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German Pages 490 [492] Year 2000
Gerd Schank „Rasse" und „Züchtung" bei Nietzsche
W DE G
Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Begründet von
Mazzino Montinari · Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von
Günter Abel (Berlin) Josef Simon (Bonn) · Werner Stegmaier (Greifswald)
Band 44
2000 Walter de Gruyter · Berlin · New York
„Rasse" und „Züchtung" bei Nietzsche von
Gerd Schank
2000 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Günter Abel Institut für Philosophie TU Berlin, Sekr. TEL 12/1 Ernst-Reuter-Plat2 7, D-10587 Berlin Prof. Dr. Josef Simon Philosophisches Seminar A der Universität Bonn Am Hof l.D-53113 Bonn Prof. Dr. Werner Stegmaier Ernst-Moritz-Arndt-Universität Institut für Philosophie Baderstr. 6-7, D-17487 Greifswald Redaktion Johannes Neininger, Aschaffenburger Str. 20, D-10779 Berlin
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt
Die Deutsche Bibliothek - ClP-Einheitsaufnahme Schank, Gerd: „Rasse" und „Züchtung" bei Nietzsche / von Gerd Schank. — Berlin ; New York : de Gruyter, 2000 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Bd. 44) ISBN 3-11-016872-3
© Copyright 2000 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen undi die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin Druck: WB-Druck, Rieden/Allgäu Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin
Vorwort In den letzten Jahren sind mehrere Untersuchungen erschienen, die sich gründlich mit dem Problem eines angeblichen Einflusses von Nietzsches Philosophie auf die Ideologie der Nazis befassen (Kreis 1995, Munster 1995, Santaniello 1994). Das in diesem Zusammenhang aber zweifellos wichtige Konzept der 'Rasse' wurde in diesen Untersuchungen jedoch kaum eingehender aufgegriffen. Dies soll in der vorhegenden Arbeit nachgeholt werden. Auf die Frage eines möglichen Einflusses Nietzsches auf die Nazis soll im vorliegenden Rahmen aber nicht näher eingegangen werden. In Teil I der Untersuchung wird herausgearbeitet, daß das bei Nietzsche häufiger belegte Wort 'Rasse' ganz überwiegend die ältere Bedeutung 'Volk/ sozialer Stand/ Menschentyp' aufweist, und daß nur an wenigen Stellen - meist mit deutlicher Distanzierung Nietzsches - das moderne, biologische Rassenkonzept anklingt. In Teil II wird der Versuch unternommen herauszuarbeiten, daß für Nietzsches Programm einer 'Erhöhung' des Menschen in erster Linie sein Konzept einer Erziehung durch die Lehre der 'ewigen Wiederkunft' maßgeblich sein dürfte, nicht jedoch (Nietzsche gelegentlich unterstellte) Vorstellungen einer biologisch fundierten Züchtung. Den Textschwerpunkt bilden nach dem Bruch mit Wagner (1876/77) entstandene Werke wie "Jenseits von Gut und Böse" sowie die "Genealogie der Moral". Vor dem Bruch mit Wagner finden sich bei Nietzsche gelegentlich (auch) positive Äusserungen über Bismarck sowie antifranzösische und antisemitische Äusserungen (Marti 1993, 88-105), von denen Nietzsche sich jedoch nach der Trennung von Wagner klar distanziert. Insofern kann hier von einer Entwicklung Nietzsches in den angeschnittenen Fragen gesprochen werden. Da das Wort 'Rasse' auch in den Nachlaßtexten häufiger erscheint, müssen auch diese Texte in einem grösseren Umfang herangezogen werden.
VI
Vorwort
Die vorliegende Untersuchung ist an der Katholieke Universiteit Nijmegen im Rahmen des von Prof. Dr. Paul van Tongeren geleiteten und von der NWO geförderten Forschungsprojekts "Nietzsche's philosophical writings: a dictionary with an analysis of his philosophical practice and his performative authorship" als Teilprojekt entstanden. Bei ihrer Durchführung leitete den Verfasser nicht zuletzt auch das Bedürfnis, angesichts der maßlosen Verbrechen der Nazizeit, über die deutsche Kultur- und Geistesgeschichte der letzten hundert Jahre nachzudenken. Erkenntnis sollte auch ein Beitrag zur Selbsterkenntnis sein und eine noch klarer durchschaute Distanz zu dem möglich machen, was heute 'deutsch sein' heißen kann und heißen darf. Die Untersuchung bemüht sich herauszuarbeiten, was Nietzsche in seinen Texten gesagt und gemeint haben könnte. Sie ist um Fairneß bemüht und versucht zu scheiden, was bei Nietzsche intendiert sein könnte, von dem, was erst nachträglich, etwa von seiner Schwester, in seine Texte hineininterpretiert worden ist. Dieses Bemühen um Fairneß sollte nicht als Apologie mißverstanden werden. Es sollte uns zu denken geben, daß Nietzsche von maßgeblichen Rassisten und Antisemiten seiner Zeit, wie etwa Theodor Fritsch, als Jude und Pole beschimpft worden ist, also keineswegs als einer ihresgleichen betrachtet wurde. Auch mit dem öfter genannten Rassisten Gobineau hat Nietzsche kaum etwas gemein, wie eine genauere Vergleichung der in diesem Zusammenhang öfters herangezogenen Texte deutlich machen kann (dazu der Anhang). Hannah Arendt weist darauf hin, daß Nietzsche bei seiner Beschreibung der Dekadenz im Europa des neunzehnten Jahrhunderts von 'wirklichen' Beobachtungen ausging und nicht 'pessimistisch' war, wohingegen Gobineau hierbei ganz auf seine 'Rassentheorie' fixiert gewesen sei (Arendt 1986, 287). Die vorliegende Untersuchung sollte nicht nur für Fachphilosophen zugänglich sein, sondern auch für Leser, die keine Nietzsche-Ausgabe zur Hand haben. Daher wurden möglichst viele Texte im vollen Wortlaut aufgenommen, denn nichts kann den direkten Kontakt und 'Umgang' mit den originalen Texten ersetzen. Auch die sozialen und kulturellen Kontexte wurden stärker berücksichtigt, als es im allgemeinen in philosophischen Untersuchungen üblich ist.
Vorwort
Der Verfasser möchte an dieser Stelle seinem Lehrer Paul van Tongeren für viele kritische und fruchtbare Diskussionen und Anmerkungen herzlich danken. Er betrachtet die zehn Jahre Nietzsche-Studium bei Paul van Tongeren als ein Geschenk, auf das er nur mit größter Dankbarkeit zurückblicken kann. Zu großem Dank bin ich auch den Herausgebern der NietzscheMonographien des Verlages Walter de Gruyter für die Aufnahme meiner Arbeit in diese Reihe verpflichtet, und Herrn Prof. Dr. Werner Stegmaier darüberhinaus für einige weiterführende Hinweise. Auch Frau Inge Laisina und Frau Grit Müller möchte ich für ihre geduldige Unterstützung bei der Redaktion meiner Arbeit hiermit nochmals herzlich danken. Nijmegen, Juli 2000
Gerd Schank
Inhaltsverzeichnis Vorwort Einleitung Konzept der Untersuchung Kontexte und Hintergründe Die Wissenschaften im 19. Jahrhundert und Nietzsches Stellung dazu Rudolf Virchow Vorläufige Bemerkung zu Nietzsches Standpunkt . . Politik, Zeitgeschichte: Preußen
5 7 13 18
Teil I: Völker und Menschen
27
Übersicht über das Untersuchungsgebiet Das Wort "Rasse" bei Nietzsche Zur Benützung der Fragmente aus dem Nachlaß Zwei Streitfragen Entstehung des Menschen Entstehung der Rassen Der geschichtliche Rahmen: Europa
28 28 30 33 33 41 46
Die Völker Europas Vorbemerkung Arisch und Semitisch: das Problem der Arier Die Inder Griechen und Römer Die Juden Die Germanen Die Deutschen Die Polen Die Russen Frankreich und die Franzosen Die Engländer Völkerbeschreibung Alt/jung und Varianten
V l l 5
51 51 51 61 65 73 88 93 106 114 116 123 127 128
Inhaltsverzeichnis
Stark/schwach und Varinaten Rein/gemischt und Varianten Hierarchie der Völker? Das Wort "Rasse": Zwischenbilanz
IX
133 137 142 147
Der "Gang der Cultur" Vorbemerkung Krankheit, "Erschöpfung", "decadence" Moral Religion Staat und Politik Vernunft, Sprache und Musik Nochmals "Rasse"
150 150 151 162 176 198 216 227
"Physiologisch gesprochen" Vorbemerkung Wichtigkeit der Physiologie Verdauung Potentiale: Wille und Kraft Gedeihen und Missrathen Physiologische Typen Von der "Rasse" zum Menschentyp
229 229 232 236 240 254 257 261
Teil
263
: Menschentypen und ihre Erhöhung
Vorbemerkung
265
Menschentypen: Rassebezug und Überschreitung Vorbemerkung Übersicht der Menschentypen: "Genealogie" Die Vornehmen und die Plebejer Die ^eerdenmenschen" Der asketische Priester Die "Ausnahmemenschen" Nietzsche über Nietzsche Überschreitung
267 267 268 270 278 280 282 285 292
Menschentypen: Maßstäbe für ihr Gelingen Vorbemerkung Rangordnung
295 295 297
X
Inhaltsverzeichnis
Maßstäbe für das "Gerathen" des Menschen "Kleine" und "grosse" Menschen
299 314
Zur Erhöhung des Menschen Vorbemerkung Probleme der Erhöhung Selbsterhöhung Erhöhung durch Züchtung? Erhöhung durch Erziehung? Lehre von der ewigen Wiederkehr Opfer? Eugenik?
317 317 319 327 335 357 372 382 392
Nietzsches "doppelte Optik": Erhöhung mit Vorbehalten
404
Ausblick: "Bewahren" und "Sich öffnen" von der "alten" zu einer neuen Vornehmheit: Fragen und Thesen Zwei rote Fäden Pathos der Distanz: Streben nach Bewahrung Sich nicht gehen lassen Aristokratie statt Demokratie? Mehrere Moralen? "Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst" Erhöhung des Menschen Zunehmende Komplexität Doppelte Optik "Grosse Politik" Lachen der Distanz Von der "alten" zu einer neuen Vornehmheit
411 412 412 413 414 415 417 418 418 419 421 422 423
Anhang: Nietzsche und Gobineau
426
Liste der Belege des Wortes "Rasse" in Nietzsches Texten
442
Literatur
452
Namensregister mit Erläuterungen
459
Einleitung Konzept der Untersuchung Das Wort "Rasse" erscheint mehr als 200 mal in Nietzsches Schriften, wie sie in der Colli-Montinari-Ausgabe (KSA) herausgegeben sind, die auch den Nachlaß enthält. Hinzu kommt eine Anzahl von Belegen in den Briefen Nietzsches,
die ebenfalls von ColhVMontinari ediert sind (KSB).1 Die
vorliegende Untersuchung will genauer untersuchen, welche Konzepte jeweils mit dem Wort "Rasse" angesprochen werden, das keinesfalls einfach mit dem heutigen Wort "Rasse" gleichgesetzt werden darf (wie sich noch zeigen wird). Sie will des weiteren untersuchen, in welchen Problemzusammenhängen das Wort erscheint und welche Rolle ihm dort zukommen könnte. Es erscheint, um hier schon vorausgreifend darauf hinzuweisen, bei den zentralen Fragestellungen von Nietzsches Philosophie: Krankheit, Religion, Moral, Politik sowie der Frage der "Erhöhung" des Menschen. Die Untersuchung des Wortes "Rasse" fuhrt also in zentrale Bereiche von Nietzsches Denken. Sie kann daher zum Ausgangspunkt für die Erhellung von Fragen werden, die bisher in der Forschung sehr kontrovers beurteilt werden.
1
Zu den Siglen KSA und KSB vgl. die im Literaturverzeichnis aufgeführten NietzscheAusgaben. In der vorliegenden Untersuchung wird das folgende Zitierverfahren verwendet: Texte aus den von Nietzsche veröffentlichten oder für die Publikation fertiggestellten Werken: Titel des Werkes (bei wiederholter Nennung werden die gebräuchlichen Siglen verwendet: 'Unzeitgemässe Betrachtungen': ÜB I bis IV; 'Menschliches Allzumenschliches':MA; 'Morgenröthe': M; 'Fröhliche Wissenschaft': FW; 'Jenseits von Gut und Böse': JOB; 'Genealogie der Moral': GM; 'Götzen-Dämmerung': GD; 'Antichrist': AC; 'Ecce homo': EH); Textteil (Textabschnitt oder Aphorismus); Nachweis in KSA (Band, Seite sowie Zeilenangabe). - Fragmente aus dem Nachlaß: Nummer des Fragments; Nachweis in KSA (Band, Seite, Zeilen); Zeitpunkt der Niederschrift. Bei wiederholter Zitierung desselben Fragments wird gelegentlich auch abgekürzt zitiert (Band, Seite, Zeilen). - Briefe von Nietzsche: Nachweis in KSB (Band, Seite, Zeilen); Briefdatum; Adressat. - Briefe an Nietzsche: Nachweis in KGB (dazu vgl. Literaturliste): Band, Seite, Zeilen; Briefdatum; Adressat. Einschübe des Autors (GS) in Zitaten werden durch eckige Klammem gekennzeichnet:"...
2
Einleitung
Für diese Forschung kann zunächst festgehalten werden, daß sie sich bisher nicht eingehender mit der hier angeschnittenen Frage befasst hat. Umso erstaunlicher ist es dann, daß meist sehr dezidierte Aussagen über unsere Frage gemacht werden. Dies gilt insbesondere für allgemeinere Darstellungen, die nicht speziell auf Nietzsche gerichtet sind. Bei Römer heißt es etwa: Nietzsche wollte "ganzen Völkern höhere biologische Qualitäten durch Züchtung" verleihen. Er "las und bewunderte Gobineau".2 Bei Weindling ist die Rede von "a Nietzschean breeding of a race of supermen through state regulation of reproduction".3 Ähnliche Urteile finden sich bei Conrad-Martius (1955). Zur Mühlen bemerkt immerhin, daß Nietzsche sich "skeptisch gegen den RasseGedanken" verhielt, sieht aber dennoch im Gefolge Schopenhauers und Nietzsches eine "rassische Weltanschauung" heraufziehen.4 Vorsichtiger und maßvoller sind die Urteile von Forschern, die sich eingehender mit unsrem Problem befaßt haben. Ansell-Pearson weist darauf hin, daß Nietzsche "never defined the value of an individual in terms of either biology or race, but always in terms of culture"5. Poliakov unterstreicht die projüdische Komponente von Nietzsches Denken: Nietzsche scheine die Juden an die Spitze zu stellen und er wollte, daß die Deutschen möglichst viel jüdisches Blut erhalten. Daher hätten die Antisemiten Nietzsche sogar für einen Juden gehalten, so etwa E. Dühring, und Theodor Fritsch, der bekannte antisemitische Propagandist des ausgehenden 19. Jahrhunderts, habe die Studenten vor diesem "schamlosen Polen" gewarnt6. Dabei denkt Fritsch wohl an die Ostjuden in Polen - und Nietzsche hat in der Tat immer wieder seine Sympathie für die Polen hervorgehoben, worauf noch einzugehen ist. Poliakov weist damit zurecht auf Sachverhalte hin, die die klischeehafte pro-nazistische Interpretation ad absurdum fuhren können. Auch für Macintyre ist Nietzsche kein Antisemit und kein Nazi7. Ottmann betont bei einem Vergleich Wagners mit Nietzsche, daß es letzterem um Humanität statt Rassismus ging, um "über-
2 3 4 5 6 7
Römer 1989, 33. Weindling 1989, 121. Zur Mühlen 1977, 134 und 155. Ansell-Pearson 1994, 31. Poliakov 1979, 310. Mclntyre 1994, 188-189.
