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German Pages 524 [522] Year 2019
Ernst-Wolfgang Pöppinghaus »Moralische Eroberungen«?
Editionen der Iberoamericana Ediciones de Iberoamericana Serie A: Literaturgeschichte und -kritik / Historia y Crítica de ta Literatura Serie B: Sprachwissenschaft / Lingüística Serie C: Geschichte und Gesellschaft / Historia y Sociedad Serie D: Bibliographien / Bibliografías Herausgegeben von / Editado por: Walther L. Bemecker, Frauke Gewecke, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann C: Geschichte und Gesellschaft / Historia y Sociedad, 6
Ernst-Wolfgang Pöppinghaus
»Moralische Eroberungen«? Kultur und Politik in den deutsch-spanischen Beziehungen der Jahre 1919 bis 1933
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main
1999
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Iberoamericana / Editionen / C | Editionen der Iberoamericana = Ediciones d e Iberoamericana. Serie C, Geschichte und Gesellschaft = Historia y sociedad. - 1-... Frankfurt am Main : Vervuert, I996-... Erscheint unregelmäßig. - Bibliographische Deskription nach 5 (1999) Reihe Editionen, Serie C zu: Iberoamericana. - Hervorgegangen aus: Iberoamericana / Editionen / 03 6. Pöppinghaus, Ernst-Wolfgang: »Moralische Eroberungen«?. - 1 9 9 9 Pöppinghaus, Ernst-Wolfgang: »Moralische Eroberungen«? : Kultur und Politik in den deutsch-spanischen Beziehungen der Jahre 1919 bis 1933 / Emst-Wolfgang Pöppinghaus. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1999 (Editionen der Iberoamericana : Serie C, Geschichte und Gesellschaft ; 6) Zugl.: Göttingen, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-89354-880-7 © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1999 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Abb.: Barcelona-Sessel von Mies van der Rohe für den deutschen Pavillon auf der Internationalen Ausstellung in Barcelona 1929 Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigen Papier Printed in G e r m a n y
Inhalt
1.
Einleitung
9
Problemaufriß - Forschungsstand - Fragestellung - Methode - Quellen
2.
Nationale Expansion und Regeneration. auswärtiger Kulturpolitik
Zu den Anfängen
in Deutschland und Spanien
27
2.1. Die auswärtige Kulturpolitik des Reiches bis 1914
29
2.2. Auswärtige Kulturpolitik in der öffentlichen Diskussion
35
2.2.1. Karl Lamprecht
36
2.2.2. Paul Rohrbach und Kurt Riezler
41
2.3. Kulturpolitischer Aufbruch in Spanien: 1898 und die Folgen
49
2.3.1. Der Krausismo
52
2.3.2. Der Regeneracionismo
55
2.3.3. Die Junta para Ampliación de Estudios
58
2.4. Kulturpolitische Kontakte vor 1914
3.
Revisionismus
- Imperialismo
Der politisch-institutionelle
del pobre - Vanguardia
67
moral.
Rahmen bis 1933
3.1. Die Hypothek des Ersten Weltkrieges 3.1.1. Kulturpolitische Paralyse - Kulturpolitische Offensive
83 83 90
3.2. Auswärtige Kulturpolitik in der Weimarer Republik
102
3.2.1. Kulturpropaganda und Dolchstoßlegende
104
3.2.2. Kulturpropaganda als Surrogat
105
3.2.3. Auswärtige Kulturpolitik als »Richtschnur und Schranke«
107
3.2.4. Die Kulturabteilung im Auswärtigen Amt
110
3.2.5. Auswärtige Kulturpolitik von Stresemann zu Neurath
114
»Moralische
6
Eroberungen«?
3.3. Kultur als neues Instrument spanischer Außenpolitik 3.3.1. Die Oficina de Relaciones Culturales Españolas 3.3.2. Die Diktatur Primo de Riveras 3.3.3. Die Junta de Relaciones Culturales 3.3.4. Auswärtige Kulturpolitik im bienio de reformas 3.4. Außen- und handelspolitische Kontakte bis 1933
129 130 136 143 147 154
4.
171
Deutsche Kulturpolitik
in Spanien
4.1. »Kulturelle Deutschtumspflege« 4.1.1. Die Spaniendeutschen nach dem Krieg 4.1.2. Amtliche Unternehmungen 4.1.3. Halbamtliche und private Aktivitäten 4.1.4. Erbschaftssteuerfrage und Flaggenstreit 4.1.5. Nationalsozialistische »Gleichschaltung« 4.2. Deutsche Schulen in Spanien 4.2.1. Barcelona 4.2.2. Madrid 4.2.3. Bilbao, Sevilla, Málaga 4.2.4. Weitere Schulen 4.3. Wissenschaftliche Vertretungen 4.3.1. Die Wissenschaftliche Arbeitsstelle in Madrid 4.3.2. Die Wissenschaftliche Vermittlungsstelle in Barcelona 4.3.3. Das Institut der Görres-Gesellschaft in Madrid
171 173 177 187 197 202 212 222 228 233 239 255 261 280 289
5.
305
Spanische Kulturpolitik
in Deutschland
5.1. Stipendiaten der JAE in Deutschland 5.2. Förderung hispanistischer Lehre und Forschung 5.2.1. Spanische Lektoren an deutschen Hochschulen 5.2.2. Bücherspenden, Gastvorlesungen, finanzielle Beihilfen
308 318 319 330
7
Inhalt 6.
Konkretionen
kulturpolitischer
Kooperation
337
6.1. Deutsche Wissenschaftler in Spanien
337
6.1.1. Professorenaustausch: Der Fall Americo Castro
345
6.2. Studentenaustausch
352
6.2.1. Ein Deutsches Studentenhaus in der Ciudad Universitaria}
364
6.3. Schüleraustausch
369
6.4. Literaturaustausch
375
6.5. Die Internationale Ausstellung in Barcelona 1929/30
382
6.6. Deutsch-Spanische Vereinigungen
387
7.
Auswärtige
Kulturpolitik
Motive - Methoden Quellen
zwischen
Demokratie
- Ziele - Ergebnisse
und
Diktatur
- Metamorphosen
und Literatur
403 433
1.
Ungedruckte Quellen
435
2.
Bibliographien, Biographien, Lexika und andere Hilfsmittel
453
3.
Gedruckte Quellen
454
3.1. Erinnerungen und Tagebücher
456
3.2. Presseagenturen, Zeitungen, (kursorisch ausgewertete) Zeitschriften 4.
457
3.3. Zeitgenössische Darstellungen
458
Literatur
468
Abkürzungen
491
Anhang
497
Personenregister
513
1. Einleitung
9 »Jedermann weiß, daß mit der Kultur auch die Macht verbunden ist.«
Leopold von Ranke (1864)
1.
Einleitung
Mit dem grundlegenden Wandel jahrzehntelang verbindlicher politischer Parameter - dem Ende des Kalten Krieges, der Wiedervereinigung, den soziokulturellen und wirtschaftlichen Auswirkungen der »Globalisierung« und der Finanzmisere der staatlichen Haushalte - ist in den vergangenen Jahren in Deutschland eine lebhafte Debatte um Ergebnisse, Chancen und Perspektiven auswärtiger
Kulturpolitik
aufgekommen. Zog Ralf Dahrendorf noch 1978 die
Bilanz, in der »Bundesrepublik [sei] die kulturelle Außenpolitik ein esoterisches Thema, unbestritten und zugleich von einem Dunstkreis des Desinteresses überlagert« 1 , so vermerkte der Präsident des Goethe-Institutes, Hilmar Hoffmann, im Juni 1996 eine bis dahin ungewohnte Resonanz in Feuilleton und Politik: »Auswärtige Kulturpolitik hat Konjunktur. Schriftsteller, Wissenschaftler und Politiker haben sich mehr oder weniger kompetent zu W o r t gemeldet. Vorschläge und Neuansätze für Konzeptionen wurden verlautbart, propagiert und wieder verworfen. D e m erstaunten Publikum brummt der Kopf«.
Im Mittelpunkt der aktuellen Diskussion steht die Frage nach der Notwendigkeit einer strategischen Neuorientierung auswärtiger Kulturpolitik in Zeiten leerer Kassen, der kulturellen Eigendefinition des vereinten Deutschland und 1
R. DAHRENDORF, Vorwort, in: H. PEISERT, Die auswärtige Kulturpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Sozialwissenschaftliche Analysen und Planungsmodelle, Stuttgart 1978, S. 13. Für eine Darstellung der bis dato vor allem im inneren Zirkel der Politik geführten Diskussion vgl. H . ARNOLD, Auswärtige Kulturpolitik. Ein Uberblick aus deutscher Sicht, München [u.a.] 1980. Für eine bibliographische Bestandsaufnahme vgl. die von IfA herausgegebene Titelsammlung: Die auswärtige Kulturpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Grundfragen, Ziele, Aufgaben, bearb. von U . ROSSBACH, Stuttgart 1980.
2
Focus N r . 24 vom 10.6.1996, S. 98. Vgl. dazu den kursorischen Presse- und Literaturspiegel in der v o m Institut für Auslandsbeziehungen (IfA) in Stuttgart herausgegebenen Zeitschrift Kultur Austausch.
10
»Moralische Eroberungen
- damit u n m i t t e l b a r verbunden - seiner kulturpolitischen M a x i m e n , M e t h o den und Z i e l p r o j e k t i o n e n in E u r o p a und Ü b e r s e e . 3 E i n e b e m e r k e n s w e r t ungeschminkte A n t w o r t auf diese Frage gab am 15. J a n u a r 1996 der damalige Bundesaußenminister Klaus K i n k e l : »Auswärtige Kulturpolitik ist weder weltweiter Vertrieb von Schöngeistigem noch ist sie die 'schöne Schwester' der Außenpolitik - frei von Interessen und Kontroversen, zuständig für Musik und Tanz. Auswärtige Kulturpolitik muß in einem politischen Umfeld betrieben werden, wo 'hart im Räume' sich die Sachen stoßen. Es geht um Information und Werbung für Deutschland. Wir wollen die Menschen im Ausland für Deutschland interessieren; durch ein umfassendes, lebendiges und attraktives Deutschlandbild für uns gewinnen...« I m weiterem h i e ß es in der R e d e Kinkels: »D[ie] wirtschaftlich ungetrübten Zeiten sind Vergangenheit. Die Standort-Frage brennt uns auf den Nägeln. In Lateinamerika, vor allem aber in Asien und im pazifischen Raum haben sich Volkswirtschaften entwickelt, die in jeder Hinsicht ökonomisch, industriell und technologisch konkurrenzfähig sind. Und in Mittel- und Osteuropa bekennen sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus unsere Nachbarn zu Demokratie und Marktwirtschaft. Sie sind politische Partner, aber auch Konkurrenten auf europäischen und internationalen Märkten [...] Wir müssen das Umfeld für unsere Exporteure verbessern und ihre Chancen auf den Auslandsmärkten abstützen [...] Mit der kulturpolitischen Kapitalrendite helfen wir, die Existenzgrundlagen unseres Landes zu sichern«. K u l t u r als »Kapitalrendite«? K u l t u r als b l o ß e s V e h i k e l der E x p o r t w i r t s c h a f t im globalen K a m p f u m Marktanteile? Dieser utilitaristischen Perspektivenverengung widersprach im V o r f e l d einer Regierungserklärung K i n k e l s zur auswärtigen K u l t u r p o l i t i k einmal m e h r der mit dem Goethe-Institut und seinen rund 150, teilweise v o n der Schließung bedrohten Dependancen im Ausland am T r o p f des A A hängende H i l m a r H o f f m a n n : »[Kultur] ist nicht hauptsächlich 3
Ausdruck dessen sind Publikationen wie der von H. SCHMIDT/H. VOSCHERAU/ W. LEPENIES/I. BUBIS herausgegebene Band »Wozu deutsche auswärtige Kulturpolitik?«, Stuttgart 1996, der die Redebeiträge der 3. Jahrestagung der Deutschen Nationalstiftung am 24.4.1996 enthält, oder das Themenheft »Auswärtige Kulturpolitik« der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Bonn 1996 ( - Internationale Politik 5,1996, Heft 3).
4
Rede Kinkel auf der Veranstaltung »Kultur, Kommerz und Außenpolitik Ungewohnte Perspektiven, neue Kooperationen« des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft im BDI und des Magistrats der Stadt Frankfurt am Main am 15.1.1996. Zitiert nach: Pressemitteilung des AA, Nr. 1007/96.
1.
11
Einleitung
dazu da, ein günstiges Exportumfeld zu schaffen. Kultur ist weder die Magd der Politik noch der Wirtschaft«. 5 Diametral zu Kinkel bezog in der kulturpolitischen Debatte auch der Soziologe und Rektor des Wissenschaftskollegs in Berlin, Wolf Lepenies, Stellung. Vor dem Hintergrund des »drohenden Legitimationsverlustes« des westlichen »Wertesystems« forderte er in der
ZEIT
eine radikale Abkehr vom - in der
auswärtigen Kulturpolitik seit langem antiquierten - »Primat des Exports« und eine Wende in Richtung einer »Pluralisierung der Kulturen«: »In der Kultur hat der Merkantilismus noch weniger zu suchen als in der Wirtschaft. Die Industriegesellschaften des Westens, die sich traditionell als Belehrungsgesellschaften verstanden, müssen zu Lerngesellschaften werden [...] Es wird Zeit, einen Begriffsrahmen zu ändern und eine Mentalität des Kulturkolonialismus aufzubrechen, die seit dem 19. Jahrhundert in der europäischen Selbstwahrnehmung eine prägende Rolle spielen«.6 Die entgegengesetzten Standpunkte von Kinkel, Hoffmann und - mit Abstrichen - Lepenies in der aktuellen kulturpolitischen Standort- und Strategiedebatte verweisen auf eine lange historische Tradition der Auseinandersetzung um eine - wie auch immer definierte - kulturelle Untermauerung oder Ausweitung des Instrumentariums deutscher Außenpolitik in Zeiten der Verunsicherung und Suche nach neuen Ufern. Erstmals konkret faßbar wird eine solche Debatte am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Damals fand der vom Leipziger Historiker Karl Lamprecht stammende Begriff Auswärtige politik
Kultur-
seine Aufnahme in das politische Vokabular. 7
Mit der sich abzeichnenden militärischen Niederlage des Reiches, vor allem aber nach der Kapitulation und der Unterzeichnung des Versailler Vertrages wurde dieser Faden, der mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges abgerissen war, 5
6 7
Focus Nr. 2 4 vom 10.6.1996, S. 98. Vgl. Ü E R S . , Kulturdialog für das 21. Jahrhundert. Die Arbeit der Goethe-Institute im Ausland: Erfahrungen und Herausforderungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 41/1996, S. 20-27. Im Bundestag dementierte Kinkel dann seine eigene Frankfurter Rede: »Instrumentalisierung oder Kommerzialisierung ist nicht das Thema. Die Bundesregierung will Goethe nicht vor das 'made in germany' spannen. Kultur und Wirtschaft spiegeln als komplementäre Größen das neue Bild Deutschlands in der Welt. Kultur soll nicht zum Hilfsmittel der Exportwirtschaft werden«. Zitiert nach: Pressemitteilung des AA, Nr. 1081/96. W. LEPENIES, Das Ende der Überheblichkeit, in: D I E ZEIT vom 25.11.1995. Abdruck in: ZfK 1, 1996, S. 114-117. Siehe dazu unten, Kap. 2.2. f.
»Moralische Eroberungen
12
wieder aufgenommen. Die großen - bisweilen auch übersteigerten - Hoffnungen und Erwartungen, die die Zeitgenossen in der Weimarer Republik an eine aktive Kulturpolitik im Ausland knüpften, traten beispielhaft in der beschwörenden Formel des nachmaligen preußischen Kultusministers, Carl Heinrich Becker, hervor: »Das Reich muß mit Ideen Außenpolitik machen«.8 Gleichzeitig bringt dieser Satz zum Ausdruck, daß die Einbeziehung kulturpolitischer Methoden und Instrumente in die deutsche Außenpolitik bis 1914 als unzureichend empfunden wurde. Doch agierte das Wilhelminische Reich auf der internationalen Bühne noch mit dem klassischen Instrumentarium imperialistischer Machtpolitik. Davon konnte nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages in der Weimarer Republik auf unbestimmte Zeit keine Rede mehr sein. Demnach schienen nach der Beschneidung traditioneller Elemente der Außen- und Handelspolitik »allein auf kulturellem Gebiete die deutschen Entfaltungsmöglichkeiten der Zukunft« zu liegen.9 Für Spanien, den geographischen Bezugspunkt dieser Studie, gilt - dies sei an dieser Stelle vorausgeschickt - entsprechendes. Auch dort begab man sich nach »nationalen Katastrophen« - dem desastre del 98, dem Verlust der letzten transatlantischen und pazifischen Kolonien als Folge des Spanisch-Amerikanischen Krieges um Kuba, und der verheerenden Niederlage gegen die Rifkabylen bei Annual im Jahre 1921 - auf die Suche nach einem kulturpolitischen Ausweg aus der inneren Krise und dem unaufhaltsamen wirtschaftlichen und machtpolitischen Niedergang, der grandezaperdida
der einstigen Weltmacht.10
In krassem Gegensatz zur Betonung der Chancen und Perspektiven einer konsequent zu verfolgenden Kulturpolitik der Weimarer Republik im Ausland, die sich bis 1933 wie ein roter Faden durch die Quellen zieht, in einer Flut von zeitgenössischen Publikationen widerspiegelt11 und - zumal in der Amtszeit Stresemanns - in der außenpolitischen Praxis niederschlug, steht die bis in die Gegenwart bevorzugte Ausblendung des Gegenstandes in der historischen Forschung. So taucht im derzeitigen Standardwerk zur Außenpolitik der Weimarer Republik, der breit angelegten Studie von Peter Krüger, der Topos 8 9 10 11
C. H. BECKER, Kulturpolitische Aufgaben des Reiches, Leipzig 1919, S. 16. Zu Becker und seiner Schrift siehe unten, Kap. 3.2.3. P. M. RÜHLMANN, Kulturpropaganda. Grundsätzliche Darlegungen und Auslandsbeobachtungen, Charlottenburg 1919, S. 12. Siehe auch unten, Kap. 3.2.2. Siehe unten, Kap. 2.3. und 3.3. Siehe Literaturverzeichnis, Punkt 3.4.
1. Einleitung
13
Kulturpolitik nur selten auf - ganz zu schweigen davon, daß der A u t o r das T h e m a etwa im Zusammenhang behandelte. 1 2 Vielmehr k o m m t hier und in anderen Arbeiten eine bestimmte Geisteshaltung zum Ausdruck, die -
im
scharfen Kontrast etwa zur Tradition in Frankreich und Großbritannien - in Deutschland bis in die Gegenwart hinein vorherrscht: Kultur wird als F a k t o r von Politik gering geachtet, wenn nicht gar ignoriert. 1 J Entsprechend begann eine ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den historischen Wurzeln deutscher Kulturpolitik im Ausland erst, als M i t t e der sechziger Jahre ihre Bedeutung als »dritte Bühne« 1 4 oder »dritte Säule« 1 5 der bundesrepublikanischen Außenpolitik hervorgehoben wurde. A m Anfang standen dabei Arbeiten aus soziologischer und staatswissenschaftlicher Perspektive. 1 6 Gegenstand einer auf breiter Quellenbasis erarbeiteten schen
Untersuchung wurde die Geschichte der deutschen Kulturpolitik im
Ausland zuerst 1976 in der Habilitationsschrift von Kurt Düwell. 12
13
histori-
In seiner
P. KRÜGER, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985. Auch in der älteren, noch stark vom Geist der dreißiger Jahre bestimmten Studie von L. ZIMMERMANN, Deutsche Außenpolitik in der Ära der Weimarer Republik, Göttingen [u.a.] 1958 findet dieser Aspekt keinerlei Beachtung. Ebensolches gilt für die gedruckten Quelleneditionen zur deutschen Außenpolitik. So erwiesen sich die AD AP im hier behandelten Zusammenhang als bemerkenswert unergiebig. Vgl. dazu den polemischen Essay von Hans M. Enzensberger über die »Blamage der deutschen Kulturpolitik im Ausland«, in: DER SPIEGEL, Nr. 37/1995, S. 215221.
14 15
16
17
D. SATTLER (seinerzeit Leiter der Kulturabteilung im AA), Die dritte Bühne der Außenpolitik, in: Jahrbuch der auswärtigen Kulturbeziehungen, 1964, S. 13-21. Die Wortfindung wird Willy Brandt (1967) zugeschrieben. Vgl. H. ARNOLD, Kulturexport als Politik? Aspekte deutscher auswärtiger Kulturpolitik, Tübingen 1976, S. 23 ff. R. M. EMGE, Auswärtige Kulturpolitik. Eine soziologische Analyse einiger ihrer Funktionen, Bedingungen und Formen, Berlin 1967; M. ABELEIN, Die Kulturpolitik des Deutschen Reiches und der BRD. Ihre verfassungsgeschichtliche Entwicklung und ihre verfassungsrechtlichen Probleme, Köln [u.a.] 1968, S. 104-192. K. DÜWELL, Deutschlands auswärtige Kulturpolitik 1918-1932. Grundlinien und Dokumente, Köln [u.a.] 1976. Kritisch beurteilt werden muß dagegen die knappe Darstellung des von 1939 bis 1943 amtierenden Leiters der KA im AA, F. von TWARDOWSKI, Anfänge der deutschen Kulturpolitik zum Ausland, Bonn-Bad Godesberg 1970, deren Kapitel zur NS-Zeit (S. 29-45) deutlich apologetische Züge trägt. Mehr einer polemischen Abrechnung mit der »Systemzeit« als einer wissenschaftlichen Studie gleicht R. ADOLPHI, Grundlegung für eine kritische Darstellung der deutschen auswärtigen Kulturpolitik in den Jahren 1919-1933, [ms. Diss.] Hamburg 1941.
».Moralische Eroberungen«?
14
grundlegenden Studie verfolgt der Trierer Historiker einen genetisch-phänomenologischen Ansatz und zeichnet neben der theoretischen Auseinandersetzung mit der Materie die Grundlinien der auswärtigen Kulturpolitik der Weimarer Republik nach. Dagegen werden ihre »historischen Konkretionen« 18 nur in Umrissen vorgestellt. Neben der Untersuchung von Düwell liegen eine Reihe von Arbeiten vor, in denen einzelne Aspekte der Weimarer Kulturbeziehungen zum Ausland behandelt werden - etwa der organisierte akademische Austausch 19 , die politische Arbeit mit »kultureller Deutschtumspflege« befaßter Organisationen 20 oder die internationalen Wissenschaftsbeziehungen.21 Alles in allem aber fanden auch in der neueren Forschung die kulturpolitischen Beziehungen der Weimarer Republik zum Ausland wenig Beachtung. 22 Nach wie vor gilt daher ein Satz aus dem Vorwort des 1981 von Kurt Düwell und Werner Link herausgegebenen Tagungsbandes eines interdisziplinären Symposiums zur Geschichte der deutschen auswärtigen Kulturpolitik in Trier:
18
19
20
21
22
DÜWELL, Kulturpolitik, S. V .
V. LAITENBERGER, Akademischer Austausch und auswärtige Kulturpolitik. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) 1923-1945, Göttingen [u.a.] 1976; B. ZLEMS, Reichsdeutsche Hochschulen und auswärtige Kulturpolitik in der Weimarer Republik. Zur akademischen Auslandsarbeit an der Universität Rostock, [ms. Diss.] Rostock 1992. K. POSSEKEL, Studien zur Politik des Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA) in der Weimarer Republik, Rostock 1967; E. RITTER, Das Deutsche Ausland-Institut in Stuttgart 1917-1945. Ein Beispiel deutscher Volkstumsarbeit zwischen den Weltkriegen, Wiesbaden 1976. B. SCHRÖDER-GUDEHUS, Deutsche Wissenschaft und internationale Zusammenarbeit 1914-28, Genf 1966; S. WULF, Das Hamburger Tropeninstitut 1919 bis 1945. Auswärtige Kulturpolitik und Kolonialrevisionismus nach Versailles, Berlin [u.a.] 1994. Für die Jahre bis 1914 vgl. R. vom BRUCH, Weltpolitik als Kulturmission. Auswärtige Kulturpolitik und Bildungsbürgertum am Vorabend des 1. Weltkrieges, Paderborn 1982; J. KLOOSTERHUIS, »Friedliche Imperialisten«. Deutsche Auslandsvereine und auswärtige Kulturpolitik 1906-1918, Frankfun a. M. [u.a.] 1993; G. WEIDENFELLER, VDA. Verein für das Deutschtum im Ausland, Allgemeiner Deutscher Schulverein (1881-1918). Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Nationalismus und Imperialismus im Kaiserreich, Frankfurt a. M. [u.a.] 1976; R. REINBOTHE, Kulturexport und Wirtschaftsmacht. Deutsche Schulen in China vor dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt a. M. 1992.
1. Einleitung
15
»Die Geschichte der Kulturpolitik ist bisher im Rahmen sowohl der politischen als auch der Kulturgeschichtsschreibung vorwiegend erst kärglich - und in ihrer Bedeutung für die Verklammerung beider Bereiche noch weniger - berücksichtigt«.23 Dieser Befund erscheint in einer Zeit, in der offenkundig nicht mehr allein die Waffenarsenale, vielmehr der wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungsstand eines Landes sein politisches Gewicht in der Welt bestimmen, erstaunlich. Doch herrscht ungeachtet der intensiven historiographischen Auseinandersetzung mit der deutschen Außenpolitik der Jahre 1919 bis 1933 bis heute ein Mangel an konzentrierten und quellennahen Studien zu Bestimmung, Bedeutung und Gestaltung von Kulturpolitik im Rahmen der bilateralen Beziehungen der Weimarer Republik zu anderen Staaten. 24 Entsprechendes gilt in diesem Zusammenhang für die spanische Historiographie, die seit dem Ende der Franco-Zeit ungeachtet der oft noch mangelhaften Forschungs-Infrastruktur eine außerordentlich dynamische Entwicklung genommen hat. Diese ist im wesentlichen einer neuen, jungen Historikergeneration zu verdanken, die in den vergangenen zwanzig Jahren eine Flut von neuen Forschungen vorgelegt hat, die das verkrustete Geschichtsbild der Franco-Zeit in mancher Hinsicht »radikal veränderten«. 25 Im Rahmen dieser erneuerten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der spanischen Zeitgeschichte liegen mittlerweile auch einzelne historische Studien vor, die sich mit der Genese der auswärtigen Kulturpolitik Spaniens beschäftigen. Diese hat sich - wie noch zu zeigen sein wird - mit einer gewissen zeitlichen Verschiebung zu ihrem deutschen Pendant entfaltet und stand lange unter ganz anderen 23
24
K. DÜWELL/W. LINK (Hgg.), Die deutsche auswärtige Kulturpolitik seit 1871, Köln [u.a.] 1981. Im selben Jahr wurden in zwei Heften der ZfK interne Fakoren der deutschen Kulturpolitik im Ausland - vor allem vor 1914 - behandelt. Siehe dazu die in Kap. 2. f. zitierten Beiträge. In den folgenden Studien werden zumindest einigen Facetten dieser Fragen behandelt: F. DAHLHAUS, Möglichkeiten und Grenzen auswärtiger Kultur- und Pressepolitik, dargestellt am Beispiel der deutsch-türkischen Beziehungen 1914-28, Frankfurt a. M. [u.a.] 1990; F. KREISSLER, L'action culturelle allemande en Chine. De la fin du XIXe siecle a la Seconde Guerre mondiale, Paris 1989; C. LEJEUNE, Die deutschbelgischen Kulturbeziehungen 1925-1980. Wege zur europäischen Integration?, Köln [u.a.] 1992. H . M. BOCK/R. MEYER-KALKUS/M. TREBITSCH (Hgg.), Entre Locarno
25
et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les anees 1930, Paris 1993. Vgl. dazu die Einleitung von W. L. BERNECKER/H. PLETSCHMANN, Geschichte Spaniens. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Stuttgart [u.a.] 1993. Zitat: S.ll.
16
»Moralische Eroberungen*?
politischen Vorzeichen. Dennoch wurden die institutionelle Verankerung, Finanzierung und Gestaltung der deutschen Kulturpolitik im Ausland in Madrid intensiv rezipiert, so daß sich bald direkte Verbindungslinien ergaben. Als gut kann in diesem Zusammenhang vor allem der Forschungsstand zur Geschichte der treibenden Kraft hinter den vom Ministerio de Estado lange Zeit stiefkindlich behandelten Kulturkontakten Spaniens zum Ausland gelten: der 1907 von liberalen Reformern ins Leben gerufenen Wissenschaftsorganisation Junta para Ampliación
de Estudios e Investigaciones Científicas.26
Unbedingt
beachtenswert sind auch die Untersuchungen von Antonio N i ñ o Rodríguez zur Kulturpolitik der Zweiten Republik in Hispanoamerika, das bis in die Gegenwart den Brennpunkt der auswärtigen Kulturpolitik Spaniens darstellt. Ihre chronologische Fortsetzung finden die Arbeiten von N i ñ o Rodríguez schließlich in der hervorragenden Dissertation von Lorenzo Delgado GómezEscalonilla, der sich ausgiebig mit der kulturpropagandistischen Untermauerung der frühen franquistischen Außenpolitik auseinandergesetzt hat. Seit der »Wiederentdeckung« Spaniens durch die deutsche Romantik - der Genese einer mythenumwobenen, kulturell-literarischen Hispanophilie mit dezidiert antimodernistischer, gallophober Stoßrichtung - haben sich in Deutschland immer wieder bedeutende Historiker und Kulturwissenschaftler mit der spanischen Geschichte auseinandergesetzt. 29 Einen vorläufigen Schluß-
26
Vgl. J. M. SÁNCHEZ RON (Hg.), La Junta para Ampliación de Estudios e Investigaciones Científicas 80 años después, 1907-1987, 2 Bde., Madrid 1988; F.J. LAPORTA/A. R u i Z MIGUEL/V. ZAPATERO/J. SOLANA, LOS orígenes c u l t u r a l e s d e la
27
Junta para Ampliación de Estudios, tomo 1, in: Arbor 493, 1987, S. 17-87; tomo 2, in: Arbor 499/500, 1987, S. 9-137. Die letztgenannten Beiträge eines Autorenkollektivs fassen die Ergebnisse einer 1981 abgeschlossenen, maschinenschriftlichen Dokumentation im Auftrag der Fundación March zusammen, die dankenswerter Weise vom Verf. eingesehen werden konnte. A. NIÑO RODRÍGUEZ, La n República y la expansión cultural en Hispanoamérica, in: Hispania 181, 1992, S. 629-653; DERS., L'expansion culturelle espagnole en Amérique hispanique (1898-1936), in: Relations internationales 50, 1987, S. 197213.
28 29
L. DELGADO GÓMEZ-ESCALONILLA, Imperio de papel. Acción cultural y política exterior durante el primer franquismo, Madrid 1992. Erinnert sei hier nur an die Standardwerke von H. BAUMGARTEN, Geschichte Spaniens vom Ausbruch der französischen Revolution bis auf unsere Tage, Leipzig 1865-71, G. DLERCKS, Geschichte Spaniens, Berlin 1895-96; K. HAEBLER, Geschichte Spaniens unter den Habsburgern, Gotha 1907; L. PFANDL, Spanische Kul-
1. Einleitung
17
strich unter diese Tradition zogen unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg Ludwig Pfandl mit der vielfach aufgelegten Biographie Philipps II. und Richard Konetzke mit seiner Gesamtdarstellung der Geschichte des spanischen und portugiesischen Volkes.30 Dementgegen verstand sich die deutsche Hispanistik nach 1945 vor allem als literatur- und sprachwissenschaftliche Disziplin. 31 So blieb Spanien »ein Stiefkind der historischen Forschung in Deutschland«, für die »Europa [...] zumeist an den Pyrenäen [endete]«. 32 Im Brennpunkt der ihrem Umfang nach bescheidenen deutschen Historiographie zur spanischen Zeitgeschichte und den Beziehungen beider Staaten im 20. Jahrhundert stand begreiflicherweise die nationalsozialistische Intervention im Spanischen Bürgerkrieg. 33 Derweil datieren viele der Studien - aus deut-
30
31
tur und Sitte des 16. und 17. Jahrhunderts, Kempten 1924. Siehe dazu unten, Kap. 2.4. Zur notwendigen kritischen Auseinandersetzung mit diesen Arbeiten vgl. T. BRÄUTIGAM, Hispanistik im Dritten Reich. Eine wissenschaftsgeschichtliche Studie, Frankfun a. M. 1997, S. 233 ff. Vgl. W. L. BERNECKER (Hg.), España y Alemania en la Edad Contemporánea, Frankfurt a. M. 1992, Vorwort des Herausgebers, S. 9 f.
32
BERNECKER/PIETSCHMANN, S. 10.
33
Aus der Flut der Veröffentlichungen vgl. H.-H. ABENDROTH, Hitler in der spanischen Arena. Die deutsch-spanischen Beziehungen im Spannungsfeld der europäischen Interessenpolitik vom Ausbruch des Bürgerkrieges bis zum Ausbruch des Weltkrieges, 1936-1939, Paderborn 1973; DERS., Deutschlands Rolle im Spanischen Bürgerkrieg, in: M. FUNKE (Hg.), Hitler, Deutschland und die Mächte. Materialien zur Außenpolitik des Dritten Reiches, Düsseldorf 1976, S. 471-488; M. MERKES, Die deutsche Politik im spanischen Bürgerkrieg 1936-1939, Bonn 21969. Aus marxistischer Perspektive vgl. M. EINHORN, Die ökonomischen Hintergründe der faschistischen deutschen Intervention in Spanien 1936-1939, Berlin (Ost) 1962; Berlin (West) 21976; H. KÜHNE, Revolutionäre Militärpolitik 1936-1939. Militärpolitische Aspekte des national-revolutionären Kriegs in Spanien, Berlin 1969. Für eine Zusammenstellung der wichtigsten Ergebnisse und Kontroversen der Forschung vgl. die Beiträge in: W. SCHIEDER/C. DLPPER (Hgg.), Der spanische Bürgerkrieg in der internationalen Politik (1936-1939), München 1976. Eine exzellente Darstellung und pointierte Zusammenfassungen des Forschungsstandes bieten die Publikationen von W. L. BERNECKER, Krieg in Spanien 19361939, Darmstadt 1991, S. 47 ff.; DERS., Alemania y la Guerra Civil Española, in: BERNECKER, España y Alemania, S.137-157; DERS., Das nationalsozialistische Spanienbild und Hitlers Eingreifen in den Spanischen Bürgerkrieg, in: G. SCHMIGALLE (Hg.), Der Spanische Bürgerkrieg. Literatur und Geschichte, Frankfurt a. M. 1986, S. 25-54.; DERS., La historiografía alemana sobre la guerra civil española, in: J. ARÓSTEGUI (Hg.), Historia y Memoria de la Guerra Civil. Encuentro en Castilla y León, Bd. 1: Estudios y Ensayos, Valladolid 1988, S. 31-55; DERS., His-
18
»Moralische
scher wie aus spanischer Feder
Eroberungen*?
die sich der deutsch-spanischen Geschichte
v o r 1936 und nach 1939 zuwandten, aus der vergangenen Dekade. Dabei gilt sowohl im Hinblick auf die E p o c h e v o r 1914 3 4 , den Ersten Weltkrieg 3 5 , die W e i m a r e r Zeit 3 6 , den Zweiten Weltkrieg 3 7 als auch die Nachkriegszeit 3 8 , daß sich die F o r s c h u n g bis dato v o r allem auf diplomatische,
wirtschaftliche,
militärgeschichtliche und pressepolitische Aspekte konzentriert hat. Fast in Vergessenheit geriet dahinter die fast 150 Jahre alte Tradition eines verdichteten deutsch-spanischen Kulturdialogs, die erst Mitte dieses Jahrhunderts mit dem E n d e der Guerra
Civil und dem Z u s a m m e n b r u c h der nationalsozialisti-
schen Gewaltherrschaft abriß, gleichwohl aber nach dem T o d F r a n c o s und
34
35
36
toriografía alemana sobre la época franquista. Estado de las investigaciones, in: Hispania 162, 1986, S. 197-214. Vgl. ferner: W. SCHIEDER, Spanischer Bürgerkrieg, in: Sowjetsystem und Demokratische Gesellschaft, Bd. VI, Freiburg [u.a.] 1972, Sp. 74-94. Stellvertretend für die englischsprachige Historiographie vgl. R. H. WHEALEY, Hitler and Spain. The Nazi Role in the Spanish Civil War, 1936-1939, Lexington, Kent. 1989. B. RÜCHARDT, Deutsch-spanische Beziehungen 1898-1931, [Diss.] München 1988; M. ESPADAS BURGOS, Alemania y España: De la época bismarckiana a la Gran Guerra, in: BERNECKER, España y Alemania, S. 63-87 (mit weiteren Literaturhinweisen). J . ALBES, Worte wie Waffen. Die deutsche Propaganda in Spanien während des Ersten Weltkrieges, Essen 1996; L. GELOS DE VAZ FERREIRA, Die Neutralitätspolitik Spaniens während des Ersten Weltkrieges. Unter besonderer Berücksichtigung der deutsch-spanischen Beziehungen, Hamburg 1966. R . KUNZ/R.-D. MÜLLER, Giftgas gegen Abd el Krim. Deutschland, Spanien und der Gaskrieg in Spanisch-Marokko 1922-1927, Freiburg i. Brsg. 1990; R . A. SEPASGOSARIAN, Eine ungetrübte Freundschaft? Deutschland und Spanien 19181933, Saarbrücken [u.a.] 1993; A. VIÑAS, La Alemania nazi y el 18 de julio. Antecedentes de la intervención alemana en la guerra civil española, Madrid 2 1977; H.E. VOLKMANN, Politik und ökonomisches Interesse in den Beziehungen der Weimarer Republik zum Königreich Spanien, in: W. BENZ/H. GRAML (Hgg.), Aspekte deutscher Außenpolitik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1973, S. 41-67.
37
H.-J. RUHL, Spanien im Zweiten Weltkrieg. Franco, die Falange und das »Dritte Reich«, Hamburg 1975; R. GARCÍA PÉREZ, Franquismo y Tercer Reich. Las relaciones económicas hispano-alemanas durante la Segunda Guerra Mundial, Madrid 1994.
38
P. WEBER, Spanische Deutschlandpolitik 1945-1958. Entsorgung der Vergangenheit, Saarbrücken [u.a.] 1992; C. COLLADO SEIDEL, Die-deutsch-spanischen Beziehungen in der Nachkriegszeit. Das Projekt deutscher Militärstützpunkte in Spanien 1960, Saarbrücken [u.a.] 1991.
1. Einleitung
19
dem Beitritt Spaniens zur E G trotz mancher Probleme unter demokratischen Vorzeichen wieder auflebt. 39 Genau an dieser Stelle setzt die vorliegende Studie mit der historischen Darstellung der deutsch-spanischen Kulturbeziehungen in den Jahren 1919 bis 1933 an. Dabei greift sie eine Tradition auf, die sich 1929 in einer ersten Bestandsaufnahme des deutsch-spanischen Kulturdialos niederschlug und mit großen Erwartungen verbunden war, die wenige Jahre danach mit der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur, der politischen Entrechtung und Verfolgung ihres Verfassers Georg Schreiber untergingen. 40 Die empirische Analyse der deutsch-spanischen Kulturbeziehungen in den Jahren 1919 bis 1933 - das heißt vom Ende des Ersten Weltkrieges, der sich auch im deutsch-spanischen Zusammenhang als Epochengrenze erwies, bis zum Ende der Weimarer Republik respektive des bienio de reformas der Zweiten Spanischen Republik - versucht die folgenden Thesen zu verifizieren und Fragen zu beantworten: 1. Kulturpolitik entsteht nicht in einem außenpolitischen Vakuum und wird auch nicht autonom gestaltet. Sie unterliegt bestimmten historisch-politischen Rahmenbedingungen. Wie gestaltete sich dieser Rahmen im deutschspanischen Kontext? Wo lagen hier wie dort die Wirkungsfelder von Kulturpolitik? W o stieß sie an Grenzen? Welchen Stellenwert erlangten die kulturpolitischen Beziehungen im Gesamtkonzept der Außenpolitik beider Staaten? Zeitigten sie kurz-, mittel- oder langfristig greifbare Ergebnisse? 2. Unentbehrlich ist eine Analyse des kulturpolitischen Entscheidungsprozesses, des Instrumentariums und des relativen Gewichts der Akteure. Dabei 39
40
Vgl. G. SIEBENMANN, Von den Schwierigkeiten der deutsch-hispanischen Kulturbegegnung, in: Merkur 40, 1986, S. 1059-1064; I. SOTELO, Vorbemerkungen zum Kulturdialog zwischen Spanien und Deutschland aus europäischer Sicht, in: Der Kulturdialog zwischen Spanien und Deutschland im Rahmen Europas. Ein Symposium der Fundación Santillana und der Bertelsmann Stiftung am 27. und 28.5. 1988 in Santillana del Mar, Gütersloh 1989, S. 35-47; Spanisch-deutscher Kulturdialog. Ein Handbuch deutscher Aktivitäten, Gütersloh 1990. G. SCHREIBER, Spanien und Deutschland. Ihre kulturpolitischen Beziehungen, in: SFGG I, 1, 1928, S. 1-62. In Schreibers Studie, die im zeitlichen Zusammenhang mit der Einrichtung eines Spanischen Instituts der Görres-Gesellschaft in Madrid entstand, spiegelt sich eine Tradition deutsch-spanischer Wissenschaftskooperation wider, die bis heute in den beiden Reihen der Spanischen Forschungen der Gesellschaft fortlebt. Zu Schreiber und dem Institut der GG in Madrid siehe ausführlich unten, Kap. 4.3.3.
20
»Moralische Eroberungen«?
sind vor allem die Organisationsstrukturen zu hinterfragen. Wann und wie wurde Kulturpolitik auf beiden Seiten institutionell verankert? Welche finanziellen Mittel standen zur Disposition? Wie gestaltete sich die Arbeitsteilung - oder auch die politische Konfrontation - zwischen staatlicher Exekutive, ihren Beauftragten an der kulturpolitischen »Front« im anderen Land, politischen Lobbyisten und Interessengruppen, zwischenstaatlichen Kulturvereinigungen und individuellen Mittlern? 3. Die Gestaltung kulturpolitischer Beziehungen zum Ausland ist eng an die politischen Maximen der involvierten Personen im offiziellen, halbamtlichen und privaten Bereich gebunden - ihre soziale Herkunft und ihr Wertesystem. Welchen Einfluß hatten welche Trägergruppen? Wie gestaltete sich der Informationsaustausch? Wie erfolgte die politische Entscheidungsfindung? Welche Strategien der interkulturellen Kommunikation wurden entwickelt? Nach der Erschließung und Auswertung des archivalischen und gedruckten Quellenmaterials erfolgte eine thematische Begrenzung der Darstellung auf vier Kernbereiche der deutsch-spanischen Kulturbeziehungen in den Jahren zwischen 1919 und 1933. Dies sind im einzelnen: 1. die »kulturelle Deutschtumspflege« auf der Iberischen Halbinsel, 2. das deutsche Auslandsschulwesen in Spanien, 3. der akademische, Jugend- und Literaturaustausch und 4. die deutsch-spanischen Wissenschaftsbeziehungen. Nicht berücksichtigt wurden dagegen die bilateralen Kontakte in den Bereichen Bildende Kunst, Musik, Theater, Literatur und Sport. Diese kulturpolitischen Aktionsfelder erlangten im Untersuchungszeitraum nur marginale Bedeutung und entbehren zudem einer ausreichenden Quellenbasis.41 Entsprechend der thematischen Schwerpunktbildung und den Fragen, die sich aus der Wahl des Untersuchungsgegenstandes und -Zeitraums ergeben, gliedert sich die vorliegende Studie in mehrere Hauptkapitel. Den Anfang bildet ein knapper Abriß der Genese kulturpolitischer Initiativen des Kaiserreichs im Ausland und des kulturellen Aufbruchs in Spanien nach dem desastre del 98, die hier wie dort zum Gegenstand publizistischer Debatten gerieten. Das Kapitel schließt mit einer knappen Skizze der bilateralen kulturpolitischen Kontakte bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. 41
Siehe dazu unten, S. 22.
1. Einleitung
21
Sodann steht der allgemeine Gestaltungsrahmen der deutsch-spanischen Kulturbeziehungen bis 1933 im Mittelpunkt der Darstellung. Dabei sind zum einen die internen und öffentlichen Kontroversen um die »richtige« Mittelund Zieldefinition auswärtiger Kulturpolitik und deren Institutionalisierung, sprich Einbindung in den außenpolitischen Apparat zu analysieren; zum anderen muß hier der allgemeine außen- und handelspolitische Rahmen, der die bilateralen Beziehungen beider Staaten im Untersuchungszeitraum bestimmte, abgesteckt werden. Die folgenden drei Kapitel stehen ganz im Zeichen der Analyse der kulturpolitischen Unternehmungen der Weimarer Republik und Spaniens im jeweils anderen Land. Auf deutscher Seite ist dabei zwischen der sogenannten »kulturellen Deutschtumspflege«, dem Aufbau eines Netzes deutscher Schulen auf der Iberischen Halbinsel und der Einrichtung wissenschaftlicher Vertretungen des Reiches und der Görres-Gesellschaft in Madrid und Barcelona zu unterscheiden. Dem standen von spanischer Seite die akademische Fortbildung von Jungakademikern und die Förderung des Ausbaus der Hispanistik an deutschen Hochschulen gegenüber. Das Folgekapitel widmet sich Konkretionen kulturpolitischer Zusammenarbeit im Bereich der wissenschaftlichen und akademischen Beziehungen, des Jugend- und Literaturaustauschs, im Rahmen von Ausstellungen und in Gestalt zwischenstaatlicher Vereinigungen. Im Schlußkapitel werden die Motive, Methoden, Ziele und Ergebnisse der deutsch-spanischen Kulturbeziehungen der zwanziger und frühen dreißiger Jahre einer kritischen Bewertung unterzogen. Die Untersuchung schließt mit einem
Ausblick
auf die historischen
Rahmenbedingungen
der
deutsch-
spanischen Kulturbeziehungen vom 30. Januar 1933 - der Phase ihrer schrittweisen Unterwerfung unter die Maßgaben nationalsozialistischer schaltung«, Emigrantenverfolgung 42
42
»Gleich-
und Auslandspropaganda, ihrer Instru-
Zur deutschen Emigration in Spanien - besonders auch zum hinter der nationalsozialistischen Intervention auf Seiten der Rebellen oft vergessenen Kampf von rund 5.000 Deutschen für die Republik und ihrem Schicksal nach Kriegsende (Internierung in Frankreich, Bruch vieler mit dem Kommunismus, Verfolgung im »Dritten Reich«, Heroisierung und Karrieren in der DDR, politische und versorgungsrechtliche Diskriminierung in der Bundesrepublik) - vgl. P. von zur MÜHLEN, Spanien war ihre Hoffnung. Die deutsche Linke im Spanischen Bürgerkrieg 1936 bis 1939, Bonn 1983; DERS., Fluchtweg Spanien-Portugal. Die deutsche Emigration und der Exodus aus Europa 1933-1945, Bonn 1992, S. 56 ff.; DERS., Spanien als Exil- und Transitland, in: K. KOHUT/P. von zur MÜHLEN (Hgg.), Alterna-
»Moralische Eroberungen«?
22
mentalisierung im Rahmen der Strategie »verdeckter Aggressionsvorbereitung« 43 - bis zur Unterzeichnung des deutsch-spanischen Kulturabkommens vom 24. Januar 1939. Die inhaltlichen Konturen und Akzente der vorliegenden historischen Studie wurden maßgeblich von der Existenz und Erreichbarkeit des archivalischen Quellenmaterials bestimmt. Hierzu bedurfte es eines breit angelegten Aktenstudiums in deutschen und spanischen Archiven, um die durch Kriegseinwirkungen und gezielte Aktenvernichtung hier wie dort entstandenen Dokumentationslücken zu füllen. Den Grundstock der Analyse der institutionellen Verankerung, Planung und Finanzierung der amtlichen deutschen Kulturpolitik und ihre praktische Umsetzung in den Beziehungen zu Spanien bildeten dabei die Akten der Kulturabteilung des A A im Politischen Archiv in Bonn und im Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam - dem ehemaligen Deutschen Zentralarchiv I. Aus diesem ebenso reichhaltigen wie ergiebigen Quellenkorpus wurden mehr als 200 Akten gesichtet und ausgewertet, die insgesamt ein sehr vielschichtiges und interessantes Bild der deutschen Kulturpolitik in Spanien vermitteln. Im einzelnen waren dies die Akten der Referate Kult A (Auslandsdeutschtum, Minderheitenfragen, Kirchen- und Missionswesen), Kult B und S (Deutsches Schulwesen im Ausland) und Kult W (Allgemeine Kulturpolitik, Wissenschafts- und akademische Beziehungen zum Ausland). Nur fragmentarisch erhalten oder durch starke Brandeinwirkung nicht benutzbar sind dagegen die Akten des Referats Kult C (Kunst, Kunstausstellungen, Musik, Theater, Film, Sport). 44 Aus diesem Grund mußte dieser Themenkreis aus der Darstellung ausgeblendet werden. Als ausgezeichnetes und unentbehrliches Korrelat zum Aktenfundus der Kulturabteilung erwies sich der stark dezimierte Bestand der deutschen Botschaft Madrid im PAAA, dessen kulturpolitsche Akten aber im wesentlichen von Kriegseinwirkungen und gezielter Vernichtung verschont geblieben sind. tive Lateinamerika. Das deutsche Exil in der Zeit des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M . 1994, S. 15-26; K . HERMSDORF/H. FETTING/S. SCHLENSTEDT, E x i l in
43 44
den Niederlanden und in Spanien, Frankfurt a. M. 1991, S. 191 ff. H.-A. JACOBSEN, Nationalsozialistische Außenpolitik 1933-1938, Frankfurt a. M. [u.a.] 1968, S. 391 ff. Zu Aufbau, Gliederung und Geschäftsverteilung in der KA im AA siehe unten, Kap. 3.2.4.
