fordert ebenso die Bürgerlichkeit als Antithese ihr Recht ein und verhindert die Synthese der Einheitsvision. Hierzu ist es zunächst von Bedeutung, dass Tillich in den Jahren auch die ethischen Grundlinien des Religiösen Sozialismus nochmals den veränderten seins- und existenzialphilosophischen, vor allem aber anthropologischen Einflüssen als neuen Theoriehintergründen anpasst. Diese Umstände bleiben im Folgenden unberücksichtigt.188 Vielmehr wir gezeigt, wie die anerkennungstheoretische Grundlegung des Handelns zwischen Personen in dieser Zeit eine weitere Konturierung erfährt. Dazu wird zuerst (2.2) Tillichs Schrift Die Überwindung des Persönlichkeitsideals (1927) als zentrale Perspektivierung der Anerkennung gedeutet, in der Tillich die Grundlage eines anerkennungstheoretischen Begriffs der Freiheit legt. Anschließend (2.3) werden exemplarische Ausschnitte aus der Sozialistischen Entscheidung (1932/33) als Schlusspunkt von Tillichs ethischem Denken in der Zeit vor dem Exil erörtert.

2.2 Anerkennung und Macht zwischen Individualismus und Kollektivismus: Die Überwindung des Persönlichkeitsideals (1927) Vermutlich gehörte Tillichs Schrift Die Überwindung des Persönlichkeitsideals. Ein Vortrag von 1927 zu seinen ethischen „Lieblingstexten“. In jedem Fall zeigt die mehrfache Veröffentlichung samt späterer Übersetzung ins Englische, dass er in diesem Brückentext sein Denken prägnant erfasst sah.189 Indes stellt sich die

es ist nicht die Aufhebung des Handelns. Denn alles Handeln, das im Bewußtsein des Kairos geschieht, also das unbedingt schicksalsgebundene und darum unbedingt freie Handeln, ist Handeln mit der Richtung nach oben, mit der Richtung auf die transzendierte Utopie“ („Kairos II“, 35). Vgl. zur Wendung auch die Kleine Studie „Gläubiger Realismus“, in: Philosophy of Religion/ Religionsphilosophische Schriften, Bd. 4, Main Works/Hauptwerke, hg. von John P. Clayton (Berlin/ New York: Walter de Gruyter, 1987), 183–192.  Vgl. dazu Schüßler, „Der Mensch und die Philosophie. Zur existentialphilosophischen und anthropologischen Wende Paul Tillichs in seiner Frankfurter Zeit“, in: Gerhard Schreiber/Heiko Schulz (Hg.), Kritische Theologie. Paul Tillich in Frankfurt [1929–1933] (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2015), 215–249; Fritz, Menschsein als Frage, 346–395.  Hier wird der Abdruck aus der Hauptwerke-Ausgabe verwendet: Writings in Social Philosophy and Ethics/Sozialphilosophische und ethische Schriften, Bd. 3, Main Works/Hauptwerke, hg. von Erdmann Sturm (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1998), 130–150. In dieser Edition sind Tillichs Anmerkungen aus anderen Versionen mit aufgeführt. Zuerst erschienen war der Vortrag von 1926 im darauffolgenden Jahr in dem von Richard Kroner herausgegeben Band XVI der Internationalen Zeitschrift für Philosophie der Kultur, 68–85. Sodann nahm Tillich ihn sowohl in seinen Band Religiöse Verwirklichung (Berlin: Furche-Verlag, 21930), 168–198 als auch in die Aufsatzsammlung Protestantismus. Prinzip und Wirklichkeit, Stuttgart 1950, 159–180 auf. Hier änderte Tillich den Titel in

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Frage, ob die Wahl des Titels mit dem Begriff der „Überwindung“ auf den Inhalt bezogen missverständlich und daher unglücklich gewählt war. Eine Überwindung der Persönlichkeit jedenfalls wird darin nicht intendiert. Vom Persönlichkeitsbegriff her befasst sich Tillich im Vortrag einmal mehr mit den Problemen der Intersubjektivität. Nach der Konzipierung einer umfassenden Sinntheorie richtet er sein Interesse weiterhin auf die Frage, wie sich Gemeinschaft sinnvoll ereignen kann. Dazu greift er jetzt nicht mehr vornehmlich auf den idealistischen Grundbegriff der „sittlichen Persönlichkeit“ zurück. Entsprechend der eintretenden Ernüchterung steht zudem die Idee einer neuen, mystisch begriffenen Masse hier nicht mehr im Fokus, wie es unter anderem 1922 in der Abhandlung Masse und Geist der Fall war.190 Vielmehr nimmt Tillich mit Existentialismus, Lebensphilosophie und philosophischer Anthropologie wiederum den Geist der Zeit auf.191 Deutlich wird im Text von 1927, dass Tillich trotz der einsetzenden Ernüchterung um 1926 fortlaufend nach Antworten auf die Sinnentleerungen Ausschau hält. Auch wenn sich der bürgerliche Geist nicht durch eine neue Synthese aus Religion und Kultur und die Realisierung dieser Synthese im Sozialismus durchsetzen ließ, ändert dies doch nichts an der auf Sinnverlust basierenden Stellung des zeitgenössischen Menschen. Die Anerkennung im Zusammenspiel mit der „Persönlichkeit“, der „Macht“ beziehungsweise „Mächtigkeit“ und der „Sinnforderung“ – so der Grundgedanke der folgenden Interpretation – bewahrt Tillich vor dem Verfall in einen Kollektivismus, ohne andersherum in einen Individualismus abzugleiten. Die Anerkennung bildet das Vermittlungskonzept zwischen einseitiger Konzentration auf das Individuelle oder das Kollektive. Zunächst ist dazu die Sinnforderung kurz zu resümieren und ihr Bezug zum Machtbegriff zu zeigen. 2.2.1 Anerkennung, Macht und Sinnforderung Für ein Verständnis der Aussagen Tillichs im Persönlichkeitsvortrag ist der Machtbegriff zentral, den Tillich unter dem einleitend benannten Eindruck der existentialontologischen und anthropologischen Justierung konturiert. Für den Zusammenhang

„Persönlichkeitsidee und Persönlichkeitsideal“. Der Text wurde zudem 1965 in den Gesammelten Werken aufgenommen: Das religiöse Fundament des moralischen Handelns, Bd. III, Gesammelte Werke hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1965), 383–100. 1948 publizierte Tillich die englische Übersetzung: The Idea and the Ideal of Personality, in: Paul Tillich: The Protestant Era, Transl. by James L. Adams, Chicago 1948, 115–135. Vgl. zu der Publikationsgeschichte die Einleitung zum Text von Sturm in MW 3, 131–132.  Siehe dazu die Bemerkungen oben: Teil 2: B.1.3.  Vgl. zur Rezeption dieser Strömungen, besonders Schelers, Heideggers und Diltheys: Fritz, Menschsein als Frage, 171–186.

2 Die ausgereifte Sozialismuskonzeption (1927–1933)

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dieser Untersuchung sollen lediglich einige Grundgedanken zum Machtverständnis aus dem werkgeschichtlichen Kontext und auf die Ethik zugespitzt diskutiert werden. Dabei ist aus dieser Perspektive zunächst auffällig, dass für Tillich das Verständnis der sozialistischen Ethik unmittelbar mit dem Verständnis der Macht und der Sinnforderung gekoppelt ist. Auch in dieser Zeit, die nicht mehr der Aufbruchsstimmung der frühen 1920er Jahre entspricht, sieht Tillich das Ziel des Religiösen Sozialismus eindeutig in der Verwirklichung einer auf Sinn gerichteten Gemeinschaft: Die Forderung einer Gesellschaft, in der es jedem Einzelnen in jeder Gruppe möglich ist, ihren Lebenssinn zu erfüllen, die Forderung einer sinnerfüllten Gesellschaft. – Die Frage nach dem Lebenssinn tritt in allen Kreisen der gegenwärtigen Gesellschaft, vor allem aber im Proletariat immer mehr in den Vordergrund. Sie ist die tiefste und zugleich umfassendste Frage192.

Damit wird die Sinnforderung nochmals als Fixpunkt des Religiösen Sozialismus festgemacht. Im Blick auf das „Proletariat“ hat Tillich die soziale Gruppe im Blick, die insbesondere unter den sinnwidrigen Umständen einer „materiell-ökonomischen Grundlage“193 der Gesellschaft leide. Für Tillich vermittelt die Forderung nach Sinnerfüllung zwischen Freiheit, bei der der „Einzelne“ in der Gemeinschaft und bei der die „Gruppe“194 im Vordergrund stehe. Sieht man von den geschichtsphilosophischen und geistesgeschichtlichen Herleitungen ab und fokussiert stattdessen die sinntheoretisch begründete Ebene der interpersonalen und sozialen Handlungen der Person, sind es von hier aus fünf Aspekte, unter denen die Ethik des Religiösen Sozialismus sich für Tillich anerkennungstheoretisch zusammenfassen lässt. Erstens kann die religiöse-sozialistische Ethik sich weder auf ein „primitiv eudämonistische[s]“ noch „heroische-idealistische[s]“195 Prinzip berufen. Damit führt Tillich erneut seine ursprüngliche und 1913 erarbeitete Mittelposition fort: Für die Frage der menschlichen Handlung gilt zum einen weiterhin, dass eine „heteronome“ Ethik sich nicht als Begründung des Handelns eignet, weil darin einseitig die konkrete Situation unter einem festen Prinzip – dem Glück möglichst vieler – im Fokus steht. Zum anderen gilt Tillich – entsprechend der Theologischen Ethik von 1913 – die rein „autonome“ kantische Pflichtethik als unbrauch-

 Tillich, „Sozialismus“ in: Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum Religiösen Sozialismus, Bd. II, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 21962), 139–150, 143.  Tillich, „Sozialismus“, 143.  Tillich, „Sozialismus“, 143.  Tillich, „Religiöser Sozialismus II“, in: Writings in Social Philosophy and Ethics/Sozialphilosophische und ethische Schriften, hg. von Ermann Sturm (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1998), 203–218, 213.

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bar, weil sie den Menschen wiederum unter ein fremdes „jenseitiges Gesetz“196 stellt, zu dem er keinen wirklichen Bezug hat. Die Vermittlung beider Formen der Ethik – die Funktion, die die Theonomie im frühen System hatte – wird von Tillich nun in ontologischer Weise formuliert: Die Einheit von Sein und Sinn bedeutet eben dieses, daß schon in den unmittelbaren Triebimpulsen Hinwendung zum Sinnhaften enthalten ist und umgekehrt in der Hinwendung zu den höchsten Sinnformen noch Triebtendenzen tragend sind.197

Mit der Einheit von Sein und Sinn will Tillich auf den Begriff bringen, dass der Mensch stets zwischen zwei Polen zirkuliert. Zum einen existiere der Mensch in einer Gebundenheit an das Sein, was Tillich mit dem Vitalen, dem Leben, beschreibt. Diese Gebundenheit wird zum anderen gebrochen, sobald der Mensch als Geist über seine natürliche Bindung hinausgeht. Diese Gebrochenheit erlebt er sodann als „Bedrohteit des eigenen Seins.“198 Die Gebrochenheit entspringt dem „Geist-Sein“199 des Menschen selbst. Wie also das Hinausgehen aus der Einheit mit der Wahrheit in den frühen idealistischen Texten nutzt Tillich wieder die Figur des „Über-sich-hinaus-Gehens“ des Menschen als Freiheit oder Geist. Auf diese „radikale Bedrohtheit“, die mit dem geistigen Sein einhergeht, reagiert der Mensch mit der „Frage nach einer Getragenheit, die ebenso radikal ist, eben darum aber nicht der menschlichen Situation entspringen kann, sondern dem Jenseits [...] seiner Gebrochenheit.“200 Der somit anthropologisch gewendete Ansatz des Religiösen Sozialismus richtet sich folglich auf den unbedingten Sinn aus, der dem Menschen zugesprochen werden muss, um sich der Bedrohtheit entgegenzustellen. Im Anschluss daran wird zweitens die vermittelnde Form der Ethik mit dem Begriff der Begegnung veranschaulicht, welche für Tillich die Situation moralischer Entscheidung beschreibt. Gemäß der Abgrenzung von rein eudämonistischen wie deontischen Ethiken müsse die Ethik des Religiösen Sozialismus „dynamisch“ sein und kein „abstraktes, allgemein-gültiges Wert-System“201 entwerfen, sondern ausgehen von einem im Seienden selbst enthaltenen Forderungscharakter, der je nach Art der Begegnung des Menschen mit einem Seienden gewandelt wird, der erfüllt und verfehlt werden kann, der aber immer konkret ist.202

      

Tillich, „Religiöser Sozialismus II“, 213. Tillich, „Religiöser Sozialismus II“, 213. Tillich, „Religiöser Sozialismus II“, 210. Tillich, „Religiöser Sozialismus II“, 210. Tillich, „Religiöser Sozialismus II“, 210. Tillich, „Religiöser Sozialismus II“, 213. Tillich, „Religiöser Sozialismus II“, 213.

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Insofern stellt die Begegnung von Person zu Person den Ort des Ethischen dar, während Tillich in „abstrakten Wertsysteme[n]“ Konstruktionen „ideologisch herrschender Gruppen“203 sieht. Die Begegnung als stets neues Geschehen, in dem für die Person im Anderen die Begrenzung des eigenen Handelns transparent wird, führt Tillich hier als eine zentrale Kategorie seines anthropologischen Denkens ein. Ein dritter Aspekt der sozialistischen Ethik expliziert Tillich am Bereich des Pädagogischen. Denn für ein auf Sinn ausgerichtetes Leben sei es notwendig, entsprechende Bedingungen zu schaffen, in denen der Mensch seiner „Sinnentleerung“204 entgegenarbeiten kann. Diese Umstände herzustellen, ist der eigentliche Zielpunkt der Kritik an der Kapitalherrschaft, die zu einer Gliederung in Klassen führt und der nur entgegengewirkt werden kann, sofern Bildung kein elitäres Produkt darstellt.205 Viertens überträgt Tillich die Spannung von Sein und Sinn auf die „Hingabe an die Sinnforderung des Begegnenden“206 und erklärt dies anhand seiner Kritik an utopistischen Formen der Ethik: Die Annahme, so Tillichs Argument, der Mensch sei für sich genommen vollständig gut und es seien allein die sozialen Bedingungen, die ihn ins Negative ziehen, verkenne eben jene Spannung aus Sein und Sinn. Diese widerspricht für Tillich dem Wesen des Menschen. Denn so werde angenommen, eine bestimmte Institution der Sozialform könnte eine vollkommene Welt erschaffen. Dagegen spricht für Tillich die anthropologische Grundannahme, dass das Sein einer Person stets in der Lage und der Gefahr stehe, „fremdes Sein zu vergewaltigen“.207 Unter den genannten vier Grundlagen gelangt Tillich fünftens zur Verknüpfung von Macht, Sinnforderung und Anerkennung. Zwar bezieht er zu diesem Zweck bereits die weiterführenden Fragen nach politischer Anerkennung von Machtgruppen und dergleichen ein.208 Allerdings geht es weiterhin um die Grundanlage menschlicher Beziehung. Das erörtert Tillich zuerst in Wiederaufnahme der Polarität von Liebe und Macht. Diese sei nach Ansicht des Religiösen Sozialismus

 Tillich, „Religiöser Sozialismus II“, 213.  Tillich, „Religiöser Sozialismus II“, 213.  Vgl. Tillich, „Religiöser Sozialismus II“, 213.  Tillich, „Religiöser Sozialismus II“, 213.  Tillich, „Religiöser Sozialismus II“, 213.  Vgl. dazu auch Tillichs Vorlesung über Geschichtsphilosophie (Wintersemester 1929/30), in: Vorlesungen über Geschichtsphilosophie und Sozialpädagogik (Frankfurt 1929/30), Bd. XV, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Erdmann Sturm (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2007), 1–289 und unten in diesem Abschnitt.

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die Basis für eine künftige Gesellschaft, die auf beiden Polen beruht: „Macht als Selbstverwirklichung des Einzelnen wie der Gruppe, Liebe als Hingabe an den Sinn fremder Selbstverwirklichung“.209 Prinzipiell ist hiermit die Konstitution von wechselseitiger Anerkennung bereits vorweggenommen. Als Sein, dass sich in seinen theoretischen oder praktischen Vollzügen zu verwirklichen versucht, stößt die Person auf das andere Sein mit demselben Interesse an dem eigenen Über-sich-hinaus-Gehen. Macht beruht grundsätzlich auf – meistens unbewußter – Anerkennung der überragenden Mächtigkeit fremden Seins. [...] Anerkennung und Hingabe an den Sinn des Anderen setzen ein übergreifendes Sinnprinzip voraus. Eine Gruppe, in der ein solches vorhanden ist, könnte als Gemeinschaft bezeichnet werden [...]. Die Entstehung einer sinnerfüllten Gemeinschaft, in der die sinnhafte Mächtigkeit fremden Seins zur Anerkennung gelangen kann, oder, was dasselbe ist, die Entstehung einer Gemeinschaft als Einheit von Macht und Liebe ist das sozialethische Ideal des religiösen Sozialismus.210

In Tillichs Machttheorie zeigen sich die „Mächtigkeit“ oder „Seinsmächtigkeit“ als diejenigen Wendungen, die das Sein grundlegend beschreiben.211 Diese Konstellation hat er besonders in der Studie Das Problem der Macht 1931 erarbeitet.212 Und „bei näherer Untersuchung der Machtheorie Tillichs wird deutlich, dass diese eine Lösung des Sinnproblems darstellt.“213 Der Terminus Mächtigkeit bedeutet bei Tillich die Möglichkeiten der Person, über sich hinaus zu gehen und eigenes Sein zu verwirklichen. Wie durch die voranstehenden Kapitel deutlich geworden ist, hat Tillich hier wiederum theoretische und praktische Vollzüge allgemein im Blick. Sofern von Realisierung die Rede ist, kann dies von intellektuellen Ideen, dem künstlerischen Ausdruck, der Gestaltung von Gemeinschaft bis hin zur politischen Umsetzung zunächst alles betreffen. Zentral ist indes einmal, dass diese Verwirklichung sich grundsätzlich in der Begegnung mit anderen Personen vollzieht, die über dieselbe Seinsmächtig-

 Tillich, „Religiöser Sozialismus II“, 214.  Tillich, „Religiöser Sozialismus II“, 214.  Vgl. dazu und zur Machtheorie insgesamt Schüßler: Macht (2005); Danz, „‚Sein [...] ist die Macht zu sein‘“ und Atchadé, Philosophie der Macht, bes. 190–205.  Tillich, „Das Problem der Macht. Versuch einer philosophischen Grundlegung“, in: Writings in Social Philosophy and Ethics/Sozialphilosophische und ethische Schriften, hg. von Erdmann Sturm (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1998), 249–268.  Atchadé, Macht, 181.