Konzept der Untersuchung
3
deutsche Ideale statt um Chauvinismus"8. Dennoch bleibt hier festzuhalten, daß eine eingehendere Untersuchung der hier anstehenden Fragen bisher noch nicht unternommen worden ist. Eine solche Untersuchung ist aber sicherlich notwendig, bevor fundierter über Nietzsches diesbezügliche Aussagen geurteilt werden kann. Die Zitate aus der Forschung machen deutlich, welche schwierigen Fragen der Nietzsche-Interpretation und -Rezeption noch einer gründlicheren Erörterung harren. Die vorliegende Untersuchung will Bausteine liefern für eine weitere Diskussion dieser Fragen, indem sie zuallererst einmal zur Klärung wichtiger Konzepte beitragen will, die in diesem Zusammenhang immer wieder auftauchen. Sie kann und darf keine apologetische Absicht verfolgen. Sie hofft aber durch Klärung und z.T. Richtigstellung zentraler Konzepte, wie etwa "Rasse" und "züchten", zu einer ausgewogeneren Einschätzung Nietzsches beitragen zu können. An die Methode dieser Untersuchung ergeben sich daraus eine Reihe von Forderungen. Sie muß so nahe wie möglich an die Texte herangehen und sich um eine sorgfältige Lesung dieser Texte bemühen. Sie muß daher auch die ganze Breite des verfügbaren Materials auswerten, also auch den gesamten Nachlaß sowie die Briefe. Ergänzend werden auch einschlägige Belege herangezogen, in denen nicht das Wort "Rasse" erscheint. Beim letzten Schritt müssen natürlich gewisse Grenzen gezogen werden, soll die Arbeit nicht das Machbare überschreiten. Bei der Herausarbeitung der Konzepte, die sich etwa mit dem Wort "Rasse" verbinden, soll schrittweise verfahren werden. Es wird also nicht eine feste Definition an den Anfang gestellt, die dann nur den Gang der Interpretationen behindern könnte. Vielmehr soll in wiederholten Anläufen den Bedeutungen des Wortes "Rasse" nachgespürt werden. Die Konzepte sollen, so hoffen wir, im Gang der Untersuchung, allmählich Konturen erhalten und schärfer werden. Eine weitere Aufgäbe der Untersuchung besteht darin, die Kontexte zu erschließen und die Andeutungen zu entschlüsseln, die für eine umsichtige Interpretation wichtig sind. Dazu gehört z.B. die Aufzeigung der wissenschaftlichen Konzepte, auf die Nietzsche gelegentlich anspielt, oder auch politische
8
Ottmann 1987, 99 f.
4
Einleitung
Hintergründe (Preußen, Polen, der zeitgenössische Antisemitismus). Gelegentlich dürften auch Hinweise auf Sachverhalte aufschlußreich sein, die damals sehr aktuell waren, bei Nietzsche aber so gut wie keine Erwähnung finden (etwa die Erörterungen zur Entstehung des Menschen). Wenn bei Nietzsche das Wort "Rasse" so oft vorkommt, so braucht dies etwa keineswegs Gobineau zu verdanken sein. Die gesamte französische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ist voll davon, und zwar unabhängig von Gobineau, wie etwa die Bücher von Young und Poliakov deutlich werden lassen.9 Nietzsche nimmt hier an einer europäischen Diskussion teil. Und dabei hatte das Wort "Rasse" ganz überwiegend die Bedeutungen "Volk", "Mensch allgemein" und "Stand". Die Interpretation gerät leicht auf Abwege, wenn sie Nietzsche zu isoliert sieht. Die Untersuchung ist wie folgt aufgebaut: in einem ersten Teil wird in wiederholten Anläufen eine Klärung der Konzepte versucht, die mit dem Wort "Rasse" angesprochen werden (etwa "Volk", "Stände" und "Menschentypen"). Dann wird gefragt, inwiefern zu einem besseren Verständnis dieser Konzepte Nietzsches eigene Konzepte 'Willen', 'Kraft' oder auch Physiologie beitragen können, die immer wieder in diesen Zusammenhängen auftauchen. Dabei ergibt sich, daß für Nietzsches Denken viel eher das Konzept des Menschentyps im Mittelpunkt stehen dürfte. Diesem wird dann im zweiten Teil nachgegangen, wobei dann vor allem folgende Fragen zu erörtern sind: nach welchen Maßstäben werden Menschen(typen) bewertet? Wie stellt sich Nietzsche eine "Erhöhung" (ein Wort Nietzsches) des Menschen vor? Gerade dies letzte Problem nimmt ja einen großen Teil seiner Überlegungen ein, und die bisherigen Ansichten über diese Frage sind sehr kontrovers, wie wir den wenigen Stellungnahmen der Forschung entnehmen konnten. In einem Ausblick sollen dann noch einige Fragen aufgegriffen werden, die sich aus Teil II ergeben: so das Problem der Moral und der Staatsform, wie sie aus den Ergebnissen des Teils II extrapoliert werden könnten. Es liegt auf der Hand, daß diese schwierigen Fragen hier nur angedeutet werden können. Vielleicht ist es schon
Young 1968 und Poliakov 1979.
Kontexte und Hintergründe
5
ein Fortschritt, wenn es hier gelingt, klare Fragen zu formulieren, so daß für weitere Forschungen zumindest ein paar Hinweise gegeben werden können.
Kontexte und Hintergründe Die Wissenschaften im 19. Jahrhundert und Nietzsches Stellung dazu
Es dürfte nützlich sein, an dieser Stelle auf einige wichtige Trends und Themen der (Natur-)Wissenschaften im 19. Jahrhundert wenigstens kurz hinzuweisen, da diese nicht selten den Hintergrund abgeben, vor dem sich Nietzsches diesbezügliche Überlegungen vollziehen und gegen den sie sich meist kritisch abheben. Angesichts der Breite und des Umfangs dieses ganzen Phänomens kann es sich hier natürlich nur um einige Stichworte handeln, die aber doch deutlich machen können, daß Nietzsche auch hier Teilnehmer einer Diskussion ist, die das ganze Jahrhundert durchzieht. Alle hier anstehenden Fragen und Themen sind in der gründlichen Untersuchung von Weindling10 eingehend dargestellt, auf die hier auch im weiteren meist Bezug genommen wird. Kennzeichnend ist zunächst die große Anzahl biologischer Entdeckungen und Fortschritte, die zu einer starken Biologisierung zahlreicher Wissenschaften fuhrt. Diese Entdeckungen ermutigen z.B. den Gedanken der Kontrolle der Fortpflanzung "through selective breeding or inspiring conditions surrounding conception and pregnancy". Biologische Konzepte (Zelle, Organismus) werden auf Gesellschaft und Staat übertragen, es bildet sich eine entsprechende Metaphorik.11 Der Darwinismus durchdringt nahezu alle wissenschaftlichen und sozialen Fragen in zahlreichen Verästelungen. Das Konzept der "natural selection" wird dabei teils ignoriert, teils neu formuliert, teils zurückgewiesen zugunsten eines Glaubens an Evolution, der sich entweder auf Lamarcks Anpassung beruft oder aber seine Hoffnung auf Lernprozesse setzt. Politisch wird der Darwinismus zunächst eher zum laisser-faire hin interpretiert, ab 1890 aber mehr in 10 11
Weindling 1989. Weindling 1989, 16 und 39.
6
Einleitung
Richtung von "corporate ideologies", die eine organische Einheit betonen anstelle von Klassenkampf und der Tüchtigkeit von Völkern12. Der Darwinismus bringt schließlich, von der biologischen Seite aus, eine Wiederaufnahme und Verstärkung der schon in der Bibel enthaltenen These von der einheitlichen Abstammung des Menschen, die im Laufe der Jahrhunderte immer wieder bestritten wurde und z.T. auch weiterhin bestritten wird. Die Biologie leitet damit, nach Auffassung Weindlings, von aristokratischen Konzepten über zu bürgerlichen13. Die These von der Einheitlichkeit der "Menschenrasse", d.h. des Menschengeschlechts, die nur durch Moral und Erziehung unterschieden und geteilt sei, war schon von Blumenbach14 vertreten worden, und sie wird von vielen liberalen Deutschen übernommen. Von dieser Basis aus wurde im 19. Jahrhundert eine scharfe Kritik an der Sklaverei formuliert. Im scharfen Gegensatz dazu stehen die Theorien Gobineaus, der von unterschiedlichen Menschenrassen von Anfang an ausgeht und der damit eine Stützung der durch die französische Revolution in Bedrängnis geratenen Aristokratie bezweckte. Im Kontext der angedeuteten Diskussionen gewinnt dann auch die Anthropologie als selbständige Wissenschaft allmählich schärfere Konturen15. Die damals tonangebende Pariser Anthropologische Gesellschaft propagiert die These, daß kulturelle Unterschiede physisch und physiologisch bestimmt seien. Broca verficht die These, daß die Gehimanatomie eine zentrale Bedeutung habe für die Anthropologie16. Vor diesem Hintergrund sind die Versuche zu sehen, über Schädelmessungen eine Einteilung der Menschen gewinnen zu können. Der Schwede Retzius erstellt 1845 einen Schädelindex, der Auskünfte geben soll über die "mental quality and racial origins" des Menschen17. Dieser wurde in Frankreich weiter ausgebaut, indem z.B. auch die Haare für eine genauere Bestimmung des Menschen herangezogen wurden. Beim Treffen der deutschen Anthropologen
12
Weindling 1989, 27-28. Ders., 49. 14 Erläuterungen zu den heute weniger bekannten Forschem finden sich im Namensregister am Ende dieser Untersuchung. 15 Dazu Williams 1994. 16 Weindling 1989, 50. 17 Ebenda. 13
Rudolf Virchow
7
im Jahre 1861 wurde dann der Plan gefasst, eine generelle Methode für die Schädelmessung (Craniometrie) zu entwickeln. Zugleich wurde dabei eine feste Verbindung von Anatomie und Anthropologie angestrebt. Die Biologen und Anthropologen verloren dabei nicht das Problem der Krankheit aus den Augen. In diesem Zusammenhang wurden schießlich gewisse eugenische Vorstellungen entwickelt, die aber zunächst noch nicht auf einzelne "Rassen" gerichtet waren, sondern sich ganz allgemein mit dem Problem der Krankheitsprävention befassten und auf eine allgemeine Hebung der Gesundheit gerichtet waren. Erörtert wurde z.B. die Frage der Verursachung von Krankheiten durch soziale Mißstände der sich entwickelnden Industriegesellschaft. Ferner wurde z.B. die unheilvolle Rolle von Drogenkonsum wie z.B. Alkohol, eingehend erörtert. Auch bei Nietzsche wird ja der Alkohol immer wieder den Deutschen als Volksseuche vorgehalten. (Tacitus läßt grüßen.) Soweit die groben Andeutungen zur Entwicklung der für unser Thema wichtigen Wissenschaften im 19. Jahrhundert. Einige Punkte daraus sollen jetzt etwas konkreter beleuchtet werden. Dazu werfen wir einen Blick auf den Mediziner und Anthropologen Rudolf Virchow (1821-1902), der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Wissenschaftler und liberaler Politiker in Deutschland eine ganz hervorragende Rolle spielte und auf den sich Nietzsche wiederholt beruft.
Rudolf Virchow
Virchow ist für unsere Untersuchung in vielfacher Hinsicht interessant und wichtig: er hatte ein großes Interesse für Polen und Pommern (damals ein zentrales
Thema in der preußischen Politik18), er hat an dem von
Quartrefages ausgelösten Preußen-Streit teilgenommen, er hat (im Anschluß daran) eine große Rassenuntersuchung in Deutschland unternommen, er hat sich an der Diskussion über die Entstehung des Menschen beteiligt (Stichwort Neanderthaler), er hat den Berliner Antisemitismus bekämpft19.
18 19
Vgl. Broszat 1963. Insbesondere in der Person des Hofpredigers und Politikers Adolf Stoecker. Vgl. Niimensregister.
8
Einleitung
Virchow ist in Pommern geboren, genauer in Hinterpommern (auch bei Nietzsche erwähnt), das damals noch ganz von den preußischen Junkern, also Großgrundbesitzern, beherrscht wurde und gegen dessen Rückständigkeit er gekämpft hat. So wurde er früh radikal und liberal und ab 1860 auch Gegner des pommerschen Junkers Bismarck. Als Arzt hat er 1847/8 teilgenommen an der Bekämpfung einer Flecktyphus-Epidemie in Oberschlesien, in dem es noch viele polnische Minderheiten gab. Er machte 1847 eine Reise nach Holland, wo er F.C. Donders kennen lernte, mit dem er lange freundschaftlich verbunden blieb. 1848 nahm er an der Revolution in Berlin teil. Von diesem Zeitpunkt an wurde er auch politisch aktiv, ab 1861 als Mitglied der "Deutschen Fortschrittspartei". Bismarck war so verärgert über den "kleinen Professor", daß er ihn zu einem Duell aufforderte, was Virchow aber ablehnte20. Besonders scharf wurde der Konflikt anläßlich der drei Kriege Bismarcks (1864, 1866 und 1870).21 Beim sog. "Kirchenkampf' stand Virchow jedoch auf Bismarcks Seite. Virchow prägte die Formel vom "Kulturkampf1 in diesem Zusammenhang, die sich auch bei Nietzsche wiederfindet. Er blieb bis an sein Lebensende politisch aktiv. Wie Nietzsche glaubte er, von Slawen abzustammen. Seine Vorfahren seien dem Blut nach Slawen gewesen. Er betrachtete sich als "Slawisch-Deutschen". Wie sich noch zeigen wird, tritt auch Nietzsche wiederholt für ein deutsch-slawisches Bündnis ein. Wir wollen nun einige wissenschaftliche Unternehmen Virchows etwas genauer betrachten. In den Jahren 1865-70 betrieb er Archäologie in seinem Heimatland Pommern. Anlaß für ihn war der Umstand, daß es hier sehr viele slawische Personen- und Ortsnamen gab, daß aber die Bevölkerung weitgehend germanisiert war. Wie war das zu erklären? Er untersuchte z.B. Pfahlbauten und kam zu der Überzeugung, daß es sich um "slawische Bauwerke" handele, was für ihn bewies, daß die slawischen Stämme einst bis Braunschweig lind Franken vorgedrungen waren. Im Spreewald untersuchte er Gräbefelder mit dem Ergebnis, daß diese prä-slawisch seien. Woraus er schloß, daß hier zuerst germanische Stämme wohnten. Jedoch erwog er hier auch die Möglichkeit, daß hier Kelten einer germanischen Besiedlung vorausgegangen seien. Auf diese
20 21
Ackerknecht 1957, 21. Auch Nietzsche übt, nach anfänglicher Begeisterung für Bismarck, später Kritik an der Eroberungspolitik der Hohenzollern.
Rudolf Virchow
9
Frage könnte auch Nietzsche anspielen, wenn er in der "Genealogie der Moral" zur Frage der Besiedlung Deutschlands Stellung nimmt. Nietzsche wendet sich hier gegen die "keltische These". Wir wollen diesen Punkt hier nicht weiter verfolgen. Er läßt aber deutlich werden, wie eng bei gewissen Fragen die Beziehungen zwischen Virchow und Nietzsche waren. Zugleich geht es hier aber auch um das Nietzsche so wichtige Thema einer Verknüpfung von Deutschen und Slawen. Die Frage nach dem Ursprung des Menschen ist ein weiteres Thema, das Virchow lange beschäftigt hat. Sie war ins Rollen gekommen einmal durch die Schriften Darwins, dann aber auch durch eine Reihe von Fossilienrunden, an deren Anfang der Neanderthaler steht. Darwins Lehre ließ eine Abstammung des Menschen von einem affenartigen Wesen zu. Virchow verhielt sich skeptisch gegenüber einer solchen These, solange keine überzeugenden Beweise vorlagen. Die Fossilienfunde hielt er für Mißbildungen, denen er kein höheres Alter zuerkennen wollte. Die weitere Forschung sollte zeigen, daß Virchow hier in einem Irrtum befangen war, den er aber niemals aufgab. Nehmen wir nun einmal an, daß Nietzsche auch diese Forschungen Virchows gekannt hat, so erklärt das vielleicht, warum auch er in der Frage der Affenherkunft des Menschen so sehr zurückhaltend ist. So weit ich sehe, wird sie von ihm nirgends anerkannt. Wenn er auf Affen und Menschen zu sprechen kommt, so beschränkt er sich meist auf witzige oder auch satirische Bemerkungen. Die Kluft zwischen Affe und Mensch war für Nietzsche offenbar zu groß, um überbrückt werden zu können. Demgegenüber ist es bemerkenswert, daß der idealistische Philosoph Kant bei dieser Frage keine Probleme hatte.22 Da für Nietzsche der Mensch aber zugleich das "nicht festgestellte Tier" ist, muß diese Frage vielleicht für Nietzsche ganz anders gestellt werden und bedarf daher noch einer näheren Untersuchung.23 Wenden wir uns nun den wichtigen Rassenuntersuchungen Virchows zu, in denen es um die Herkunft der Deutschen geht und die zu einer Zerstörung des germanischen Mythus führen. Deutschland wird von einer gemischten Be22 23
Vgl. Lange 1876/77, U, 330. Dazu auch Kreis 1995, 133.