1. Einleitung
23
Zu diesen Hauptquellen, die gleichsam den gesamten Untersuchungszeitraum fundieren, wurden in Bonn und Potsdam die zur historischen Einordnung der kulturpolitischen Kontakte in das historische Gesamtpanorama der deutsch-spanischen Beziehungen der Jahre 1919 bis 1933 themenrelevanten Akten aus den Registraturen des Büros des Reichsministers, der Politischen Abteilung, der Handelspolitischen Abteilung, der Nachrichten-, Presse- und Rechtsabteilung des AA sowie die bis dato im Bundesarchiv Koblenz aufbewahrten Akten der Reichskanzlei (R 43 I / II) herangezogen. Neben dem umfangreichen Quellenfundus des AA wurden in Koblenz und Potsdam verschiedene weitere Archivregistraturen ausgewertet. An erster Stelle ist dabei das in Koblenz aufbewahrte Schrift- und archivische Sammlungsgut des 1917 in Stuttgart gegründeten Deutschen Ausland-Instituts (R 57) zu nennen. Dieser im gesamten Bereich der »kulturellen Deutschtumspflege« einzigartige Bestand besitzt im hier behandelten Zusammenhang außerordentlich hohen dokumentarischen Wert, da in ihm Druckschriften und Korrespondenzen des DAI mit einer ganzen Reihe von privaten Mittlerorganisationen - etwa den Deutsch-Spanischen Vereinigungen - und die in den Akten der Referate A, B und S der Kulturabteilung des AA nur vereinzelt auftauchenden Jahresberichte der deutschen Schulen und Vereine in Spanien erhalten sind. Entsprechendes gilt für die in Koblenz nahezu komplett vorhandene Registratur der 1930 in Berlin ins Leben gerufenen Deutsch-Spanischen Gesellschaft (R 641). Weiterhin wurde in Potsdam der Bestand des Reichsministeriums des Innern (15.01) ausgewertet. Besondere Bedeutung kommt hier den Akten der Abteilung III zu, die sich in Absprache mit der Kulturabteilung im AA der Pflege der wissenschaftlichen und akademischen Beziehungen zum Ausland widmete, Richtlinien für die Unterrichtsgestaltung an den deutschen Auslandsschulen erließ und an deren Visitation durch Abgesandte der Kultusverwaltungen beteiligt war. Da die Abteilung IE des Innenressorts im Mai 1934 nach ihrer »Gleichschaltung« mit dem Preußischen Kultusministerium im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung unter Bernhard Rust aufging, wurden auch aus dessen Bestand (49.01) verschiedene Akten gesichtet, deren Inhalt auf die Jahre vor 1933 rückverweist. Hinweise auf die schleichende nationalsozialistische Infiltration der deutschen Kolonien in Spanien am Ende der Weimarer Republik lieferte sodann
»Moralische Eroberungen
24
die Durchsicht der verstreut lagernden und nur fragmentarisch erhaltenen Akten der Auslandsorganisation der NSDAP in Koblenz (NS 09), Potsdam (62 Au 1) und Bonn (Chef A O im AA, Abt. Inland II). Konkretisiert werden konnten diese durch einzelne Funde in anderen Registraturen der NSDAP (NS 1 Reichsschatzmeister, NS 26 Hauptarchiv). Im Rahmen der biographischen Recherche wurden schließlich in der Außenstelle Berlin-Zehlendorf des Bundesarchivs, dem ehemaligen Berlin Document Center, die NS-Parteiakten von Fritz Krüger und Gerhard Moldenhauer eingesehen - zwei Romanisten, die in der Weimarer Zeit auf die eine oder andere Weise aktiv in die deutsch-spanischen Kulturbeziehungen eingebunden waren und sich nach 1933 als Ordinarien in Hamburg, Bonn und Wien als dogmatische Nationalsozialisten hervortaten. Zu guter Letzt darf das als Depositum im Historischen Archiv des Erzbistums Köln liegende Archiv der Görres-Gesellschaft nicht unerwähnt bleiben. Dort wurden Akten ausgewertet, die die seit 1921 geplante Einrichtung und die wissenschaftliche Arbeit des offiziell 1929 eingeweihten Instituts der Gesellschaft in Madrid betreffen. Dazu gehören die erhaltenen Vorstandsprotokolle der Gesellschaft, die Korrespondenz ihres Präsidenten, die Akten des Generalsekretariats, Protokolle der Generalversammlungen
und verstreut
auftauchender Schriftwechsel der Mitglieder des Spanischen Kuratoriums der Gesellschaft. Die Quellenrecherche in den staatlichen Archiven und Bibliotheken in Spanien gestaltete sich schwierig und zeitraubend. Bis in die Gegenwart wirft die bleierne Zeit der Franco-Diktatur dunkle Schatten auf Organisation und Systematik der Registraturen, die nicht dem Standard der großen deutschen, britischen oder gar der vorbildlichen staatlichen Archive in den USA entsprechen. So existieren zum Teil gar keine Findmittel oder sie weisen gravierende Defizite auf, die eine systematische Quellenerschließung bisweilen zum Lotteriespiel machen. Dazu stehen die Archiv- und Bibliotheksverwaltungen in Spanien vor einem riesigen Berg dringender Sicherungs- und Restaurierungsarbeiten. So waren die Benutzungsbestimmungen einem steten, oft nicht vorhersehbaren oder nachzuvollziehenden Wandel unterworfen. Den Grundstock der Analyse der institutionellen Verankerung, Planung und Organisation der amtlichen spanischen Kulturpolitik und ihrer praktisehen Umsetzung in den Beziehungen zur Weimarer Republik bildete der
25
1. Einleitung Bestand der 1921 im Außenministerium eingerichteten Oficina de Culturales
Españolas,
ab 1926 Junta de Relaciones
Culturales,
Ministerio de Asuntos Exteriores in Madrid und im Archivo nistración
Relaciones
im Archivo
del
General de la Admi-
Civil del Estado in Alcalá de Henares. Im Madrider Archiv, dessen
Akten der Jahre bis 1931 - im Gegensatz zur rigorosen »Säuberung« vieler Bestände aus der Franco-Zeit 45 - weitgehend erhalten sind, existiert kein Findbuch, vielmehr ein offenkundig lückenhaftes alphabetisches Sach- und Schlagwortregister. Ersatz boten die normalerweise nicht zur Vorlage bestimmten Indices
de Remisión,
die zum Zeitpunkt des Archivbesuchs gerade in eine
computergestützte Datenbank eingespeist wurden und »informell« durchgesehen werden konnten. Diese Indices wurden von den jeweiligen Abteilungsund Referatsleitern des Außenministeriums angelegt und erfassen die abgeschlossenen Akten, die von ihnen in das Archiv gegeben wurden. Von Nachteil für den Benutzer ist dabei, daß wegen der zuweilen langen Verwendung der Akten die Indices über einen langen Zeitraum hinweg durchgesehen werden müssen, was sehr viel Zeit und Geduld erfordert. So tauchten etwa noch in den Indices der sechziger Jahre den Untersuchungszeitraum der vorliegenden Studie betreffende Akten auf. Diese Akten - insgesamt rund 150 Bündel, zu denen neben der Registratur der O R C E und der J R C die Korrespondenz der Politischen Abteilung des Ministerio de Estado mit der spanischen Botschaft in Berlin, der deutschen Ministerialbürokratie und der Madrider Botschaft zählen - befanden sich in einem insgesamt guten Erhaltungs- aber vergleichsweise desolaten Ordnungszustand. Dementgegen erwies sich der Bestand Presidencia Militar im Archivo Histórico
Nacional,
del Gobierno,
Directorio
der ebenfalls gesichtet wurde, bis auf
einige wenige Ausnahmen als unergiebig. Der im Archiv des Consejo Superior de Investigaciones
Científicas,
der 1939
unter Franco eingerichteten Nachfolgeorganisation der J A E , liegende Quellenbestand konnte wegen seiner Restaurierung leider nicht eingesehen werden. Ersatz boten die Memorias der J A E , die gedruckt von 1907 bis 1934 vorliegen. Aufschlüsse über die Aktivitäten der J A E im Rahmen der kulturpolitischen
45
Vgl. A. VIÑAS, La historia de la contemporaneidad española y el acceso a los archivos del franquismo, in: Sistema 78, 1987, S. 17-36; R. H. WHEALEY, Opportunities and Disappointments in the Spanish Foreign Ministry Archives, in: Archives 12,1975, S. 68-73.
26
»Moralische Eroberungen
Beziehungen zu Deutschland lieferte schließlich auch der im AMAE, im AGA und im PAAA erhaltene Schriftwechsel der JAE mit dem Ministerio de Estado, dem Ministerio de Instrucción Pública y Bellas Artes, der deutschen Botschaft in Madrid und dem AA. 46
46
Zur weiteren Zitierweise von Archivalien: Akten werden bei ihrer Erstnennung vollständig zitiert (1. Archiv; 2. Bestand/Signatur; 3. Abteilung/Referat, Titel und Laufzeit der Akte; 4. Schriftstück). Weitere Nennungen in Kurzform.
2. Nationale Expansion und Regeneration
27
2. Nationale Expansion und Regeneration. Zu den Anfängen auswärtiger Kulturpolitik in Deutschland und Spanien Die methodische Gestaltung kultureller Beziehungen zum Ausland fand zuerst in Frankreich Eingang in das klassische außenpolitische Instrumentarium. Nach der ehedem von Talleyrand ausgegebenen Losung »Faites aimer la France!« wurde im machtpolitischen Wellental nach 1870/71 in der HL Republik mit dem Aufbau eines Netzwerks französischer Kulturvermittlung im Inund Ausland begonnen, das sich bereits um die Jahrhundertwende eng verflochten zeigte.1 Zur wichtigsten Körperschaft in diesem System avancierte die 1883 gegründete Alliance française - eine in ihren Anfängen private, aber schon 1886 staatlich anerkannte und fortan massiv geförderte nationale Vereinigung - >voué[e] à la diffusion de la langue et de la civilisation de la France dans ses colonies et à l'étranger«.2 Als Dachverband einer Vielzahl lokaler Komitees in Europa und Ubersee wirkte die Alliance française eng mit philologischen und auslandskundlichen Instituten französischer Hochschulen, einer Reihe halbamtlicher und privater Organsiationen, dem Außen- und Unterrichtsministerium in Paris und den französischen Gesandtschaften vor Ort zusammen. 3 Bis zum Ersten Weltkrieg verfestigte sich dieses solide institutionelle Fundament zu einem funktionablen und mit beispiellosem Erfolg arbeitenden Apparat. 4 Analog dazu wurde ein breites und sublimes Spektrum kulturpoliti1
Zur Genese der auswärtigen Kulturpolitik Frankreichs vor 1914 vgl. A. SALON, L'action culturelle de la France dans le monde, Paris 1983, S. 19 ff. Eine Analyse von nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland verfaßten zeitgenössischen Betrachtungen bei: DÜWELL, Kulturpolitik, S. 38 ff. Aus ihnen sticht abseits aller ideologischen Vorbehalte die Bewunderung für die effektive Gestaltung und die Wirksamkeit der französischen Kulturpräsentation im Ausland hervor. Vgl. RÜHLMANN, passim; K. REMME/M. ESCH, Die französische Kulturpropaganda,
Berlin 1927; E. STERN-RUBARTH, Die Propaganda als politisches Instrument, Berlin 1921. 2
SALON, S. 85.
3
Vgl. M. BRUEZIÈRE, L'Alliance Française, 1883-1983. Histoire d'une institution, Paris 1983. Zu den wichtigsten privaten Trägern französischer Kulturpolitik im Ausland zählten neben den rund 50 religiösen Kongregationen mit ihren Missionsschulen die 1902 gegründete Mission laïque française und die unzähligen Amitiés francoétrangères. Der Quai d'Orsay und die Sektion Service d'expansion universitaire et scientifique im Unterrichtsministerium zeichneten für die staatlichen Auslandsschulen, die Wissenschaftsbeziehungen und die Instituts français im Ausland ver-
4
»Moralische
28
Eroberungen
scher Methodik und inhaltlicher Ausgestaltung entwickelt. Dabei galt das Augenmerk zuallererst der globalen Verbreitung der französischen Sprache nach der geläufigen Maxime: »Tout client de la langue française devient un client des produits français«. 5 Und auch das politische Ziel blieb jederzeit klar umrissen: »affirmer le rang de la France dans le monde«, »faire pièce à l'influence de l'Empire allemand«. 6 Ungeachtet ihrer politischen Instrumentalisierung blieb die auswärtige Kulturpolitik Frankreichs immer und zuerst Ausdruck einer tiefverwurzelten nationalen Grundüberzeugung - des missionarischen Glaubens an die hervorragende Bedeutung der eigenen Kultur in der Welt, des »Universalismus der französischen Zivilisationsidee«.7 Grundlegend für ihren frühen Erfolg waren neben der perfekten Organisation ihre breite gesellschaftliche Verankerung und die stabile, autochthone Kulturverfassung des Landes. 8
5
antwortlich. Hinzu kam 1910 der Office national des universités et écoles françaises a l'étranger, der den Schüler-, Studenten-, Lehrer- und Professorenaustausch mit dem Ausland gestaltete. Vgl. SALON, S. 19 ff. Programm der Alliance française, zitiert nach: REMME/ESCH, S. 3.
6
SALON, S. 2 0 .
8
Vgl. SALON, S. 30 ff., 54 ff.; DÜWELL, Kulturpolitik, S. 45 ff. Dort auch ein Abriß der Anfänge auswärtiger Kulturpolitik in Großbritannien und den USA.
7
T. WILHELM, Ein Kapitel französischer Kulturpolitik, in: Hochschule und Ausland 10, 1932, Heft 12, S. 16-21. Zitat: S. 16. Dabei gilt es darauf hinzuweisen, daß »[d]er französische Führungsanspruch in Sachen Zivilisation« nicht notwendig eine »Hintansetzung anderer europäischer Staaten« implizierte. So brachten civilisation und Kultur bis 1914 »primär ein gemeineuropäisches Selbstbewußtsein und Überlegenheitsgefühl zum Ausdruck«. Skepsis ist dagegen gegenüber der von nationalistischen Autoren des 20. Jahrhunderts betriebenen Rückprojektion einer »Antithese von 'Kultur' und 'Zivilisation'« angebracht. Sicherlich ist seit der Jahrhundertwende hier wie dort eine zunehmende »nationale Polarisierung der Begriffe« zu konstatieren. Im wesentlichen aber blieb diese ein - überdies episodenhaftes - Produkt der beiden Weltkriege, als die »Trennungslinie zwischen Zivilisation und Barbarei [...] nicht mehr zwischen Europa und Ubersee, sondern innerhalb Europas« verlief. Vgl. J. FISCH, Art. Zivilisation, Kultur, in: GGB, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 679-774. Zitate: S. 681 f., 740, 756.
29
2. Nationale Expansion und Regeneration
2.1. Die auswärtige Kulturpolitik
des Reiches bis 1914
9
Im Gegensatz zum Nachbarn im Westen blieb in Deutschland das Bewußtsein für die vielgestaltigen Methoden und Perspektiven auswärtiger Kulturpolitik vor 1906 rudimentär ausgebildet. Lange Zeit überdeckten im Kaiserreich die geistige Prävalenz des Militarismus, die rasante industrielle Entwicklung und die globale wirtschaftliche Expansion die Mißstände im kulturellen Postament der »verspäteten Nation«. 10 Mit der Reichsgründung waren »die überlieferten Kulturgüter in eine fundamentale Krise [geraten, ...] die zu einer Krise der Kulturidee und des Kulturstaates trieb [...] Sie trat fast genau in dem Augenblick auf, in dem die bis dahin im wesentlichen noch nach innen gerichtete Kulturpolitik eine außenpolitische Entsprechung und Ergänzung im Sinne einer politisch planmäßigen Gestaltung und Förderung der auswärtigen Kulturbeziehungen durch das Reich erforderlich gemacht hätte«. In der Konsequenz traten Reichsregierung und -bürokratie, deren kulturpolitische Kompetenzen ohnedies durch die von föderativen Elementen durchsetzte Verfassung eng umgrenzt waren, erst vergleichsweise spät und nur auf zwei kulturpolitisch relevanten Gebieten auf den Plan - der Unterstützung wissenschaftlicher Institute und des deutschen Schulwesens im Ausland. 12 Den eher vereinzelten Initiativen zum Ausbau akademischer Beziehungen mit dem Ausland, die mehr der allgemeinen Reputation deutscher Wissenschaft als konkreten außen- oder wirtschaftspolitischen Zielen dienten, stand 9
Im folgenden werden nur für das weitere Verständnis wichtige Aspekte angesprochen. Zur historischen Verortung und zum inhaltlichen Wandel der grundlegenden Begriffe Kultur, Kulturpolitik und Kulturstaat vgl. B R U C H , Weltpolitik als Kulturmission; D Ü W E L L , Kulturpolitik, S. 1 ff., 5 3 ff.; EmGE, Kulturpolitik, S. 2 0 ff.; LEJEUNE, S. 1-15.
10 11
12
H. P L E S S N E R , Die verspätete Nation. Uber die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Stuttgart [u.a.]41966. D Ü W E L L , Kulturpolitik, S. 13 f. Zur hier nicht eingehend behandelten innenpolitischen Dimension, zur Kritik an der Erstarrung des kulturellen Lebens in Deutschland, zum »neuen Idealismus« der bildungsbürgerlichen Schichten und zur Kulturbewegung in der spätwilhelminischen Zeit vgl. BRUCH, Weltpolitik als Kulturmission, S. 4 0 ff.; KLOOSTERHUIS, Friedliche Imperialisten, S. 33 ff.; K. V O N D U N G (Hg.), Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen, Göttingen 1976. Kulturpolitik war im Kaiserreich Sache der Einzelstaaten. Die Kompetenzen des Reiches blieben auf die Repräsentation von Wissenschaft und Kunst im Ausland beschränkt. Vgl. A B E L E I N , S. 14 ff.; D Ü W E L L , Kulturpolitik, S. 8, 53 ff.
30
»Moralische Eroberungen*?
seit den 1890er Jahren ein wachsendes Interesse staatlicher Stellen für die Belange des deutschen Auslandsschulwesens gegenüber. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatten diese Schulen »fast durchweg konfessionellen Charakter. Durch die starke Emigration, hauptsächlich im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1848, erhielten [sie ...] großen Zuwachs, so daß sie ihren einheitlichen konfessionellen Charakter verloren [...] Die Kirchenschule wich der Nationalschule«.13 Bis zur Jahrhundertwende entstanden weltweit insgesamt 342 neue Schulen dieses Typs. 14 Allerdings wurden sie fast ausnahmslos von privaten Körperschaften vor Ort unterhalten. Denn der 1878 im AA eingerichtete Reichsschulfonds zur Förderung deutscher Auslandschulen bescheiden ausgestattet.
blieb finanziell vorerst mehr als
Erst 1892 kam es zu einer spürbaren Etaterhöhung.
1900 unterstützte das Reich dann immerhin 131 deutsche Schulen im Ausland. 16 Mit der Vervielfachung der Auslandsschulen einher ging eine einschneidende Umstrukturierung ihrer Schülerschaft. Zunehmend strömte nun die einheimische Klientel des jeweiligen Gastlandes in die deutschen Schulen. 13 14
15
16
F. SCHMIDT, Grundlinien der geschichtlichen Entwicklung der deutschen Bildungsarbeit im Auslande, in: DERS./O. BOELITZ (Hgg.), Aus deutscher Bildungsarbeit im Auslande, Bd. 1: Europa, Langensalza 1927, S. 16-35. Zitat: S. 20 f. Die statistischen Angaben zum deutschen Auslandsschulwesen vor dem Ersten Weltkrieg sind - soweit nicht anders belegt - der gedruckten Fassung der Denkschrift des Auswärtigen Amtes über das deutsche Auslandsschulwesen vom April 1914 entnommen. PAAA, R 62366. Kult VI B. Schul-S. Nr. 155 adh. 3. Die Denkschrift über die deutschen Schulen im Auslande, Bd. 2 (1914). Die auf Antrag der Budgetkommission des RT vom 16.4.1913 unter der Federführung von Franz Schmidt, 1906-1915 Leiter des Schulreferates im AA, verfaßte Übersicht wurde wegen ihrer politischen Brisanz im Parlament und gelegentlich ihrer Weiterleitung an die Auslandsvertretungen des Reiches im Juni 1914 als Geheimsache behandelt. Zur Entstehung, historischen Debatte und Bewertung der Denkschrift vgl. DÜWELL, Kulturpolitik, S. 23 f., 63 ff., 268 ff.; KLOOSTERHUIS, Friedliche Imperialisten, S. 93 ff.; F. SCHMIDT, Als erster Schulreferent im Auswärtigen Amt, in: DERS. (Hg.), Deutsche Bildungsarbeit im Ausland nach dem ersten und zweiten Weltkrieg, Braunschweig [u.a.] 1956, S. 23-32, hier: S. 31 f. Vgl. PAAA, R 62366. Denkschrift, S. 35. ABELEIN, S. 107 f. nimmt das anfangs schmale Budget als Beleg für seine These, das Reich habe zu diesem Zeitpunkt »die Größe seiner kulturpolitischen Aufgabe gar nicht erkannt«. Damit folgt er der Darstellung von SCHMIDT, Bildungsarbeit, S. 17. Demnach spielten bei der Einrichtung des Reichsschulfonds strategische Überlegungen keine Rolle. Sie war eine »reine Verwaltungs-, keine politische Maßnahme«. Vgl. PAAA, R 62366. Denkschrift, S. 35.
2. Nationale Expansion und Regeneration
31
Erst durch diesen Umstand konnten sich die Schulen zu wirklichen Mittlern »deutscher Kultur« im Ausland entwickeln und damit über den vom gesellschaftlichen Umfeld des Gastlandes isolierten Status bloßer Lehranstalten für den Nachwuchs vor Ort lebender Landsleute hinauswachsen.17 Eine stärkere Akzentuierung kultureller Beziehungen zum Ausland in der Gestaltung deutscher Außenpolitik wird schließlich nicht zufällig seit 1906 erkennbar. Die internationale Konferenz in Algeciras - das »Jena der deutschen Diplomatie«18 - hatte kritischen Zeitgenossen das ganze Ausmaß der 1897 eingeleiteten deutschen Selbstisolierung im europäischen Mächtekonzert vor Augen geführt. Die Orientpolitik und der Flottenbau hatten den deutschenglischen Antagonismus heraufbeschworen. Dagegen fanden Großbritannien und Frankreich 1904 mit dem Abschluß der Entente cordiale in der Kolonialfrage eine gütliche Einigung. So schien, als die Entente entgegen den Hoffnungen und Erwartungen in Berlin auch die Erste Marokkokrise überstand und Algeciras zu einem Debakel der deutschen Außenpolitik geriet, die »Auskreisung« des Reiches besiegelt.19 Als ein klares Indiz für das geschärfte Bewußtsein der Bedeutung und Perspektiven einer von staatlicher Seite animierten, mithin amtlichen auswärtigen Kulturpolitik als Instrument der »Weltpolitik« ist vor diesem Hintergrund das Engagement im Bereich der Wissenschaftsförderung und die nun massive Teilhabe des AA beim Ausbau des deutschen Auslandsschulwesens in der Dekade vor dem Ersten Weltkrieg zu interpretieren. Die Selbstdarstellung des Reiches als »Weltzentrum der Wissenschaft«20 wurde durch die Gründung und den Ausbau weiterer Forschungsinstitute im Ausland und das 1906 anlaufende deutsch-amerikanische Professorenaustauschprogramm verstärkt. Diese »erste große kulturpolitische Unternehmung Deutschlands im Ausland« 21 ging auf eine Initiative des Leiters der Hochschulabteilung im preußischen Kultusministerium, Friedrich Althoff 22 , zurück und wurde von den Regierungen und 17 18 19 20 21 22
Zur kritischen Überprüfung dieser These siehe unten, Kap. 2.4. M. HARDEN, Praestigia, in: Die Zukunft 55,12.5.1906, S. 193-201. Zitat: S. 196. Vgl. G. SCHÖLLGEN, Das Zeitalter des Imperialismus, München '1991, S. 58 ff. G. A. RITTER, Internationale Wissenschaftsbeziehungen und auswärtige Kulturpolitik im deutschen Kaiserreich, in: ZfK 3 1 , 1 9 8 1 , S. 5-16. Zitat: S. 5. F. SCHMIDT, Anfänge deutscher Kulturpolitik im Auslande, in: ZfP, N. F., Bd. 3, 1956, S. 252-258. Zitat: S. 253. Friedrich Althoff (1839-1908) war einer der wenigen kulturpolitisch fachkundigen Bürokraten im Kaiserreich - der »erste große Kulturpolitiker Deutschlands« (eb-
32
»Moralische
Eroberungen*?
auswärtigen Diensten beider Länder kräftig protegiert. Allerdings blieb ihr politischer Ertrag bescheiden. Die von deutscher Seite an den Austausch geknüpfte Zuversicht, am Vorabend des Ersten Weltkrieges »im Wettkampf mit England um die Gunst Amerikas« die Oberhand zu gewinnen, entpuppte sich bald als bloße Illusion. 2 3 Auch im forcierten Ausbau des deutschen Auslandsschulwesens in der Dekade vor dem Ersten Weltkrieg offenbart sich das verstärkte Bemühen um kulturelle Flankierung der deutschen Außen- und Außenwirtschaftspolitik. Gleich mehrere Maßnahmen waren es, die zu einer planvollen Betreuung und damit einer Steigerung der Adhäsionskraft der Schulen beitragen sollten. So wurde 1906 in der Rechtsabteilung des A A ein Schulreferat eingerichtet, das fortan für regelmäßige Visitationen und die Vermittlung von Lehrkräften an die Auslandsschulen verantwortlich zeichnete. Des weiteren sollten ein Gesetz zur Anerkennung der Abschlüsse der Auslandsschulen im Reich und die Einrichtung von Sprachkursen für Erwachsene die Reputation und Attraktivität der Schulen im In- und Ausland weiter erhöhen. 2 4 Ferner wurden vor allem in China und der Türkei rund fünfzehn, ausnahmslos für Schüler des Gastlandes konzipierte Schulen eingerichtet. Letztere unterschieden sich grundlegend v o m traditionellen Typus der Kolonieschule, dienten nicht dem »Erhalt des Deutschtums«, sondern einzig »zum Zwecke deutscher Kulturpropaganda«. 25 Sie standen im Dienst der globalen Expansion der deutschen Wirtschaft und
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24
25
da.). Vgl. B. vom BROCKE, Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich: Das 'System Althoff' 1882-1907, in: P. BAUMGART (Hg.), Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs, Stuttgart 1980, S. 9118; KLOOSTERHUIS, Friedliche Imperialisten, S. 117 ff. Vgl. B. vom BROCKE, Der deutsch-amerikanische Professorenaustausch, in: ZfK 31, 1981, S. 128-182; G. A. RITTER, Motive und Organisationsformen der internationalen Wissenschaftsbeziehungen und die Anfänge einer auswärtigen Kulturpolitik im deutschen Kaiserreich vor dem Ersten Weltkrieg, in: L. KETTENACKER/ M. SCHLENKE/H. SEIER (Hgg.), Studien zur Geschichte Englands und der deutschbritischen Beziehungen, München 1981, S. 153-200. Vgl. F. SCHMIDT, Die Geschichte der deutschen Auslandschule, in: O. BOELITZ/ H. SÜDHOF (Hgg.), Die deutsche Auslandschule. Beiträge zur Erkenntnis ihres Wesens und ihrer Aufgaben, Berlin [u.a.] 1929, S. 17-28. SCHMIDT, Kulturpolitik im Auslande, S. 272. Noch 1929 betonte Schmidt, daß dieser Schultyp »nur verhältnismäßig kleinen Kreisen unseres Volkes bekannt geworden [sei], weil aus politischen Gründen jedes Aufsehen vermieden wurde«. SCHMIDT, Auslandschule, S. 24.
2. Nationale Expansion und Regeneration
33
wurden gezielt als Verbreiter der »Kenntnis der deutschen Sprache und richtigen Vorstellungen von Deutschland in fremden Völkern« und damit zur Gewinnung von neuen »Freunden« eingesetzt.26 Summa summarum wies die amtliche Statistik kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges 878 deutsche Schulen im Ausland aus, von denen 511 aus dem Reichsschulfonds in einer Größenordnung von rund 1,5 Millionen Goldmark gefördert wurden. 27 Daneben rückte in der »Epoche der Kulturpropaganda«28 ein Aspekt deutscher Kulturarbeit im Ausland in den Vordergrund, der noch in der Bismarckzeit keine wirkliche Rolle gespielt hatte - die »kulturelle Deutschtumspflege«.29 Doch diente die ideelle und materielle Unterstützung der jenseits der Reichsgrenzen lebenden Landsleute in der Dekade vor dem Ersten Weltkrieg nicht mehr der bloßen Kräftigung ihrer »nationalen Selbstbehauptungskräfte« gegen den Assimilierungsdruck der Umgebung. Jetzt war das Augenmerk auf den kultur- und wirtschaftspolitischen Einsatz ihres Einflusses im Ausland gerichtet. Sehr deutlich offenbarte sich diese Kursänderung auf der Ebene privater Mittlerschaft im kulturpolitischen Bereich - expressis verbis in der Umbenennung des 1881 gegründeten Allgemeinen Deutseben Schulvereins in Verein für das Deutschtum im Ausland im Jahr 1908.30 Bis zur Jahrhundertwende hatte sich der ADSV zur »Erhaltung des Deutschtums im Auslande« zumeist den Belangen der deutschen Schulen jenseits der Reichsgrenzen gewidmet. Damit blieben seine Aktivitäten im 26 27 28 29
30
SCHMIDT, Kulturpolitik im Auslande, S. 271. Vgl. KLOOSTERHUIS, Friedliche Imperialisten, S. 186 ff. Zu dieser Periodisierung der Jahre 1906 bis 1914 vgl. DÜWELL, Kulturpolitik, S. 63 f. Die Bewegung zur Erhaltung des Deutschtums im Ausland war das Produkt der »besonderen Bewertung von Sprache und Kultur durch die deutsche Nationalbewegung«, dem Postulat, »das gesamte, geschlossen siedelnde Deutschtum in einem Nationalstaat zu umfassen«. Die starken Auswanderungswellen nach 1848 mündeten in den 1880er Jahren in die Entstehung einer organisierten Deutschtumsschutzbewegung. Vgl. G. WEIDENFELLER, Der V D A zwischen 'Volkstumskampf' und Kulturimperialismus, in: ZfK 31, 1981, S. 17-26. Zitat: S. 18. Aus der bunten Palette der vor 1914 existenten Deutschtumsorganisationen gilt es den V D A hervorzuheben, da er neben dem 1917 in Stuttgart gegründeten Deutschen Ausland-Institut als einzige auf diesem Gebiet tätige Vereinigung das Kaiserreich überlebte. Vgl. WEIDENFELLER, passim; K. POSSEKEL, Art. Verein f ü r das Deutschtum im Ausland (VDA) 1881-1945, in: LzPG, Bd. 4, Köln 1986, S. 282297. Für ein kommentiertes Verzeichnis aller Auslandsvereine vgl. KLOOSTERHUIS, Friedliche Imperialisten, S. 277 ff.
34
»Moralische Eroberungen
wesentlichen defensiv ausgerichtet. Fortan unterwarf man sich den imperialistischen Maßgaben der 1897 von Bülow auf den Begriff gebrachten »Weltpolitik«. Hierbei suchte und fand der VDA, dessen Mitglieder sich zu 80 % aus dem akademischen Bürgertum rekrutierten, Rückhalt bei Großbanken und Schwerindustrie. Daneben bestanden enge Kontakte zum extrem nationalistischen Lager - zum Deutschen Ostmarken- und Flottenverein, dem Alldeutschen Verband und der Deutschen Kolonialgesellschaft, zu denen auch personell vielfältige Querverbindungen bestanden. Immer aggressiver wurde nun das Fehlen eines »geschlossenen deutschen Siedlungsgebietes« reklamiert und für die im Ausland lebenden Deutschen als Vorposten der politischen und ökonomischen Interessen des Reiches agitiert. Damit war aus der einst rührigen Bewegung zum »Schutz des Deutschtums« eine Propagandamaschinerie erwachsen, die 1914 mit 400 Ortsgruppen und fast 60.000 Mitgliedern im Reich vertreten war, allein 450.000 Reichsmark aus Beiträgen einnahm und deren ideologisches Inventar sich um den Gedanken einer »Weltmission des Deutschtums« rankte.31 Unter diesen Vorzeichen konnten die Aktivitäten des VDA im Ausland nicht auf die Wahrung einer - wie auch immer beschaffenen - nationalen Identität der dort lebenden Landsleute durch die Vermittlung von Sprache und Kultur an den Auslandsschulen und die Förderung ihrer gesellschaftlichen Homogenität beschränkt bleiben. In den Mittelpunkt rückte nun die offensive Verbreitung deutscher Kultur. Diese konnte nach dem Verständnis des VDA nur über die Ausländsdeutschen erfolgen. So erhob man den Anspruch, auch auf diesem Gebiet tätig zu werden - quasi als deutsches Pendant zur Alliance française. Faktisch konnte davon allerdings keine Rede sein. Der VDA verfolgte unverdrossen einen rein deutschtumspolitischen Ansatz, der jedes Interesse an einer Anknüpfung bilateraler, geschweige denn dem Grundsatz reziprok gestalteter Kulturbeziehungen zu Staaten mit deutschem Bevölkerungsanteil vermissen ließ. Obgleich es zu dieser Zeit »noch keine systematische Zusammenarbeit zwischen VDA und Staatsapparat«32 gab, bildete er am Vorabend des Ersten Weltkrieges zusammen mit einer ganzen Reihe weiterer, in der zurückliegen31 32
E. RITTER, DAI, S. 22. Vgl. KLOOSTERHUIS, Friedliche Imperialisten, S. 315. POSSEKEL, Art. VDA, S. 286. Zu Kompetenzstreitigkeiten mit dem Schulreferat im AA vgl. KLOOSTERHU1S, Friedliche Imperialisten, S. 313
35
2. Nationale Expansion und Regeneration
den Dekade gleichsam wie Pilzen aus dem Boden geschossener Auslandsvereine einen wichtigen Eckpfeiler deutscher Kulturpropaganda im Ausland. Mit dem informellen Brückenschlag zu den jenseits der Reichsgrenzen lebenden Landsleuten und der Stärkung ihres nationalen »Pioniergeistes« diente man in Vertretung amtlicher Stellen und damit auf mehr oder weniger direkte und diskrete Weise den außen- und handelspolitischen Begehrlichkeiten des wilhelminischen Imperiaistrebens.33
2.2. Auswärtige
Kulturpolitik
in der öffentlichen
Diskussion
Die Erfahrung des Effektivitätsverlustes traditioneller Instrumente der Außenpolitik im »Kampf um die deutsche Weltgeltung«, das Bewußtsein für das zunehmend schlechte eigene Ansehen im Ausland und nicht zuletzt das Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den - scheinbaren und wirklichen - Erfolgen kulturpolitischer Unternehmungen der westlichen Nachbarn Frankreich und Großbritannien führten in Deutschland im Biennium vor dem Ersten Weltkrieg zu einer öffentlich ausgetragenen Diskussion um neu zu beschreitende Wege - die Schaffung einer breiteren Basis deutscher Außenpolitik durch ihre stärkere kulturelle Untermauerung. 34 Daran beteiligt waren durchweg Exponenten der wichtigsten Trägergruppe deutscher auswärtiger Kulturpolitik vor 1914 - des Bildungsbürgertums, das seine politisch-gesellschaftliche Sinnkrise mit wachsender »Imperialbegeisterung« zu kompensieren suchte und für sich und das Reich einen »Platz an der Sonne« reklamierte. 33 34
Vgl. ebda., S. 75 ff. R. vom B R U C H , Gesellschaftliche Initiativen in den auswärtigen Kulturbeziehungen Deutschlands vor 1914. Der Beitrag des Bildungsbürgertums, in: ZfK 31, 1981, S. 43-67 spricht in diesem Zusammenhang von einer »moralisch-kulturellen Vertiefung des deutschen Wirtschaftsimperialismus« (S. 47). Dazu weist vom B R U C H in seiner Rezension der Habilitationsschrift Düwells, in: Archiv für Sozialgeschichte 19, 1979, S. 771-776, darauf hin, daß »Kulturpolitik als [...] notwendige Überhöhung des jungen deutschen Imperialismus [...] leitmotivisch fast die gesamte gebildete Zeitschriftenpresse seit etwa 1907« durchzogen habe. Auf diese Traditionslinie, die vom B R U C H in seiner Studie Weltpolitik als Kulturmission, S. 40 ff. in den Mittelpunkt rückt, sei hier nur hingewiesen. Näher beleuchtet wird erst ihre deutliche Zuspitzung am Vorabend des Ersten Weltkrieges, da diese über 1918 hinaus von den Zeitgenossen rezipiert wurde und politisch Wirkung zeigte.
35
Vgl. P. H A M P E , Sozioökonomische und psychische Hintergründe der bürgerlichen Imperialbegeisterung, in: V O N D U N G , S. 67-79; J. K L O O S T E R H U T S , Deutsche
»Moralische Eroberungen*?
36
2.2.1.
Karl
Lamprecht
Einen ersten H ö h e p u n k t der öffentlichen Debatte über Bedeutung, Methoden, Inhalte und Ziele auswärtiger Kulturpolitik bildete die vielbeachtete Rede, die der Leipziger Kulturhistoriker Karl Lamprecht - sicherlich einer der innovationsfreudigsten, aber auch umstrittensten Köpfe der deutschen Geschichtswissenschaft u m die Jahrhundertwende 3 6 - am 7. O k t o b e r 1912 auf einer Tagung
des Verbandes für internationale Verständigung in Heidelberg hielt.37 Lamprechts kulturpolitischer Enthusiasmus war die praktische U m s e t z u n g seiner individuellen Deutung v o n Geschichtsschreibung, des Postulats einer »aufklärerisch-bildende[n] Funktion« v o n Kultur- und Universalgeschichte. 3 8 Diese Auffassung erlangte in einer E p o c h e , die v o n den Zeitgenossen geistig und sozio-ökonomisch als U m b r u c h empfunden wurde,
politisch, brennende
Aktualität. In der für die hier behandelte Thematik zentralen Quelle wurde z u m ersten Mal in Deutschland der Begriff »auswärtige Kulturpolitik« öffentlich verwandt, näher umschrieben und mit Inhalt gefüllt. 3 9 Dabei ging Lamprecht v o n
36
37
38 39
auswärtige Kulturpolitik und ihre Trägergruppen vor dem Ersten Weltkrieg, in: K. DÜWELL/W. LINK (Hgg.), Deutsche auswärtige Kulturpolitik seit 1871, Köln [u.a.] 1981, S. 7-36. Zu Leben und Werk Lamprechts, insbesondere zum erbittert geführten Methodenstreit um seine neue, »dem Ganzen des geschichtlichen Lebens gerecht werdende Geschichtsauffassung«, zu seinem umfassenden kulturgeschichtlichen Ansatz in Auseinandersetzung mit der traditionell staatsorientierten, politischen Historiographie in Deutschland sowie seinen kulturpolitischen Aktivitäten vgl. R . CHICKERING, Karl Lamprecht: a German academic life (1856-1915), Atlantic Highlands, N.J. 1993; L. SCHORN-SCHÜTTE, Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik, Göttingen 1984. Im Aufriß: H.-J. STEINBERG, Karl Lamprecht, in: H.-U. WEHLER (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. I, Göttingen 1971, S. 58-68. Zum hier behandelten thematischen Zusammenhang vgl. H. SCHÖNEBAUM, Karl Lamprechts Mühen um innere und äußere Kulturpolitik, in: Die Welt als Geschichte 15, 1955, S. 137-152; SCHORN-SCHÜTTE, S. 268 ff.; L. WLESE-SCHORN, Karl Lamprechts Pläne zur Reform der auswärtigen Kulturpolitik, in: ZfK 31, 1981, S. 27-42. K. LAMPRECHT, Über auswärtige Kulturpolitik, Stuttgart 1913. Die Rede erschien zuerst in: Deutsche Revue 37, 1912, S. 277-286. Abdruck bei: DÜWELL, Kulturpolitik, S. 255 ff. WLESE-SCHORN, S. 27 f. Ausführliche Diskussion der Rede bei: DÜWELL, Kulturpolitik, S. I X , 14 ff. Der Begriff Kulturpolitik ist im innenpolitischen Kontext seit 1840 nachgeweisen. In
2. Nationale Expansion und Regeneration
37
der Erkenntnis aus, daß ein erheblicher Rückstand des Deutschen Reiches auf dem Feld der »Verbreitung der [...] nationalen Kulturmittel« bestehe. Zwar gestand der Historiker ein, »auch bei den grossen Nationen« gebe es noch keine »systematische und prinzipiell zu bestimmten Vorstellungen ausgebildete wie auf feste wissenschaftliche Grundlagen gestellte auswärtige Kulturpolitik«. Doch lehre die Erfahrung, »dass der wirtschaftliche Einfluss dem geistigen folge und nach beiden erst der eigentliche politische Einfluss mit Erfolg eingeführt werden könne«. 40 Im Gegensatz zu den meisten Zeitgenossen in Deutschland zeichnete sich der Leipziger Gelehrte also durch ein geschärftes Bewußtsein für die kulturelle Dimension und die politischen Perspektiven in der Gestaltung der allgemeinen Beziehungen zum Ausland aus. Seine Vorstellungen von geeigneten Mitteln zur konkreten Ausgestaltung dieser neuen Qualität von Außenpolitik blieben aber begrenzt. Im wesentlichen plädierte er für einen intensivierten Wissenschaftsdialog, für den verstärkten Ausbau internationaler akademischer Beziehungen - und optierte damit für einen engen Konnex von Wissenschaft und politischer Praxis: »Denn auf welchem Wege [...] könnte besser eine auserlesene geistige Mannschaft internationaler Sympathien und gegenseitigen Verständnisses gewonnen werden? Die Nation aber, die diesen Weg zuerst mit Entschiedenheit betritt, wird sich einen wichtigen Vorsprung für die grosse Aufgabe der Regelung internationaler Freundschaften und Zusammenhänge verschafft haben«.41 Dabei wies Lamprechts Denken einige Dichotomien auf. Der von seiner Zunft stigmatisierte Gelehrte war offensichtlich um Völkerverständigung und internationale Zusammenarbeit bemüht, plädierte deshalb für eine »fruchtbare« Kulturpolitik im Sinne zwischen- oder gar suprastaatlicher Interaktion. Auf der anderen Seite treten ganz unzweideutig nationalistische Motive und Absichten hervor. 42 Galt es doch, den deutlichen Vorsprung der westlichen
40
41 42
den Verhandlungen des Reichstages tauchte er um die Jahrhundertwende auf. Vgl. ABELEIN, S. 193 f. Der Begriff auswärtige Kulturpolitik wurde von Lamprecht wohl zuerst 1908 in einem Gespräch mit Althoff verwandt. Vgl. BRUCH, Weltpolitik als Kulturmission, S. 11 f. LAMPRECHT, Über auswärtige Kulturpolitik, S. 3 f. Ebda., S. 14. Lamprechts politisches Denken erscheint insgesamt in einem diffusen Licht. Einerseits war er seit Anfang der 1890er Jahre Mitglied im Alldeutschen Verband-, zugleich engagierte er sich in der Friedensbewegung. Mit Ausbruch des Ersten
38
»Moralische Eroberungen
Nationen Frankreich, Großbritannien und der USA in der Anknüpfung und Gestaltung kultureller Beziehungen zum Ausland aufzuholen und sie möglichst rasch zu überbieten. Gleichzeitig spiegelt sich in den Ausführungen des Leipziger Historikers ein verbreitetes Phänomen der wilhelminischen Epoche wider - die kräftige Uberbewertung der Autorität, Zweckdienlichkeit und Perspektiven von Wissenschaft und ihrer Exponenten im politischen Tagesgeschehen. 43 In den beiden verbleibenden Jahren bis zum Ersten Weltkrieg bemühte sich Lamprecht unermüdlich um eine Konkretisierung seiner kulturpolitischen Vorstellungen in einem geeigneten institutionellen Rahmen. Hoffnungen auf eine kurzfristige Umsetzung seiner Pläne nährten die Kontakte zum ehemaligen Schulfreund und amtierenden Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg 44 , mit dem der Historiker bereits 1908 einen Gedankenaustausch über kulturpolitische Fragen angeknüpft hatte. Grundsätzlich fanden die Anregungen Lamprechts beim Reichskanzler auch Anklang. In einem mit seiner Zustimmung am 12. Dezember 1913 in der liberalen Vossischen Zeitung veröffentlichten Brief an Lamprecht ließ er verlauten: »Ich bin mit Ihnen von der Wichtigkeit, ja der Notwendigkeit einer auswärtigen Kulturpolitik überzeugt. Ich verkenne nicht den Nutzen, den Frankreichs Politik und Wirtschaft aus dieser Kulturpropaganda zieht, noch die Rolle, die die britische Kulturpolitik für den Zusammenhang des britischen Weltreichs spielt.
Auch
Deutschland muß, wenn es Weltpolitik treiben will, diesen Weg gehen«. 45
Aber Bethmann Hollweg äußerte auch politische Vorbehalte. Dabei lautete sein aus historisch-kritischer Distanz fadenscheinig anmutendes Argument, Weltkrieges - Lamprecht starb 1915 - verlor der Historiker wie viele seiner Kollegen im nationalen Taumel jeden Bezug zur kritischen Beurteilung des Geschehens und tat sich durch extrem nationalistische und kriegspropagandistische Schriften hervor. Zum Verhältnis von Universalismus und Nationalismus bei Lamprecht vgl. BRUCH, Weltpolitik als Kulturmission, S. 93 f.; DÜWELL, Kulturpolitik, S. 16; SCHORN-SCHÜTTE, S. 268 ff. 43 44
Vgl. BRUCH, Weltpolitik als Kulturmission, S. 14. Zur strittigen historischen Beurteilung des »enigmatic chancellor« (K. Jarausch) vgl. F. FISCHER, Theobald von Bethmann Hollweg, in: W. STERNBURG (Hg.), Die deutschen Kanzler von Bismarck bis Schmidt, Königstein i. T. 1985, S. 87-114; K. HLLDEBRAND, Bethmann Hollweg - Der Kanzler ohne Eigenschaften. Urteile der Geschichtsschreibung, Düsseldorf 2 1970.
45
Der Brief datiert vom 21.6.1913 und beantwortet ein Schreiben Lamprechts v o m 19.5.1913.
2. Nationale Expansion und Regeneration
39
auswärtige Kulturpolitik sei »für Deutschland noch nicht möglich«, da die deutsche Kultur nicht die »suggestive Kraft [...] wie die britische und französische« besitze: »Wir sind ein junges Volk, haben vielleicht allzuviel Glauben an die Gewalt, unterschätzen die feineren Mittel und wissen noch nicht, daß, was die Gewalt erwirbt, die Gewalt allein niemals erhalten kann [...] Für diese Seite des Imperialismus scheinen mir noch nicht alle Deutschen reif zu sein«.
Hinter dieser nach außen zur Schau getragenen Zurückhaltung standen selbstredend handfeste politische Motive. Zum einen ging es Bethmann Hollweg und dem AA darum, die Richtlinienkompetenz für die auswärtige Kulturpolitik nicht aus der Hand zu geben. Gleichzeitig galt es, die ambitionierte radikalexpansionistische Fraktion im rechten politischen Spektrum im Zaum zu halten. Und schließlich konnte es Bethmann Hollweg und seinem Kreis nicht daran gelegen sein, das Interesse des Auslandes auf eine mögliche kulturpolitische Offensive jenseits der Reichsgrenzen zu lenken.46 So mahnte der Reichskanzler im Widerspruch zu seinem öffentlichen Lippenbekenntnis in einem internen Erlaß vom 5. August 1913 durchaus eine stärkere politische Instrumentalisierung des »deutschen Kulturlebens im Ausland« an. Bethmann Hollweg dachte dabei zuerst an den Nahen und Fernen Osten, an die Türkei und China - die Kristallisationspunkte der wilhelminischen »Weltpolitik«: »[D]urch planmäßige Förderung deutscher Kultur im Ausland [kann] viel geschehen [...] Neben den ethischen Gesichtspunkten scheinen [...] auch wirtschaftliche Momente in dieser Frage eine gewichtige Rolle zu spielen und lassen mir gerechtfertigt erscheinen, daß das Reich kulturelle Unternehmungen im Auslande auch finanziell in weitgehendem Maße unterstützt.« 47
Lamprecht seinerseits interpretierte Bethmann Hollwegs Brief in Unkenntnis der politischen Hintergründe als ermutigendes Signal und entwickelte sein kulturpolitisches Programm unverdrossen weiter.48 Seine ehrgeizige Vision einer effektiv arbeitenden Clearingstelle auswärtiger Kulturpolitik war aber 46 47 48
Zur politischen Einordnung und Interpretation des Kanzler-Briefes vgl. KLOOSTERHU1S, Friedliche Imperialisten, S. 3 ff., 225 ff. Erlaß Reichskanzler an die StS des Innern, des Auswärtigen und des Reichsschatzamts vom 5.8.1913. Gedruckt bei: BRUCH, Weltpolitik als Kulturmission, S. 152 f. Im Winter 1 9 1 3 / 1 4 überhäufte Lamprecht die Reichskanzlei und das A A geradezu mit schriftlichen Eingaben und Besuchen. Die diesbezügliche Korrespondenz im von Bruch, Kloosterhuis u.a. ausgewerteten Nachlaß Lamprechts in der U B Bonn.
40
»Moralische Eroberungen
trotz der vermeintlichen Protektion durch den Reichskanzler früh zum Scheitern verurteilt. 49 Vor allem die dezidiert konservative Nomenklatur im A A , die in erbitterte Ressortkämpfe mit verschiedenen anderen Reichsbehörden verstrickt war, seine Pläne als Angriff auf ihre Kompetenzen interpretierte und ihnen daher mehr als skeptisch gegenüberstand, leistete energischen Widerstand. 5 0 So mußte Lamprecht im April 1914 in einem Artikel in der linksliberalen Frankfurter Zeitung resigniert feststellen: »Es ist ja sehr begreiflich, daß beim Ubergang von bloßer äußerer Wirtschaftspolitik zu äußerer Kulturpolitik zunächst das wirtschaftspolitische Element noch sehr überwiegt [...] Dennoch muß eben jetzt, im entscheidenden Moment des Durchdringens einer wahren Kulturpolitik, betont werden, daß dieser Ubergangszustand möglichst verkürzt werden und daß die geistige Bewegung, die in der Strömung der Kulturpolitik vorliegt, zu ihrem Rechte gelangen muß«.51 Damit trat der Historiker wenige Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges bis zu einem gewissen Grad für eine autonome Gestaltung auswärtiger Kulturpolitik ein - eine ethisch begründete Politik, die nicht nur als bloßes Instrument außen- und wirtschaftspolitischer Zielsetzungen im Sinne einer Fortführung der traditionellen Politik mit anderen Mitteln dienen, sondern in erster Linie für eine »universalistische Betrachtung der Welt« und - im solennen Sprachduktus der Zeit - »aus reiner Menschlichkeit« betrieben werden sollte. 52 Mit dieser Auffassung blieb Lamprecht in einer Epoche sich drama49
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51 52
Lamprecht plante die Einbeziehung von privaten Auslandsvereinen und Gesellschaften wie dem VDA oder auch dem VDI. Ihre Arbeit sollte mit der staatlichen Förderung des Wissenschaftsaustauschs und der Auslandsschulen abgestimmt werden. Diese Vorstellungen mündeten in der Gründung einer Zentralstelle für Außendienst, die indes keine nennenswerten politischen Akzente zu setzen vermochte und am 21.8.1914 wieder aufgelöst wurde. Vgl. KLOOSTERHUIS, Friedliche Imperialisten, S. 233 ff. Vgl. BRUCH, Weltpolitik als Kulturmission, S. 90 ff. Das AA stand der Auffassung konservativer Kreise nahe, die der auswärtigen Kulturpolitik wenig Bedeutung beimaßen und auf die traditionellen Mittel der Machtpolitik setzten, welche aus ihrer Sicht besser Steuer- und kontrollierbar waren. Zum Kompetenzgerangel zwischen Reichsleitung, Reichsmarine- und Reichsschatzamt, dem Reichsministerium des Innern und dem AA vgl. PAAA, R 60430. Kult VI A. Deutschtum im Ausland 5. Grundsätze über die Pflege kultureller Beziehungen, Bd. 1 (1920-22). Aufzeichnung vom 30.10.1913; KLOOSTERHUIS, Friedliche Imperialisten, S. 137 ff., 221 ff. FZ vom 12.4.1914. Ebda. Vgl. BRUCH, Rezension Düwell, S. 775.
2. Nationale Expansion und Regeneration
41
tisch zuspitzender internationaler Konflikte in Deutschland ein einsamer Rufer in der Wüste. Demnach fanden seine Anregungen bis zum Kriegsausbruch keinerlei Eingang in die politische Praxis. 53 Die Verlautbarungen Bethmann Hollwegs in Antwort auf Lamprecht bekunden den unausgegorenen Charakter der kulturpolitischen Konzeption des Reichskanzlers. Überdies verweist seine großzügige, unscharfe Verwendung der Termini auswärtige Kulturpolitik,
Kulturpropaganda und
Kulturimperialis-
mus auf die noch ausstehende saubere begriffliche Differenzierung in dieser Zeit. Ungeachtet ihres scheinbar synonymen Einsatzes waren
Kulturpolitik
und Kulturpropaganda in der spätwilhelminischen Ära aber durchaus schon mit unterschiedlichen Vorstellungen von Inhalt, Methodik und Zielen kultureller Auslandsaktivitäten verbunden. Dies belegt die kontrastive Analyse kulturpropagandistischer und kulturimperialistischer Schriften.
2.2.2. Paul Rohrbach und Kurt
Riezler
Ein ausnehmend publikumswirksamer Vertreter einer dezidiert kulturpropagandistischen Konzeption am Vorabend des Ersten Weltkrieges war der »liberale Imperialist« Paul Rohrbach. 54 Das 1912 veröffentlichte Buch des politischen Publizisten, Der deutsche Gedanke in der Welt, wurde sofort ein Bestsel53
54
In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg stießen Lamprechts Überlegungen auf erheblich mehr Resonanz im AA. So ließ der Leiter der dort kurz zuvor eingerichteten Kulturabteilung, Friedrich Heilbron, vom Schriftwechsel zwischen Bethmann Hollweg und Lamprecht im Juni 1922 in den Akten der Reichskanzlei Abschriften für seine Abteilung anfertigen. PAAA, R 60430. Aufzeichnung Heilbron vom 21.6.1922. Paul Rohrbach (1869-1956) war vor dem Ersten Weltkrieg einer der meistgelesenen außenpolitischen Kommentatoren in Deutschland. Politisch stand er Friedrich Naumann nahe. »Mit seinem Programm eines 'Größeren Deutschland' schuf Rohrbach eine Ideologie, die vor allem vom protestantischen Bildungsbürgertum des Vorkriegsdeutschland aufgegriffen wurde [...] Aus einer höchst fragwürdigen Synthese von Christentum und Politik entwickelte er eine praktische Ethik für die Bedürfnisse des deutschen Imperialismus [... Er darf) im Kreis der Liberalen als der vielleicht 'reinste' Imperialist gelten«. W. M O G K , Paul Rohrbach und das 'Größere Deutschland'. Ethischer Imperialismus im Wilhelminischen Zeitalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Kulturprotestantismus, München 1972. Zitate: S. 2, 182. Vgl. W. MAIBAUM, Das publizistische Schaffen Paul Rohrbachs vor dem Ersten Weltkrieg, Marburg 1955.