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keit verfügen.214 Sodann zielt die Verwirklichung stets auf Sinn und bildet dadurch den Versuch der Person, Sinnlosigkeit zu überwinden, ab.215 Dieses wechselhafte Realisieren charakterisiert die Macht, und das gesamte Sein bildet den „Ausgleich von Mächtigkeitsspannungen“.216 Damit stellt sich der Machtbegriff im Ansatz als normativ heraus, weil darin das gegenseitige Begegnen der Mächtigkeiten zum Ausdruck kommt.217 Die Verknüpfung der Macht mit Sinnforderung und Anerkennung stellt Tillich in der Folge als Korrelation heraus: „Wo irgend Macht vorliegt, liegt es so, daß ein Korrelationsverhältnis von Sinn und Anerkennung, von Sinn da ist. Macht ist immer Korrelat von Anerkennung. Eine nicht anerkannte Macht gibt es nicht.“218 Die Sinnforderung kommt dazu als Korrelat der Macht zum Ausdruck, weil die Person in jeder Begegnung, also jedem Vollzug des Seins, auf die Sinnverwirklichung zielt: „Macht ist sinnerfüllte Mächtigkeit und zwar sinnerfüllte Mächtigkeit in der Begegnung.“219 Der in Grundzügen dargestellte normative Machtbegriff ist somit auf die Anerkennung der je anderen Person bezogen, indem es um einen Ausgleich in der Verwirklichung von Sein geht. Damit sind die Elemente versammelt, die für ein Verständnis der Konturierung von Anerkennung im Persönlichkeitsvortrag nötig sind.

 Tillich, „Das Problem der Macht“, 252: „Alles Lebendige zeigt sich in der Begegnung mit ihm als Einheit von Bleiben, in sich und Vorstoßen über sich hinaus. Denn eben darauf beruht die Möglichkeit des Begegnens überhaupt.“ Ausführlich behandelt Tillich den Begegnungsbegriff vor allem in der Vorlesung Sozialpädagogik (Wintersemsester 1929/30), in: Vorlesungen über Geschichtsphilosophie und Sozialpädagogik (Frankfurt 1929/30), Bd. XV, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Erdmann Sturm (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2007), 292–348. Zur Kategorie „Begegnung“ bei Tillich in der Vorlesung und den Hintergründen vgl. Schneider, Johannes, „‚Erziehung ist sinnhaft einfügendes Begegnen‘. Paul Tillichs Frankfurter Vorlesung in Sozialpädagogik (Wintersemester 1929/30) mit Blick auf die kritische Pädagogik Eberhard Grisebachs“, in: Thomas Scheiwiller/Thomas Weiß (Hg.), Paul Tillich und religiöse Bildungsprozesse. Religionspädagogische – systematisch-theologische – interdisziplinäre Perspektiven (Münster: Waxmann, 2017), 63–81.  Vgl. Tillich, Geschichtsphilosophie (Wintersemester 1929/30), 1–289, 238–250, wo Tillich erneut Sphären wie zum Beispiel Staat, Kirche, Technik, Kunst, Gemeinschaft und Recht thematisiert.  Tillich, „Das Problem der Macht“, 252.  Vgl. Danz, „‚Sein [...] ist die Macht zu sein‘“, 39.  Geschichtsphilosophie, 239.  Geschichtsphilosophie, 238. Hier scheint auch der im System der Wissenschaften und der Religionsphilosophie (1923/25) etablierte Bezug von Sinn und Anerkennung auf. In den genannten Frankfurter Vorlesungen nimmt insgesamt die Anerkennung eine wichtige Stellung ein. Vgl. auch 158 f.: „Sinn ist nichts Gegebenes, das jedem Ding anhaftet, sondern Sinn ist das sich in der SinnBegegnung jeweilig Verwirklichende [...] im Wechselverhältnis von Forderung und Anerkennung.“

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2.2.2 Das Persönlichkeitsideal und die soziale Anerkennung Im Allgemeinen wird der Terminus des „Persönlichkeitsideals“ zumeist mit der Dichtung im Sturm und Drang in Verbindung gebracht.220 Die im zeitlichen Umfeld Tillichs einschlägige Studie Edgar Zilsels, Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal221 von 1918, befasst sich beispielsweise – in kritischer Auseinandersetzung mit Kant – mit der zeitgenössischen Diskussion um die mögliche Klassifizierung von Persönlichkeiten und mit dem Geniebegriff. Blickt man in Tillichs nähere theologische Vorläufer und insbesondere in wiederum die von ihm regelmäßig kritisch betrachteten Ansätze Albrecht Ritschls und Wilhelm Herrmanns, zeigt sich das Ideal der Persönlichkeit als schillerndes Konzept. Es sind genau die Zugriffe einer „ethischen Theologie“, bei denen sich einerseits eine intensive Rezeption Kants, andererseits eine erhebliche Fokussierung auf das Ideal der sittlichen Persönlichkeit findet.222 Dabei geht es Tillich nicht um eine völlige Abwendung von dieser „ethischen Persönlichkeitsidee“223, sondern um eine angemessene Relation zur Sozialität. Für die Interpretation des Persönlichkeitsvortrags von 1927 ist leitend, dass Tillich eine komprimierte Theorie der Freiheit entwirft. Dadurch wird die ethische Ausrichtung der Schrift als Anerkennungstheorie näher konturiert und in einem wiederum geänderten Referenzrahmen eingezeichnet. Tillich befasst sich darin stärker als in den vorangegangenen Texten der 1920er Jahre mit der Grundlegung eines Freiheitsverständnisses und verbindet das mit der Theorie sozialer Anerkennung. In der Einleitung gibt Tillich zunächst eine erste Bestimmung des Personbegriffs und entfaltet dann das Konzept der Freiheit, welches die Schrift als roter Faden durchzieht. Sodann analysiert er drei sich überlagernde „Seinsbeziehun-

 Vgl. Luserke, „Empfindsamkeit/Sturm und Drang“, RGG4 2 (1999), 2161–1267, 1264. Hierbei steht der Begriff in engem Zusammenhang zum Geniebegriff als Ausdruck für eine möglichst starke Betonung der Individualität, durch die sich die Person von äußeren Zwängen und Regeln lösen will.  Vgl. Edgar Zilsel, Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal, mit einer historischen Begründung (1918), hg. u. eingel. v. Johann Dvorak (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990).  Siehe dazu oben Teil 1: A.3.Vgl. dazu Tilmann Fuß, Das ethisch Erlaubte. Erlaubnis, Verbindlichkeit und Freiheit in der evangelisch-theologischen Ethik (Stuttgart: Kohlhammer, 2011), 143–167; Graf, „Rettung der Persönlichkeit“, 124 f. Tillichs bereits frühe Abgrenzung gegenüber der auf die sittliche Autonomie fokussierten Ansätze soll hier nicht widerholt werden. Es zeigt sich aber, dass auch diese Grundgedanken weiterhin im Hintergrund stehen.  Alexander Heit, Sinnbildung in der Moderne. Selbstverortung der Theologie am Beispiel von Ernst Troeltsch, Paul Tillich, Wolfhart Pannenberg und Eilert Herms (Zürich: TVZ, 2018), 165.

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gen“224, in denen sich der Mensch, verstanden als Person, wiederfinde: Hiermit strukturiert Tillich das Geistesleben in „Person und Dingwelt“, „Person und Gemeinschaft“ sowie „Person und Seele“. Letztere Beziehung bildet einerseits die Voraussetzung der beiden ersten, zugleich bedeutet sie das Verhältnis des einzelnen Seins zum unbedingten oder letzten Sein. Dies ist demnach der Ort, wo die religiöse Fundierung der Person thematisiert wird. Demgemäß lässt sich die seelische respektive religiöse Dimension nicht eigentlich von den übrigen abtrennen: „In allen drei Beziehungen stellen wir die Frage nach dem Unbedingten, also religiösen Sinn des Persönlichkeitsideals.“225 Nimmt man zunächst die einleitende Bestimmung der Person in den Blick, definiert Tillich in einem ersten Schritt das Seiende wie folgt: Das Seiende hat in jeder seiner Gestalten eine bestimmte Seinsfülle und eine Ausdruckskraft für die Tiefe, den Abgrund, dem es entstammt; und es hat in der Wirkung auf anderes Seiende eine Mächtigkeit, durch die es einen bestimmten Rang im Zusammenhang der Dinge einnimmt.226

Das Seiende stellt die im vorigen Abschnitt skizzierte Mächtigkeit dar, sich gegenüber seiner Bezugswelt zu behaupten und auszudrücken, wobei hier noch kein negativer oder positiver Beiklang enthalten ist. Bleibt man bei der Person, um die es Tillich hier geht, wird der Mensch zunächst neutral als Wesen mit jener Mächtigkeit bestimmt. Allerdings bildet die Person kein abgeschlossenes Seiendes, sondern wirkt zugleich stets auf die Verwirklichung des Seins in seinem Gegenüber ein. Da dies in Wechselwirkung geschieht, könnte man sagen: Die Person stellt gleichzeitig Gravitations- und Attraktionskraft für anderes Sein dar. Person ist Seiendes, das über das Potential verfügt, seine Möglichkeiten im Verhältnis zu anderem Sein auszudrücken respektive durchzusetzen. Der Begriff der Mächtigkeit ist der Ausdruck für die sinnhafte Verwirklichung des Personseins, in der die Person über ihre natürliche und unmittelbare Gebundenheit hinausgeht, „eine solche [Mächtigkeit] freilich, die es von allem anderen Seienden unterscheidet.“227 In dieser Näherbestimmung setzt Tillich implizit die Voraussetzung einer auf Anerkennung beruhenden Sozialität: Die Individualität wird als notwendige Bedingung der gegenseitigen Achtung anderen Mächtigkeit ontologisch fundiert. Jede seinsmächtige Person besitzt eine individuelle – gleichsam einzigartige – Anlage

 Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 135.  Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 135: „Dieser kann nicht Gegenstand einer besonderen Frage werden, hier wie nirgends; denn das Unbedingte ist nie ein Besonderes.“  Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 132.  Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 132.

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und geht von dort aus über sich hinaus228, um ihre Möglichkeiten umzusetzen. Hinreichend allerdings wird die Bedingung für eine gelingende Gemeinschaft erst in der aktiven, zumal bewussten Wechselseitigkeit der Achtung in der Beziehung personaler Mächtigkeiten. Sofern aber Sein stets auf anderes stößt, ist ein Konfliktpotenzial gegeben, das durch Anerkennung reguliert wird: „Der soziale Ausdruck dafür ist die Anerkennung eines Wesens als Person. Sie besagt, daß an diesem Ort Persönlichkeit möglich und gefordert ist.“229 Macht im Sinne subjektiver Verwirklichung, welche Tillich mit dem Mächtigkeitsbegriff umschreibt, bildet wiederum exakt das Korrelat der Anerkennung. Personsein ist das dialektische Ineinander von Verwirklichung des eigenen Seins und der bewussten Anerkennung der Mächtigkeit des Anderen. „Persönlichkeit ist also Verwirklichung dessen, was in der Person und nur in ihr möglich ist: Dass das Seiende seiner selbst mächtig werde.“230 Sodann kann Tillich auf dieser Basis den Freiheitsbegriff mit der Mächtigkeit als Selbstverwirklichung identifizieren. „Persönlichkeit ist das Seiende, das frei ist.“231 Entscheidend ist der Sachverhalt, dass Tillich die Freiheit mit der Erhebung des „individuellen Seins“ über „seine unmittelbare Form“ identifiziert. Es kristallisiert sich an dieser Stelle erneut die Weiterführung der geistphilosophischen Grundannahmen heraus. Der Mensch vollzieht seine potenzielle Freiheit im Hinausgehen über seine Gebundenheit. „Die Erhebung des Individuellen zum Allgemeinen bedeutet nicht Wechsel der Form, sondern Erhebung zur universellen Form [...], in der das Seiende sich von seiner Unmittelbarkeit losreißt.“232 Damit begibt sich für Tillich jede Person in einen Weltbezug, sodass der „Weltbegriff das notwendige Korrelat zum Persönlichkeitsbegriff“233 darstellt. In der Ergreifung seiner Möglichkeiten wird das Persönliche frei und kann sich gegenüber der Welt – in Form der anderen selbstmächtigen Personen genauso wie der Umwelt – fortentwickeln. Entscheidend ist dazu indes die Einschränkung, die bereits auf die Abwehr jedes Individualismus und das zu überwindende Persönlichkeitsideal verweist: „Und doch weiß sich die Persönlichkeit in die Welt einbezogen. Sie hat eine Seite, nach der sie der Welt gegenüber offen ist. [...] Die Einheit von Abgeschlossenheit und Offenheit charakterisiert das seiner selbst mächtige Sein.“234

      

Vgl. Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 133. Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 132. Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 132. Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 132. Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 133. Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 133 (im Original kursiv). Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 133 f.

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Die Person bewegt sich zwischen ihrer Individualität und der Sozialität mit anderen Personen, durch die sie sich erst als solche erfährt. Mit dem anthropologischen-existentialistischen Vokabular der Zeit – zu denken ist zum Beispiel an Max Schelers Terminus der „Weltoffenheit“235 – legt Tillich den Grund für die personal-gemeinschaftliche Balance, die dem Freiheitswesen Mensch entsprechen soll. Wie der Mensch es erfährt, dass er sich als Geist auf seine Bezugswelt hin ausrichten muss, erklärt Tillich wiederum mit der Formel der unbedingten „Forderung“, durch die der Mensch erlebt, dass der „unbedingte Sinn“ seiner Existenz die „Selbstmächtigkeit“236 ist, in der er als Geist über sich hinaus geht und sich zum Anderen ins Verhältnis setzt. Bis hierher steht – zunächst erneut in Form Tillich’scher Abstraktionskunst – sein Verständnis der Persönlichkeit oder der „Persönlichkeitsidee“237 vor Augen. Diese zu überwinden, bedeutete den „tragischen“ Rückfall in Formen der Heteronomie. Daher ist die „unbedingte Anerkennung der Persönlichekitsidee“ oder anders ausgedrückt die das „seiner selbst mächtigen Seins“ unverrückbare Voraussetzung für eine Sozialität freier Individuen. Was es zu überwinden gilt, stellt sich vielmehr als ein individualistisches Ideal dar, in dem die Abgeschlossenheit und Nicht-Offenheit durch die Abkapselung eines Seienden von seiner Mitwelt propagiert wird. Wenn Persönlichkeit das seiner selbst mächtige Sein ist, so kann die unmittelbare Mächtigkeit des Seins so überwunden werden, daß die Bemächtigung, der Akt der Freiheit geschwächt, unterdrückt wird. Oder es kann der Akt des Sich-Bemächtigens ein solches Übergewicht erlangen, daß die unmittelbare Mächtigkeit des Seins verloren geht. Im ersten Fall entsteht Fülle, Verbundenheit mit dem Sein, Bewegtheit, Ungeformtheit, Unabgeschlossenheit, im zweiten Fall entsteht Konzentration, Abgeschlossenheit, Festigkeit, Durchformung, Unoffenheit.238

Die zweite Möglichkeit gilt es zu überwinden. Erneut erklärt Tillich das Problem der ersten Option mit der für ihn zentralen „Spannung von Autonomie und Heteronomie“.239 Nur im Bewusstsein gleichzeitiger Freiheit und der Angewiesenheit auf das soziale Gegenüber lässt sich die Person in ihre anvisierte Gestalt bringen. Im Persönlichkeitsideal ist für Tillich der Versuch beschrieben, sich von seinen  Darauf weist Fritz, Menschsein als Frage, 412, mit Blick auf weitere Texte Tillich aus dem zeitlichen Kontext und in Bezug auf Tillichs Aufnahme Martin Heideggers, Kurt Goldsteins und besonders Max Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos hin: „Das individualisierte Selbst ist nicht an eine fixierte ‚Umwelt‘ gebunden, sondern weiß sich einer ‚Welt‘ gegenüber, die von vornherein als kategoriale Einheit gedacht ist, auf die hin jedes begegnende Einzelne hin überschritten werden kann.“  Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 134.  Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 134 (kursiv im Original).  Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 134 f. (im Original kursiv).  Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 134.

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Weltbezug abzugrenzen. Tillich hat – das lässt sich im Rückblick auf sein Werk bis hierher sagen – einen kantisch, aber auch romantisch240 geprägten Individualismus im Visier, der sich gänzlich auf die autonome Selbstverwirklichung fokussiert. Nach der Grundlegung geht Tillich in die Verhandlung der drei Persönlichkeitsbeziehungen (Dingwelt, Gemeinschaft und Seele) über. Für den Bezug der Persönlichkeit zu den „Dingen“ greift Tillich auf die Technik zurück, die er bereits in den frühesten Texten als Beispiel etabliert.241 Ähnlich zum System von 1913 sieht Tillich das Problem in der Nutzung der technischen „Dinge“ in einer fortlaufenden Rationalisierung.242 Romantisiert stellt sich die Haltung dar in der modernen wissenschaftliche-technischen Bewegung. Nicht die Erkenntnis des Kosmos an sich, sondern die Erkenntnis der Mittel zu seiner Beherrschung ist das Ziel der rationalen Entwicklung des Abendlandes. Sie schafft die technische Ding-Entmächtigung. Die Welt im Sinne des Maschine ist ihr Mythos und die Dingwelt ihr Ethos.243

Sofern die Dingwelt als Haltung beziehungsweise hier mehr noch als Zielpunkt verstanden wird und die Maschine als Metapher vermeintlicher Beherrschung der Kultur, verkommt für Tillich die Verwendung der sachlichen Kultur (Technik) zu einer leeren Verwendung. Diese – so lässt sich deuten – realisiert nicht Sinn, sondern zielt auf die Herstellung möglichst vieler Güter, wie es für Tillich gegenwärtig wieder die bürgerliche Kultur ausmacht. Bezogen auf das wiederkehrende Beispiel des „Proletariats“ führt Technik in dieser negativen Wendung zu einer Verstärkung der Sinnentleerung. Den thematischen Kern für diese Untersuchung bildet der nachfolgende Abschnitt zur Relation von Persönlichkeit und Gemeinschaft. Nur an der fremden Persönlichkeit geht der Persönlichkeit ihr eigenes Wesen auf. Nur in der Gemeinschaft von Ich und Du kann Persönlichkeit werden.244

 Vgl. Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 133.  An dem intensiven Technikdiskurs in den 1920er Jahren hat Tillich sich mit verschiedenen Texten beteiligt. Vgl. exemplarisch „Logos und Mythos der Technik“ in: Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, Bd. IX, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1967), 297–306 und „Die technische Stadt als Symbol“, GW IX, 307–311. Siehe dazu Thorsten Moos, „Paul Tillichs Technikdeutung im Kontext seiner wissenschaftssystematischen und religionsphilosophischen Schriften der 1920er Jahre“, in: Christian Schwarke/Anne-Maren Richter (Hg.), Technik und Lebenswirklichkeit. Philosophische und theologische Deutungen der Technik im Zeitalter der Moderne (Stuttgart: Kohlhammer, 2014), 71–96.  Dass in dieser Diagnose auch Tillichs Prägung durch Troeltsch und deutliche Ähnlichkeiten zu Max Weber zu erkennen sind, hat Heit, Sinnbildung, 165 f., hervorgehoben.  Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 136.  Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 139.