10
Einleitung
völkerung bewohnt, von einer Vorherrschaft der "blonden Germanen" kann keine Rede sein. Diese Auffassung wird auch von Nietzsche vertreten und er sieht darin keinen "Niedergang". Die Auseinandersetzung beginnt nach dem deutschen Sieg über Frankreich im Krieg 1870/71, an dem auch Nietzsche kurz als Sanitäter teilgenommen hatte. Diesen preußischen Sieg kommentiert der französische Anthropologe Quatrefages (1810-92) mit einer Schmähschrift, in der er der "preußischen Rasse" Korruption vorwirft. Seine These lautet: die preußische Rasse ist verdorben durch finstere mongolische, finnische und slawische Elemente. Dadurch unterscheide sie sich von der echten germanischen Rasse anderer deutscher Gebiete. De facto hätten barbarische Finno-Preußen Paris bombardiert. Die wahren arischen Aristokraten, das seien die Franzosen und die Süddeutschen.24 Virchow fühlte sich durch diesen Anfall provoziert, sicher nicht zuletzt auch, weil er ein viel positiveres Bild von den Slawen hatte, wie wir schon sehen konnten. Zum Zwecke der Widerlegung Quatrefages' fasste er den Entschluß, sich in einer größeren Untersuchung einen genaueren Überblick zu verschaffen über die physischen Merkmale der Finnen und der germanischsprachigen Völker. Er tat sich zusammen mit dem Freiburger Anatom Alexander Ecker. Mit mehr oder weniger bereitwilliger Zustimmung der entsprechenden staatlichen Behörden entschloß man sich zu einer Schädeluntersuchung, die durch weitere körperliche Merkmale ergänzt wurde: so Körpergröße, Haar- und Augenfarbe. Untersucht wurden Armeerekruten und über 15 Millionen Schulkinder. Mit den Ergebnissen wollte man die Frage zu klären versuchen, inwiefern eine Mischung vorliege zwischen "Asiatic 'Arians'" einerseits und den eingebomen europäischen Bevölkerungen andererseits.25 Die Befunde der Erhebung wurden vom preußischen statistischen Amt ausgewertet. Die Ergebnisse zeigten, daß es in Deutschland zahlreiche unterschiedliche physische Typen gibt. Von den Juden hatten 12% blondes Haar, und viele hatten blaue Augen. Die im Umlauf befindlichen Rassenstereotypen stimmten also nicht mit der ethnischen Wirklichkeit überein.26
24 25 26
Weindling 1989, 48. Weindling 1989, 49. Weindling ebenda. Poliakov 1979, 262-268 sowie Ackerknecht 1957, 207-219.
Rudolf Viichow
H
In ergänzenden Untersuchungen kam Virchow zu weiteren Infragestellungen bisher gängiger Rassenvorurteile. So fand er, daß die Langschädlichkeit (Dolichocephalic) nicht, wie bisher behauptet, ein spezifischer Zug der alten Germanen war. Sie fand sich auch bei den Romanen, Griechen, Basken, Galatem und der blonden Gruppe der Finnen. Die Dolichocephalie war also kein Kennzeichen einer 'hohen' Entwicklungsstufe, wie romantische Rassenforscher angenommen hatten. Sie begegnete sogar besonders häufig unter Steinzeitvölkern, wie Virchow aus seinen Forschungen an Höhlengräbern wußte. Es war also verkehrt, die dolichocephalen Schädel in Deutschland automatisch germanischen Individuen zuzuschreiben. Sie fand sich sogar häufig bei den Negern und den afrikanischen Pygmäen27. Und andrerseits fand sich die Kurzschädlichkeit (Brachycephalie) seit den frühsten Zeiten bei Germanen, die als besonders 'rein' galten: den Friesen. Man konnte, ja man mußte also die ganze Rassenrabulistik vergessen. Virchow ging sogar so weit, die These aufzustellen, daß selbst relativ alte Völker, wie die germanischen oder slawischen Stämme, bereits Mischungen waren. Die Annahme eines einzigen, gleichförmigen 'urgermanischen' Typus war "willkürlich und unbegründet"28. Nietzsche war also in guter Gesellschaft, wenn auch er eine Verwandtschaft der Deutschen mit den Germanen glatt abstritt. Virchow machte sich auch Gedanken über den Zusammenhang von Rasse und Nation. Seine These: jede Nationalität ist zusammengesetzt, "niemand kann sagen, aus welchen ursprünglichen Stämmen sich jede einzelne entwickelt hat'*29. Es sei irreführend, in Europa überhaupt von verschiedenen Rassen zu rexien, denn hier gebe es keine Unterschiede wie zwischen Negern, Mongolen und Weißen. Besser spreche man von "verschiedenen Gruppen oder Volksstänunen". Die germanische Rasse heiße richtiger die "nordwestgermanische Gruppe". Es gebe überall "Blonde" und "Dunkle". Es gebe keine Beweise für das Übergewicht irgendeiner Rasse oder Nation. Es gebe auch keinen Zusammenfall von sprachlichen, kulturellen und nationalen Zügen30. Auch
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Ackerknecht 1957, 176. Atkerknecht ebenda. Zitiert bei Ackerknecht 1957, 179. Aikerknecht ebenda.
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Einleitung
Nietzsche weist einen Zusammenhang von Rasse und Sprache ausdrücklich zurück. Weindling versucht eine etwas genauere Bestimmung von Virchows RasseAuffassung: Virchow weist die Vorstellung von "höheren" und "tieferen/ niedrigeren" Rassen zurück. Er betrachtet "Rasse" als "hereditäre Variation".31 Er hatte große Zweifel daran, daß rassische Typen permanent seien. Er lehnt die Vorstellung atavistischer Umkehrungen, etwa Mikrocephalie, ab. Völker unterscheiden sich primär durch ihre kulturelle Entwicklung. In diesem Sinn unterscheidet er zwischen Natur- und Kulturvölkern. Er unterstreicht nachdrücklich "the immense potential for human variation". Nach Weindlings Ansicht war die Anthropologie bis 1890 frei von Antisemitismus und Imperialismus. Dies wird erst anders mit dem Auftreten der Sozialdarwinisten ab 1890.32 Die Tendenz, die Juden als separate Rasse in biologischem Sinn zu betrachten, die um 1881 vehement von E. Dührung vertreten wird, hat Virchow energisch zurückgewiesen. Einer 1880 in der russischen Nationalversammlung von B. Förster organisierten, gegen die Juden gerichteten Rassenpetition hat Virchow vorgeworfen, sie verwechsle Religion mit Rasse. Und 1881 trat Virchow als Kandidat für den Reichstag gegen A. Stoecker an, der - nach einem anfänglichen Wahlmißerfolg - seine christlich-soziale, gegen die Sozialdemokraten gerichtete Partei ganz unter das Etikett des Antisemitismus gestellt hatte33. In den 90-er Jahren setzte Virchow seinen Kampf gegen den Antisemitismus fort. Soviel zu Virchow. Wir haben in ihm einen Forscher und Kämpfer kennengelernt, der in vieler Hinsicht für Nietzsche interessant und anregend sein konnte, wenn auch durch die eher konservative Haltung Nietzsches ein trennender Graben zu dem liberalen Virchow bestehen blieb. Wir sehen hier aber, wie vielschichtig die Linien zwischen einzelnen 'Lagern' verlaufen und daß z.B. mit einer scharfen Trennung etwa zwischen 'liberal' und 'konser-
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Weindling 1989, 55. Weindling ebenda. Auch Nietzsche weist wiederholt den Antisemitismus von Adolf Stoecker zurück, wie sich noch zeigen wird.
Vorläufige Bemerkung zu Nietzsches Standpunkt
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vativ' nicht viel zu gewinnen wäre. In unserm Falle sind 'liberal' und 'konservativ' eben nur partiell getrennt, während sie sich in vielen wichtigen Punkten überlagern, etwa dem gemeinsamen Kampf gegen den Antisemitismus. Mit einer Schwarz-weiß-Zeichnung ist nicht viel gewonnen, die grauen Zwischentöne bringen uns näher an die komplexe historische Wahrheit.
Vorläufige Bemerkung zu Nietzsches Standpunkt
Es dürfte für den Leser hilfreich sein, schon an dieser Stelle einige vorläufige Hinweise zu Nietzsches Standpunkt bezüglich der angeschnittenen Fragen zu geben, über die bereits gemachten kurzen Andeutungen hinaus. Zwei Punkte dürften dabei von größerem Interesse sein: zum einen seine Stellungnahme zum Darwinismus, zum anderen ein Hinweis darauf, daß er auch dem eigenen Standpunkt, der zum Teil in Absetzung von Darwin entstanden sein konnte, gelegentlich mit erheblichen Selbstzweifeln gegenübersteht. Und das heißt: wenn er auch, wie wir noch sehen werden, seinen eigenen Standpunkt oft mit großer Entschiedenheit vorträgt, so ist er doch keineswegs blind gegenüber anderen Überlegungen und Erfahrungen, die sich mit seinem Standpunkt nicht oder kaum in Einklang bringen lassen. Und das heißt, er ist weniger 'dogmatisch', als dies manchmal den Anschein haben mag. Und darauf legt er größten Wert. Nietzsches Denken ist komplexer, als daß es in diesem oder jenem Standpunkt ganz aufgehen würde. Zunächst seine Stellung zum Darwinismus. Dies ist natürlich ein weites Feld, und wir müssen uns hier damit begnügen, Nietzsches Stellungnahme kurz zu referieren, wie er sie selbst in einem späten Nachlaßtext umrissen hat. Der Text hat die Überschrift "Anti-Darwin" und stammt aus dem Frühjahr 1888 (Text 14/133 KSA 13,315-17). Wir verzichten hier auf eine eingehendere Erörterung, da viele hier berührte Themen im Laufe der Untersuchung eingehender zur Sprache kommen werden. Hier ist nur eine vorläufige Orientierung beabsichtigt.
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Einleitung
Der Text besteht aus zwei Teilen. In Teil I werden darwinistische Thesen referiert und zurückgewiesen, in Teil II gibt Nietzsche dann "Meine Gesamtansicht". Wir wollen hier nur die wichtigeren Punkte kurz referieren. Teil I: These 1: Die "Schule Darwins" behaupte, die "Wirkung der Domestikation" könne "tief, ja fundamental werden" (13, 315, 6-8). Demgegenüber ist Nietzsche der Auffassung, die Domestikation bleibe "oberflächlich" (315,10). Wo sie tief gehe, führe sie zur Degenerescenz. Als Beispiel hierfür wird später auf den "Typus Christ" verwiesen (317,25). Was der "Züchtung" entschlüpfe, kehre wieder zur Natur zurück (315,11-13). "Der Typus bleibt constant: man kann nicht 'denaturer la nature'" (315,13-14). Später kommt er nochmals auf diesen Punkt zurück (316,18f.). These 2 (315,15ff): der "Kampf um die Existenz" führt nach Auffassung Nietzsches nicht zum "Tod der schwächlichen Wesen", denn deren Fruchtbarkeit wiege die Zerstörung wieder auf. Auch darauf kommt Nietzsche nochmals zurück (317,8). These 3 (315, 24f.): die "natürliche Selektion" bringe die Vererbung von "Vortheilen" mit sich. Auch dies wird von Nietzsche bezweifelt. Die Erblichkeit sei "so capriciös..." (315,27). These 4 (315,28f): Nietzsche bezweifelt den "Einfluß der milieux" bei der "glücklichen Anpassung gewisser Wesen an sehr besondere Lebensbedingungen" (315, 28-30). Seiner Meinung nach kann aber hier von einer "unbewußten Selektion" (315,31) nicht die Rede sein. Vielmehr sei es so: "Die disparatesten Individuen einigen sich, die extremen mischen sich in die Masse" (315,32-33). "Alles concurrirt, den Typus aufrecht zu erhalten" (315,33-316,1). These 5 (316,6f.): Auch die "Auslese der Schönsten" sei übertrieben worden "in einer Weise, wie sie weit über den Schönheitstrieb unserer eigenen Rasse hinausgeht" (316,7-8). Denn: "Thatsächlich paart sich das Schönste mit sehr enterbten Creaturen, das Größte mit dem Kleinsten". "Die Männchen und Weibchen" seien ganz und gar "nicht wählerisch" (316,10-11). Hier ist mit dem Wort "Rasse" der "Mensch" gemeint, denn anschließend ist von Tieren die Rede ("Männchen und Weibchen"): Mensch und Tier werden verglichen.
Vorläufige Bemerkung zu Nietzsches Standpunkt
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Schon in These 4 hieß es: "Die disparatesten Individuen einigen sich...11. Von planmäßiger Selektion kann also nach Nietzsches Auffassung keine Rede sein. Wir überspringen die Thesen 6 bis 8, die hier nicht aufschlußreich sind. These 9 (316,18f.): Man behaupte die "wachsende Entwicklung der Wesen". Auch dies wird von Nietzsche bestritten: "Es fehlt jedes Fundament" (316,19). Vielmehr habe "jeder Typus seine Grenze: über diese hinaus giebt es keine Entwicklung. Bis dahin absolute Regelmäßigkeit". (316, 19-21). These 10 (316,22f.): daß die "primitiven Wesen" "die Vorfahren der jetzigen" seien, wird von Nietzsche ebenfalls bezweifelt. Die "Tertiärperiode" sei für uns "noch unerforschtes Land", über das man noch nichts sagen könne. (316,24). In Teil formuliert Nietzsche dann seine "Gesamtansicht", die er in drei "Sätzen" vorträgt: "Erster Satz" (316,28f): Hier sind Nietzsches Ausführungen sehr kurz: "der Mensch als Gattung ist nicht im Fortschritt. Höhere Typen werden wohl erreicht, aber sie halten sich nicht. Das Niveau der Gattung wird nicht gehoben". (316, 28-31). "Zweiter Satz":(316,32f.): Hier müssen wir zusammenfassen. Die zentralen Punkte dürften sein: "der Mensch als Gattung stellt keinen Fortschritt im Vergleich zu irgend einem anderen Thier dar". (316, 32-33). "Die gesammte Pflanzenwelt entwickelt sich nicht vom Niederen zum Höheren..." (316, 33-317,2). "Die reichsten und complexesten Formen -denn mehr besagt das Wort 'höherer Typus' nicht- gehen leichter zu Grunde..." (317,4-5). "Auch in der Menschheit gehen unter wechselnder Gunst und Ungunst die höheren Typen, die Glücksfälle der Entwicklung, am leichtesten zu Grunde". (317,9-11). "Sie sind jeder Art von decadence ausgesetzt: sie sind extrem, und damit selbst beinahe schon decadents..." (317,12-13). "Die kurze Dauer der Schönheit, des Genies, des Caesar, ist sui generis: dergleichen vererbt sich nicht. Der Typus vererbt sich; ein Typus ist nichts Extremes, kein 'Glücksfall' ..." (317,13-16).
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Einleitung
"Das liegt an keinem besonderen Verhängniss und 'bösen Willen' der Natur, sondern einfach am Begriff 'höherer Typus': der höhere Typus stellt eine unvergleichlich größere Complexität, - eine größere Summe coordinirter Elemente dar: damit wird auch die Disgregation unvergleichlich wahrscheinlicher". (317, 17-21). "Dritter Satz" (317,24f): "die Domestikation ('die Cultur') des Menschen geht nicht tief ... Wo sie tief geht, ist sofort die Degenerescenz (Typus: der Christ) Der 'wilde Mensch' (oder, moralisch ausgedrückt: der böse Mensch) ist seine Rückkehr zur Natur und, in gewissem Sinne,- seine Wiederherstellung, seine Heilung von der 'Cultur1 ..." (317, 24-29). Der referierte Text "Anti-Darwin" enthält in seinem Teil I eine Zurückweisung wichtiger Thesen der "Schule Darwins", wie Nietzsche diese versteht, in seinem Teil II bringt er Nietzsches "Gesamtansicht" zu diesen Fragen in drei "Sätzen". Sie läßt sich vielleicht folgendermaßen zusammenfassen: der Mensch als Gattung erfährt keine Entwicklung, die zu einer Niveauhebung führt. Nur als "Glücksfälle" können sich Einzelne über die Gattung erheben: die "höheren Typen". Sie sind nur von kurzer Dauer, sie vererben sich nicht, sie sind die "reichsten und complexesten Formen" (317,4). Sie sind zugleich immer von 'decadence' und Disgregation bedroht. Die "Domestikation" bringt den Menschen nicht weiter. Vielmehr stellt der "wilde" Mensch, der "böse" Mensch seine "Rückkehr zur Natur" dar, seine "Heilung von der 'Cultur' ..." Der genannte Text bringt also nicht nur, wie der Titel vielleicht zunächst vermuten lassen könnte, eine Zurückweisung des Darwinismus, sondern in seinem zweiten Teil benennt er zentrale Stücke von Nietzsches eigenem 'Programm', die im Verlauf dieser Untersuchung noch eingehender zu erörtern sein werden. Von grundlegender Bedeutung ist dabei sein Konzept eines "höheren Typus". Um diese Frage, also um die Frage der "Erhöhung" des Menschen, um eine andere Formulierung Nietzsches zu verwenden, drehen sich viele der im Folgenden zu behandelnden Texte. Wie ist eine "Erhöhung", sozusagen 'jenseits' der darwinistischen Vorstellungen, möglich? Ausdrücklich zurückgewiesen werden ja im genannten Text "Domestikation" und "Vererbung". Auf diese Fragen ist, wie gesagt, noch ausführlich einzugehen. An
Vorläufige Bemerkung zu Nietzsches Standpunkt
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dieser Stelle soll aber auch noch kurz darauf hingewiesen werden, daß Nietzsche gelegentlich auch seinem eigenen Standpunkt, wie er oben zumindest andeutungweise deutlich wird, mit nicht geringer Skepsis gegenübertritt. Die Suche nach einer Antwort ist auch für ihn noch nicht beendet. Sie wird nie an ein Ende kommen. Dies kommt ebenfalls zum Ausdruck in einem Nachlaßtext vom Frühjahr 1888: 14/182 (KSA 13,365-70). Dieser Text stammt also aus dem gleichen Zeitraum wie der zuvor besprochene. Wir wollen hier nur kurz darauf eingehen, da der Text später noch genauer betrachtet werden soll. Der Text trägt den Titel: "Warum die Schwachen siegen" (von Nietzsche hervorgehoben) (13,365,17). Nietzsche kommt bei einer Betrachtung der in seiner Zeit vorherrschenden Kräfte und Tendenzen zu dem Ergebnis, daß dabei auch die "alten Werthe" nochmals eine neue "Heraufkunft" erfahren (367,31-2). So heißt es etwa: "die Heraufkunft des Pöbels bedeutet noch einmal die Heraufkunft der alten Werthe..." (a.a.O.). Und etwas später: durch das Hervortreten der "Mediokren" (368,10) findet "die ganze verlebte [sie] Welt des Ideals eine begabte Fürsprecherschaft..." (368,20-21). Dies führt ihn zu Zweifeln an seiner sonst häufig vorgebrachten These, daß etwa das christliche Ideal lebensfeindlich sei. Es heißt (369,17f): "Besinnung.- Es ist unsinnig, vorauszusetzen, daß dieser ganze Sieg der Werthe antibiologisch sei: man muß suchen, ihn zu erklären aus einem Interesse des Lebens" Und er kommt hier zu folgender Antwort: das Interesse des Lebens besteht offenbar in der "Aufrechterhaltung des Typus 'Mensch' selbst durch diese Methodik der Üfrerherrschaft der Schwachen und Schlechtweggekommenen -" (369,20-22). Aus dieser Sicht sieht er sich dann vor das "Problem" (369,24) gestellt: Ist "Die Steigerung des Typus verhängnissvoll für die Erhaltung der Art?" (369, 25-6). Und er kommt hier dann in der Tat eher zu dem Ergebnis, daß dies tatsächlich der Fall ist. Das lehrten die "Erfahrungen der Geschichte", auf die er dann näher eingeht. (369,28f.). Hier kommt Nietzsche also zu einer erheblichen Infragestellung seiner sonst vorwiegend vertretenen These, daß das Leben es vor allem abgesehen habe auf eine "Steigerung des Typus", also auf eine "Erhöhung" des Menschen.