42
».Moralische Eroberungen«i
ler. Ist schon der Titel der Schrift ein beredtes Zeugnis für die Intentionen ihres Verfassers und die Geisteshaltung breiter Kreise des deutschen Bildungsbürgertums vor dem Ersten Weltkrieg, so bekundete Rohrbach im Kapitel »Moralische Eroberungen« sein Verständnis der Funktion von Kultur in der Sphäre der Außenpolitik: »Die auswärtige Politik stellt sich uns dar als die Summe der Mittel, die ein Volk dazu anwendet, um seinen nationalen Gedanken in der Welt zur Geltung zu bringen. Es ist aber unmöglich, dabei allein mit der Stärke der Waffen und der wirtschaftlich unterwerfenden Macht des Kapitals vorzugehen, s o n d e r n es m u ß gleichzeitig eine k u l t u r e l l e D u r c h d r i n g u n g der e r s t r e b t e n E i n f l u ß g e b i e t e im Sinne i d e a l e n F o r t s c h r i t t s erfolgen«.55 Der auch von Rohrbach eingeräumte Vorsprung Frankreichs und Englands auf diesem Feld hatte seiner Meinung nach vor allem zwei Ursachen. Neben der Kritik an der gesellschaftspolitischen Rückständigkeit des Reiches attestierte der Publizist den Deutschen »nationale Willenlosigkeit«, ein unterentwikkeltes Kulturbewußtsein, Versagen in der »praktischen Propaganda für die deutsche Idee«56 und »Mangel nationalen Instinkts« - mithin die Unfähigkeit, »im Auslande [...] neben dem finanziellen Gewinn [nicht] auch gleichzeitig die Propaganda für den nationalen Gedanken zu verfolgen«. Dazu beklagte er das deutsche Auftreten im Ausland, die »störende Schulmeisterei und Mangel an Leichtigkeit der Formen, die uns anderen gegenüber in Nachteil versetzen, wo es sich um die Eroberung nationalen Kultureinflusses handelt«.57 Vor dem Hintergrund des massiven kulturellen Engagements Frankreichs in der Türkei und der englischen Aktivitäten in China gelangte Rohrbach zu 55
56 57
P. ROHRBACH, Der deutsche Gedanke in der Welt, Düsseldorf/Leipzig 1912, S. 217. Zitate - soweit nicht anders belegt - aus dieser Ausgabe. Bis 1914 erreichte das Buch eine Auflage von 75.000, bis 1916 von 112.000 Exemplaren. Positiv aufgenommen wurde es in konservativ-liberalen Kreisen. In pazifistischen und sozialdemokratischen Stellungnahmen wurden Rohrbach nationalistische und imperialistische Absichten vorgeworfen. Alldeutsche Rezensenten warfen dem Autor eine »speichelleckerische Nachahmung ausländischer Kulturideale« vor. Vgl. BRUCH, Weltpolitik als Kulturmission, S. 74 f. Ebda., S. 225 f. Ebda. In der Auflage von 1916 wertete Rohrbach gar den Ausbruch des Krieges und die schlechte »öffentliche Meinung der Völker« über Deutschland als Ergebnis »unseres ungeeigneten Auftretens der außerdeutschen Welt gegenüber« (108.112. Tsd., Königstein i. T./Leipzig 1916, S. 201).
2. Nationale
Expansion
und
Regeneration
43
einem kulturpolitischen Forderungskatalog, der den raschen Ausbau des Auslandsschulwesens, eine möglichst intensive Beeinflussung des Pressewesens im Ausland, die offensive Repräsentation deutscher Wissenschaft, das kirchliche Missionswesen und eine engere Verbindung »nationaler und kommerzieller Propaganda« beinhaltete. U n d auch das gemeinsame politiche Ziel dieses Maßnahmenbündels wurde von Rohrbach bestimmt -
eine
»kraftvolle
B e t e i l i g u n g d e u t s c h e n G e i s t e s an d e r v o r s i c h g e h e n d e n
Umge-
s t a l t u n g der W e l t « . 5 8 Einen weiteren Grund für die Unfruchtbarkeit deutschen Kultureinflusses im Ausland lieferte für Rohrbach das Bild der innenpolitischen Lage des Landes in der internationalen öffentlichen Meinung. So sparte der prominente Publizist nicht mit Kritik am politischen und gesellschaftlichen Status Q u o im wilhelminischen Deutschland. 5 9 D o c h gelang es ihm trotz der Kenntnis der französischen Verhältnisse nicht, einen wirklichen Bezug zwischen innerer Verfassung der Nation und der Gestaltung ihrer auswärtigen Kulturbeziehungen herzustellen. Hingegen belegt bereits das von Rohrbach verwandte aggressive Vokabular, daß sein Konzept eine weitere drastische Verschärfung des Propagandamoments in den auswärtigen Kulturbeziehungen des Kaiserreiches vorsah. Die kulturpropagandistische Einflußnahme auf das Ausland sollte ganz gezielt als flankierendes Element der globalen Expansionsziele Deutschlands instrumentalisert und ausgebaut werden.
58
59
Ebda., Erstausgabe von 1912, S. 228. Bereits in seiner Schrift Deutschland unter den Weltvölkern. Materialien zur auswärtigen Politik, Berlin 21908, S. 288 ff. hatte Rohrbach im Zusammenhang mit dem Bau der Bagdad-Bahn »rechtzeitige moralische Eroberungen« des Reiches in der Türkei gefordert. Einen ähnlich dezidierten politischen Programmcharakter wie 1912 erreichten seine Ausführungen zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht. Rohrbach fand deutliche Worte: »Die beiden politischen Schlagworte 'Reaktion' und 'feudale Klassengesellschaft', mit denen die öffentliche Meinung im Auslande die deutschen Zustände jetzt vielfach charakterisiert, sind dem Ziel, moralische Eroberungen für den deutschen Gedanken in der Welt zu machen, wenig förderlich [...] Wenn die herrschenden Klassen in Deutschland zeigen, daß sie sogar solche Zustände erhalten wollen, die nicht mehr konservativ im maßvollen Sinne, sondern durchaus reaktionär im Sinne politischer Unmoral genannt werden müssen, so tragen sie und nicht die oppositionelle Presse die Verantwortung dafür, daß sich hieraus Minderungen unseres Ansehens und des Einflusses unserer nationalen Ideen nach außen ergeben«. Ebda., S. 223 f.
»Moralische Eroberungen«?
44
N o c h pointierter als Rohrbach äußerte sich unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg Kurt Riezler. 1914 veröffentlichte der Vortragende Legationsrat im A A und persönliche Sekretär Bethmann Hollwegs 6 0 , der auch den Kanzlerbrief an Lamprecht entworfen hatte, unter dem Pseudonym J . J . Ruedorffer sein vielzitiertes Buch Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart.61
In seiner
Darstellung der Methoden der »Weltpolitik« betonte Riezler darin die zentrale Bedeutung, die der Beeinflussung der öffentlichen Meinung im Ausland zukomme: »[V]on allen Staaten [wird] heute eine umfangreiche Propaganda allgemeiner Art im Auslande betrieben, eine Art Expansion der Idee oder der Stimmungen, nicht zu bestimmten umgrenzten Zwecken einer einzelnen Aktion, sondern zu dem Berufe, für alle Aktionen, gegenwärtige wie zukünftige, politische, wirtschaftliche, kulturelle, einen günstigen Boden zu bereiten«.62 Diese Propaganda bilde einen integralen Bestandteil des imperialen Wettlaufs der Großmächte, des »Kampfes der Nationen«. Die wichtigsten Mittel in diesem Ringen seien der Austausch von Wissenschaftlern, Bücherexport, Vorträge, Ausstellungen und besonders auch die Auslandsschulen: »Alle modernen Großstaaten unterhalten Schulen im Auslande und suchen so, um die Meinungen der Männer für sich zu haben, schon die Meinungen der Kinder zu bilden«. Ausdrücklich betonte auch Riezler den Vorsprung des westlichen Nachbarn auf diesem Gebiet. Dabei galt ihm die französische Politik gewissermaßen als Idealtypus einer wirksamen Kulturpropaganda, die er wegen ihrer »Triumphe« vorbehaltlos bewunderte: »Das moderne Frankreich [...] betreibt eine planmäßig organisierte kulturelle Expansion größten Stils, der kein anderer Staat etwas zur Seite zu stellen hat. Alle Zweige der Kultur sind in den Dienst dieser Expansion gestellt [...] Die Erfolge dieser Propaganda sind bedeutende. Sie wird ständig erweitert. Sie steht durchaus im 60
61 62
Zum Einfluß Riezlers (1882-1955) auf die Politik des Reichskanzlers, insbesondere die Bedeutung des von Riezler formulierten Kriegszielprogramms vom September 1914 - einem der zentralen Streitpunkte der Fischer-Kontroverse - , vgl. E.-W. KORNHASS, Zwischen Kulturkritik und Machtverherrlichung: Kurt Riezler, in: VONDUNG, S. 92-105; W. J. MOMMSEN, Kurt Riezler, ein Intellektueller im Dienste Wilhelminischer Machtpolitik, in: GWU 25, 1974, S. 193-209. J. J. RUEDORFFER [i.e. K. RIEZLER], Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart, Stuttgart [u.a.] 1914. Ebda., S. 243.
2. Nationale Expansion und Regeneration
45
Dienste der Politik. Ansehen und Geltung Frankreichs sind ihr Ziel. Sie stellt eine moderne Erweiterung der politischen Kampfmittel dar«. 63
Kulturpolitik sollte also als Instrument der deutschen »Weltpolitik« planmäßig zum Zwecke nationaler Machtentfaltung, als Verfeinerung der »Kampfmittel«, als wirksames Instrument in dem sich zuspitzenden Wettlauf der imperialistischen Staaten eingesetzt werden. Der Gedanke einer auch nur ansatzweisen Eigengesetzlichkeit auswärtiger Kulturbeziehungen, wie er zeitgleich bei Lamprecht auftauchte, ist daher bei Riezler unvorstellbar. Ebenso fehlt jede Reflexion des gesellschaftlichen Status quo in Deutschland und seine Auswirkungen auf die Gestaltung auswärtiger Kulturpolitik. Dieser Zusammenhang blieb Riezler gänzlich verschlossen - oder er wollte ihn aus auf der Hand liegenden politischen Erwägungen nicht herstellen. Sowohl Lamprechts als auch Rohrbachs und Riezlers Auslassungen zur auswärtigen Kulturpolitik waren fester Bestandteil ihrer imperialistischen Grund- und Zielvorstellungen.64 Transparent erscheinen aber auch die gedanklichen Antagonismen. So trat Riezler offen für eine Spielart auswärtiger Kulturpolitik ein, die der modernen Definition von Kulturimperialismus gleichkommt - einen unilateralen, allein nationaler Machtausweitung dienenden, planmäßigen und aggressiven Export »nationaler Kulturgüter« ohne jede Achtung der Belange des Adressaten. Demgegenüber kann das Konzept Rohrbachs nach der Typologie von Kurt Düwell nicht vorbehaltlos als kulturimperialistisch bezeichnet werden. 65 Dieses setzte voraus, daß jede kulturelle Zu63 64 65
Ebda., S. 84 f., 243 f., 245. Vgl. F. FISCHER, Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914, Düsseldorf 1969, S. 325, 376. DÜWELL, Kulturpolitik, S. 35 f. stellt in seiner Studie diese Typologie zur Erfassung verschiedener Spielarten auswärtiger Kulturpolitik im internationalen Vergleich vor. Er unterscheidet dabei zwischen den Adressaten (Gemeinschaften mit gleicher oder ähnlicher und anderer Sprache und Kultur) und weiter im Sinne einer Zweck- und Zieldifferenzierung, für die er die Begriffe Kulturausstrahlung, kulturelle Selbstinterpretation, kulturelle Expansion, Kulturpropaganda und Kulturimperialismus verwendet. Die Typologie basiert auf der Abstufung von Erscheinungsformen auswärtiger Kulturpolitik bei ABELEIN, S. 163 f. Sicherlich ist sie nicht idealtypisch anwendbar, bildet aber einen geeigneten Orientierungsrahmen. Vorsicht ist geboten, da bis weit in die Weimarer Zeit hinein die Begriffe nicht eindeutig voneinander abgegrenzt und inhaltlich bestimmt waren. Und gerade im internationalen Vergleich waren sie ganz unterschiedlichen historischen Bedeutungswandlungen unterworfen. Während etwa in der Romania der Begriff Propaganda bis heute recht unbefangen benutzt wird, ist er im deutschen Sprachge-
46
»Moralische Eroberungen
sammenarbeit oder ein Austausch mit der Zielgruppe im Ausland abgelehnt, ja vielmehr versucht würde, deren kulturellen Einfluß auf das eigene Land tunlichst zu unterbinden. Soweit ging Rohrbach - zumindest explizit - dann doch nicht. Lamprecht schließlich hatte ausdrücklich die »Berücksichtigung des Eigeninteresses der fremden Nationen« gegen den Anspruch des Reiches auf kulturelle Expansion im Ausland gestellt.66 So bleibt im Ergebnis festzuhalten: im Kaiserreich wurden nach einer - gemessen an Frankreich und Großbritannien - langen Anlaufphase mit nur rudimentärer staatlicher Beteiligung seit der Jahrhundertwende, vor allem aber ab 1906, einige Aktionsfelder auswärtiger Kulturpolitik verstärkt beackert. Diese zumindest im Ansatz vollzogene Ausweitung der außenpolitischen Handlungsoptionen stand im unmittelbaren Zusammenhang mit den Sackgassen deutschen Großmachtstrebens, die seit 1898 zu einer wachsenden Selbstisolierung des Reiches im Konzert der europäischen Mächte geführt hatte. Vor dem Hintergrund der von deutscher Seite subjektiv empfundenen »Einkreisung« schärfte sich das Bewußtsein für das Versagen der überkommenen Mittel und Methoden imperialistischer Machtpolitik. Demgegenüber weckte ein systematisch betriebener Kulturexport
Erwartungen
als Wegbereiter des
deutschen Wirtschaftsimperialismus. Er sollte die Stellung des Reiches im Welthandel nicht nur untermauern, vielmehr der Expansion der deutschen Wirtschaft auf den Weltmärkten neue Wege ebnen - das Tor zu neuen Absatzmärkten in Ubersee aufstoßen. Er schien geeignet, »unter Verzicht auf die kriegerische Unterwerfung fremder Länder und Völker die uns zugänglichen Gebiete der Welt« zu erschließen. 67 In Erkenntnis dieser vielversprechenden Perspektiven schenkten schließlich auch die politisch Verantwortlichen in der Reichsleitung und im AA der kulturellen Dimension auswärtiger Politik mehr Beachtung, ohne allerdings systematisch im Sinne einer effektiven Zusammenfassung aller Kräfte vorzugehen - eben eine enge Koordination amtlicher und nichtamtlicher Kulturpolibrauch seit seiner pervertierten Anwendung durch den Nationalsozialismus stark belastet und kann nicht mehr - wie vor 1933 - unvoreingenommen eingesetzt werden, als er bisweilen noch als bloßes Synonym für Werbung stand. Vgl. W. SCHIEDER/C. DlPPER, Art. Propaganda, in: G G B , Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 69-112;
hier: S. 100 ff.
66
67
SCHORN-SCHÜTTE, S. 271.
ROHRBACH, Der deutsche Gedanke, S. 206.
2. Nationale Expansion und Regeneration
47
tik anzustreben. Dazu war das Denken zu sehr von traditionellen Denkweisen und Ressortrivalitäten bestimmt. So wurden die einmal eingeschlagenen Pfade lediglich ausgetreten. Obwohl es auf der internationalen Bühne an erfolgreichen Vorbildern nicht fehlte, kam es bis 1914 in Deutschland nicht zu einer wirklich grundlegend neuen Standortbestimmung auswärtiger Kulturpolitik im Rahmen der allgemeinen Beziehungen zum Ausland. Im Gegensatz zu Frankreich, das sein kulturelles Expansionsprogramm aus der festen, historisch gewachsenen Uberzeugung eines universalen zivilisatorischen Auftrags herleitete, dieses seit Mitte der 1880er Jahre systematisch verfolgte, vertiefte und verfeinerte, blieb die deutsche Kulturpolitik im Ausland vor dem Ersten Weltkrieg rein zweckgebunden. Damit aber reichte sie über den Status eines ungeordneten Kolonialwarenladens, aus dessen Sortiment man sich im Notfall mehr wahllos bediente, kaum hinaus. Die aus der Erfahrung dieser Defizite in der Dekade vor dem Ersten Weltkrieg aufkeimende öffentliche kulturpolitische Debatte offenbarte gegensätzliche Vorstellungen von Methoden, Inhalten und Funktionen auswärtiger Kulturpolitik. Das Spektrum reichte von Anklängen einer partiell autonomen Kulturpolitik im Sinne internationaler Verständigung über mehr oder weniger verklausuliert expansionistische, kulturpropagandistische Konzepte bis hin zu einem rückhaltlosen Kulturimperialismus.
Auf den Begriff gebracht wurde
letzterer nicht. So sprach Riezler vom »Imperialismus der Idee«, an anderer Stelle aber eher vage von »Expansion der Idee«.68 Und auch Bethmann Hollweg erwähnte den Terminus lediglich unter Bezugnahme auf Frankreich als »Seite des Imperialismus«, für die die Deutschen noch nicht reif schienen. 69 Nicht zuletzt diese unscharfe begriffliche Klärung steht als Beleg für die These, daß es sich bei der Formulierung möglicher Spielarten deutscher Kulturpolitik im Ausland keineswegs um kohärente, aus einer gefestigten Kulturtradition abgeleitete Entwürfe handelte. Vielmehr wird ein vom Gefühl der Rückständigkeit bestimmter, kurzatmiger Aktionismus erkennbar.
68 69
RUEDORFFER [i.e. Kurt Riezler], S. 243. KLOOSTERHUIS, Trägergruppen, S. 35 hält den Begriff Kulturimperialismus zur Typisierung der deutschen auswärtigen Kulturpolitik vor 1914 für gänzlich unbrauchbar. Diese Auffassung geht sicherlich entschieden zu weit.
48
»Moralische Eroberungen«?
Entsprechend halbherzig wurde in den kulturpolitischen Erörterungen im ausgehenden Kaiserreich der Bezug zur inneren Verfassung gesucht und hergestellt. Die Aussprache erfolgte nicht auf breiterer gesellschaftlicher Ebene, blieb vielmehr auf bildungs- und handelsbürgerliche Zirkel beschränkt. Dort war um die Jahrhundertwende der verbreitete Kulturpessimismus der Gründerjahre von einem »kulturreformerischen Aufbruch«, einem neuen »kulturellen Sendungsbewußtsein« abgelöst worden. Mit dem Bankrott der deutschen »Weltpolitik« in den beiden Marokkokrisen wurde diese Strömung »politisch virulent«. 70 Ausgeburten dieser Radikalisierung breiter bürgerlicher Schichten waren Programmschriften im Stile von Rohrbachs Deutschem Gedanken in der Welt, in denen die Anwartschaft auf einen deutschen »Platz an der Sonne« drastisch zugespitzt wurde. 71 So diente die am Vorabend des Ersten Weltkrieges von offizieller Seite verlautbarte politische Selbstbeschränkung vor allem vordergründigen taktischen Überlegungen. Bethmann Hollwegs Verdikt der angeblichen Unreife der deutschen Bevölkerung sollte die gesellschaftlichen Polaritäten im Innern überdekken und war zugleich Ausdruck seiner Erwartung einer gewaltsamen Eskalation der Krise des europäischen Mächtesystems. Keineswegs deutete sich hier ein Verzicht auf die Option offensiver kultureller Expansion des Reiches an. Gleichwohl ging es den Bethmann-Hollweg nahestehenden »liberalen Imperialisten« um eine »Politik ohne Krieg«72, um die indirekte Durchsetzung der außen- und handelspolitischen Interessen des Reiches durch »moralische Eroberungen«. Damit verfolgten sie ein modernes und vom Ansatz her gegenläufiges Konzept zur kriegsschwangeren Machtpolitik im Stile Bülows, der Marineleitung und der radikal chauvinistischen Agitation aus dem alldeutschen und völkischen Lager.73 Doch sollte dieser Ansatz in der kurzen Spanne bis zum Kriegsausbruch, der bewußten Hinwendung zur »Politik des kalkulierten Risikos« in der Julikrise, vor dem Verlangen nach militärischer Konfrontation und dem hereinbrechenden nationalen Kult der Gewalt, der »Flucht in den Krieg«, kapitulieren. 74
70 71 72 73 74
KLOOSTERHUIS, Friedliche Imperialisten, S. 271. FISCHER, Krieg der Illusionen, S. 324 f. Vgl. Hans PLEHN, Deutsche Weltpolitik und kein Krieg, Berlin 1913. FISCHER, Krieg der Illusionen, S. 373 f. KLOOSTERHUIS, Friedliche Imperialisten, S. 272 f.
2. Nationale Expansion und Regeneration 2.3. Kulturpolitischer
Aufbruch
49
in Spanien: 1898 und die Folgen
Das Jahr 1898 setzte in der deutschen Geschichte mit der Auflage des Flottenbauprogramms innen- wie außenpolitisch eine Zäsur, die mittelfristig auch Auswirkungen auf die Genese der auswärtigen Kulturbeziehungen des Reiches hatte. In der modernen Geschichte Spaniens begann 1898 eine neue Epoche. Das vielzitierte desastre de 98, der Verlust von Kuba, Puerto Rico, den Philippinen und Guam im Frieden von Paris, wurde von kritischen Zeitgenossen als Kulminationspunkt des kontinuierlichen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Niedergangs des Landes, der sprichwörtlich gewordenen española,
decadencia
interpretiert. Dieses »Erwachen aus dem imperialen Traum [...]
markierte nicht nur im Lebensgefühl der spanischen Intelligenz einen tiefen Einschnitt und, mit der folgenden radikalen Revision des vorherrschenden Wertesystems, das geistige Ende des 19. Jahrhunderts« in Spanien. 75 Der verlustreiche Kolonialkrieg von 1898 hatte abseits seiner einzigartigen psychologischen Rückwirkungen die außenpolitischen Ambitionen Spaniens letztlich nur auf das »natürliche«, seinen begrenzten Ressourcen entsprechende Maß zurückgestutzt. 76 U m so desolater aber gestaltete sich die innere Verfassung des Landes. Hier ist nicht der Ort, das sozio-ökonomische Gefüge Spaniens um die Jahrhundertwende zu analysieren. Daher kommen nur einige grundlegende Strukturprobleme zur Sprache, die dem weiteren Verständnis dienen: 77 75 76
77
W . L. BERNECKER, Sozialgeschichte Spaniens im 19. und 20. Jahrhundert. V o m Ancien Régime zur Parlamentarischen Monarchie, Frankfurt a. M. 1990, S. 220 f. S. de MADARIAGA, Spanien. Wesen und Wandlung, Stuttgart J 1955, S. 182. Vgl. G. B. BLEDSOE, Spanish Foreign Policy 1898-1936, in: J. W . CORTADA (Hg.), Spain in the Spanish-Century World. Essays on Spanish Diplomacy 1898-1978, London 1980, S. 3-40; J. A. CARILLO SALCEDO, Las relaciones exteriores de España. Del desastre de 1898 al desastre de 1921, in: J. A. LACOMBA (Hg.), Historia social de España. Siglo X X , Madrid 1976, S. 357-372. Die folgende fragmentarische Darstellung fußt auf BERNECKER, Sozialgeschichte, S. 126 ff., 169 ff., 181 ff. und den Studien von R. CARR, Spain 1808-1939, Oxford 1966, S. 347 ff.; J. NADAL, El fracaso de la revolución industrial en España, 18141913, Barcelona 1975; J. VLCENS VIVES, Historia social y económica de España y América, Bd. V: Los siglos X I X y X X . América independiente, Barcelona 1972; M. TUÑÓN DE LARA, La España del siglo X I X , Bd. 2: De la Primera República a la crisis del 98, Barcelona 1975. Vgl. auch die Beiträge in: J. L. GARCÍA DELGADO (Hg.), La España de la Restauración: Política, economía, legislación y cultura, Madrid 1985, S. 11 ff., 133 ff. und 215 ff.
50
».Moralische Eroberungen*?
•
Das konstitutionelle Fundament des Restaurationssytems - schon von Zeitgenossen als »unheimliche Orgie von Oligarchie und Kazikentum« etikettiert - bildete die Verfassung von 1876. Allerdings degradierte der nach dem frühen Tod Alfonsos XII. 1885 besiegelte Pacta del Pardo, der Burgfrieden zwischen der Konservativen Partei von Canovas del Castillo und den 1880 vereinten Liberalen unter Sagasta, der fortan den periodischen Wechsel der Regierungen (turno de los partidos) garantierte, im Zusammenspiel mit dem Zensuswahlrecht, dem caciquismo und der verbreiteten Praxis der Wahlfälschung den Parlamentarismus zur bloßen Karikatur. 1886 waren gerade noch 2,1 % der spanischen Bevölkerung wahlberechtigt. Hinter der demokratischen Fassade blieb die oligarchische Herrschaftsstruktur unangetastet. Die seit 1872 in einen sozialistischen und einen anarchosyndikalistischen Zweig gespaltene, organisatorisch schwache Arbeiterbewegung war von jeder politischen Partizipation ausgeschlossen. Und der zentralisierte Verwaltungsapparat ist treffend als »hierarchisierte Korruption« charakterisiert worden.78
•
»Duale Wirtschaft« 79 : Die spanische Gesellschaft war am Ende des 19. Jahrhunderts noch weitgehend agrarisch strukturiert. 70 % der Bevölkerung lebten in Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohnern; 66 % der Erwerbstätigen waren in der Landwirtschaft beschäftigt. Der Agrarsektor war im europäischen Vergleich unterentwickelt - sowohl hinsichtlich der überholten Anbaumethoden und -produkte als auch der Besitzstruktur mit den bekannten Folgen hoher Binnen- und Auswanderungsquoten und einer fortschreitenden Proletarisierung der Landbevölkerung. Mit der Rückständigkeit der ländlichen Gebiete einher ging die veraltete und marode Infrastruktur in den Urbanen Zentren. Infolge der gescheiterten Agrarrevolution setzte die Industrielle Revolution in Spanien erst spät, im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, ein und fand praktisch ausschließlich an der Peripherie statt (Asturien, Baskenland, Katalonien). Die Entwicklung des verarbeitenden Gewerbes und der Ausbau der Infrastruktur des Landes waren in hohem Maße von ausländischem Kapital abhängig. Derweil blieb die spanische Industrie technologisch rückständig. Dank der protektionistischen Wirtschaftspolitik genoß sie Schutz vor ausländischer Konkurrenz - war durch eben dieses Instrument aber auch von den internationalen Märkten abgeschnitten. In der Konsequenz hatten die Handelsbeziehungen Spaniens vor dem Ersten Weltkrieg »halbkolonialen« Charakter - der Ausverkauf von Bodenschätzen und die Ausfuhr von Rohstoffen korrelierten mit dem Import von Fertigwaren.
78
79
BERNECKER, Sozialgeschichte, S. 178 f.
N. SÁNCHEZ-ALBORNOZ, España hace un siglo: una economía dual, Madrid 1967.
2. Nationale Expansion und Regeneration •
51
Markanter Ausdruck der im europäischen Vergleich gravierenden sozioökonomischen Rückständigkeit Spaniens war auch die desolate Verfassung des Bildungswesens. Um 1900 hatten 60 % der spanischen Bevölkerung nie eine Schule besucht. Die Analphabetenrate lag bei 66 %. Die personelle und finanzielle Situation der staatlichen Schulen und Hochschulen war mehr als prekär - das Personal spärlich, schlecht bezahlt und dürftig qualifiziert, Baulichkeiten und Sachmittel völlig unzureichend. Die Primar- und Sekundarschulausbildung und die zehn Universitäten des Landes standen wegen des dürftigen staatlichen Engagements gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch immer unter dem Büttel der katholischen Kirche, gelähmt von ihrer antimodernistischen Doktrin. Die kirchliche Ausbildung von Lehrpersonal war der mittelalterlichen Tradition verhaftet; ebenso antiquiert blieben Lehrpläne und -methoden. Das Technische Hochschulwesen war gänzlich unterentwickelt, die Universitäten »Regierungsetablissements zur Verleihung von Berechtigungsscheinen« - »Diplomfabriken« für Juristen und Altphilologen. Moderne Hilfswissenschaften, Fremdsprachen und aktuelle Methoden der Wissensvermittlung konnten als nahezu unbekannt gelten. U n d auch der Erkenntnissstand der Naturwissenschaften hinkte weit hinter dem europäischen Standard her.80 Die unzulängliche medizinische Forschung und lückenhafte Grundversorgung der Bevölkerung hatten eine exorbitant hohe Mortalitätsrate zur Folge. Noch 1885 wurde Spanien von einer Cholera-Epidemie heimgesucht, die über 120.000 Opfer forderte.
Vor dem Hintergrund dieses düsteren Panoramas der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Spanien verdichtete sich um die Jahrhundertwende die öffentliche Kritik am Restaurationssystem. Nach dem desastre de 98 formierte sich der regeneracionismo, »eine gewaltige Bewegung [...], die teils geistig-literarisch, teils politisch-reformerisch orientiert war«. 81 Diese Strömung, deren geistige Wurzeln weit in das 19. Jahrhundert zurückreichen, bahnte der Anknüpfung und Gestaltung der auswärtigen Kulturpolitik Spaniens im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts den Weg. Im besonderen gilt dies für die deutsch-spanischen Kulturbeziehungen der Zwischenkriegszeit.
80
81
MADAR1AGA, Spanien, S. 80. Vgl. M . MlCLESCU, Die spanische Universität in Geschichte und Gegenwart, Köln [u.a.] 1985, S. 41, 47 ff. Ebda., S. 220.
»Moralische Eroberungen
52
2.3.1. Der Krausismo Das ideologische Gerüst der bürgerlich-liberalen Emanzipationsbewegung in Spanien bildete seit Mitte des Jahrhunderts die Philosophie des in der Traditio n Kants stehenden Karl Christian Friedrich Krause. 8 2 F ü r ihre Adaption und Vermittlung sorgte Julián Sanz del R í o . D e r junge Madrider Rechtsphilosoph w a r 1843 mit einem staatlichen Stipendium nach Deutschland gekommen, u m dort auf der Suche nach einer geeigneten intellektuellen U n t e r m a u e r u n g und Legitimierung des spanischen Liberalismus fündig zu werden. M e h r zufällig geriet er dabei in Heidelberg an Schüler Krauses 8 3 , widmete sich dessen Philosophie, besetzte 1845 nach Spanien zurückgekehrt den Lehrstuhl für Rechtsphilosophie an der Universidad Urbild der Menschheit
Central und übertrug 1861 Krauses H a u p t w e r k
ins Spanische. Maßgebend für die kaum zu überschät-
zende historische W i r k u n g Krauses in Spanien aber war, daß Sanz und seine Schüler aus dem harmonischen
Rationalismus und Panentheismus des in
Deutschland in Vergessenheit geratenen Philosophen eine auf die gesellschaftliche Machtverteilung im eigenen Land zugeschnittene Ethik des Primats der Vernunft, der geistigen Freiheit und religiösen Toleranz ableiteten -
mithin
82
Aus der Fülle von Literatur zu Krause (1781-1832) und zum krausismo vgl. E. M. UREÑA, K. C. F. Krause. Philosoph, Freimaurer, Weltbürger. Eine Biographie, Stuttgart 1991; R. GARCÍA MATEO, Das deutsche Denken und das moderne Spanien. Pantheismus als Wissenschaftssystem bei K. C. F. Krause. Seine Interpretation und Wirkungsgeschichte in Spanien: Der spanische Krausismus, Frankfurt a. M. [u.a.] 1982; E. DfAZ, La Filosofía Social del Krausismo Español, Madrid 1989. Einen Uberblick über die Wirkungsgeschichte Krauses in Spanien bieten: J . L. ABELLÁN, Historia crítica del pensamiento español, Bd. IV: Liberalismo y Romanticismo (1808-1874), Madrid 1984, S. 394 ff.; W. KRAUSS, Der Idealismus sucht sich sein Reich - Spanien als pädagogische Provinz, in: DERS., Spanien 1900-1965. Beitrag zu einer modernen Ideologiegeschichte, München [u.a.] 1972, S. 7-39; M. TUÑÓN DE LARA, Medio siglo de cultura española (1885-1936), Madrid 3 1984, S. 37-56; J.-J. GIL-CREMADES, Die politische Dimension des Krausismo in Spanien, in: K.-M. KODALLE (Hg.), Karl Christian Friedrich Krause (1781-1832). Studien zu seiner Philosophie und zum Krausismo, Hamburg 1985, S. 221-241. Vgl. dort auch: J. FERREIRO ALEMPARTE, Aufnahme der deutschen Kultur in Spanien. Der Krausismo als Höhepunkt und sein Weiterwirken durch die Institución Libre de Enseñanza, S. 135-151.
83
Zur kuriosen Vorgeschichte und politischen Dimension des Studienaufenthaltes vgl. M. PESET, Julián Sanz del Río und seine Reise nach Deutschland, in: KODALLE, S. 152-173.
2. Nationale Expansion und Regeneration
53
einen Gegenentwurf zum dogmatischen Katholizismus spanischer Spielart und seinem im Konkordat von 1851 und der Ley Moyano beurkundeten ideologischen Totalitätsanspruch. Und gerade auf einem Hauptschauplatz der liberalen Auseinandersetzung mit der reaktionären Doktrin - dem Ringen um die Modernisierung der spanischen Hochschulen - diente diese Ethik als »intellektuelle Waffe«.84 In der Folge war der krausismo als genuin philosophischpädagogische Schule nicht mehr aus dem politischen Kampf der liberalen Intellektuellen gegen die reaktionäre Rechte und die katholische Orthodoxie, die jedes fremde Gedankengut aus der für sie traumatischen Erfahrung der Französischen Revolution kategorisch ablehnten, herauszuhalten. Mit der September-Revolution von 1868, La Gloriosa, unter Führung der Liberalen Union, der Progressisten und Demokraten schien endlich die Stunde des politischen krausismo
gekommen. Zentrale Anliegen des liberalen Bil-
dungsbürgertums wie die Reformierung der spanischen Universitäten, die Lockerung der staatlichen und kirchlichen Aufsicht durch Einführung von Religions- und akademischer Lehrfreiheit und die Entschärfung der Sozialen Frage auf dem Reformweg durch Ausweitung der Volksbildung und somit letztendlich eine grundlegende Erneuerung des kulturellen und politischen Lebens in Spanien warteten auf ihre Einlösung. Doch verhalf der sexenio revolucionario
den Krausisten nicht zum erhofften Durchbruch. Sanz del Rio
starb 1869. Und der Traum einer bürgerlichen Republik mündete in einem politischen Trauma der Liberalen, die sich von der Dynamik der politischen und sozialen Radikalisierung der Jahre 1873/74 überrollt sahen. Als geistiger Erbe Sanz' rückte in diesen Jahren sein Schüler Francisco Giner de los Ríos an die Spitze der krausistischen Bewegung. Der »antirevolutionäre Geist«85 baute aus der Erkenntnis der offenkundigen politischen Ohnmacht des bürgerlichen Liberalismus in Spanien »auf die Welt der Gedan84
85
Ebda., S. 152. Vgl. BERNECKER, Sozialgeschichte, S. 135 f.; MLCLESCU, S. 3 7 ff. Francisco Giner de los Ríos (1839-1915), Jurist, ab 1863 enger Kontakt zum Kreis um Sanz del Río in Madrid, seit 1865 Professur für Rechtsphilosophie an der Universidad Central. Während des sexenio revolucionario Mitarbeit an der Universitätsgesetzgebung und der Strafrechtsreform. 1875 Entfernung von seinem Lehrstuhl und Inhaftierung, 1876 Gründung der Institución Libre de Enseñanza. 1881 Rehabilitierung und Rückkehr auf seinen Lehrstuhl, bis zu seinem Tod als Direktor der ILE die Leitfigur des krausismo. Vgl. J. CASTILLEJO, Neuzeitliche Bildungsbestrebungen in Spanien, in: Minerva-Zeitschrift 4, 1928, Heft 10, S. 201217. Zitat: S. 206.
54
>Moralische Eroberungen«?
ken zur dauernden Machtergreifung«.86 Individuelle Erziehung statt sozialer Umwälzung lautete sein aus der Philosophie Krauses abgeleitetes Credo - die bürgerliche Revolution sollte in den Köpfen stattfinden, nicht auf den Barrikaden.87 Die Vorbedingung gesellschaftlichen Fortschritts schien demnach nicht eine politische Mobilisierung der Massen zu sein, sondern, im Gegenteil, die Reformierung des verkrusteten spanischen Bildungswesens von oben. 88 Unterdessen wurden 1875 mit dem Scheitern der Ersten Republik und der Restauration der Bourbonenmonarchie die bildungspolitischen Reformen des sexenio rückgängig gemacht. An den Universitäten hielt wieder die staatliche Repression Einzug. Und gerade die krausistischen Professoren, die sich nach dem historischen Vorbild der Göttinger Sieben gegen die massive Bevormundung von Kirche und Staat auf die Freiheit der Wissenschaft berufen hatten, wurden als erste von ihren Lehrstühlen entfernt. In dieser Situation machte Giner de los Ríos aus der Not eine Tugend. 1876 gründete er in Madrid die Freie Bildungsanstalt - Institución Libre de Enseñanza.89 Damit hatte der »Spanische Sokrates« einen richtungsweisenden Schritt getan - den krausismo institutionell verankert und ihn zugleich dem willkürlichen Zugriff von katholischer Kirche und Staat entzogen. Gewiß blieb der Aktionsradius der modellhaften, in ihrem erzieherischen Anspruch bahnbrechenden ILE »auf eine elitäre Minderheit beschränkt. Aber diese Minderheit nahm großen 86
87 88
89
KRAUSS, Idealismus, S. 13.
A. JIMÉNEZ FRAUD, Historia de la Universiadad Española, Madrid 1971, S. 440. Vgl. dazu exemplarisch seine Schrift La juventud y el movimiento social von 1870, in: F. GINER DE LOS RÍOS, Obras completas, Bd. VII: Estudios sobre educación, Madrid 1922, S. 101-108, in Auszügen in: F. VILLACORTA BAÑOS, Burguesía y cultura. Los intelectuales españoles en la sociedad liberal 1808-1931, Madrid 1980, S. 267 f. BERNECKER, Sozialgeschichte, S. 178 kritisiert in Anlehnung an KRAUSS, Idealismus, S. 19 f. zu Recht diese spezifisch bürgerlich-liberale Perspektivenverengung: »Der krausismo [...] wollte primär Kultur verabreichen, statt zuerst das Bewußtsein auf die bedrückenden Lebensverhältnisse zu lenken. Gerade diese aber bildeten eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß das System der Restauration politisch so lange 'funktionieren' konnte«. Zur Geschichte der ILE vgl. aus der umfangreichen Literatur: A. JLMÉNEZGARCÍA, El Krausismo y la Institución Libre de Enseñanza, Madrid 1987; A. JIMÉNEZ-LANDI, La Institución Libre de Enseñanza y su ambiente, Madrid 1987; A. MOLERO PINTADO, La Institución Libre de Enseñanza: un projecto español de renovación pedagógica, Madrid 1985. Die wichtigsten Forschungsergebnisse zusammenfassend: J.-L. ABELLÁN, Historia crítica del pensamiento español, Bd. V, 1: La Crisis contemporánea (1875-1936), Madrid 1989, S. 146 ff.
55
2. Nationale Expansion und Regeneration
Einfluß auf die Kultur des Landes und sorgte für ein steigendes Ansehen der Intellektuellen«.90 Die maßgeblich an der Pädagogik Pestalozzis und Fröbels orientierte Freie Bildungsanstalt stand »completamente ajeno a todo espíritu e interés de comunión religiosa«.91 Damit unterminierte sie aus Sicht der katholischen Orthodoxie eines der Fundamente klerikaler Machtausübung in Spanien - das Erziehungsmonopol der Kirche. So wurde die ILE Zeit ihres Bestehens von den Traditionalisten mit allen erdenklichen Mitteln bekämpft. Doch konnten deren massive Interventionen nicht verhindern, daß der krausismo sich bis zur Jahrhundertwende von seinem Ursprung einer minoritären philosophischen Schule zu einer breiten, institutionell gefestigten, intellektuell-erzieherischen Reformbewegung entwickelte.92 Die ILE wurde zum Sammelbecken der liberalen Opposition gegen das Restaurationssystem und »wirkte als Sauerteig im pädagogischen und im kulturellen Leben des Landes«.93 Sie brachte eine ganze Generation führender Natur- und Geisteswissenschaftler, Künstler, Literaten und liberaler Politiker - nach ihrer Ausbildung institucionistas genannt - hervor. Bei der Anbahnung und inhaltlichen Ausgestaltung der auswärtigen Kulturbeziehungen Spaniens im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts standen diese in vorderster Reihe.
2.3.2. Der Regeneracionismo
94
Einen enormen Katalysatoreffekt auf die junge, liberale Erneuerungsbewegung in Spanien hatte das desastre von 1898. Schonungslos wiesen nun vom krausismo beeinflußte Intellektuelle und Politiker auf die katastrophalen Mißstände 90
GIL-CREMADES, S. 2 3 5 .
91 92
§ 15 der Statuten der ILE. Einen Überblick über das Spektrum der Aktivitäten im Umkreis der ILE, insbesondere die Entstehung krausistischer Zirkel an fast allen spanischen Hochschulen und die pädagogischen Projekte der ILE bietet VILLACORTA BANOS, S. 7 0 ff. GILCREMADES, S. 2 2 7 schränkt zu Recht ein, daß der krausismo als »urbane und universitäre Bewegung« auf »Kastilien und Madrid konzentriert war und in Spaniens Randregionen nicht vordrang«.
93
MADARIAGA, Spanien, S. 65.
94
Zum regeneracionismo vgl. im Überblick: ABELLÄN, Bd. V, 1, S. 467 ff.; J. The Regenerationist Movement in Spain After the Disaster of 1898, in: European Studies Review 9, 1979, S. 1-27. HARRISON,
56
>Moralische Eroberungen«?
hin. Im Mittelpunkt der öffentlichen Kritik standen das korrupte politische System, die folgenschweren außenpolitischen Abenteuer, die meistenteils vorindustrielle Wirtschafts- und Sozialverfassung, die desolate Infrastruktur und nicht zuletzt die drückende kulturelle Agonie des Landes.95 Vom nationalen Niedergang und der Krisenstimmung der Epoche geprägte kleinbürgerliche Schriftsteller und Philosophen - seit der Begriffsprägung durch Azorin (1873-1967) gemeinhin als generación del 98 bezeichnet - entwarfen auf der Basis ihrer fundamentalen Kulturkritik unterschiedliche Strategien zur nationalen Regeneration Spaniens. Das Meinungsspektrum im Kreis dieser höchst heterogenen Gruppe 96 reichte vom radikal antieuropäischen, nationalistischen Isolationismus ihres geistigen Stammvaters Angel Ganivet »Ni por el Norte, ni por el Occidente, ni por el Oriente, hallará España una promesa de engrandecimiento mediante la acción política exterior [...] Una restauración de la vida entera de España no puede tener otro punto de arranque que la concentra95
96
Stellvertretend für die Flut kritischer Zeitungsartikel und Streitschriften aus dieser Zeit seien hier die programmatischen Schriften führender Regenerationisten genannt: J. COSTA, Oligarquía y caciquismo como la forma actual de gobierno en España. Urgencia y modo de cambiarla, Madrid 1902; L. MALLADA, LOS males de la patria y la futura revolución española, Madrid 1890. Costa (1846-1911) stand dem Liberalismus als politischem System skeptisch gegenüber und plädiene in seinem weitläufigen Werk für eine autoritäre Lösung der Probleme des Landes durch einen »eisernen Chirurgen« (cirujano de hierro), einen Revolutionär von oben. Er wird daher in der Literatur auch als Vertreter präfaschistischen Gedankengutes und Prophet der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts kritisiert. Vgl. BERNECKER, Sozialgeschichte, S. 222. Zu Costas Prägung durch den krausismo vgl. DÍAZ, Filosofía Social, S. 162 ff. Lange Zeit wurde ein von Mythen umranktes, monolithisches Bild der generación del 98 gezeichnet. Zur Problematik des Begriffs generación, ihrer ideologiegeschichtlichen Verortung, dem sozialhistorischen Kontext und zur zentrifugalen politischen Entwicklung der Protagonisten der 98er Generation nach der Jahrhundertwende - mit den Antipoden Ramiro de Maetzu und Ramón del ValleInclán - vgl. M. FRANZBACH, Die Hinwendung Spaniens zu Europa. Die 'generación del 98', Darmstadt 1988; J.-L. ABELLÁN, Historia crítica del pensamiento español, Bd. V, 2: La Crisis contemporánea II. Fin de Siglo, Modernismo, Generación del 98 (1898-1913), Madrid 1989, S. 13 ff., 164 ff.; E. M. JONGH-ROSSEL, El krausismo y la generación de 1898, Valencia 1985. Im Überblick: W. KRAUSS, Eine Generation der Niederlage, in: DERS., Spanien 1900-1965, S. 40-99; TuÑÓN DE LARA, La España del siglo XIX, Bd. 2, S. 214 ff. Zum epochenspezifischen Nietzschekult in Spanien, seinen dominanten Einfluß auf die generación del 98 vgl. ABELLÁN, Bd. V, 2, S. 182 ff.; G. HOFFMEISTER, Spanien und Deutschland. Ge-
schichte und Dokumentation der literarischen Beziehungen, Berlin 1976, S. 167 ff.
2. Nationale
Expansion
und
57
Regeneration
ción de todas nuestras energías dentro de nuestro territorio. Hay que cerrar con cerrojos, llaves y candados todas las puertas por donde el espíritu español se escapó de España para derramarse por los cuatro puntos del horizonte, y por donde hoy espera que ha de venir la salvación« - bis zur schicksalhaften Verknüpfung von nationaler reconstitución europeización
und der
Spaniens bei einem der führenden Vertreter der Erneuerungsbe-
wegung, dem Juristen Joaquín Costa y Martínez: »[Somos] Españoles, sí, pero europeos [...] de tener una agricultura sahárica, escuelas propias de Kabylia y caricaturas de universidad; tan ajenos á la formación de la ciencia y de la historia contemporánea como la tribu más ignota del África central; [...] bajo un régimen de mandarinismo, decorado con nombres europeos; [...] marcados en la frente con un sello de inferioridad, condenados á envidiar [...] á ingleses, franceses, suizos, alemanes, belgas, su libertad, su prosperidad, sus tribunales, sus escuelas, sus instituciones de previsión y de progreso, su cultura; [...] ludibrio del mundo, [...] con un horizonte espiritual y físico que se encoge más y más á cada hora que pasa [...] Que la historia de España tome nuevos rumbos, sustituyendo la actual orientación de África por la de Europa, y si no sabe ó no quiere, que la historia de España cese: todo menos seguir como hasta aquí [,..]!«. 98 Die von den Regenerationisten geforderten politischen und sozialen Reformen blieben bald im oligarchischen
Sumpf des Restaurationssystems
Sowohl Francisco Silvelas Kabinett der regeneración A n t o n i o Maura proklamierte konservative revolución
nacional
stecken.
als auch die von
desde arriba
scheiterten
9
in dem halbherzigen Versuch, längst überfällige Korrekturen am politischen und sozio-ökonomischen
Status quo vorzunehmen. F ü r ihre
orthodoxen
Reformen fanden sie bei keiner der wichtigen gesellschaftlichen
Gruppen
Unterstützung - weder bei der baskischen und katalanischen Industriebourgeoisie noch bei der Arbeiterbewegung, die sie zur gleichen Zeit politisch 97 98
99
A. GANIVET, Obras completas, tomo I: Idearium español (1897), Madrid '1933, S. 139,151. J. COSTA, Reconstitución y europeización de España. Programa para un partido nacional, publ. por el Directorio de la Liga nacional de productores, Madrid 1900, S. 160 f., 211 (2. Manifest des Direktoriums vom 23.6.1899, 3. Manifest vom 31.7. 1899). »Die spanischen Konservativen [...] predigen, was man in Spanien die Revolution von oben nennt. Sie sind wesentlich Revolutionäre, nur daß sie, da sie fast immer die Macht in Händen haben, nicht von den Barrikaden aus schießen, sondern von der Gaceta, das heißt dem amtlichen Gesetzblatt«. CASTILLEJO, Bildungsbestrebungen, S. 208.
58
».Moralische Eroberungen
massiv bekämpften. 100 Zu einer ersten Eruption führten die Unfähigkeit, die drängenden Strukturprobleme des Landes zu entschärfen, und die Erbitterung über das Kolonialabenteuer in Marokko im Juli 1909 in dem als Semana Trágica in die Geschichte eingegangenen anarchistisch-antiklerikalen Aufstand in Barcelona. Acht Jahre später eskalierte der Auflösungsprozeß des Restaurationssystems in einer Staatskrise, die am Ende dessen Untergang besiegeln sollte.
2.3.3. Die Junta para Ampliación
de Estudios
Derweil der regeneracionismo mit seinem struktur- und sozialpolitischen Reformprogramm strandete, dauerte der kulturelle Gärungsprozeß in Spanien unvermindert an. Das eigentliche Anliegen der institucionistas, ihr Postulat einer grundlegenden Neugestaltung der spanischen Schul- und Wissenschaftspolitik, erlangte in der öffentlichen Debatte nach 1898 neue Aktualität. Hatte nach Ansicht freidenkender Zeitgenossen doch gerade der Kolonialkrieg mit den USA die fatalen Folgen der geistigen Isolation Spaniens aufgezeigt: »[Djejando a un lado un falso patriotismo, debemos inspirarnos en el ejemplo que nos han dado los Estados Unidos. Este pueblo nos ha vencido no sólo por ser más fuerte, sino también más instruido, más educado; de ningún modo por ser más valiente. Ningún yanqui ha presentado a nuestra escuadra o a nuestro ejército su pecho, sino una máquina inventada por algún electricista o algún mecánico. No ha habido lucha. Se nos ha vencido en el laboratorio y en las oficinas, pero no en el LOL k tierra«. Damit blieb der Kreis der bürgerlichen Reformer um Giner de los Ríos nach 1898 auf dem einmal eingeschlagenen Weg. Nach wie vor führte man die komplexen Probleme Spaniens auf einen Kernpunkt, das gravierende Bildungsdefizit im Lande zurück und setzte unverdrossen auf die Förderung einer bürgerlichen Bildungselite. Die Überwindung der geistigen Isolation und Jahrhunderte währenden kulturellen Stagnation Spaniens aber schien - nach dem Motto buscar fuera a lo que falta dentro - nur über den Dialog mit den
100 Vgl. HARRISON, S. 1 ff.; BERNECKER, Sozialgeschichte, S. 223 ff. 101 So der den Krausisten nahestehende Parlamentsabgeordnete und spätere Beirat der JAE, Eduardo Vincenti, zitiert nach: SÄNCHEZ R O N , La JAE 80 anos despues, Bd. 1,S. 3.
2. Nationale Expansion und Regeneration
59
entwickelten europäischen Nationen und den USA gelingen zu können. 102 Giner de los Ríos selbst verteidigte sein auf die Adaption erfolgreicher Bildungsmodelle des Auslandes ausgerichtetes Reformprogramm gegen die Front der Isolationisten und brachte es auf den Punkt: »[N]inguna nación que ha tomado el verdadero camino para salir de su atraso y enviar a centenares y a miles de sus jóvenes fuera, ha cerrado sus instituciones, sino que las ha fortalecido y mejorado [...] Estados que ayer tocaban casi los límites de la barbarie, como el Japón, han lanzado masas enteras de su juventud a los Estados Unidos, a Alemania, a Francia, a Inglaterra, adondequiera que podían hallar condiciones favorables para formarse rápidamente«.103
Damit war das kulturpolitische Programm der institucionistas klar umrissen. Die Sanierung des spanischen Unterrichtswesens, der wissenschaftlichen Lehre und Forschung konnte nur von oben, durch die Heranbildung eines mit Auslandsstipendien geförderten, qualifizierten Personals, das nach seiner Rückkehr das Niveau der Schul- und Hochschulausbildung bestimmte, ins Werk gesetzt werden. Diese elitäre Strategie sollte jahrzehntelang Vorrang gegenüber der Alternative einer umfassenden Bildungsreform von unten gewinnen, der Bekämpfung des verbreiteten Analphabetentums durch eine Konsolidierung des Elementarschulwesens, wie sie von sozialistischer und anarchistischer Seite vorgeschlagen und ansatzweise in Angriff genommen wurde.104 Nicht weniger klar war die hinter dem Reformprogramm der institucionistas stehende Vision. Es galt, ein modernes, emanzipiertes und europäisches Spanien zu schaffen: »Imaginad ahora que el Estado funda un Colegio [...] en Berlín, y otro en París, y otro en Oxford, y otro en Harvard o Nueva York, como los tenemos en Roma y Bolonia; [...] que se manda a ellos una docena de docentes de becarios todos los años, y que cada década expiden de vuelta a España diez grandes químicos, y cien pedagogos sobresalientes, y seis hacendistas, once industriales, cincuenta agrónomos, cuatro epigrafistas y filólogos, seis historiadores, quince físicos y mecánicos, veintisiete 102 Vgl. E. HUERTAS VÁZQUEZ, La Institución Libre de Enseñanza y la cultura europea (1876-1900), Madrid 1992. 103 F. GlNER DE LOS RÍOS, Obras completas, tomo II: La Universidad Española, S. 125; tomo XI: Filosofía y Sociología. Problemas urgentes de nuestra educación nacional (1906), S. 167 f. 104 Vgl. CASTILLEJO, Bildungsbestrebungen, S. 208. Die Krausisten blieben bis 1930 im wesentlichen bei ihrem Konzept der Ausbildung einer bürgerlichen Elite. Erst in der Zweiten Republik wurde der pädagogische Gedanke der Volkserziehung konsequent aufgegriffen und politisch umgesetzt. Siehe dazu unten, Kap. 4.2.4.