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So fasst Tillich hier nochmals sein ethisches Programm zusammen, um es wiederum zugespitzt zu dechiffrieren. Während das Dinghafte, also das „Material“ innerhalb der „Welt“ „angeeignet“ werden kann, da es schlicht unpersönlich ist, kann Persönlichkeit nur entweder „gebrochen“ oder „aufgenommen“ werden in Gemeinschaft. Dem Unpersönlichen fehlt das, was das Persönliche ausmacht: die Selbstmächtigkeit als Möglichkeit des Widerstands oder des Sich-selbst-Durchsetzens. „Dieser Widerstand aber ist die Bedingung dafür, daß Persönlichkeit entstehen kann. Nur durch ihn [Widerstand] bekommt das Werden zur Persönlichkeit den Charakter unabweisbarer Forderung.“245 Damit wird die Selbstmächtigkeit der Personen gleichzeitig zur Bedingung und zum Ausdruck des gegenseitigen Widerstands in der Selbstverwirklichung – der Freiheit. Gemeinschaft allerdings versteht Tillich nicht als einseitige Konstituierung einer sozialen Gruppe durch Persönlichkeiten. Gemeinschaft bedeutet vielmehr ein dialektisches Zusammenspiel des Individuellen und Sozialen. Auch letzteres hat ein „Eigenleben, das die Persönlichkeit tragen, aber auch vergewaltigen kann“.246 Idealtypisch leitet Tillich die Abgrenzung verschiedener Gemeinschaftsformen kultur- und religionsgeschichtlich her: In der primitiven Form und ihrer Tendenz zur Heteronomie wird die Mächtigkeit durch die Dominanz kollektivistischer Einheit unterdrückt, das Einzelne fungiert als Mittel zum Zweck. Als Erhebung der Persönlichkeit „[ü]ber die sozialen Bindungen und Einordnungen“247 stehen demgegenüber in der autonomen Tendenz Eigenverantwortlichkeit in der Gesetzesreligion, Berufung auf das subjektive Gewissen im Protestantismus oder auch demokratisch-revolutionäre Gesellschaftsveränderungen. So kommt die Umstellung im Verhältnis von Person und Gemeinschaft zum Tragen: Dem Kollektiven wird seine Mächtigkeit soweit als möglich entzogen, während das Individuelle „Träger und Ziel des sozialen Lebens wird.“248 Das allerdings ist in Tillichs Sicht eine zweischneidige Entwicklung. Analog der religiös-sozialistischen Schriften zu Anfang der 1920er Jahre verfolgt er eine differenzierte Analyse. Darin versucht Tillich – meist exemplarisch am Begriff des Protestantischen und der Aufklärung – sowohl die negativen wie positiven Folgen der Autonomieentwicklung aufzuzeigen. Dementsprechend gilt hier wie dort die durchweg zentrale und nicht hintergehbare Anerkennung von Individualität. Doch – das ist entscheidend – diese Individualität kann nur dann zum Ausdruck kommen, wenn sie zugleich als Bedingung von Sozialität verstanden wird und diese Sozialität zugleich ihr sozialethischer Fluchtpunkt ist. Das heißt: Die un   

Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 139. Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 139. Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 139. Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 139.

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veränderbare Achtung der Individualität zielt auf die Sozialität sich anerkennender Individuen. Und diese Sozialität formiert sich im Idealfall in dem Verhältnis selbstmächtiger Personen, die sich ihrer Selbstmächtigkeit jedoch erst durch die Anerkennung derselben gewahr werden können. Deutlich wird, dass Tillichs beides, eine radikal kollektivistische und eine radikal subjektivistische Option, benötigt, um als mittleren Weg die Gemeinschaft selbstmächtiger Persönlichkeiten auszubalancieren. Denn die Erhebung der Persönlichkeit bildet zwar eine unersetzbare und notwendige Bewegung hin zu einer Gemeinschaft als Gruppe frei anerkannter Subjekte. In den Extremfällen aber werden statt der Person die „übergreifenden Einheiten [...] profanisiert, entleert“.249 Entscheidend an dieser Stelle ist Tillichs Schlussfolgerung: Denn diese Abstoßung des Kollektiven durch das Individuelle führe gerade zu einer Entleerung des Persönlichen. Damit ist die Unterwerfung des Persönlichen an die Gesetzmäßigkeiten des Naturhaften, also der „Dingwelt“, gemeint. Ob in psychologischer oder in ökonomischer Manier, in allen Bereichen des wirtschaftlichen, sozialen, politischen und auch pädagogischen Lebens findet eine Formalisierung statt, die nicht zur Freiheit des Individuums, sondern vielmehr zu einer neuen Abhängigkeit führt. Im Folgenden erhellt Tillich die Entwicklung der Mächtigkeitsbeziehungen in der gewohnten Geschichtstypologie, wie sie durch die vorigen Texte zur Kulturtheologie hinlänglich bekannt ist.250 Dementsprechend stellen wiederum ein sakramentaler Kollektivismus und ein radikaler Individualismus die Alternativen dar, von denen aus die gelingende Gemeinschaft als Mittelweg konstruiert werden muss: „Forderung nach Gleichheit [...] und Freiheit von den die Selbstmächtigkeit bannenden Rechten anderer“251 ist ein Ergebnis der Erhebung der Persönlichkeit und entspricht damit dem theokratischen Impuls aus den Arbeiten zum Religiösen Sozialismus. In der Form des Individualismus wird der Zweck der Gemeinschaft vollständig umgekehrt und auf die Möglichkeiten der Einzelnen konzentriert. An dieser Stelle tritt ein zentraler Gedanke in Tillichs Machttheorie hervor: Der „Wille zur Macht“ oder der „Herrschaftswille“ wird als ontologische Grundbedingung, nicht als Option verstanden. Das ist entscheidend und entspricht der zu Beginn gesetzten Bestimmung von Persönlichkeit. Die Persönlichkeit unterscheidet sich von der Dingwelt dadurch, stets unter der Forderung zu stehen, das eigene Sein zu verwirklichen. Nun lässt sich Tillichs Unterscheidung sozialphilosophisch als extreme Form von negativer Freiheit auf der einen und extremer Form von po-

 Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 139.  Siehe oben: Teil 2: B.1.2.  Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 140.

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sitiver Freiheit auf der anderen Seite interpretieren. In dem oben beschriebenen Individualismus, so Tillichs Kritik, wird übersehen, dass der Machtwille eben notwendig und nicht optional ist. Wird jedoch alles auf die individuelle Freiheit gemünzt, führt dies zu Herrschaft, die „allein begründet ist auf dem naturhaften Machtwillen des einzelnen, ohne repräsentative Bedeutung, ohne Verantwortlichkeit“.252 Die Masse, die somit „Objekt dieser Herrschaft“ ist, wird folglich ebenfalls naturhaft, „nicht innerlich getroffen, nicht auf Grund innerer Beugung vor einer Mächtigkeit, die das Ganze trägt“.253 Macht im Sinne ihrer ontologischen Fundierung kann nur anerkannte Macht sein, wenn ebendiese Wurzeln im Sein-Selbst anerkannt werden.254 Mit diesen Gesichtspunkten der Interpretation ist die anfängliche These bestätigt, dass sich Tillichs Ethik im Wechselspiel von Religiösem Sozialismus und Kulturtheorie als Austarieren von Individualität und Sozialität vollzieht. Sodann bleibt die Anerkennungsfigur die geeignete Kategorie dafür, diese Problematik sozialethisch einzufangen. Die Überwindung des Persönlichkeitsideals konzentriert wesentliche Grundbestimmungen der Relation von Anerkennung und Macht und kleidet das Ganze in eine prägnante Theorie der Anerkennung. Dabei schlägt sich wiederum der geänderte Kontext in der Schrift nieder, indem Tillich die neugewonnenen Einflüsse der Frankfurter Zeit und der zweiten Hälfte der Weimarer Republik in seine Darstellung aufnimmt.

2.3 Forderung und Anerkennung: Die Sozialistische Entscheidung (1932/33) In späteren Erinnerungen berichtet Max Horkheimer, er habe Tillich im Februar 1933 Passagen aus seiner Schrift Die sozialistische Entscheidung255 vorgelesen, um ihm die unausweichliche Flucht ins Exil nahe zu bringen. Horkheimer befürchtete, weiteres Zögern würde Tillich „das Leben kosten.“256

 Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 140.  Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 140.  Vgl. Tillich, „Persönlichkeitsideal“, 140: In diese Richtung gehen dann insbesondere die Fragen nach der Anerkennung bestimmter Gruppen im politischen Raum: „Mit der Erhebung der Persönlichkeit über die seinshaften Mächtigkeiten der Gemeinschaft sind das Verhängnis unserer gesellschaftlichen Lage.“  Tillich, Die sozialistische Entscheidung, in: Writings in Social Philosophy and Ethics/ Sozialphilosophische und ethische Schriften, Bd. 3, Main Works/Hauptwerke, hg. von Ermann Sturm (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1998), 273–319.  Max Horkheimer, „Erinnerungen an Paul Tillich, in: Werk und Wirken Paul Tillichs. Ein Gedenkbuch (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1967), 16 f.

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Tillich hatte sein letztes großes Werk aus der Zeit in Deutschland gegen Ende des Jahres 1932 fertiggestellt und bereits zu Weihnachten waren erste Exemplare gedruckt. Unmittelbar nach der Machtergreifung der NSDAP wurde das Buch verboten und auch übriggebliebene Exemplare in Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg vernichtet, sodass von der Erstausgabe nur wenige Bücher erhalten blieben.257 Das 1933 eingeführte Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums brachte auch Tillich in Frankfurt die sofortige Entlassung aus politischen Motiven.258 In der Sozialistischen Entscheidung zieht Tillich die Argumentationsstränge der letzten Jahre zusammen, entwirft aber auf einer deutlich breiteren geschichtlichen Grundlage eine Begründung der sozialistischen Idee „zu einer Zeit, in der noch nicht entschieden war, wem das Erbe der in Agonie versinkenden Republik einmal zufallen würde“259. Tillich jedenfalls hoffte noch in den ersten Jahren in den USA auf eine mögliche Rückkehr nach Deutschland.260 Die Konzeption der Schrift und die politischen Verästelungen geben weiterhin viele Rätsel auf. Dies betrifft insbesondere die politischen Bezüge und Parallelen zwischen den unterschiedlichen Strömungen am Ende der Weimarer Republik.261 Demnach besteht eine Vielfalt von Deutungsmöglichkeiten der Schrift, die indes berücksichtigen  Vgl. Erdmann Sturm, Textgeschichte, Die Sozialistische Entscheidung, 273–419, 273.  Vgl. Sturm, Textgeschichte, Die Sozialistische Entscheidung, 274.  Christophersen, Kairos, 216.  Sturm, „Historische Einleitung“, in: EN XV, XXIII–LI, XXIf. Tillich wehrte sich – wohl aus „taktisch[en]“ (Christophersen, Kairos, 253), Gründen noch 1934 gegen seine Entlassung und schreibt an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, er habe als „Theoretiker des religiösen Sozialismus von Anfang an den Kampf gegen den dogmatischen Marxismus der deutschen Arbeiterbewegung geführt“, zudem weist er darauf hin, dass er 1914 freiwillig an die Front gegangen sei und man ihn in keinem Fall als „national unzuverlässig“ bezeichnen“ (zit. nach: Pauck/Pauck, Tillich, 157) könne.  Dazu und zu den historischen Hintergründen vgl. Christophersen, Kairos, 215–265; Stefan Vogt, „Die sozialistische Entscheidung. Paul Tillich und die sozialdemokratische Junge Rechte in der Weimarer Republik“, in: Christian Danz/Werner Schüßler/Erdmann Sturm (Hg.), Religion und Politik (Münster: Lit, 2008), 35–52, arbeitet mögliche Verbindungen der sogenannten sozialdemokratischen „Jungen Rechten“ im „Hofgeismarer-Kreis“ – dem „rechtem Flügel der Jungsozialisten“ (36) – heraus. Riccardo Bavaj, „‚Von den Gesellschaftsproblemen der Gegenwart‘ zur ‚Sozialistischen Entscheidung‘. Paul Tillichs politisches Denken in der Weimarer Republik“, in: KZG 20/1 (2007), 97–127 etwa, thematisiert Tillichs Forderung eines „Kampfbundes“ der Arbeiterschaft mit der „politischen Romantik“ und sieht in dieser Wendung einen Hinweis auf inhaltliche Parallelen zum sogenannten Strasser-Flügel, dem „linken“ Flügel der NSDAP. Vgl. zu den unterschiedlichen Deutungen von Tillichs Ansatz aus politischer Sicht Friedrich Wilhelm Graf, „‚Old Harmony‘? Über einige Kontinuitätselemente in ‚Paulus‘ Tillichs Theologie der ‚Allversöhnung‘“, in: ders., Der heilige Zeitgeist, Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik (Tübingen: Mohr Siebeck, 2011), 343–380.

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werden müssen, dass Tillich zur Abfassungszeit die Folgen der politischen Situation noch nicht im Ansatz überblicken kann. Tillichs fundamentalethische Überlegungen zu Anerkennung und Gerechtigkeit – die nachfolgend allein behandelt werden – deuten jedenfalls nicht darauf hin, ihn in die Nähe nationalistischer und rechtsrevolutionärer Lager zu rücken. Für die Darstellung der thematisch zentralen Aspekte wird im Folgenden noch stärker selektiert als in den vorigen Abschnitten. Im Blick auf die historisch wie auch systematisch ausgreifenden Studien Tillichs soll keine Gesamtinterpretation der Schrift geboten werden. Vielmehr geht es darum, an ausgewählten Aspekten zu zeigen, wie zum Abschluss des werkbiographischen Wegs von 1906–1933 die zuvor behandelten Motive tragend bleiben. 2.3.1 Anthropologische Grundlegung der Anerkennungsforderung Tillich schließt mit seiner Grundlegung in der Einleitung an sein bisheriges Denken an und beginnt mit einer grundsätzlich anthropologischen Klärung, die zwar nicht breit ausgeführt werden könne, aber die Basis der Überlegungen darstelle.262 Konstruiert werden die anthropologischen Einsichten von Tillich unmittelbar an den beiden Wurzeln des politischen Denkens, die im „menschlichen Sein selbst aufgefunden werden“263 müssten und ohne die der Sozialismus nicht zu verstehen sei. Tillich greift wiederum die Figur des Über-sich-hinaus-gehens auf und bestimmt den Menschen im Gegenüber zur Natur als Wesen, das in einem „Lebensprozeß“ stehe und dabei „an sich und seine Umwelt Forderungen“264 stelle. Der Mensch befinde sich stets in einer doppelten Stellung, in der er einerseits „in sich“ existiert und zugleich „sich gegenüber“265 steht. Mit anderen Worten, der Mensch ist das einzige Wesen, das über sich selbst reflektiert.266 Von dieser Prämisse aus stellt es sich für Tillich als undenkbar heraus, allein aus einer bestimmten rationalen Erwägung oder aus „religiös-sittlichen Forderungen“267 das politische Denken herzuleiten. Das Politische kann für Tillich hingegen nur aus den anthropologischen Grundlagen erhoben werden, die er an zwei zentralen Wurzeln festmacht. Zum

 Vgl. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 288: „Ohne eine Lehre vom Menschen kann es keine Lehre von den politischen Richtungen geben, die mehr wäre als die Darstellung ihrer äußeren Erscheinung.“  Tillich, Sozialistische Entscheidung, 288.  Tillich, Sozialistische Entscheidung, 289.  Tillich, Sozialistische Entscheidung, 289.  Vgl. Tillichs eigene Hinweise auf Martin Heidegger, die auch Tillichs existentialistisches Vokabular hier erklären: Tillich, Sozialistische Entscheidung, 290.  Tillich, Sozialistische Entscheidung, 289.

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einen erwächst das konservativ-romantische Denken aus der Bindung an einen „Ursprungsmythos“268, der dem Menschen seinen Ort und seine Gebundenheit gibt. Diese Richtung sieht Tillich im Nationalsozialismus fortleben.269 In dieser Form drückt sich der Mensch durch die „Gebundenheit an die Macht“270 des Ursprungs aus und so ließe sich an Denkfiguren wie etwa Blut und Boden denken.271 In der konservativen oder romantischen Richtung steht daher die Frage nach dem Woher im Zentrum. Demgegenüber tritt für Tillich nun aber eine zweite Form, die er an der grundlegenden und bekannten „unbedingten Forderung“ expliziert und die für die Wurzel des liberalen, demokratischen und sozialistischen Denkens steht. Die Forderung repräsentiert die Erwartung, unter der der Mensch steht, aus der Gebundenheit herauszutreten. In der Forderung erfährt der Mensch das „Gesollte“272, das ihn dazu drängt, über sich hinaus Neues zu schaffen. „Darum ist in ihm der Kreislauf von Geburt und Tod durchbrochen, ist sein Dasein und sein Tun nicht beschlossen“, sondern der „Ursprungsmythos“ wird „grundsätzlich gebrochen“273. In der unbedingten Forderung wird sich der Mensch demzufolge bewusst, dass er als reflexives Wesen in Freiheit handeln muss. In dieser zweiten Form steht folglich das Wozu im Fokus. Allerdings kommt auch in diesem Zusammenhang einmal mehr Tillichs durchgängiges Motiv zum Ausdruck, dass stets ein dritter Aspekt zwischen zwei scheinbaren Gegensätzen vermittelt. Demgemäß lässt sich auch das zukunftsgerichtete „Wohin“ als Forderung nach Neuem nie gänzlich vom „Woher“ abkoppeln, denn in dem Fall wäre die Forderung dem Menschen vollständig fremd. Wäre sie seinem Wesen fremd, so ginge sie ihn nichts an, so könnte er sie nicht vernehmen als Forderung an ihn. Sie trifft ihn nur, weil sie sein eigenes Wesen als Forderung vor ihn hinstellt. Nur darauf beruht die Unbedingtheit, Unabweisbarkeit, mit der das Soll an den Menschen herankommt.274

Doch kann die Forderung dem Menschen nicht fremd sein, da sie für Tillich geradezu das Wesen des Menschen ausmacht. Das Erleben des inneren Sollens – so lässt sich sagen – konstituiert für Tillich den Menschen und kommt nicht als ein Teil unter anderen zur Bestimmung des Menschen hinzu. Hinter diese Voraussetzung kommt Tillichs Anthropologie nicht zurück. Anschaulicher ließe sich dieser       

Tillich, Sozialistische Entscheidung, 291. Vgl. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 320, und dazu Scheliha, „Politische Ethik“, 159 f. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 291. Vgl. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 297. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 291. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 291. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 291.