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Einleitung
(Weshalb er ja von diesem Standpunkt aus etwa zur gleichen Zeit noch Spencers "Altruismus" als "antibiologisch" eingestuft hatte: Frühj. 1888: 14/407: KSA 13,238,24). Wir sehen hier einen Nietzsche, der keineswegs frei ist von Zweifeln auch an seiner eigenen "Lehre". Leider wurden diese Zweifel, diese Komplexität von Nietzsches Gedanken und Denken bei der Rezeption seiner "Lehre" allzuoft übersehen oder auf die Seite gewischt.34
Politik, Zeitgeschichte: Preußen
In nicht wenigen Texten, die im Folgenden noch zu untersuchen sein werden, finden sich Hinweise und Anspielungen auf soziale und politische Vorgänge, Ereignisse und Zustände des 19. Jahrhunderts, wobei oft auch Preußen keine geringe Rolle spielt. Diese Linien werden in der Nietzsche-Forschung meist zu wenig zur Kenntnis genommen, obwohl sie zum besseren Verständnis vieler Äußerungen Nietzsches einen nicht zu unterschätzenden Wert haben dürften. Daher sollen hier ein paar Bemerkungen zu den preußischen Zuständen ge-
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Die Beziehung Nietzsches zu Darwin kann im vorliegenden Rahmen nur in wenigen Punkten thematisiert werden. Eine differenzierte Behandlung der hier anstehenden Fragen müsste zum einen eine gewisse Verschiebung Nietzsches in seinen Stellungnahmen zu Darwin näher berücksichtigen; müsste sodann Darwins eigene Äusserungen schärfer trennen von denjenigen seiner Schüler und der Darwinisten; und sie müsste drittens neben der damaligen Deutung Darwins und seiner Lehren auch deren heutige moderne Interpretation mit einbeziehen. Dies hat Stegmaier (1987 und 1994) in gründlicher Weise getan. Auch er bemerkt, dass eine Anzahl später Texte und Fragmente Nietzsches (GD Streifzüge 14 6.120; 7[25] 12.304; 14[123] 13.303; 14[133] 13.315) eine deutliche Distanzierung Nietzsches von Darwin, so wie Nietzsche ihn damals interpretierte, erkennen lasse; ist aber der Ansicht, dass Nietzsches Einwände 'die wissenschaftliche Evolutionstheorie [...] durchweg nicht im Kern' treffen, 'jedenfalls nicht in ihrem heute erforschten Sinn' (Stegmaier 1987, 271). Aus der Sicht der heutigen Darwin-Interpretation sieht Stegmaier demnach eine weitgehende Übereinstimmung der Auffassungen Darwins und Nietzsches (so auch 1987, 275). Stegmaier äussert selbst, in modifizierender Anlehnung an Kaufmann (Nietzsche 1982, 194), die Vermutung, Nietzsche 'könnte "durch Darwin aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt" worden sein, wie ein Jahrhundert zuvor Kant durch Hume' (Stegmaier 1987, 283), wofür er auf die Entwicklung des Substanzbegriffs verweist, die unter dem Einfluss der Evolutionstheorie an die Stelle des 'konstanten Allgemeinen' 'ein sich in seinen Merkmalen unablässig verschiebbares Allgemeines' gesetzt habe; in Stegmaiers Terminologie: an die Stelle der festen Substanz eine 'Fluktuanz' (Stegmaier 1987, 283). Trifft dies in dem von Stegmaier angenommenen Masse zu, dann wäre in der Tat ein zentrales Stück von Nietzsches Philosophie, sein Ontologiscb.es Denken' in wesentlichem Masse Darwins Evolutionstheorie zu verdanken (vgl. auch Stegmaier 1994).
Politik, Zeitgeschichte: Preußen
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macht werden, obwohl Historiker dazu sicherlich besser berufen wären. Jedoch glaube ich, daß eine wenn auch lückenhafte Behandlung dieses Punktes immer noch besser ist als eine völlige Ausklamnierung. Wichtig ist zunächst einmal, sich vor Augen zu halten, daß Nietzsche in Preußen aufgewachsen ist, da Deutschland als staatliche Einheit ja noch gar nicht bestand (bis zur durch Nietzsche keineswegs begrüßten Reichsgründung 1870/71). Des weiteren dürfte es wichtig sein, sich dieses Preußen nicht zu einheitlich vorzustellen: es hat im 19. Jahrhundert eine bemerkenswerte Entwicklung durchgemacht, die vom konservativen Ständestaat bis etwa 1850 zum nationalistischen und fast schon präfaschistischen Staat der Zeit ab 1880/90 fuhrt. Wenn Nietzsche auf preußische Zustände anspielt, ist es also angebracht, genauer zu prüfen, welches Preußen er jeweils eigentlich meint. Die folgenden kurzen Bemerkungen sollen diesem Ziel dienen. Das Preußen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist ein konservativer Ständestaat, der auf einem "organisch-ständischen Harmomeprinzip" ruht35. Die Teilhabe an der Herrschaft wird über die Stände vermittelt. Bei A. Müller, einem damaligen Repräsentanten der konservativen Theorie, werden die folgenden Stände genannt: 'Lehrstand', 'Wehrstand', 'Nährstand' und 'Verkehrsstand'. Liberale Theoretiker geben schon vor 1848 eine Dreigliederung: Aristokratie, Mittelstand und Proletarier. Mit dem Stichwort 'Harmonie' verbindet sich die Vorstellung, daß eine Gesellschaft ohne soziale Konflikte möglich sei36. Hegel beschreibt diesen Punkt folgendermassen: "die Armen [waren] ihrem Schicksal überlassen und auf den öffentlichen Bettel" angewiesen37. Die Auffassung von 'Volk/ Nation' war und blieb 'vorrevolutionär': d.h. die französische Auffassung vom 'Volk' als 'Souverän' wurde nicht übernommen. Vielmehr ging der konservative Begriff von 'Volk' ab 1880/90 eher in eine sozial-darwinistische Auffassung über, die das 'Völkische' und Biologische betonte.38 Im Preußen vor 1850 spielte die Vorstellung, daß die 'Nation' die Basis des Staates sei, kaum eine Rolle. Vielmehr war man folgender Ansicht: "Die Nationalität, wie man sie auffasst, ist selbst ein
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Puhle 1966, 92. Puhle 1966, 102-103. Zitiert bei Puhle I960, 94. Puhle 1966, 92.
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Einleitung
Schwindel. Es existieren gar keine reinen Nationalitäten, sondern die Kraß der Staaten beruht eben auf der Kreuzung der Nationalitäten, und das kräftigste Volk, das englische Volk, ich glaube, es verdankt diese seine Kraft seiner vielfachen Kreuzung."39 Dies schreibt ein maßgeblicher Redakteur der "Kreuzzeitung" im Jahre 186l!40 Hier wird einer Kreuzung von Völkern sogar von konservativer Seite geradezu das Wort geredet! Hieran können wir ermessen, wie stark Preußen sich am Ende des 19. Jahrhunderts gewandelt hat, wenn dann nämlich weite konservative Kreise pausenlos von Nationalismus und Antisemitismus faseln! Noch 1880 weisen preußische Konservative im Abgeordnetenhaus antisemitische Bestrebungen ausdrücklich zurück.41 Zur großen Genugtuung Virchows, der an diesen Sitzungen teilgenommen hat. Das 'alte' Preußen weist also noch nicht jene Pervertierungen auf, die Nietzsche dann einer erbarmungslosen Dauerkritik unterzieht. Das 'alte' Preußen kann er dabei also nicht gemeint haben. Wie ist es zu dieser verhängnisvollen Veränderung gekommen? Eine grundlegende Rolle scheint dabei die schnell wachsende Industrialisierung gespielt zu haben. Die bisher auf Privilegien beruhende Ständegesellschaft wird unterspült durch eine allmählich Gestalt gewinnende Klassendifferenzierung, die primär auf funktionellen Merkmalen ruht.42 Ausbildung und berufliche Qualifikation werden immer wichtiger. Ein neuer Stand tritt immer stärker in Erscheiung: der Mittelstand. Er wird schrittweise zur de facto stärksten Kraft im Staat.43 Die Führung des Staates droht abzusinken von der 'Spitze', der Aristokratie, zu der mittleren Schicht: dem Mittelstand. Die dadurch in ihrer Führungsstellung bedrohten Aristokraten, insbesondere die Großgrundbesitzer (also die Junker), antworten darauf mit einer Radikalisierung ihrer Haltung.44 Diese Radikalisierung der Konservativen ist zum größten Teil verantwortlich für die nun einsetzende 'reaktionäre' Entwicklung Preußens, die zu den schon
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Zitiert bei Puhle I960, 95. Hervorhebungen von GS. Zur "Kreuzzeitung" vgl. das Namensregister, in das auch einige wichtige Presseorgane aufgenommen sind. 41 Puhle 1966, 119. 42 Puhle 1966, 99. 41 Dazu ausführlich Gellately 1974. 44 Puhle 1966, 33 bis 93.
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angedeuteten Resultaten fuhrt: wobei der nun entstehende und wachsende Nationalismus und Antisemitismus sicherlich zu den schlimmsten Auswüchsen zu rechnen sind. Der Versuch der konservativen Kräfte, den durch die Industrialisierung ausgelösten sozialen Wandel zu bremsen, führt zur Entstehung ausgesprochener politischer Kampfbünde, wie etwa dem "Bund der Landwirte", in dem sich der Agrarsektor, Junker und Bauern, zum entschiedenen Kampf für die Erhaltung der alten Privilegien formiert.45 Dieser "Bund" ist auf nationaler Ebene etabliert, mit einflußreichen Presseorganen und direktem Draht zur preußischen Regierung. Er verkündet eine nationalistische, sozialdarwinistische Ideologie, träumt von "deutscher Art" und "deutscher Gesundheit": Politik wird zum "Kampf ums Dasein"46. Natürlich verdammt er auch das 'mobile Kapital' (Börse) und damit die Juden, die hier, seiner Auffassung nach, eine unheilvolle Führung übernommen haben. Der Antisemitismus steht also ausdrücklich auf dem Programm der radikalisierten konservativen Kräfte. Wir haben oben schon einige seiner Hauptvertreter namentlich kennengelernt: A. Stoecker, E. Dühring und Theodor Fritsch, alles Namen, die wir auch bei Nietzsche wiederfinden, der nicht müde wird, sie zu verurteilen.47 Der Antisemitismus führt schließlich 1902 zur Gründung einer GobineauVereinigung, der - neben dem genannten "Bund der Landwirte" - weitere organisierte radikal-konservative Bünde angehören: so der 48
"Alldeutsche 49
Verband" , der "Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband" , der "Ostmarken-Verein", der "Verein deutscher Studenten"50. Es unterliegt keinem Zweifel, daß gerade in diesen Organisationen maßgebliche Vorarbeit für den späteren Nazismus geleistet wurde. Nietzsches Stellung zum Phänomen Preußen läßt sich jetzt etwas näher bestimmen. Gewisse Sympathien für das Preußen vor der Radikalisierung sind
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Dazu eingehend Puhle 1966. Puhle 1966, 90. 47 Zu den genannten Personen vgl. das Namensregister. 48 Dazu Lohalm 1970. 49 Dazu Gellately 1974. 50 Puhle 1966, 92. 46
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Einleitung
nicht zu verkennen: so eine gewisse Hinneigung zum Ständestaat, die Ablehnung der Nationalität als Grundlage für den Staat, des weiteren nicht wenige Äußerungen, die die "Kreuzung" von Völkern und Kulturen gutheißen, wie sich noch zeigen wird. Die Entwicklungen, die sich aus der Radikalisierung der Konservativen ergeben, lehnt er jedoch mit aller Entschiedenheit ab. Und hier befindet er sich sogar in der Gesellschaft von Liberalen, z.B. Virchows. Wie entschieden er etwa den Antisemistismus verurteilt, wollen wir hier kurz mit Belegen aus seinen Briefen dokumentieren. Seine diesbezüglichen Äußerungen beginnen im Mai 1885 und gehen bis in den Dezember 1888, ziehen sich also bis an das Ende seines bewußten Lebens hin. Im Mai 1885 schreibt er an Elisabeth: "die Denkweise Deines Gatten /ist/ ganz und gar nicht die meine" (KSB 7,51). Im Juli 85 bezeichnet er Elisabeth gegenüber Förster als "alten Antisemiten" (KSB 7,64). Auch im September beklagt er sich Elisabeth gegenüber über Förster (KSB 7, 93). Im Oktober 85 stuft er an Overbeck den ganzen preußischen Adel als "Antisemiten" ein (KSB 7,97). Und er distanziert sich vom "Antisemitismus" Försters (KSB 7,97). Ebenso im Oktober 85, ebenfalls an Overbeck (KSB 7,101-2). Im Dezember bezeichnet er Overbeck gegenüber den Verlag Schmeitzner als "Antisemitenloch" (KSB 7, 117). Zur gleichen Zeit beklagt er sich bei Overbeck, seine Schriften würden unter die "antisemitische Litteratur" gerechnet, und er werde "in einem Athem mit dem greulichen Anarchisten und Giftmaule Eugen Dühring zusammen" gelobt. (KSB 7, 117). Im Mai 1887 bezeichnet er Dühring als einen seiner "schärfsten Antagonisten" (KSB 8,79). Im Juni 1887 distanziert er sich an Elisabeth nochmals von Förster. Und er fugt hinzu: "ein Deutscher, der bloß daraufhin, daß er ein Deutscher ist, in Anspruch nimmt, mehr zu sein als ein Jude, gehört in die Komödie, gesetzt nämlich, daß er nicht ins Irrenhaus gehört." (KSB 8,82). Im Oktober 1887 weitere Absetzung von Elisabeth und Förster (KSB 8,116). Im November 1887 schreibt er an Elisabeth, er wolle der "schändlichen Vermanschung meines Namens und meiner Interessen (mit dem Antisemitismus: GS) ein Ende machen, die sich in den letzten 10 Jahren gebildet hat" (KSB 8,193). Im Dezember 1887 schreibt er an die Mutter, sie möge ihm "die antisemitische Litteratur auch furderhin vorenthalten. Auch Herr Busse ist Antisemit." (KSB 8,208). Ebenfalls im Dezember 1887 schreibt
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er an die Mutter: er kenne "keine Schonung mehr" mit den Antisemiten: "Diese Partei hat der Reihe nach mir meinen Verleger, meinen Ruf, meine Schwester, meine Freunde verdorben.- Nichts steht meinem Einfluß mehr im Wege, als daß der Name Nietzsche in Verbindung mit solchen Antisemiten wie E. Dühring gebraucht worden ist: man muß es mir nicht übel nehmen, wenn ich zu den Mitteln der Notwehr greife. Ich werfe jeden zur Thiire hinaus, der mir in diesem Punkte Verdacht einflößt. (Du begreifst, inwiefern es mir eine Wohlthat ist, wenn diese Parthei anfängt, mir den Krieg zu erklären: nur kommt es 10 Jahre zu spät.)" (KSB 8,216-7). Und ebenfalls im Dezember 1887 äußert er seinen energischen Protest gegen die Antisemiten: Förster, Schmeitzner, Fritsch und seine "Antisemitische Correspondenz".51 Er bezeichnet sie als "antisemitische canaille", als "verfluchte Antisemiten-Fratzen". Sie seien "seine Antipoden". (KSB 8,218). Im Februar 1888 teilt er Overbeck mit: "Die antisemitischen Blätter fallen in aller Wildheit über mich her (-was mir besser gefällt als ihre bisherige Rücksicht)." (KSB 8,243).52 Im Juli 1888 beklagt er sich über Fuchs, einen Musikschriftsteller, der zugleich Organist an der Synagoge Danzig war: "Du kannst Dir denken, daß er sich in der schmutzigsten Weise über den jüdischen Gottesdienst lustig macht (- aber er läßt sich's bezahlen)." (KSB 8,361). Im Dezember 1888 schreibt er an Brandes, der deutsche Kaiser sei "ein brauner Idiot" (KSB 8,501). Damit dürfte doch klar geworden sein, was Nietzsche von dem Antisemitismus und seiner Vereinnahmung durch diesen hält. Daß Nietzsche die Hohenzollem nicht pauschal verurteilt, geht aus folgender Stelle an Overbeck (Sept. 88) hervor, wo er den neuen, jungen Kaiser und dessen Abrückung vom Antisemitismus lobt: der junge Kaiser "präsentiert sich allmählich vorteilhafter, als man erwarten durfte, - er ist neuerdings scharf -antisemitisch aufgetreten und hat den beiden, die ihn zur rechten Zeit vor der compromittirenden
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Vgl. im Namensregister unter Theodor Fritsch sowie "Antisemitische Correspondenz". Hier könnte wiederum Fritschs "Antisemitische Correspondenz" gemeint sein. Gemäß Krummel I, 1974, 65, Nr. 77 hatte Fritsch in einer Besprechung von "Jenseits von Gut und Böse" Nietzsche als einen "angejüdelten Stuben-Verlehrten" (sie) bezeichnet. Diese Besprechung erschien in der genannten Zeitschrift Nr. 19, Nov./Dez. 1887.