»Moralische
60
Eroberungen*?
ingenieros, arquitectos, matemáticos, artilleros y constructores navales, dieciocho histólogos, médicos y naturalistas, treinta y seis jurisconsultos, filósofos, teólogos y economistas para las Universidades [...], para las Escuelas [...], para la gobernación, para la diócesis, para el Parlamento, para las explotaciones agrícolas [...], para las manufacturas [...], para la Administración pública, para el Ejército, que inventan, que agitan, que propagan, que organizan empresas, [...] que ponen en fermentación la masa, infundiendo un espíritu nuevo; que transforman los servicios públicos, que disputan su puesto a esos dos mil extranjeros que monopolizan ahora los sueldos mas pingües del país y le dan aspecto de colonia [...] Imaginad que esto se hace, y España habrá revivido, se habrá reintegrado en Europa, sin haber dejado de ser España, y, antes bien, siendo más España de lo que ahora es«.
Im April 1900, unter dem Reformkabinett Silvela, sollte dieses Postulat mit der Gründung des Ministerio de Instrucción Pública y Bellas Artes einen ersten legislativen Widerhall finden. 106 Mehrere Erlasse liberaler Minister wie Antonio Garcia Alix und Alvaro de Figueroa y Torres, Conde de Romanones, zielten auf eine vorsichtige Neustrukturierung des spanischen Bildungssystems, stellten begrenzte Mittel für Auslandsaufenthalte von ausgewählten Lehrern, Studenten und Universitätsdozenten zur Verfügung. 107 Der erste Schritt in das Edad de Plata der spanischen Kultur und Wissenschaft schien getan. 108 Doch vereitelten strukturelle Defizite des Ministeriums, die unzureichende Fachkompetenz seiner Mitarbeiter und vor allem der politische Widerstand verschiedener reformfeindlicher Minister einen wirklichen Fortschritt in Richtung einer grundlegenden Erneuerung des spanischen Bildungswesens. Hinter den Ambitionen Giner de los Ríos' und seiner Schüler blieben die zaghaften Anstöße weit zurück. Der eigentliche institutionelle Durchbruch gelang erst Jahre später. Amalio Gimeno y Cabañas, den institucionistas nahestehender Kulturminister im fünf Wochen zuvor an die Macht gelangten liberalen Kabinett unter Antonio Aguilar y Correa, erließ am 11. Januar 1907 ein Dekret zur Einrichtung einer 105 J. COSTA, Crisis Política de España (1901), Madrid 31914, S. 66. 106 Der MIP - Ministerium für das öffentliche Unterrichtswesen und die Schönen Künste - , im folgenden kurz als Kulturministerium bezeichnet, entstand per Dekret vom 18.4.1900 aus der Herauslösung der Abteilung Instrucción Publica aus dem Ministerio de Fomento. 107 Zu den Reformen der Jahre 1900 bis 1906 vgl. JAE, Memoria correspondiente al año 1907, Madrid 1908, S. 6 f. Darauf basierend: LAPORTA [u.a.], Teil 1, S. 47 ff. 108 Zur Begriffsfindung vgl. J.-C. MAINER, La Edad de Plata (1902-1939). Ensayo de interpretación de un proceso cultural, Madrid 21983 ('1974).
2. Nationale
Expansion
und
Regeneration
61
formal unabhängigen Körperschaft in seinem Ministerium, der Junta Ampliación
de Estudios e Investigaciones
Científicas,109
para
Die Präambel dieser Ver-
ordnung kann schlechterdings als programmatische Grundlage der auswärtigen Kulturpolitik Spaniens in den Beziehungen zu Europa und den U S A bis Anfang der zwanziger Jahre gelten: »El pueblo que se aisla, se estaciona y se descompone. Por eso todos los países civilizados toman parte en ese movimiento de relación científica internacional [...] Francia á Italia han enviado la juventud y el Profesorado de sus Universidades á los Seminarios de las alemanas, y de ellos ha salido también lo más distinguido del Profesorado ruso [...] Alemania, los Estados Unidos é Inglaterra, mantienen entre sí una comunicación cada día más viva, y realizan, en gran escala, el cambio mutuo de estudiantes y Maestros [...] No hay nada que pueda sustituir al contacto directo con un medio social é intelectual elevado [...] Se trata de sacar provecho de la comunicación constante y viva con una juventud llena de ideal y de entusiasmos; [...] de la observación directa é íntimo roce con sociedades disciplinadas y cultas; de la vida dentro de instituciones sociales para nosotros desconocidas, y del ensanchamiento, en suma del espíritu [...] Para ello hay que enviar al extranjero mayor número de pensionados. [...] La residencia en el extranjero [...] estimula la noción sana de la patria, y de otro, el influjo de aquellos pueblos en los cuales, como en Inglaterra y Alemania, se halla, por fortuna para ellos, el sentido social tan vigorosamente desarrollado«.110 Programm und personelle Besetzung der J A E spiegelten den starken Einfluß von Giner de los Ríos und seinem Kreis wider. Präsident wurde der liberale Santiago Ramón y Cajal (1852-1934), vor dem Ersten Weltkrieg einziger spanischer Naturwissenschaftler von Weltruf, der für seine histologischen Forschungen, die er erstmals 1888 in Berlin auf einem Kongreß der Anatomischen
Gesellschaft
Deutschen
dem internationalen Fachpublikum vorstellte, 1905
mit der Humboldt-Medaille der Berliner Akademie
der Wissenschaften
mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wurde.
111
und 1906
Als Generalsekretär
109 Dt. Ausschuß für die Ausweitung von Studium und wissenschaftlicher Forschung. In Barcelona wurde 1907 unter Prat de la Riba als Pendant der JAE das Institut d'Estudis Catalans gegründet. 110 Preámbulo del Real Decreto de 11.1.1907, »creando la Junta para Ampliación de Estudios é Investigaciones Científicas«. GM 18.1.1907; JAE, Legislación, Madrid 1910 (Anhang). 111 »Su viaje a Alemania, y su incondicional admiración hacia el proceder científico de aquel país, le habían llevado a la convicción de que era necesario, con toda premura y prioridad, mejorar la situación científica española«. LAPORTA [u.a.], Teil 1, S. 65. So empfahl Ramón y Cajal 1897 in einem Bericht für die Real Academia de
62
»Moralische
Eroberungen
avancierte ein Schüler Giners, der junge anglophile Jurist José Castillejo y Duarte. 1 1 2 Weitere institucionistas saßen im Beirat - so der bereits vorgestellte Joaquín Costa, Gumersindo de Azcárate 1 1 3 und Ramón Menéndez Pidal. 1 1 4 Finanziell dagegen hing die J A E auf Gedeih und Verderb am Tropf des Kulturressorts. So konnten sich die Parteigänger Giners in dieser von politischen Wechselbädern bestimmten Zeit nicht den Luxus leisten, ihre ideologischen Gegner auszugrenzen und damit den betont apolitischen und überparteilichen Status der Junta in Frage zu stellen. Notgedrungen besann man sich auf den Grundsatz divide et impera und berief auch Vertreter des konservativ-klerikalen Spektrums und ausgewiesene Feinde des krausismo wie den traditionalistischen Literaturhistoriker, orthodox-katholischen Kritiker und apologetischen Nationalisten Marcelino Menéndez Pelayo (1856-1912) in den Beirat. Mitnichten war damit aber der von Castillejo apostrophierte guerra de ideas beendet oder gar der »westfälische Friede der spanischen Kultur« eingekehrt. 115 Ciencias Exactas, Físicas y Naturales die Umwandlung der antiquierten spanischen Hochschulen in »Zentr[en] geistiger Tätigkeit nach deutschem Stile«. CASTILLEJO, Bildungsbestrebungen, S. 206. 112 José Castillejo y Duarte (1877-1945), Jurastudium in Madrid, 1903-05 und 1910/11 Studienaufenthalte in Berlin, 1905 Professur für Romanisches Recht in Sevilla, ab 1907 in Madrid. Bis 1932 Generalsekretär und treibende Kraft der JAE, danach Direktor der Fundación Nacional para Investigaciones Científicas y Ensayos de Reformas. 1936-45 Exil in Großbritannien. Zu den geistesgeschichtlichen Wurzeln, Gründung und kulturpolitischem Wirken der JAE vgl. Castillejos Schrift War of Ideas in Spain, London 1937 (Guerra de ideas en España, Madrid 1976). Zur Person vgl. C. GAMERO MERINO, Un modelo europeo de renovación pedagógica: José Castillejo, Ciudad Real 1988; L. PALACIOS BAÑUELOS, Castillejo, educador, Ciudad Real 1986. 113 Der Jurist Gumersindo de Azcárate (1840-1917) repräsentierte den sozialreformerischen Flügel des krausismo. Er war Mitbegründer und Rektor der ILE und bis zu seinem Tod Leiter des 1904 gegründeten Instituto de Reformas Sociales. 114 Ramón Menéndez Pidal (1869-1968), Schüler von Menéndez Pelayo, mit einer Fülle von methodisch und inhaltlich wegweisenden Publikationen herausragender Vertreter der modernen spanischen Mediävistik, Literatur- und Sprachwissenschaft. 1899 Professur für romanische Philologie in Madrid, seit 1910 Direktor des Centro de Estudios Históricos der JAE. 1914 Gründung der Revista de Filología Española. 1919-21 Präsident des Ateneo in Madrid, ab 1924 Vizepräsident der JAE, 1925-38 und 1947-68 Direktor der Real Academia Española. Ab 1940 Leiter der monumentalen Historia de España. Enge wissenschaftliche Beziehungen zur deutschen Hochschulromanistik, Dr. h. c. der Universitäten Hamburg (1921) und Tübingen (1923). Zu seinem Wirken im Rahmen der deutsch-spanischen Kulturbeziehungen nach 1918 siehe unten, Kap. 4 f.
2. Nationale Expansion und Regeneration
63
Die hehre Absicht, die Junta aus den innenpolitischen Richtungskämpfen herauszuhalten und damit die Kontinuität ihrer Arbeit zu gewährleisten, erwies sich alsbald als Illusion. Nur zwei Wochen nach ihrer Gründung vollzog sich mit Antritt des Kabinetts Maura erneut ein Wechsel an der Spitze des Kulturressorts. Verantwortlicher Minister wurde Faustino Rodríguez Sampedro, nach den Worten Castillejos ein »conservador hostil tanto hacia la simplificación administrativa como hacia el krausismo«. 116 Als Repräsentant jener reformfeindlichen Kräfte, die die J A E pauschal als eine Ausgeburt des Antiklerikalismus und des »Antipatriotismus« 117 apostrophierten, unternahm er in seiner knapp dreijährigen Amtszeit alles, um ihre Arbeit zu torpedieren. 118 Und Rodríguez hatte gute Trümpfe in der Hand. Die im Gründungsmanifest festgelegte relative Autonomie der J A E wurde in einer Kette von Verordnungen und Satzungsänderungen schrittweise beseitigt und ihr Budget vorübergehend auf ein Minimum zusammengestrichen. Damit degenerierte das ehrgeizige Unternehmen zwischen 1907 und 1909 zu einem bloß beratenden Fachausschuß im Kulturministerium ohne wirkliche Kompetenzen, Personalund Sachmittel. Die Memorias der J A E für diese Zeit sind ein beredtes Zeugnis ihrer weitgehenden Paralyse.119 Die Uberwindung des Trienniums politisch bedingter Agonie leitete der Sturz Mauras im Oktober 1909 ein. Das nachfolgende liberale Kabinett unter Segismundo Moret erneuerte umgehend die der J A E 1907 gewährte Autonomie und finanzielle Ausstattung aus dem Etat des Kulturministeriums. 120 Entscheidende Förderung aber erfuhr die Junta in den Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor allem durch ein prominentes Mitglied ihres Beirates - den liberalen, germanophilen und bildungspolitisch umtriebigen 115 116 117 118
CASTILLEJO, Bildungsbestrebungen, S. 209. CASTILLEJO, Guerra de ideas en España, S. 99. LAPORTA [u.a.], Teil 2, S. 9 f. Américo Castro, nach dem Ersten Weltkrieg eine der zentralen Figuren auf der kulturpolitischen Bühne in Spanien, resümierte im Rückblick: »La incultura de este hombre, unida al miedo de los conservadores hacia lo nuevo, pudo ser funesta para la 'Junta' en sus primeros tiempos«. A. CASTRO, El movimiento científico en la España actual (1918), in: DERS., De la España que aún no conocía, S. 91-122. Zitat: S. 101, Anm. 2. Zu Castro siehe unten, Kap. 3.3., 5. und 6. 119 J A E , Memoria 1907; Memoria correspondiente a los años 1908 y 1909, Madrid 1910. 120 Reales decretos de 22.1.1910. G M 28.1.1910. Vgl. LAPORTA [u.a.], Teil 2, S. 32 f.
»Moralische Eroberungen
64
Kulturminister Santiago Alba. 121 Mit seiner politischen Rückendeckung vermochte sie ihren Aktionsradius rasch auszuweiten. So wurden in Madrid eine Reihe modellhafter Wissenschaftszentren aufgebaut, die in ihrer Ausstattung weit über dem lamentablen Niveau der Universitäten lagen und künftig den Stand der wissenschaftlichen Forschung und Lehre im Lande bestimmten. 122 Und endlich konnte auch das 1907 formulierte Vorhaben - »provocar una corriente de comunicación científica y pedagógica con el extranjero« 123 - in größerem Umfang in Angriff genommen, der Aufbruch zur Europäisierung der spanischen Wissenschaft eingeleitet werden. Ein ganzes Bündel von Maßnahmen diente der Intensivierung der spanischen Wissenschaftsbeziehungen zum Ausland. Erhebliche Mittel standen nun für die Teilnahme an internationalen wissenschaftlichen Kongressen bereit, mit dem Patronato
de
Estudiantes
wurde eine Beratungsstelle für privat finanzierte Studienaufenthalte im Aus-
land eingerichtet und ab 1912 vom Centro de Estudios Históricos alljährlich ein Sommerkurs für Studenten aus dem Ausland veranstaltet. Daneben gründete die J A E im Juni 1910 in Rom ein Archäologisches Institut. Vorrang genoß aber weiter das Stipendienprogramm für Postgraduierte, dessen Statistik einen guten Eindruck der raschen Vertiefung der kulturpolitischen Arbeit der J A E in dieser Periode vermittelt: 121
Santiago Alba Bonifaz (1872-1949), Anwalt, Journalist und einer der einflußreichsten liberalen Politiker der Restaurationszeit, 1898/1900 Mitbegründer der Unión Nacional, 1912 KM unter Canalejas und seinen Nachfolgern, 1916/17 Finanzminister unter Romanones und García Prieto, 1918 erneut Kultur-, dann Finanzminister. 1 9 2 2 / 2 3 Außenminister im Kabinett García Prieto. Während der Diktatur Exil in Paris. 1933-34 Präsident der Cortes, 1936-45 erneutes Exil. In seiner Amtszeit als KM vor dem Ersten Weltkrieg dienten Alba die Kultur- und Bildungseinrichtungen in Deutschland als Vorbild und Maßstab für seine kulturpolitischen Reformen. Vgl. A. REGALES SERNA, La recepción de la cultura alemana en España 1868-1988, in: Alemania y España. Sonderdruck aus: Hispanorama 51, 1989, S. 7080; hier: S. 73.
122
Auf das breitgefächerte bildungs- und wissenschaftspolitische Arbeitsspektrum der J A E in Spanien kann hier nicht näher eingegangen werden. Neben den genannten Forschungszentren - dem Centro de Estudios Históricos, dem Instituto Nacional de Ciencias Físico-Naturales und der Asociación de Laboratorios - wirkten die Einrichtung der Residencia de Estudiantes, eines Studienkollegs nach englischem Vorbild, und die Planungen zur Gründung einer Reformschule, dem Instituto-Escuela, richtungsweisend. Vgl. LAPORTA [u.a.], Teil 2, S. 32-42. Zum Instituto-Escuela siehe auch unten, Kap. 4.2.2. und 6.3.
123 J A E , Memoria 1907, S. 4.
2. Nationale Expansion und Regeneration
65 Stipendien
Jahr
Anträge
1907
206
Zusagen
1908
134
52
1909
74
36
1910
359
70
1911
455
110
1912
468
127
1913
609
110
-
Quelle: J A E , Memorias 1907-13.
Angesichts dieser Entwicklung kann in einer kritischen Bilanz die Bedeutung der J A E im Zuge der kulturellen regeneración
Spaniens nach 1898 kaum hoch
genug geschätzt werden. In nur wenigen Jahren gelang es, »das spanische Erziehungswesen [zu] revolutionieren«. 124 Auf lange Sicht gesehen gebührte der J A E nicht weniger als »la mayor parte del progreso de la ciencia y la universidad españolas en el primer tercio del siglo X X . Por eso, su aparación es fundamental, probablemente más fundamental que la cacareada 'generación del 98', puesto que significa la conquista de un bastión importantísimo por la burguesía liberal en la batalla ideológica que es clave en la linde de los dos siglos«. 125
Zugleich markierte die Gründung der J A E den Auftakt einer zumindest im Ansatz methodisch verfolgten auswärtigen Kulturpolitik Spaniens - getragen von der bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichenden, vom krausismo geprägten, laizistisch-pädagogischen Reformbewegung im Lande. Mit dem desastre de 98 hatte dieses bürgerlich-liberale Modernisierungs- und Säkularisierungsprojekt neue politische Aktualität und Schlagkraft gewonnen. Nach dem Ende des imperialen Traums setzte sich dort der Gedanke der apertura horizontes,
de
der kulturellen Erneuerung Spaniens im Dialog mit anderen hoch-
entwickelten Staaten, gegen die verbreiteten isolationistischen
Tendenzen
durch. Zusammenfassend gilt es festzuhalten, daß die auswärtige Kulturpolitik Spaniens in ihren Anfängen im europäischen
Zusammenhang - und dieses gilt
uneingeschränkt bis Anfang der 1920er Jahre - eindeutig defensiven
124 MADARIAGA, Spanien, S. 67. 125 TUÑÓN DE LARA, La España del siglo X I X , Bd. 2, S. 225.
Charakter
»Moralische Eroberungen*?
66
hatte. 126 Die Anknüpfung eines verdichteten kulturellen Dialogs mit den wissenschaftlich und technologisch tonangebenden Nachbarn in West- und Zentraleuropa zielte eben nicht - wie im wilhelminischen Deutschland - auf die Erweiterung des Instrumentariums expansiver Außen- und Außenwirtschaftspolitik. Und schon gar nicht war sie die Umsetzung eines - in seinen Auswirkungen nicht minder expansiven - universellen Zivilisationsanspruchs nach französischem Vorbild. Der kulturpolitische »Aufbruch Spaniens nach Europa« war vielmehr Ausdruck der verzweifelten Suche nach einem Ausweg aus der zugespitzten politischen, ökonomischen und kulturellen Krisensituation in dem gedemütigten, »halbkolonialen« Land mit jahrhundertelanger imperialer Tradition. Damit bedürfen die oben skizzierten Typologien von Abelein und Düwell einer Ergänzung. Nach ihnen bleibt auswärtige Kulturpolitik in ihren unterschiedlichen historischen Konkretionen letztendlich doch immer ein integraler Bestandteil von wie auch immer formulierten ¿«/fenpolitischen Mittel- und 126 Zu seinen ehemaligen Kolonien in Mittel- und Südamerika pflegte Spanien seit Ende des 19. Jahrhunderts sehr viel offensiver ausgerichtete Kulturbeziehungen. Dabei wurde das Erbe der mehr als 300-jährigen Kolonialherrschaft, die vielbeschworene hispanidad, als Instrument gegen die mit den Schlagworten Latinität und Panamerikanismus zu umschreibenden politischen und ökonomischen Ambitionen Frankreichs und der USA auf dem südamerikanischen Kontinent eingesetzt. Diese allerdings keineswegs systematisch im Sinne einer planvollen auswärtigen Kulturpolitik verfolgte Strategie schlug sich in der Gründung der Unión ibero-americana in Madrid (1884) und mehreren südamerikanischen Hauptstädten oder der nostalgisch verbrämten 400-Jahr-Feier der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus nieder. Mit der Niederlage von 1898 wurde der hispanoamericanismo integraler Bestandteil der Regenerationsbewegung. Autoren wie Angel Ganivet in seinem Idearium Español beschworen unter dem Eindruck der politischen Ohnmacht des eigenen Landes als historische Aufgabe Spaniens den intellektuellen und geistigen Schulterschluß der hispanischen Welt in nun gemeinsamer Frontstellung gegen den nordamerikanischen Imperialismus. In der spanischen Außen- und Kulturpolitik nach 1898 bildet der hispanoamericanismo mit unterschiedlicher Gewichtung eine Grundkonstante. Vgl. DELGADO GÓMEZ-ESCALONILLA, S. 47 ff., 117 ff., 247 ff.; J.-C. MAINER, Un capítulo regeneracionista: el hispanoamericanismo (1892-1923), in: Ideología y sociedad en la España contemporánea. Por un análisis del Franquismo, Madrid 1977, S. 149-203; NIÑO RODRÍGUEZ, L'expansion culturelle espagnole, passim; C. M. RAMA, Las relaciones culturales diplomáticas entre España y América latina en el siglo XIX, in: Revista de Estudios internacionales 2, 1981, S. 893-926. Zu den Begrifflichkeiten vgl. im Überblick: R. de la VEGA, Art. Hispanidad, in: SpL, S. 234-236.
2. Nationale Expansion und Regeneration
67
Zieldefinitionen.127 Aber sie kann, das zeigt das historische Beispiel Spaniens, auch ein ursächlich auf die innenpolitischen Verhältnisse bezogenes und damit genuin rezeptives Element der Modernisierung sein - ein selbstverordnetes reformpolitisches Instrumentarium. Hinsichtlich der Trägergruppen, institutionellen Verankerung und der Aktionsfelder auswärtiger Kulturpolitik in Spanien gilt es zu betonen, daß dort Kulturkontakte zum Ausland einstweilen nicht von Außenpolitikern angebahnt und ausgestaltet wurden, sondern vom Typus des reformorientierten, bildungspolitisch engagierten und praxisnahen Intellektuellen.128 Diese Repräsentanten des liberalen Bürgertums kämpften gegen den katholischen Traditionalismus im Land, für die Uberwindung der oligarchischen Strukturen des Restaurationssystems auf dem Reformwege und damit letztlich um ihre politische Emanzipation und Partizipation an der Macht. Der erste Schritt auf diesem Weg schien die Heranbildung einer aufgeklärten bürgerlich-intellektuellen Elite zu sein. Aus diesem Grund stand im Zentrum der auswärtigen Kulturpolitik Spaniens lange Zeit die Intensivierung der internationalen Wissenschaftsbeziehungen des Landes.
2.4. Kulturpolitische Kontakte vor 1914 Mit der Adaption der idealistischen Philosophie Krauses und der Pädagogik Fröbels hatte der krausismo in Spanien eine Tradition unbedingter Wertschätzung deutscher Wissenschaft und Bildung oder - allgemeiner - »deutscher Kultur« begründet.129 Die zitierte Präambel des Gründungsdekretes der JAE von 127 Siehe oben, Kap. 2.2.2. Eine entsprechende Verengung der Perspektive auch bei EMGE, Kulturpolitik, S. 40.
128 Vgl. GIL-CREMADES, S. 227; TUÑÓN DE LARA, Medio siglo de cultura española, S. 45 ff.; J. MARICHAL, La 'generación de los intelectuales' y la política (1909-1914), in: La crisis de fin de siglo: ideología y literatura. Estudios en memoria de R. Pérez de la Dehesa, Barcelona 1974, S. 25-41; VILLACORTA BAÑOS, S. 111-140. 129 Diese Zäsur wurde mit Blick auf die außergewöhnliche historische Bedeutung des krausismo in der Geschichte Spaniens gesetzt. Zur Tradititon der wechselseitigen kulturellen Beeinflussung beider Länder vom 15. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts vgl. im Überblick: T. BERCHEM, España y Alemania: esbozo de sus relaciones culturales a través de los siglos, in: Indice cultural español, Madrid 1982, núm. 9, S. 7-23; HOFFMEISTER, S. 17 ff.; T . RODRIGUES DE LECCA, Influencia de la cul-
tura alemana en España en la primera mitad del siglo X I X , in: M. TuÑÓN DE
»Moralische
68
Eroberungen«?
1907 steht in diesem Zusammenhang nur als ein beispielhafter Beleg. Allgemein gilt, daß sich die »Säkularisierung Spaniens unter bewußter Hinwendung zu Deutschland [vollzog ...] Es handelt sich um eine Phase der Germanophilie, die sich im Bewußtsein der [vermeintlichen, d. Verf.] Dekadenz der lateinischen Welt, besonders nach 1870/71, von Frankreich offiziell abwandte«. Großen Anteil an dieser Entwicklung hatte der antiklerikale Kurs der III. Republik, der auch liberal-katholische Kreise im Nachbarland abschreckte. 131 Demgegenüber stellte das deutsche Modell für die bürgerliche Emanzipationsbewegung in Spanien einen ihren klassenspezifischen Interessen angemessenen Kompromiß dar. Es repräsentierte ein gemäßigt-rationalistisches Modernisierungskonzept im Kampf gegen den klerikalen Traditionalismus und in Abgrenzung gegen den wachsenden sozialen Druck von unten - die politischen Ambitionen der Sozialisten und Anarchisten, die der elitären Bildungsoffensive der ILE eine Reform der Volkserziehung von der Basis her oder gleich die revolutionäre Uberwindung der disparaten sozio-ökonomischen Verhältnisse im Land entgegenstellten. Wenn die spanische Wissenschaft um die Jahrhundertwende nach Deutschland blickte, lag dieses auch darin begründet, daß »die Vertrautheit mit deutscher Wissenschaft [auch im sozialen Sinne] das Signum der Zugehörigkeit zu LARA/J. A. LACOMBA (Hgg.), Sociedad, política y cultura en la España de los siglos XDC-XX, Madrid 1973, S. 33-42. 130 HOFFMEISTER, S. 163. Entschiedenster Vertreter dieser germanophilen Strömung war der von Schopenhauer und Nietzsche maßgeblich beeinflußte Romancier Pío Baroja (1872-1956). Der Protagonist der generación del 98 hob noch nach dem Ersten Weltkrieg hervor: »De una manera general [...] se puede decir que la cultura latina busca la unidad; la cultura germánica, la diversidad. La cultura latina ha defendido siempre el dogma, la autoridad; la cultura germánica, el libre examen; [...] para mí la segunda, la germánica, es más simpática«. P. BAROJA, Divagaciones sobre la cultura (1920), in: Obras completas, Bd. 5, Madrid 1948, S. 502-524. Zitat. S. 517. Zum Prestigeverlust Frankreichs nach dem deutsch-französischen Krieg, zur spanischen Bewunderung für das »ejército vencedor en Sedan« und der Ausrichtung am Vorbild der preußischen Militärakademien vgl. ESPADAS BURGOS, Alemania y España, S. 74 f. 131 Vgl. J.-M. DELAUNA Y, L'Espagne, un champ ouvert. Rivalités et illusions culturelles en péninsule ibérique (XIXe-XXe siècles), in: Relations internationales 50, 1987, S. 215-227; E. TÉMIME, Les relations socio-culturelles franco-espagnoles dans la première moitié du XXéme siècle, in: Españoles y franceses en la primera mitad del siglo XX, Madrid 1986, S. 121-128.
2. Nationale Expansion
und
69
Regeneration
einer Elite« verlieh. 1 3 2 V o r dem Ersten Weltkrieg wurden die deutschen Staatsund Rechtswissenschaften, Pädagogik, Philosophie, Nationalökonomie, Medizin, Ingenieur- und Naturwissenschaften auf der Iberischen Halbinsel intensiv rezipiert. Aktuelle geistige Strömungen wie der Marburger Neukantianismus wirkten
auf eine ganze Generation
spanischer Denker
schulbildend.
Mittler dienten dabei nicht zuletzt die großen wissenschaftlichen
Als
Fachzeit-
schriften aus dem deutschsprachigen R a u m , die in Spanien einen hervorragenden R u f genossen. T r o t z der begrenzten Sprachkenntnisse gehörten sie zur Grundausstattung aller großen wissenschaftlichen Bibliotheken. 1 3 3 Die spanische Affinität zur deutschen Wissenschaft schlug sich auch in der Auslandsstipendienvergabe der J A E bis 1914 nieder. V o n den etwa 5 3 0 Stipendiaten dieser Jahre zog es mehr als 2 7 0 auf deutsche Hochschulen -
unter
ihnen so prominente, die weitere politische, wissenschaftliche und kulturelle Entwicklung in Spanien bestimmende Köpfe wie Pere Bosch Gimpera, Eugenio d'Ors, José Casares Gii, Gregorio Maranón, L o r e n z o Luzuriaga, Manuel Garcia Morente, Enrique Moles, Juan Negrin, José Ortega y Gasset, Julio R e y Pastor, Fernando de los Rios oder Elias T o r m o - u m nur einige der wichtigsten zu benennen. 1 3 4 Stand das Reich damit bis 1914 im Z e n t r u m der v o n
132 KRAUSS, Idealismus, S. 20, 24. 133 Das spanische Bildungsbürgertum sprach (und spricht) in der Regel als erste Fremdsprache Französisch. In die Lehrpläne der höheren Schulen des Landes wurden erst um 1880 moderne Sprachen aufgenommen. Deutsch und Englisch waren vor dem Ersten Weltkrieg wegen fehlender Mittel und Personalmangels nur zwischen 1900 und 1903 Wahlfach. Gleichwohl war Deutsch als Wissenschaftssprache bis zum Zweiten Weltkrieg in Spanien voll etabliert. Vor allem an den medizinischen Fakultäten und einigen Fachhoch- und höheren Handelsschulen wurden seit Ende des 19. Jahrhunderts Deutschkenntnisse verlangt und vermittelt. 1913 standen auf der Liste der 17 wichtigsten Neuanschaffungen der J A E allein sieben deutsche Fachperiodika. Germanistische Abteilungen wurden an spanischen Universitäten erst Mitte des 20. Jahrhunderts eingerichtet (1942 Salamanca, 1953 Madrid, 1955 Barcelona). Vgl. F. PALAU-RlBES, Die Rezeption der deutschen Sprache in Spanien. Rückblick und Ausblick, in: Akten des I. Iberischen Germanistentreffens, Salamanca 1981, S. 95-104; A. REGALES SERNA, Germanistik und Deutsch als Fremdsprache in Spanien - Betrachtungen im historischen Kontext, in: GÖTZE, L. (Hg.), Deutsch als Fremdsprache - Situation eines Faches, Bonn-Bad Godesberg 1987, S. 60-73. 134 Die vollständige Liste der Auslandsstipendiaten der J A E in: J A E , Memorias correspondientes a los anos 1910 y 1911, 1912 y 1913, Madrid 1912/14. Zu den Eindrücken der Deutschland-Stipendiaten vgl. exemplarisch den Bericht des Che-
70
»Moralische
Eroberungen*f
spanischer Seite forcierten Anknüpfung auswärtiger Kulturbeziehungen in Europa, ist umgekehrt Gegensätzliches zu konstatieren. V o r dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges spielte die Iberische Halbinsel insgesamt eine nur sehr marginale Rolle in den Außenbeziehungen des Reiches. So ist die deutsche Spanienpolitik von Bismarck bis Bethmann Hollweg im großen und ganzen als Funktion der deutsch-französischen und deutschenglischen Beziehungen einzuordnen -
als Ausdruck der politischen und
ökonomischen Rivalität der europäischen Großmächte an der kolonialpolitisch neuralgischen Südwestflanke des Kontinents und in Nordafrika. Während Spanien sich nach 1898 im Zuge seiner Aspirationspolitik in Marokko der N o t gehorchend mit den involvierten Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien in einem mehrstufigen Vertragswerk verständigte 135 , stand man auf deutscher Seite abseits der monarchisch-dynastischen
Bindungen
spanischen Initiativen zur Anknüpfung engerer bilateraler Kontakte - etwa aus Anlaß der Marokkoverhandlungen des Jahres 1911
- mehr als reserviert
gegenüber. Offenkundig konnten die bescheidenen politischen Perspektiven einer verstärkten politischen Kooperation das Risiko einer weiteren Verschlechterung der Beziehungen des Reiches zu Frankreich in keiner Weise aufwiegen. 137 Einen vergleichsweise größeren Stellenwert erlangten vor 1914 die deutschspanischen Wirtschaftsbeziehungen. Wenngleich der spanische Bergbau, die Metallindustrie und das Eisenbahnnetz des Landes ganz überwiegend von englischem, belgischem und französischem Kapital beherrscht wurden, nahm mikers an der Universität Barcelona, A. MURÚA Y VALERDI, Tres años en Alemania: memorias de un pensionado, Barcelona 1909. 135 Eckpunkte dieses Interessenausgleichs waren der spanisch-französische Vertrag von 1904, das Mittelmeerabkommen von 1907 und der Marokko-Vertrag von 1912. 136 Vgl. E. ONCKEN, Panthersprung nach Agadir. Die deutsche Politik während der Zweiten Marokkokrise 1911, Düsseldorf 1981. 137 Zu den deutsch-spanischen Beziehungen vor 1914 vgl. RÜCHARDT, S. 10 ff.; ESPADAS BURGOS, Alemania y España, S. 63-87. Espadas betont zu Recht die Ignoranz und Inkompetenz der deutschen Diplomatie und ihre Fehleinschätzung der Rolle Spaniens im Marokkokonflikt. Vgl. auch: C. PEREIRA, Introducción al estudio de la política exterior de España (siglos X I X y XX), Madrid 1983, S. 148 ff. und die einleitenden Passagen bei GELOS DE VAZ FERREIRA, S. 1-17; R .
M.
CARDEN, German Policy Toward Neutral Spain, 1914-1918, New York [u.a.] 1987, S. 10-54.
2. Nationale Expansion und Regeneration
71
im Rahmen der um 1890 einsetzenden vehementen Expansion der deutschen Wirtschaft auf den Weltmärkten die deutsche Wirtschaftstätigkeit auch auf der Iberischen Halbinsel erheblich zu. Auf diesem Weg gelangten rund 5.000 deutsche Migranten - in ihrer Mehrheit Kaufleute, Handelsvertreter und Ingenieure mit ihren Familien - nach Spanien. 1.200 bis 1.500 Personen starke Kolonien 138 bildeten sich bis zum Krieg in Barcelona und Madrid, kleinere Gruppen deutscher Provenienz fanden in für den Handel interessanten Küstenstädten Valencia, San Sebastián, Vigo, Cádiz, Málaga und Santander, dem Industrie- und Bergbauzentrum Bilbao, in Sevilla und Zaragoza ihr Auskom139
men. Im ausgehenden 19. Jahrhundert gründeten die Spaniendeutschen eine Reihe von Handelsunternehmungen und lebten vom Absatz klassisch mediterraner Agrarprodukte - Südfrüchte, Reis, Olivenöl, Wein, Safran und Kork. Daneben waren auch die klassischen Leit- und Wachstumsbranchen der deutschen Großindustrie mit Niederlassungen in den spanischen Metropolen vertreten. Tochterfirmen der AEG und von Siemens bauten Anfang des 20. Jahrhunderts zusammen mit deutschen Großbanken in Barcelona, Madrid und Sevilla die Elektrizitätsversorgung und das Straßenbahnnetz aus. Die zu diesem Zweck gegründeten Compañías de Electricidad wurden bis zum Ersten Weltkrieg als von deutschem Kapital beherrschte Aktiengesellschaften geführt. Hinzu kamen Niederlassungen deutscher Chemieunternehmen - von BASF, Bayer, Boehringer oder Hoechst - und der Maschinenbaufirmen Borsig, Henschel und Maffey. Die Gebrüder Mannesmann, Krupp und die Metallgesellschaft traten als Kanonenlieferanten der spanischen Armee und als Minenbetreiber im baskischen Erzabbaugebiet und in Spanisch-Marokko auf. Deutsche Industrieprodukte waren seit den 1890er Jahren auf der Iberischen Halb138
Wenn im folgenden wiederholt der Begriff Kolonie Verwendung findet, geschieht dieses selbstredend nicht - dem klassischen Sprachgebrauch folgend - zur Bezeichnung einer politisch und wirtschaftlich abhängigen Besitzung, eines Auslands- oder Überseeterritoriums, in dem die einheimischen Eliten als herrschende Schicht eliminiert wurden. Mit der Übernahme dieses zeitgenössischen Ausdrucks werden im folgenden Gruppen und Ansiedlungen von Migranten gemeinsamer Provenienz bezeichnet, die im Ausland am gleichen O r t lebten und dort eine subkulturelle Binnenstruktur ausbildeten.
139
Vgl. O . BOEUTZ, Deutsche Kulturarbeit in Spanien, in: Mitteilungen aus Spanien 1, 1917, S. 117-185; DERS., Das Deutschtum in Spanien, in: Spanien. Zeitschrift für Auslandkunde 1, 1919, S. 2-21.
»Moralische Eroberungen*?
72 insel immer mehr gelitten - Made in Germany
war zum Synonym für »bueno,
bonito y barato« geworden. 140 Am Vorabend des Ersten Weltkrieges stand das Deutsche Reich in der Statistik des spanischen Außenhandels bereits an dritter Stelle - volumenmäßig allerdings weiterhin deutlich hinter Großbritannien und Frankreich. 1 4 1 Die Kolonien der in Spanien lebenden Deutschen sollten auch den ersten kulturpolitischen Anknüpfungspunkt auf der Iberischen Halbinsel bilden. Die seit der Jahrhundertwende von den Auslandsvereinen im Reich verstärkt propagierte Forderung amtlicher Schritte zur Stärkung der »nationalen Selbstbehauptungskraft« der Auslandsdeutschen
gegenüber dem Assimilierungs-
druck ihrer Umgebung und das sensibilisierte Bewußtsein für die ökonomischen und politischen Perspektiven planvoll gestalteter, »kultureller Deutschtumspflege« im Ausland schlugen sich hier in charakteristischer Weise nieder. Bis 1914 entstand mit finanzieller und logistischer Unterstützung des AA und der deutschen Gesandtschaften, deutscher Firmen, Großbanken, beider Kirchen und des V D A in den Kolonien der Spaniendeutschen ein Netzwerk sozialer und kultureller Einrichtungen. 142 In Madrid hatte sich schon 1874 ein erster Deutscher Hilfsverein
zur Unter-
stützung bedürftiger Landsleute zusammengefunden.
1889 gründeten begü-
terte Koloniemitglieder den deutschen Klub Germania
- weniger gut betuchte
Landsleute 1892 den Deutschen Turnverein.
1909 weihte die sechs Jahre zuvor
aus der Taufe gehobene Deutsch evangelische
Gemeinde
eine eigene Kirche
140 Ebda., S. 9. 141 Die spanischen Exporte nach Deutschland nahmen von 1907 bis 1913 um 118 % zu. 1913 erzielte Spanien bei einem Gesamthandelsvolumen mit dem Reich von 341,7 Mio. Mark einen Exportüberschuß von 55,7 Mio. Mark. Angesichts eines Gesamtaußenhandels des Reiches von 15,6 Mrd. Mark (1907) bzw. 20,3 Mrd. Mark (1913) nimmt sich aus deutscher Perspektive der Anteil des Spanienhandels natürlich bescheiden aus. Vgl. W. SÖFFNER, Die deutsch-spanischen Handelsbeziehungen von 1871-1926, [Diss.] Leipzig 1929; E. KOCH, Die Entwicklung der deutsch-spanischen Handelspolitik seit der Jahrhundertwende, [Diss.] Köln 1928; GELOS DE VAZ FERREIRA, S. 86 f. Aus marxistischer Perspektive: M . EINHORN,
Die ökonomischen Hintergründe der faschistischen deutschen Intervention in Spanien 1936-1939, Berlin 1962, S. 5 ff. 142 Vgl. BOELITZ, Deutschtum in Spanien, S. 5 ff. 143 BÄK, R 57 neu/1134-7. Deutsches Ausland-Institut. Archivisches Sammlungsgut. Spanien. Deutscher Hilfsverein Madrid. Abschrift der Satzung von 1874.
2. Nationale Expansion und Regeneration ein. 144 U n d ein Jahr vor Kriegsausbruch nahm dann das Deutsche
73 Krankenheim
in der spanischen Hauptstadt den Betrieb auf. 145 Zum kulturellen Mittelpunkt der in Madrid lebenden Deutschen aber avancierte die Deutsche Schule.Ub Zu Beginn der 1890er Jahre waren in der mittlerweile rund 600 Personen zählenden Kolonie Stimmen immer lauter geworden, »die es als nationale Pflicht und Ehrensache empfanden, ihre Kinder nicht länger in den französischen und spanischen Schulen verwelschen zu lassen«. 147 N u r wenige wohlhabende Deutsche in Madrid konnten es sich bis dahin erlauben, ihre Kinder von Erzieherinnen oder gar akademisch gebildeten Hauslehrern unterrichten zu lassen. So konstituierte sich Anfang 1896 unter dem Patronat des deutschen Botschafters Radowitz in der spanischen Hauptstadt ein Kolonieausschuß, aus dem im Juli der Deutsche Schulverein hervorging. Mit Spendenaufrufen vor Ort und im Reich schuf der Verein das finanzielle Fundament für die Eröffnung der deutschen Schule am 19. Oktober 1896 mit 35 Schülern und acht Lehrkräften. Die Anstalt hatte von Beginn an einen konfessionell »streng paritätischen Charakter« und entwickelte sich bis zum Ersten Weltkrieg durchaus bemerkenswert. 148
144 Zur Genese der deutschen Kirchengemeinden in Spanien vor dem Ersten Weltkrieg vgl. BAP 09.01/39494-39497. AA, Abt. m . Geistliche-, Schul- und Stiftsachen 5 a. Allgemeines. Spanien. Deutsche evang. Gemeinde Madrid, Bd. 2-5 (18781909) und BAP 09.01/39491-39493. Deutsche evangelische Gemeinde Barcelona, Bd. 1-3 (1887-1908) und die Festschriften von W. ALBRECHT, Fünfzig Jahre Evangelisches Deutschtum in Spanien (1864-1914), Madrid o.J. [1914], G. GRÜNDLER, Heimat fern der Heimat. 50 Jahre Evangelische Gemeinde Barcelona (1885-1935), Barcelona o.J. [1935]; E. MAURER (Hg.), 100 Jahre deutschsprachige evangelische Gemeinde in Madrid 1864-1964, Madrid 1964. W. PESCHEL (Hg.), 25 Jahre Deutsch-Evangelische Gemeinde in Madrid, Madrid o.J. [1934]. Aus katholischer Perspektive vgl. G. SCHREIBER, Kulturelle Deutschtumspflege in Spanien. Ein Beitrag zur Seelsorge der Auslandsdeutschen, Münster i. W. 1930; DERS., Kulturelle Deutschtumspflege in Spanien, in: SFGGI, 2,1930, S. 377-396. 145 BÄK, R 5 7 neu/1134-6. Deutsches Krankenheim Madrid. Satzung vom 13.11. 1913. 146 Die Angaben zur Geschichte der Schule bis 1914 sind - soweit nicht anders belegt - den Akten des Schulreferats in der Rechtsabteilung des AA entnommen: BAP 09.01/39505-39512. Deutsche Schule Madrid, Bd. 1-8 (1895-1914). 147 G. KÖNIG, Die deutsche Schule in Madrid, in: SCHMIDT/BOELITZ, S. 56-76. Zitat: S. 56. 148 PAAA, R 62800. Kult VI B. Die deutschen Schulen im Ausland. Schul-S. 5 b. Spanien. Madrid, Bd. 12 (1922). Rede des amtierenden Rektors Alexander Geys
74
».Moralische Eroberungen Wichtige Schritte auf dem Weg der Ausweitung des Lehrbetriebes waren die
1909 erteilte Militärberechtigung149, der zur selben Zeit begonnene Bau und Bezug eines eigenen Schulhauses und die Einrichtung eines Kindergartens im Jahr 1910. 150 Am Vorabend des Ersten Weltkrieges bot der Schulverein in Madrid erstmals deutsche Sprachkurse für Erwachsene an. 151 Dieser Expansionsprozeß wurde vom AA, deutschen Großbanken und aus Kreisen der Exportwirtschaft sowohl logistisch als auch finanziell massiv unterstützt. 152 Doch verdankte die deutsche Kolonie die rasche Blüte ihrer Schule zuallererst dem starken Andrang von Kindern aus spanischen Familien, deren Anteil an der Schülerschaft im Schuljahr 1912/13 knapp 65 % erreichte. Analog zu Madrid entfaltete sich das deutsche Kolonieleben in Barcelona. In der katalanischen Industrie- und Handelsmetropole hatte die 1885 gegründete Deutsche Evangelische Gemeinde im Frühjahr 1894 die erste deutsche Schule auf der Iberischen Halbinsel eröffnet.153 Auch sie nahm »Kinder ohne Unterschied der Religion, des Standes und der Nationalität« auf. Gleichwohl wurde 1901 mit Rücksicht auf die wachsende katholische Klientel spanischer Schüler und
149
zum 25-jährigen Stifungsfest v o m 7.4.1922. Schülerentwicklung: 78 (1902), 182 (1906), 292 (1912). D i e »Berechtigung zur Austeilung von Zeugnissen über die wissenschaftliche Befähigung für den einjährig-freiwilligen Dienst« verkürzte für die Schüler der Abschlußklassen die zwei- bzw. (in Preußen) dreijährige Wehrpflicht auf ein Jahr. Diese von der Reichsschulkommission gewährte Berechtigung erlangten bis 1914 nur 13 deutsche Schulen im Ausland. Vgl. P A A A , R 62366. Denkschrift, S. 32 f.
150
Vgl. F. SCHLAYER, D i e Schwierigkeiten des Schulneubaus in Madrid und ihre Überwindung, in: SCHMIDT/BOELITZ, S. 77-80.
151
P A A A , R 63165. Kult V I B. Die deutschen Schulen im Ausland. Schul-S. 5 c. Sprachkurse für Ausländer im Ausland. Madrid (1914). D e r Etat des Schulvereins wurde aus dem Schulfonds des A A und mit Spenden großer deutscher Unternehmen mit geschäftlichen Interessen in Spanien ausgeglichen. Die Deutsche Bank gewährte für den Bau des Schulhauses einen zinslosen Kredit in H ö h e von 100.000 Mark. Das Schulreferat im A A übernahm ab 1906 die Lehrervermittlung. Vgl. KÖNIG, S. 63 f.
152
153
Archivalien zur Geschichte der Schule bis 1914 in: B A P 09.01/39498-39504. Deutsche Schule Barcelona, Bd. 1-7 (1894-1915). Vgl. im Überblick den v o m Schulverein herausgegebenen Bericht »zum dreissigjaehrigen Bestehen der deutschen Schule in Barcelona«. P A A A , R 62792. Kult V I B. Die deutschen Schulen im Ausland. Schul-S. 5 b, Spanien. Barcelona, Bd. 11 (1925). Vgl. auch die gründlich und mit bemerkenswert kritischer Distanz erarbeitete Festschrift: 100 Jahre Deutsche Schule Barcelona. C h r o n i k und Jahresbericht 1993-94, hrsg. vom Deutschen Schulverein, Barcelona 1994, S. 26-61.
2. Nationale Expansion und Regeneration
75
auf Druck der Reichsbehörden die Personalunion von Gemeindepfarrer und Schulleiter aufgegeben und ein formaljuristischer Trennungsstrich zwischen Presbyterium und Schulvorstand gezogen. 154 Drei Jahre später bezog die Schule ein erstes eigenes Schulhaus, das für 160 Schüler konzipiert war, aber wegen der rasch wachsenden Zahl von Aufnahmeantragen bereits 1908 erweitert werden mußte. 1911 richtete der Schulverein einen Kindergarten ein. Nachdem noch im gleichen Jahr die erste »Einjährigen-Freiwilligen-Prüfung« in Barcelona stattgefunden hatte, sprach die Reichsschulkommission Ende 1912 die formelle Anerkennung als Realschule aus. 1913 besuchten nach einem weiteren, vom Reich und aus deutschen Exportkreisen mitfinanzierten Ausbau des Schulhauses 338, vor allem deutsche (44 %) und spanische Schüler (29 %) die deutsche Schule. Wenige Monate vor Kriegsausbruch wurden dann auch in Barcelona auf Veranlassung des dortigen Generalkonsulats nach dem Vorbild Madrids erstmals deutsche Sprachkurse für Erwachsene angeboten. 155 Auch in einigen kleineren deutschen Kolonien in Spanien etablierten sich noch vor dem Ersten Weltkrieg deutsche Schulen. In Málaga, als Umschlagplatz der iberischen Süßweinproduktion eine Handelsmetropole und damals wie heute wegen seines milden Winterklimas geschätzt, nahm 1898 eine Mittelschule den Unterricht auf. 156 In Puerto Orotava auf der Kanareninsel Tenerife, die die deutschen Transatlantik-Schiffahrtslinien als Versorgungsstützpunkt anliefen, richteten die dort lebenden Deutschen 1908 eine Familienschule ein, die als Modell für weitere Gründungen in Valencia und Palma de Mallorca diente. 157 Das enorme spanische Interesse an deutscher Sprache, Bildung und Wissenschaft, wie es sich im starken Zustrom zu den deutschen Auslandsschulen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen niederschlug, stieß auf deutscher Seite auf wenig Gegenliebe. Die in Spanien lebenden Deutschen kapselten sich
154 O . BOEUTZ, Die deutsche Schule in Barcelona, in: SCHMIDT/BOELITZ, S. 37-55. 155 PAAA, R 63164. Kult VI B. Die deutschen Schulen im Ausland. Schul-S. 5 c. Sprachkurse für Ausländer im Ausland. Barcelona (1914-21). 156 Im Schuljahr 1913/14 besuchten 89 Schüler, unter ihnen 32 Deutsche und 37 Spanier die Schule. Zur Geschichte der Schule bis 1918: BAP 09.01/39513-39514. Deutsche Schule Málaga, Bd. 1-2 (1898-1911) und BÄK, R 57 neu/1135-2. Deutsche Schule Málaga. Undatierter Bericht des Schulleiters Wilhelm Koethke (1918). 157 BAP 09.01/39516. Deutsche Schule Puerto Orotava, Bd. 1 (1908-14), BAP 09.01/39515. Deutsche Schule Palma de Mallorca, Bd. 1 (1912-16).
»Moralische Eroberungen«?