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Umstand erneut durch die Unterscheidung des Menschen zur natürlichen Umwelt und ihrer Instinkthaftigkeit abgrenzen, in der keine Forderung in diesem Sinne denkbar ist. Indem Tillich an dieser Stelle seinen Begriff der „Zweideutigkeit“ einführt, kann er das genaue Verhältnis zwischen dem Gesollten – also dem Zustand, der Umsetzung oder dem Ziel – und dem Ursprung aufhellen. Die Zweideutigkeit bedeutet hier, dass der Ursprung in sich ambivalent, also zweideutig sei und in ihm folglich eine „Spaltung“275 zum Ausdruck kommt: Dem „wirklich“ Ursprünglichen stellt Tillich das in „Wahrheit“ Ursprüngliche gegenüber. Beide sind nicht identisch. Vielmehr bezieht sich das real Vorfindliche auf den Ursprung, der sich – wie im obigen Beispiel – als Ursprung in einer Gebundenheit an den Boden, das Volk oder ähnlichem zeigt. Dieser wirkliche Ursprung ist indes nicht der wahre. „Es ist nicht die Erfüllung dessen, was mit dem Menschen vom Ursprung her gemeint ist.“276 Infolgedessen zeigt sich dem Menschen in der Forderung, dass im Ursprung etwas eigentlich anderes gemeint war. Und um der Forderung zu entsprechen, muss er sich jener Zweideutigkeit bewusst werden. Worin besteht aber die bis hierher wiederum abstrakt gehaltene Forderung? Der Inhalt der Forderung wird erst frei gelegt in der Erkenntnis, dass es nicht der Ursprung oder das darin Gemeinte ist, worauf der Mensch sich in seiner eigentlichen Bestimmung richten soll, sondern: „Die Forderung, die von dem zweideutigen Ursprung losreißt, ist die Forderung der Gerechtigkeit.“277 In der Idee der Gerechtigkeit kommt für Tillich der Gegenpol zu den negativen Kräften zum Tragen, die sich als „Gewalten“ des Seins aus dem Ursprung erheben. Und diese Grundlage formuliert Tillich als ethischen Nukleus. Die Forderung geht auf Erfüllung des wahren Ursprungs. Nun erfährt der Mensch eine unbedingte Forderung nur vom anderen Menschen. Die Forderung ist darum, daß dem ‚Du gleiche Würde mit dem ‚Ich‘ zugestanden wird, die Würde, frei zu sein, Träger zu sein der Erfüllung dessen, was im Ursprung gemeint ist. Die Anerkennung des Du als gleicher Würde mit dem Ich ist die Gerechtigkeit.278

Bringt man Gerechtigkeit von hier aus so konzentriert wie möglich auf den Begriff, so bedeutet sie Anerkennung des Anderen als Teil des ursprünglich Gemeinten. Die Anerkennung sieht das Gegenüber demnach als Teil der potentiellen Verwirklichung der wahren Ursprünglichkeit. In dieser Anerkennung drückt sich

 Tillich, Sozialistische Entscheidung, 292. Zum Begriff der Zweideutigkeit vgl. grundlegend wiederum Wörn, Ambiguität, 259–275.  Tillich, Sozialistische Entscheidung, 292.  Tillich, Sozialistische Entscheidung, 292.  Tillich, Sozialistische Entscheidung, 292.

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das gerechte Handeln aus und bildet die Voraussetzung für die näheren Ausführungen zum Prinzip und zur Gestalt des Sozialismus. Des Weiteren fügt Tillich mit dem Freiheitsbegriff eine nähere Bestimmung hinzu. Im zweiten Teil der Schrift – und eingebaut in eine geschichtliche Typologie – sieht Tillich den Ursprungsmythos gebrochen im historischen Auftreten der jüdischen Prophetie. Wie auch in den voranstehenden Texten erkennt Tillich im Religiösen Sozialismus eine prophetische Haltung und setzt ihn somit in die Tradition prophetischer Sozialkritik. Die Brechung des Ursprungsmythos geschah in Tillichs Sicht durch die Prophetie Israels, weil darin der Mythos durch die Bindung an das Gesetz überwunden wird, das zwischen Gott und Volk vermittelt. Indem die Bindung gegenüber den polytheistischen Vorformen nicht mehr am „Boden“ haftet, ist auch „Gott frei von dem Boden, dem heiligen Land“279. So verliere mit dem Untergang der Bodenbindung Aristokratie, Königtum und Priesterschaft ihre alles überragenden Bedeutung. „In dem Widerspruch des Propheten gegen den Priester drückt sich die Brechung des Ursprungsmythos in letzter Instanz aus.“280 Auch die Aufklärung steht in Tillichs Sicht für das Hinausgehen über den Ursprung, weil darin das „autonome Bewußtsein“ die Bindung zu überwinden sucht. Im Versuch, die irrationalen Kräfte des Ursprungs vollständig aufzuheben, kommt es wiederum zu einer „Autonomie“ der „Entleerung, indem – so lässt sich deuten – das theonome Element verloren geht. Die Schlaglichter zeigen, dass Tillich erstens mit der unbedingten Forderung nach Anerkennung die Möglichkeit sieht, im Sozialismus das Handeln auf das Gesollte auszurichten. Zweitens arbeitet er nach wie vor mit einer wiederum geschichts- und religionsgeschichtlichen Typologie. An zwei spezielleren Aspekten soll dies im Folgenden noch skizziert werden. 2.3.2 Das sozialistische Prinzip und die Gerechtigkeitsforderung Im dritten Teil der Sozialistischen Entscheidung konzipiert Tillich zunächst das sozialistische Prinzip in Abgrenzung zum bürgerlichen Prinzip. Was den Sozialismus als geistige Bewegung geschichtlich notwendig macht, um das eigentliche Sein des Menschen in der Verbindung von „Woher“ und „Wohin“ wieder aufleben zu lassen, liegt für ihn im bürgerlichen Prinzip begründet. Dieses steht exakt für die vollständige Ablösung vom Ursprung. Das bürgerliche Prinzip bedeutet „die radikale Auflösung aller ursprünglichen Gegebenheiten, Bindungen und Gestalten in rational zu bewältigende Elemente und rationale Zusammenfassung

 Tillich, Sozialistische Entscheidung, 302.  Tillich, Sozialistische Entscheidung, 302.

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dieser zu Zweckgebilden für Denken und Handeln“281. Besonders durch Tillichs Aufnahme der Marxschen Kategorie der „Verdinglichung“ lässt sich das bürgerliche Prinzip als Verstetigung der Lebensbereiche auf ihre Nützlichkeit und Produktionskraft hin verstehen, in der immer stärker die „Schaffung von Mitteln“ die „Anschauung von Eigenwert“282 der Personen ersetzt. Die Technisierung und Ökonomisierung des Lebens führen demnach zu einer rationalisierten Abwendung vom Ursprung. Die bürgerliche Idee kulminiert schließlich in einem Glauben an die „natürliche Harmonie“, der davon ausgeht, dass das „Seiende, sobald es sich frei von den Ursprungsmächten entfalten kann“, keine Bindung an eine tiefere Verwurzelung im Sein mehr benötigt. Das „freie Waltenlassen aller menschlichen Produktivität“ – wie beispielweise liberaler Ideen von „Toleranz“, „Nationalökonomie“283 oder naturwissenschaftlicher Erkenntnis – führt kurz gesagt in Tillichs Sicht zu einem verhängnisvollen Fortschrittsglauben. Dem steht nun in Tillichs Perspektive prinzipiell die Situation des Proletariats entgegen, das sich mit dem bürgerlichen Prinzip im Widerstreit sieht. Die Bedeutung, die für Tillich das Proletariat zu dieser Zeit einnimmt, wird auch dadurch deutlich, dass er dessen Situation regelmäßig mit dem protestantischen Prinzip in Verbindung bringt.284 Die Situation der Arbeiterklasse sei durchzogen von einem radikalen Verlust jeder Bindung an Ursprungsmächte wie der Gemeinschaft. In den Menschen des Proletariats sieht Tillich diejenige Klasse, in der die Ursprungsbindung noch vorhanden sei.285

 Tillich, Sozialistische Entscheidung, 323.  Tillich, Sozialistische Entscheidung, 323.  Tillich, Sozialistische Entscheidung, 324.  Diese Verbindung bietet nochmals einen eigenen Strang in Tillichs Denken zu dieser Zeit, der hier nicht weiterverfolgt wird. Das „protestantische Prinzip“ setzt prinzipiell die Überlegungen zum „theologischen“ oder „religiösen“ Prinzip fort. Damit gründet auch das protestantische Prinzip auf dem Ineinander von Ja und Nein in der Rechtfertigung. Allerdings arbeitet Tillich das Prinzip zum Ende der Zeit in Deutschland näher aus: Das Prinzip steht mehr für Gestaltung, die aus der Gnade erwächst als es eine konfessionelle Grenze oder Bindung beschreibt. Dabei bleibt aber – wie Tillich später pointiert – die „radikale und universale Deutung der Rechtfertigung durch den Glauben“ („Die protestantische Ära“, 15) erhalten. Dafür stehen insbesondere die Aufsätze in: Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung. Schriften zur Theologie I, Bd. VII, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1962), in denen Tillich den Protestantismus als kritische und zugleich zukunftsgerichtete Gestaltungsform ausarbeitet. Zur Verknüpfung von Situation der „Arbeiterklasse“ und dem protestantischen Prinzip vgl. die einschlägigen Aufsätze: „Klassenkampf und religiöser Sozialismus“ in: Writings in Social Philosophy and Ethics/ Sozialphilosophische und ethische Schriften, Bd. 3, Main Works/Hauptwerke, hg. von Erdmann Sturm (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1998), 166–187; „Protestantisches Prinzip und proletarische Situation“ in: MW/HW 3, 219–248.  Vgl. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 358.

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Der Unterschied, so Tillich an Kant anlehnend, zwischen „Widerspruch“ und „Widerstreit“ liegt darin, dass ein Widerstreit nur aufgelöst werden kann, indem die strukturellen Bedingungen geändert werden, aus dem er resultiere.286 Ein Widerspruch dagegen sei nur aufzulösen, indem das Widersprechende aufgegeben oder überwunden werde.287 Und der innere Widerstreit, dem sich der Sozialismus gegenüber sieht, liegt in der Spannung von Proletariat und bürgerlicher Gesellschaft. Weil das Proletariat direkt dem Bürgertum entstammt, verfügt es nicht über ein eigenes „Lebensprinzip“, sondern seine „Klassensituation“ ergibt sich vielmehr daraus, dass es in der bürgerlichen Gesellschaft stets nur Objekt, nie aber eigens „Subjekt“288 sei. Das Proletariat muß das verneinen, in dessen Kraft es das bürgerliche Prinzip bekämpft, den Ursprung; und es muß das bejahen, das es zerbrechen will, eben das bürgerliche Prinzip. Das ist der innere Widerstreit seiner Lage.289

Die Situation, in der sich Sozialismus und Proletariat wiederfinden, wird dadurch prekär: Ginge es allein um die Vollendung des bürgerlichen Prinzips, also des rationalisierten Harmonieglaubens, könnte sich der Sozialismus auf die Durchsetzung eines eigentlichen bürgerlichen Prinzips fokussieren und ihn gewissermaßen vollenden. Hier spielt Tillich vermutlich auf die vollkommene Durchsetzung der bürgerlichen Idee vom gleichen Recht aller an. Dagegen bedeutet jedoch „der Klassenkampf gerade die Widerlegung des Harmonieglaubens.“290 Die Problemlage wäre demnach, so Tillich, simpel zu lösen, wenn der Sozialismus als Gegenpol schlicht die Ursprungsmächte aufgreifen könnte, um sich zur Bürgerlichkeit in Gegensatz zu setzen. Da aber auch das Bürgertum weiterhin Ursprungsmächte für sich vereinnahmt, muss der Sozialismus durchweg zugleich gegen den Harmonieglauben und die mit dem Bürgertum verbundenen Ursprungsmächte angehen. Es steht erneut ein abstrakter Theoriebaustein vor Augen. Wodurch kommt also der Widerstreit praktisch zum Ausdruck und wie zeigt sich, warum der Sozialismus nicht blindlings auf den Ursprungsgedanken zurückgehen kann, um die bürgerlichen Strukturen zu überwinden? Dieser Gesichtspunkt muss noch aufgegriffen werden, um das Prinzip des Sozialismus bestimmen zu können. Tillich

 Vgl. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 336.  Vgl. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 336: Ein Widerspruch lasse sich durch subjektives Denken oder Handeln auflösen.  Tillich, Sozialistische Entscheidung, 337.  Vgl. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 337 (im Original kursiv).  Vgl. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 337.

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nennt sechs innere Antinomien, die dann identisch im späteren dritten Teil wiederaufgenommen werden, um die sozialistische Praxis zu entfalten: den sozialistischen Glauben, die Auffassung vom Menschen, die Gesellschaftsordnung, die Kulturidee, die Gemeinschaftsidee und die Wirtschaftsidee. Im inneren Widerstreit der Gemeinschaftssphäre greift Tillich wiederum eine Variante der Anerkennung auf, die er an einem liberalen Begriff der Einzelnen darstellt. Denn im Rahmen der Gemeinschaft sei es zu einer „Auflösung in die Elemente, d. h. die Einzelnen“ gekommen. Darin wird, so lässt sich ausführen, die fortschrittsgläubige Hoffnung erkennbar, dass es durch die „Gesetze der Harmonie“ der Einzelnen zu einer – gegenüber den „Ursprungsgemeinschaften“291 – höheren Form der Gemeinschaft kommen würde. Die sogenannte Atomisierung des Gemeinschaftslebens durch den Liberalismus bedeutet zunächst Anerkennung der Rechte des Einzelmenschen im Sinn der prophetisch-humanistischen Voraussetzungen, bedeutet Aufhebung von Ursprungsbindungen, die den Einzelnen vergewaltigen und erdrücken.292

In der Überwindung solcher Ursprungsbindungen, die den Einzelnen völlig in der Masse aufgehen lassen und somit eine Unterdrückung bestimmter Gruppen notwendig zur Konsequenz haben, sieht Tillich den „Ansturm der bürgerlichen Naturrechtslehre“293. Indes wird die Ablösung von der Ursprungsbindung so weit geführt, „wie es den Bedürfnissen der Einzelnen entspricht. Aber eben nur soweit.“294 Tillich wird in seiner historischen Sozialkritik ungemein konkret und sieht in „patriarchalische[n] Restbeständen“ ein Festhalten an bestimmten Ursprungsmustern. Als Folgen daraus sieht er die Kapitalherrschaft genauso wie den Umgang mit bewusst in Abhängigkeit gehaltenen Frauen und Kindern und dem Vorenthalten von Grundrechten für das Proletariat.295 Allerdings führt das für die Arbeitsbevölkerung zu einem anderen Extrem. Das Proletariat wird förm-

 Vgl. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 351.  Tillich, Sozialistische Entscheidung, 351 (im Original kursiv).  Es ist zu vermuten, dass Tillich wiederum klassische Ansätze liberaler Gesellschafts- und Staatstheorien des 17. und 18. Jahrhunderts, wie Thomas Hobbes (1588–1679) Leviathan, Hugo Grotius (1583–1645), John Lockes (1632–1704) Gesellschaftsvertragstheorie oder Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), vor Augen stehen, obgleich er keine direkten Hinweise gibt. Vgl. zu diesen Ansätzen und der historischen Einordnung Scheliha, Protestantische Ethik, 55–97.  Tillich, Sozialistische Entscheidung, 351.  Vgl. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 351.

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lich gezwungen, den – hier als Beispiel verwendeten – Individualismus nochmals immens zu steigern. „Das Industrielle Proletariat ist seiner Struktur nach der Ort, an dem die Auflösung aller Gemeinschaftsbildung am weitesten durchgeführt ist.“296 Das äußert sich in Tillichs Sicht darin, dass die Einzelnen als „freie[] Verkäufer“297 oder als andere Produktionskräfte völlig auf sich gestellt seien. Die Herauslösung aus jeder Ursprungsbindung wird derart radikal gefordert, dass sie absolute Vereinzelung erwirkt. Deshalb greift hier nun die zweideutige Problemlage des Sozialismus und der proletarischen Situation. Um eine neue Form der Gemeinschaft zu schaffen, muss die sozialistische Bewegung auf Muster der Ursprungsbindung rekurrieren und zugleich kann sie nicht davon ausgehen, dass aus der „Befreiung jedes einzelnen naturgesetzlich die Harmonie aller folgt.“298 Tillichs Beispiel dafür bietet unter anderem die Idee der Nation, die einer übergeordneten Gemeinschaft eines „Menschheitsdeals“299 unterzuordnen sei. Dennoch behält die Nation ihre Berechtigung, indem sie eine Anhaftung an gewissen Ursprungskräften aufrechterhält.300 Somit sei der Sozialismus zunächst zur Überwindung der Klassengesetze auf eine nationale Gemeinschaft angewiesen. Das Prinzip des Sozialismus ergibt sich vor diesem Hintergrund in der Folge aus drei Elementen: Es nimmt den Bezug zum Ursprung wieder auf, zerbricht den Harmoniegedanken und richtet sich entsprechend der anthropologischen Zweiheit von „Woher“ und „Wohin“ auf die unbedingte Forderung aus.301 So zeigt sich, wie Erdmann Sturm pointiert, dass die sozialistische Entscheidung konkret darin besteht, Ursprung und Ziel zusammenzudenken: Während das bürgerliche Prinzip die Ursprungsbindungen aufgelöst hat, sind Elemente der Bindung im Sozialismus und in der „politischen Romantik“ – dem Nationalsozialismus – weiter erhalten.302 Mit dem „Symbol“ der „Erwartung“ bringt Tillich zudem auf den Begriff, worauf der Sozialismus von dort aus zielt. In ihr kommen die drei Elemente zusammen: „In der Erwartung verbinden sich Ursprung und Ziel in doppelter Weise: Das Ziel ist Erfüllung des im Ursprung Gemeinten, und dem Ursprung entstammt die Kraft, durch die das Ziel verwirklicht wird.“303 Damit wird hier die

       

Tillich, Sozialistische Entscheidung, 352. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 352. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 352. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 352. Vgl. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 352. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 360. Vgl. Sturm, „Tillichs religiöser Sozialismus“, 28. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 364.