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Einleitung
Gesellschaft Stoecker und Co. taktvoll auslösten /.../ jetzt vor aller Welt seine große Erkenntlichkeit dafür ausgedrückt". (KSB 8,433).53 Was die wirtschaftliche Entwicklung Preußens betrifft, so wäre vielleicht noch darauf hinzuweisen, daß man in den Jahren 1873 bis 1896 mit einer großen Depression zu kämpfen hatte, der eine Phase des wirtschaftlichen "Hochschwungs" von 1849 bis 1873 vorausgegangen war.54 Der industrielle Aufschwung war ins Stocken geraten. Die Zeit der Depression war gekennzeichnet durch eine "pessimistische Grundstimmung"55. Rosenberg nennt als hervorstechendste Merkmale dieser Zeit: die groteske Angst vor den "Roten" und dem "Umsturz", Klassen- und Judenhaß, die leidenschaftliche Verschärfung der konfessionellen Gegensätze, die wüste Hetze gegen das mobile Kapital und den kosmopolitischen Handel, die zunehmende Lautstärke des nationalistischen Gebrülls, die weitverzweigte Tendenz zur Radikalisierung etc.56 Wirtschaftliche Fortschritte bzw. Stockungen fanden ihren Niederschlag in sozialen, kulturellen und politischen Entwicklungen und Fehlentwicklungen. In den Jahren 1882 bis 1885 fand eine beträchtliche Umschichtung der Berufsgruppen statt: während die Landwirtschaft nur um 0,68% wuchs, nahm die Industrie um 29%, Handel und Verkehr um 48% zu. Die Klasse der häuslichen Dienstboten, die auch bei Nietzsche erwähnt wird, machte 1895 bereits 6% der erwerbstätigen Bevölkerung aus.57 Daran läßt sich unschwer ablesen, daß die bisherigen oberen Stände im Laufe dieser Umwandlungen ins Hintertreffen zu geraten drohten, ein Vorgang, auf den auch Nietzsche anspielt, wenn er gelegentlich vom bevorstehenden Sieg des "Mittelmaßes" spricht. Die vorstehenden kurzen Andeutungen können deutlich machen, daß Nietzsches Äußerungen zu Gesellschaft und Politik über zahlreiche Fäden mit den preußischen Zuständen seiner Zeit verknüpft sind und daß er auf differenzierte
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Mit dem "jungen Kaiser" ist Friedrich III. gemeint. Dazu auch Santaniello 1994, 100. - Eine Übersicht über die verschiedenen Strömungen des preußischen Antisemitismus findet sich bei Puhle 1966, 12 f. 54 Rosenberg 1967, 33-38. 55 Rosenberg 1967, 51. 56 Rosenberg 1967, 56-57. 57 Rosenberg 1967, 39 f. und 54.
Politik, Zeitgeschichte: Preußen
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Weise auf diese Entwicklungen Bezug nimmt. Das wird im weiteren Verlauf der Untersuchung noch deutlicher werden.
Teil I: Völker und Menschen
Übersicht über das Untersuchungsgebiet Das Wort "Rasse" bei Nietzsche
Von den rund 200 Belegen des Wortes "Rasse" in den in der KSA veröffentlichten Schriften und Fragmenten Nietzsches findet sich etwa ein Drittel (76 Belege) in den eigentlichen Schriften, zwei Drittel (124 Belege) in den Fragmenten.58 In den Schriften bis zum "Zarathustra" ist die jeweilige Belegzahl sehr niedrig: "Unzeitgemässe Betrachtung" I: l Beleg (Zitat); "Unzeitgemässe Betrachtung" : l Beleg (Zitat); "Menschliches, Allzumenschliches": 5 Belege; "Morgenröthe": 2 Belege; "Fröhliche Wissenschaft": 7 Belege. Im "Zarathustra" findet sich kein Beleg. In den nächsten beiden Werken Nietzsches ist eine Zunahme der Belegzahl zu beobachten: "Jenseits von Gut und Böse": 22 Belege; "Genealogie der Moral": 19 Belege. In den darauf folgenden Werken geht die Zahl der Belege wieder stark zurück: "Fall Wagner": 2 Belege; "Götzen-Dämmerung": 7 Belege; "Antichrist": 4 Belege; "Ecce homo": 6 Belege. In den vielen hundert Fragmenten des Nachlaßes verteilen sich die Belege auf den Zeitraum vom Winter 69/70 bis in den Dezember 1888. Zu der erhöhten Belegzahl in JGB und GM sei hier schon vorausgreifend bemerkt59: In "Jenseits von Gut und Böse" macht sich Nietzsche Gedanken über das gegenwärtige und zukünftige Schicksal Europas, sehr oft über die Deutschen, aber auch über die Franzosen und Engländer. Ein "Hauptstück" ("Hauptstück" VIII) trägt die Überschrift "Völker und Vaterländer", und in der
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Im Anhang dieser Untersuchung findet sich eine detaillierte Liste aller Belege des Wortes "Rasse" bei Nietzsche. Die Abkürzung JGB steht für "Jenseits von Gut und Böse", GM für "Genealogie der Moral" Gelegentlich werden noch benützt: EH für "Ecce homo", AC für "Antichrist", FW für die "Fröhliche Wissenschaft", GD für die "Götzen-Dämmerung".
Das Wort "Rasse" bei Nietzsche
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Tat verweist hier das Wort "Rasse", das auch öfter im gleichem Text synonym mit "Volk" und "Stand" verwendet wird, in den meisten Fällen auf "Völker" und "Stände", daneben auch auf "Mensch allgemein", so wenn etwa vom "Genie der Rasse" die Rede ist (Aphorismus 262 : 5, 216,22). In der "Genealogie der Moral" behandelt Nietzsche unter anderem zum einen die Besiedlungsgeschichte Europas, und hier taucht das Wort "Rasse" in 1,5 mit der modernen Bedeutung auf: "Vorarier" und "Arier" besiedeln Europa, und es werden ihnen spezifische "äußere" (Augen, Haare) und "seelische" Merkmale zugeschrieben. Jedoch steht die ganze diesbezügliche Textpassage zwischen Klammem und hat am Ende ein Fragezeichen. (5,263, 33-264,9). Im gleichen Werk gibt Nietzsche zum anderen eine viel umfänglichere Darstellung der europäischen "Gesundheitsgeschichte" sowie des Niedergangs der Aristokratie in Europa, in der das Wort "Rasse" gemäß Nietzsches eigenem "Rassekonzept" (KSA 11,136,3-27) die Bedeutungen "Volk" und "Stand" hat, und in der die Physiologie und der asketische Priester im Mittelpunkt stehen: GM , Kapitel 12-21. Auf die Problematik des Textes 1,5 ist noch ausführlich einzugehen. In der "Götzen-Dämmerung" wird im Abschnitt "Die 'Verbesserer' der Menschheit" (3-5) unter anderem das "Gesetzbuch" des Manu eingehender behandelt. Hierbei erhält das Wort "Rasse" ebenfalls eine moderne Bedeutung. Jedoch distanziert sich Nietzsche ganz eindeutig von dem Konzept einer "arischen Humanität" und dem Begriff "reines Blut" sowie dem Programm der "Züchtung", wie sie in diesem "Gesetzbuch" vorgeschlagen werden. Auch darauf ist noch näher einzugehen. Es kann also hier schon festgestellt werden, was in den folgenden Einzelanalysen noch näher zu belegen ist, daß das Wort "Rasse" bei Nietzsche nur in wenigen Ausnahmefallen eine moderne Bedeutung hat, von der er sich aber immer klar distanziert. Vielmehr hat das Wort "Rasse" bei Nietzsche, in Entsprechung zu der von ihm selbst gegebenen Definition des Wortes "Rasse" (worauf schon verwiesen wurde, und die leider oft übersehen wird), in den weitaus meisten Fällen die Bedeutung "Volk" als einer Gemeinschaft, die durch ihre "Umgebung" und
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Völker und Menschen
ihre "Existenzbedingungen" bis in ihre "Zeichensprachen" (Moral, Religion) hinein geprägt ist (cf. 11,136). Daneben hat es oft auch die Bedeutungen "sozialer Stand", "soziale Schicht", "Kaste". In einigen Fällen meint "Rasse" auch den "Menschen allgemein", "die Menschheit", im Unterschied etwa zur Tierwelt. Dieser Sprachgebrauch ist auch im Französischen üblich. Es ist also angebracht, bei der Lektüre von Nietzsches Texten jeweils genauer den Kontext zu befragen und nicht unbesehen dem Wort "Rasse" eine moderne Bedeutung zu unterlegen. Das Gleiche gilt übrigens auch, wie wir noch sehen werden, für das Wort "züchten", das noch überwiegend "erziehen" bedeutet. Dafür sei nur darauf verwiesen, daß Nietzsche Schopenhauer seinen "Zuchtmeister", also "Erzieher" nennt. Wir dürfen den sprachlichen Abstand nicht vergessen, der uns heute von den Texten Nietzsches trennt.
Zur Benützung der Fragmente aus dem Nachlaß
Es wird dem Leser nicht entgehen, daß in der vorliegenden Untersuchung relativ oft Fragmente aus Nietzsches Nachlaß herangezogen werden. Dies ist vor allem darauf zurückzufuhren, daß nahezu zwei Drittel der Belege mit dem Wort 'Rasse' in Nachlaß-Fragmenten stehen. Eine Klärung der Bedeutung(en), die das Wort 'Rasse' in diesen Belegen hat, macht natürlich eine Einbeziehung dieser Belege in die Untersuchung erforderlich. Dies bedeutet nun aber nicht per se, daß die vorliegende Untersuchung primär auf Nachlaß-Texten aufgebaut ist. Vielmehr bilden auch in dieser Untersuchung die veröffentlichten Texte die hauptsächliche Textgrundlage, wie wir anschließend kurz verdeutlichen wollen. Zuvor werfen wir jedoch noch einen kurzen Blick auf die hier angeschnittene Problematik. Moles, der das Problem des Verhältnisses von veröffentlichtem Werk und Nachlaß bei Nietzsche eingehend bespricht (Moles 1990, 6-12), weist darauf hin. daß es zwar einerseits Forscher gibt, die nur das veröffentlichte Werk gelten lassen wollen, daß aber andereseits zu speziellen Themen mehr Texte im Nachlaß stehen als im veröffentlichten Werk, so etwa bei den von ihm behandelten Fragen von Nietzsches Kosmologie. Daß Nietzsche diese Texte
Zur Benutzung der Fragmente aus dem Nachlaß
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nicht veröffentlicht habe, lasse aber nicht den Schluß zu, daß er selbst diese Texte für unzureichend ansah. Vielmehr verhalte es sich so, daß auch hier die wichtigen Themen durchaus auch im veröffentlichten Werk behandelt werden, jedoch oft sehr knapp, so daß hier die Fragmente oft sehr wertvolle weitere Einzelheiten bieten. Die Fragmente übernehmen hier also eine ergänzende Funktion. Dies kann auch für den in dieser Untersuchung zu behandelnden Fragenkreis gesagt werden. Moles verweist auf andere Philosophen, wie etwa Hegel, Heidegger und Wittgenstein, bei denen auch wichtige Teile ihrer Philosophie im Nachlaß enthalten seien, zum Teil auch in Vorlesungsmitschriften, und dennoch von der Forschung ernst genommen werden. Warum sollte dies nicht auch für Nietzsche gelten? Wir geben nun eine summarische Übersicht über die Textverwendung in den vorliegenden Untersuchung, die deutlich machen kann, daß bei allen angeschnittenen Themen die veröffentlichten Texte die primäre Textgrundlage bilden. Teil I der Untersuchung: Arisch/Semitisch: GM 1,5. Inder: Manu-Gesetzbuch: GD, Verbesserer 3. Griechen und Römer: JGB 248, "sich nicht gehen lassen": GD, Streifzüge 47. Juden: AT/NT: GM, Asketische Ideale 22. Juden und Europa: FW 348, JGB 251. Germanen und Deutsche: GD, Verbesserer 2. Die Deutschen: GM, Gut und Böse 11, JGB 244. Die Franzosen: Vornehmheit des 17. Jahrhunderts: GD, Streifzüge 47. Psychologie, "Reinlichkeit": EH, Fall Wagner 3. Historischer Sinn: JGB 224. "Gang der Cultur": Krankheit: GM , 12-21. Moral: JGB 262. Religion: GD, Verbesserer 4 u. 5, AC 51, JGB 62. Staat und Politik: JGB 262, GM 1,5 und , 12-21. Vernunft, Sprache und Musik: JGB 20,28, Fall Wagner, Epilog. Wichtigkeit der Physiologie: FW, Vorrede II, GM 111,12-21. Verdauung: GM JJI,25, JGB 244 und 257. Wille und Kraft: GM ,16 und 17, 18, 25, JGB 208 und 256. Gedeihen und Missrathen: GD, Streifzüge 47, GM 111,14, JGB 242. Teil II: "Genealogie" der Menschentypen: GM II, 11 und 17. Vornehme und Plebejer: GM 1,4. Der asketische Priester: GM 111,11. Der Ausnahmemensch: JGB 242. Nietzsche über Nietzsche: Fall Wagner, Vorwort, EH, Weise 3. Menschentypen und ihre Maßstäbe: JGB 212, 242, 256, 257, 258, 260, 262. Erhöhung des Menschen: GD, Verbesserer 1-5, GM 1,17, JGB 200, 256, 257,
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Völker und Menschen
260, 262. Erhöhung durch Züchtung: JOB 262, GD, Verbesserer 2, GM ,16. Erhöhung durch Erziehung: Nachlaß Fragment 25/17 (KSA 13,637-8): "Die große Politik". "Ewige Wiederkehr": EH, Zarathustra l, FW 341, Nachlaß 10/37 (KSA 12,455): "Mein neuer Weg zum 'Ja'". In Teil I der Untersuchung liegt der Textschwerpunkt also deutlich auf dem veröffentlichten Werk. Aus dem Nachlaß war insbesondere das Fragment 257 4627 11.136 eingehend zu berücksichtigen, in dem Nietzsche eine klare Darstellung seines Rasse-Konzepts gibt. Dieser Text wurde bisher von der Forschung übersehen; so z.B. von Ottmann und in Untersuchungen zum Problemkreis Nietzsche/Gobineau. In Teil I wurden Nachlaß-Texte vor allem auch herangezogen, um die Bedeutung der hier vorliegenden Rasse-Belege zu klären. Zum Teil werden hier auch einzelne Fragen behandelt, auf die Nietzsche in den veröffentlichten Texten weniger ausführlich eingeht. In Teil II war eine stärkere Einbeziehung des Nachlasses vor allem im Zusammenhang mit der Lehre von der ewigen Wiederkehr notwendig, da hier Nietzsche wichtige Ergänzungen gibt, so etwa in dem Text "Mein neuer Weg zum 'Ja'" 10/3 (KSA 12,455), in dem er seinen Pessimismus der Stärke vorträgt, sowie in dem Fragment "Die große Politik" (25/1/: KSA 13,637-8), in dem Nietzsche die für ihn wichtige Rolle der Physiologie nochmals hervorhebt. Jedoch werden diese Punkte auch schon im veröffentlichten Werk angeschnitten, so in JGB 256, 257 und 262, so daß auch hier die Fragment-Texte als willkommene Ergänzung des veröffentlichten Werkes eingestuft werden können. Richtungsweisend sind also auch in der vorliegenden Untersuchung die Texte des veröffentlichten Werkes. Diese erfahren aber in den Fragmenten nicht selten eine wünschenswerte Ergänzung. Wenn zwischen Texten des veröffentlichten Werkes und des Nachlasses inhaltliche Differenzen auftraten, wurden diese jeweils erörtert. Die auffällig breite Einbeziehung des Nachlasses war jedoch notwendig zur Klärung der hier auftretenden Belege des Wortes 'Rasse'. Nur auf diesem Weg konnte hinreichend herausgearbeitet werden, daß Nietzsche das Wort nicht, auch im Nachlaß nicht, 'rassistisch' verwendet. Wenn also diese Nachlaß-Texte nicht veröffentlicht wurden, so steht nun hiermit zumindest fest, daß sie nicht deshalb nicht veröffentlicht wurden, weil Nietzsche hier etwas 'Rassistisches' zu verbergen gehabt hätte. Da diese Texte
Entstehung des Menschen
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in dieser Hinsicht unbedenklich sind, müssen andere Gründe hierfür verantwortlich gewesen sein. Es kann aber nicht unsere Aufgabe sein, darüber hier Spekulationen anstellen zu wollen.