76
abseits ihrer geschäftlichen Kontakte und des Umgangs mit Hausangestellten von ihrer Umgebung ab. O t t o Boelitz merkte dazu im Rückblick kritisch an: »Die Deutschen Spaniens sind [...] treffliche Deutsche geblieben [...] Aber man hielt sich ängstlich fern von jeder Berührung mit spanischen Kreisen [...] Das mag für die Erhaltung des Deutschtums des einzelnen förderlich gewesen sein, der kulturellen Beeinflussung des Landes mit allen Mitteln einer stark ausgeprägten, eigenartigen Kultur hat es nicht gedient«. Ebensowenig hatten sich die deutschen Schulen bis zum Kriegsausbruch trotz ihres hohen spanischen Schüleranteils als Zentren deutscher Kulturausstrahlung entwickelt: »[T]rotz der hohen Blüte, der sich die Anstalten zu erfreuen hatten, wurden die ihr tatsächlich zu Gebote stehenden Wirkungsmöglichkeiten nicht annähernd ausgenutzt. Schon die Anlehnung der spanischen Gebildeten an die deutschen Schulen [...] hätte die Wege für eindringliche kulturelle Arbeit weisen sollen [... Doch] man fürchtete offenbar die Konkurrenz, die man sich durch gute deutsche Schulung spanischer Kräfte heranziehen könnte, man stand einer Verbreitung deutscher Sprache und deutscher Kultur ablehnend gegenüber. So wurde auch der erste Versuch einer Ausdehnung der deutschen Schule in Barcelona durch Einrichtung von A b e n d kursen zur E r l e r n u n g der d e u t s c h e n S p r a c h e für E r w a c h s e ne in vielen deutschen Kreisen mit einem gewissen Mißtrauen betrachtet, obwohl man die großen Erfolge der 'Alliance française' - die außerordentlich rührig arbeitete - in allen Stadtteilen dieser internationalen Hafenstadt mit Händen greifen ,
158
konnte«. Aber auch in Deutschland selbst blieb in den Dekaden vor dem Ersten Weltkrieg das Interesse für Sprachen und Kulturen der Hispania im Rahmen der schulischen, beruflichen und akademischen Ausbildung und der wissenschaftlichen Forschung schwach entwickelt. D i e kulturell-literarische Spanienbegeisterung der R o m a n t i k mit ihrer dezidiert gallophoben, anti-aufklärerischen und anti-napoleonischen
Stoßrichtung,
die die Frühphase
der
deutschen
Hispanistik bestimmt hatte, war seit Mitte des 19. Jahrhunderts abgeebbt. Als antimodernistisches
Gegenmodell
taugte Spanien
katholischen Kreisen. Ansonsten erlebte die leyenda
nurmehr
in
reaktionär-
negra, das aus dem 16. bis
18. Jahrhundert tradierte Bild Spaniens als H o r t politischer Reaktion und religiöser Intoleranz, eine Renaissance. 1 5 9 158 BOELITZ, Deutschtum in Spanien, S. 13 f., 16. 159 Zur Genese der Hispanistik in Deutschland vgl. das diesem Thema gewidmete Heft der Zeitschrift Arbor 467/468, 1984. Darin vor allem: D. BRIESEMEISTER,
2. Nationale Expansion und Regeneration
77
Eine diese Stereotypen überwindende, fundierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Hispania entbehrte in Deutschland der obligaten geistigen und institutionellen Grundlagen. Unter dem breiten Dach der um die Jahrhundertwende an fast allen deutschen Universitäten etablierten Romanischen Philologie mit ihrer *totalisierende[n] Konzeption« führte die Hispanistik vor 1914 ein Schattendasein und blieb von einer eigenständigen Disziplin weit entfernt. 160 Daran änderten auch das Aufgebot und die grundlegenden Forschungen von Johannes Fastenrath, Hermann Tiemann, Hugo Schuchardt, des Hallenser Katalanistenkreises und anderer nichts. Maß aller Dinge für eine Hochschulkarriere im Bereich der Romanistik blieb im Kaiserreich die Galloromania mit ihrer von den Oberschichten in ganz Europa favorisierten Sprache, der kulturellen Autorität und dem machtpolitischen Status der
Grande
Nation. Die aus diesen Strukturen erwachsenen Defizite spitzte der Hamburger Romanist Bernhard Schädel 1916 wie folgt zu: »Beschränkung der r o m a n i s c h e n P h i l o l o g i e , d. h. Sprach- und Kulturwissenschaft, an unseren Universitäten auf Frankreich; Fehlen der spanischen und portugiesischen Lektoren an den Universitäten; Mängel des n e u p h i l o l o g i s c h e n S t u d i u m s , für das Spanien, Portugal und Südamerika nicht existiert, Einseitigkeit des Lehrbetriebs und Examens. Fehlen h ö h e r e r L e h r k r ä f t e f ü r Span i s c h und P o r t u g i e s i s c h an den Schulen. Fehlen dieses Lehrgegenstandes ebendaselbst. Unbekanntheit der spanischen und portugiesischen S p r a c h e und der zugehörigen Materien bei den Angehörigen der gebildeten Berufsstände«.161 Auch in den relevanten nicht-philologischen Disziplinen bildete die wissenschaftliche Beschäftigung mit spezifisch spanischen Sujets vor dem Ersten Weltkrieg eher eine Ausnahme. Einige Kunsthistoriker - namhaft zu machen Entre irracionalismo y ciencia. Los estudios hispánicos en Alemania durante el siglo XIX, S. 105-122; H. HINTERHÄUSER, La hispanística alemana y el siglo XIX, S. 135-142. Ferner: M. TLETZ (Hg.), Das Spanieninteresse im deutschen Sprachraum. Beiträge zur Geschichte der Hispanistik vor 1900, Frankfurt a. M. 1989. Eine Zusammenfassung mit Blick auf die weitere Geschichte des Fachs nach 1918 und zwischen 1933 und 1945 bei: BRÄUTIGAM, S. 15 ff. 160 Vgl. unter Bezugnahme auf Gustav Gröbers epochalen Grundriß der romanischen Philologie, Straßburg 1888-1906 den Essay von SIEBENMANN, passim. Zitat: S. 1061. 161 B. SCHÄDEL, Unsere kulturellen Beziehungen zu Südamerika vor und nach dem Kriege, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 10, 1916, Sp. 301-328. Zitiert nach: ANONYMUS [i.e. B. SCHÄDEL], Die deutschen Kulturbestrebungen in den spanisch-portugiesischen Ländern und der Hamburgische Ibero-amerikanische Verein [Nicht für die Öffentlichkeit bestimmt], Hamburg 1916, S. 12. Zu Schädel siehe unten, Kap. 3.1.1.
78
».Moralische Eroberungen«?
sind hier Carl Justi, Hugo Kehrer, August Liebmann Mayer und Julius MeierGraefe - widmeten sich der Malerei des Siglo de oro und dem Werk Goyas. 162 Nicht anders stand es um die historische Forschung. Aus der Epoche vor 1914 bleiben insgesamt wohl nicht mehr als eine Handvoll Namen mit bedeutenden Arbeiten zur spanischen Geschichte verbunden - Hermann Baumgarten, Gustav Diercks, Heinrich Finke, Konrad Haebler und Emil Hübner. Und auch die Archäologie war noch im wesentlichen auf Griechenland, Italien, Palästina und Ägypten fixiert.163 Allein der Numantia-Entdecker Adolf Schulten sorgte vor 1914 mit seinen Ausgrabungen auf der Iberischen Halbinsel für fachliches Aufsehen. Nach dem Ersten Weltkrieg avancierte er neben Heinrich Finke, Ludwig Pfandl, Karl Vossler und dem Paläontologen Hugo Obermaier zum wohl prominentesten deutschen Hispanisten in Spanien.164 Aus natur- und ingenieurwissenschaftlicher Perspektive reduzierte sich das deutsche Augenmerk abseits weniger individueller Kontakte zu international reputierten spanischen Wissenschaftlern wie Santiago Ramón y Cajal auf verfahrenstechnische Anwendungen deutscher Firmen in Spanien in den Sparten Chemie, Elektrotechnik und Bergbau. Eine Ausnahme bildete in diesem Zusammenhang nur die Kanareninsel Tenerife. Neben ihrer Bedeutung als Versorgungsstützpunkt für die deutsche Transatlantik-Schiffahrt bot sie dank des milden subtropischen Klimas rund um den 3.718 m hohen Pico de Teide günstige Standortbedingungen für die geophysikalische Forschung.165 1909 wurde dort im Auftrag der Internationalen
Kommission für
wissenschaftliche
Luftschiffahrt von deutschen Meteorologen ein Observatorium errichtet. Sein 162 Vgl. kritisch die germanozentrische und in ihrem sprachlichen Duktus der Vergangenheit verhaftete Darstellung von H. KEHRER, Deutschland in Spanien. Beziehung, Einfluß und Abhängigkeit, München 1953, S. 233 ff. Eine seiner früheren Arbeiten, Greco ah Gestalt des Manierismus (1939), hatte Kehrer nicht zufällig Franco - »glorioso liberador de Espana« - gewidmet. 163 Entgegen den frühen Gründungen der Deutschen Archäologischen Institute in Rom (1829), Athen (1875) und Kairo (1906) wurde ein Pendant in Madrid erst 1953 eingerichtet. 164 Vgl. A. SCHULTEN, Cincuenta y cinco años de investigación en España, Reus 1953. Zu Finke, Obermaier, Pfandl und Vossler siehe unten, Kap. 4.3., 5. und 6. 165 Vgl. M. ESPADAS BURGOS, El interés alemán por Canarias en vísperas de la Primera Guerra Mundial, in: R. FERNÁNDEZ (Hg.), Homenaje a Antonio Domínguez Ortiz, Madrid 1981, S. 745-756; DERS., Empresas científicas y penetración alemana en Canarias. El pleito del Hotel Taoro (1907-12), in: Anuario de Estudios Atlánticos 33, 1987, S. 221-235.
2. Nationale Expansion und Regeneration
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Betrieb war indes mehr von Konflikten mit den spanischen Behörden als von wissenschaftlicher Kooperation bestimmt. 1 6 6 Zu guter Letzt sei in Ermangelung anderer Anknüpfungspunkte noch das Kabel von Emden über Vigo (1897) nach Tenerife erwähnt, dessen Verlegung 1909 zum Abschluß kam und die Telegraphenverbindung mit Südamerika und den deutschen Kolonien in Westafrika, T o g o und Kamerun herstellte. 167 D i e intellektuelle Geringschätzung Spaniens und die vielfach aus Überheblichkeit geborene Unkenntnis der Iberischen Halbinsel in weiten Kreisen der gebildeten Öffentlichkeit schlugen sich vor dem Ersten Weltkrieg auch in Quantität und Qualität der wissenschaftlichen Spanienliteratur nieder: »Die Auswahl empfehlenswerter Bücher [über Spanien] in deutscher Sprache ist ziemlich beschränkt [...] Bei dem Versuch, einen Uberblick über die einschlägige Literatur zu geben, [kommt man] über eine Aufzählung von etwa 20 Titeln kaum ,. 168 hinaus«. »[In einigen Büchern] macht sich eine merkwürdige Verkennung der geistigen, vor allem der wissenschaftlichen Fähigkeiten der Spanier bemerkbar. Noch immer kann man lesen, daß man in Spanien den theoretischen Reiz wissenschaftlicher Probleme im ganzen noch nicht begriffen habe, daß sich der Spanier nicht zu dem selbstverleugnenden Fleiß des Forschers aufraffen und die Andacht zum Kleinen in wissenschaftlichen Arbeiten aufbringen kann«. 169 Diese Arroganz und das verbreitete Desinteresse an einem bilateralen kulturellen Dialog mit dem iberischen Kulturkreis karikierte Miguel de U n a m u n o , eine der wichtigsten geistigen Autoritäten Spaniens nach der Jahrhundertwende und intimer Kenner deutscher Literatur und Philosophie, in einer 1915 verfaßten und von Bitterkeit bestimmten Polemik: »Para el pueblo alemán el pueblo español no existe, sino a lo sumo como unos salvajes domesticados y de sangre caliente que viven tocando la guitarra y tomando el sol 166 Vgl. BAP 09.01/37976-37977. AA, Kunst und Wissenschaft Nr. 542 a. Errichtung einer wissenschaftlichen Station für Aerologie auf dem Pix von Teneriffa, sowie die Erforschung der Luft im Allgemeinen, Bd. 1-2 (1909-12). Bericht Hugo Hergesell vom 5.2.1912. Hergesell (1859-1938), Geophysiker und Meterologe, 1900-14 Professur in Straßburg, 1914-33 Direktor des Preußischen Aeronautischen Observatoriums Lindenberg, ab 1927 Präsident des Internationalen Komitees zur Erforschung der freien Atmosphäre. 167 Vgl. ESPADAS BURGOS, Alemania y España, S. 69 f. 168 A. DEMIANI, Bemerkungen zur Literatur über Spanien, in: Süddeutsche Monatshefte 1 4 , 1 9 1 7 , S. 421-438. Zitat: S. 421.
169 A. L. MAYER, Das geistige Leben [Spaniens], in: Ebda., S. 415-420. Zitat: S. 415.
».Moralische Eroberungen
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entre naranjos y limoneros. Y aún es mejor esta leyenda que la de los que nos toman a modo de ranas o conejillos de Indias de filología e investigaciones críticas«. 1 7 0
In überspitzter Form findet in diesen Sätzen die zeitgenössische Kritik an den Struktur- und Handlungsdefiziten deutscher Kulturpolitik zum Ausland, wie sie von Lamprecht oder Rohrbach am Vorabend des Ersten Weltkrieges formuliert wurde, exemplarische Bestätigung. Tatsächlich wurde die um 1890 einsetzende Expansion der deutschen Wirtschaft auf der Iberischen Halbinsel bis 1914 auch nicht ansatzweise durch eine zielgerichtete Kulturpolitik gegenüber und in Spanien flankiert - ganz im Gegensatz zu Frankreich, das gerade aus der Erkenntnis des Prestiges deutscher Wissenschaft und des rasch wachsenden deutsch-spanischen Handelsvolumens zur Sicherung seiner hegemonialen Stellung in der Region seine kulturpolitische Präsenz auf der Iberischen Halbinsel in der Dekade vor dem Ersten Weltkrieg massiv verstärkte. Die ersten französischen Schulen jenseits der Pyrenäen waren bereits 1856 in Madrid und 1858/59 in Barcelona eingerichtet worden. In Reaktion auf die antiklerikale Gesetzgebung der III. Republik verlegten dann eine Reihe französischer Orden ihren Sitz nach Spanien. Bis 1914 entstanden dort elf Sociétés françaises de bienfaisance. Parallel dazu etablierten sich in den größeren Städten Spaniens ein gutes Dutzend, zur Hälfte vom französischen Staat anerkannte Laienschulen.171 Umgekehrt wurde 1886 im Zuge der französischen Universitätsreform der erste, von Ernest Mérimée (1846-1924) besetzte Lehrstuhl für Hispanistik in Toulouse eingerichtet; 1896 folgten weitere an den Universitäten in Bordeaux, Montpellier und Paris. Ab 1894 respektive 1899 erschienen in Frankreich zwei hispanistische Fachperiodika - die Revue hispanique und der Bulletin hispanique. 1908 konstituierte sich in Toulouse die Union des étudiants français et espagnols, die in der Folge regelmäßig französische Literatur- und Sprachkurse in Burgos, Madrid, Oviedo, Salamanca, Valladolid und Zaragoza veranstaltete. Französische Professoren hielten im Austausch mit spanischen Kollegen Vorlesungen an spanischen Universitäten. 1909 wurde in Bordeaux unter der Ägide von Pierre Paris 170 171
M. de UNAMUNO, Obras completas. T o m o VU: Prólogos - Conferencias - Discursos, Madrid 1959, S. 350. A G A , 3.230. Asuntos exteriores. Relaciones culturales. Caja 1269. Enseñanza (1907-22). Aufstellung des MIP vom 5.10.1907. Zur französischen Schulpolitik in Spanien vor 1914 vgl. ÜELAUNAY, L'Espagne, un champ ouvert, S. 215 ff.
2. 'Nationale Expansion und Regeneration
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(1859-1931) die Ecole des hautes études hispaniques gegründet, Ende 1912 in Paris das Centre d'études franco-hispaniques.
U n d schließlich öffnete in Madrid am
29. März 1913 als Koordinationsstelle und Kristallisationspunkt der französischen Kulturpräsentation in Spanien das Institut français seine Tore. 172 Gegenüber dieser eindrucksvollen Bilanz blieb die deutsche auswärtige Kulturpolitik auf der Iberischen Halbinsel bis 1914 Ausdruck einer stark verengten Perspektive. Sie war nicht mehr als »kulturelle Deutschtumspflege«. Das Engagement amtlicher Stellen, von Exportwirtschaft und Auslandsvereinen beschränkte sich auf materielle und logistische Hilfe zur Verbesserung der Binnenstruktur der deutschen Kolonien in Spanien. Damit einhergehend sticht ein Manko hervor, auf das Paul Rohrbach 1912 verwiesen hatte - das offenkundig unterentwickelte »Kulturbewußtsein« vieler Deutscher, die Unfähigkeit »zur praktischen Propaganda für die deutsche Idee«, die »störende Schulmeistern« und der »Mangel an leichten Formen«. 173 Dieses gilt genauso für die in Spanien lebenden Deutschen wie die einschlägigen bildungsbürgerlichen Kreise im Reich. Hier wie dort war bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Tendenz zur selbstgefälligen Geringschätzung spanischer Kultur und Wissenschaft nur allzu verbreitet. Auf diese Weise wurde gerade auf der Iberischen Halbinsel - vor 1914 gab es wohl kaum eine andere Region in Europa, in der die Voraussetzungen für einen kulturpolitischen Dialog derart gut waren - die Gelegenheit einer stärkeren Selbstdarstellung und Einflußnahme des Reiches nicht genutzt. Wehmütig im Gedenken an die Erfolge der französischen Konkurrenz und mit besorgtem Blick in die Zukunft bilanzierte O t t o Boelitz 1917: 172 Zur Genese der französischen Hispanistik und ihrem politischen Beitrag zur »kulturellen Kolonisation« Spaniens vgl. J.-M. ÜELAUNAY, Des Palais en Espagne. L'Ecole des hautes études hispaniques et la Casa de Velázquez au cœur des relations franco-espagnoles du XXe siècle (1898-1979), Madrid 1994; A. NlÑO RODRÍGUEZ, Cultura y diplomacia: los hispanistas franceses y España. De 1875 a 1931, Madrid 1988, S. 71-208; P. AUBERT, L'influence idéologique et politique de la France en Espagne de la fin du XIXe siècle à la Première Guerre mondiale (1875-1918), in: España, Francia y la Comunidad Europea, Madrid 1989, S. 57-102. 173 ROHRBACH, Der deutsche Gedanke in der Welt, S. 225 f. Dazu bleibt ein Satz Rohrbachs bemerkenswert, der gerade mit Bezug auf Spanien bis heute nichts an Aktualität eingebüßt hat: »Ist es nötig, an die genierliche Erscheinung des deutschen Touristen zu erinnern, der herdenweise mit einem minimalen Anspruch an Toilette und mit einem unstillbaren Bedürfnis nach geräuschvoller Mitteilung seiner Erlebnisse in der Welt umherreist?«. Ebda., S. 215.
82
»Moralische Eroberungen*? »[Spanien] sehnt sich nach kultureller Befruchtung [... Wir Deutsche haben] bis heute fast völlig versagt [...], haben die aufrichtigen Sympathien der Spanier nur allzusehr an uns herankommen lassen, sind ihnen nie entgegengekommen und haben zum Teil in törichter Überhebung all die Mittel verschmäht, die nun einmal angewandt werden müssen, um im Leben der Völker die Atmosphäre besten gegenseitigen Verstehens zu schaffen [...] Man [kann] sich nur wundern, daß wir überhaupt noch von deutschem Einfluß in Spanien reden können«.
174 BOELITZ, Deutsche Kulturarbeit in Spanien, S. 179 f.
3. Revisionismus - Imperialismo del pobre - Vanguardia moral
83
3. Revisionismus - Imperialismo del pobre - Vanguardia moral. Der politisch-institutionelle Rahmen bis 1933 Der Erste Weltkrieg markierte in der Geschichte der deutsch-spanischen Beziehungen des 20. Jahrhunderts einen tiefen Einschnitt.1 Vier Tage nach der deutschen Kriegserklärung an Frankreich vom 3. August 1914 erklärte sich Spanien trotz seiner engen politischen und ökonomischen Beziehungen zur Entente offiziell für »strikt neutral«.2 Noch in der Julikrise war Madrid unter Mißachtung seiner vertraglichen Garantien von Großbritannien, Frankreich und auch vom Reich schlicht »ignoriert« worden.3 Nach der Eskalation der Krise im bewaffneten Konflikt richtete sich das Augenmerk der kriegführenden Mächte dagegen um so mehr auf das strategisch wichtige »Land hinter den Pyrenäen«. In diesen Jahren - so Salvador de Madariaga im Rückblick »[...] hat Spanien das Leben der Welt in einem Maß mitgelebt wie nie mehr seit dem 16. und 17. Jahrhundert, wo seine Staatsmänner, seine Generäle, seine Kirchenfürsten und seine Botschafter das erste Wort in den Angelegenheiten Europas führten [...] Madrid war die wichtigste neutrale Stadt Europas geworden«.
3.1. Die Hypothek des Ersten Weltkrieges Der deutschen Spanienpolitik ging es im Ersten Weltkrieg im Grundsatz darum, im Südwesten Europas eine zweite Front gegen Frankreich aufzubauen und Madrid unter Anwendung aller zur Verfügung stehenden Mittel zu einer Intervention oder zumindest wohlwollenden Haltung zugunsten der Mittelmächte zu drängen. Dieses Unterfangen erwies sich aber bald als das, was es von Anfang an war - als vollkommen aussichtslos. Wohl oder übel mußte man sich daher ab Ende 1915 in Berlin damit bescheiden, auf die Wahrung der Neutralität Spaniens hinzuwirken, wenigstens aber einen drohenden Kriegseintritt auf Seiten der Alliierten zu verhindern. Der bewaffnete Konflikt hatte auf der Iberischen Halbinsel eine Phase der forcierten Industrialisierung eingeläutet - und »der Wind der Prosperität weh1
2 3 4
V g l . CARDEN, S . 3 5 ff.; GELOS DE VAZ FERREIRA, S . 2 2 ff.; R Ü C H A R D T , S . 1 6 2 ff.
GM 7.8.1914. Ratifizierung der Neutralitätserklärung durch die Cortes am 5./8.11. 1914. BLEDSOE, Spanish Foreign Policy, S. 11. MADARIAGA, Spanien, S. 2 1 1 f.
84
»Moralische Eroberungen*?
te aus dem Westen«. 5 Derweil die Handelsbeziehungen mit Deutschland durch die englische Blockade und den Kriegseintritt Italiens seit 1915 praktisch vollständig unterbrochen waren, schloß die spanische Handelsbilanz dank der umfänglichen Kriegslieferungen an die Entente zwischen 1915 und 1919 - erstmals im 20. Jahrhundert - mit hohen Uberschüssen ab. In weniger als fünf Jahren konnten die Auslandsschulden des Landes fast vollständig getilgt werden. Fremdes Kapital wurde aus Bergbau und verarbeitender Industrie zurückgedrängt, das Eisenbahnnetz und die Energieversorgung nationalisiert. 6 Gleichzeitig wuchs Spanien immer enger in den Wirtschaftsverbund der Entente hinein und schloß zwischen Dezember 1917 und März 1918 Handelsabkommen mit den USA, England und Frankreich ab. Dem hatte die deutsche Diplomatie nurmehr vage Versprechungen für die Nachkriegszeit entgegenzusetzen. Geriet Spanien ökonomisch im Verlauf des Krieges beinahe unmittelbar in die Einflußsphäre seiner Handelspartner in Westeuropa, so konnte der außenpolitische Kurs der bis Dezember 1915 amtierenden konservativen Regierung unter Eduardo Dato im ganzen noch als deutschfreundlich gelten.7 Diese Haltung korrespondierte mit den anfänglichen militärischen Erfolgen der Mittelmächte. Vor allem aber spiegelte sich darin die Furcht der Restaurationspolitiker vor einer demokratischen oder gar revolutionären Umwälzung der zunehmend labilen politischen Lage im eigenen Land im Falle eines Sieges der Entente wider.8 Dazu wurde Alfonso XIII. von der deutschen Diplomatie
5
Ebda., S. 204.
6
V g l . G E L O S DE V A Z F E R R E I R A , S. 9 2 ff. W e n n VOLKMANN, S. 4 3 i n d i e s e m Z u -
sammenhang von einem »spanischen Wirtschaftswunder« spricht, verkürzt er damit die Perspektive. Tatsächlich handelte es sich um einen »kriegsbedingte[n] Prosperitätsschub«, der bereits 1917 von klaren Krisensymptomen überlagert wurde und nach dem Krieg in eine scharfe Rezession mündete. Vgl. BERNECKER, Sozialgeschichte, S. 235 f. 7
V g l . C A R D E N , S. 9 2 ff.
8
Während des Krieges spitzten sich die politischen und sozialen Konflikte in Spanien ungeachtet der kriegswirtschaftlichen Scheinblüte dramatisch zu. Sie kulminierten in der dreifachen Krise vom Sommer 1917 (Militärrevolte, katalanische Autonomieforderungen, revolutionärer Generalstreik), die einen vorläufigen Höhepunkt auf dem Weg zum Staatsstreich Primo de Riveras im September 1923 darstellte. Vgl. J. A. LACOMBA, La crisis española de 1917, Madrid 1970; G. A. MEAKER, A civil war of words. The ideological impact of the First World War on
3. Revisionismus - Imperialismo delpobre - Vanguardia moral
85
in seinen außenpolitischen Ambitionen bestärkt. Der spanische Monarch spekulierte, sein Land könne vom europäischen Krieg politisch profitieren und als vermittelnde Kraft seine 1898 definitiv eingebüßte Großmachtstellung wenigstens partiell wiedererlangen. Dieses bedeutete - nach den bitteren Erfahrungen der zurückliegenden Jahrhunderte - insbesondere die »Emanzipation [...] von der Vormundschaft der Entente«.9 Strategische Überlegungen dieser Art traten mit dem Amtsantritt des liberalen und dezidiert frankophilen Ministerpräsidenten Romanones am 9. Dezember 1915 in den Hintergrund. Bis 1918 wandelte sich die strikte politische Neutralität Spaniens unter dem Eindruck des für das Reich ungünstigen Kriegsverlaufs, zunehmender Spannungen infolge des Anfang Februar 1917 begonnenen uneingeschränkten U-Bootkrieges, in dem über 20 % der spanischen Handelsflotte von deutschen Einheiten versenkt wurden, und dem wachsenden diplomatischen und wirtschaftlichen Druck der Entente zu einer wohlwollenden Neutralität zugunsten der Westmächte. Seit dem Frühjahr 1918 schließlich wurden in Anbetracht des sich immer klarer abzeichnenden Sieges der Entente aus Madrid in zunehmend schärferem Ton Entschädigungsforderungen für die durch den Unterwasserkrieg verursachten Verluste geltend gemacht, die die deutsche Seite zu begleichen weder gewillt noch in der Lage war. Spanien war zum »neutralen Alliierten« geworden.10 In wie hohem Maße die Neutralitätserklärung vom August 1914 ein Gebot und Ausdruck der innenpolitischen Antagonismen in Spanien war, offenbarte der von den Zeitgenossen öffentlich und mit harten Bandagen ausgefochtene politische Richtungsstreit, in dem sich die historische gesellschaftliche Spaltung des Landes widerspiegelte: »Auf der einen Seite stand das nationalistisch-konservative, ländlich-katholische, autoritär-monarchistische, auf der anderen das progressiv-weltbürgerliche, urbanantiklerikale, liberal-republikanische Spanien«.11 Während die sich aus dem konservativ-klerikalen Lager rekrutierenden germanofilos - Politiker der Rechtsparteien, der Episkopat, die GroßgrundbesitSpain, 1914-1918, in: H. A. SCHMITT (Hg.), Neutral Europe between war and revolution 1917-1923, Charlottesville, Virg. 1988, S. 1-65. 9 10
11
GELOS DE VAZ FERREIRA, S. 124. CARDEN, S. 2 8 3 .
W. L. BERNECKER, Geschichte Spaniens seit dem Bürgerkrieg, München J1988, S. 14.
86
».Moralische Eroberungen
zerkaste und der überwiegende Teil des Militärs - mit Deutschland sympathisierten, identifizierten sich progressive Kräfte, die aliadofilos - Politiker der liberalen Parteien, die Republikaner, Sozialisten und Syndikalisten - offen mit der Entente. 12 Letzten Endes geriet die Parteinahme für oder gegen die Mittelmächte zur Entscheidung zwischen monarchischer Ordnung und demokratischer Republik: »[GJenau gesprochen [gab es] in Spanien weder Deutschenfreunde noch Anhänger der Verbündeten [...], sondern nur geistige und Gefühlshaltungen gegenüber nationalen, geschichtlichen und philosophischen Problemen, die von den beiden zur Hand liegenden und volkstümlichen Etiketten mehr oder weniger gedeckt wurden [...] Im Grunde war es eine Auseinandersetzung zwischen den liberalen und den au_ 13 toritaren Temperamenten«. In diesem Augenblick, als die Zeitläufte zu einem öffentlichen, ideologischpolitischen Glaubensbekenntnis zwangen, zeigte sich, daß die kulturelle Germanophilie im Kreis der liberalen spanischen Intellektuellen, die die öffentliche Polemik um eine Parteinahme für die eine oder andere Seite maßgeblich bestimmten, sich keineswegs mit einer Befürwortung der politischen
und
sozialen Ordnung, die das Kaiserreich in der Auseinandersetzung mit Frankreich und Großbritannien verkörperte, deckte. 14 So blieb die entschiedene Parteinahme für das Reich - etwa aus der Feder von Jacinto Benavente und Pio Baroja - im Kreis der aufgeklärten spanischen Intelligenz die Ausnahme. Gerade »die 'germanisierenden' Stipendiaten der krausistischen Institutionen hatten meist eine linke politische Orientierung«: 15 »[Sie] fühlten viel mehr Sympathie für deutsche als für französische Kultur, Philosophie und Literatur. Mancher von ihnen hatte seinem Gefühl Gewalt anzutun, weil es ihn drängte, die Sache Deutschlands zur eigenen zu machen. Aber die Vernunft wies ihm den anderen Weg, selbst wenn er an die besten Interessen Deutschlands dachte. Für viele bedeutete das offene Eintreten für die Sache der Westmächte
12
Vgl. ALBES, S. 69 ff.; F. DÍAZ-PLAJA, Francófilos y Germanófilos. Los españoles en la guerra europea, Barcelona 1973, S. 13 ff.; P. LONGARES ALONSO, Germanófilos y aliadófilos españoles en la I Guerra Mundial, in: Tiempo de Historia 21, 1976, S.
13
MADARIAGA, Spanien, S. 203 f.
34-45.
14 15
Vgl. J.-L. ABELLÁN, Historia crítica del pensamiento español, Bd. V, 3: La Crisis contemporánea DI. De la Gran Guerra a la Guerra Civil Española (1914-1939), Madrid 1991, S. 93 ff.
KRAUSS, Idealismus, S. 20.
3. Revisionismus - Imperialismo del pobre - Vanguardia moral
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ein schmerzliches Opfer von Freundschaften und Erinnnerungen aus ihren Studententagen jenseits des Rheins«.
Ausdruck dieses »wahrhaft schizophrenen Widerspruchs« zwischen innerer kultureller Verbundenheit mit Deutschland und politischer Option für die bürgerlich-liberale Demokratie nach französischem und englischem Vorbild waren aus der historischen Distanz beinahe elegisch anmutende Kommentare germanophiler und zugleich liberaler spanischer Intellektueller wie José Ortega y Gasset: »Para convencernos de que la fuerza es la fuerza no era menester que se tomara Alemania tanto trabajo; más digno de ella, de su profunda tradición hubiera sido que nos enseñase, no a temer, sino a respetar jurídicamente la fuerza«. 17
Unterdessen erlangte mit der Agonie der militärischen Operationen in ebenso verlustreichen wie ergebnisarmen Stellungsgefechten die psychologische Kriegsführung, die propagandistische Einwirkung auf die öffentliche Meinung des verbündeten, neutralen und feindlichen Auslandes, im Ersten Weltkrieg ein bis dato unbekanntes Gewicht. Dabei geriet Spanien zu einem der meist umkämpften Schauplätze der rivalisierenden Aktivitäten der kriegführenden Mächte.18 Die Organisation ihrer Auslandspropaganda gestaltete sich nicht einheitlich. Für die deutsche Seite wurde zu Recht konstatiert, daß »chaotische Verhältnisse« herrschten »mit einem permanenten Neben-, Durch- und Gegeneinander amtlicher, halbamtlicher und privater Institutionen, mit ständigen Reorganisationen, mit unklaren und sich überschneidenden Kompetenzen«.19
Ein gemeinsames Signum der Auslandspropaganda der Kriegsparteien war die konsequente Einbindung ihrer Gesandtschaften und der am Ort lebenden 16
MADARIAGA, Spanien, S. 204.
17 18
ESPADAS BURGOS, Alemania y España, S. 78 f. Zitat Onega y Gasset: Ebda., S. 79. Vgl. P. AUBERT, La propagande étrangère en Espagne pendant la Première Guerre Mondiale, in: Españoles y franceses, S. 357-411; J.-M. DELAUNAY, L'action diplomatique des pays belligérents en direction de l'opinion publique espagnole durant la Première Guerre Mondiale, in: Opinion publique et politique extérieure, Bd. II, S. 229-234; J. LONGARES ALONSO, La 'guerra de propagandas' en España 19141918, in: Tiempo de Historia 33, 1977, S. 86-99. P. GRUPP, Voraussetzungen und Praxis deutscher amtlicher Kulturpropaganda in den neutralen Staaten während des Ersten Weltkrieges, in: W. MLCHALKA (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung - Wahrnehmung - Analyse, München 1994, S. 799824, Zitat: S. 804.
19
»Moralische Eroberungen«t
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Landsleute. Stand doch im Mittelpunkt des Ringens um die öffentliche Meinung des Auslandes die massive Beeinflussung seiner Presse durch Verbreitung vorgefaßter Artikel, die politische Indoktrination ihrer Auslandskorrespondenten und die gezielte finanzielle Subventionierung, verdeckte Übernahme oder gar Neugründung ganzer Zeitungen. In dieser Situation erreichte die Tradition deutscher Presselenkung in Spanien20 einen vorläufigen Höhepunkt. Im Wettlauf mit den diplomatischen Vertretungen der Ententestaaten machten sich der Botschafter in Madrid, Prinz von Ratibor und Corvey, und sein Stab die desolate finanzielle Lage der spanischen Zeitungsverlage zunutze. Unter Anwendung des genannten Maßnahmenkatalogs versuchten sie auf eine Reihe von Blättern unterschiedlicher Ausrichtung politischen Druck auszuüben und damit den »Krieg ohne Waffen« für das Reich zu entscheiden.21 Diese hemmungslose Korrumpierung der veröffentlichten Meinung gipfelte in gezielt lancierten Pressekampagnen gegen führende spanische Politiker wie den Conde de Romanones, die sich als entschiedene Parteigänger der Entente bekannt hatten.22 Logistisch unterstützt und ergänzt wurde die Propagandaarbeit der Botschaft von der am 5. Oktober 1914 im AA eingerichteten Zentralstelle für
20
21
22
Vgl. ALBES, S. 47 ff.; L. ALVAREZ GUTIÉRREZ, La influencia alemana en la prensa española de la Restauración, in: La prensa de la Revolución liberal: España, Portugal y América Latina, Madrid 1983, S. 373-389; DERS., Intentos alemanes para contrarrestar la influencia francesa sobre la opinión pública española en los años precedentes a la Primera Guerra Mundial, in: Españoles y franceses, S. 1-21. Vgl. ALBES, S. 125 ff. Zu den personellen und programmatischen Kontinuitäten in der Propagandapraxis der Jahre 1939 bis 1945 vgl. O . DANKELMANN, Der faschistische 'Große Plan'. Zur Propagandatätigkeit des deutschen Imperialismus in Spanien während des 2. Weltkrieges, in: ZfG 17, 1969, Heft 5, S. 601 ff.; M. FRANZBACH, Deutsche Feindpropaganda nach Spanien und Lateinamerika im I. und N. Weltkrieg, in: Iberoamericana 14, 1990, Nr. 1 (39), S. 26-31. Romanones war mit der Veröffentlichung seines berühmten Artikels »Neutralidades que matan« im Diario Universal vom 19.8.1914 und seiner prowestlichen Politik als Regierungschef zum vermeintlich gefährlichsten Gegner der Mittelmächte in der spanischen Politik geworden. Zum von Ratibor um die Jahreswende 1916/17 gegen den Ministerpräsidenten entfesselten Pressefeldzug vgl. aus der Sicht des betroffenen Conde de ROMANONES, Las responsabilidades del antiguo régimen 1875-1923, Madrid 1924, S. 84 ff. Aus historisch-kritischer Perspektive vgl. ALBES, S. 258 ff.; J. L. MARTÍNEZ SANZ, El enfrentamiento RomanonesRatibor, in: Hispania 154, 1983, S. 401-428; RÜCHARDT, S. 199 f.
3. Revisionismus Auslandsdienst11, und portugiesischer
- Imperialismo
del pobre - Vanguardia
dem Frankfurter Nachrichtendienst Zunge, dem Deutschen
sowie aus deutschen Koloniekreisen.
24
89
moral für die Länder
Überseedienst,
spanischer
der Transocean
GmbH
In Barcelona gründete der umtriebige
Spaniendeutsche August H . Hofer zur Unterwanderung des Nachrichtenmonopols der französischen Havas und ihrer spanischen Tochter Fabra Ende 1914 eine eigene Presseagentur - den Deutschen Nachrichtendienst
für Spanien}5
Mit
finanzieller Unterstützung des AA, deutscher Koloniemitglieder und Firmen in Spanien entfalteten dieser Dienst und sein - weniger bedeutendes - Pendant in Madrid ein breites Spektrum propagandistischer Aktivitäten. In der täglich erscheinenden Correspondencia
Alemana
wurden deutsche Funk- und Presse-
meldungen zusammengefaßt. Im Frühjahr 1915 gründete Hofer die halbmonatlich erscheinende Germania.
Revista de Confraternidad
1916 erschienen die zweisprachigen Zeitungen Deutsche na und Deutsche Zeitung für Spanien/Revista
Alemana
hispano-alemana, Warte/Atalaya
de España.
ab Alema-
Dazu lieferte
der Nachrichtendienst Tagesberichte zur politischen Lage in Spanien nach Deutschland und verbreitete vor Ort eine Flut propagandistischer Flugblätter und Druckschriften. 2 6 Ihren wohl spektakulärsten Propagandacoup landeten Ratibor und Hofer im O k t o b e r 1916 mit der Drucklegung einer Sympathiekundgebung spanischer germanófilos
- der berühmten Amistad
hispano
alemana.
D e r bis nach
Südamerika verbreitete Band dokumentierte das Echo auf einen von der
23
24
25
Zur ZfA vgl. J. WLLKE, Deutsche Auslandspropaganda im Ersten Weltkrieg: Die Zentralstelle für Auslandsdienst, in: S. QUANDT/H. SCHICHTEL (Hgg.), Der Erste Weltkrieg als Kommunikationsereignis, Gießen 1993, S. 95-157. Für eine eingehende Darstellung der in die Kriegspropaganda in Spanien involvierten deutschen Institutionen (Aufbau, Strategie, Propagandamittel und -praktiken, Kompetenzkonflikte) vgl. ALBES, S. 85 ff. Der aus Göttingen stammende Hofer lebte seit 1906 als Geschäftsführer einer deutschen Schriftgießerei in Barcelona. Seine Initiative zur Gründung des Deutschen Nachrichtendienstes für Spanien reicht bis ins Jahr 1912 zurück. Daneben war Hofer maßgeblich am Aufbau der im Oktober 1917 eingerichteten Deutschen Wirtschaftlichen Vereinigung für Spanien beteiligt. Vgl. DERS., Deutschtum in Spanien. Der Deutsche Nachrichtendienst für Spanien in Barcelona. Geschichte seiner Gründung und seiner Entwicklung bis zur Ubergabe an die Kaiserliche Deutsche Botschaft in Madrid (August 1914 bis zum 31. Dezember 1917), Barcelona 1918; ALBES, S. 134 ff.
26
BAP 09.01/832. AA. ZfA. H X m . Spanien. Wirtschaftliches, militärisches und politisches, Bd. 1 (1917). Undatierte Berichte Hofer.
»Moralische Eroberungen*?
90
Botschaft lancierten Aufruf und eine Unterschriftenaktion in der unter deutscher Kontrolle stehenden Madrider Tageszeitung La Tribuna vom 18. Dezember 1915 bis Anfang Februar 1916. 27 In Reprise auf eine am 9. Juli 1915 publizierte ententefreundliche Deklaration 2 8 bekundeten dort mehr als 13.000 Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft ihr Faible für die deutsche Kultur.
Die Reaktion der aliadofilos
ließ nicht lange auf sich war-
ten. Kurz darauf veröffentlichten sie ihrerseits ein drittes Manifest, das erneut mit prominenten Namen - unter ihnen Manuel Azana, Gumersindo de Azcarate, Americo Castro, Miguel de Unamuno, Antonio und Manuel Machado - aufwartete. 30
3.1.1.
Kulturpolitische
Paralyse - Kulturpolitische
Offensive
Die deutsche Propaganda auf der Iberischen Halbinsel konnte abseits punktueller Erfolge die spanische Haltung im Krieg nicht entscheidend beeinflussen. 31 Gleichwohl wirkten öffentliche Sympathiekundgebungen wie die Amistad pano alemana
his-
angesichts des scheinbar unaufhaltsamen Verfalls des internatio-
nalen Ansehens des Reiches wie Balsam auf die strapazierte deutsche Seele. 32 Hinter den Bekenntnissen der germanofilos
stand allerdings eine von den
Zeitgenossen in Deutschland verdrängte, aus historischer Perspektive aber klar hervortretende kulturpolitische Kurskorrektur. Nach Kriegsausbruch rückte
27 28
29
Cómo se piensa en España. El manifiesto germanófilo, in: La Tribuna vom 18.12. 1915. Palabras de algunos Españoles, in: España vom 9.7.1915. Dem im Bulletin Hispanique 7, 1915, S. 227-228 reproduzierten Manifest schlössen sich rund 750 spanische Intellektuelle an. Vgl. DELAUNAY, Des palais en Espagne, S. 100. Amistad hispano germana, Barcelona 1916 (Auflage: 30.000) erschien mit einem Vorwort von Jacinto Benavente (1866-1954), in dem der 1922 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Dramatiker in der typischen Manier des germanophilen spanischen Intellektuellen seine »profunde Anerkennung der Großartigkeit der deutschen Wissenschaft und ihres gewaltigen Beitrags zum Fortschritt der Menschheit« bek u n d e t e . A b d r u c k bei: DÍAZ-PLAJA, S. 3 3 9 ff. V g l . ALBES, S. 2 1 5 f.
30
Zum politischen Nachhall des Guerra de manifiestos in den deutsch-spanischen Beziehungen nach 1918 siehe unten, Kap. 3.4. und 6.1.1.
31
V g l . ALBES, S. 3 8 8 ff.
32
Vgl. A. DEMIANI, Zur deutsch-spanischen Freundschaft, in: Süddeutsche Monatshefte 14,1917, S. 355-377; hier: S. 366 f.
3. Revisionismus
- Imperialismo
del pobre - Vanguardia moral
91
das Reich unversehens aus dem Zentrum an die Peripherie der auswärtigen Kulturbeziehungen Spaniens. Elf Tage nach der Neutralitätserklärung vom 7. August 1914 widerrief der konservative Kulturminister Francisco Bergamin y Garcia per Erlaß sämtliche Stipendienzusagen für das europäische Ausland und forderte die Stipendiaten der JAE zur sofortigen Rückkkehr nach Spanien auf.33 Selbst die Entsendung spanischer Repetitoren an französische Schulen wurde vorübergehend unterbrochen und - nach dem Kriegseintritt Italiens - auch das Archäologische Institut in Rom geschlossen.34 Erst ab Herbst 1915 vergab die JAE wieder Forschungsstipendien für Studienaufenthalte im europäischen Ausland - allerdings nur für neutrale Staaten und in deutlich reduziertem Umfang: Jahr 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919
Stip sndien Anträge 609 553 224 169 174 110 267
Zusagen 110 28 20 35 22 25 10
Quelle: JAE, Memorias 1914-1919. An die Stelle der kriegführenden europäischen Staaten traten nun die Schweiz und die USA, die auch nach ihrem Kriegseintritt das bevorzugte Ziel der Stipendiaten blieben.35 Die mit der Kürzung des Stipendienprogramms freigesetzten Finanzmittel investierte die JAE in den zügigen Auf- und Ausbau ihrer Institute in Spanien und forcierte mit der Eröffnung eines spanischen Kulturinstituts in Buenos Aires im August 1914 ihre kulturpolitische Offensive in Hispanoamerika.36
33 34 35 36
Real Orden de 18.8.1914, GM 19.8.1914. JAE, Memoria correspondiente a los años 1914 y 1915, Madrid 1916, S. 9 f., 20 ff. Id. 1916 y 1917, Madrid 1918, S. XI, 3 f. Siehe die Aufstellung im Anhang, Tab 3. Vgl. J. FORMENTÍN IBÁÑEZ/J. M. VILLEGAS SANZ, Relaciones culturales entre España y América. La Junta para Ampliación de Estudios (1907-1936), Madrid 1992. JAE, Memoria 1914/15, S. 11 f.
»Moralische Eroberungen«?
92
In den Beziehungen zu Frankreich und Großbritannien allerdings revidierte die J A E im weiteren Verlauf des Krieges ihre Zurückhaltung. Zwar wurden nach wie vor deutlich weniger Forschungsstipendien für diese Länder vergeben; auf anderer Ebene aber gestaltete sich der kulturpolitische Dialog bald fruchtbarer denn je. Ein politisches Lehrstück lieferte in diesem Zusammenhang einmal mehr Frankreich ab, das ab Ende 1915 - mit seiner Hispanistenzunft in vorderster Linie - eine breit angelegte Kulturoffensive in Spanien startete. Als deren Schrittmacher fungierte das Institut français
in Madrid,
dessen landesweiter Veranstaltungskalender sich immer dichter gestaltete. Dazu kam es auf französische Anregung im Frühjahr und Herbst 1916 zu Konsultationen hochkarätig besetzter Abordnungen mit Repräsentanten aus Politik, Wissenschaft, Kultur und Kunst beider Länder. Dabei beließen es die Verhandlungsdelegationen nicht bei den vielfach üblichen höflichen Willenskundgebungen mit vagem Blick auf einen künftig zu vertiefenden Kulturdialog. Man traf konkrete Vereinbarungen und setzte diese auch prompt um. Im Januar 1917 konstituierte sich die Liga Antigermanófila. das Comité de Rapprochement
Franco-Espagnol
gleichen Jahr schlössen das Institut français
Im Juli 1917 wurde
ins Leben gerufen. 37 Noch im
und die J A E ein Abkommen über
den regelmäßigen Austausch von Professoren, das bis zum Ende des Krieges eine ganze Reihe französischer Wissenschaftler zu Vorlesungen, Übungen und Vorträgen nach Spanien lockte. 38 Und auch die Entsendung spanischer Repetitoren nach Frankreich wurde wieder aufgenommen. Uber die politische Stoßrichtung dieser Unternehmungen konnte kein Zweifel bestehen. Frankreich bekundete seinen zivilisatorischen Rang und untermauerte mit den Kontakten zur intellektuellen Avantgarde im südlichen Nachbarland seinen moralischen Anspruch, mit dem es den Krieg gegen die Mittelmächte führte. Und die liberale spanische Fraktion ergriff abseits der offiziell verordneten Neutralität politisch Partei für die Sache der Entente. Mit Abstrichen galt dies auch für Großbritannien. Dorthin reiste im Sommer 1917 José Castillejo zu einer Vortragsreise. In Leeds wirkte der Sekretär der J A E an der Einrichtung eines Spanischlehrstuhls mit, derweil an mehreren englischen 37
38
Vgl. Bulletin Hispanique 8, 1916, S. 155-176; Id. 9, 1917, S. 26-42. Breite Darstellung und kritische Analyse bei: DELAUNAY, Des palais en Espagne, S. 101 ff.; NIÑO RODRÍGUEZ, Cultura y diplomacia, S. 309-341. Aus zeitgenössischer Perspektive vgl. Mitteilungen aus Spanien 2, 1918, S. 92 f., 159; RÜHLMANN, S. 49-64. J A E , Memoria 1916/17, S. XVI, 191 f.
3. Revisionismus - Imperialismo del pobre - Vanguardia moral
93
Universitäten im Rahmen einer Reform der Neuphilologien die Hispanistik zu Lasten der Germanistik ausgebaut wurde.39 Dagegen hielt die JAE an ihrer Stornierung der kulturpolitischen Kontakte zum Reich bis Kriegsende konsequent fest. War die Entsendung von Stipendiaten an die vormals hochgeschätzten deutschen Hochschulen ohnehin per Dekret untersagt, lähmten die englische Blockade und der Kriegseintritt Italiens nun auch private Forschungsreisen und den Austausch wissenschaftlicher Literatur. Der rapide Prestigeverlust Deutschlands offenbarte sich nicht zuletzt im Frühjahr 1917 aus Anlaß einer vom Kriegspresseamt der OHL finanzierten, vordergründig rein wissenschaftlichen Vortragsreihe in Barcelona. Sie stieß im Gegensatz zu dem breitgefächerten Veranstaltungskalender des Institut français Publikums.
in Madrid auf nur sehr mäßiges Interesse des spanischen
Nicht anders erging es dem im Dezember 1916 gegründeten
Comité d'amies de Germania in Barcelona, einem Zusammenschluß germanophiler Intellektueller, und der ebendort im Frühjahr 1918 ins Leben gerufenen Deutsch-Spanischen Gesellschaft, die kaum Offentlichkeitswirkung zu entfalten vermochten.41 Damit standen die auswärtigen Kulturbeziehungen Spaniens zwischen 1914 und 1918 ganz unter dem Eindruck der politischen Entfremdung vom kriegführenden Deutschland, dem handelspolitischen Anschluß und der Harmonisierung der diplomatischen Beziehungen zur Entente. Umgekehrt hatten die spanische Neutralitätserklärung und die öffentlichen Sympathiekundgebungen der germanâfilos an der »Heimatfront« im Reich eine unverkennbar katalysatorische Wirkung: »Das Interesse für Spanien hat sich bei uns wieder neu gehoben, [...] man wünscht und plant engeren geistigen und materiellen Verkehr, man will über Spanien die Brücke schlagen nach Lateinamerika«.42 39 40
41 42
Ebda., S. 75 f. Als erstes Fachorgan erschien 1923 in Liverpool das Bulletin of Spanish Studies. Veranstaltungskalender in: Mitteilungen aus Spanien 1, 1917, S. 32 f. In zeitgenössischen Schilderungen wurde die Publikumswirkung der Vortragsreihe aus naheliegenden Gründen maßlos übertrieben. Vgl. D. WESTERMANN, Deutsch-spanische Friedensarbeit während des Krieges, in: Spanien 1, 1919, S. 241-248. Mitteilungen aus Spanien 2, 1918, S. 286. Gründungsmanifest in: Spanien 2, 1920, S. 77 f. H. FlNKE, Wesen und Wandlungen in der spanischen Politik, in: Mitteilungen aus Spanien 2, 1918, S. 161-179, Zitat: S. 163.
»Moralische Eroberungen
94
Dieser Satz spiegelt nicht die verbreitete platte Rhetorik der Kriegspublizistik oder die hartnäckige Wirklichkeitsverleugnung vieler Zeitgenossen wider. Denn in der Tat fanden sich in Erwiderung des deutschfreundlichen Manifests von 1915 in einer Reihe deutscher Städte bildungs- und handelsbürgerliche Vereinigungen zusammen, die sich der allgemeinen Pflege und Förderung der kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zum »ritterlichste[n] Land der Welt« verschrieben. 43 Nachdem am 4. Juni 1917 in Frankfurt eine Reichsarbeitsgemeinschaft mit Vorort Hamburg ins Leben gerufen worden war 44 , verständigten sich die Regionalvertreter in einer Sitzung des Hauptausschusses am 13. Januar 1918 auf die Gründung einer gemeinsamen Dachorganisation, den Verband Deutschland-Spanien,
der gegen Ende des Krieges mehr als 2.500
Mitglieder zählte. 45 Dazu war in Anlehnung an den V D S und unter Mitwirkung des A A am 15. Dezember 1917 der Deutsche
Gelehrtenausschuss
für
Spa-
nien gegründet worden - eine »interlokale akademische Körperschaft«, die den Austausch
von
Professoren,
Lektoren,
Studenten
und
wissenschaftlicher
Literatur mit Spanien anzubahnen und nach Kriegsende wissenschaftliche Institute in Madrid und Barcelona zu eröffnen beabsichtigte. 46 Auf anderem Gebiet wurde das preußische Kultusministerium aktiv. Dort hatten im Frühjahr 1916 Planungen einer
»weltpolitisch-staatsbürgerlichen
Bildungsaufgaben« verpflichteten Modernisierung der Hochschulen des Lan43
44
45 46
A. S C H U L T E N , Spanien und Deutschland, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 10, 1916, S. 804-852, Zitat: S. 852. Den Anfang machte am 29.12.1915 die Deutsch-spanische Vereinigung in Stuttgart. Vgl. A L B E S , S. 244. Bis 1918 entstanden weitere Vereinigungen in Aachen, Berlin, Dresden, Essen, Frankfurt a. M., Göppingen, Hamburg, Karlsruhe, Köln, Leipzig, München und Pforzheim. PAAA, R 64850. Kult VI B. Kunst und Wissenschaft Nr. 569. Kulturpropaganda Spaniens und deutsche Kulturpropaganda in Spanien, Bd. 1 (1920-26). Schreiben Schädel an das AA vom 19.1.1920, Anlage 2. Vgl. BAP, 09.01/6547. AA, HaPol II w. Spanien Nr. 1. Handel mit Spanien, Bd. 106 (191519). Aufzeichnung vom 19.10.1916. BAP, 1 5 . 0 1 / 5 3 0 4 . RAI. Abt. IV. Handelssachen. Spanien. Die deutsch-spanischen Wirtschaftsverbände, Bd. 1 ( 1 9 1 7 ) . Schreiben des Vorsitzenden, Leo Gans, an das RAI vom 7 . 6 . 1 9 1 7 . Vgl. Mitteilungen aus Spanien 1 , 1 9 1 7 , S. 4 4 f.; K L O O S T E R H U I S , Friedliche Imperialisten, S. 810 f. Mitteilungen aus Spanien 2, 1918, S. 32; PAAA, R 64850. Schreiben Schädel vom 19.1.1920, Anlage 5. VDS-Satzung vom 13.1.1918. Mitgliederstatistik: Anlage 2, S. 1. Ebda., S. 2 f.; Mitteilungen aus Spanien 2, 1918, S. 61 f. Prominente Mitglieder waren u.a. Bernhard Schädel, Heinrich Finke, Konrad Haebler, August L. Mayer und Adolf Schulten.