2 Die ausgereifte Sozialismuskonzeption (1927–1933)

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unbedingte Forderung wieder eingeholt, die eingangs letztlich mit der Gerechtigkeit als unbedingter Anerkennung des „Du“ identifiziert werden konnte. Die drei genannten Elemente sind notwendig für die Umsetzung. Neben die Überwindung des Harmonieglaubens tritt die gewisse Rückbindung an Ursprungskräfte und zugleich die Ausrichtung auf die Forderung einer sinnerfüllten Gemeinschaft, die durch das Proletariat verwirklicht werden soll. Tillich sieht den Sozialismus im Blick auf die vorigen Überlegungen als Bewegung, die bei ihren Forderungen mit Problemen konfrontiert wird, die einen deutlich kulturtheologischen Einschlag aufweisen. Dazu erörtert er im zweiten Teil den „inneren Widerstreit“304 des sozialistischen Glaubens, der Auffassung des Menschen, der Gesellschaftsordnung, der Kultur der Gemeinschaft und der Wirtschaft. Grundlage für alle Sphären stellt dazu konsequent die Situation des Proletariats dar.305 Im Bereich der Gesellschaftsordnung führt Tillich seine machttheoretischen Überlegungen fort und bezieht sie auf die Gerechtigkeitsforderung, die er hier nochmals stärker in eine politische Richtung lenkt. Es gehört zu den Grundpfeilern seines Machtbegriffs, dass diese grundsätzlich auf der Anerkennung innerhalb der jeweiligen Gruppe basiert.306 Die Zustimmung wird gegeben, weil den Zustimmenden die Ausübung der Macht, d. h. die Art, wie der einheitliche Wille ausgerichtet wird, als gerecht erscheint. Gerecht erscheint eine Machtausübung dann, wenn alle Glieder der Gesellschaft anerkennen können, daß in dem Willen des Ganzen ihr eigener Wille enthalten ist.307

Macht kann für Tillich allein als eine Realisierung von sozialer Einheit zustande kommen, die dann durch einzelne oder Gruppen repräsentiert wird. Für das sozialistische Prinzip bedeutet das die Ausrichtung auf die Erfüllung der Gerechtigkeitsforderung, womit auch der direkte Bezug zur eingängigen Forderung nach Anerkennung des Anderen wieder eingeholt wird.308 In der Anerkennung der Macht äußert sich das „Soll“ als Teil des ursprünglichen Seins, also eben nicht als leere Hülse einer abstrakten Idee. Damit wird also auch hier der nötige Bezug zum Ursprung hervorgehoben. Hier ist die Gerechtigkeit, das ist entscheidend,

 Vgl. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 336–357.  Vgl. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 336 f.  Vgl. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 388; „Problem der Macht“, bes. 198, worauf auch Tillich an dieser Stelle hinweist. Vgl. zur Einordnung nochmals Atchadé, Philosophie der Macht, 190–205.  Tillich, Sozialistische Entscheidung, 389.  Vgl. Scheliha, „Politische Ethik“, 160.

318

B Sozialethische Anschlussperspektiven (1919–1933)

gemäß dem sozialistischen Menschenbild aber nicht an die wirklichen Ursprungsmächte gebunden, sondern an das im Ursprung Gemeinte, an das Geforderte.309

3 Ertrag Mit dem letzten Kapitel der Untersuchung können nochmals zwei Konturierungen in Bezug auf das Theorem der Anerkennung konstatiert werden. Zum einen zeigt die Analyse im ersten Abschnitt (1), wie die Zentralstellung der Liebe als Prinzip der Ethik fortgeführt wird. Zudem äußert sich eine auffällige Steigerung der Verwendung dezidiert christlich-theologischer Wendungen. Tillich expliziert die Ethik des Religiösen Sozialismus eindeutig als „Ethik der christlichen Liebe“, als „jesuanische Liebesethik“ und rückt das Gebot der Nächstenliebe auch begrifflich ins Zentrum. Damit schließt er wiederum stärker an den Begriff der Liebe aus der Frühzeit an. Dieser Sachverhalt ist insofern interessant, als dieser Befund für die parallel verfassten Schriften von 1919 bis 1923/1925 (Kulturaufsatz/Religionsphilosophie/Wissenschaftssystematik)310 zurückhaltender war. Zugleich gilt aber für beide Stränge der Zeit, dass die Begründung der Ethik am Liebesbegriff gegenüber der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bestehen bleibt. Des Weiteren zeigt sich auch im frühen Religiösen Sozialismus die Kategorie der Anerkennung als beständige Konkretion dessen, was in der Liebe angelegt ist: die Anerkennung des Gegenübers als gerechtfertigte Person und das Handlungsmotiv einer sinngetragenen Gemeinschaft freier Personen. Zum anderen (2) erweist sich die zweite Hälfte der Weimarer Zeit (1926–1933) nochmals als neuer Kontext, in dem Tillich sein Denken unter dem Eindruck zeitgenössischer Diskurse in Existentialismus, Anthropologie und Ontologie nochmals justiert. Darin eingefasst ist die Zuspitzung seiner Theorie sozialer Anerkennung im Persönlichkeitsvortrag (1927), die nun in der Spannung von Individualität und Gemeinschaft vermittelt, indem sie die Idee der Persönlichkeit verteidigt und gleichzeitig eine idealisierte Subjektivität überwindet. Aus der ausgereiften Konzeption des Sozialismus 1932/33 schließlich wird die unbedingte Forderung mit der Forderung nach Anerkennung identifiziert und darin die Möglichkeit gerechten Handelns ausgemacht: Sofern der Mensch sein Gegenüber als das ansieht, was im Ursprung gemeint ist, lässt sich eine auf unbedingten Sinn gerichtete Gemeinschaft verwirklichen. Indem Tillich in der Sozialistischen Entscheidung auch den Bezug zwischen

 Vgl. Tillich, Sozialistische Entscheidung, 390 f.  Siehe oben: Teil 2: A.2–3.

3 Ertrag

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prophetischer Sozialkritik und Religiösem Sozialismus näher ausführt, bleibt das religiöse Element auch für den späteren Sozialismus bei Tillich tragend. Wichtig ist die Feststellung, dass die Kontinuität in Tillichs Theoriebildung auch in den letzten beiden „Phasen“ der Zeit in Deutschland überwiegt. Die Ethik gestaltet sich weiterhin auf Basis der Liebe als Theorie unbedingter Anerkennung und bleibt somit an der Erfüllung von Sinn orientiert.

Resümee In der vorliegenden Untersuchung wurde der Zusammenhang von Liebe und Anerkennung in Tillichs ethischem Denken werkgeschichtlich und vor dem Hintergrund der Entwicklung seiner Theologie insgesamt interpretiert. Dazu wurde Tillichs Ethikauffassung in seine ständige Auseinandersetzung mit Fragen des Zusammenhangs von Religion, Kultur, Sittlichkeit und Gesellschaft eingezeichnet. Durch diesen Zugang wurde der Kontextualisierung gegenüber einer ausschließlich werkimmanenten Skizzierung der Vorzug gegeben. Die Ausblicke in zeitgenössische geistesgeschichtliche Debatten, die Überlegungen zu potenziellen Einflüssen auf Tillichs Theoriebildung und zu zeitgeschichtlichen wie biographischen Kontexten konnten sein Denken auf dem Feld des Ethischen in ein helleres Licht rücken. Erst im Rückgriff auf jene Bezüge und Hintergründe wird es möglich, die bisweilen esoterische Begriffsbildung Tillichs aus ihren scheinbar abgekapselten Abstraktionen ins Lebendige zu ziehen. Auch wenn bei diesen Seitenblicken nicht alle relevanten Kontexte erschlossen und ausgelotet werden konnten, ergibt sich auf diese Weise doch ein markantes Bild von Tillichs Denken, das zugleich einen Teil evangelischer Geisteskultur des 20. Jahrhunderts aufhellt. In dieser Interpretationsperspektive tritt Tillich als ein Akteur in Erscheinung, der sein System nicht unabhängig von Fragen der Zeit und von eigenen biographischen Gegebenheiten entfaltet. Er zeigt sich insbesondere im Blick auf ethische Probleme und Fragen als anpassungsfähiger und kreativer Zeitdiagnostiker. Zugleich – und das macht die Faszination von Tillich als Theoretiker des Ethischen aus – bleiben einige Grundpfeiler der Theoriebildung auf eindrucksvolle Weise konstant. Daher lassen sich zwar verschiedene Schritte in Tillichs Denkweg voneinander unterscheiden, aber doch nicht strikt voneinander abgrenzen. Vor allem konnte die Interpretation zeigen, dass die praktische Sphäre des Menschseins für Tillich kein thematisches Nebengleis darstellt. Die Untrennbarkeit von theoretischen, emotiv-ästhetischen wie praktischen Vollzügen bildet von Beginn an die Voraussetzung seines Denkens. Um den verwickelten Weg abschließend nochmals komprimiert darzustellen, wird in diesem Resümee zunächst der Weg der Interpretation zusammengefasst (1), um anschließend (2) den systematischen Gehalt zu bündeln.

1 Die Entwicklung der ethischen Theorie unbedingter Anerkennung In der zurückliegenden Interpretation wurde Tillichs Theoriebildung in fünf größeren Schritten gedeutet. In diesen Schritten werden in wechselnden Kontexten unterschiedliche Akzente der Ethik aus Liebe und Anerkennung gesetzt. https://doi.org/10.1515/9783111025490-006

1 Die Entwicklung der ethischen Theorie unbedingter Anerkennung

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Erstens wurden mit der Fichte- und der Monismus-Arbeit die frühesten Texte bis in das Jahr 1912 erstmals ausführlich aus ethischer Sicht analysiert. In dieser Zeit, insbesondere während seines Studiums, stand Tillich unter dem Einfluss des Philosophen und Fichte-Spezialisten Fritz Medicus und des Neutestamentlers Wilhelm Lütgert. Für diese frühe Phase konnte der neutestamentliche oder genauer der johanneische Liebesbegriff als Ursprungsmoment der theologischen Ethik Tillichs nachgewiesen werden. In der grundlegenden Verschränkung von Theorie und Praxis, die Tillich an den Begriffen Wahrheit und Liebe darlegt, gewinnt er früh durch seine idealistisch geprägte Lesart die Einheit von Denken und Wollen. Hier bereits stellt Tillich die Weichen für seine konstant beibehaltene Tendenz, zwei scheinbare Gegensätze in einem dritten Element vereint zu denken. Voluntarismus und Intellektualismus kommen im Christentum zusammen. Diese dreigliedrige Figur überträgt Tillich dann als Vermittlungsposition sukzessive auf Konstellationen wie Intuition, Reflexion und Paradox, Heteronomie, Autonomie und Theonomie oder Inhalt, Form und Gehalt. Der Religion kommt dabei bereits in den ersten Texten die übergreifende Funktion zu, alle Vollzüge des Menschen zu begründen. Zugleich betont Tillich aber die Angewiesenheit der Religion auf die Formen der Kultur. In diesem Kontext etabliert er den Geistbegriff, der – synonym zu „Mensch“ und „Freiheit“ – den Menschen als Wesen kennzeichnet, das aus seiner Gebundenheit an die Natur heraustritt und sich in der Sittlichkeit als frei bestimmt. Zudem liegen auch die Wurzeln des für Tillich zeitlebens wichtigen Begriffs „Persönlichkeit“ in diesen frühen Versuchen. Dieses Konzept von Persönlichkeit setzt sich als zentrales ethisches Element fort. Des Weiteren wird für Tillich die Rechtfertigung ebenfalls in der frühesten Zeit zur zentralen Begründungskategorie der Theologie und somit nicht zuletzt der Ethik. In direkter Verbindung mit der Rechtfertigung findet sich in Tillichs Examensarbeit zudem der erste Beleg für seine Rezeption der Hegelschen Rechtstheorie und der darin enthaltenen Fassung der sozialen Anerkennung. Rechtfertigung und Anerkennung werden von Tillich verknüpft zu einem ersten tastenden Versuch einer Rechtstheologie. Diese muss für ihn – will sie theologisch sein und sich in der Tradition biblischer Sozialkritik bewegen – das Soziale prinzipiell und nicht nachgeordnet in den Blick nehmen. Zudem wurde in diesem Zusammenhang zum ersten Mal Tillichs positive Sicht auf die Sozialdemokratie und somit ein politischer Impetus für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg auffällig. Für die früheste Zeit zeigten sich damit als zentrale Ergebnisse die Einführung der Liebe als Grundlage der Ethik und erste Hinweise auf ihre Ausgestaltung als Anerkennung. Zweitens kam Tillichs theologisches System aus dem Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in den Blick. In der Systematischen Theologie von 1913 ordnet er geistphilosophische Motive zusammen und entfaltet daraus eine erste eigenständige Theologische Ethik. In der Zeit dieses ambitionierten Entwurfs intensiviert Tillich seine Lektüre philosophisch-idealistischer Werke (besonders Schelling) und

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Resümee

zugleich seine Kommunikation mit Zeitgenossen, die wie er an einem neuidealistischen Denken interessiert waren (Medicus, Fritz, Büchsel, Hirsch). In seinem ersten Systementwurf zeichnet Tillich auf Grundlage der Grundfunktionen des Geistes – Religion, Kultur und Sittlichkeit – den Weg des Menschen zu seiner sittlichen Selbstbestimmung, aus der die Sünde als Entfremdung von Gott resultiert. Die Theologische Ethik thematisiert in der Folge den Versuch der Rückkehr des Menschen zu seiner Einheit mit Gott. Diese Rückkehr vollzieht sich als Leben in Gemeinschaftsformen, die getragen sind von der gegebenen und erfahrenen Rechtfertigung. Aus der Einsicht in die Rechtfertigung folgt für den Menschen die praktische Umsetzung der Nächstenliebe. Diese besteht in der unbedingten Anerkennung der oder des Nächsten als gerechtfertigtes Geschöpf. Das bedeutet im Umkehrschluss zugleich die eigene Angewiesenheit auf die Anerkennung als gerechtfertigtes Wesen. Das wechselseitige Handeln der Anerkennung stellt sich also als gelebtes Liebesgebot heraus. Die unbedingte Anerkennung wird dazu von Tillich nicht nur am Verhältnis der größeren Institutionen menschlicher Sozialität (Staat oder Kirche) festgemacht, sondern an den existentiellen Formen der Zuwendung in Blick, Anrede, sozialer Achtung, Schutz und gegenseitiger Kritik. Es liegt mit dem Werk von 1913 ein Versuch theologischer Ethik der Liebe vor, der für Tillichs Entwicklung von eminenter Bedeutung ist. Tillich hat 1913 die unbedingte Anerkennung als Person ausführlich durch den Rechtfertigungsgedanken fundiert und hält im gesamten weiteren Werk an dieser Fundierung fest. Die drei nachfolgenden Schritte im Denkweg Tillichs haben einen mehr oder weniger ähnlichen zeitgeschichtlichen Hintergrund. Tillich steht nunmehr unter dem Einfluss seiner Kriegserfahrung (1914–1918) und reagiert auf die neue gesellschaftliche Situation, die durch Krisenwahrnehmung auf unterschiedlichen Ebenen, weitreichende Verunsicherung und das Erleben von Sinnverlust geprägt ist. Für den dritten Schritt zeigte sich: Tillich führt in den kultur-, wissenschaftsund sinntheoretischen Grundlegungen (1919–1924) seine bereits 1913 angestellten Überlegungen zu einer zeitgemäßen Ethik fort. Diese beziehen sich nicht auf religiöse oder gar konfessionelle Bindung, sondern Ethik wird als kulturhermeneutisches Programm konzipiert, das sich auf sämtliche Funktionen des Geisteslebens richtet. Für Tillich als Kind seiner Zeit steht die Frage der weiteren Bedeutung der Religion als Begründung aller theoretischen und praktischen Vollzüge im Vordergrund. Daraus entwickelt er eine Ethik, die sich auf die Erkenntnis, aber genauso auf die praktische Umsetzung von Sinn fokussiert. Obwohl die vollständige Umsetzung nicht erreichbar ist, weil dies wiederum der rechtfertigungstheologischen Prämisse widersprechen würde, wird die Orientierung am letzten Sinn für Tillich zur Basis moralischen Handelns. Konkret umreißt er solche Orientierung für die Grundformen der Praxis, das Recht der Einzelpersonen und die Gemeinschaft als Gemeinschaft sinnhafter Anerkennung. Während im Recht die Person vollständig