Zwei Streitfragen Entstehung des Menschen
Die Frage nach der Entstehung des Menschen war im 19. Jahrhundert mächtig in Bewegung geraten, zum einen durch die Schriften Darwins, zum ändern durch verschiedene Fossilienfunde. Auch für das Problem der Menschenrassen ist die Frage wichtig. Gobineau etwa läßt die Menschheit gleich mit drei unterschiedlichen Rassen beginnen, die Abstammung des Menschen vom Affen lehnt er ab. Wir wollen zuerst einen Blick auf die angedeutete Diskussion werfen, danach versuchen, Nietzsches Standpunkt in dieser Frage etwas näher zu umreißen. Das Letztere ist nicht leicht, da Nietzsche sich kaum je ausführlicher auf diese Diskussion einläßt. Nietzsche war jedoch zweifellos eingehend mit dieser Frage vertraut, zum einen durch die Schriften Virchows -über die schon berichtet wurde-, zum ändern durch Langes "Geschichte des Materialismus", die Nietzsche, wie er selbst mitteilt, gründlich studiert hat und die er mehrmals mit großer Wärme erwähnt. Da Lange eine sehr eingehende Darstellung der Entstehungsproblematik des Menschen und der damaligen Diskussion dieser Frage gibt, dürfte es sich empfehlen, seine Darlegungen hier kurz zu referieren. Wir lernen dabei den damaligen Diskussionsstand kennen, wir erfahren, inwieweit Nietzsche diese Diskussion sicher gekannt hat, und wir erhalten zumindest Hinweise darauf, in welcher Richtung unter Umständen auch Nietzsche eine Antwort auf diese Fragen gesucht haben könnte, insofern nämlich, als er sich hierin möglicherweise Lange und dessen Urteilen angeschlossen haben könnte. Das ist aber noch näher zu prüfen. Lange geht sehr ausführlich auf die Entstehungsproblematik des Menschen ein, und auch auf die damit verbundenen moralischen Implikationen. Zuerst geht er auf die Frage der Mono- bzw. Polygenese des Menschen ein: ist der Mensch aus einem einheitlichen Ausgangspunkt entstanden, oder aus mehreren
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Völker und Menschen
zugleich? Diese Frage hält er für noch nicht geklärt, insbesondere die These der Monogenese ist für ihn noch nicht erwiesen. Auch Haeckels "GastrulaTheorie" sei kein Beweis für die "monophyletische Deszendenz, d.h. für die Abstammung aller Organismen von ein- und derselben Art von Urwesen."60 Lange selbst neigt zur "polyphyletischen" Abstammung: es sei "wahrscheinlicher, daß von Anbeginn des Lebens eine größere Zahl nicht völlig gleicher und nicht gleich entwicklungsfähiger Keime vorhanden war".61 Bei polyphyletischer Abstammung der Organismen sei auch ein Weg gegeben, "den Menschen von der übrigen Tierwelt abzusondern".62 Der "extreme Darwinismus" neige zu monophyletischer Deszendenz, erfordere "die Leugnung aller Unterschiede in der inneren Beschaffenheit der Urformen sowie die Zurückfuhrung aller gewordenen Unterschiede auf die natürliche Zuchtwahl". Das sei zwar eine "sehr consequente Metaphysik", aber eine "sehr unwahrscheinliche naturwissenschaftliche Theorie".63 Lange fragt sich, ob hinter der "Zufallslehre" Darwins eine "Teleologie" stehe: aus der Fülle der Variationen leben "Specialfälle des Zweckmässigen" durch "Zuchtwahl und Vererbung" fort. Ob die Natur also das "Princip der Erhaltung des relativ Zweckmässigsten" befolge? Ein "allgemeines Gesetz der Erhaltung des Stärksten"? Dann stelle sich aber die Frage, ob "das Stärkste" auch zugleich "das Zweckmässigste" sei.64 Die Frage der Stellung des Menschen zur Tierwelt hält er ebenfalls für noch nicht geklärt. Zu klären sei zuerst die Frage nach "Ursprung und Alter des Menschen", dann seine "Stellung zur Tierwelt".65 Kant nehme eine "tierische Vorexistenz" des Menschen an, wobei die Geschichte des Menschen mit dem "Ich-Gedanken" beginne. Zur Klärung dieser Frage bedürfe es einer "Urgeschichte des Geistes und der Kultur", des weiteren "Studien zu Geologie und Paläontologie".66 Lange geht dann auf die jüngsten Fossilienfunde ein (Neanderthaler 1856, Cro-Magnon 1868), die er positiver beurteilt als
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Lange 1876/77, 2, 270. Lange 1876/77, 2, 270-271. 52 Lange 1876/77, 2, 271. 63 Ebenda. 64 Lange 1876/1877, 2, 274. "Lange 1876/1877,2,311. 66 Lange 2, 313-314.
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Entstehung des Menschen
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Virchow, der den Neanderthaler als eine "Mißbildung" eines modernen Menschen eingestuft hatte. Für Lange handelt es sich bei den "fossilen Menschen" "in der Tat um menschliche Überreste, deren Beschaffenheit und Lagerstätte beweist, daß Menschen (unser Geschlecht) schon bestanden, zusammen mit jenen früheren Arten des Bären, der Hyäne und anderer Säugetiere... zurück bis zur Tertiärzeit".67 Die Menschwerdung stellt er sich in mehreren Stufen vor: Zunächst sei bis jetzt nicht geklärt, ob es "Übergangsfonnen und Vorstufen des menschlichen Wesens" gebe; falls ja, seien diese "nicht in Europa zu suchen". Die "Anfange der menschlichen Cultur" liegen in Europa in der Diluvialzeit, von da aus führe ein "Faden bis in die historische Zeit".68 Die "Diluvial-Menschen" beschreibt er anhand der Fossilienfunde folgendermassen: der Neanderthaler war von "mittlerer Statur", hatte einen "kräftigen Muskelbau" und einen "affenähnlichen Schädel"; "Man könnte auf einen Zustand großer Wildheit schließen".69 Der Cro-Magnon besaß einen "hoch entwickelten Schädelbau, (jedoch) eine ungünstige Bildung des Gesichts". Sein "Kinn deutete auf Brutalität". Sein Skelett läßt auf "gewaltige Muskelkraft" schließen und hat etwas "Affenartiges".70 Als Fazit ergibt sich ihm für den Diluvial-Menschen: Er stellt "keine einheitliche Rasse dar". Seine "Gehimentwicklung" ist "sehr bedeutend, schon in den ältesten Zeiten, die wir kennen". Sie geht einher "mit großer Roheit und wilder Kraft". "Schon in jener Urzeit, der Diluvial-Zeit, war Europa von mehreren verschiedenen menschlichen Stämmen bewohnt". Es besteht "kein prinzipieller Abstand zu den unkultiviertesten Wilden unserer Zeit". Der Neanderthaler könne, trotz seiner Schädelform, nicht betrachtet werden als "Zwischenstufe" zwischen Affe und Mensch. Damit spricht sich auch Lange hier eher gegen die These von der Affenabstammung des Menschen aus. Schon im Diluvium war der Mensch "in einem Zustand, der sich von dem des Australnegers nicht wesentlich unterscheidet".71 Hatte Kant als Kriterium für "Mensch" auf den "Ich-Gedanken" verwiesen, so weist Lange ergänzend noch auf den "Schönheitssinn" hin. Er verweist auf die Zeichnungen von Tierge67 68 69 70 71
Lange 2, 316. Lange 2, 319. Lange 2, 322. Lange, ebenda. Lange 2, 323-324.
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Völker und Menschen
stalten auf Knochen in südfranzösischen Höhlen, auf die Töpferarbeiten und ihre Ornamentik.72 Schließlich kommt Lange nochmals auf die Frage der "Arteinheit des Menschengeschlechts" zurück, da diese auch das Problem der "Humanität für alle" aufwerfe. Als Methoden zur Klärung der Frage einer "Abstammung von einem Paare" nennt er Messung der Schädel, das Studium der Skelette sowie ein Vergleichen der Proportionen. Bisher sei nichts enschieden. Er betont, daß bei dieser Frage "nicht nur ein rein wissenschaftliches Interesse" im Spiele sei, sondern "mächtige Parteifragen", z.B. "religiöse" und die "Sklavenfrage in Nord-Amerika".73 Für die "Arteinheit" träten etwa ein: Prichard, Blumenbach und R. Wagner. Das sei "heute unhaltbar". Die "Gewährung der Rechtsgleichheit, die Anwendung völkerrechtlicher Grundsätze", das alles sei postulierbar "ohne die Präsupposition absoluter Gleichbefähigung der Rassen", denn auch "Abstammung von einem gemeinsamen Urstamme verbürge nicht Gleichheit der Befähigung".74 Die "Abstammung vom Affen" sei "im eigentlichen Sinne des Wortes keine Consequenz der Lehre Darwins". Denkbar sei auch "eine gemeinsame Stammform", wobei einerseits der Affe "in tierischer Bildung" verharrt, der Mensch aber aufwärts strebt. Die Vorfahren des Menschen seien daher vorstellbar als "affenähnlich gebildete, aber mit Anlage zur höheren Bildung begabte Wesen".75 Die "Schritte zur Kultur" sieht Lange folgendermaßen: 1) Erlangung eines Übergewichts über alle anderen Tiere mittels "List, Grausamkeit, wilder Gewalttat und lauernder Tücke", wozu dann 2) gleichzeitig "vielleicht auch schon echte Tugenden kamen, neben der Intelligenz". Die heutigen Orangs und Schimpansen seien viel sanfter als die damaligen Höhlenmenschen. Aus solchen "Affen" könnten die "Menschen" "gar nicht hervorgehen".76 Hier finden wir Nietzsches Vorstellung vom anfänglichen wilden "Raubtier Mensch" deutlich vorgebildet!
72
Lange 2, 325. Lange 2, 328. 74 Lange 2, 329-330. 75 Lange 2, 330. 76 Lange 2, 332.
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Entstehung des Menschen
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Wie sieht nun Nietzsches Standpunkt hinsichtlich der bei Lange angesprochenen Fragen aus? So weit sich dazu bei Nietzsche Stellungnahmen finden lassen, scheint eine weitgehende Übereinstimmung zu bestehen. In der Frage der Mono -bzw. Polygenese, der "Arteinheit" des Menschen scheint Nietzsche den Standpunkt der Vielheit zu vertreten, wie übrigens auch Herder und Goethe.77 Er spricht z.B. von der "Vielartigkeit des Menschen", die "herauszuholen" sei (KSA 11,481: Apr./Juni 85: 34/1797). Dies entspricht auch seiner Auffassung der Natur, die aus dem Überfluß schaffe. Die These von der Affenabstammung des Menschen scheint Nietzsche zwar nicht grundsätzlich abzulehnen, aber er kann sich auch nicht recht damit anfreunden. Gelegentlich kommt er auf diese These beiläufig zu sprechen; er spricht z.B. von dem "vom Uraffen abgezweigten Urmenschen" (KSA 1,227). Aber sehr oft finden sich distanzierende oder ironische Bemerkungen zu dieser Frage. So heißt es: "Unsere Naturforscher [wollen] den Menschen vom Affen ableiten, und vernichten alles, was überthierisch ist als unlogisch" (KSB 2,84: 1865). Oder: an die Abstammung des Menschen vom Affen, daran glaube man, wenn man die "Afrikanerin" gesehen habe (KSB 2,132: 1866).78 Dann argumentiert Nietzsche ebenfalls wie Lange: der Affe sei viel zu "gutmüthig", als daß der Mensch von ihm abstammen könnte (KSA 11,74). Ein anderes Mal heißt es: "jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgendein Affe" (KSA 4,14), wobei Nietzsche mit der figürlichen und der wörtlichen Bedeutung des Wortes 'Affe' spielt, die Frage der Affenabstammung des Menschen jedoch in der Schwebe lässt. Die Vertreter dieser These nennt er gelegentlich ironisch "Affengenealogen" (KSA 1,194,25).79 Viel eingehender hat sich Nietzsche mit der Stellung des Menschen zur Tierwelt befaßt. Hier finden sich sehr differenzierte Äusserungen: Im schon erwähnten Text "Anti-Darwin" heißt es etwa: "der Mensch als Gattung stellt keinen Fortschritt im Vergleich zu irgend einem anderen Thier dar" (13, 316, 32-3). Gelegentlich bestreitet er, daß überhaupt ein Unterschied zwischen Tier und Mensch bestehe: er spricht z.B. vom "Mangel aller cardinalen Ver-
77 78 79
Rausch 1909, 62-64. Bei der "Afrikanern!" handelt es sich um eine Oper von Giacomo Meyerbeer. Die Affenabstammung des Menschen wurde z.B. von Haeckel vertreten.
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Völker und Menschen
schiedenheit zwischen Mensch und Thier" (1,311. Auch 13,299). Der "natürliche Mensch" empfinde jedoch "eine starke Kluft zwischen sich und dem Thier" (7,102,1920). Grundlegend für Nietzsches Denken ist jedoch seine Auffassung vom Menschen als dem "nicht 'festgestellten Thier"1 (12,72,25), denn diese ermöglicht die "Erhöhung" des Menschen (12,76,8 u.ö.). So kann der Mensch zum "Über-Thier" werden (2,64), aber es ist auch eine "Verthierung ins Affenhafte" möglich (2,205). Daß der Mensch durch sein Menschwerden dem "Glück" -was dies auch immer sei- keineswegs näher gekommen ist, ist für Nietzsche eine ausgemachte Sache. Dies bringt er zu Beginn von ÜB II sehr schön zum Ausdruck80: die "Heerde" lebt im "Augenblick" und ist daher "weder schwermüthig noch überdrüssig". "Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschthums sich vor dem Thiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt..." (1,248.)81 Für Nietzsche bleibt der Mensch, bei aller "Erhöhung", die er für ihn erstreben mag, dennoch auf das Tier bezogen. Was nun den Beginn der Kulturentwicklung betrifft, so sieht Lange hier Wesen am Werk, deren Handlungen bestimmt sind durch "List, Grausamkeit, wilde Gewalttat und lauernde Tücke". Dies läßt uns an Nietzsches "Raubtier" denken, das auch für ihn am Beginn der Kulturentwicklung zu stehen scheint, und dessen Zähmung eben durch diese Kulturentwicklung Nietzsche bedauert: "gegen Rousseau: der Zustand der Natur ist furchtbar, der Mensch ist Raubthier, unsere Civilisation ist ein unerhörter Triumph über diese RaubthierNatur: - so schloß Voltaire..." (KSA 12,409,7-10). (Auch 12,421). Nietzsche aber teilt Voltaires Schluß nicht. Diese kurze Erörterung kann deutlich machen, daß bei Lange und Nietzsche eine weitgehende Übereinstimmung in den angeschnittenen Fragen bestehen dürfte. Auf einen kleinen Detailpunkt ist noch kurz einzugehen: die Hautfarbe des Menschen. Lange wies darauf hin, daß der Mensch im Diluvium in einem 80
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Die Sigle ÜB verweist auf Nietzsches zweite "Unzeitgemäße Betrachtung": "Vom Nutzen und Nachtheil der Historic für das Leben", KSA l, 243 ff. Zu dieser Stelle vgl. auch Ackermann 1990, 62.