3. Revisionismus
- Imperialismo
delpobre
- Vanguardia
moral
95
des, die bis in die Vorkriegszeit zurückreichten, neue Aktualität erlangt. 47 Aus der gerade in jüngster Zeit bitter gewonnenen Erfahrung der »erschreckendfen] Unkenntnis des ausländischen Denkens« in Deutschland wurde eine umfassende Reform der Lehrpläne im Sinne einer Vertiefung der »außenpolitischen Bildung«, eines breitgefächerten, nach Kulturkreisen differenzierenden auslandskundlichen Studiums abgeleitet. 48 Mittelbar sollte diese Erziehung zum »Weltvolk« auch zur methodischen und inhaltlichen Konsolidierung deutscher Kulturpolitik im Ausland beitragen. 49 Dem leitenden Gedanken einer dezentralen, auf verschiedene Kulturkreise ausgerichteten Aufgabenverteilung folgend, wurde für die Romania die auf diesem Gebiet traditionsreiche Universität Bonn ausersehen und in einem ersten Schritt 1917 ein spanisches Lektorat eingerichtet. 50 Unter der Ägide der Ordinarien des Romanischen Seminars, Wilhelm Meyer-Lübke und in seiner Nachfolge Ernst Robert Curtius, entwikkelte sich Bonn bald zu einem Zentrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Sprache und Kultur der Hispania. 51 47
48
49
50 51
Treibende Kraft war der Leiter der Hochschulabteilung im preußischen KM, MinDir Friedrich Schmidt-Ott (1860-1956), 1917/18 preußischer KM und von 1920-1934 Präsident der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft. Zur außen-, kultur- und wissenschaftspolitischen Dimension dieser Aktivitäten vgl. G. MÜLLER, Weltpolitische Bildung und akademische Reform: Carl Heinrich Beckers Wissenschafts- und Hochschulpolitik 1908-1930, Köln [u.a.] 1991, S. 142 ff. Zu den Vorläufern vgl. KLOOSTERHUIS, Friedliche Imperialisten, S. 43 ff. Die Grundidee einer Gliederung der künftigen akademischen Ausbildung nach Kulturkreisen ging auf Eduard Spranger zurück, der auf Vorschlag von SchmidtOtt im April 1916 eine entsprechende Denkschrift für das preußische KM verfaßt hatte. Vgl. ebda., S. 172 ff.; G. SCHREIBER, Auslandsbeziehungen der deutschen Wissenschaft, in: Aus fünfzig Jahren deutscher Wissenschaft. Festschrift für Friedrich Schmidt-Ott, hrsg. v. G. ABB, Berlin 1930, S. 9-21, hier: S. 17; DERS., Deutschland und Spanien, S. 2 ff. C. H. BECKER, Denkschrift über die Förderung der Auslandsstudien vom 24.1.1917, in: Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten. Stenographische Berichte, 22. Legislaturperiode (1913/18), S. 3115-3119. Drucksache Nr. 388. Veröffentlicht in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 11, 1917, Heft 5, Sp. 513-532. Zu Becker siehe ausführlich unten, Kap. 3.2.3. Denkschrift vom 24.1.1917, S. 3118 f.; Mitteilungen aus Spanien 2, 1918, S. 30, 87, 155; SCHREIBER, Spanien und Deutschland, S. 4 f.; VOLKMANN, S. 46. Dabei blieben politische Komplikationen nicht aus. So veranstaltete die Universität im Juni 1918 eine wissenschaftliche Vortragsreihe, zu der auch das spanische diplomatische und konsularische Corps geladen war. Aus Madrid erging dazu die Weisung, von einer Teilnahme in offizieller Funktion abzusehen, da dieses mit der
»Moralische Eroberungen*?
96
Den regionalen Brennpunkt der auf Spanien gerichteten kulturpolitischen Offensive aber bildete Hamburg - vor dem Krieg die Drehscheibe des deutschen Außenhandels mit der Iberischen Halbinsel und Südamerika. 1911 war am drei Jahre zuvor gegründeten Kolonialinstitut der Hansestadt das
Seminar
für romanische Sprachen und Kultur eingerichtet worden. In bewußtem Gegensatz zur traditionell stark Frankreich-, literatur- und sprachwissenschaftlich orientierten Romanistik in Deutschland besaß es von Anfang an eine entschieden hispanistisch-lusitanistische auslandskundlicher
Ausrichtung unter besonderer
Betonung
Fragestellungen.52
Im Krieg kam eine Reihe weiterer, personell und finanziell eng vernetzter Einrichtungen hinzu. Zwischen Januar 1916 und Dezember 1917 wurden in
rascher Abfolge der Hamburgische Ibero-amerikanische Verein, die Deutschspanische Vereinigung Hamburg e.V., als Nachfolgeorganisation des IAV die Ibero-amerikanische Gesellschaft und schließlich das Ibero-amerikanische Institut Hamburg
52
53
ins Leben gerufen. 53 Die Gründungsväter, allesamt Repräsentanten
Neutralität des Landes unvereinbar sei. AMAE, H 2291. Política Exterior. Alemania (1917-19). Schriftwechsel Polo de Bernabé mit dem ME und dem MIP vom 15./21.5. und 13./22./26.6.1918. Vgl. dazu und im folgenden: W. SETTEKORN, Die frühe Hamburger Iberoromanistik und der Krieg, in: Iberoamericana 14, 1990, Nr. 1 (39), S. 32-94. Settekorns Darstellung basiert vornehmlich auf gedrucktem Quellenmaterial und analysiert die Genese der frühen Hamburger Iberoromanistik vor allem in ihren fach- und wissenschaftspolitischen Bezügen. Gründungsdaten: IAV 13.1.1916, DSV 25.11.1916, IAG 16.11.1917, IAI 17.12. 1917. Das IAI wurde von der Stadt Hamburg, Mitgliedsbeiträgen der IAG und Spenden der Hamburger Exportwirtschaft finanziert. Zu Gründung und Tätigkeit vgl. PAAA, R 65000-65002. Kult VI B. Kunst und Wissenschaft Nr. 596, Das deutsch-südamerikanische Institut/Ibero-Amerikanisches Institut, Bd. 1-3 (191326), darin vor allem der Rechenschaftsbericht des ab 1926 amtierenden Leiters des IAI, Rudolf Grossmann, für die Jahre 1917-26, gedruckt in: Ibérica, Zeitschrift für spanische und portugiesische Auslandskunde, Bd. VI, 1926, Heft 1/2, S. 12-21. Kontakte des IAI zur SBB und dem ME in Madrid dokumentiert die Korrspondenz in: AMAE, R 1252-79. Relaciones culturales. Alemania. Instituto IberoAmericano de Hamburgo (1916-38). Die Gründung des IAI stieß auf erbitterten Protest des Vorsitzenden des Ende 1912 nach dem Vorbild des Comité FranceAmérique gegründeten, im Krieg in seinem Aktionsradius sehr eingeschränkten Deutsch-südamerikanischen Instituts in Aachen-Bonn (ab 1917 in Köln). Paul Gast, Prof. für Geodäsie an der TH Aachen, zeigte sich erbost über den Vertrauensbruch des 2. Vorsitzenden Schädel, dem lediglich die Gründung und Leitung einer Hamburger Zweigstelle des DSI anvertraut worden war. Schädel hatte indes ohne Absprache ein selbständiges Institut aufgezogen. PAAA, R 65001. Aufzeichnung
3. Revisionismus - Imperialismo del pobre - Vanguardia moral
97
des hanseatischen Bildungs- und Handelsbürgertums, verknüpften darin die kulturwissenschaftliche und auslandskundliche Beschäftigung mit der Iberischen Halbinsel und Iberoamerika ganz offen mit außen-, handels- und kulturpolitischen Absichten und kriegspropagandistischen Zielen. 54 Diese konzeptuelle Vielschichtigkeit spiegelt sich nicht zuletzt in den Veröffentlichungen wider, für die die Hamburger Gründungen als Herausgeber oder Informanten verantwortlich zeichneten. Die bunte Palette reichte von mehr oder weniger kulturwissenschaftlichen und auslandskundlichen Periodika wie den Mitteilungen aus Spanien über spanischsprachige, für die politische Presseaufklärung im Ausland bestimmte Wochenausgaben von Hamburger Tageszeitungen, bis hin zu halboffiziösen nachrichtendienstlichen Publikationen des Ibero-Amerikaniscben
Nachrichten- und Archivdienstes
Propagandaapparates des AA.
des IAV im Dienst des
55
Spiritus rector und treibende Kraft war dabei aber nicht ein hanseatischer Handels- oder Finanzmogul, vielmehr ein Wissenschaftler: Bernhard Schädel. 56
54
55
56
Gast vom 30.3.1918. Zum DSI, das zeit seines Bestehens ein Schattendasein fristete und 1922 an der Inflation einging, vgl. KLOOSTERHUIS, Friedliche Imperialisten, S. 780 ff. BÄK, R 57 neu/1025-27. Ibero-Amerikanisches Institut, Hamburg (1917). Arbeitsentwurf, Programm und Konstitution des IAI und der IAG. Die Mitgliederlisten von IAI und IAG lesen sich wie ein Vademecum der hanseatischen Exportwirtschaft, Hochfinanz und Wissenschaft. Hinzu kamen Spanieninteressierte aus Berlin und anderen Metropolen des Reiches. Vgl. EINHORN, S. 13; SETTEKORN, Hamburger Iberoromanistik, S. 65 f., 90. Aufstellung der Publikationen in: PAAA, R 64850. Schreiben Schädel an das AA vom 19.1. 1920, Anlage 2, S. 2. Enge Kontakte pflegte der IAV vor allem zur ZfA. Korrespondenz in: BAP, 09.01/1240. AA. ZfA, Sachgebiet IV, Bd. XVII. DeutschSpanische Gesellschaft (1916). Berichte des Nachrichtendienstes zur Wirtschaftsentwicklung Spaniens und seinen Handelsbeziehungen zur Entente (1916-18) in: BAP, 09.01/6547. Vgl. ANONYMUS, Deutsche Kulturbestrebungen, S. 16; SETTEKORN, Hamburger Iberoromanistik, S. 56 f., 70 ff. Bernhard Schädel (1878-1926), einer der führenden deutschen Katalanisten vor 1914, 1902 Promotion in Tübingen, 1904-11 PD in Halle, grundlegende Forschungen zur katalanischen Dialektik, seit 1911 Prof. für romanische Philologie und ibero-amerikanische Landeskunde in Hamburg, Direktor des Romanischen Seminars am 1908 gegründeten Kolonialinstitut. Vorsitzender des IAV, Schriftführer des VDS, 1917-1926 Direktor des IAI Hamburg. Seit 1907 korrespondierendes Mitglied der Real Academia de Buenas Letras in Barcelona. Nachruf in: Iberica, Bd. VI, 1926, Heft 1/2, S. 1-12; Vgl. EBERENZ-CREOLES, Bernhard Schädel i eis Paisos Catalans, in: Zeitschrift für Katalanistik 3, 1990, S. 137-166, 304; L.
98
*Moralische Eroberungen*?
Ein von dem Romanisten Anfang 1916 anläßlich der Gründung des Iberoamerikanischen
Vereins verfaßtes Memorandum bildete die programmatische
Grundlage seiner breitgefächerten kulturpolitischen Aktivitäten. Vor dem Hintergrund des prekären Kriegsverlaufs und der Existenzkrise der deutschen Exportwirtschaft bleibt es ein anschaulicher Beleg des Bewußtseinswandels hinsichtlich der Perspektiven auswärtiger Kulturpolitik - der Dialektik ökonomischer Interessen und kultureller Einflußnahme im Ausland. Dazu verweist die Denkschrift auch auf zentrale kulturpolitische Weichenstellungen der Nachkriegszeit. Einleitend bilanzierte Schädel: »Die Ereignisse und Erfahrungen des Weltkrieges haben zur Genüge gezeigt, daß die Anbahnung und Pflege geistiger Verbindungen mit anderen Völkern eine wirtschaftliche und politische Notwendigkeit, deren Vernachlässigung - für uns und unsere Gegner - ein Verhängnis ist [...] Es steht für Deutschland a l l e s auf dem Spiel: sein guter Name, sein Ansehen, seine Wissenschaft, seine Industrie, sein Handel [...] Man kann heute keine reine, exklusive Wirtschaftspolitik mehr von Land zu Land treiben. Der Handel beruht auf der produktiven Arbeit, der Industrie, und diese ist ein Produkt der Technik, der Wissenschaft, ein organischer Bestandteil der Gesamtkultur [...] Dies ist von den großen Nationen [...] begriffen worden, die jeden Akt ihrer äußeren Politik durch kulturelle Maßnahmen vorbereiteten«.57 Im weiteren kritisierte der Hamburger Romanist in der obligatorischen Auseinandersetzung mit Frankreich die Perspektivenverengung der deutschen Außen- und Handelspolitik: »Die A u s l a n d s k u l t u r p o l i t i k F r a n k r e i c h s in d e n s p a n i s c h und p o r t u g i e s i s c h s p r e c h e n d e n L ä n d e r n stellt seit J a h r z e h n t e n m e h r u n d m e h r e i n g r o ß z ü g i g a u f g e b a u t e s , in a l l e n Einzelheiten v o r t r e f f l i c h ineinander greifendes, geschloss e n e s S y s t e m d a r , dessen Grundlage der f r a n z ö s i s c h e G e i s t , die f r a n z ö s i s c h e B i l d u n g und K u l t u r ist, das ganz vorwiegend in der Sphäre der Wissenschaft, des Hochschulwesens, des Unterrichts wirkte. Der Staatsmann, der Politiker, der Gelehrte, der Künstler, der Kaufmann, der Industrielle, der Schriftsteller, der Journalist, sie alle standen geschlossen hinter diesem System, dessen Erfolge überwältigend waren«. Katalonien in der deutschen Wissenschaft, in: SFGG I, 6, 1937, S. 411461, hier: 427 f.; KLOOSTERHU1S, Friedliche Imperialisten, S. 799 f. ANONYMUS, Deutsche Kulturbestrebungen, S. 3 f. Schädel hatte schon einmal Ende 1913 sein kulturpolitisches Konzept im Kreis der Hamburger Kaufmannschaft erläutert, war seinerzeit aber noch mehrheitlich auf taube Ohren gestoßen. Vgl. KLOOSTERHUIS, Friedliche Imperialisten, S. 800 f. KLAIBER,
57
3. Revisionismus - Imperialismo delpobre - Vanguardia moral
99
In Anknüpfung an Lamprecht, Rohrbach, Riezler und im Einklang mit zahlreichen Stimmen nach 1918 gelangte er zu dem Fazit: »Man bedenke, wie anders die Dinge während des Weltkrieges gekommen wären, wenn Deutschland beizeiten in rationellerer Weise dafür gesorgt hätte, daß es die Sympathien anderer Völker erringt!« Seine Darstellung gipfelte in einem Satz, der an die harten Verdikte von Miguel de Unamuno oder Otto Boelitz erinnert: »Man hat vielfach deutscherseits eine ibero-amerikanische Kultur überhaupt geleugnet, obwohl man - als Auslandskaufmann, als Auslandsakademiker - in deren Mitte lebte«. Am Ende seiner Denkschrift entwickelte Schädel einen kulturpolitischen Forderungskatalog mit Blick auf die nähere Zukunft: »1. Wir müssen in ganz anderer Weise als bisher Kenntnisse und zutreffende Vorstellungen von der deutschen Kultur im s p a n i s c h e n S ü d a m e r i k a , in B r a s i l i e n und auf d e r P y r e ä e n h a l b i n s e l verbreiten. Der deutsche Geist, die deutsche materielle und wissenschaftliche Arbeit müssen aus der Verborgenheit, in der sie lebten, aus dem falschen Lichte, in das die Verleumdung unserer Gegener sie stellt, herausgezogen werden. 2. Wir müssen in ganz anderer Weise als bisher Kenntnisse und zutreffende Vorstellungen von der ibero-amerikanischen Kultur bei uns verbreiten. 3. Wir müssen im Interesse aller Berufsstände, die mit diesen Ländern zu tun hatten und zu tun haben werden, in ganz anderer Weise als bisher dafür Sorge tragen, daß wir über deren fortschreitende Entwicklung orientiert sind, auf sie fördernden Einfluß gewinnen. Unübersehbare Entwicklungsmöglichkeiten bieten sie dar; aber es heißt vorbereitet sein, denn dem Abschluß des Weltkrieges wird, und wenn es noch so günstig für uns ausgeht, ein nichtmilitärischer Kampf mit England, mit Frankreich und Nordamerika auf dem ibero-amerikanischen Gebiet folgen«. Schädels Gedanken und Aktivitäten sind natürlich nicht von dem innovativen Bemühen des Professors um eine praxisorientierte Modernisierung und den zügigen lokalen Ausbau der auslandskundlichen und kulturwissenschaftlichen Lehre und Forschung in der Hansestadt loszulösen. In diesem Zusammenhang bleiben seine Äußerungen Teil einer Rechtfertigungsstrategie im Ringen um eine breitere materielle und personelle Ausstattung der Hamburger Iberoromanistik in ökonomisch krisenhaften Zeiten. Doch handelt es sich hier eben
58
Ebda., S. 6, 7 f., 13 und 15.
100
».Moralische Eroberungen
nicht nur um ein interessantes Kapitel der romanistischen Fachgeschichte. 59 Politische Brisanz gewannen die Anstöße aus dem Umkreis Schädels und der neugegründeten Hamburger April 1918.
Hamburger Iberovereine spätestens mit den
berühmten
Vorschlägen zur Neugestaltung des deutschen Auslandsdienstes
vom
In der Denkschrift an den Reichskanzler warfen Vertreter des
durch den Kriegsverlauf in seinen Geschäftsinteressen geschädigten hanseatischen Handelsbürgertums 61 dem A A Versagen in der Verfolgung der deutschen »politischen, kulturpolitischen und Handelsinteressen im Ausland« vor und forderten als Konsequenz eine grundlegende Neustrukturierung des gesamten auswärtigen Dienstes. 62 Die Reformvorschläge zielten auf eine Professionalisierung der Arbeit der Botschaften und Konsulate durch die Einsetzung von Handelsattaches, Zurückdrängung des Adels aus dem diplomatischen und konsularischen Dienst, Vermittlung gründlicher Sprach- und auslandskundlicher Kenntnisse sowie eine dem französischen Regionalprinzip folgende, damit stärker geographisch orientierte Aufteilung der politischen Arbeitsgebiete des bürokratischen Apparates. Unter der fast schon obligatorischen Bezugnahme auf die westlichen Nachbarn unterstrichen die Autoren der Denkschrift aber auch die Bedeutung nationaler Kulturpräsentation - vor allem im neutralen Ausland:
59
60
61
62
Zur deutschen Romanistik im Ersten Weltkrieg vgl. G. BoTT, Deutsche Frankreichkunde 1900-1933. Das Selbstverständnis der Romanistik und ihr bildungspolitischer Auftrag, Rheinfelden 1982, Bd. 1, S. 30 ff. Mit Fokussierung auf die Hispanistik vgl. BRÄUTIGAM, S. 20 f. Vgl. K. DOSS, Das deutsche Auswärtige Amt im Ubergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Die Schülersche Reform, Düsseldorf 1977, S. 92 ff. Zur Diskussion um den Anteil Schädels an der Denkschrift sowie die inhaltlichen und formalen Ubereinstimmungen mit dem zitierten anonymen, von Schädel verfaßten Memorandum von 1916 vgl. ebda., S. 97 f., 104; SETTEKORN, Hamburger Iberoromanistik, S. 77 ff. Besonders der Überseehandel hatte durch den Krieg starke Einbrüche erlitten. Bezeichnenderweise war es daher auch der im Südamerikahandel engagierte Bankier und Plantagenbesitzer Walther Dauch, später MdR für die DVP, der maßgeblich an der Denkschrift beteiligt war. Unmittelbarer Anlaß für die Initiative der Hamburger Kaufleute war die »Luxburg-Affäre« 1917/18, die die Auswirkungen mangelnder politischer Sensibilität deutscher Auslandsvertreter und des AA auf die Handelsinteressen in fataler Weise vor Augen geführt hatte. Vgl. DOSS, S. 46 ff. Zu den personellen Verflechtungen der Unterzeichner der Denkschrift und dem IAI vgl. SETTEKORN, Hamburger Iberoromanistik, S. 78 f. Brief Schädel an das AA vom 18.12.1917, zitiert nach DOSS, S. 97.
3. Revisionismus - Imperialismo del pobre - Vanguardia moral
101
»Das Auswärtige Amt muß von der Idee ausgehen, daß es nicht allein auf die Regierungen anderer Länder zu wirken hat, sondern auch auf die Stimmung der Völker selbst [...] Vor allem muß unsere Regierung auf eine d e u t s c h e
Kulturpropa-
g a n d a Wert legen, wie sie z. B. das Ibero-amerikanische Institut zu Hamburg für die iberische Halbinsel treibt. Nur dadurch, daß wir dem Auslande unsere Kultur immer wieder nahebringen, werden wir den durch den Greuelfeldzug hervorgerufenen Wahn beseitigen, daß deutsch und barbarisch sein dasselbe wäre«. 6 3
Zweifelsohne waren die Denkschrift Schädels von 1916 wie die
Hamburger
Vorschläge vom übersteigerten Aktionismus der Kriegszeit geprägt. Sie erinnern bis in die Wortwahl an die aus den letzten Friedensjahren überlieferten kulturpropagandistischen Entwürfe Rohrbachs und Riezlers - ihrem Verständnis von auswärtiger Kulturpolitik als Wegbereiter wirtschaftsimperialistischer Nah- und Fernziele. Doch war im weiteren Verlauf des Ersten Weltkrieges, als die kulturelle Auslandsarbeit in der Wilhelmstraße inhaltlich und organisatorisch von der militanten Auslandsaufklärung überlagert wurde, ein parallel einsetzender Umdenkungsprozeß unverkennbar. Nicht nur Schädel und die Hamburger Exportwirtschaft, auch Stimmen im AA selbst und im preußischen Kultusministerium forderten nun eine Kurskorrektur. Dabei wurde auswärtige Kulturpolitik in den Kontext einer notwendigen Gesamtreform der Gliederung und inhaltlichen Gestaltung der Beziehungen zum Ausland eingebettet; und es wurde ihr eine wichtige Funktion für die Nachkriegszeit zugestanden.64
63 64
Hamburger Vorschläge, S. 17 und 37. P A A A , R 64852. Kult VI B. Kunst und Wissenschaft Nr. 569. Anregungen auf dem Gebiet der Kulturpolitik, Bd. 1 (1915-20). Aufzeichnung des Leiters des Schulreferats im AA, O t t o Soehring, vom 23.9.1917. Soehring erteilte der bisherigen »Presse- und Nachrichtenpropaganda« eine deutliche Absage und forderte, daß »geistige Grundlagen entwickelt und geförden, daß die geistige Atmosphäre geschaffen [werde], ohne die auch die engsten politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Völkern ohne Innerlichkeit, ohne Herz [blieben]«. Dabei habe »jede Propaganda, jeder gewaltsame Kulturexport [...] aber besser [zu unterbleiben]«. Zu den Reformvorschlägen im AA und im preußischen KM, »Ansätze[n] zu einer offiziellen Neuorientierung«, vgl. KLOOSTERHUIS, Friedliche Imperialisten, S. 2 6 7 ff.; G . MÜLLER, S. 153 ff.
102
»Moralische Eroberungen »Mit Politik kann man keine Kultur machen; vielleicht kann man mit Kultur Politik machen.« Theodor Heuss (1926)
3.2. Auswärtige Kulturpolitik in der Weimarer Republik Das Wilhelminische Deutschland hatte im Zeitalter der Kabinettspolitik auf der internationalen Bühne mit dem klassischen Instrumentarium imperialistischer Machtausübung agiert. Davon konnte nach der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages vorerst keine Rede mehr sein. Mit dem Zusammenbruch des tradierten europäischen Staatensystems im Ersten Weltkrieg veränderten sich die internationalen Herausforderungen an die deutsche Außenpolitik ebenso wie - mit dem politischen Neubeginn von Weimar ihre innenpolitischen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen. Verstärkter Einfluß der öffentlichen und veröffentlichten Meinung, Krise und zunehmende Verflechtung der Weltwirtschaft, Abkehr von der traditionellen Geheimdiplomatie, parlamentarische Kontrolle der auswärtigen Angelegenheiten, Notwendigkeit der Modernisierung und Verbürgerlichung der auswärtigen Dienste ... Der Krieg, die Friedensordnung von 1919 und der Strukturwandel im Ubergang vom monarchischen System zur parlamentarisch-demokratischen Staatsverfassung machten einen außenpolitischen Paradigmenwechsel unvermeidlich.65 Unmittelbar und verheerend wirkten sich die historischen Altlasten und die eingeschränkte politische Handlungsfähigkeit Deutschlands nach 1918 auch auf die kulturellen Beziehungen der jungen Republik zum Ausland aus. Mit dem »Krieg der Geister«66, der bis dahin in dieser Intensität unbekannten Mobilisierung und Manipulierung der öffentlichen Meinung im In- und Ausland, hatte Deutschlands Ansehen als Kulturnation weltweit schweren Schaden genommen. So sah sich die deutsche Verhandlungsdelegation in Versailles 65
Vgl. KRÜGER, Außenpolitik, S. 10 f.
66
Begriff von H. KELLERMANN (Hg.), Der Krieg der Geister. Eine Auslese deutscher und ausländischer Stimmen zum Weltkriege 1914, Weimar o.J. [1915],
3. Revisionismus - Imperialismo delpobre - Vanguardia moral
103
mit einer »Art kulturelle[r] Exkommunikation« konfrontiert. 67 In der alliierten Mantelnote zum Vertragswerk wurde das Reich nicht zuletzt moralisch stigmatisiert - das »sich für zivilisiert ausgebende« Deutschland von der »Gesamtheit der zivilisierten Welt« an den Pranger gestellt.68 Nicht nur der vorübergehende Ausschluß des Reiches vom internationalen Wissenschaftsaustausch wurde mit Versailles sanktioniert. Noch im Krieg hatte ein Großteil der deutschen Schulen in Europa und Ubersee unter dem politischen Druck der jeweiligen Landesregierungen schließen müssen. Nach 1918 blieben die verbliebenen Lehranstalten und besonders auch die deutschen Forschungsinstitute im Ausland infolge des chronischen Devisenmangels über Jahre in ihrem Bestand ernsthaft gefährdet. Daneben tat sich ein weiterer Problemkreis auf. Mit den in Versailles festgeschriebenen Gebietsabtretungen war die Zahl der im Ausland lebenden Deutschen beträchtlich angestiegen. Summa summarum hatte es die junge Republik mit einem ganzen Konglomerat neuer Faktoren zutun, die kurz- und mittelfristig auf den Handlungsspielraum deutscher Kulturpolitik im Ausland einwirkten. 69 Am Anfang der Weimarer Außenpolitik stand nolens volens eine Phase struktureller und inhaltlicher Neuorientierung. Uber eines aber waren sich nach dem Ende der Pariser Friedenskonferenz »alle relevanten politischen und gesellschaftlichen Kräfte einig«. Den künftigen Orientierungsrahmen mußte weiter die Großmachtstellung des Deutschen Reiches vor 1914 bilden: »Revision des Versailler Vertrages - das war in der Weimarer Zeit das Hauptziel deutscher Außenpolitik; [...] tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten, die zu erbittertem Konflikt eskalierten, [bestanden hingegen] über Tempo, Prioritäten und Methoden der deutschen Revisionspolitik«.70 Dergestalt gewann auch die interne und öffentliche Strategiedebatte über Instrumente, Adressaten und Perspektiven einer zu forcierenden Kulturpolitik im Ausland eine neue Qualität. Namhafte Kulturpolitiker und Publizisten 67
68 69 70
Deutsche kulturelle Bestrebungen im Ausland, in: Jahrbuch für auswärtige Politik 1,1929, S. 280-295, Zitat: S. 282. Der Friedensvertrag von Versailles nebst Schlußprotokoll und Rheinlandstatut sowie Mantelnote und deutsche Ausführungsbestimmungen, Berlin 1925, S. 1. Vgl. DÜWELL, Kulturpolitik, S. 28. Vgl. ebda., S. 103 ff. E. Kolb, Die Weimarer Republik, München [u.a.] 21988, S. 189. (Hervorhebungen v. Verf.). Eine Zusammenfassung der Forschungsdiskussion bis Mitte der siebziger Jahre bei: HlLLGRUBER, Kontinuität und Diskontinuität, S. 22 ff. G . SCHREIBER,
104
»Moralische Eroberungen
formulierten ganz unterschiedliche Konzepte, die allerdings - wie bereits einleitend erwähnt - allesamt große, bisweilen auch maßlose Hoffnungen und Erwartungen widerspiegeln. Dabei erlebten unter dem traumatischen Eindruck der macht- und wirtschaftspolitischen Paralyse nach Versailles in modifizierter Form die kulturimperialistischen Entwürfe der Vorkriegszeit eine Renaissance. Gleichzeitig tauchten aber auch Ansätze zu einer grundlegend neuen Definition auswärtiger Kulturpolitik auf, die in Form und Inhalt vom Erbe der vergangenen Epoche abrückten. Sie waren Ausdruck eines gedanklichen Neuanfangs, der »gesellschaftspolitischen Akzentuierung« von Kultur in der Weimarer Republik, und stellten die kulturellen Beziehungen zum Ausland funktional und inhaltlich auf ein neues theoretisches Fundament. 71
3.2.1. Kulturpropaganda
und Dolchstoßlegende
Nach dem militärischen Zusammenbruch und der Kapitulation des Reiches dienten die vermeintlichen Unterlassungssünden der deutschen Propaganda vor und im Ersten Weltkrieg in verschiedenen apologetischen Schriften zunächst als willkommenes Alibi für das eigene Versagen. So schwadronierte Erich Ludendorff, laut Matthias Erzberger in der O H L seit Ende 1916 der entschiedenste Befürworter einer massiven propagandistischen Flankierung der deutschen Kriegsführung 72 , in seinen Memoiren: »Unsere politischen Ziele und Entscheidungen wirkten [...] oft brutal und sprunghaft. Durch eine großzügige und vorausschauende Propaganda wäre dies spielend vermieden [worden] [...] Eine gute Propaganda [...] muß Schrittmacherin für die Politik sein und muß die Weltmeinung formen, ohne daß diese sich dessen bewußt wird. Bevor die politischen Absichten in die Tat umgesetzt werden, gilt es, die Welt von ihrer Notwendigkeit und ihrer moralischen Berechtigung zu überzeugen [...] Es war ganz ausgeschlossen, [...] gegen die feindliche Propaganda und den von ihr beherrschten Geist im neutralen Auslande aufzukommen, geschweige denn in das feindliche Ausland einzudringen [...] Das Heer fand keinen Bundesgenossen in einer starken, von der Heimat ausgehenden Propaganda. Deutschland versagte im Kampf gegen die Psyche der feindlichen Völker, während sein Heer auf den Schlachtfelder siegreich war«.
71
Vgl. ABELEIN, S. 243 f.; DOWELL, Kulturpolitik, S. 246 f.
72
Vgl. SCHIEDER/DIPPER, S. 104.
73
E. LUDENDORFF, Meine Kriegserinnerungen 1914-1918, Berlin 1919, S. 301 f.
3. Revisionismus
- Imperialismo
del pobre - Vanguardia moral
105
Dieser Argumentationsstrang zog sich bis zum Ende der Weimarer Republik und erst recht natürlich danach wie ein roter Faden durch die konservative, chauvinistisch-alldeutsche und völkische Publizistik. 74 Unter Fokussierung auf den auslandskulturpolitischen Bereich bilanzierte 1932 der Leiter des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, der Jungkonservative Adolf Morsbach: »Der Zusammenbruch im Jahre 1918 ist nicht zuletzt auf die innerdeutsche Verkennung der Bedeutung deutscher Kulturpolitik im Auslande in der Zeit vor dem Kriege und während des Krieges zurückzuführen«.75
3.2.2. Kulturpropaganda
als Surrogat
Die kulturpolitische Diskussion nach dem Ersten Weltkrieg erschöpfte sich nicht in der apologetischen Nabelschau nach dem Vorbild Ludendorffs. Ausdruck des emotional aufgeheizten politischen Klimas der Nachkriegszeit waren kulturpropagandistische Entwürfe aus dem rechten politischen Spektrum, die im künftigen Ausbau der Kulturbeziehungen zum Ausland einen Ausgleich für die mit Versailles eingebüßten klassischen außenpolitischen Handlungsoptionen erblickten. 76 Stellvertretend sei hier auf die 1919 erschienene Abhandlung von Paul M. Rühlmann verwiesen. 77 Gegenüber den kulturpropagandistischen Aktivitäten Frankreichs, der USA, Großbritanniens und anderer Staaten - heißt es darin lapidar - sei Deutschland »wie immer auf politischem Gebiete, zu spät« gekommen:
74 75 76 77
Nach dem Verständnis Ludendorffs mußte eine umfassende Kriegspropaganda neben politischen und wirtschaftlichen (Presselenkung, Revolutionierimg des Hinterlandes etc.) auch kulturelle Elemente (Vortragswesen, Kunst, Film) beinhalten. Vgl. nicht zuletzt: A. HITLER, Mein Kampf, München "1933, S. 193-204. A. MORSBACH, Die deutsche Auslands-Kulturpolitik vor dem Kriege, in: Hochschule und Ausland 10, 1932, Heft 6, S. 1-8, Zitat: S. 3. Vgl. J. PLENGE, Deutsche Propaganda. Die Lehre von der Propaganda als praktische Gesellschaftslehre, Bremen 1922; STERN-RUBARTH, op. cit. P. M. RÜHLMANN, Kulturpropaganda. Grundsätzliche Darlegungen und Auslandsbeobachtungen, Charlottenburg 1919. Paul Martin Rühlmann (1875-1933), Lehrer, Publizist, Mitherausgeber der Zeitschrift Vergangenheit und Gegenwart, 1925/26 Oberregierungsrat im Reichsministerium für die besetzten Gebiete. Diverse Veröffentlichungen zum deutschen Auslandsschulwesen und zu allgemeinen kulturpolitischen Fragen.
»Moralische Eroberungen*?
106
»Unsere Weltgeltung war zu einseitig auf wirtschaftliche und militärische Machtentfaltung gestellt. Es fehlten fast vollständig die geistigen, die kulturellen Ausstrahlungen [...] Die kulturpolitischen Unterlassungssünden haben sich im Weltkrieg gerächt, schneller und entsetzlicher, als man je gedacht«.78
Vor diesem Hintergrund erscheint Rühlmanns Analyse des außenpolitischen Handlungsspielraums der jungen Republik und ihrer künftigen Wirkungsmöglichkeiten wie ein Nekrolog auf die vergangene imperiale Herrlichkeit: »Die militärischen Machtmittel Deutschlands sind nun durch den Versailler Friedensvertrag zerbrochen, endgültig zerbrochen. Der Völkerbund wird die Kriegsmöglichkeiten einschränken [...] Um so lebhafter aber wird der Kampf der Geister fortgeführt werden, vor allem um die Massen, um die Meinung und Stimmung der breiten Volkskreise«. 79
So müsse in einer Zeit, in der die »auswärtige Politik immer mehr aus der Sphäre der r e i n e n M a c h t in die S p h ä r e des R e c h t s « übergehe, die »rein machtpolitische Methode, auswärtige Politik zu betreiben, [...] abgelöst werden durch die kulturpolitische«. An die Stelle der »Macht- [werde] künftig die Kulturpropaganda treten«.80 Dieser »Kampf der Geister« aber sollte - so Rühlmann mit dem unvermeidlich eifersüchtigen Blick auf den »Erbfeind« im Westen - im wesentlichen mit Methoden »ausgefochten« werden, die Frankreich am feinsten ausgebildet habe. Dazu gehörten der Ausbau der internationalen Wissenschaftsbeziehungen, das Auslandsschulwesen, der Export von Büchern und Zeitschriften, Kunst, Theater, Vortragsreisen und insbesondere eine enge Verbindung von Kultur- und »Wirtschaftspropaganda«.81 Rühlmann zog somit aus der historischen Erfahrung den Schluß, daß eine neuerliche kulturpropagandistische Offensive des Reiches im Ausland unverzichtbar sei. Dem Publizisten ging es dabei keineswegs um eine aus eben dieser Erfahrung gewonnene, grundsätzliche Neuinterpretation der Stellung und Funktion auswärtiger Kulturpolitik, sondern lediglich um das opportunistische Verschieben von außenpolitischen Gewichten angesichts der prekären macht- und wirtschaftspolitischen Lage Deutschlands nach dem verlorenen Krieg. Sein Anliegen war die Optimierung der Effektivität deutscher Außenpolitik. Kulturpropaganda im Ausland diente dabei lediglich als ein Instru78 79 80 81
Ebda., Ebda., Ebda., Ebda.,
S. S. S. S.
3 f. und 11. 10. 4 und 9. 17 f.
J. Revisionismus - Imperialismo del pobre - Vanguardia moral
107
ment, dem indes in der konkreten historischen Situation große Bedeutung zukam. Damit unterschieden sich seine Ausführungen nur graduell von den Entwürfen der Vergangenheit. Eine gedankliche Abkehr von den kulturpolitischen Paradigmata des imperialistischen
Zeitalters war nicht
erkennbar.
Rühlmanns Motto hieß, wie schon bei Rohrbach und Riezler: Modifizierung und kulturpropagandistische Flankierung der deutschen Außenpolitik nach den Erfolgsrezepten der westlichen Nationen unter allerdings ganz neuen politischen Vorzeichen.
3.2.3. Auswärtige Kulturpolitik als »Richtschnur und Schranke« Mit der Diskussion um die Weimarer Reichsverfassung gewannen endlich auch Vorstellungen einer grundsätzlich neuen Qualität von Kulturpolitik nach innen und außen Gestalt. Den wohl wichtigsten Vorstoß in diese Richtung unternahm der damalige Staatssekretär im preußischen Kultusministerium, Carl Heinrich Becker. 8 2 In seiner bereits einleitend zitierten, kommentierten Denkschrift von 1919, die vor ihrer Publikation dem Verfassungsausschuß der Nationalversammlung vorgelegen hatte, definierte Becker Kulturpolitik als »bewußte Einsetzung geistiger Werte im Dienste des Volkes oder des Staates zur Festigung im Innern und zur Auseinandersetzung mit anderen Völkern«. 8 3 Freimütig würdigte der Vernunftrepublikaner die kulturpolitische
Bilanz
anderer Nationen - etwa der U S A , Großbritanniens, Frankreichs und Spaniens - und gelangte zu dem apodiktischen Schluß:
82
Carl Heinrich Becker (1876-1933), Orientalist, Begründer der Islamwissenschaft in Deutschland, 1908 Prof. am Kolonialinstitut in Hamburg, 1913 Ruf an die Universität Bonn, ab 1916 Referent für Hochschulfragen im preußischen KM, ab April 1919 StS, 1921 und 1925-30 preußischer KM. Zu Beckers breitgefächertem wissenschafts- und kulturpolitischen Wirken vgl. G. MÜLLER, passim; E. WENDE, C. H. Becker, Mensch und Politiker. Ein biographischer Beitrag zur Kulturgeschichte der Weimarer Republik, Stuttgart 1959; K. DÜWELL, Staat und Wissenschaft in der Weimarer Epoche. Zur Kulturpolitik des Ministers C. H. Becker, in: H Z , Beiheft N . F . 1, 1971, S. 31-74; C. ESSNER/G. WLNKELHANE, Carl Heinrich
Becker (1876-1933). Orientalist und Kulturpolitiker, in: Die Welt des Islams 28,
1988, S. 154-177; W . W . WLTTWER, Carl Heinrich Becker, in: W . TREUE/K.
GRÜNDER (Hgg.), Berlinische Lebensbilder. Bd. 3: Wissenschaftspolitik in Berlin, Berlin 1987, S. 251-268. 83
BECKER, S. 2.
108
»Moralische Eroberungen*? »Nichts, aber auch nichts dergleichen hat das kaiserliche Deutschland zu erzeugen gewußt [...] n a c h a u ß e n haben wir nichts als Wirtschaftspolitik getrieben, [...] weil es uns wirtschaftlich so überaus gut ging und wir im Rausch äußerer Erfolge gar nicht zum Bewußtsein der Unzulänglichkeit des kulturellen, d. h. ideellen Unterbaues unseres materiellen Wohlstandes kommen konnten. Als der Wind kam, ist dann das Kartenhaus zusammengefallen«.84
Als Gründe für das Versagen der deutschen Kulturpolitik im Ausland führte Becker die unklare Kompetenzverteilung zwischen Reich und Ländern an, kritisierte den mangelnden »nationalen Instinkt« und das durch die geistige Herrschaft des Militarismus verschüttete Bewußtsein für die »Macht der Ideen«. Gleichzeitig erteilte er dem ungeschlachten kultur- und kriegspropagandistischen Aktionismus der Vergangenheit eine ultimative Absage: »Von dem Wahn, daß mit Selbstlob und Pressepropaganda Kulturpolitik gemacht werden könnte, sind wir befreit. Auch können die üblichen kulturpolitischen Mittel der imperialistischen Völker aus inneren und äußeren Gründen nicht mehr zum Requisit der deutschen Auslandspolitik gehören«. Beckers Rezept und seine Vision für die Zukunft lauteten demgegenüber: »Unsere Außenpolitik muß aus der rein wirtschaftlichen Fragestellung heraus. Sie muß mit Ideen arbeiten lernen [...] Wir werden mit unserer Außenpolitik Schiffbruch erleiden, so lange wir sie nach der kaufmännischen und industriellen Privatwirtschaft orientieren, statt nach kulturpolitischen Idealen. Bisher war Kulturpolitik in der Außenpolitik ein Vehikel wirtschaftlichen Einflusses oder ein graziöser Schnörkel auf dem kaufmännischen Wechsel. In Zukunft müssen feste kulturpolitische Ziele Richtschnur und Schranke auch für unsere Wirtschaftspolitik sein«. 6 Vorbedingung für eine erfolgreiche deutsche Kulturpolitik im Ausland - so Becker weiter - sei aber die Schaffung einer »ideelle[n] Basis«, einer »deutschen Einheitskultur« durch die Uberwindung des »Ultra-Individualismus«,
der
deutschen »Kleinstaaterei«, ein »Bewußtsein unserer selbst als Volk«. 87 Institutionell könne der Neuanfang nur mit der Vergabe von klaren kulturpolitischen Kompetenzen an das Reich durch eine Reorganisation des A A und der parallelen Gründung eines »Reichskulturamts« gelingen. Inhalte und Formen auswärtiger Kulturpolitik müßten in einer Zeit, in der »der Raubritterstandpunkt des staatsnationalen Egoismus [...] innerlich überwunden« sei, der 84 85 86 87
Ebda., Ebda., Ebda., Ebda.,
S. 14. S. 4, 5 und 16. S. 16 und 53. S. 42 und 45 f.
3. Revisionismus - Imperialismo del pobre - Vanguardia moral
109
Wissenschaftsaustausch, die Auslandsschulen und die Repräsentation von Kunst und Literatur sein. 88 Als weiteren kulturpolitischen Eckpfeiler benannte Becker den Erhalt und die Pflege des Auslandsdeutschtums als vermittelndes Element. Nach den Gebietsverlusten müsse die deutsche Außenpolitik künftig »zum guten Teil Auslandsdeutschtumspolitik« sein. Diese aber könne nur mit »geistigen Waffen, [...] also in der Hauptsache schulpolitisch betrieben werden«. 89 Beckers kulturpolitische Anregungen von 1919 mit ihrer unitaristischen Stoßrichtung beinhalteten methodisch und inhaltlich zukunftsweisende Elemente. Zum ersten Mal wurde in Deutschland ein direkter Zusammenhang zwischen innerer Verfassung des Staates, dem Rang kultureller Güter auf der gesellschaftlichen Werteskala, dem kulturellen Selbstverständnis als Nation und ihrer kulturellen Außenwirkung hergestellt. Bis dahin waren etwa der erfolgreich betriebene französische Kulturexport der vergangenen Dekaden stets mit Mißgunst oder ungläubigem Staunen beobachtet, seine grundlegend verschiedene gesellschaftliche Verankerung aber nicht wirklich
reflektiert
worden. Dazu wurde von Becker die unmittelbar vor dem Weltkrieg von Lamprecht erstmals vorsichtig angedeutete Notwendigkeit einer
autonom
gestalteten auswärtigen Kulturpolitik, losgelöst von bloßen macht- und handelspolitischen Maßgaben, 1919 erstmals zum Grundsatz erhoben. 9 0 Und schließlich vertrat Becker - aus der Erfahrung der unzulänglichen Gestaltung kultureller Auslandsbeziehungen im Kaiserreich und der Hybris der Kriegspropaganda - die Auffassung, daß eine unabhängig gestaltete auswärtige
88 89
90
Ebda., S. 51. Wohlweislich betonte Becker, daß die Auslandsdeutschen in den jeweiligen Ländern nicht als »Ferment, als Sprengmittel wirken« dürften, sondern sich als »loyale Staatsbürger ihrer neuen Staatsgemeinschaft fühlen lernen« müßten. Ebda., S. 37, 51 f. Entgegen diesem idealistischen Anspruch hatte auch Becker selbst vor und im Weltkrieg noch ganz andere Postionen vertreten und »sich ab Mitte 1915 verstärkt auch unmittelbar politisch im Sinne eines deutschen Wirtschafts- und Kulturimperialismus im vorderen Orient« engagiert. Vgl. dazu im einzelnen: G. MÜLLER, S. 104-135, Zitat: S. 124. Danach reichte Beckers kultur- und bildungspolitisches Denken »von kolonialpolitisch-imperialistischer, nationalliberaler Orientierung in Hamburg über die weltpolitisch-auslandskundliche, wilhelminische Zielsetzung im Weltkrieg bis zur kulturwissenschaftlich-national orientierten staatsbürgerlichen und humanistischen Bildung in der Weimarer Republik«. Ebda., S. 396.
110
»Moralische Eroberungen
Kulturpolitik ihren Ausdruck in eigenen staatlichen Institutionen finden müsse, um ihre Autonomie zu sichern und an Effektivität zu gewinnen.91
3.2.4. Die Kulturabteilung im Auswärtigen Amt
92
Der unitaristische Standpunkt Beckers fand in der Formulierung der Weimarer Reichsverfassung in vieler Hinsicht Bestätigung. Diese »war nicht nur der symbolische Ausdruck des neuen Kulturstaates«. In Art. 6, Abs. 1 wurden »die Beziehungen des Reichs zum Ausland - damit auch die kulturpolitischen - zur ausschließlichen Kompetenz des Reiches selbst erklärt«. 93 Dazu oblag nach Art. 10, Ziffer 2 dem Reich die Rahmengesetzgebung für das Schul-, Hochschul- und das wissenschaftliche Bibliothekswesen. Im berühmten Artikel 142 schließlich wurde der Staat zum Schutz und zur Pflege von Kunst, Wissenschaft und Lehre verpflichtet - im Innern wie nach außen. Im schroffen Gegensatz zum Verfassungsauftrag und der Betonung der Perspektiven auswärtiger Kulturpolitik in der Nachkriegszeit stand derweil ihre institutionelle Verankerung im AA. Bis 1919 blieben kulturpolitische Belange auf mehrere Abteilungen des organisatorisch und personell verkrusteten Apparates in der Wilhelmstraße verteilt. Die Betreuung des Auslandsschulwesens erledigte seit 1906 das Referat D der Rechtsabteilung. Der Wissenschaftsaustausch und die Repräsentation von Bildender Kunst, Theater und Literatur im Ausland gehörten in den Kompetenzbereich der Referate B und K der 1915 neu eingerichteten Nachrichtenabteilung. In dem vormaligen Pressereferat blieb selbst für eine planvolle kulturpropagandistische Arbeit bald kein Spielraum mehr. Statt dessen wurden im Zuge der psychologischen Kriegsführung die kurzatmige militante Agitation und Indoktrination des Auslandes laufend intensiviert. Diese Tendenz schlug sich 1916 im Aufbau des Referats G nieder,
91 92
Zur historischen Einordnung und Bewertung der Denkschrift Beckers vgl. auch DÜWELL, Kulturpolitik, S. 28 ff. Vgl. K. DÜWELL, Die Gründung der Kulturpolitischen Abteilung im Auswärtigen Amt 1919/ 20 als Neuansatz. Inhaltliche und organisatorische Strukturen der Reform auswärtiger Kulturpolitik nach dem Ersten Weltkrieg, in: DÜWELL/LLNK, S. 46-61; DÜWELL, Kulturpolitik, S. 70 ff.; ABELEIN, S. 113; TWARDOWSK1, S. 13 f.
93
DÜWELL, Kulturpolitik, S. 70; H . HILDEBRANDT (Hg.), Die deutschen Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts, Paderborn 7 1970, S. 65.
3. Revisionismus - Imperialismo delpobre - Vanguardia moral
111
das sich mit der propagandistischen Ausbeutung »feindliche[r] Greueltaten und Rechtsverletzungen« befaßte. 94 Der oben skizzierte, durch den Krieg beschleunigte politische, ökonomische und gesellschaftliche Wandel und die neuen mannigfaltigen Herausforderungen an die deutsche Außenpolitik machten nach 1918 eine umfassende Modernisierung der auswärtigen Dienste des Reiches unumgänglich. Im Zuge der Scbülerschen Reform
5
des AA fanden endlich auch die kulturellen Bezie-
hungen zum Ausland stärkere Berücksichtigung. Hans Freytag resümierte 1929: »Als wir aus dem Abgrund des Krieges wieder auftauchten, galt es für uns, die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und, soweit das einem verarmten und waffenlosen Volke möglich ist, uns wieder eine Stellung im Rate der Völker zu schaffen. Aus diesen Erwägungen heraus ist im Auswärtigen Amt eine Abteilung eingerichtet worden, die sich ausschließlich mit allen den Fragen beschäftigen sollte, die eine kulturpolitische Auswirkung haben«.96 Ganz offensichtlich stand hierbei aber einmal mehr das Vorbild Frankreichs Pate - praktisch zur selben Zeit war im Quai d'Orsay die Abteilung Service des œuvres françaises à l'étranger geschaffen worden. 9 7 Der Aufbau der Kulturabteilung im AA begann Ende April 1919 und vollzog sich relativ schleppend. 98 Nach und nach wurden aus der mit der Nach94
95
DÜWELL, Kulturpolitik, S. 74 f.
Zur Vorgeschichte, Durchführung und Ergebnissen der Reform vgl. DOSS, S. 147 ff.; KRÜGER, Außenpolitik, S. 23 ff.
96
97
98
H. FREYTAG, Über deutsche Kulturpolitik im Ausland, in: Deutsche Rundschau 55, 1929, Heft 11, S. 97-109, Zitat: S. 98. Hans Freytag (1869-1954), 1910 Eintritt in den auswärtigen Dienst, verschiedene diplomatische Verwendungen, 1926 bis 1932 Leiter der KA, danach Gesandter in Lissabon. 1934 in den Ruhestand versetzt. Der Jurist verstand es, der Abteilung in seiner Amtszeit »endgültig Methodik und Profil zu geben«. TWARDOWSKI, S. 22. Im Gegensatz zur Kulturabteilung im A A stand der per Dekret vom 15.1.1920 eingerichtete Service des oeuvres françaises a l'étranger in der Tradition des 1908 im französischen Außenministerium gegründeten Service des écoles et des œuvres françaises à l'étranger, der seinerseits 1910 in Bureau des écoles et des œuvres françaises à l'étranger umbenannt worden war. Der Service des oeuvres françaises à l'étranger war der Direction des Affaires politiques et comerciales angegliedert. Vgl. DELAUNAY, Des palais en Espagne, S. 176. Die anfangs einseitig auf handelspolitische Fragen konzentrierte Neugliederung des auswärtigen Dienstes geriet im Zuge der Reform in die Kritik. So wurde intern wie von außen eine stärkere Berücksichtigung kulturpolitischer Aspekte gefordert. Vgl. PAAA, R 64852-64853. Kult VI B. Kunst und Wissenschaft Nr. 569.
*Moralische Eroberungen
112
richtenabteilung zusammengelegten Presseabteilung die Referate K Verbreitung deutscher Kunst und Literatur und P Auslandspropaganda, aus der Rechtsabteilung das mit erweiterten Kompetenzen ausgestattete Schulreferat D herausgelöst und zur neuen Abteilung IX zusammengefaßt. Ihr Wirkungskreis war die »Pflege der humanitären und wissenschaftlichen Beziehungen zum Ausland«.99 Am 1. Oktober 1920 erhielt sie den Status einer selbständigen Abteilung Deutschtum im Ausland und kulturelle Angelegenheiten. Die Gliederung dieser neuen Kulturabteilung,
ab 1921 Abteilung VI, folgte dem Sachprinzip. Die
Aufgabenbereiche ihrer vier Referate waren die folgenden: •
Referat A: Auswanderungsfragen, Auslandsdeutsche und ihre Organisationen im In- und Ausland, deutsche Kirchengemeinden und Krankenhäuser im Ausland, Auslandshilfe. • Referat B: Deutsche Schulen im Ausland, deutsche Lehrer, Schüler und Studenten an ausländischen Bildungsanstalten, Zulassung von Ausländern und Auslandsdeutschen zu deutschen Bildungseinrichtungen, Anerkennung akademischer Grade. • Referat C: Bildende Kunst, Kunstgewerbe, Theater und Musik im Ausland, Vortrags- wesen, Kunstausstellungen, Sport. • Referat D: Verbreitung deutscher Literatur im Ausland, deutsche wissenschaftliche Institutionen im Ausland, internationale Wissenschaftsbeziehungen und Gelehrtenaustausch, wissenschaftliche Kongresse und Leihverkehr, Filmwesen im Ausland.100 In den kommenden Jahren wurde die Kulturabteilung unter der Leitung von Friedrich Heilbron 101 mehrmals umstrukturiert. Im Kern ging es dabei um die Abgrenzung ihrer Arbeitsgebiete gegen die politische Auslandsaufklärung der Presseabteilung. Dazu wurden in der Kulturabteilung die Kompetenzen genauer abgesteckt und zwei neue Referate geschaffen. Die Grundkonzeption blieb davon unberührt, so daß die Abteilungsgliederung von 1926 bis zum Ende der Weimarer Republik Bestand hatte: Anregungen auf dem Gebiet der Kulturpolitik, Bd. 1-2 (1915-26). Denkschrift Franz Schmidt vom 19.1.1919; Denkschrift Gerhard Menz vom Oktober 1920. 99
Vgl. DÜWELL, Kulturpolitik, S. 86; TWARDOWSKI, S. 13 f.