1 Die Entwicklung der ethischen Theorie unbedingter Anerkennung

323

als Sinnträgerin anzuerkennen ist, zielt die Anerkennung letztlich auf den Zusammenschluss zu einer Gemeinschaft, die den unbedingten Sinn zum Ausdruck bringt. Geschehen kann dieser Zusammenschluss zu einer Gemeinschaft für Tillich allein in dem Bewusstsein darüber, dass im sozialen Handeln Sinn realisiert wird, der als solcher auf den letzten Sinn verweist. In der Praxis partizipiert der endliche Sinn am Unbedingten und drückt sich in Anerkennung des anderen aus. Recht und Gemeinschaft stellen ein sinnverwirklichendes Handeln dar, das in jedem Einzelnen den Sinn des Unbedingten aufscheinen lässt. Auf der Grundlage der Kulturund Sinntheorie formuliert Tillich in diesem Kontext die unbedingte Anerkennung der Person mit deutlich sparsamerem theologischem Vokabular. Die Anerkennung wird sinntheoretisch konturiert als Forderung nach Umsetzung von Sinn. Sie wird damit als praktische Repräsentation des letzten unbedingten – oder eben göttlichen – Sinns verstanden. Viertens konzeptualisiert Tillich zeitgleich den frühen Religiösen Sozialismus (1919–1924) als praktische Konsequenz der kulturtheologischen und sinntheoretischen Einsichten. Im Bewusstsein des Kairos soll der Religiöse Sozialismus die zerstörenden Dämonien der Zeit bekämpfen. Im Konzept des religiös fundierten Sozialismus sticht zunächst die deutliche „Rückkehr“ zu der grundständigen Ausrichtung des moralischen Handelns am Liebesgebot und der jesuanischen oder christlichen Liebesethik hervor. Wiederum äußert sich hier Tillichs Neigung, die Theoriestränge zusammenzubinden. Es wurde gezeigt, dass für Tillich die Ethik des Religiösen Sozialismus eine Anwendung der Sinntheorie darstellt. Dem diagnostizierten und zeitbedingten Sinnverlust kann nach Tillich nur in folgender Weise begegnet werden: Ich spreche dem oder der anderen als Person ihren Sinn zu, der aus dem unbedingten Sinn resultiert. Dieser drückt sich aus in einer Gemeinschaft, die sich auf das Unbedingte ausrichtet und hierdurch die sozialen Verhältnisse unter dem Primat der Nächstenliebe wandeln kann. In der Sozialethik des Religiösen Sozialismus kommt der Drang der praktischen Umgestaltung zu einer Gesellschaft zum Ausdruck, die auf Liebe und auf das Bewusstsein für das Unbedingte gegründet ist. Die Nächstenliebe fungiert als die eine Norm des Handelns, und die Anerkennung der Persönlichkeit als Teil der sinnhaften Gemeinschaft stellt die Voraussetzung einer sinnerfüllten Sozialität dar. Im fünften Schritt kommt es in der ausgereiften Sozialismuskonzeption (1926–1933) zu einer Fortentwicklung, die an die Sinnforderung anschließt und insbesondere durch das Konzept der Macht vertieft wird. In ihrer „Mächtigkeit“, also dem Potenzial, das eigene Sein zu realisieren, stößt die Person auf ihr Gegenüber. Die Balance zwischen der Durchsetzung des eigenen Seins und der Achtung vor dem anderen Sein in den theoretischen oder praktischen Vollzügen wird reguliert durch die soziale Anerkennung: In ihr findet das Ich seine Begrenzung direkt in der Begegnung mit dem Du. Der Persönlichkeitsbegriff erhält wiederum die Rolle,

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Resümee

zwischen Individualismus und Kollektivismus zu vermitteln, und so hat Tillich in Grundzügen eine Theorie sozialer Freiheit entworfen. Insbesondere die religiössozialistischen Texte zum Ende der Weimarer Zeit ziehen die bis zum Exil etablierten Muster in Tillichs Theoriebildung zusammen und bündeln Liebes-Ethik, die Frage nach dem Sinn und dem Vollzug der Anerkennung im personalen Handeln zu einer Theorie des ethischen Sozialismus. Im Ergebnis der Rekonstruktion steht somit eine Verbindung von Liebe als ethischem Nukleus und ihrer höchst variablen Anwendungskategorie der Anerkennung. In der jeweiligen Anpassung der Anerkennung kommt es nicht zu Bedeutungsverschiebungen oder veränderten Begründungen. Lediglich der Referenzrahmen, in dem Tillich die Anerkennung einspielt, ist erheblichen Konturierungen unterworfen. Tillich gelingt es dabei, seine begriffliche Begründung der Anerkennung den zeitgenössischen Diskursen anzugleichen. An der rechtfertigungstheologischen Fundierung ändert das indes nichts. Im Blick auf das Gesamtwerk bleibt es dabei: Die Hinwendung Gottes zum Menschen, durch die dieser als gerechtfertigtes Geschöpf ausgezeichnet ist, fordert die unbedingte Anerkennung der anderen Person als gleichfalls geliebtes Geschöpf. Weiterhin gehört Tillichs durchgängige Betonung der Persönlichkeit zu seinem Begründungsmuster dazu. Dies verhindert das Abgleiten in rein kollektivistische Ideen. An den geschilderten Entwicklungsschritten zeigt sich nochmals sehr deutlich, wie schwierig sich Tillichs Denken in plakativen Thesen zusammenfassen lässt. Es handelt sich bei den dargestellten Schritten deshalb nicht um Stufen einer schematischen Entwicklung. Vielmehr steht Tillich beispielhaft für eine auch in ethischer Hinsicht verwickelte Denkbiographie, die sich der Kommunikation mit dem Zeitgeist nicht entzieht, sondern sie je produktiv aufnimmt.

2 Die ethische Theorie aus Liebe und Anerkennung Bei der Behandlung von Tillichs Ethik in seinem Frühwerk kristallisierte sich folgende Frage heraus: Wodurch wird Tillichs ständiges Ringen mit Situation und Prinzip im moralischen Handeln angestoßen? Als Antwort auf diese Frage legte sich Tillichs Sicht auf die Beziehung von Hetero-, Auto- und Theonomie nahe: Es dreht sich folglich um das Problem, dass ich vor der Forderung stehe, zu handeln (Theonomie), mich zugleich aber Fremdbestimmungen ausgesetzt sehe (Heteronomie) und eigenständig und frei zu einer Entscheidung kommen muss (Autonomie). Das ethische Prinzip besteht nach Tillich in der unbedingten Forderung, das Gegenüber als Geschöpf anzuerkennen. Darin bringt sich die Liebe als Grund des Handelns zum Ausdruck. Demgegenüber steht die Situation für die schier unend-

2 Die ethische Theorie aus Liebe und Anerkennung

325

liche Dynamik, in der sich der Mensch immer wieder neu vor der Handlungsaufforderung wiederfindet. Tillich sieht sich demnach mit einer uralten ethischen Fragestellung konfrontiert: Gibt es für den Menschen als freies Wesen eine Lösung, mit den beiden Seiten aus Prinzip und Situation angemessen umzugehen, oder verbleibt der Mensch notwendig in diesem Zustand? Was Tillich vorschwebt, ist die Balance von Theonomie und Autonomie. Das bedeutet: Die Forderung (Prinzip) der unbedingten Anerkennung orientiert das situative Handeln (Situation). In der Begegnung von Person zu Person ereignet sich dieses Zusammenspiel von Prinzip und Situation stetig neu. Das jeweilige Handeln bleibt dieser Dynamik unterworfen und das Problem der konkreten Handlung stellt sich fortwährend neu. Anders gesagt: Sicherheit über das richtige Handeln steht dem Menschen als freiheitlichem Wesen nicht vorab zur Verfügung. Das moralische Handeln liegt darin, sich der jeweiligen Situation trotzdem auszusetzen und aus dem Liebesgebot heraus zur Handlungsentscheidung zu kommen. Tillichs entsprechende Konkretionen sind die im Verlauf der Arbeit herausgearbeiteten Liebesgemeinschaften, in denen sich die situativen Begegnungen ereignen und sich Prinzip und Situation treffen. Auch in Tillichs Ansatz rührt – wie in jeder religiös begründeten Moral – die Orientierung im Ethischen nicht allein aus der Autonomie. Im Gegenüber zu den übrigen Geistesfunktionen wie Wissenschaft, Kunst, Politik oder Recht erkennt die religiös fundierte Ethik die Erfahrung und Forderung unbedingter Anerkennung in der situativen Begegnung an. Das Handeln gegenüber der nächsten Person geschieht im Bewusstsein der letztendlichen Unverfügbarkeit des Guten. Tillichs frühe Ethik lässt sich vor diesem Hintergrund als Theorie der Liebe bezeichnen, die in ihrer praktischen Umsetzung durch die Kategorie der Anerkennung konturiert wird. Die unhintergehbare Grundlage des moralischen Handelns äußert sich in der Spannung von Prinzip und Situation, weil der Mensch darin gefordert ist, die andere Person aus Liebe anzuerkennen. Erst in ihrem Verhältnis zu den genannten Formen in den Lebensbereichen von Kunst, Recht, Wissenschaft, Politik, Gesellschaft und dergleichen, lässt sich Tillichs Ethik zumindest im Ansatz konkretisieren: Seine religiös fundierte Situationsethik stellt den Menschen in interpersonellen genauso wie in politischen, rechtlichen oder wissenschaftlichen Zusammenhängen vor die jeweils neue Handlungsentscheidung, für die kein Regelkatalog bereitliegt. Vielmehr ist der Versuch, aus Liebe und damit in Anerkennung zu handeln, in der Situation gefordert. Eine Ethik, die auf gelingende Gemeinschaft abzielt und zugleich die freiheitliche Entscheidung beibehält, lässt sich nach Tillich anders nicht denken. Das zeigt sich exemplarisch besonders deutlich an seiner Auseinandersetzung mit der Technik. In unterschiedlichen Kontexten befasst sich Tillich mit der Nut-

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Resümee

zung der Technik als „sachlicher Kultur“1 und deren Auswirkung auf den Menschen bei seiner Gestaltung der „Dingwelt“2. Dabei steht der Mensch nach Tillich immer vor der Frage nach angemessener Verwendung der Technik. Es ist stets neu abzuwägen, ob ihre Nutzung zum Gelingen einer Gemeinschaft beiträgt, in der sich die einzelnen aus dem Prinzip der Liebe heraus anerkennend begegnen, oder ob eine Verwendung andersherum die geforderte Anerkennung eher verhindert.3 Tillich hat hiermit einen originären Beitrag zu einer evangelischen Ethik hinterlassen, weil er mit seinem universalen Ansatz zugleich eine Form von Vermittlungstheologie entworfen hat, die über die Grenzen theologisch-kirchlicher Selbstverständigung hinausdenkt: In der Konsequenz der geschilderten Grundannahmen gilt die Forderung nach Anerkennung für jedes begegnende Gegenüber. Die inhaltliche Eigenheit von Tillichs früher Ethik liegt in besonderer Weise in dem beständigen Rückbezug auf die jesuanische Begründung des liebenden Handelns. Die konsequente Mitführung dieser jesuanischen Begründung des menschlichen Handelns verdeutlicht die kultur- und zeitsensible Weitsicht seiner Konzeption: Tillich gelingt es, die komplexe Beschreibung der menschlichen Ausdruckformen in den lebensweltlichen Vollzügen der Kultur – Wissenschaft, Kunst, Recht, Gemeinschaft – immer wieder an die grundständige Wurzel in der Forderung der Nächstenliebe rückzubinden. In diesem Zusammenspiel von Kultur und religiösem Ethos findet sich die bleibende Bedeutung seines ethischen Denkens. An dieser Stelle sei noch eine Frage zu Tillichs ethischer Argumentation festgehalten. Die Anfrage betrifft die Rechtfertigung als Grundlage der Theologie und speziell auch der Ethik bei Tillich. Seine universale Fassung der Rechtfertigungslehre als theologisches Prinzip erweist sich diesbezüglich als das konstante Begründungselement auch in Bezug auf das wechselseitige Handeln der Menschen untereinander. In diesem Zusammenhang konnte bereits die Analyse der Syste-

 Tillich, Monismusarbeit, 57.  So der Begriff für die Bezugswelt des Menschen mit dem Beispiel der Technik in Tillichs Aufsatz „Die Überwindung des Persönlichkeitsideals“, 163 (siehe oben: Teil 2: B.2.2.2). Einschlägig dazu sind für die 1920er Jahre Tillichs Aufsätze „Logos und Mythos der Technik“ und „Die technische Stadt als Symbol“ von 1928 (siehe oben: Teil 2: B.2.2.2). Vgl. dazu Thorsten Moos, „Tillichs Technikdeutung“ und für den Technikdiskurs der Zeit exemplarisch: Christian Schmidt, „Technikkritik als Gesellschaftskritik? Zur Stellung der Technik bei Marx und Heidegger“, in: Christian Lotz u. a. (Hg.), Ding und Verdinglichung. Technik und Sozialphilosophie nach Heidegger und der Kritischen Theorie (Leiden, NL: Brill, 2012), 179–190.  Das Beispiel der Technik eignet sich aufgrund der Faszination, die dieser Bereich auf Tillich immer wieder ausgeübt hat. Gezeigt wurde das für die frühesten Texte oben: Teil 1: A.3 und Teil 1: B.2.3.1 und B.4.5. Für die 1920er Jahre siehe oben: Teil 2: B.2.2.2. In der Examensarbeit 1908 hatte Tillich – wie gezeigt – das Problem einer Nutzung von Luxusgütern behandelt.

2 Die ethische Theorie aus Liebe und Anerkennung

327

matischen Theologie von 1913 zeigen, dass die Rechtfertigung für Tillich in einer universalen Fassung vorliegt. Zwar lässt Tillich die dortige Theologische Ethik insgesamt mit der Kirchen- und Frömmigkeitstheorie – und dem darin behandelten ordo salutis – im ersten Teil beginnen. Doch wurde deutlich, dass er auch in der Darstellung der menschlichen Religiosität auf das universelle Verständnis der Rechtfertigung abzielt.4 Obwohl also das sittliche Handeln für Tillich mit der Frage der individuellen Frömmigkeit beginnt, stellt es sich im Blick auf das Gesamtsystem als plausibler heraus, bei Tillich keine abgekoppelte „Kirchenethik“ anzunehmen. Dazu ist die Weite seines Rechtfertigungskonzepts in unterschiedlichen Kontexten, die in dieser Arbeit fokussiert wurden, zu offenkundig. Für die Fragestellung dieser Arbeit ist zentral, dass Tillich in jedem Fall bereits 1913 eine Offenheit für die Anwendung des theologischen Prinzips schon im Ansatz und dann in den Konkretionen der Gemeinschaftsformen bietet. Daraus ergibt sich das Problem aus ethischer Sicht: Das moralische Handeln in all seinen interpersonalen wie sozialen Facetten wird vom theologischen Prinzip der Rechtfertigung aus betrachtet. Dabei liegt der Fokus vor allem darauf, als Einzelner die anderen als Teil der Gemeinschaft anzuerkennen, unabhängig von deren eigenem Selbstverständnis. Das Insistieren auf der Norm unbedingter Anerkennung eines jeden Gegenübers als gerechtfertigter Person wirft unweigerlich die Frage danach auf, welche Bedeutung es für dieses Konzept hat, dass sich doch nicht alle als Teil dieser Gemeinschaft verstehen. Es bleibt demzufolge die Frage offen, inwiefern jene Menschen zur Gemeinschaft der Gerechtfertigten gehören, die sich selbst nicht als Mitglieder dieser Gemeinschaft bestimmen. Nimmt man das universelle Rechtfertigungsverständnis mit dem Befund zusammen, dass Tillich die Bedeutung des persönlichen Glaubens nicht ausführlich thematisiert, liegt die Vermutung nahe, dass er bei der Rechtfertigung tatsächlich von einem quasi „objektiven“ Geschehen ausgeht und die Frage nach dem Glauben davon abkoppelt. Abschließend sei hervorgehoben, dass die Kategorie der Anerkennung als praktischer Gestalt von Liebe in Tillichs weiterem Werk ihre Bedeutung behält. Im Rekurs auf die Kontextualisierungen in der zurückliegenden Untersuchung fällt zunächst auf, dass Tillich die Figur der Anerkennung nochmals in einer völlig anderen zeitgeschichtlichen Situation geltend macht. In unterschiedlichen Dokumenten und Äußerungen zu Beginn der Exilszeit und dann während des Zweiten Weltkriegs erweist sich die Kategorie der Anerkennung wiederum als zentral für Tillichs Fassung der Ethik. Vor allem stehen die Reden und Radioansprachen, mit denen er sich über den Radiosender des amerikanischen Office of War „Die Stimme

 Siehe oben: Teil 1: B.4.1.

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Resümee

Amerikas“ während des Zweiten Weltkriegs an die Menschen in Deutschland wandte, für diese Fortführung.5 Hier lernt man Tillich als kritischen Beobachter der sozialen wie politischen Entwicklung in Deutschland und Europa kennen. Dabei sind seine Äußerungen deutlich vom Blick auf die Shoah und die Weltkriegskatastrophe geprägt. Zunächst sei aber noch ein Blick auf das Fragment Religion und Weltpolitik, das Tillich vermutlich 1938 zu Papier brachte, geworfen. Hierin stellt er die Forderung nach unbedingter Anerkennung des „Du“ als unhintergehbarer Voraussetzung moralischen Handelns auf. Die Entdeckung des „Du“ oder die Erfahrung der Grenze des Selbst, gezogen durch das andere Selbst, hat unbedingten Charakter. Der moralische Anspruch des „Du“, als Du anerkannt zu werden, ist von keinen Bedingungen abhängig.6

In der Perspektive des werkgeschichtlichen Ausblicks zeigen sich auch Beispiele für eine stärker formalisierte Rede von Anerkennung, wie in der Fortsetzung des eben zitierten Textes erkennbar wird: „Das unbedingte, aber rein formale Kriterium jedes Systems der Gerechtigkeit ist die Anerkennung des begegnenden Selbst als Selbst und darin als gleich.“7 Tillich beschreibt die Anerkennung als „formales Kriterium“ für eine Gesellschaft, die auf Gerechtigkeit basiert. Zudem wird das Kriterium der Gleichheit in dieser Zeit für Tillich zu einem wichtigen Element der Vorstellung von gerechter Gemeinschaft. Gleichheit ist hier zunächst nur bezogen auf den Anspruch der einzelnen Person auf voraussetzungslose Anerkennung. Die angesprochene Tendenz hin zu einem formaleren Verständnis von Anerkennung verbindet sich in der Folge jedoch mit einem expliziteren Bezug auf das Recht.8 Merklich zugespitzt wird jene Tendenz insbesondere in Tillichs Rundfunkreden und Einlassungen zur politischen Lage in Europa. Im Mai 1942 wendet er sich mit emphatischen Äußerungen aus dem Exil in den Vereinigten Staaten von Amerika an seine Hörerinnen und Hörer in Deutschland. Unter dem eingängigen Titel Der Anschlag auf die Menschenrechte formuliert Tillich hier angesichts des Zwei-

 Vgl. dazu Schäfer, Die Theologie des Politischen bei Paul Tillich, 186–204; Scheliha, „Politische Ethik“, 161–165.  Tillich, „Religion und Weltpolitik (Ein Fragment)“, in: Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, Bd. IX, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1967), 139–192, 161 f.  Tillich, „Religion und Weltpolitik“, 162.  Vgl. zu dieser Deutungsrichtung aus spezifisch rechtstheoretischer Sicht Wrege, Rechtstheologie, passim.