Entstehung des Menschen
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Zustand war, "der sich von dem des Austrainegers nicht wesentlich unterscheidet".82 Hier bleibt zunächst offen, ob Lange dabei auch an die Hautfarbe gedacht hat. Nietzsche erwähnt in ähnlichem Zusammenhang auch einmal die "Neger", "diese als Repräsentanten des vorgeschichtlichen Menschen genommen" (KSA 5,302). Auch hier wird die Hautfarbe nicht genannt. An anderer Stelle heißt es dann: "Braun-grau wäre also wohl die Urfarbe des Menschen, -etwas Affen- und Bärenhaftes, wie billig" (KSA 3,202). Nietzsche kommt durch folgende Überlegungen zu dieser Feststellung: "Furcht und Intelligenz Wenn es wahr ist..., daß die Ursache des schwarzen Hauptpigments nicht im Lichte zu suchen sei: könnte es vielleicht die letzte Wirkung häufiger und durch Jahrtausende gehäufer Wuthanfälle sein (und Blutunterströmungen der Haut)? Während bei anderen intelligenteren Stämmen das ebenso häufige Erschrecken und Bleichwerden endlich die weiße Hautfarbe ergeben hätte?- Denn der Grad der Furchtsamkeit ist ein Gradmesser der Intelligenz: und das sich oft der blinden Wuth überlassen, das Zeichen davon, daß die Thierheit noch ganz nahe ist und sich wieder durchsetzen möchte.- Braun-grau wäre also die Urfarbe des Menschen ..." (3,202). Das würde dann bedeuten, daß die Menschen zunächst eine dunkle ('braungrau') Hautfarbe hatten, und daß dann -mit zunehmender 'Intelligenz'- die weiße Hautfarbe zeitlich später hinzutrat. Unterschiedliche Hautfarben wären also nicht, wie Gobineau es will, von Anfang an, und zwar Hand in Hand mit unterschiedlichen Rassen, gegeben. Bei Nietzsche wäre die Differenzierung der Hautfarben ein Ergebnis der kulturellen Entwicklung. Diese Vermutung Nietzsches wird von der modernen Wissenschaft, wenn auch mit anderen Argumenten, bestätigt.83 Soviel zur Frage der Entstehung des Menschen. Als wichtigste Punkte wären festzuhalten: Polygenese und "Vielartigkeit" des Menschen, die beständig
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Lange 2, 324. Vgl. Moennan 1977, 270. Für andere Forscher ist die unterschiedliche Hautfarbe, die Gobineau für den Beginn annimmt, hingegen ein weiteres Argument für die Polygenese des Menschen. Vgl. Tackenberg 1956, 40.
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Völker und Menschen
aufrecht erhaltene Beziehung des Menschen zum Tier, das 'Raubtier' am Beginn der Kultur, die erst allmähliche Differenzierung der Hautfarben als Folge kultureller Entwicklung. Das Wort "Rasse" spielt in diesem Fragenkomplex bei Nietzsche keine Rolle. Bei Lange ist wohl von 'Rasse' die Rede (der Diluvialmensch stellt "keine einheitliche Rasse" dar), jedoch ganz unspezifisch: es wird bei Lange gleich anschließend aufgenommen mit der Vokabel "Stämme" (Europa war damals von "mehreren menschlichen Stämmen bewohnt"). Die Frage wird dann unter dem Stichwort "Arteinheit" wieder aufgenommen: es geht dabei also um die Frage der Einheit des menschlichen Geschlechts als ganzem etwa im Unterschied zu dem Tiere überhaupt. Demnach zielt 'Rasse' bei Lange auf die Menschen insgesamt, ein Sprachgebrauch, der auch bei Nietzsche noch zu finden ist, wie wir noch sehen werden. Stellen wir nun noch die Frage nach der genaueren Lokalisierung der Menschenentstehung, dann ergibt sich etwa Folgendes: Gemäß Lange sind die "Übergangsformen und Vorstufen des menschlichen Wesens", wenn es solche überhaupt gebe, "nicht in Europa zu suchen".84 Goethe berichtet über zwei damalige Standpunkte: nach Ansicht der "Anatolier" ist die Entstehung "nur im Orient" denkbar, nach Auffassung der "Ökumenier" wäre eine gleichzeitige Entstehung "an verschiedenen Orten" möglich.85 Die erstgenannte These, die Orient-These, fand nun zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen eifrigen Verfechter in F. Schlegel, der, nach Einschätzung Poliakovs (der eine grundlegende Untersuchung zum "Arischen Mythos" durchgeführt hat), als der "eigentliche Schöpfer des 'Arischen Mythos'" angesehen werden muß.86 Dem jungen Schlegel, der keineswegs ein Antisemit, sondern ein Vorkämpfer der vollständigen Juden-Emanzipation war, ging es hierbei darum, den Einfluß der Bibel in dieser Frage zurückzudrängen und zu einer mehr wissenschaftlichen Auffassung der Entstehungsfrage des Menschen zu kommen. Seine These hatte eine 'antiklerikale' Spitze, keine antisemitische.87 Die Orient-These in ihrer 'arischen' Ausprägung findet nun auch bei Nietzsche
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Lange 2, 310. "Tag- und Jahreshefte" 1804. 86 Poliakov 1979, 340. 87 Poliakov ebenda.
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einen gewissen Niederschlag, wenn auch ganz anders als etwa bei Gobineau. Während Gobineau scharf zwischen 'Ariern' und 'Semiten' trennt, streitet Nietzsche wiederholt einen prinzipiellen Unterschied zwischen 'Arisch' ('Indoeuropäisch'/'Indogermanisch') und 'Semitisch' überhaupt ab. Darauf ist noch näher einzugehen.
Entstehung der Rassen
Die erste wissenschaftliche Verwendung des Wortes "Rasse" findet sich 1684 bei Francois Bender, in seinem Werk: "Nouvelle division de la terre par les differentes especes ou races d'hommes qui l'habitent".88 Es wird 1735 von Linne aufgegriffen, der es aber vorzieht von "Gattungen" zu sprechen und das Wort "Rasse" zurückweist. Buffon lehnt dann in seiner "Histoire naturelle" (1749-88) klassifizierende Bezeichnungen überhaupt ab: "la nature n'a ni classes ni genres, eile ne comprend que des individus". Gattungen und Klassen seien das Werk des Geistes; "ce ne sont que des idees de convention". Das Wort "Rasse" sei nur bei zoologischer Klassifikation sinnvoll.89 Von der Zoologie aus hat es dann in der Tat immer breitere Anwendung gefunden. Nach Römer kann von einer Rassenideologie mit breiterer Resonanz jedoch erst etwa ab 1850 gesprochen werden. Vorher war es auf gelehrte Zirkel beschränkt.90 Es würde zu weit fuhren, hier auf die zankeichen Versuche, Rassen zu beschreiben und zu klassifizieren, näher eingehen zu wollen.91 Die Ansätze sind zu disparat und, soweit ich sehe, läßt sich keiner namhaft machen, auf den etwa Nietzsche speziell zurückgegriffen hätte. Zwar wird hier nicht selten der Name Gobineau genannt, aber Nietzsche und Gobineau sind doch durch Welten getrennt.92 Am ehesten könnten noch französische Historiker wie etwa Taine genannt werden. Dazu folgen gleich noch ein paar Hinweise. Wir müssen also aus Nietzsches Texten selbst ermitteln, wie er das
88 89 90 91 92
Zu Bernier vgl. Young 1968, 29 f. Young 1967, 30. Römer 1989, 29. Dort auch die weitere Rezeption des Wortes "Rasse". Dazu eingehend Poliakov 1979. Vgl. dazu am Ende dieser Untersuchung die detaillierte Überprüfung eines möglichen Einflusses Gobineau's auf Nietzsche, deren Ergebnis negativ ist.
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Völker und Menschen
Wort "Rasse" verwendet und was er damit meinen könnte. Das gilt auch für die Frage der Entstehung von Rasse(n). So weit ich sehe, hat Nietzsche sich nur in dem folgenden Text grundsätzlich zur Entstehung von Rassen geäussert (KSA 11,136: F 84: 25/4627): [1]
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Weil wir die Erben von Menschengeschlechtern sind, die unter den verschiedensten Existenz-Bedingungen gelebt haben, enthalten wir in uns eine Vielheit von Instinkten. Wer sich für "wahrhaftig" giebt, ist wahrscheinlich ein Esel oder ein Betrüger. Die Verschiedenheit der thierischen Charaktere: durchschnittlich ist ein Charakter die Folge eines Milieu - eine fest eingeprägte Rolle, vermöge deren gewisse Facta immer wieder unterstrichen und gestärkt werden. Auf die Länge hin entsteht so Rasse: d.h. gesetzt dass die Umgebung sich nicht ändert. Bei dem Wechsel der Milieu's entsteht ein Hervortreten der überall nützlichsten und anwendbarsten Eigenschaften - oder ein Zugrundegehen. Es zeigt sich als Assimilations-Kraft auch in ungünstigsten Lagen, zugleich aber als Spannung, Vorsicht, es fehlt die Schönheit der Gestalt. Der Europäer als eine solche Über-Rasse. Ebenso der Jude: es ist zuletzt eine herrschende Art, obwohl sehr verschieden von den einfachen alten herrschenden Rassen, die ihre Umgebung nicht verändert hatten. Überall beginnt es mit dem Zwang (wenn ein Volk in eine Landschaft kommt). Die Natur, die Jahreszeiten, die Wärme und Kälte usw. das Alles ist zunächst ein tyrannisirendes Element. Allmählich weicht das Gefühl des Gezwungenseins - (sie)
(Hervorhebungen von Nietzsche. 'Rolle' ist fettgedruckt. Zählung der Abschnitte von GS.) Gemäß Nietzsche führen also die "Existenz-Bedingungen", das "Milieu", die "Umgebung", die "Natur", die "Jahreszeiten", "Wärme und Kälte", die "Landschaft" zur Entstehung von "Rassen". Bedingung ist, "daß die Umgebung sich nicht ändert". Wenn eine "Umgebung" (eine Zeit lang) konstant bleibt, werden "gewisse Facta" immer wieder unterstrichen und gestärkt. Es bildet sich ein "Charakter", "eine fest eingeprägte Rolle", die "verstärkend" wirkt; "Auf die Länge hin entsteht so Rasse". "Bei Wechsel der Milieu's" wiederholt sich dieser Prozess gleichsam wieder: die "überall nützlichsten und anwendbarsten Eigenschaften" treten weiter
Entstehung der Rassen
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hervor, wenn die Rasse genügend "Assimilations-Kraft" hat und nicht zu Grunde geht. So entstehen "Über-Rassen". Als Beispiel nennt Nietzsche die Europäer und die Juden. Wenn die Umgebungen noch häufiger wechseln, und das nimmt Nietzsche an: wir sind "Erben von Menschengeschlechtern, die unter den verschiedensten Existenz-Bedingungen gelebt haben": dann verfugen wir gar über "eine Vielheit von Instinkten". Nur ein "Esel" könne dies leugnen. Die "Umgebung" und die "Assimilation" der Menschen an die Umgebung führt also zur Entstehung von "Rassen", und Wechsel der Umgebung ggf. zu "ÜberRassen". "Umgebung" wird von Nietzsche eindeutig als reale, physische Lebensumstände gekennzeichnet: "Landschaft, Wärme und Kälte, Jahreszeiten". Man darf dabei nicht an die Milieutheorie der französischen Naturalisten denken.93 Interessant ist der Ausdruck "Über-Rasse". Zunächst könnte man vermuten, daß "Über-Rassen" über den "Rassen" stehen, da sie ja an eine größere Zahl von "Umgebungen" angepaßt sind. Er bezeichnet sie auch als "herrschende Rassen", aber er weist auf ihre "Verschiedenheit von den einfachen alten herrschenden Rassen" hin, "die ihre Umgebung nicht verändert hatten". Hier stellt sich die Frage, ob diese "einfachen alten herrschenden Rassen" nicht doch über den "Über-Rassen" stehen? Wir lassen die Frage hier offen. Sie kann uns aber auf die merkwürdige Ambivalenz des Wörtchens "über" aufmerksam machen. Festzuhalten ist aus diesem Text, daß bei Nietzsche "Umgebung(en)11 im angedeuteten Sinn verantwortlich sind für die Entstehung von "Rasse(n)". Rassen sind bei Nietzsche etwas im Gang der Kulturentwicklung Gewordenes, bei deren Herausbildung konkrete physische Lebensumstände die entscheidende Rolle spielen. Sie sind nicht -wie bei Gobineau- "von Anfang an" vorhanden. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird sich noch zeigen, daß Nietzsches Rassekonzept auch eine sehr starke soziologische Komponente hat. Sehr oft werden spezifische Einzelprobleme für Rassen und Stände gemeinsam thematisiert, wobei nicht selten eine Integrierung des Rassenkonzepts in soziale bzw. soziologische, gesellschaftliche Überlegungen zu beobachten ist, was zu einer Soziologisierung des Rassenkonzepts führt. Das kann man etwa in dem Text
93
Zu Nietzsches Ablehnung der Milieutheorie von Taine vgl. auch Marti 1993, 76 und 239240. Nietzsche denkt in dem zitierten Text primär an die 'natürlichen' Lebensumstände, nicht an soziale Milieus.
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Völker und Menschen
"Die Moral in der Werthung von Rassen und Ständen" sehen (KSA 12, 437-9: H 87: 9/173/), auf den noch zurückzukommen ist. Auch der im vorhergehenden Text verwendete Begriff der "Rolle" könnte vielleicht schon als Hinweis auf die 'soziale' Dimension des Rassekonzepts bei Nietzsche verstanden werden. Die Frage, inwiefern die erworbenen Eigenschaften von Rassen vererbbar sind und inwiefern eine solche Vererbung im Rahmen von Nietzsches Konzept einer Erhöhung des Menschen überhaupt wünschbar sein kann, wird noch zu behandeln sein. Vorausdeutend kann hier schon darauf hingewiesen werden, daß Nietzsches Denken grundsätzlich auf eine Überschreitung des Rassekonzepts gerichtet ist, denn nur auf diesem Weg erscheint ihm eine Erhöhung des Menschen -wenn überhaupt- möglich. Soweit "Rasse" als politisches Konzept im Sinne einer "modernen Idee" eingesetzt wird, lehnt er dieses ab, wie der Text "die modernen Ideen sind falsch" zeigt, in dem unter anderen "modernen Ideen" wie z.B. "gleiche Rechte" und "Demokratie" auch "die Rasse" erscheint. (KSA 13,514-5: F/S 88: 16/82/). Rassen sind bei Nietzsche also etwas Gewordenes: sie entstehen, wenn "ein Volk in eine Landschaft kommt" und dort sich durch längeren Aufenthalt an die vorhandenen Lebensumstände assimiliert. Sie erwerben dabei auch eine "fest geprägte Rolle", d.h. jeweils spezifische soziale Merkmale, wodurch Nietzsches Rassekonzept eine deutliche soziologische Komponente erhält. Daß auch die Hautfarbe zu den erworbenen Eigenschaften gehört, haben wir vorher schon gesehen. Nietzsche steht mit seiner Auffassung von der Entstehung von Rassen keineswegs allein. Eine ganz ähnliche Ansicht wird z.B. von Ludwig Büchner vertreten und von Galton, um nur diese zu nennen. Über Büchner berichtet Weindling: "Racial characteristics were the result of the natural environment; he (Büchner) cited Gallon's geographical observations to support this".94
94
Weindling 1989, 37.
Entstehung der Rassen
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Auch bei Kant, Herder und Meiners spielt das Klima in diesem Zusammenhang eine maßgebende Rolle.95 Die soziale Dimension des Rassekonzepts wurde in Frankreich besonders von den Historikern Augustin und Amedee Thierry betont: Sie faßten Geschichte auf als "Rassenkämpfe", was sie aber primär als "Klassenkämpfe" verstanden. Der Adel wurde mit den ehemaligen Eroberern, den Franken, gleichgesetzt, die Bürger und Bauern mit den Galliern. Der Adel übte also eine "Fremdherrschaft" in Gallien aus.96 Hier sehen wir, wie Völker (Franken, Gallier) fest mit sozialen Ständen gekoppelt werden. Nietzsche spielt gelegentlich auf diese Tendenzen in Frankreich an, so wenn er schreibt: "Thierry, der Volksaufstand selbst in der Wissenschaft" (KSA 13,199: Anf. 88: 12/17). Auch Taine verbindet in seiner Soziologie Rasse mit Volk und Nation, wobei er aber eher konservative Absichten verfolgt.97 Rassen sind, wie wir sahen, bei Nietzsche etwas Gewordenes: sie entstanden je nach den Umgebungen, in denen sie zu leben gezwungen waren. Das heißt auch: sie entstanden unabhängig von einander, jedenfalls in einem so weitgehenden Maße, daß Nietzsche sich nicht an dem damals so beliebten Konstruieren von "Genealogien" beteiligt. Poliakov berichtet ausführlich darüber, wie fast alle europäischen Nationen damals den Versuch unternahmen, für ihr Volk jeweils möglichst ehrenvolle Abstammungsmythen zu erstellen: die Spanier, die Engländer, Italien, die Franzosen, usw.98 In dieser Frage verhält sich Nietzsche auffällig abweisend, ja er bestreitet sogar einen genealogischen Zusammenhang zwischen Deutschen und Germanen: hier gebe es keine "Begriffs- und Blutsverwandtschaft". Damit verzichtet er bewußt auf ein damals sehr geschätztes, mehr oder weniger 'rassistisches' Argumentationsverfahren, das allerorten zum Nachweis der eigenen 'edlen' Herkunft eingesetzt wurde.