100 Vgl. DÜWELL, Kulturpolitik, S. 91.
101 Friedrich Heilbron (1872-1954), 1902 Eintritt in das AA, 1915-19 VLR in der Nachrichtenabteilung des AA, 1920/21 Leiter der PA, Pressechef der Regierungen Fehrenbach und Cuno. Von Oktober 1921 bis Juli 1926 Leiter der KA, danach GK in Zürich. Ende 1930 Versetzung in den einstweiligen, im Juli 1933 in den dauernden Ruhestand.
J. Revisionismus - Imperialismo del pobre - Vanguardia moral
113
•
Referat A 1 (Kult A): Auslandsdeutschtum, Minderheitenfragen, Evangelisches Kirchen- und Missionswesen.
•
Referat A 2 (Kult W): Allgemeine Kulturpolitik, Wissenschaftsbeziehungen zum Ausland, Wissenschaftliche Institute, Kongresse, Reisen, Vortragswesen, studentische Angelegenheiten, Krankenhäuser und Arzte, deutsches Buch im Ausland, Haushalt. Referat B (Kult S): Deutsches Schulwesen im Ausland. Referat C: Kunst, Kunstausstellungen, Musik, Theater, Film, Sport. Referat D: Katholisches Missions- und Ordenswesen. Referat E: Auswanderung, Nachforschungen und Nachlässe im Ausland etc. 1 0 2
• • • •
Die Gründung der Kulturabteilung im A A war, soviel kann an dieser Stelle gesagt werden, Ausdruck der allgemeinen Höherbewertung der Perspektiven auswärtiger Kulturpolitik im Nachkriegsdeutschland. Die ökonomisch und politisch einflußreiche hanseatische Exportwirtschaft hatte aus der schmerzhaften Erkenntnis der fatalen Folgen der außenpolitischen Struktur- und Handlungsdefizite des Reiches auf ihre Geschäfte bereits im Krieg grundlegende Reformen gefordert. Kulturpolitisch engagierte Wissenschaftler, Publizisten und Politiker verwiesen auf den Nachholbedarf Deutschlands gegenüber den kulturpolitischen Aktivitäten der ehemaligen Kriegsgegner und zeigten mit ihren Anregungen alternative Wege politischen Handelns in den Beziehungen zum Ausland auf. In der Weimarer Verfassung wurden dem Reich die hierzu notwendigen kulturpolitischen Kompetenzen übertragen. Die Institutionalisierung der auswärtigen Kulturpolitik in einer eigenständigen Abteilung des A A war somit das Ergebnis des Zusammenwirkens verschiedener geistiger, politischer und ökonomischer Faktoren. Sie schuf verbesserte »Voraussetzungen
institutionelle
für eine sachliche und auf der Eigengesetzlichkeit
des
Kulturellen beruhenden auswärtigen Kulturpolitik« des Reiches. 1 0 3 Damit war in Deutschland eine wichtige Weiche auf einem Weg gestellt, den Frankreich schon lange beharrlich und erfolgreich beschritt. 102 Ebda., S. 97 f. Zu Personalbestand und -struktur der KA, die im Gegensatz zu anderen, vom Adel dominierten Abteilungen des AA eine »Sektion bürgerlicher Fachleute« bildete und bis in die Spitze eine Reihe von Quereinsteigern aufwies, vgl. DÜWELL, Kulturpolitik, S. 94 ff.; P. KRÜGER, Struktur, Organisation und außenpolitische Wirkungsmöglichkeiten der leitenden Beamten des Auswärtigen Dienstes 1921-1933, in: SCHWABE, Das Diplomatische Korps, S. 101-169, hier: S. 129; TWARDOWSKI, S. 22 f.
103 DÜWELL, Kulturpolitik, S. 247.
114
»Moralische
Eroberungen
3.2.5. Auswärtige Kulturpolitik von Stresemann zu Neurath Uber Handlungsspielräume und Wirkungsmöglichkeiten der Kulturabteilung bis zum Ende der Weimarer Republik befand im Rückblick ihr späterer Leiter, Fritz von Twardowski: »Die Kulturabteilung hat es in der ersten Zeit ihres Bestehens nicht leicht gehabt. Sie blieb jahrelang Stiefkind im Auswärtigen Amt« - finanziell und personell unzureichend ausgestattet: »Der diplomatische Nachwuchs wehrte sich entschieden, in der Kulturpolitik tätig zu werden, unter der sich niemand recht etwas vorstellen konnte [...] Und es dauerte viele Jahre, bis die diplomatischen Vertretungen im Auslande in der neuen Kulturaufgabe ein dankbares und umfangreiches Tätigkeitsfeld zu finden wußten [...] Erst 1930 war soviel Erfahrung gesammelt, daß die Anfänge einer zielstrebigen Kulturpolitik möglich wurden und man aufhörte, sich mit der finanziellen Unterstützung mehr oder minder zufällig auftauchender Projekte zu begnügen«. Dieses apodiktische Urteil bringt grundlegende Strukturprobleme der deutschen auswärtigen Kulturpolitik der Epoche zur Sprache.
Doch verkannte
Twardowski aus seinem - durch die Übernahme von außenkulturpolitischen Spitzenfunktionen im »Dritten Reich« offenbar nachhaltig getrübten - Blickwinkel, daß sich nach dem schwierigen Neuanfang von 1919/20 in der Kulturabteilung trotz der prekären Haushaltslage und sporadisch auftauchender Kompetenzkonflikte mit dem Reichsinnen- und dem preußischen Kultusmini-
104 TWARDOWSKI, S. 18 f. Der Karrierediplomat (1890-1970), 1922 Eintritt in das AA, 1929-32 Botschaftsrat in Moskau, 1932/33 Mitglied der deutschen Delegation bei der Genfer Abrüstungskonferenz, leitete die KA stellvertretend ab dem 18.11. 1935, verantwortlich vom 22.5.1939 bis März 1943, danach GK in Istanbul. 195051 kommissarischer Leiter des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung, 1952-55 Botschafter in Mexiko. 105 Zur Kritik an der mangelnden kulturpoÜtischen Sensibilität gerade der diplomatischen Vertretungen - Kulturattaches gab es zu dieser Zeit an den deutschen Botschaften noch nicht - vgl. auch PAAA, R 61125. Kult VI W. Generalia 1. Deutsche Kulturpropaganda. Allgemeines, Bd. 2 (1930-32). Aufzeichnung Schwendemann vom 3.9.1930. Dort wird die lange Zeit »außerordentlich lückenhafte und ungenügend[e], [...] heute noch [...] wenig systematische und vielfach von Zufällen diktiert[e ...] Berichterstattung [...] unserer Auslandsbehörden« vor allem in Bezug auf die kulturpolitischen Aktivitäten konkurrierender Staaten beanstandet. Zur vergleichsweise späten Einführung von Kulturattaches in der deutschen Diplomatie vgl. R. M. EMGE, Status und Funktion der deutschen Kulturattaches, in: Politische Vierteljahrsschrift 4, 1963, S. 288-304.
3. Revisionismus - Imperialismo delpobre - Vanguardia moral
115
sterium nach und nach durchaus feste, sach- und problemorientierte Arbeitsweisen etablierten.106 Die Uberwindung von Hyperinflation und Ruhrkrise, die Annahme des Dawes-Plans auf der Londoner Konferenz, die Aufforderung des britischen Premiers MacDonald zum Eintritt Deutschlands in den Völkerbund, die deutsche Sicherheitsinitiative und Herriots Zustimmung zur Räumung des Ruhrgebietes hatten ökonomisch und politisch das Ende der Nachkriegszeit eingeläutet. Sie bildeten Meilensteine auf dem Weg zur Konferenz von Locarno, auf der im Oktober 1925 der Durchbruch zur Verständigung mit den ehemaligen Kriegsgegnern im Westen gelang. Das in der Folge sehr viel entspanntere internationale Klima, der vielbeschworene »Geist von Locarno«, spiegelte das Ende der politischen und moralischen Isolation des Reiches in Europa wider. Der Weg für den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund am 10. September 1926 war frei.107 Im Zuge dieser Entwicklung sollten auch die kulturellen Kontakte zum Ausland wachsende Bedeutung erlangen. In der Ära Stresemann wurden sie in der Wilhelmstraße spürbar intensiviert und systematisiert. Uber Konzeption, Methoden und Ziele der Verständigungspolitik des liberal-konservativen Vernunftrepublikaners und nationalen Machtpolitikers Gustav Stresemann herrscht in der neueren Forschung nach Jahrzehnten kontrovers geführter Debatten in wichtigen Punkten Konsens.108 Im Zentrum seiner Außenpolitik, die gleichermaßen auf den erbitterten Widerstand der extremen Rechten und Linken stieß, stand demnach die aktive, stufenweise und notwendigerweise friedliche Revision des Versailler Vertrages - der Wiederaufstieg Deutschlands als gleichberechtigte, souveräne Großmacht unter planmäßiger Aufbietung seines ökonomischen Potentials. Mit der »Rückkehr in die Weltpolitik über die Weltwirtschaft« verfolgte Stresemann im Innern die Wiederherstellung und Wahrung von politischer Stabilität, Kontinuität und wirtschaftlicher Prosperität. In der Revision des Versailler Vertrages und »im Ansporn zu gemeinsamer Arbeit am wirtschaftlichen Wiederaufstieg« erblickte
106 Vgl. DÜWELL, Kulturpolitik, S. 95, 206 ff., 212. Siehe auch unten, Kap. 6.1.1. und 6.6. 107 Vgl. KRÜGER, Außenpolitik, S. 269 ff. 108 Vgl. den komprimierten Uberblick über Genese und Stand der StresemannForschung bei KOLB, S. 62 ff., 194 ff.
116
»Moralische Eroberungen*?
der ehemalige Syndikus des Verbandes Sächsischer Industrieller »ein wertvolles integrierendes Moment für die Nation, ein einigendes nationales Ziel«.109 Dabei markierte die Ära der Verständigungspolitik keineswegs einen radikalen Bruch mit dem Erbe der Vergangenheit. Stresemann »war ein Exponent der wirtschaftlich akzentuierten Variante deutscher Großmachtpolitik«110, die mit der inneren Machtstruktur der »konservativen Republik« korrelierte. So unterschieden sich der pragmatische Außenminister und sein Staatssekretär im AA, Carl von Schubert, von ihren erbitterten Kritikern und antidemokratischen Nachfolgern in der Zeit der Präsidialkabinette nicht so sehr in der Zieldefinition nationaler Außen- und Revisionspolitik, wohl aber in ihrem maßvollen, an den realen Machtverhältnissen orientierten, vom Willen zum friedlichen Interessenausgleich mit den Westmächten bestimmten und die praktische Politik prägenden methodischen Vorgehen.111 Stresemanns »Sinn für militärisches Potential, seine Hingabe an nationale Macht und Größe [enthielt ...] stets einen moralischen und auch einen kulturellen Zug«. Im Dienste der machtpolitischen und wirtschaftlichen Renaissance des Reiches sollten »das deutsche Prestige in aller Welt gefördert werden und die technische, wissenschaftliche und kulturelle Leistungsfähigkeit besonders in Erscheinung treten«.112 So äußerte sich der einstige nationalistische Machtpolitiker und Annexionist zwei Jahre nach seinem Amtsantritt und einige Wochen nach der Annahme der Locarnoverträge im Reichstag - erstmals öffentlich, wie es scheint - vor der Presse zu den Aufgaben der Kulturpolitik im Rahmen seiner außenpolitischen Gesamtkonzeption.113 Angesichts der zunehmenden ökonomischen Verflechtung und der gemeinsamen Verantwortung der Mächte für eine friedliche Lösung strittiger Probleme - so Strese109
Zur Gesamtkonzeption der Außenpolitik Stresemanns vgl. im Überblick: KRÜGER, Außenpolitik, S. 207 ff., Zitat: S. 208. 110 HLLLGRUBER, Kontinuität und Diskontinuität, S. 26. 111 Ebda., 26 f.; KOLB, S. 195 f. 112 KRÜGER, Außenpolitik, S. 209, 217. 113 G. STRESEMANN, Vermächtnis. Der Nachlass in drei Bänden, hrsg. von H . BERNHARD, Berlin 1932-1933; hier: Bd. 2, S. 311-314. Rede Stresemanns vor der Presse (Disposition vom 13.12.1925). »Nur langsam wuchs er [...] als Minister in die Notwenigkeiten einer A u s l a n d s k u l t u r p o l i t i k hinein, die mit Imponderabilien erfüllt war«. G. SCHREIBER, Zwischen Demokratie und Diktatur. Persönliche Erinnerungen an die Politik und Kultur des Reiches 1919-1944, Regensburg 1949, S. 100.
3. Revisionismus - Imperialismo del pobre - Vanguardia moral
117
mann - dürfe »Europa nicht bis zur Erledigung politischer Fragen warten [...], bis Nationen alte Kulturbeziehungen wiederherstellten«. Die tradierte Praxis, Kulturpolitik zur Besitzstandssicherung im Ausland und zur Einschmelzung »fremdefn] Kulturgutes« einzusetzen, müsse einer »[h]öhere[n] Form«, dem » A u s t a u s c h [...] unter den Kulturvölkern und gegenseitige[r] Anerkennung ihrer Kulturposition« weichen. Die »[h]öchste Form der Kulturpolitik« stelle demnach die »gemeinsame ü b e r n a t i o n a l e
Verwaltung
der
Kultur-
g ü t e r « dar. Ein solcher Qualitätssprung setze aber - so der Außenminister in einem verbalen Seitenhieb auf Frankreich - »Entsagung voraus bei denen, die im Besitz der Macht sind und zugleich im Besitz höchster Kultur zu sein glauben«. Ahnlich wie im drei Monate zuvor verfaßten, in der Forschung umstrittenen »Kronprinzenbrief« 114 rückte Stresemann im weiteren das Problem der jenseits der Reichsgrenzen lebenden Deutschen in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Die »Kulturarbeit an Gliedern deutschen Stammes« im Ausland, die in »schwerem Kampf um die Erhaltung [ihrer] Kultur« stünden, bilde eine grundlegende Verpflichtung deutscher Kulturpolitik. Diese Aufgabe erfordere indes »unendliche Arbeit im kleinen, Treue im stillen, strenge Beschränkung auf das Mögliche«. Neben der kulturellen Deutschtumspflege unterstrich der Außenminister die kulturpolitische Dimension der internationalen Wissenschaftsbeziehungen. Dabei nutzte er die Gelegenheit, scharfe Kritik am anhaltenden Ausschluß der deutschen Wissenschaft als »Waffe der Politik« zu üben. Der Boykott sei »ein beschämendes Kapitel in der europäischen Geistesgeschichte«, im übrigen wirkungslos und nach Locarno nicht mehr zeitgemäß. Das Reich strebe auf kulturpolitischem Gebiet »freien Wettbewerb, nicht aber einen Kampf auf Leben und Tod« an. Da erste Fortschritte in dieser Richtung erkennbar waren, bündelte Stresemann seine Erörterungen in dem optimistischen Satz: »[Ich] erwarte [...] auf keinem Gebiet so zuversichtlich Erfolge von dem Walten der Vernunft wie auf dem der kulturellen Beziehungen«. 115 Aus dem Redemanuskript vom Dezember 1925, an dessen inhaltlichem Grundriß die Kulturabteilung im AA gewiß beteiligt war, spricht eine Weiterentwicklung der kulturpolitischen Entwürfe der Nachkriegszeit. Bei Becker 114 STRESEMANN, Vermächtnis, Bd. 2, S. 553-555. Stresemann an den ehemaligen Kronprinzen zu den »Aufgaben deutscher Aussenpolitik« (7.9.1925). 115 Ebda., S. 311 ff.
118
».Moralische Eroberungen«?
wie bei Rühlmann hatte auswärtige Kulturpolitik, wie immer sie auch gestaltet sein mochte, ihren Platz in der »Auseinandersetzung mit anderen Völkern« oder im »Kampf der Geister«. An einen Aufbau inter- oder gar supranationaler Strukturen kultureller Beziehungen in Abkehr von einer ausschließlich bilateral oder gar unilateral gestalteten Kulturpolitik zum Ausland dachte 1919 keiner der beiden Autoren. Eine derartige Denkweise verbot sich unmittelbar nach Kriegsende - unter dem Eindruck des Ausschlusses Deutschlands aus dem sich gerade in dieser Zeit konstituierenden, auf breiter Front als »SiegerKartell« diffamierten Völkerbund und aus den internationalen Wissenschaftsorganisationen. Ohne Zweifel verfolgte auch der kühl kalkulierende, in der politischen Verantwortung stehende Stresemann nach Locarno mit seiner kulturpolitischen Strategie weiter originär nationale Interessen und Ziele. Zumindest aber betrachtete er die Genfer Organisation mit ihren diversen Ausschüssen als eine geeignete Plattform, um die nach dem Krieg maßgeblich von französischer Seite initiierte internationale Achtung der deutschen Wissenschaft wirkungsvoll zu bekämpfen. Daneben maß der Realpolitiker dem Völkerbund bekanntlich große revisionspolitische Bedeutung im Kontext der Minderheitenfrage bei. Nicht umsonst verteidigte er seine Völkerbundspolitik in den Monaten vor dem deutschen Beitritt gegenüber dem vulgären Nationalismus von rechts wiederholt mit dem Hinweis auf die sich daraus ergebenden Perspektiven einer einschneidenden Verbesserung des rechtlichen, ökonomischen und kulturellen Status der im Ausland lebenden Deutschen - vor allem in den 1919 abgetretenen Gebieten im Osten. 116 Neun Monate nach der Presseerklärung Stresemanns kehrte das Reich aus der Isolation in den »völkerverbindenden Wettstreit der Kulturen« zurück.117 Mit dem deutschen Völkerbundsbeitritt wurde die Basis für eine künftige Mitarbeit in den internationalen Kulturorganisationen geschaffen. Im gleichen Jahr veröffentlichte die liberale Frauenrechtlerin und Bildungspolitikerin im Reichsministerium des Innern, Gertrud Bäumer, ihre Schrift
Europäische
116 Zu Stresemanns Minderheitenpolitik, ihren nationalen und wirtschaftspolitischen Beweggründen und Zielen vgl. C. FlNK, Stresemanns Minderheitenpolitik 19241929, in: W. MLCHALKA/M. M. LEE (Hgg.), Gustav Stresemann, Darmstadt 1982, S. 375-399. 117 SCHREIBER, Deutsche kulturelle Bestrebungen, S. 281.
3. Revisionismus - Imperialismo delpobre - Vanguardia moral Kulturpolitik.118
119
In dem leidenschaftlichen Aufruf leitete Bäumer aus der
Gefährdung Europas »als Mittelpunkt der Welt« die »Idee und Notwendigkeit einer europäischen Politik« ab. Eine weitere »Fesselung der Kräfte an innereuropäische Kämpfe [werde] die Götterdämmerung des Abendlandes heraufbeschwörfen]«. Ein neues, geistiges Europa sollte aus der Uberwindung der »künstlichen Kriegsstimmung«, aus der »Wiedererstarkung der Sachlichkeit in der gegenseitigen Würdigung« und aus dem »Verstehen des eigenen Ethos der andren« entstehen - dem wahren »Geist von Locarno«. In der Vergangenheit, im Ersten Weltkrieg, hätten die europäischen Staaten »den Geist mobilisiert«. Nach 1918 sei gerade dieses »Gebiet, das dem Zweck des Krieges innerlich am fernsten stehen sollte«, der »Demobilisation entzogen«, der Krieg mit anderen Mitteln weitergeführt worden. Dagegen habe mit Locarno, gerade im Zuge der deutsch-französischen Annäherung, eine »Aufhebung des Belagerungszustandes« eingesetzt.119 Deshalb gelte es nunmehr, die »Kultureinheit Europas« wiederherzustellen und bewußt zu pflegen - ein »Schutz- und Trutzbündnis der Nationen« zu bilden.120 Als erste Schritte auf diesem Weg forderte Bäumer eine Reform des Fremdsprachenunterrichts, die Einrichtung einer internationalen Schulbuchkommission, die Intensivierung des Studentenaustausches und eine verstärkte wissenschaftliche Kooperation im internationalen Rahmen. Zugleich warnte die liberale Politikerin davor, in den entsprechenden Gremien »machtpolitische Nebenabsichten walten« zu lassen. Einer allzu engen Bindung der Institutionen »internationaler geistiger Zusammenarbeit« an den Völkerbund stand sie daher eher skeptisch gegenüber.121 Die politische Instrumentalisierung von Wissenschaft und Kultur - so lautete ihr aus der historischen Erfahrung 118 Gertrud Bäumer (1873-1954), eine der herausragenden Persönlichkeiten der deutschen Frauenrechtsbewegung vor 1933. 1898-1904 Studium und Promotion in Berlin. Mitarbeit bei der Zeitschrift Die Hilfe, ab 1893 Herausgeberin der Zeitschrift Die Frau und des Handbuchs der Frauenbewegung (1901-06), 1910-1919 Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauenvereine. Gründungsmitglied der DDP, 1919/ 20 Mitglied der verfassungsgebenden Nationalversammlung, 1920-33 MdR für die DDP und die DStP, 1922-33 MinR im RMdl für Bildungs- und Sozialpolitik, ab 1926 Delegierte für internationale Jugendpolitik beim Völkerbund. 1930 Mitbegründerin der DStP. Nach der »Machtergreifung« Beurlaubung und Entlassung als Beamtin, Rückzug auf schriftstellerische und publizistische Tätigkeit. 119 G. BÄUMER, Europäische Kulturpolitik, Berlin 1926, S. 5 ff. 120 Ebda., S. 34. 121 Ebda., S. 47 f.
120
».Moralische Eroberungen*?
gewonnener Grundsatz - müsse auf jeden Fall unterbleiben. Deutliche Worte richtete Bäumer in diesem Zusammenhang an die eigene Adresse: »[Es] kann [...] der deutschen Mentalität nicht schaden, wenn sie sich mit einem Stück wirklich selbstlosen Internationalismus schmückt [...] In der Mitarbeit an den Aufgaben internationaler geistiger Zusammenarbeit werden wir zweifellos genug zu geben haben, umsomehr, je weniger wir diese Gaben mit machtpoütischen Hintergedanken verbinden«. Bäumers Konzept einer europäischen Kulturpolitik« offenbart ein abermals erweitertes Verständnis der möglichen Gestalt und Funktion kultureller Auslandskontakte. Es war vom Bewußtsein einer notwendigen Kooperation der europäischen Nationen angesichts des globalen Bedeutungsverlustes des alten Kontinents nach 1918 bestimmt. Bäumer definierte Kulturpolitik eben nicht mehr nur als ein Element zwischenstaatlicher Beziehungen, vielmehr als multilaterale, internationale, europäische Aufgabe und Verpflichtung von hohem Rang. Sie betonte - und auch in diesem Punkt ging sie über Beckers Entwurf von 1919 hinaus - energisch den grundsätzlichen Autonomieanspruch internationaler Kulturbeziehungen vor macht- und handelspolitischen Interessen einzelner Staaten. Stand hinter dieser Argumentation auch unverkennbar das Ringen um die weitere politische und moralische Rehabilitierung Deutschlands auf internationaler Bühne, repräsentieren die Ausführungen der liberalen Politikerin doch einen gedanklichen Quantensprung. Sie blieben eurozentrisch verhaftet, waren aber eben auch von der Uberwindung der nur allzu verbreiteten, in nationalen Kategorien gefangenen Denkschemata der Zeit geprägt.123 Dieser mit Locarno und dem Völkerbundsbeitritt Deutschlands einhergehende kulturpolitische Paradigmenwechsel - die Abkehr von den nationalistischen Entwürfen der Vor- und Nachkriegszeit im Verbund mit der Forderung nach reziproker, internationaler kultureller Zusammenarbeit - bestimmte indes nur eine Strömung der kulturpolitischen Debatte der kommenden Jahre. 124 122 Ebda., S. 50 f. 123 In einem Bericht über eine Vorstandssitzung des Frauenweltbundes im Haag vom 7.6.1922 hatte Bäumer noch andere Akzente gesetzt. Dort war von der Notwendigkeit der Belehrung und Aufklärung über das »neue Deutschland« die Rede, von der »propagandistischen Bearbeitung [...] des Auslandes [...] in großem Umfang«. PAAA, R 60289. Kult VI A. Deutschtum im Ausland 2. Inländische Vereine zur Förderung des Deutschtums im Ausland, Bd. 4 (1921-23). 1 2 4 Vgl. exemplarisch die Beitäge von Anna S E U G , Schülerin des Kultursoziologen Max Scheler, in: KVZ vom 2 5 . 2 . / 4 . 3 . 1 9 2 8 . Dazu: DÜWELL, Kulturpolitik, S. 193 f.
3. Revisionismus - Imperialismo del pobre - Vanguardia moral
121
Traditionalistische Denkweisen, die die Intensivierung kultureller Beziehungen zum Ausland auch weiterhin ausschließlich in den Kontext eines politischen und ökonomischen Konkurrenzkampfes der Mächte zu stellen wußten, verschwanden keineswegs - weder aus der polarisierten öffentlichen Diskussion der Epoche, noch im von antirepublikanischem Denken durchsetzten AA und auch nicht an der kulturpolitischen »Front« im Ausland. 125 Die auch die »Phase der relativen Stabilisierung« der Weimarer Republik prägenden gravierenden politischen und gesellschaftlichen Divergenzen und Disparitäten schlugen sich hier in charakteristischer Weise nieder. Abzuwarten bleibt, welche Auffassung sich in der kulturpolitischen Praxis bei den Beteiligten - amtlichen Funktionsträgern und privaten Mittlern - durchsetzte. Stresemanns öffentliches Bekenntnis zur auswärtigen Kulturpolitik als integralem Bestandteil seiner Verständigungspolitik schlug sich in der Ausstattung der Kulturabteilung mit Personal- und Sachmitteln nieder. Zwischen 1925 und 1929, den Jahren relativer wirtschaftlicher Prosperität der Republik, sollte sich ihre Haushaltslage deutlich verbessern. Als aufschlußreich kann dabei gelten, daß die Ausgaben für kulturpolitische Unternehmungen im Ausland in der internen Verteilung des umkämpften Budgets des AA kontinuierlich anstiegen: Jahr 1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932
Etat KA (Mio. RM) 3,0 3,3 4,7 6,0 6,0 8,25 6,75 6,47 6,23
Gesamtetat AA 37,8 42,5 59,3 62,5 64,5 67,4 60,6 54,9 52,0
Anteil KA 7,9% 7,7% 9,6% 9,6% 9,3% 12,2% 11,1% 11,8% 12,0%
Quelle: Akten PAAA; Reichshaushaltspläne 1924-1932.126
125 Vgl. ebda, S. 198 ff. In diesem Zusammenhang fallen besonders die kulturpropagandistischen Aussagen von Ex-Reichskanzler Hans Luther ins Gewicht. Vgl. ebda., S. 221 ff. Bericht Luther im AA über seine Südamerikareise am 27.1.1927; PAAA, R 28554. Büro RM 41. Auslandsdeutsche, Bd. 1 (1920-35). Rede Luther auf der Tagung der Auslandshandelskammern am 21.6.1927. 126 Für die Inflationszeit liegen naturgemäß nur Daten mit sehr beschränkter Aussagekraft vor. Vgl. DÜWELL, Kulturpolitik, S. 100 und 126; TWARDOWSKI, S. 17 f.
122
»Moralische Eroberungen*?
Gleichwohl wurde die Kulturabteilung »nicht in dem Maße erweitert [...], wie es der wachsende Umfang und die zunehmende Bedeutung der kulturpolitischen Arbeiten zweifellos erfordert hätten«. 127 So mußte der Außenminister in seinem ersten kulturpolitischen Runderlaß an die deutschen Auslandsvertretungen vom 31. Januar 1928 - einem Schlüsseldokument, in dem Stresemann die Leitlinien deutscher Kulturarbeit im Ausland im Rahmen der Verständigungspolitik festlegte - eingestehen: »Die allgemeine Gestaltung der politischen Verhältnisse, insbesondere auch unser Eintritt in den Völkerbund, ermöglicht es, unsere Kulturpolitik im Ausland systematischer zu gestalten [...] Große Möglichkeiten [bieten sich für uns] auf diesem Gebiete [...] Eine Zusammenstellung und Prüfung aller aus dem Inland und Ausland gestellten Anforderungen ergab [jedoch], daß die [...] zur Verfügung stehenden Mittel nicht entfernt zu ihrer Bewilligung ausreichten [...] Es blieb daher nichts anderes übrig, als [...] fast überall sehr erhebliche Abstriche vorzunehmen«.128 An öffentlichen und internen Willenskundgebungen fehlte es auch in der Folge nicht. So bezeichnete Reichskanzler Hermann Müller in seiner Regierungserklärung vom 3. Juli 1928 die »Vertiefung der internationalen kulturellen Beziehungen« als »wichtige Aufgabe« der Außenpolitik seines Kabinetts. 129 Und auch Stresemann selbst betonte ein knappes Jahr vor seinem Tod noch einmal in einem internen Zirkular: »Die Gestaltung der außenpolitischen Lage in den letzten Jahren hat es in stets zunehmendem Maße möglich und erforderlich gemacht, im Rahmen der gesamten Außenpolitik bewußt und systematisch auch eine deutsche Kulturpolitik zu treiben. Aus den Berichten der Auslandsvertretungen geht hervor, daß andere Länder die Auslands-Kulturpolitik als eine der wichtigsten Stützen der Außenpolitik mit besonderer Sorgfalt pflegen. Umso größer ist die Bedeutung der Kulturpolitik für Deutschland, dessen Weltgeltung jetzt mehr als je zuvor durch sein kulturelles Ansehen mitbestimmt wird«. 30
127 DÜWELL, Kulturpolitik, S. 225.
128 PAAA, R 60798. Kult Pol Büroleiter 5/1. Dienstbetrieb der Abteilung VI. Allgemeines, Bd. 1 (1927-36). Runderlaß vom 31.1.1928. Gedruckt bei: DÜWELL, Kulturpolitik, S. 371 f. 129 Verhandlungen des Reichstags. Stenographische Berichte, Bd. 423, Berlin 1929, S. 44. 130 PAAA, R 61124. Kult VI W. Generalia 1. Deutsche Kulturpropaganda. Allgemeines, Bd. 1 (1927-30). Rundschreiben Stresemann an die Reichsminister und die deutschen Regierungen vom 16.1.1929, gedruckt in: DÜWELL, Kulturpolitik, S. 374 f.
3. Revisionismus - Imperialismo del pobre - Vanguardia moral
123
I n den jährlichen Haushaltsberatungen des Reichstags allerdings sah sich der D V P - P o l i t i k e r gerade aus dem Lager seiner Koalitionspartner, der Zentrumsund S P D - F r a k t i o n , wiederholt mit kritischen Eingaben k o n f r o n t i e r t , die die »allzu beschränkten finanziellen Mittel« 1 3 1 der Kulturabteilung, ihre personelle Ausstattung und das oft
unzureichende kulturpolitische
Engagement
der
deutschen Auslandsvertretungen auf die Tagesordnung rückten. V o r allem v o n Seiten der S P D wurden diese V o r w ü r f e mit der alten, aber unvermindert aktuellen F o r d e r u n g einer durchgreifenden D e m o k r a t i s i e r u n g des auswärtigen Dienstes durch Zurückdrängung des h o h e n Adelsanteils v e r k n ü p f t . 1 3 2 D i e v o m 24. J u n i 1929 datierende Erwiderung des Außenministers auf diese V o r h a l t u n gen aus dem Parlament hat bereits K u r t D ü w e l l in seiner grundlegenden Studie diskutiert u n d zu R e c h t als »entschiedenste positive Ä u ß e r u n g , die Stresemann überhaupt zur Frage der auswärtigen Kulturbeziehungen gemacht hat«, bezeichnet. 1 3 3 D a h e r genügen hier einige kurze A n m e r k u n g e n . Gerade v o n der Tagung des Völkerbundsrates in M a d r i d 1 3 4 zurückgekehrt, wies Stresemann die V o r w ü r f e , die Kulturabteilung werde i m A A lediglich als » T r a i n « angesehen, im Reichstag entschieden zurück: »[Wenn] in irgendeiner Zeit, so haben [...] kulturelle Fragen für Deutschland - nicht nur in kultureller Beziehung, sondern in außenpolitischer Beziehung - eine ganz ungemein große Bedeutung. (Lebhafte Zustimmung) [...] [D]ie ganze Stellung Deutschlands im Auslande muß sich, wenn sie nicht durch Macht und Ansehen aufrechterhalten wird, was in manchen Fällen vielleicht Kultur ersetzen kann, um so mehr darauf stützen, daß alles das, was an deutschem kulturellen Gut im Auslande besteht, erhalten und möglichst gefördert wird«.
131 Vgl. G. SCHREIBER, Art. Auslandkulturpolitik, in: Politisches Jahrbuch 1926, S. 392-399; DERS., Deutsche kulturelle Bestrebungen, S. 290 ff., Zitat: S. 292. 132 Verhandlungen des Reichstags. Stenographische Berichte, Bd. 425, Berlin 1929, S. 2816. 94. Sitzung. Zweite Lesung des Etats des AA. Rede des außenpolitischen Sprechers der SPD, Rudolf Breitscheid, vom 24.6. 1929. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Rede Stresemanns vor dem Haushaltsausschuß des R T vom 9.2.1929, in der er sich gegen Vorwürfe aus der SPD-Fraktion, im auswärtigen Dienst herrsche noch immer das »Feudalitätsprinzip«, zur Wehr setzen mußte. Auszugsweise gedruckt in: B T vom 9.2.1929. 133 DÜWELL, Kulturpolitik, S. 227 ff., Zitat: S. 227. 134 Zur Madrider Ratstagung des VB siehe unten, Kap. 3.4. und 4.2. 135 Verhandlungen des Reichstags. Stenographische Berichte, Bd. 425, S. 2881. Rede Stresemann vom 24.6.1929. In ähnlicher Weise hatte sich der Außenminister bereits in der zitierten Rede vom 9.2.1929 und in einer Ansprache anläßlich der
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».Moralische Eroberungen«?
In seiner Mitteldefinition verwies der Außenminister mit dem obligatorischen Fingerzeig auf Frankreich 136 einmal mehr auf die drei inwischen wohlbekannten Hauptpfeiler deutscher auswärtiger Kulturpolitik - die »kulturelle Deutschtumspflege«, die Sprachpolitik und den zügigen Ausbau der akademischen Beziehungen zum Ausland. Seine Ausführungen kulminierten in einem emphatischen Appell, aus dem nicht zuletzt die politischen Erkenntnisse seiner Spanienreise hervortraten: »Solange wir im Sonnenglanz der deutschen Machtstellung standen, waren die fremden Völker eher dazu geneigt, ihre Söhne nach Deutschland zu senden [...] Weshalb sind denn viele Persönlichkeiten in der Welt uns in Treue zugeneigt? Weil sie einmal hier gewesen sind, weil sie den deutschen Geist in sich aufgenommen haben, [...] weil daraus eine Hinneigung zu unserem Lande kommt. (Zurufe: Sehr gut!) Und deshalb, so schwer die gesamten Finanzverhältnisse sich gestalten werden, denken Sie an das eine: das ist nicht [...] 'internationalisierende Politik', das ist beste deutsche Politik, (lebhafte Zustimmung) Politik einer Völkerverständigung im deutschen Sinne. Und wenn wir gegenüber anderen Nationen nicht zurückbleiben wollen, dann müssen wir das wiederherstellen«. Kurt Düwell hat Stresemanns methodische Einbindung kultureller Elemente in seine außenpolitische Gesamtstrategie zusammenfassend als »Konzept einer internationalen Kulturpolitik [...] vor einem zweifellos stark nationalen Hintergrund« bezeichnet, gleichzeitig aber einschränkend darauf hingewiesen, daß Ansätze zu internationaler kultureller Zusammenarbeit, wie sie in der zeitgenössischen Publizistik wiederholt hervortraten, in der politischen Praxis - etwa im Rahmen des Völkerbundes - doch recht schwach ausgeprägt bliei 138 ben. Davon abgesehen entwickelten sich die bilateralen Kulturkontakte der Weimarer Republik zum Ausland in der Amtszeit Stresemanns allen widrigen Umständen zum Trotz in bemerkenswerter Weise. Dies gilt ebenso für die amtliche, im engen Rahmen des finanziell Machbaren von der Kulturabteilung im AA gestaltete Kulturpolitik wie für halboffizielle und private KulturkonEinweihung des Harnack-Hauses der KWG in Berlin-Dahlem am 7.5.1929 geäußert. Vgl. STRESEMANN, Vermächtnis, Bd. 3, S. 488 ff. 136 »Sehen Sie sich die französische Republik an; [...] sie weiß ganz genau, womit sie den Orient geistig erobert hat: mit ihren französischen Schulen, mit ihren französischen kulturellen Bestrebungen«. 137 Verhandlungen des Reichstags. Stenographische Berichte, Bd. 425, S. 2881. 138 DÜWELL, Kulturpolitik, S. 2 3 0 , 2 5 1 . Zitat: S. 230.
3. Revisionismus
- Imperialismo
delpobre
- Vanguardia moral
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takte. Die Analyse der vielschichtigen, sich zum Ende der zwanziger Jahre verdichtenden deutsch-spanischen Kulturbeziehungen wird diese Tendenz exemplarisch dokumentieren. Nach dem Scheitern der Großen Koalition am 27. März 1930, der letzten Regierung mit parlamentarischer Mehrheit, bestimmte der von den Präsidialdiktaturen eingeschlagene »neue Kurs« die deutsche Außenpolitik. Stresemanns Nachfolger Julius Curtius, Heinrich Brüning, Constantin Freiherr von Neurath und die neue, nationalkonservative Führungsclique im AA um Bernhard von Bülow und Ernst von Weizsäcker brachen in puncto Stil, Methoden und Zielsetzungen radikal mit den auf internationale Verständigung und friedlichen Interessenausgleich ausgerichteten Grundmaximen der späten zwanziger Jahre. Qualitativ zeigte sich diese Politik »stärker der Außenpolitik nach 1933 als der Stresemanns« verbunden.139 Die mit der Kampagne gegen den Young-Plan heranrollende neue »patriotische Welle in Deutschland«140, die Renaissance der Anti-Versailles-Agitation, wurde gezielt instrumentalisiert - innenpolitisch im Sinne des von Brüning beabsichtigten autoritären Staatsumbaus. Vor allem aber diente die sich mit der Weltwirtschaftskrise und den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 zuspitzende ökonomische und politische Krise einer »handfestefn] außenpolitische[n] Kalkulation«. 1 1 Die 1930 von Curtius, Brüning und der in leitende Stellungen in der Wilhelmstraße aufgerückten Frontgeneration vollstreckte »Umstellung von Erfüllungspolitik auf Revisionspolitik« 142 , die Politik der »freien Hand« oder »schärferen Gangart« - das aggressive deutsche Gebaren und der Konfrontationskurs in Genf, die Ablehnung von Briands Europaplan, die auf »Autarkie im Großwirtschaftsraum« zielende Außenhandelsstrategie 139 Vgl. D. GESSNER, Das Ende der Weimarer Republik. Fragen, Methoden und Ergebnisse interdisziplinärer Forschung, Darmstadt 1978, Zitat: S. 34; H. GRAML, Präsidialsystem und Außenpolitik, in: V f Z 21, 1973, S. 134-145; K. MEGERLE, Weltwirtschaftskrise und Außenpolitik. Zum Problem der Kontinuität der deutschen Politik in der Endphase der Weimarer Republik, in: J. BERGMANN [u.a.], Geschichte als politische Wissenschaft. Sozialökonomische Ansätze, Analyse politikhistorischer Phänomene, politologische Fragestellungen in der Geschichte, Stuttgart 1979, S. 116-140. 140 HILL, Weizsäcker-Papiere, Bd. 1, S. 412. Brief Weizsäcker an seine Mutter vom 26.12.1930. 141
KRÜGER, A u ß e n p o l i t i k , S. 5 1 5 , 5 1 7 .
142 HILL, Weizsäcker-Papiere, Bd. 1, S. 412.
»Moralische Eroberungen*?
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und Präferenzpolitik in Südosteuropa, die einer ökonomischen »Kriegserklärung« gleichkam, das erpresserische Taktieren in der Reparations- und Abrüstungsfrage, mit anderen Worten die »Absage an Europa« und Lösung aus allen internationalen Verpflichtungen und Bindungen, die deutsche Interessen nicht unmittelbar berührten - war noch keine offene »Gewaltpolitik«. Auch fußte der forcierte Revisionismus gegen Ende der Weimerer Republik nicht auf rassebiologischen und sozialdarwinistischen Wahnvorstellungen. Doch trug der »Großangriff auf die Ordnung von Versailles« mit seinem aggressiven nationalistischen Tenor nachhaltig zur neuerlichen Verschlechterung des internationalen Klimas und Agonie der labilen deutsch-französischen Beziehungen bei. 143 Damit setzten »der Außenpolitiker Brüning und sein Kabinett wenn auch ungewollt - wichtige Meilensteine auf dem Wege zur nationalsozialistischen Außenpolitik«. 144 Einher mit der radikalen Abkehr vom gemäßigten Revisionsansatz Stresemanns ging der schleichende Autoritätsverlust des AA. Die Personalunion von Reichskanzler und Außenminister nach dem Rücktritt von Curtius, die mehr als zweifelhafte Erfolgsbilanz der Wilhelmstraße im Umgang mit den außenpolitischen Herausforderungen der Zeit und der Machthunger rivalisierender Instanzen wie der Reichswehr, des Reichwirtschaftsministeriums und - im hier behandelten Zusammenhang von besonderer Bedeutung - der Anfang Mai 1931 von Reichsorganisationsleiter I, Gregor Strasser, gegründeten
Ausländsab-
teilung der NSDAP engten Wirkungsmöglichkeiten und Einflußsphären des A A in Konzeption und Durchführung seiner Politik nicht unerheblich ein. 1 4 5 Nicht ohne Rückwirkungen konnte dieser Paradigmenwechsel auf die Gestaltung der deutschen auswärtigen Kulturpolitik bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme bleiben. Kurt Düwell hat hervorgehoben, in wie hohem Maße nach 1929 eine auf »ausschließlich nationale Interessen im engsten Sinne« ausgerichtete Strategie Vorrang gegenüber internationalen, in den einschlägigen Gremien des Völkerbundes verankerten kulturpolitischen Kon143 KRÜGER, Außenpolitik, S. 507 ff., Zitate: S. 516, 522 f. 144 B. J. WENDT, Großdeutschland. Außenpolitik und Kriegsvorbereitung des HitlerRegimes, München 1987, S. 55. 145
KRÜGER, A u ß e n p o l i t i k , S. 519. Vgl. H . - A . JACOBSEN, D i e G r ü n d u n g der Aus-
landsabteilung der NSDAP (1931-1933), in: E. SCHUUN (Hg.), Gedenkschrift Martin Göhring. Studien zur europäischen Geschichte, Wiesbaden 1968, S. 353-368; DERS., NS-Außenpolitik, S. 90 ff.
3. Revisionismus - Imperialismo del pobre - Vanguardia moral
127
takten gewann. 146 Dabei wurden die Perspektiven kultureller Beziehungen zum Ausland in der Wilhelmstraße in dieser Zeit keineswegs gering geschätzt. Im Gegenteil, in einem Redeentwurf für Außenminister Curtius hieß es im Juni 1930 einleitend - vordergründig noch ganz im Geiste Stresemanns: »[...] den immer stärker werdenden Bestrebungen der Völker nach ihrer gegenseitigen kulturellen Annäherung [kommt] eine eminente politische Bedeutung zu. Ich sehe in ihrer Pflege eine der vornehmsten Aufgaben des auswärtigen Dienstes«.147 Die »Verengung auf den rein nationalen Aspekt« 148 unter dem Eindruck der politischen und ökonomischen Krise manifestierte sich in einer veränderten Mittel- und Zieldefinition. Den Kürzungen im Etat der Kulturabteilung zum Trotz sollte fortan die »Weltgeltung« der deutschen Sprache vermittels der deutschen Auslandsschulen und einer breiten Palette von Sprachkursen im Ausland stärker in den Vordergrund rücken - und zwar im Wettlauf mit »anderen Völkern«, die »ihre Auslandsschulen als reines Propagandamittel« einsetzten. Als Leitmotiv über jeder »kulturellen Annäherung Deutschlands an das Ausland« aber müsse die »Pflege des Volkstumgedankens« stehen. Unter allen Umständen sei daher die »kulturelle Versorgung« der »Volksgenossen ausserhalb der Reichsgrenzen« zu verstärken. Gegenüber diesem Pflichtteil trat jedwede internationale geistige Zusammenarbeit in den entsprechenden Gremien des Völkerbundes weit zurück. 149 Kurt Düwell hat derlei Auslassungen als klares Indiz dafür genommen, »wie sehr inzwischen das 'völkische' Vokabular in der konservativ-nationalen und [zum Teil] selbst in der liberalen Argumentation Fuß gefaßt hatte«. 150 Auf den Punkt gebracht wurde diese Tendenz, Kulturbeziehungen zum Ausland aus einem rein nationalen Blickwinkel zu betrachten und den Kooperations- und Austauschgedanken vollständig in den Hintergrund zu drängen, zuletzt in einer Aufzeichnung der Kulturabteilung vom November 1932. Dort hieß es lapidar: »Die deutsche Kulturpolitik im Ausland [... macht sich] einerseits die Erhaltung des stamm- und sprachverwandten Volkstums und der Reichsdeutschen bei der deut146 DÜWELL, Kulturpolitik, S. 230 ff., Zitat: S. 230. 147 PAAA, R 61125. Redeentwurf VLR Terdenge, stellv. Leiter der KA, vom 10.6. 1930. Auszugsweise gedruckt bei: DÜWELL, Kulturpolitik, S. 379 ff. 148 Ebda., S. 231. 149 PAAA, R 61125. Redeentwurf Terdenge vom 10.6.1930, S. 1 f., 5 f., 9. 150 DÜWELL, Kulturpolitik, S. 231.
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»Moralische Eroberungen«?
sehen Sprache und Bildung, andererseits die Werbung um den Ausländer für das deutsche Geistesgut zur Aufgabe«.151 So war man in der Wilhelmstraße im Einklang mit zunehmend schrilleren Tönen in der zeitgenössischen Publizistik zu der aus der Vor- und Nachkriegszeit bekannten Argumentationslinie zurückgekehrt. Gleichzeitig war damit der Weg zur »Remobilisierung« und radikalen Ubersteigerung »nationalistische^] Kulturpropaganda« 152 nach dem 30. Januar 1933 geebnet.
151 Ebda., Unsignierte Aufzeichnung der KA vom 17.11.1932. 152 Dltwell, Kulturpolitik, S. 242.
3. Revisionismus - Imperialismo del pobre - Vanguardia moral
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»Ni las Ciencias, ni las Letras ni las Artes son monárquicas o republicanas. La Cultura está por encima y por debajo de las [...] formas de gobierno.« Miguel de Unamuno (1931)
3.3. Kultur als neues Instrument spanischer Außenpolitik Die Anfangsjahre der Weimarer Republik waren bekanntlich keine Phase innerer Konsolidierung, sondern von politischer Radikalisierung, komplexen ökonomischen Problemen und sozialen Konflikten überschattet. Entsprechendes gilt für die innere Entwicklung Spaniens seit 1917. Dort gipfelten die durch die Nachkriegsdepression weiter verschärften politischen und gesellschaftlichen Antagonismen in einer permanenten Staatskrise. Bis zum Putsch Primo de Riveras am 13. September 1923 prägten wirtschaftliche Unsicherheit, soziale Gewalt, der Funktionswandel des Militärs von einer Modernisierungselite zu einer konservativ-reaktionären Kraft und fortgesetzte parlamentarische Krisen das politische Leben des Landes.153 Hinzu kam als außenpolitisches Moment die verheerende Kolonialpolitik in Nordafrika. Mit dem desastre de Annual erreichte die schier unendliche Geschichte der mißlungenen spanischen Interventionen in Marokko einen traurigen Höhepunkt. Bedurfte es nach 1898 noch eines Belegs, so offenbarte den Zeitgenossen spätestens das militärische Fiasko im Kampf gegen die Rifkabylen, in dem allein im Juli 1921 mehr als 13.000 spanische Soldaten ihr Leben ließen, das ganze Ausmaß des machtpolitischen und wirtschaftlichen Niedergangs ihres Landes.154 Uber diese bittere Erkenntnis half auch die Aufnahme Spaniens in den Völkerbund als nichtständiges Ratsmitglied, das 1920 entrichtete Entgelt der Entente für die wohlwollende Neutralität im Ersten Weltkrieg, nicht hinweg. Allgegenwärtig blieb vielmehr die Verbitterung über die grandeza perdida der
153 154
Vgl. BERNECKER, Sozialgeschichte, S. 239 f.; CARR, S. 509 ff.; S. G. PAYNE, Politics and the Military in Modern Spain, Stanford, Cal. 1967, S. 14 ff. Vgl. PEREIRA, S. 159.
130
»Moralische Eroberungen
einstigen Weltmacht.155 Damit gewannen in der Nachkriegszeit nicht nur in Deutschland, sondern auch in Spanien Stimmen Konjunktur, die eine nunmehr stärkere Präsenz des Landes auf internationalem Parkett abseits der ausgetretenen außenpolitischen Pfade reklamierten. In Analogie zur eine Dekade zuvor erfolgreich eingeleiteteten Anknüpfung rezeptiv ausgerichteter Kulturbeziehungen Spaniens zum Ausland verlangten sie nun eine offensive, planmäßig und systematisch zu verfolgende auswärtige Kulturpolitik nach dem Vorbild Frankreichs. Waren das politische Gewicht wie die ökonomischen Ressourcen Spaniens in der Gegenwart ganz offenkundig begrenzt - als Fundament für eine erfolgreiche kulturelle Selbstdarstellung im Ausland schien nicht zuletzt der Rückbezug auf das reiche historische Erbe des Landes, seinen zivilisatorischen Ort in der Geschichte des Abendlandes geeignet. Zudem fühlte man sich mit dem geistigen Aufbruch seit der Jahrhundertwende wieder näher am Puls der europäischen Wissenschaft und Kultur. Davon abgesehen schien besonders die kulturelle Affiliation mit den ehemaligen Kolonien in Hispanoamerika vielversprechende kulturpolitische Perspektiven zu eröff-
3.3.1. Die Oficina de Relaciones Culturales Españolas Der erste Vorstoß zur politischen Umsetzung und Institutionalisierung dieser Vorstellungen kam einmal mehr aus dem Lager der reformfreudigen Intellektuellen im Umkreis der Institución Libre de Enseñanza. Prominente Repräsentanten der JAE wie Rafael Altamira, Manuel Azaña, Américo Castro oder Ramón Menéndez Pidal waren im Ersten Weltkrieg als Mitglieder der spanischen Delegation an den bilateralen Kulturverhandlungen mit Frankreich beteiligt gewesen und wirkten aktiv an deren inhaltlicher Ausgestaltung mit. 157 Damit hatten sie einen nachhaltigen Eindruck vom vielfältigen Instrumentarium und der Effektivität französischer Kulturpolitik nicht zuletzt im eigenen Land gewonnen. Dem galt es nun nachzueifern. 155 Vgl. BLEDSOE, Spanish Foreign Policy, S. 15 f.; G. SOLE, La incorporación de España a la Sociedad de Naciones, in: Hispania 132, 1976, S. 131-169. 156
V g l . DELGADO GÓMEZ-ESCALONILLA, S. 17 f., NIÑO RODRÍGUEZ, L ' e x p a n s i o n
culturelle espagnole, S. 206 f. 157 Vgl. DELAUNAY, Des palais en Espagne, S. 126 f.; NIÑO RODRÍGUEZ, Cultura y diplomacia, S. 331 ff.
3. Revisionismus - Imperialismo del pobre - Vanguardia moral
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Einige Monate nach Annual, im September 1921, war es soweit. In einer vertraulichen Aufzeichung wandte sich Américo Castro 158 an den erst wenige Wochen amtierenden, dem krausismo nahestehenden Außenminister Manuel González-Hontoria und unterbreitete ihm sein aus der jüngeren Geschichte und aktuellen politischen Lage des Landes gewonnenes kulturpolitisches Credo: »Durante el siglo XIX España se ha considerado en el mundo como un país mortecino, [...] que para la cultura internacional no tenía más valor que el de ser un museo arqueológico de inmenso precio. En estos últimos años el pequeño resurgimiento científico que se ha operado en distintos campos de la cultura ha atraido un poco la atención del exterior, y ha comenzado España a notar los resultados de esa solicitud«.