2 Die ethische Theorie aus Liebe und Anerkennung

329

ten Weltkriegs einen eindringlichen Appell zur unbedingten Achtung des Rechts auf Anerkennung: Dein Recht ist die Anerkennung, daß Du Person bist, daß Du Würde hast, die unverletzlich ist, daß Du ein unvertauschbares, einmaliges Selbst bist. Es ist die Anerkennung, daß Du Mensch bist. Entrechtung ist Entmenschung.9

Tillich verweist hier auf die Würde, um die Forderung nach unbedingter Anerkennung im Kontext der Terrorherrschaft des NS-Regimes in Deutschland und der Kriegswirren in Europa als unhintergehbar zu kennzeichnen.10 In einer energischeren Klarheit als in vielen anderen Texten formuliert Tillich, dass die fehlende Anerkennung letztlich die Aufhebung beziehungsweise Vernichtung der Person bedeuten würde. Ebenso eindrücklich und in Bezug auf einen konkreten Bereich menschlicher Interaktion verwendet Tillich die Kategorie der wechselseitigen Anerkennung etwa ein Jahr später in der Rede über Ziel und Zerbrechen der nationalsozialistischen Erziehung. Tillich nennt drei Überzeugungen, mit denen der Nationalsozialismus die Jugend übernehmen und alle Widerstände brechen wolle: Macht sei alles und Gerechtigkeit nichts; allein das Blut, nicht der Geist sei wertvoll; das Volk sei alles, die einzelnen nichts.11 In der unmittelbaren Konsequenz dieser Thesen liegt für Tillich die Vernichtung der Anerkennung: Im Blick auf den dritten Aspekt rekurriert er auf das Beispiel der Familie in der NS-Diktatur, in der es auf den „Verlust alles Persönlichen“ ankam.12 In der Folge wird somit für Tillich wiederum die Anerkennung der Würde der Person vernichtet, wie er eine Wendung Adolf von Harnacks aufnehmend an dieser Stelle formuliert: „Der christliche Glaube an den unendlichen Wert der Menschenseele wurde beiseite geschoben, die Anerkennung der menschlichen Würde verschwand aus dem Bewußtstein der Jugend.“13

 Tillich, „Der Anschlag auf die Menschenrechte (11. Mai 1942)“, in: An meine deutschen Freunde. Die politischen Reden Paul Tillichs während des 2. Weltkriegs über die „Stimme Amerikas“, Bd. III, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Karin Schäfer-Kretzler (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1973), 37–41, 40.  Vgl. dazu Schäfer, Die Theologie des Politischen bei Paul Tillich. Auf die explizite Bezugnahme auf die Würde an dieser Stelle hebt auch Scheliha, „Politische Ethik“, 162 f., aus Sicht der politischen Äußerungen Tillichs zu dieser Zeit ab und weist auf Hegel und seinen Anerkennungsbegriff als Hintergrund hin. Zu Tillichs Sicht auf den Nationalsozialismus im Kontext der Reden siehe auch Winfried Halder, Exilrufe nach Deutschland. Die Rundfunkreden von Thomas Mann, Paul Tillich und Johannes R. Becher 1940–1945. Analyse, Wirkung, Bedeutung, (Münster: LIT 2002), 79–83.  Vgl. Tillich, „Ziel und Zerbrechen der nationalsozialistischen Erziehung“ (7. Juni 1943), EN III, 214–218, 215.  Tillich, „Ziel und Zerbrechen der nationalsozialistischen Erziehung“, 217.  Tillich, „Ziel und Zerbrechen der nationalsozialistischen Erziehung“, 217.

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Resümee

Der schlaglichtartige Ausblick auf die Kategorie der Anerkennung in Tillichs mittlerem Werk bis zur Zeit des Zweiten Weltkriegs zeigt: „Anerkennung“ bleibt zentral für Tillichs ethisches Denken. Dabei kommt es nicht zu einer Bedeutungsverschiebung von Anerkennung als gelebter Liebe. Allenfalls äußert sich eine gewisse Tendenz zur Formalisierung, insbesondere im Kontext des Rechts. Dass sich daran auch im Spätwerk nichts ändert, kann im Zusammenhang dieser Arbeit nicht im Einzelnen gezeigt werden.14 Das kontinuierliche Festhalten an der Kategorie der Anerkennung, das sich unter werkgeschichtlichem Aspekt gezeigt hat, unterstreicht die Bedeutung dieser Kategorie für Tillichs Werk. Ebenso wird diese Bedeutung markiert durch Tillichs Rekurs auf „Anerkennung“ in ganz verschiedenen Textsorten. Gerade die eben erwähnten, stark situationsgebundenen Reden an Hörerinnen und Hörer im nationalsozialistischen Deutschland machen deutlich: „Anerkennung“ ist für Tillich nicht nur eine Figur in einem theoretischen Gedankengebäude. Sie hat für ihn vielmehr grundlegende praktische Relevanz – dies wird augenfällig in einem gesellschaftlichen System, dem eben diese Grundlage menschlichen Zusammenlebens gänzlich fehlt. Die im Vorigen angedeuteten Aspekte im späteren Werk Tillichs sind auch deshalb interessant, weil sie Anknüpfungspotenziale für weitere Forschung bieten: Dahingehend wäre es aufschlussreich, auch den bekannteren Tillich im Umfeld der späten Systematischen Theologie in die neueren Anerkennungsdiskurse einzuzeichnen. Tillichs zwar religiös fundiertes, aber durch seine kulturtheoretische Konturierung offenes Verständnis der Anerkennung könnte sich in diesem Zusammenhang als eigenständige Stimme herausstellen. Darüber hinaus zeigen die Ausflüge in spätere Äußerungen Tillichs im Rückblick, dass er hierfür im frühen Denken die Grundlagen gelegt hat. Ohne die Verknüpfungen innerhalb des Denkweges lassen sich Tillichs verzweigte Gedankenschritte nicht in ihrem jeweiligen Rahmen interpretieren. Im Rückblick auf die vorangegangene Deutung in dieser Untersuchung, die oben markierten kritischen Anfragen und den Ausblick auf das mittlere und späte Denken, wird Tillichs theologisch-ethisches Programm zu einer tiefgreifenden und bleibenden Herausforderung für ethische Grundfragen in ihren jeweiligen Kontexten. Darin kommt zum Ausdruck, dass Tillichs Ethik-Ansatz stets theologische, reli-

 Vgl. dazu nur die bekannteren Vorlesungen und die späte Systematische Theologie: ST III, bes. 514–521; Paul Tillich, Liebe, Macht, Gerechtigkeit, in: Sein und Sinn. Zwei Schriften zur Ontologie, Bd. XI, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht, (Frankfurt a.M.: Evangelisches Verlagswerk, 3 1982), 143–225, 194; „Das religiöse Fundament des moralischen Handelns“ im gleichnamigen Band Das religiöse Fundament des moralischen Handelns, Bd. III, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1965), 13–82, bes. 33 f.; Systematische Theologie III, exemplarisch 514–522.

2 Die ethische Theorie aus Liebe und Anerkennung

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gions- und geistesphilosophische mit sozialethischen und zeitkritischen, anthropologischen und existentialistischen Perspektiven verknüpft. Mit Tillichs Denken des Ethischen steht ein eigenständiger Entwurf Theologischer Ethik vor Augen, der eine immense Anschlussfähigkeit aufweist. Die Verknüpfung von Religion und Ethos lässt sich auf dieser Basis nicht im Vakuum und losgelöst von den weiteren Bezugsfeldern des Menschen als kreativem Geist darstellen. Evangelische Ethik kann von Tillich insbesondere lernen, ihre Diskursfähigkeit nicht von dem Festhalten an fixen Formeln und Begriffen abhängig zu machen. Dieses selbstreflexive und ideologiekritische Moment hat Tillich in der kontextsensiblen Entfaltung seiner Ethik stetig mitbedacht. Er war dazu zum einen in der Lage, weil er die frühe Verknüpfung von Liebe und Anerkennung beständig mitführt und an den zugehörigen Grundannahmen festhält. Zum anderen konnte er auf der Grundlage seines Ethikansatzes den Blick für wechselnde Umstände und Einflüsse stets offenhalten.

Quellen- und Literaturverzeichnis Abkürzungen richten sich nach: Schwertner, Siegfried M. „Abkürzungsverzeichnis“, Theologische Realenzyklopädie, hg. v. Gerhard Krause/Gerhard Müller, Berlin/New York: Walter de Gruyter 2 1994.

Abkürzungen EN

GW MW ST

Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, Bd. I–XVIII, hg. von Renate Albrecht/Ingeborg C. Henel/Erdmann Sturm u. a., Stuttgart/Frankfurt a.M.: Evangelisches Verlagswerk, anschießend/Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1971ff. Gesammelte Werke, Bd. I–XIV, hg. v. Renate Albrecht, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1959–21990. Main Works/Hauptwerke, Bd. I–VI, hg. v. Carl Heinz Ratschow, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1987–1998. Systematische Theologie, Bd. I–III, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1955–1966.

Quellen Tillich-Quellen Wenn die Datierung unsicher ist, wird das von den Herausgebenden vermutete Jahr vermerkt. Der Übersicht halber werden zuerst die verwendeten Bände aufgeführt und anschließend die einzelnen Texte Tillichs. Entwürfe, Bücher und Vorlesungen Tillichs werden kursiv, Aufsätze und weitere Beiträge in doppelten Anführungszeichen geführt. Zur leichten Auffindbarkeit der Quellen wird jeder Titel bei der Erstnennung vollständig aufgelöst und anschließend als Kurztitel angegeben.

Gesammelte Werke Frühe Hauptwerke Bd. I, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 21959 (GW I). Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum Religiösen Sozialismus, Bd. II, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 21962 (GW II). Das religiöse Fundament des moralischen Handelns, Bd. III, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1965 (GW III). Der Widerstand von Raum und Zeit. Schriften zur Geschichtsphilosophie, Bd. VI, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1963 (GW VI). Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, Bd. V, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 21978 (GW V). Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung. Schriften zur Theologie I, Bd. VII, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1962 (GW VII). Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II, Bd. VIII, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1970. https://doi.org/10.1515/9783111025490-007

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Quellen- und Literaturverzeichnis

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Ergänzungs- und Nachlassbände Vorlesungen über die Geschichte des christlichen Denkens, Teil 1: Urchristentum bis Nachreformation, Bd. I, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Ingeborg C. Henel, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1971 (EN I). Vorlesungen über die Geschichte des christlichen Denkens, Teil 2: Aspekte des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. II, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich hg. u. übers. von Ingeborg C. Henel, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1963 (EN II). An meine deutschen Freunde. Die politischen Reden Paul Tillichs während des 2. Weltkriegs über die „Stimme Amerikas“, Bd. III, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Karin Schäfer-Kretzler, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1973 (EN III). Ein Lebensbild in Dokumenten. Briefe, Tagebuch-Auszüge, Berichte, Bd. V, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich hg. von Renate Albrecht und Margot Hahl, Stuttgart/ Frankfurt a.M.: Evangelisches Verlagswerk, 1980 (EN V). Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische und politische Stellungnahmen und Gespräche, Bd. VI, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich hg. von Renate Albrecht und René Trautmann, Frankfurt a.M.: Evangelisches Verlagswerk, 1983 (EN VI). Frühe Predigten (1909–1918), Bd. VII, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. v. Erdmann Sturm, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1994 (EN VII). Frühe Vorlesungen im Exil (1934–1935), Bd. XVII, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. v. Erdmann Sturm, Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2012 (EW XVII). Vorlesung über Hegel (Frankfurt 1931/32), Bd. VIII, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Erdmann Sturm, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1995 (EN VIII). Frühe Werke, Bd. IX, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Gert Hummel und Doris Lax, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1998 (EN IX). Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908–1933), erster Teil, Bd. X, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Erdmann Sturm, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1999 (EN X). Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908–1933), zweiter Teil, Bd. XI, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Erdmann Sturm, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1999 (EN XI). Berliner Vorlesungen 1 (1919–1920), Bd. XII, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von Erdmann Sturm, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2001 (EN XII).

Quellen

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Main Works/Hauptwerke Writings in Social Philosophy and Ethics/Sozialphilosophische und ethische Schriften, hg. von Erdmann Sturm, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1998 (HW/MW 3). Philosophy of Religion/Religionsphilosophische Schriften, hg. von John P. Clayton, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1987 (HW/MW 4) Theological Writings/Theologische Schriften, hg. von Gert Hummel, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1992. (HW/MW 6)

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Dienstbeck, S. 9, 20, 63–64, 67–68, 73, 75–76, 79, 121, 149, 160 Dierse, U. 152 Dilthey, W. 79, 294 Delling, G. 268 Deresch, W. 259 Dessoir, M. 65, 232 Dreier, H. 13 Drehsen, V. 170 Drobe, C. 268 Dunkel, D. 168, 259

Barth, U. 3, 6, 27, 74, 83–84, 213, 217, 212, 233 Barth, K. 5, 7, 71, 125, 169, 212, 263 Baumann, A. -C. 14 Baumotte, M. 72 Bavaj, R. 308 Bernet-Strahm, A. 9, 12, 39, 41, 64, 72, 116 Birkner, H. -J. 146–147 Bleker, J. 151 Blumenberg, H. 156 Blumhardt, C. 168, 259 Bonhoeffer, D. 257 Brouwer, C. 85 Brakelmann, G. 186, 260 Braun, M. 6 Braune-Krickau, T. 6 Breipohl, R. 260 Brenner, H. -B. 11 Brunner, E. 3, 25, 263 Bruns, K. 232 Bultmann, R. 7 Büchsel, F. 24, 27, 39, 322

Eberhard, H. 11, 270

Christophersen, A. 10, 25, 62, 169, 213, 260–261, 263, 266, 268, 280, 308 Clayton, J. P. 64, 72, 223, 293 Cordemann, C. 222 Danz, C. 4–5, 8–9, 12–14, 20, 26, 33, 43, 63–64, 66, 69, 73–74, 98, 101, 121, 169, 195, 210, 212, 216, 222, 233, 246, 266, 269, 283–284, 308

https://doi.org/10.1515/9783111025490-008

Fichte, J. G. 4, 26, 30, 184 Fischer, J. 3 Fischer-Appelt, P. 153 Franke, U. 95 Freund, A. 56 Friedrich, N. 263 Fritz, A. 38 Fritz, M. 44, 66, 93, 195, 203, 211, 218, 223, 231, 233, 269, 270–271, 276–277, 293 Fuß, T. 300 Geßner, W. 93 Gerber, U. 5–6 Glöckner, K. 10 Gloy, K. 81–83 Gogarten, F. 26 Graf, F. W. 1, 25, 44, 156, 166, 170, 195, 231, 288, 291, 308 Grube, D. -M. 13, 233 Haigis, P. 8, 11 Hauser, R. 151 Hegel, G. F. W. 3–4, 15, 50–51, 54–56, 60, 73, 76–77, 93–96, 107, 182–183, 219, 321, 329 Heinemann, L. C. 8–9, 20, 22, 25, 39, 41, 58, 62, 64, 66–67, 75, 79, 95, 115, 117, 148, 151, 160, 223, 232 Heit, A. 300 Henel, I. C. 10, 267–268 Herrmann, W. 41–44, 102, 149–150, 153–154

354

Personenregister

Hermanni, F. 41 Hirsch, E. 4, 25–26, 67, 92, 210–211, 222, 224, 231 Hoffmann, S. 182–183 Holzhey, H. 152–153, 236 Honecker, M. 3 Honneth, A. 4–5, 56 Horkheimer, M. 291, 307 Huber, W. 2–3, 6 Hühn, H. 149 Hülsmann, H. 152 Hummel, G. 12, 19–20, 26, 39, 61–62, 68, 72, 99, 169 Husserl, E. 224, 233 Huxel, K. 140 Ihben-Bahl, S. J. 7–8 Ikäheimo, H. 4–5, 55 Jähnichen, T. 53, 260 Jahr, H. 11 Jüngel, E. 5 Käfer, A. 125 Kähler, M. 43, 68 Kant, I. 31, 73, 156, 183 Karle, I. 5 Kehrer, G. 268 Kierkegaard, S. A. 2 Kloc-Konkolowicz, J. 54 Koch, T. 6 Krech, V. 93 Kreß, H. 153–154 Krombacher, S. 5 Kroner, R. 3, 293 Krüger, M. D. 114 Kubik, J. 64, 67, 76 Kutter, H. 53, 168, 259 Lauster, J. 5 Lax, D. 9–10, 19–20, 26, 39, 61–62, 64, 68, 72 Lindner, R. 11 Loew, W. 271 Landauer, G. 260 Lübbe, H. 26, 41 Lütgert, W. 2, 25, 38, 115, 177, 184, 209, 321 Lukács, G. 211

Luserke, M. 300 Luther, M. 5, Fn. 23, 47, 114 Fn. 225, 125 Fn. 283 Mann, Th. 24, 38, 42–44 Matern, H. 169 Marquardt, M. 140 Marx, K. 268 Meckenstock, G. 3 Medicus, F. 25, 39, 156, 288, 321–322 Meireis, T. 2, 6 Merle, J. -C. 4, 184 Meszaros, J. 10–11 Mohr, G. 55 Mokrosch, R. 12, 20, 64 Moos, T. 232, 304, 326 Moritz, H. 11 Moxter, M. 5, 8, 233, 246–247 Neugebauer, G. 8, 20, 24–27, 33–35, 49, 61–63, 67–68, 76, 90, 92–93, 111, 114, 116, 119, 126, 132–133, 140, 149, 156, 166, 203, 210, 233 Neugebauer, M. 9, 12, 21–22, 24, 34–35, 64, 69–70, 85–86, 145, 154, 159, 161, 175–176, 178, 244, 284 Niebergall, F. 263 Nord, I. 11, 63 Nowak, K. 260 Nygren, A. 3 Oesterle, G. 95 Ohly, L. 5–6 O´Keefe, T. 10 Pauck, M. 25, 61, 210, 260, 291, 308 Pauck, W. 25, 61, 210, 260, 291, 308 Pecina, B. 27, 34 Pongo, K. T. 11 Raatz, G. 216, 233 Ragaz, L. 168, 259 Reimer, J. A. 10 Rendtorff, T. 3, 33 Rentsch, T. 281 Renz, R. 152, 236, 247 Reuter, H. -R. 2, 6, 146, 162, 167, 261 Rohls, J. 41–43 Roth, M. 72