158 Américo Castro y Quesada (1885-1972), Literaturwissenschaftler und Kulturhistoriker. Schüler von Giner de los Ríos, enger Mitarbeiter Ramón Menéndez Pidais. Auslandsstudienaufenthalte in Paris und Berlin. 1910 Leiter der Sektion für Lexikographie des Centro de Estudios Históricos der JAE, 1915-36 Prof. für Geschichte und Literaturgeschichte in Madrid - einer der international renommiertesten spanischen Geisteswissenschaftler seiner Zeit. Nach Ausbruch des Bürgerkriegs Exil in den USA, Dozenturen in Harvard und an den Universitäten von Wisconsin und Texas. 1940 Prof. für spanische Geschichte und Literatur in Princeton. Neben seinen Cervantes-Forschungen gilt als Castros Hauptwerk die 1954 in Mexiko erschienene, vieldiskutierte Arbeit La realidad histórica de España (überarb. Fassung der 1948 in Buenos Aires veröffentlichten Studie España en su historia. Cristianos, moros y judíos-, dt.: Spanien. Vision und Wirklichkeit, Köln 1957), in der Castro in Auseinandersetzung mit Claudio Sánchez Albornoz den gescheiterten Versuch des Zusammenlebens dreier Religionen bzw. Ethnien auf der Iberischen Halbinsel (Juden, Mauren, Christen) im Mittelalter als Ausgangspunkt der spanischen Sonderentwicklung im neuzeitlichen Europa interpretiert, einer Geschichte von »politischen und wirtschaftlichen Irrtümern [...], die zum Zusammenbruch und zum Niedergang geführt haben«. Ebda., S. 16. Zu Castro, seinem Geschichtsverständnis und zur polemisch geführten historiographischen Kontroverse mit Sánchez Albornoz u.a. vgl. J . A L M E I D A N E S I , El problema de España en la obra de Américo Castro, Córdoba 1993; E. A S E N S I O , La España imaginada de Américo Castro, Barcelona 1992; J. R U B I A B A R C I A (Hg.), Américo Castro and the Meaning of Spanish Civilisation, Berkeley, Cal. [u.a.] 1976. Eine lesenswerte Einführung in die Problematik bietet L. V O N E S , Geschichte der iberischen Halbinsel im Mittelalter (711-1480). Reiche - Kronen - Regionen, Sigmaringen 1993, S. 12 ff. 159 AMAE, R 1380-26. Relaciones culturales. Organización de la Junta de Relaciones culturales (1921-31). Nota confidencial al Sr. González-Hontoria sobre el problema de la difusión de la Cultura Hispánica en el Extranjero [undatiert, Sept. 1921], S. 1.
132
».Moralische Eroberungen«?
Mit diesen Worten würdigte Castro den kulturpolitischen Widerhall der Auslandskontakte der JAE, verlangte aber eine wesentliche inhaltliche und methodische Ausweitung und Auffächerung dieser Aktivitäten. Als politisches Vorbild diente einmal mehr die Grande Nation: »Gl país que mejor ha realizado esta labor de administrar su reputación y su cultura en el exterior es sin duda alguna Francia [...] Todo eso para nosotros es un sueño; pero por algo habría que empezar«.
Der Historiker bündelte seine Gedanken in der Erwartung: »El día que existiese un Centro oficial que realizara la debida publicidad fuera, se centuplicaría esa actividad [...] H o y por hoy tal vez no tenga España misión internacional de más relieve que la que podría deducirse de una empresa semejante, que llevada con tacto no encontraría sino vías abiertas a través del mundo«.
Im weiteren unterschied Castro mit Blick auf eine künftige kulturpolitische Offensive Spaniens im Ausland zwei Adressaten: •
die kulturell affilierten »Tochternationen« in Hispanoamerika. Dort gelte es, die Bevölkerungsgruppen spanischer Herkunft in der Wahrung ihrer kulturellen Bindungen zum Mutterland zu unterstützen und dem hispanoamericanismoder in der Vergangenheit über die Deklamation schöner Worte oft nicht hinausgekommen sei, endlich Struktur und Schlagkraft zu geben. Es müsse ein Gegengewicht zum wachsenden kulturpolitischen Engagement Frankreichs und der USA in den klassischen spanischen Einflußsphären - Nordafrika, Hispanoamerika und auf den Philippinen - geschaffen werden. Nur auf diesem Weg sei an die kulturelle Präponderanz vergangener Epochen anzuknüpfen.
•
die »zivilisierten« Nationen in Europa und Nordamerika. Im Zuge der Anbahnung enger kulturpolitischer Beziehungen zu diesen Ländern komme es darauf an, mittels verstärkter wissenschaftlicher Kooperation und der gezielten Förderung des spanischen Lehrangebots an den dortigen Hochschulen nunmehr methodisch und systematisch die zarte Pflanze des aufkeimenden hispanistischen Interesses in diesen Staaten zu pflegen.161
160 161
Ebda., S. 2 und 5. A M A E , R 1380-26. Memorándum s/ La necesidad, para el Estado español, de plantearse y realizar un programa de 'política cultural' fuera de España (undatiert, 1922).
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Castro hatte klar umrissene Vorstellungen von der notwendigen institutionellen Verankerung einer zugkräftigen Kulturpolitik im Ausland. Auch hier folgte er dem französischen Modell. Konnte die JAE als fest etablierte Körperschaft im spanischen Kulturministerium zu einem dem Service
d'expansion
universitaire et scientifique ähnlichen Apparat ausgebaut werden, so fehlte noch ein Äquivalent zur Kulturabteilung im Quai d'Orsay - dem Service des œuvres françaises à l'étranger. In der Konsequenz schlug Castro die Gründung eines weitgehend autonomen,
gemeinsam von einem Diplomaten, einem Wissen-
schaftler und einem Literaten oder Künstler geleiteten Kulturausschusses im Staatsministerium vor - »un modesto organismo que con suma prudencia sentara los cimientos de la obra«. 162 Offenkundig gedachte der liberale Historiker damit die mit der Gründung von ILE und JAE eingeleitete Strategie der liberalen Reformbewegung, verkrustete oligarchische Strukturen und bürokratische Hemmnisse durch den Aufbau unabhängiger, modellhafter Einrichtungen und ihre Besetzung mit bürgerlichen Fachleuten aufzubrechen, auf den Bereich auswärtiger Kulturpolitik zu übertragen. Nicht umsonst forderte Castro im weiteren, die Aktivitäten des neuen Ausschusses im Staatsministerium eng mit der JAE und privaten Initiativen abzustimmen, um die zur Verfügung stehenden Mittel möglichst effektiv zu nutzen und Überschneidungen zu vermeiden. 163 De facto ging es hier weniger um die sinnvolle Abgrenzung von Kompetenzen, als vielmehr darum, den Einfluß des liberalen Reformprojekts auf die inhaltliche Gestaltung einer künftigen spanischen Kulturoffensive im Ausland zu sichern. Wenige Wochen später fielen die Anregungen Castros auf vermeintlich fruchtbaren Boden. González-Hontoria verfügte zum 1. Dezember 1921 die Einrichtung einer Oficina de Relaciones Culturales Españolas in der Politischen Abteilung des Staatsministeriums. 164 Doch verwies bereits der weitere Inhalt der Verordnung auf die künftigen Probleme des Kulturausschusses. Mehrere Beschränkungen minderten den Status der O R C E entscheidend. Entgegen den Vorstellungen Castros wurde sie der unbedingten Weisungsbefugnis des
162 AMAE, R 1380-26. Nota confidencial al Sr. González-Hontoria, S. 6. 163 Ebda. 164 AMAE, R 552-10. Relaciones culturales. Creación de la Oficina de Relaciones Culturales Españolas [ORCE] (1921). Real orden de 17.11.1921.
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»Moralische Eroberungen«?
Leiters der Politischen Abteilung unterstellt und hatte lediglich provisorischen Charakter. Außerdem verfügte sie über keinen eigenen Etat. So reduzierte sich in den beiden Jahren bis zur Errichtung der Diktatur die Tätigkeit des auch personell sehr dürftig ausgestatteten Kulturausschusses165 auf eine erste kulturpolitische Bestandsaufnahme und Suche nach Orientierung. Dabei galt es, erst einmal einen Uberblick über die Verteilung, die ungefähre Zahl und Lage der im Ausland lebenden Spanier, die Stellung der spanischen Sprache und die regional unterschiedlichen
kulturpolitischen
Entwicklungsmöglichkeiten im Ausland zu gewinnen. Von den diplomatischen und konsularischen Vertretungen wurden zu diesem Zweck im Dezember 1921 detaillierte Kulturberichte eingeholt. 166 Mit Hilfe dieser Daten, der Sammlung von Material über die Gestaltung der auswärtigen Kulturpolitik in verschiedenen anderen Ländern 167 und seinen eigenen praktischen Erfahrungen entwarf Castro sodann ein abgestuftes kulturpolitisches Programm, daß inhaltlich in vielen Punkten dem Panorama französischer Kulturarbeit im Ausland folgte. Kernpunkte bildeten danach die Präsentation spanischer Sprache und Kultur durch Entsendung von Lektoren an fremde Hochschulen, die Versorgung einschlägiger Bibliotheken mit spanischer Literatur, die Förderung des Wissenschaftsaustauschs, die Zusammenarbeit mit bereits bestehenden spanischen Einrichtungen im Ausland, die Unterstützung zwischenstaatlicher Gesellschaften, die Veranstaltung spanischer Buch- und Kunstausstellungen und nicht zuletzt die kulturelle Betreuung der im Ausland lebenden Spa168
nier. Vor dem Hintergrund der miserablen Ausstattung der O R C E in ihrer Anfangszeit mußte die konsequente inhaltliche Umsetzung dieses Programms im 165 Dem ersten Leiter der O R C E , dem Diplomaten Justo Gómez Ocerín, standen als Sekretär der ehemalige Finanzminister Arnos Salvador sowie als beratendes Gremium ein kleiner Stab von Wissenschaftlern der J A E (Blas Cabrera, Américo Castro und Antonio Garcia Solalinde) zur Seite. AMAE, R 1380-26. Creación de una Oficina de Relaciones Culturales Españolas (undatiert). 166 AMAE, R 1380-26. ME, Circular núm. 716 vom 22.12.1921. 167 Auch über Organisation, Etat und Tätigkeitsfelder der deutschen auswärtigen Kulturpolitik holte die O R C E über die Botschaft in Berlin Informationen ein. PAAA, R 60431. Kult VI A. Deutschtum im Ausland 5. Grundsätze über die Pflege kultureller Beziehungen, Bd. 2 (1922-23). Schreiben San Esteban de Cañongo an Heilbron vom 12.12.1922, Antwort Soehring vom 4.4. 1923. 168
AMAE, R 1380-26. Undatiertes Memorandum (1922), S. 1-4.
3. Revisionismus
- Imperialismo del pobre - Vanguardia moral
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Ansatz steckenbleiben. Aktiv einschalten konnte sich der Kulturausschuß in dieser Phase lediglich in die Vermittlung spanischer Lektoren ins Ausland und in den Bücheraustausch zwischen spanischen Wissenschaftszentren und einigen wenigen europäischen Bibliotheken. 169 Alle anderen skizzierten Arbeitsfelder lagen vorerst brach. Angesichts dieser unbefriedigenden Situation referierte Castro wenige Monate vor dem Staatsstreich Primo de Riveras, im April 1923, in einem vertraulichen Briefwechsel mit dem inzwischen zum neuen Leiter der ORCE berufenen Conde de San Esteban de Cafiongo über seine vergeblichen Interventionen beim Außenminister, brachte die Probleme in ultimativer Form zur Sprache und forderte eine sofortige Kurskorrektur: »[N]ada se hace por falta de dinero e incluso de organización acertada [...] Antes de resolverme a abandonar una obra en la que trabajo con camino desde septiembre de 1921, intento por última vez lograr del Sr. Alba una reforma que dote de medio a la oficina. Mi plan está reducido a dos puntos: dinero, autonomía«. 170
Castro verlangte faktisch nicht weniger als eine deutliche Ausweitung der Kompetenzen der ORCE durch die Einrichtung eines unabhängigen Fachkomitees und Aufstellung eines eigenen Etats. Die Kooperation mit anderen Abteilungen des Ministeriums sollte sich auf Problemfelder beschränken, die eine juristische und diplomatische Flankierung notwendig machten. Für die ORCE dagegen beanspruchte Castro volle kulturpolitische Entscheidungsund Handlungsfreiheit: »[E]n lo escencial la oficina reformada actuaría libremente, [...] directamente y por su cuenta«. 171 Mit diesen aus der Ernüchterung über die Paralyse der ORCE geborenen Maximalforderungen, die an den 1919 in Deutschland von Becker formulierten Autonomiegedanken erinnern, unternahm der liberale Historiker den Versuch, der ORCE zu einem ähnlichen Status wie der JAE im spanischen Kulturministerium zu verhelfen. Er beabsichtigte, in Fortführung der erfolgreich eingeleiteten »Kulturrevolution« im Innern nunmehr auch die auswärtige Kulturpolitik Spaniens unter die Kontrolle einer wissenschaftlich gebildeten, reformorientierten, aufgeklärten bürgerlichen Fachelite zu bringen. Die damit zu erzielenden Synergieeffekte lagen auf der Hand. Doch biß Castro mit dieser
169 Ebda. Expansión Cultural Española. Bibliotecas en el Extranjero (undatiert, 1923). 170 Ebda. Vertraulicher Brief Castro an San Esteban de Cañongo vom 19.4.1923, S. 1. 171 Ebda, S. 2.
»Moralische Eroberungen
136
Strategie im Kreis der konservativen Nomenklatur im Staatsministerium auf Granit. Der Leiter der O R C E wies seine Vorschläge in scharfer Form zurück: »V. quiere en realidad un organismo independiente, con fondos propios, que sustituya al nuestro. Esto no ha sido nunca idea de nadie [...] Se ha querido crear en el Ministerio de Estado un organismo, a semejanza de los de Francia y otros Países, para la propaganda y defensa cultural nacional por todos los medios a nuestro alcance, y valiéndose para ello, si fuera preciso, de cuantas entidades existen en la Nación [...], es decir la Oficina [...] la cabeza, el cerebro de la política cultural, cuyas finalidades han de redundar en provecho de la política internacional patria [...] Lo que hace falta [...] es dinero para desarrollar los planes de nuestra Oficina, y disciplina para coordinar nuestros esfuerzos«.172 Damit waren die ambitionierten Pläne Castros endgültig gescheitert. Der Historiker zog desillusioniert die angekündigten Konsequenzen und reichte im Sommer 1923 seinen Rücktritt aus dem Kulturausschuß ein.
3.3.2.
Die Diktatur
Primo de R iveras
Wenige Wochen nach Castros Aufgabe führte Miguel Primo de Rivera mit Rückendeckung Alfonsos XIII. und auf Druck der katalanischen Großbourgeoisie die zunächst mit beinahe allgemeiner Erleichterung aufgenommene »autoritäre Lösung der Staatskrise« herbei. 173 Mit seinem
pronunciamiento
vom 13. September 1923 und der Auflösung der Cortes beseitigte der Generalkapitän von Katalonien das konstitutionelle System von 1876. In seinem Putschmanifest kündigte er an, »libertar [la Patria] de los profesionales de la política, de los hombres que por una y otra razón nos ofrecen el cuadro de desdichas e inmoralidades que empezaron el año
172 AMAE, R 1380-26. Brief San Esteban de Cañongo an Castro vom 20.4.1923, S. 1 f. 173
BERNECKER, Sozialgeschichte, S. 244.
174 Manifiesto al País y al Ejército Españoles vom 12.9.1923, veröffentlicht in: La Vanguardia vom 13.9.1923. Abdruck in: F. DÍAZ-PLAJA (Hg.), La historia de España en sus documentos. El siglo XX, 1900-1923, Madrid 1960, S. 507 f. Zur augenfälligen gedanklichen Affinität des Manifests Primo de Riveras und annähernd zeitgleichen Äußerungen des Chefs der deutschen Heeresleitung, Generaloberst Hans von Seeckt, eines »Seecktschen Primoderiverismo« in »Nachahmung des Beispiels seines spanischen Kollegen«, vgl. mit Verweis auf die einschlägige Literatur: SEPASGOSARIAN, S. 42, Anm. 21.
3. Revisionismus - Imperialismo del pobre - Vanguardia moral
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Damit knüpfte sein Regime direkt an die antiparlamentarische Tradition des spanischen Karlismus an. In verzerrter Adaption der liberalen Fundamentalkritik am korrupten System der Restaurationszeit proklamierte Primo de Rivera eine Erneuerung der Politik der nationalen regeneración - freilich unter ganz anderen Vorzeichen, unter strikter Beibehaltung der politischen und gesellschaftlichen Machtverteilung. Einheit der Nation, Stabilisierung der Monarchie, Restitution der öffentlichen Ordnung, vorbehaltlose Privilegierung der katholischen Kirche, forcierte ökonomische Konsolidierung und Modernisierung des Landes, Bekämpfung des sozialen Radikalismus und des Separatismus - so lauteten die Maximen der Innen- und Wirtschaftspolitik der Diktatur. 175 Der Diktator selbst verstand sich als der von Joaquín Costa 25 Jahre zuvor apostrophierte »cirujano de hierro« Spaniens.176 Seine konservativpaternalistische Revolución desde arriba betrachtete er als Fortführung der Reformpolitik Antonio Mauras. Entsprechend wurden der autoritäre Staatsstreich und die Herrschaft Primo de Riveras in der Forschung als »Institutionalisierung des Regenerationismus mit bonapartistischen Techniken« charakteri• _ 177 siert. Primo de Riveras Diktatur konnte sich nicht - und hierin unterschied sie sich grundlegend vom italienischen Faschismus - auf eine Massenbasis stützen. Wohl aber konnte sie neben der Affirmation durch katalanische und baskische Wirtschaftskreise zunächst auf die Zustimmung und Kooperation einer ganzen Reihe Intellektueller178, der Agraroligarchie, der Kirche, des Militärs und des starken reformistischen Flügels des organisierten Sozialismus in Spanien bauen. Offen opponierten gegen das Regime von Anfang an nur die Anarchisten und Kommunisten, die mit der Zensur ihrer Presse mundtot gemacht und 175 Zentrale Schlagworte des Putschmanifests wiesen bereits in diese Richtung: »moral y doctrina«, »disciplina«, »PAZ, PAZ y PAZ«, »pronto y radical remedio«, »mantener el orden público« etc. 176
Vgl. HARRISON, S. 23.
177 BERNECKER, Sozialgeschichte, S. 253. Zur Herrschaftscharakterisierung der Diktatur Primo de Riveras vgl. ebda., S. 243 ff.; S. BEN-AMI, Fascism from Above. The Dictatorship of Primo de Rivera in Spain 1923-1930, Oxford 1983; J. H. RLAL, Revolution from Above. The Primo de Rivera Dictatorship in Spain, 1923-1930, London 1986; M. T. GONZÁLEZ CALBET, La dictadura de Primo de Rivera: el Directorio Militar, Madrid 1987. Eine Auswahl wichtiger Quellen in: J. CASASSAS YMBERT, La dictadura de Primo de Rivera (1923-1930). Textos, Barcelona 1983. 178 Vgl. G. GARCÍA QUEIPO DE LLANO, Los intelectuales y la dictadura de Primo de Rivera, Madrid 1988, S. 16 ff.; VLLLACORTA BAÑOS, S. 186 ff.
138
»Moralische Eroberungen*?
in die Illegalität getrieben wurden. Doch wich die anfängliche Euphorie vieler Zeitgenossen unter dem Eindruck der lange ersehnten Wiederherstellung 'geordneter' Verhältnisse im Land bald der Ernüchterung und Erbitterung über die Diktatur. An erster Stelle sahen sich die katalanischen Nationalisten und Intellektuelle - allen voran Miguel de Unamuno und Vicente Blasco Ibáñez - von der kompromißlos unitaristischen, elementare Rechtsgrundsätze verhöhnenden und im Bildungsbereich reaktionären, vor den orthodoxen Forderungen der Kirche kapitulierenden Politik Primo de Riveras in die Opposition gedrängt. Abseits einzelner wirtschafts- und strukturpolitischer Fortschritte (Steigerung der Industrieproduktion und des Exports, Ausbau des Verkehrs- und Kommunikationsnetzes, der Energieversorgung und der Bewässerungssysteme in der Landwirtschaft) geriet auch die ökonomische Modernisierung Spaniens bald ins Stocken. Die staatsinterventionistische Ankurbelung der Wirtschaft durch massive öffentliche Investitionen mündete mit dem Scheitern der Steuerreform Calvo Sotelos, der desaströsen Währungspolitik und der 1929 einsetzenden Depression der Weltwirtschaft in eine schwere Budgetkrise. Der mit der zeitweisen ökonomischen Prosperität und Ansätzen zu einer fortschrittlichen Sozialgesetzgebung unter der Ägide des Chefs der sozialistischen Gewerkschaft UGT, Francisco Largo Caballero, eingelöste soziale Frieden brökkelte zusehends. Und auch das Ringen des Regimes um plebiszitäre Zustimmung durch die Gründung der »präfaschistischen« Einheitspartei Unión Patriótica 79, die Umgestaltung der Exekutive mit der Ablösung des Directorio Militar durch ein Kabinett ziviler Technokraten und die Vorlage eines Verfassungsentwurfes durch das 1927 einberufene Scheinparlament Asamblea Nacional Consultiva, konnte nicht verhindern, daß die schmale Legitimationsbasis der Entwicklungsdiktatur Primo de Riveras in ihrer Endphase von der heterogenen Oppositon wie zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben wurde. Nach den katalanischen Autonomisten, den Intellektuellen und Studenten entzogen nun auch entmachtete Restaurationspolitiker, die Sozialisten und das Kapital der Diktatur ihre Unterstützung. Diese reagierte seit 1928 mit drastisch verschärfter politischer Repression. Als dann 1929 das Militär und schließlich auch der König auf offene Distanz zu Primo de Rivera gingen, war 179 Vgl. S. BEN-AMI, The Forerunners of Spanish Fascism: Unión Patriótica and Unión Monárquica, in: European Studies Review 9, 1979, S. 49-78.
3. Revisionismus - Imperialismo del pobre - Vanguardia moral
139
das von der konservativen Oligarchie in Spanien als »Notpakt« gegen die drohende Umwälzung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse geborene Regime endgültig am Ende. Es hinterließ neben ungelösten strukturellen und sozialen Problemen mit der Neuanknüpfung der langen Tradition militärischer Interventionen in die Innenpolitik des Landes und der Zerschlagung der »zivilisierten«, parlamentarischen Rechten, die den Ausgangspunkt für die Sammlung »aggressiver und antidemokratischer« Kräfte auf der ideologischen Basis der Unión Patriótica bildete, eine schwere Hypothek für die Zukunft C
•
180
Spaniens. /I «/(^politisch markierte die Diktatur Primo de Riveras keinen radikalen Bruch. Die Ankündigung im Putschmanifest - »Queremos vivir en paz con todos los pueblos y merecer de ellos para el español hoy la consideración, mañana la admiración por su cultura y virtudes« - blieb keine hohle Phrase: »Unlike other European dictators of this era, Primo consistently advocated international cooperation, conciliation, and arbitration. Except for Morocco, the official policy of the Directory was pacifismo, or peaceful coexistence. In contrast to fascist ideology, chauvinistic foreign affairs and a totalitarism state were never part of the Directorial philosophy [...] Violence was neither part of this philosophy nor a personal characteristic of the 'gentle dictator' [...] He and Alfonso recognized the need to demonstrate to the world that political stability had returned to their country [...] Continuity in foreign policy and diplomatic strategy were maintained«.181
In der Praxis schlug sich dieser Kurs vor allem in der aktiven Rolle Spaniens im Völkerbund nieder. Der spanische Gesandte, José Quiñones de Leon, als enger Vertrauter des Königs und Primo de Riveras einer der einflußreichsten Diplomaten der spanischen Außenpolitik der Epoche, verfolgte in Genf den Vorsatz, Spanien als Repräsentanten der hispanischen Welt einen ständigen Sitz im Völkerbundsrat zu verschaffen und damit die formelle Rückkehr in den Kreis der Großmächte einzuleiten.182 Auch die im Ersten Weltkrieg vertiefte politische Zusammenarbeit mit Frankreich und Großbritannien wurde - nicht zuletzt im Hinblick auf die Abstimmung der gemeinschaftlichen Interessen in Nordafrika - von dem frankophilen Diktator fortgesetzt. Dabei diente die Bereinigung des Marokkoproblems, die Befriedung des 180 BERNECKER, Sozialgeschichte, S. 251, 259 und 356, Anm. 34. 181 BLEDSOE, Spanish Foreign Policy, S. 22 f. 182 F. M. CASTIELLA, Una batalla diplomatics, Barcelona 1976. Siehe auch unten, Kap. 3 . 4 .
».Moralische Eroberungen*?
140
Protektorats im Rahmen der spanisch-französischen Militäraktion der Jahre 1925/26, maßgeblich der Stabilisierung und Legitimierung seines Regimes. 183 Eine weitere Grundkonstante der spanischen Außenpolitik in der Zeit der Diktatur bildete die starke Akzentuierung des hispanoamericanismo,
die Siche-
rung und Ausweitung des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einflusses Spaniens auf die von »Yankeesierung« bedrohten Staaten Hispanoame•i
184
rikas. Positive Selbstdarstellung Spaniens,
internationale
Rahmen des Völkerbundes, hispanoamericanismo
Zusammenarbeit
im
- welches außenpolitische
Instrument schien besser geeignet, eine solche Strategie zu flankieren, als eine Intensivierung der auswärtigen Kulturpolitik des Landes? In diesem Sinne verfaßte Ende 1923 der neuberufene Leiter der O R C E , José Antonio de Sangróniz 185 , eine Denkschrift mit dem vielsagenden Titel Plan de expansión cultural y de propaganda política.186
Darin verknüpfte der Autor die gedank-
lichen Anstöße Américo Castros, die Analyse der auswärtigen Kulturpolitik anderer Nationen und die Erkenntnisse aus der bisherigen Arbeit der O R C E mit den Vorgaben der neuen Staatsverfassung und der aktuellen außenpolitischen Interessenlage Spaniens. Vordergründig - zuweilen bis in die Wortwahl 183 Vgl. CARR, S. 573 f.; PAYNE, Politics and the Military in Modern Spain, S. 210 ff. 184 Vgl. BLEDSOE, Spanish Foreign Policy, S. 24 f. 185 José Antonio de Sangróniz y Castro (1895-1980), Jurastudium in Madrid, London und Paris. 1918 Eintritt in den auswärtigen Dienst, 1928/29 Direktor des Patronato Nacional de Turismo, diplomatischer Vertreter Spaniens in London, Tanger und Santiago de Chile. Als Monarchist erbitterter Gegner der Zweiten Republik, erste Staatsstreichpläne 1933. Nach dem Aufstand der Generäle am 17. Juli 1936 Kurier Francos. Kabinettschef der Anfang Oktober 1936 gebildeten Junta Técnica del Estado in Burgos mit umfassenden außenpolitischen Kompetenzen. Im Machtkampf mit Ramón Serrano Suñer unterlegen, wurde Sangróniz 1938 als Botschafter nach Caracas abgeschoben. Nach Bürger- und Zweitem Weltkrieg Fortsetzung der diplomatischen Karriere als Vertreter Franco-Spaniens in Algier, Paris und Rom. 186 AMAE, R 726-40. Relaciones culturales. La Oficina de Relaciones Culturales del Ministerio de Estado (1923). AHN, Presidencia del Gobierno. Directorio Militar. Legajo 4/2, Exp. 244. Informe sobre la organización definitiva y programa de acción de la ORCE que eleva al Gobierno de S.M. José Antonio de Sangróniz (1923). Zwei Jahre später veröffentlichte Sangróniz eine überarbeitete und erweiterte Fassung der Denkschrift in der Reihe Nuevas orientaciones para la política internacional de España-. J. A. SANGRÓNIZ, La expansión cultural de España en el extranjero y principalmente en Hispanoamérica, Madrid [u.a.] 1925.
3. Revisionismus - Imperialismo del pobre - Vanguardia moral
141
- erinnert die Argumentationslinie von Sangróniz an die Rechtfertigungsstrategie Castros: »La forma en que las principales naciones europeas y los Estados Unidos del Norte de América van desarrollando su política internacional, [...] pone a España, nación que si políticamente no ocupa un puesto preponderante entre las grandes Potencias, en cambio por una serie de valores históricos, culturales y artísticos tiene un campo intelectual extensísimo, en trance de [...] meditar y coordinar todo un sistema [...] de nuevos elementos y núcleos de influencia española [...] La creación de la [ORCE ...] obedeció a la necesidad desde hace tiempo reconocida de que el Estado Español planteara, organizara y realizara [...] una política cultural en el extranjero metódica y sistemáticamente dirigida [...] siguiendo el ejemplo de otras naciones y en especial el de Francia, y Alemania donde estos servicios constituyen una dependencia de los Departamentos de Negocios Extranjeros [...] [Tenemos que] darnos a conocer en el mundo civilizado, deshaciendo leyendas por todas panes propagadas, [...] en las que se nos presenta como un pueblo de clérigos y toreros, donde toda incultura y fanatismo tiene su natural asiento y cómoda habitación, [... como] una nación en cuyos dominios intelectuales no se ha puesto todavía el sol«.187 Auch inhaltlich folgte Sangróniz in seiner Denkschrift den Vorschlägen des liberalen Historikers. Die von ihm in extenso aufgelisteten potentiellen Aktionsfelder spanischer Kulturpolitik im Ausland gehen sämtlich auf den Entwurf von 1922 zurück. Ähnliches gilt für die von Castro mehrfach vergeblich angeprangerte finanzielle Misere der ORCE. Energisch reklamierte Sangróniz für die Zukunft eine ausreichende personelle und materielle Ausstattung des Kulturausschusses. Sein Haushaltsentwurf sah unter Verweis auf die kulturpolitischen Etats Frankreichs und Deutschlands ein Jahresbudget von 2,35 Mio. Pesetas vor. 188 Einen gegensätzlichen Standpunkt vertrat der Leiter des Kulturausschusses in der strittigen Frage der Kompetenzausweitung und der Stellung der O R C E in der Hierarchie der auswärtigen Dienste Spaniens. Den Autonomiegedanken Castros gab Sangróniz gänzlich auf. Vielmehr befürwortete er als Surrogat der O R C E die Gründung einer Junta Técnica de Relaciones culturales mit rein konsultativem Charakter: »ésta desarrollará cuantas iniciativas estime oportu187 AMAE, R 726-40. Denkschrift, S. 1 f., 5 f., 18. 188 Ebda., Teil C, Punkt 5 der Denkschrift: Proyecto de Presupuesto. Sangróniz veranschlagte die Ausgaben Frankreichs in diesem Bereich auf über 30 Mio. Francs. Den Etat der KA im AA bezifferte er mit rund 7 Mio. RM. Ebda., Teil C, Punkt 3 der Denkschrift: Créditos necesarios.
142
»Moralische Eroberungen
no, siempre bajo la alta inspección del Ministerio de Estado«189, das jederzeit in ihre Aktivitäten korrektiv und regulativ einzugreifen befugt und dem sie rechenschaftspflichtig sei. Die Leitung der neuen Junta sollten in Personalunion der Staatssekretär im Staatsministerium und der Leiter der Politischen Abteilung ausüben. Als beratenden Fachausschuß sah der Entwurf 30 Repräsentanten aus Wissenschaft und Kultur vor, die aber - wie das hauptamtliche Personal der Junta - vom Außenminister zu bestellen seien.190 Sangróniz verfolgte mit seinem kulturpolitischer Vorstoß nach der Errichtung der Diktatur zwiefache politische Absichten. Einerseits zielten die Vorschläge des Leiters der ORCE darauf ab, den von Castro avisierten bestimmenden Einfluß des bürgerlich-liberalen Reformprojekts auf die Formulierung und Gestaltung der auswärtigen Kulturpolitik des Landes zu unterbinden. Diese Haltung entsprang der reaktionären Kulturpolitik des Regimes, der Stärkung der traditionalistischen Position der klerikalen Rechten in allen Bereichen des Bildungswesens. So ergriff das Directorio Militar gerade zu dem Zeitpunkt, als Sangróniz seine Denkschrift verfaßte, erste repressive Maßnahmen gegen die JAE, die von einer massiven publizistischen Kampagne, etwa im Organ der spanischen Jesuiten, Razón y Fe, flankiert wurden.191 Zum anderen ging es Sangróniz ganz offensichtlich darum, die künftige spanische Kulturoffensive im Ausland propagandistisch auszurichten, sie ganz in den Dienst der außenpolitischen und Außenhandelsinteressen des Landes zu stellen. Besonders im ersten Kapitel der 1925 veröffentlichten überarbeiteten Fassung seiner Denkschrift wird dieses Anliegen greifbar. Der Erste Weltkrieg - so Sangróniz an dieser Stelle - habe gezeigt, wie unentbehrlich in der Gestaltung moderner Außenpolitik die massive Beeinflussung der internationalen öffentlichen Meinung sei. Alle Nationen, die auf die Ausweitung ihres politischen Gewichtes bedacht seien, verfolgten unter Aufbietung von Literatur, Wissenschaft und Kunst des Landes eine »activa propaganda« - und dies in direkter Auseinandersetzung mit konkurrierenden Mächten, die in vergleichbarer Weise vorgingen. An die eigene Adresse richtete er daher die Mahnung: »Es necesario hacerse conocer, no olvidando que la opinión de un pueblo no se gana en un día y que [...] es más difícil su conservación que su conquista. La opinión pú189 Ebda., Teil C, Punkt 4 der Denkschrift: Proyecto de Real Decreto, Art. 1, Abs. 9. 190 Ebda., Art. 2. 191 R. RuiZ AMADO, La Junta para Ampliación de Estudios y sus instituciones, in: Razón y Fe. Revista hispanoamericana de cultura 68,1924, S. 80-94.
3. Revisionismus - Imperialismo del pobre - Vanguardia moral
143
blica de las naciones [...] es necesario cultivadla] sistemática y coordinadamente, al propio tiempo que con un exquisito tacto. La manera de conseguirlo es lo que denominamos política de relaciones culturales«.^2 Spanien, dessen macht- und wirtschaftspolitischer Handlungsspielraum in der Gegenwart von den begrenzten Ressourcen des Landes bestimmt sei, dürfe nicht auf dieses Instrument verzichten - gerade weil es im Gegensatz zu anderen Nationen über ein unvergleichlich reiches kulturelles Erbe verfüge: »El porvenir de España, como gran nación, exige [...] no descuidar de ese incalculable tesoro«. 1 9 3 Auswärtige Kulturpolitik als imperialismo
del pobre - auf diese
Formel lassen sich die Vorstellungen des Exponenten des Regimes Primo de Riveras bringen.
3.3.3. Die Junta de Relaciones Culturales Bis zur zumindest ansatzweisen Institutionalisierung der kulturpolitischen Anregungen von Sangróniz vergingen beinahe drei Jahre. Bis dahin behielt die O R C E ihren fragwürdigen Status als rein konsultative Körperschaft ohne eigenen Etat, der eine Ausweitung der kulturpolitischen Präsenz im Ausland weiter blockierte. Bis zum Abschluß der Militärallianz mit Frankreich und der Niederlage Mohamed Abd el Krims Ende Mai 1926 stand der alles überschattende, für die politische Stabilität, Anerkennung und das Uberleben des Regimes elementare Marokko-Konflikt im Zentrum der spanischen Außenpolitik. Und dieser war eben nicht kulturpolitisch, sondern militärisch zu 'lösen' - für eine strukturelle und inhaltliche Neuorientierung im Sinne von Sangróniz eine denkbar schlechte Konjunktur. 1 9 4 Eine Wende zeichnete sich erst mit der Ablösung des Directorio
Militar
durch das Zivilkabinett am 3. Dezember 1925 ab. Im Zuge des personellen Revirements wurde José María de Yanguas Messia 195 neuer spanischer Außen192 SANGRÓNIZ, Expansion cultural de Espana, S. 7 f. 193 Ebda., S. 32. 194 Zur geheimen Mitwirkung von Reichswehr und deutscher Rüstungsindustrie beim Bau einer Giftgasfabrik in Spanien und Lieferung von 110 t Lost, die gegen die Rifkabylen eingesetzt wurden, vgl. KUNZ/MÜLLER, passim. 195 José Maria de Yanguas Messia (1890-1974), Prof. für Internationales Recht in Valladolid und Madrid, am 20.2.1927 Rücktritt als Außenminister wegen Differenzen mit Primo de Rivera hinsichtlich der spanischen Marokkopolitik, danach
»Moralische Eroberungen*?
144
minister. Der monarchistische Rechtsprofessor leitete sogleich die längst überfällige Reorganisation der auswärtigen Dienste des Landes ein - eine Strukturreform, die nicht zuletzt den zögerlichen Bewußtseinswandel im Hinblick auf die Perspektiven kultureller Auslandsaktivitäten widerspiegeln sollte. Ausdruck der ehrgeizigen politischen Ambitionen der Diktatur auf dem südamerikanischen Kontinent war einstweilen die Teilung der Politischen Abteilung im Staatsministerium in die Sektionen Política General und Política de América, wurde.
196
die wenig später in América y Relaciones Culturales umbenannt
Ende Dezember 1926 wurde dann in dieser Sektion ein Kulturaus-
schuß, die Junta de Relaciones Culturales eingerichtet. 197 In der Verlautbarung des Außenministers zum Gründungsdekret tauchen erneut die auf Castro zurückgehenden, von Sangróniz adaptierten und inzwischen
hinlänglich
bekannten Argumente für eine Vertiefung der spanischen Kulturpolitik im Ausland auf. Yanguas Messia forderte eine rasche Ö f f n u n g dieses »horizonte nuevo y luminoso en la vida de pacífica relación de los pueblos* - eine Auffächerung des außenpolitischen Instrumentariums angesichts der Vielschichtigkeit der modernen internationalen Beziehungen. Zugleich verwies er auf den Vorsprung anderer Nationen auf diesem Gebiet und beschwor die kulturelle Mission Spaniens, die sich aus seiner glorreichen imperialen Vergangenheit ableite. U n d auch in seiner Zieldefinition griff der Außenminister letztlich auf Castro und Sangróniz zurück. Das Panorama reichte von der Sicherung der kulturellen Anbindung der spanischen Bevölkerung jenseits der Landesgrenzen über die Förderung des kulturellen Prestiges Spaniens im Ausland bis zur
Präsident der Asamblea Nacional Consultativa. Nach dem 18. Juli 1936 juristischer Berater der Junta de Defensa Nacional in Burgos, Mitglied des Consejo Nacional der FETy de las JONS. 1938-42 Botschafter Francos beim Vatikan. 1943 Unterzeichner der an Franco gerichteten Petition nach Restauration der Monarchie. Mitglied im Consejo Privado von Don Juan de Borbón. 196 Real Decreto de 21.12.1925, GM 22.12.1925; Real Decreto de 11.1.1926, GM 12.1. 1926. 197 AMAE, R 1380-26. Real Decreto de 27.12.1926, GM 28.12.1926. Ministerio de Estado, Real Órdenes Circulares dirigidas a Embajadas, Legaciones y Consulados Españoles, Cuaderno núm. 20, Madrid 1927, S. 29 f.; Revista de las Españas 2, 1927, Nr. 5-6, S. 90-92. Im Vorfeld hatte der ME über seine Botschafter Daten zur institutionellen Verankerung und inhaltlichen Ausgestaltung auswärtiger Kulturpolitik in Frankreich und Deutschland eingeholt. PAAA, R 64853. Schreiben Agramonte an Soehring vom 22.2.1926 und 10.6.1926.
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Bereicherung der eigenen Kultur im Dialog mit »zivilisierten« Nationen unter Wahrung der nationalen Eigenheiten und Werte Spaniens. 198 Eine interessante Argumentation - hatte doch Primo de Rivera nur knapp drei Monate zuvor, nach dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund am 8. September 1926, aus Verbitterung über die diplomatischen Niederlagen in der Ratssitz- und Tangerfrage den Auszug Spaniens aus Genf erklärt. 199 Damit erscheint der Rückgriff des rechts-konservativen Monarchisten auf den liberalen Castro, sein Wuchern mit dem kulturhistorischen Kapital des Landes nicht zufällig, gewinnt vielmehr Bedeutung und Funktion als kompensatorisches Element in einer außenpolitischen Sackgasse. 200 In diesem Sinne wurden die Eckpfeiler der künftigen kulturpolitischen Arbeit der J R C nur zwei Monate später festgelegt: • • • •
Förderung des Spanischunterrichts im Kreis der im Ausland lebenden Spanier, Einrichtung von Spanischlehrstühlen und spanischen Kulturzentren im Ausland, Ausweitung des wissenschaftlichen, literarischen und künstlerischen Austausches mit anderen Staaten (Kurse, Vorträge, Kongresse, Ausstellungen), Verbreitung von spanischer Literatur, Zeitschriften und Zeitungen.
Das von Americo Castro 1922 nach dem Vorbild Frankreichs und Deutschlands entworfene inhaltliche Panorama einer künftigen spanischen Kulturoffensive im Ausland behielt also im Kern weiter Gültigkeit. Dagegen blieb der von dem liberalen Historiker formulierte Autonomieanspruch weiter auf der Strecke. Zwar wurde der J R C im Gegensatz zur ORCE der Status einer juristischen Person zuerkannt. Zwar verfügte sie über einen eigenen Etat von anfänglich 500.000 Pesetas. Und immerhin saßen in der Junta plena eine Reihe
198 AMAE, R 1380-26. Undatiertes Schreiben Yanguas Messia an Alfonso X m . 199 Vgl. G. B. BLEDSOE, The quest for Permanencia. Spains role in the League crisis of 1926, in: Iberian Studies 4, 1975, Heft 1, S. 14-21. Siehe auch unten, Kap. 3.4. 200
V g l . DELGADO GÖMEZ-ESCALONILLA, S. 2 9 .
201 Real Decreto de 28.2.1927, G M 3.3.1927. 202 Unrichtig ist die Interpretation von NINO RODRIGUEZ, L'expansion culturelle espagnole, S. 209, der die J R C als konsequente Umsetzung der Forderungen Castros von 1922, mithin als praktisch autonome Körperschaft einstuft.
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».Moralische Eroberungen
von Vertretern aus Wissenschaft und Kultur. 203 Doch konnten sie wichtige Entscheidungen nur nach Maßgabe ihrer Kollegen aus dem Außenressort mit dem Leiter der Sektion América y Relaciones Culturales an der Spitze treffen. 204 Die Junta plena wählte aus ihren Reihen eine fünfköpfige Comisión permanente, die sich in zweiwöchigem Turnus zur Beratung und Verabschiedung der anstehenden Projekte der J R C zusammenfand. Vervollständigt wurde der Apparat der JRC durch die Secretaría, ein ausführendes Gremium, das sich wiederum aus dem Leiter der Sektion América y Relaciones Culturales und seinem Stab rekrutierte. Die in dieser Konstruktion deutlich greifbare Bevormundung und praktisch lückenlose Kontrolle der JRC durch die politische Führung des Staatsministeriums wurde Ende Februar 1927 mit der Schaffung eines vom Außenminister direkt ausgeübten Patronato de Relaciones Culturales weiter zementiert. 205 Vor eine mögliche autonome Gestaltung auswärtiger Kulturpolitik durch die JRC war damit ein sicherer Riegel geschoben. In der Konsequenz hieß es in Art. 1, Abs. 1 des endgültigen Statuts vom 21. März 1927 bezüglich der Aufgaben der JRC: »Asesorar al Señor Ministro de Estado [...] en todos los proyectos y servicios que afectan a las relaciones culturales de España con el extranjero«. 206 Bis zum Kollaps der Diktatur Primo de Riveras, dem Sturz der Monarchie und der Ausrufung der Zweiten Republik am 14. April 1931 behielt die JRC ihren rein konsultativen Charakter. Mit der Bewilligung eines eigenen Etats vermochte sie aber zumindest einigen politischen Freiraum zu schaffen und zu behaupten. Aus diesem Grund leitete ihre Einrichtung zumindest im Ansatz eine Kurskorrektur in Richtung einer forcierten und inhaltlich differenzierten 203 Neben Vertretern des ME und des MIP wurden in den Ausschuß wichtige Funktionsträger wie der Rektor der Universidad Central, der Direktor der Biblioteca Nacional, der Leiter des Museo del Prado und der Präsident der J AE berufen. 204 Real Decreto de 27.12.1926, Art. 2. 205 Real Decreto de 28.2.1927, GM 3.3.1927. Eine Woche zuvor, am 20. Februar, hatte Primo de Rivera den ME direkt der Presidencia del Gobierno unterstellt und in Personalunion das Amt des Außenministers übernommen. 206 AMAE, R 1380-26. Real orden de 21.3.1927: Reglamento para el funcionamiento de la Junta de Relaciones Culturales creada en virtud de Real Decreto de 27 de Diciembre de 1926 (undatierter ms. Entwurf und gedruckte Fassung, Madrid 1927), GM 25.3.1927. Zur durchaus kontroversen internen Debatte über den rechtlichen Status der JRC, in der Yanguas Messia den Standpunkt der Regierung kompromißlos vertrat und durchsetzte, vgl. AMAE, R 1307-28. Relaciones culturales. Actas de la JRC (1927). Sitzungsprotokoll vom 15.1.1927.
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spanischen Kulturpolitik im Ausland ein. Selbstredend konnte damit von einer institutionell eng vernetzten, planvoll und systematisch verfolgten Strategie nach dem Vorbild Frankreichs nicht entfernt die Rede sein. Doch wurde im von den begrenzten personellen und finanziellen Mitteln abgesteckten Rahmen das Spektrum der kulturellen Außenbeziehungen Spaniens nicht unerheblich ausgeweitet.207
3.3.4. Auswärtige Kulturpolitik im bienio de reformas Als 1931 die Monarchie der spanischen Bourbonen kollabierte, bestand im Land eine Kluft von aufgestauten Problemen und Erwartungen an das neue System, wie sie breiter kaum sein konnte. Auf der politischen Agenda stand die Gestaltung eines friedlichen Ubergangs von der Diktatur, vom verkrusteten oligarchischen System der Restaurationszeit zu einer modernen, säkularen, demokratisch verfaßten und sozial gerechten gesellschaftlichen Ordnung - dies alles gegen den wachsenden Widerstand von rechts und links und unter dem Eindruck der Zuspitzung der internationalen politischen und ökonomischen Konflikte in der Weltwirtschaftskrise, der heraufziehenden »gemeineuropäischen Auseinandersetzung zwischen Demokratie, Faschismus und Kommu208
nismus«. Im bienio de reformas, dem ersten Abschnitt in der Geschichte der Zweiten Republik bis zum November 1933, bestimmte die aus den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung Ende Juni 1931 siegreich hervorgegangene gemäßigte Linke, die Linksrepublikaner unter Manuel Azana und Marcelino Domingo und die Reformsozialisten, die Leitlinien der politischen Entwicklung Spaniens. Dieses Bündnis ging mit Verve - doch im Ergebnis in mancher Hinsicht erfolglos - daran, die aus der Vergangenheit überkommenen »sozioökonomischen und politischen Strukturen aufzubrechen und durch adäquatere zu ersetzen«. Im einzelnen bedeutete dies erst einmal die Festschreibung von Grund- und Bürgerrechten in einer demokratischen Verfassung. Danach stand 207
Das Urteil v o n ÜELGADO GÖMEZ-ESCALONILLA, S. 3 3 , die A r b e i t der J R C bis 1931 habe jeglicher Systematik, Eigeninitiative und Zielstrebigkeit entbehrt, fällt daher zu apodiktisch aus. Siehe dazu unten, K a p . 5 .
208
Vgl. dazu und im folgenden die k o m p r i m i e r t e Darstellung und bibliographischen Verweise bei: BERNECKER, Sozialgeschichte, S. 2 5 9 ff., 3 5 7 f. Z i t a t : S. 2 6 3 .
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»Moralische Eroberungen
die Einschränkung der Allmacht der katholischen Kirche gerade im Bildungbereich an, sodann eine Reduzierung und Demokratisierung der Armee, die Entschärfung des erbitterten Zentrum-Peripherie-Konfliktes und nicht zuletzt die Reform der archaischen, dichotomen Besitz- und Bewirtschaftungsstrukturen im Agrarbereich mit ihren verheerenden Rückwirkungen auf die allgemeine ökonomische und politische Entwicklung des Landes. Der innenpolitische Modernisierungsschub im bienio de reformas stellte die tradierte politische und soziale Ordnung in Spanien nachhaltig in Frage und mündete am Ende in einer scharfen politischen Spaltung der Gesellschaft. Außenpolitisch dagegen lagen in den Jahren zwischen 1931 und 1933 - so das Urteil der neueren Forschung - Kontinuität und Wandel dicht beieinander. 209 Kontinuität herrschte demnach in der Ausrichtung der spanischen Außenpolitik - ihrer Orientierung am britisch-französischen Block unter gleichzeitiger Betonung nationaler Unabhängigkeit und politischer Handlungsfreiheit und nun allerdings auf der Grundlage der in der Verfassung verankerten Prinzipien der Völkerbundsatzung 210 - dem prinzipiellen Verzicht auf expansionistische Abenteuer und der Fokussierung der auswärtigen Beziehungen auf Hispanoamerika 211 , Afrika und Portugal. Den Wandel spiegelten vor allem der eindeu-
209
Zur Außenpolitik der Zweiten Republik, ihren ideologischen Grundlagen und abweichenden politischen Konzeptionen im rechten und linken Spektrum vgl. M. A. EGIDO LEÓN, La concepción de la política exterior española durante la II República, Madrid 1987. Im Überblick: DIES., La política exterior de España durante la II República (1931-1936), in: Proserpina 1, 1984, S. 99-143; DIES., El pensamiento político internacional republicano (1931-1936). Reflexiones a posteriori, in: Revista de Estudios Internacionales 7, 1986, S. 1107-1131; BLEDSOE, Spanish Foreign Policy, S. 30 ff. Mit Beschränkung auf den bienio de reformas-, I. SAZ CAMPOS, La política exterior de la Segunda República en el primer bienio (19311933). Una valoración, in: Revista de Estudios internacionales 6, 1985, S. 843-855. Mit Fokussierung auf Madariaga und die spanische Völkerbundspolitik: F. QUINTANA NAVARRO, España en Europa 1931-1936. Del compromiso por la paz a la huida de la guerra, Madrid 1993.
210
V g l . PEREIRA, S. 9 0 .
211
Z u m geläuterten hispanoamericanismo im bienio de reformas, der Abschied von den rigorosen Vereinnahmungsversuchen der Vergangenheit nahm und statt dessen eine reziproke kulturelle Annäherung - nicht zuletzt über den Völkerbund anstrebte, vgl. A. NIÑO RODRÍGUEZ, La II República y la expansión cultural en Hispanoamérica, passim; EGIDO LEÓN, La concepción de la política exterior española, S. 171 ff.
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tige Primat der Innenpolitik und das umfassende personelle Revirement nach dem 14. April wider: »[D]urante el primer bienio llegaron al poder aquellos hombres que se habían formado en la Institución Libre de Enseñanza, que se habían definido como generación en su defensa de los aliados durante la primera guerra mundial y como políticos por su vocación europeísta, entendiendo por tal la inclusión de España en el grupo de naciones democráticas y liberales que se identificarían tras la contienda con el espíritu de Ginebra. Estos hombres cifraban en la incorporación a esta Europa, así entendida, la regeneración de España«.212 Dieses aus dem aufgeklärten Bürgertum, der intellektuellen
Mittelschicht
Spaniens, stammende Personal mit seiner europäischen, regenerationistischen und pazifistischen Gesinnung sollte ungeachtet der von der Forschung vielgerügten, nicht zuletzt durch die personelle Diskontinuität bedingten Konzeptionsschwäche außenpolitisch einen neuen Stil prägen - in Abgrenzung zur defensiven, politisch oft kontraproduktiven Nichtbeteiligung in der Restaurationszeit gemeinhin als aktive,
konstruktive
und konsequente
Neutralität cha-
rakterisiert. 213 In der Definition des von Dezember 1931 bis Juni 1933 amtierenden Außenministers Luis de Zulueta hieß dies: eine an den Vorgaben der republikanischen
Verfassung
ausgerichtete,
demokratische
und
friedliche
Gestaltung der internationalen Beziehungen des Landes, die Etablierung einer »nueva diplomacia de la tabla redonda« im Völkerbund in Abkehr von der klassischen Geheimdiplomatie und ein verstärktes außenpolitisches Engagement Spaniens in Gestalt einer auf das kulturelle Erbe des Landes gründenden »vanguardia moral«. 2 1 4 Der liberale Schriftsteller und Diplomat Salvador de
212 EGIDO LEÓN, El pensamiento político, S. 1112. Vgl. kritisch: P. AUBERT, Los intelectuales en el poder (1931-1933): del constitutionalismo a la Constitución, in: J. L. GARCÍA DELGADO (Hg.), La Segunda República Española. El primer bienio, Madrid 1987, S. 169-231. M i t biographischer Ausrichtung: J . TUSELL/G. GARCÍA
QUEIPO DE LLANO, Los intelectuales y la República, Madrid 1990. 213 Vgl. EGIDO LEÓN, La concepción de la política exterior española, S. 51 ff., 613 f. 214 L. de ZULUETA, La política exterior de la República, in: Tierra Firme 3, 1935, S. 718. Zitiert nach: DELGADO GÓMEZ-ESCALONTLLA, S. 34 f. Luis de Zulueta y Escolano (1878-1964), Pädagoge, Publizist. 1904/05 Studienaufenthalt in Berlin. Seit 1910 verschiedene politische Funktionen und Mandate, nach dem 14. April 1931 reformistischer Abgeordneter der Constituyentes, von der provisorischen Regierung als Botschafter beim Vatikan vorgesehen, von Rom abgelehnt. Von Dezember 1931 bis Juni 1933 Außenminister, von August 1933 bis Oktober 1934 Botschafter in Berlin, danach bis zur Anerkennung des Franco-Regimes durch den
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