Personenregister

Saal, C. 12 Saarinen, R. 5–6 Samse, U. 11, 270 Schäfer, K. 10, 328 Scharf, U. C. 63 Scheler, M. 152–153 Scheliha, A. von 5, 14, 42, 284–285, 287, 317, 328–329 Schelling, F. W. J. 12, 20, 66, 81–87, 111, 321 Schlatter, A. 2–3 Schleiermacher, F.D.E. 5, 95–96, 146 Schmidt, C. 326 Schneider, J. 299 Schliep, H. J. 292 Schrey, H. -H. 281 Schumann, F. 292 Schwanz, P. 7 Schwerdtfeger, E. 11 Schüßler, W. 3, 8–9, 11, 43, 61–66, 73, 92, 98, 169, 195, 210, 216, 222, 233, 246, 260, 269, 291, 308 Schwöbel, C. 43, 271 Simmel, G. 11, 92–94 Spengler, O. 211 Seha, C. 11 Shearn, S. A. 9, 67 Stahl, D. 10 Stock, K. 3 Sturm, E. 1, 4, 8, 27, 61, 63–64, 66–67, 73, 98, 119, 134, 138, 169, 195, 209, 211–212, 214, 216, 227, 233, 257, 259–261, 266, 269, 271, 279, 291–295, 297–300, 308, 316

Suh, J. -H. 9 Söchtig, S. 79 Sölle, D. 10 Tetzlaff, K. 6 Tillich, J. 210 Thurneysen, E. 263 Trillhaas, W. 7 Troeltsch, E. 33, 65, 119, 153–154, 170, 194 Ulrich, T. 11 Vogt, S. 308 Wagner, F. 12 Wegener, R. 12, 62, 72, 281 Wendland, H. -D. 195 Wenz, G. 8–9, 20, 33, 68, 231 Wernsdörfer, T. 11 Windelband, W. 41, 95 Wittekind, F. 64, 66, 73, 116, 212, 257 Wolf, F. O. 151 Wolf, U. 146 Wörn, K. 9, 66, 292, 311 Wrege, W. R. 13, 51, 240 Yunt, J. 10 Zeisset, J. 36 Ziche, P. 233 Zilsel, E. 300

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Sachregister Abgrund 273, 277–279, 289, 301 Absolute, das 29, 110–112, 114, 117–119, 164, 265 Fn. 29 Abstrakte, das 143, 173–174, 178 absoluter Standpunkt 71, 75–78, 98, 104, 106–107, 110–113, 116, 120, 122, 124, 133–134, 138, 157, 193, 201 absolutes/eschatologisches/ideales Moment 114, 118–119, 123, 139, 220 abstraktes Moment 30, 114, 143, 168 Achtung 32, 181, 189, 255, 283, 301–302, 306, 322–323, 329 Anerkennung passim Anthropologie 8, 40, 123–124, 189, 192, 249, 310, 318 Apologetik 61–63, 68, 71–73, 76, 111, 120–122, 134f., 138, 140f., 144, 157, 180 Autonomie 11, 31–32, 50, 57–58, 76, 100–101, 147–148, 150, 152–161, 183, 200, 202, 211 Fn. 17, 223–225, 228, 230, 236–237, 240–242, 244, 247, 253, 257, 264–268, 276–277, 283–284, 286–287, 289, 300 Fn. 222, 303, 305, 312, 321, 324–325 Ästhetik 98, 134, 170 Fn. 490, 213, 221, 227–228, 251, 254, 276, Fn. 92 Begegnung 296–299, 323, 325 Bewusstsein 50, 71, 84, 93–94, 169, 171, 234–235, 253–254, 269, 271–272, 274, 278, 280, 303, 323, 325 Blick 188, 205, 322 bürgerliche Gesellschaft 43, 314 Bürgerlichkeit 212, 284, 288, 293, 314 Christentum 29–30, 33–35, 37, 40, 45–46, 49–50, 53, 56–57, 102, 117 Fn. 244, 119, 122, 192–194, 209, 212–214, 220, 226, 260, 264, 283, 285–286, 321 christliche Ethik 176, 184 Christologie 8, 20, 24–27, 66, 68, 76, 116, 118 Fn. 248, 120–122, 125, 166 Christonomie 70, 147–148, 155, 159–163, 171–172, 179, 202, 205

https://doi.org/10.1515/9783111025490-009

Christus 34–36, 118, 122, 125, 165–166, 268 Fn. 51, 283 Fn. 133 Dämonische, das 267, 269–270, 276, 278–279, 288–289 Denken, das 21–24, 28–29, 34, 36–37, 46, 56, 59, 65, 71, 74–75, 77–80, 86–87, 95–97, 105–107, 111, 121, 129,136, 142, 227–228, 234, 136, 241, 245, 251, 254, 256, 321–322, 324 deskriptive Ethik 91–92, 103, 218 Dialektik 101, 116, 118, 220, 232, 241 Dogmatik 22–26, 41, 61–64, 66–68, 71, 76, 120–125, 127, 133, 135–136, 138, 140, 165–166, 199 Fn. 619, 202–203 Ehe 145 Fn. 281, 180–181, 188, 194 ethisches Prinzip 324 Ethos 137, 235, 238–245, 247, 249, 256, 266, 269, 304, 326, 331 Erster Weltkrieg 15, 19, 44, 53, 63, 133 Fn. 326, 138, 169, 194, 202, 210, 262, 318, 321 Evolution 84, 87, 105, 221 Eschatologie 68, 169 Fn. 483 ethische Forderung 205 ethischer Formalismus 152–154, 249, 251 Eudämonismus 37, 149–150, 162 Familie 92, 103, 145, 154, 157, 161, 172–173, 180–181, 188–192, 194, 253, 290, 329 Forderung 56–57, 100, 102, 153–154, 164, 176, 179, 183, 188 Fn. 562, 201, 228–229, 235, 241, 250, 257 Fn. 247, 262 Fn. 19, 263, 266, 269, 271, 273, 275–278, 283–285, 295–296, 299 Fn. 219, 303, 305–307, 309, 323, 326 Form/Inhalt/Gehalt 215–217, 219, 222–225, 228–230, 235–238, 240–244, 247–248, 253–254, 257 Fn. 248, 264–266, 273, 278, 286, 289–290, 321 Freundschaft 145 Fn. 381, 157, 178, 180, 181, 184, 188–190 Fundamentaltheologie 61–63, 67–68, 70–72, 92, 106, 108, 120–121, 123–124, 126, 132,

358

Sachregister

135–136, 143, 156 Fn. 156, 179, 185, 189, 193, 195, 198, 202–203 Fühlen, das/Gefühl 21–22, 28, 34, 36–37, 46, 56, 59, 87, 95–96, 219, 227–228, 254, 256, 265

223–224, 257, 268 Fn. 50, 286, 303, 305, 321, 324 historischer Jesus 115–117, 122, 142 Humanität 43–44, 184, 186–187, 196, 200–202, 205

Gehalt siehe Form/Inhalt/Gehalt Geist 15, 40, 50, 57–59, 62, 69, 77–87, 89, 91, 93 Fn. 141.143, 94–95, 98, 100–103, 105, 120–122, 124–125, 133, 135, 140, 162 Fn. 456, 165–166, 185, 189, 198, 213–214, 216–217, 219, 222, 227–228, 230, 234, 237, 240, 245, 251–252, 262, 265, 272–273, 275, 276, 281, 287–288, 294, 296, 303, 329, 331 Geistesfunktion(en) 79, 112, 248–249, 282 Gemeinschaft 4, 13, 45, 50, 87, 103, 106, 108, 116, 127–128, 130, 141–142, 160, 163, 165–166, 171–182, 184, 187–188, 190–192, 201, 204–205, 228–231, 233–235, 237–251, 253–258, 262–263, 268, 275, 280–281, 283–285, 287–291, 294–295, 298–299, 301–302, 304–307, 313, 315–318, 322–323, 325–328 Geschichtsphilosophie 217, 260, 283–284 Geschichtstheologie 271 Gerechtigkeit 58–59, 121,123, 126–130, 186–187, 200–201, 240, 248, 253–254, 268, 275–276, 283, 290, 309, 311, 317, 328–329 Gesellschaft 43, 98, 100, 103, 132, 139, 145 Fn. 381, 161, 173, 180–182, 187–188, 200, 203, 205, 210–211, 213, 256, 262–263, 269–271, 274–275, 295, 298, 317, 320, 323, 325, 328 Gewissen 56–57, 102, 153, 158, 161–164, 169, 305 Gnade 5 Fn. 23, 29, 35, 115–116, 123, 126–127, 130, 140–141, 162, 164–165, 287, 313 Fn. 284 Gläubiger Realismus 292–293 Gottesgedanke 75, 143 Gute, das 35–36, 30, 177 Güter 48, 108–109, 129, 145–146, 150, 154, 162, 167, 169–172, 197–199, 291, 304 Güterethik 31, 154, 201, 239

Idealismus 3–4, 9, 25–27, 38–41, 59, 69, 73 Fn. 52, 74, 77, 100 Fn. 165, 107, 285 Imperativ, kategorischer 31, 100–101, 151, 153–154, 156 Fn. 432, 163, 178, 185 Inhalt siehe Form/Inhalt/Gehalt Intuition 28 Fn. 40, 74, 76, 81, 86–87, 111, 114, 120, 135, 144, 165, 174–175, 177, 195, 234, 265 Fn. 29, 321

Heilige, das 126, 265–266 Heteronomie 31, 57–58, 76 Fn. 71, 147–148, 150, 154–157, 159–160, 162, 202, 215, 221,

Kairos 10, 213, 260–263, 266–269, 271, 280, 284, 288–289, 292–293, 323 Kirche 73 Fn. 52, 98, 128, 130, 132, 137–140, 143, 145 Fn. 381, 157, 172, 175, 180–181, 188, 196, 198–200, 203, 219, 222, 224–225, 227–228, 230, 270–272, 278, 282, 299 Fn. 214, 322 Klasse 313 Konkrete, das 108 Fn. 201, 118, 142–143, 173, 178, 198 konkretes Moment 30, 114, 117, 142, 167, 198, 292 Kulturfunktion 145, 240 Fn. 147 Kulturtheologie 1, 8, 11, 15–16, 97–98, 133–134, 137, 139, 192, 194–196, 199 Fn. 619, 201–204, 209, 212 Fn. 18, 214–234, 236, 238, 240–242, 244, 246, 248, 250, 252, 254, 256, 257–258, 268, 279, 282, 285–286, 306 Kultus 98, 133, 138, 143–144, 196, 203, 228 Fn. 103, 243–244 Kunst 87–88, 91, 93 Fn. 141, 97–98, 100, 102, 108, 124, 133, 139, 196, 199 Fn. 619, 203, 205, 215–217, 219, 223, 226, 228–229, 234, 236–237, 240–241, 252, 254, 257 Fn. 248, 270, 276, 289, 299 Fn. 215, 308 Fn. 260, 325–326 Liebe passim Liebesgebot/Gebot der Liebe/Doppelgebot der Liebe 2, 172, 178–179, 180, 246 Fn. 191, 262, 285, 287, 318, 322–323, 325 Liebesethik/Ethik der Liebe 2, 178, 228–229, 264, 280, 283–284, 318, 322–323

Sachregister

Macht 9, 13–14, 48, 108, 161, 198, 240 Fn. 158, 251, 253 Fn. 231, 271, 289, 292–295, 297–299, 302, 306–307, 310, 317, 323, 329–330 Metaphysik 41, 75 Fn. 65, 237–241, 243, 245, 257, 256, 266 absolutes/eschatologisches/ideales Moment 114, 118–119, 123, 139, 220 Moral 31–33, 91, 103, 162, 229, 239, 265, 325 Moralität 136, 166, 228

359

Organismus 40, 81, 87, 90–91, 127, 130, 149, 151, 248

Rationalismus 73, 107, 152 Recht 50–55, 58, 60, 87, 90–93, 97, 103, 108, 192, 199 Fn. 619, 201, 213, 277, 235–242, 244–254, 257–258, 265–266, 270, 275–276, 287, 289–290, 299 Fn. 215, 314, 322–323, 325–326, 328–329 Rechtsidee 50–51, 58, 250 Rechtstheologie 13, 39, 52, 54, 93, 321 Rechtstheorie 50–51, 54, 60, 240 Fn. 158, 246, 321 Reflexion, die 15, 69–70, 74, 76, 77, 81, 86–87, 105–115, 117–120, 122–124, 127–129, 131, 135–136, 139, 142, 144, 174–175, 177–178, 182, 193, 195, 197, 199, 204, 265, 267, 321 Reich Gottes 48, 50, 90, 119, 122, 165, 168–169–170, 179, 194–199 Relative, das 101, 106, 111–112, 114, 117 Fn. 240, 131, 139, 164, 170–171 relativer Standpunkt 69–71, 105–106, 117, 120, 129, 131–132 Religionsbegriff 45, 92, 111, 134, 140, 211, 215, 219, 229, 251 religiöses Bewusstsein 28, 37, 71, 94, 219 religiöses Prinzip 97, 104, 110, 133–134, 140, 215, 219–220, 283

Paradox 74, 111–114, 116–119, 122, 127, 136, 158, 164–165, 167, 170, 179–180, 187–188, 193, 197, 199, 321 Person/Persönlichkeit 2, 13–14, 36, 40, 42–45, 49, 55, 58–60, 92, 103–104, 108, 122, 129, 135, 141–142, 144–145, 150, 160, 162–165, 171–179, 176, 178–185, 187–190, 193, 201–203, 205, 212, 229–231, 233, 235, 237, 239–241, 243–246, 248–255, 258, 263, 268, 271–273, 276, 279, 281, 284–285, 287–288, 290–291, 294–295, 297–298–303, 300, 302–307, 318, 321–325, 327–329 Pflicht 103, 163, 285 Pflichtethik 31, 277, 295 philosophische Ethik 136, 220 Politik 14, 211, 270, 235 Proletariat 279 Fb. 115, 295, 313–317 protestantisches Prinzip 284 Fn. 284 Protestantismus 114 Fn. 225, 154, 168, 175 Fn. 509, 212, 260 Fn. 6, 286–287, 305, 313 Fn. 284

sachliche Kultur 48–49, 90, 93–94, 108–109 Schutz 186, 322 Sinnabgrund 273, 277–272, 276, 278, 294–295, 297, 299, 323 Sinnakt 272–273, 275, 277 Sinnelement 241–242, 277 Sinnforderung 114, 253, 264, 271 Sinnfunktion 247–250, 252–253 Sinngehalt 253, 266, 273 Sinngrund 229, 253, 271, 273, 277–278 Sinnlehre 223, 231, 272, 274–276, 279 Sinnprinzip 298 Sinnproduktion 222 Sinnrealisierung/Sinnverwirklichung 239, 248, 252–255, 275, 299 Sinntheorie 8, 10, 15–16, 67, 221 Fn. 70, 222–223, 232, 235, 244, 250–251, 258, 261, 164, 294, 323 sittliches Bewusstsein 100 Sitte 51, 87, 90–93, 97, 102, 108, 186, 199–202 Sittengesetz 31–32, 100, 101, 151, 153, 156, 163

Nationalsozialismus 310, 316, 329 Natur 40, 42, 47, 49–50, 56, 59, 69, 78–87, 89–91, 93–95, 98, 100–103, 105, 124, 134, 156, 185, 189, 197–198, 246, 250, 252, 265 Fn. 29, 287, 290, 309, 321 Naturphilosophie 83, 87 Neukantianismus 74, 246 normative Ethik 92, 218, 221 Norm 57–58, 109, 159, 164–165, 168, 182, 217, 232, 250, 280, 283–285, 323, 327

360

Sachregister

Sittliche Forderung 157–158, 159, 190, 229, 235, 309 sittliches Prinzip 102–103, 145 Fn. 381, 147, 163–164, 167, 172–174, 176, 178, 180, 183, 201, 203, 229 Solidarität 280, 283 Sollen, das 56, 101–102, 276–277 sozialistisches Bewusstsein 284 sozialistische Ethik 263, 271, 280, 288, 295, 297 sozialistisches Prinzip 312, 317 soziale Gerechtigkeit 186–187, 200 Sozialphilosophie 3–4, 212 Staat 92, 98, 103, 108, 140, 145 Fn. 381, 154, 173, 180, 188, 191–194, 196, 199–200, 203, 246, 250, 289, 299, 322 Strafrechtstheorie 91 Sünde 69–70, 85–86, 107–108, 115, 122, 124, 126–127, 136, 139, 141, 144, 150–151, 164–165, 167, 174, 177–178, 181, 185, 187, 193, 197, 199–201, 204, 322 Sündenlehre 77 Fn. 74, 108 Fn. 197, 126 Technik 48–49, 87–91, 93 Fn. 143, 97–98, 100, 170, 192, 196–197, 199, 203 Fn. 637, 205, 223, 227, 233, 249, 299 Fn. 215, 304, 325–326 Theonomie 31–32, 57–58, 70, 147–148, 155–162, 171–172, 179, 200, 215, 223–224, 230, 236–237, 240–244, 264, 266–268, 278–279, 286–288, 292, 296, 321, 324–325 Theologie der Kultur siehe Kulturtheologie theologischer Standpunkt 30, 68, 70–71, 78, 110–114, 118 Fn. 250, 122, 124, 126, 136, 151, 165, 172, 175–177, 201, 204

theologisches Prinzip 71 Fn. 44, 110, 113–114, 116, 118–121, 123, 131, 133–135, 138–139, 144, 147, 157–158, 160–161, 164, 169, 192–193, 196–197, 199–202, 220, 230, 257, 326–327 Tugend 147 Tugendethik 146, 167, 172 unbedingte Forderung 157–158, 159, 190, 229, 235, 309, 128, 151, 158 Fn. 438, 161, 163, 167, 202, 253, 255, 258, 275, 277, 303, 310–312, 316–318, 324–325, 328–329 unbedingter Sinn 228, 235–238, 255, 272–273, 277–278, 285, 296, 318, 323 Universalität 116 Weimarer Republik 15, 53, 256, 259, 261 Fn. 14, 307–308 Wille 28, 37, 52, 55, 84, 174, 176–177, 236, 243, 273, 283, 289, 306, 317 Wirtschaft 197, 227, 230, 270, 283, 285, 289, 317 Wissenschaftstheorie 12, 78, 209, 232 Fn. 232–233 Wollen, das 21–22, 28–29, 34, 36–37, 59, 89, 95, 1050 Fn. 405, 152–154, 227–228, 231 Würde 128, 181–183, 188, 275–276, 287, 311, 329 Zeitdiagnose/Zeitdiagnonstiker 107, 283, 320 Zweifel 107, 209, 211 Zweiter Weltkrieg 308, 327–328, 330