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Römer 1989, 27. Dazu eingehender Römer 1989, 26 sowie Marti 1993, 80-81. Römer 1989, 26 sowie Rey 1981, 148. Poliakov 1979, 25-72.
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Völker und Menschen Der geschichtliche Rahmen: Europa
In vielen Texten, die noch zu erörtern sind, geht es Nietzsche immer wieder um Europa: wie ist es geworden? Wie ist seine jetzige Situation (zu Nietzsches Zeit)? Wie soll es werden? Wie sieht seine Zukunft aus? In den folgenden Kapiteln sind auf diese Frage versuchsweise Antworten zu erarbeiten. Hier sollen nur ein paar Hinweise folgen, die einige Punkte skizzieren, die Nietzsches eingangs erwähnten Überlegungen z.T. stillschweigend zu Grunde liegen. Europa ist für Nietzsche, soweit es überhaupt historisch greifbar ist, ein "altgemischtes Land" (KSA 11,44,1). So hatte es auch Virchow gesehen. Als "Ureinwohner" nimmt er eine "vorarische" Bevölkerung, zunächst auf "italischem Boden", an. (5,263,19). Diese "vorarischen Insassen" sind, wie es in der "Genealogie der Moral" heißt, "Dunkelfarbige", "Schwarzhaarige" (5, 263,189). Auch auf "gälischem" Gebiet sind die Ureinwohner "schwarzhaarig" (5,263, 22-5). Ebenso in bestimmten Gebieten Deutschlands, wobei er aber für die Kelten betont, daß diese, entgegen der Annahme Virchows, eine "blonde Rasse" waren (5,263,26-31). In einer jüngeren Besiedlungswelle werden die "vorarischen" Ureinwohner von einer "arischen Eroberer-Rasse" unterworfen (5,263,20). Diese ist "blond" und hebt sich "durch die Farbe am deutlichsten" von den Ureinwohnern ab (5,263,20-21). Sie wird die "herrschende" Rasse. (5,263,19-20). Dabei bleibt es jedoch nicht. Nach einiger Zeit bekommt "schließlich daselbst" "die unterworfene Rasse" "wieder die Oberhand" (5,263,34-264-1). Das drückt sich aus "in Farbe, Kürze des Schädels, vielleicht sogar in den intellektuellen und sozialen Instinkten". (5,264,1-2). Und Nietzsche schließt die folgende Frage an: "wer steht uns dafür, ob nicht die moderne Demokratie, der noch modernere Anarchismus und namentlich jener Hang zur 'Commune', zur primitivsten Gesellschafts-Form ... in der Hauptsache einen ungeheuren Nachschlag zu bedeuten hat...?" (5,264,2-7). Das hieße, als Folge des wieder die Oberhand-Bekommens der vorarischen Bevölkerung anzusehen wäre? Und Nietzsche schließt die weitere Frage an: Sind "die Arier, auch physiologisch im Unterliegen"? (5,264,8-9). Wie wir sehen, formuliert Nietzsche diese möglichen Folgen als Fragen, deren Antwort er offen läßt. Wie vom schon an-
Der geschichtliche Rahmen: Europa
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gedeutet wurde, ist es durchaus fraglich, ob diese Passage aus GM, d.h. GM 1,5 für Nietzsche überhaupt Geltung beanspruchen kann. Denn in der gleichen Schrift, d.i. GM III 12-21, gibt Nietzsche später eine völlig andere Darstellung für den Niedergang in Europa, in der Krankheit und der asketische Priester im Mittelpunkt stehen. Darauf ist noch ausführlich einzugehen. Das "Oberhand-Bekommen" vollzieht sich vor allem durch den "Sklavenaufstand in der Moral": "Alles verjüdelt, oder verchristlicht oder verpöbelt sich zusehends" (5,270,2-3). Wobei hier das Wort "verjüdelt" nicht falsch verstanden werden darf: es meint nicht die Juden insgesamt, sondern es meint nur, wie Nietzsche später präzisiert: "drei Juden ... und Eine Jüdin" (Jesus, Paulus, Petrus und Maria) (5,287,6-7). Im "Sklavenaufstand" kämpft das (christliche) "Judäa" mit "Rom" (5,287, 1)." Das Ringen setzt sich bis in die neuste Zeit fort, mit wechselnden 'Siegen' auf beiden Seiten. Rom, das "antike Ideal", lebt weiter in der "Renaissance" (5,287,11): "ein glanzvoll-unheimliches Wiederaufwachen des klassischen Ideals, der vornehmen Werthungsweise aller Dinge" (5,287,11-12). Ferner in Napoleon: es "geschah ... das Ungeheuerste, das Unerwartetste: das antike Ideal selbst trat leibhaß und mit unerhörter Pracht vor Auge und Gewissen der Menschheit" (5,287,28-31). "Wie ein letzter Fingerzeig zum andren Wege erschien Napoleon, jener einzelnste und spätestgeborne Mensch ... und in ihm das fleischgewordene Problem des vornehmen Ideals an sich man überlege wohl, was es für ein Problem ist: Napoleon, diese Synthesis von Unmensch und Übermensch ..." (5,288,3-8). Auf der anderen Seite sind jedoch die Reformation (5,287,1) und die "französische Revolution" zu nennen (5,287, 22). Beide bedrohen und beeinträchtigen das "antike Ideal". Durch die "französische Revolution" brach die "letzte politische Vornehmheit, die es in Europa gab, die des siebzehnten und achtzehnten französischen Jahrhunderts ... unter den volksthümlichen Ressentiments-Instinkten zusammen" (5,287,23-26).
99
Gemäß Marti 1993, 59, verweist bei Heine der "Typus Judäa" auf die "christliche Sinnenfeindschaft" (Hervorhebung GS).
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Völker und Menschen
Eine frühe Schwächung des "antiken Ideals" bedeutete auch die Entstehung des "theoretischen Menschen", worauf Nietzsche an anderer Stelle hinweist. In Nietzsches Auffassung erscheint die "vorarische Bevölkerung" als Träger der niederdrückenden und vergeltungslüsternen Instinkte" (5,276,30-31). Sie stellt nicht selber "Cultur" dar, sie ist nur "Werkzeug der Cultur" (5,276, 2629). Die "arischen" "Eroberer" und ihr "vornehmes Ideal" stehen demnach am Anfang der "Cultur" (5, 276,21). Nietzsche bezweifelt, daß es "Sinn aller Cultur" sei (wie behauptet werde), "aus dem Raubthiere 'Mensch' ein zahmes und civilisirtes Thier, ein Hausthier herauszuzüchten" (5,276,20-22). Denn dann müßten ja grade die "Träger" "aller jener Reaktions- und RessentimentsInstinkte" "zugleich auch selber die Cultur darstellen" (5,276,19-28). Sie stellten aber viel eher einen "Rückgang der Menschheit" dar (5, 276,34). Sie seien eher ein "Gegenargument gegen 'Cultur' überhaupt" (5,277,1-2). Europa befindet sich also jetzt (zu Nietzsches Zeit) in einer schwierigen Situation, gleichsam in einer Übergangszeit. Nietzsche spricht auch von der "Zwischenakts-Politik des Nationalists-Wahnsinns" (5,201,25). Europa muß aber wieder eine neue Einheit finden: "Europa will Eins werden" (5,201,29). Im jetzigen Europa sinkt das Leben nieder: "der Heerdeninstinkt ist jetzt eine souveräne Macht" (13,238,9). Die "vornehmen Ideale" sind im Verschwinden (5,287,23). Europa fehlt "ein Wille" (5, 138-40). Dennoch ist Europa für Nietzsche nicht Verloren'. Er bejaht die "Verschmelzung" der Völker (2,309). Europa hat den "historischen Sinn" gewonnen und damit einen Zugang zu Homer, der dem vornehmen französischen Jahrhundert verschlossen war (5,159). Europa hat seine "Europa-Sucher", die begehrlich sind nach dem "Sich-Widersprechenden" (5,203,5). Damit gibt Nietzsche auch schon einige Andeutungen, wie die anzustrebende 'Einheit' des neuen Europa aussehen könnte. Die 'Einheit' soll keine Eintönigkeit sein. Sie ist gekennzeichnet durch "Vielheit" (11,136,5), durch "Spannung und Vorsicht" (11, 136,18). Es wird darum gehen, eine neue "Synthese" zu gewinnen (5,204). Europa wird "reicher" und "umfänglicher" sein. Europa soll "wirtschaftlich und politisch" eine Einheit werden; das ist "das Wunder von Sinn in der Existenz Napoleons". Leider hätten die Deutschen durch ihre "Freiheitskriege" dieses Ziel bisher vereitelt (6,360,8-14). Der
Der geschichtliche Rahmen: Europa
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Nationalismus sei die "kulturwidrigste Krankheit", an der Europa bisher leidet (6, 360,16). Kleinstaaterei sei "kleine Politik" (a.a.O.). Europa braucht für diese Aufgabe die Franzosen und die Juden (5,201-4). Den Juden kommt dabei eine vorrangige Bedeutung zu (5,192-3). Nur der "kurze Blick von Politikern" behindere das Einswerden Europas (5,201,22). Nietzsche spricht sich wiederholt darüber aus, wie er sich die Zukunft Europas und die zukünftigen Europäer vorstellt. Man müsse ausgehen von allen "tieferen und umfänglicheren Menschen dieses Jahrhunderts" (5,202,1). Im April 85 schreibt er: "Der Anblick des jetzigen Europäers giebt mir volle Hoffnung: es bildet sich da eine verwegene herrschende Rasse, auf der Breite einer äusserst intelligenten Heerden-Masse" (11,451: 34/947). Nietzsche denkt über Europa hinausgehend zugleich an eine "Regierung der Erde" (9,546; 11,273 u.ö.). Dazu sei ein Menschentyp nötig, der jetzt noch fehle (l 1,213,13). Diesen jetzt "noch fehlenden Typ" beschreibt er mit folgenden Stichworten: er ist "am umfänglichsten", "am stärksten Werthe setzend", er weiß "Mittel zur Gestaltung der Menschheit ...". Über diesen Typ bemerkt Nietzsche dann mit viel Skepsis, er sei "wahrscheinlich lange im höchsten Maasse missrathend" (11,213,13 f.). In einem Brief vom Dezember 88 umreißt er nochmals seine Vorstellung an Brandes: "Siegen wir (über das Christenthum, GS), so haben wir die Erdregierung in den Händen - den Weltfrieden eingerechnet ... Wir haben die absurden Grenzen Rasse Nation und Stände überwunden: es giebt nur noch Rangordnung zwischen Mensch und Mensch und zwar eine ungeheure lange Leiter von Rangordnung. Da haben Sie das erste welthistorische Papier. Große Politik par excellence." (KSB 8,502). Nietzsche versteht sich als "Denker, der die Zukunft Europe's [als Aufgabe, GS] auf seinem Gewissen hat" (5,193,34-194,1). Wie er sich die Förderung dieser Aufgabe vorstellt, wird im Folgenden noch näher zu untersuchen sein. Hannah Arendt weist darauf hin, daß Nietzsche gerade aus seiner Sorge um Europa zu einer "erstaunlich gerechten" Einschätzung der Juden in Europa
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Völker und Menschen
gekommen sei, die "frei" sei von "Ressentiment, Schwärmerei und billigem Philosemitismus".I0°
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Arendt 1986, 58 und 87.
Die Völker Europas Vorbemerkung In den Texten, in denen das Wort "Rasse" begegnet, kommt Nietzsche immer wieder auf bestimmte Völker zu sprechen, etwa die Deutschen und die Juden. In diesem Kapitel soll näher untersucht werden, welche Bedeutung(en) dieses Wort hier hat.101
Arisch und semitisch: das Problem der Arier
Wie bereits deutlich wurde, verwendet auch Nietzsche gelegentlich die Vokabeln 'arisch' und 'semitisch'. Jetzt ist genauer zu prüfen, inwiefern sich Nietzsche dabei auch auf den damit verbundenen 'arischen Mythos' (Poliakov) stützt. Zu diesem Zweck ist es nötig, zunächst einen Blick auf diesen Mythos zu werfen. Oben wurde schon ein kurzer Hinweis gegeben. Das Wort 'arisch' ist von den 'Ariern' abgeleitet. Es wurde zuerst als Sprachbezeichnung verwendet (für die indisch-iranischen Sprachen). Besonders von Max Müller wurde diese Bezeichnung propagiert, der sie in seinen Veröffentlichungen auch den konkurrierenden Bezeichnungen 'indogermanisch/ indoeuropäisch' vorzog.102 Bei den 'Ariern' dachte man an Völkerschaften, die im 2. Jahrtausend vor Christus in Indien eingewandert sein sollten, und die sich 'ARYA' nannten (so auch KSA 5, 262,30). Die Deutung des Namens war umstritten. Einerseits deutete man das Wort als 'edel, rechtmäßig, hold, in
101
Im Folgenden können natürlich nicht alle Äußerungen berücksichtigt werden, die Nietzsche etwa über die Deutschen oder die Juden macht. Wir beschränken uns im wesentlichen auf jene Texte, in denen das Wort "Rasse" erscheint. Ergänzend zu den hier gegebenen kurzen Darstellungen sind dann jeweils einschlägige Monographien heranzuziehen, für Nietzsches Stellung zu den Juden, der jüdischen Religion und Kultur etwa Santaniello (1994). 102 Vgl. dazu Römer 1989, 49 f.
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Die Völker Europas
Ehren stehend'. Man setzte die Wurzel 'ario': 'Herr/ Gebieter' an. Der Iran wurde als 'Land der Arier' gedeutet. Die sprachliche Überlieferung reicht von Altindisch bis Altiranisch.103 Zahllos sind die Versuche, das Volk der 'Arier' genauer zu erfassen. Entscheidend für die weitere Forschung wurde dabei der Versuch, die 'Arier' von einem indogermanischen Urvolk abstammen zu lassen. Aus der Sprachbezeichnung wurde die Existenz eines Urvolkes postuliert. Bei diesem Schritt hatte F.Schlegel einen wesentlichen Anteil.104 Poesche, den auch Nietzsche gelesen hat, deutete 'Asia' als 'Land der Arier'. Ferner wurde eine Ableitung von griech. 'ares/arete' versucht. Auch der Name 'Arminius' wurde damit in Zusammenhang gebracht. Penka schlug eine Farbdeutung vor: 'Arier' zu griech. 'argys/argestys': 'strahlend', woraus er die Grundbedeutung 'weiß' erschloß.105 Größere Verbreitung fand das Volk der 'Arier' durch Gobineau, der aus der Bezeichnung für die genetische Verwandtschaft von Sprachen konsequent eine "ethnische Grosse" machte, das Volk der 'Arier'106, die für ihn die rassischreinsten Vertreter der "weißen Rasse" wurden. Aus den vielen Schriften über die Arier seien hier nur noch Poesche (1878) und Penka (1883) erwähnt. Poesches Buch ("Die Arier") war auch Nietzsche bekannt. Poesche war Professor in Jena. Er sah jede Rasse als eigene Art an, nicht nur als Varietät einer Art. Er stand dadurch im Gegensatz zu den Theologen, und auch zu Darwin und Haeckel. Poesche war also Polygenist, wie Nietzsche. Poesches Auffassung nach kamen die Arier aus den Rokitno-Sümpfen: dort gebe es viele Albinos, so daß hier die depigmentierte Rasse der Arier entstehen konnte.107 Penka zählt erstmals alle Merkmale auf, die dann zum Standardrepertoire der Arier gehören sollten. Die Arier waren dolichocephal (langköpfig), groß, blondhaarig, blauäugig und hellfarbig.108
103 104 105 106 107 108
Römer 1989, 54 f. Römer 1989, 63. Römer 1989, 64. Römer 1989, 21. Römer 1989, 23. Römer 1989, 65.
Arisch und semitisch
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Interessant ist der Streit um die Bezeichnungen 'indoeuropäisch' bzw. 'indogermanisch', die, wie angedeutet, für die Bezeichnung 'arisch' eingeführt wurden. 'Indoeuropäisch' wurde 1813 von Thomas Young eingeführt, denn die 'arischen' Sprachen reichten von Indien bis Europa. Der deutsche Forscher Klaproth plädierte demgegenüber 1823 für die Bezeichnung 'indogermanisch', womit er für die germanischen Sprachen in Europa eine Priorität beanspruchen wollte.109 Dieser Vorschlag wurde von führenden Sprachwissenschaftlern jedoch zurückgewiesen, so von Bopp, Humboldt, und auch von Schopenhauer. Dieser spottet über die Bezeichnung 'indogermanisch': "Von den Sprachen der alten Germanen ist uns nichts bekannt, und ich erlaube mir zu mutmassen, daß solche eine von der gothischen, also auch der unsrigen, ganz verschiedene gewesen sein mag: wir sind, wenigstens der Sprache nach, Gothen. Nichts aber empört mich mehr als der Ausdruck indogermanische Sprachen, das hiesse die Sprache der Veden unter Einen Hut gebracht mit dem etwanigen Jargon besagter Bärenhäuter."110 Auch Nietzsche lehnt eine Sprachverwandtschaft der Deutschen mit den Germanen ab und verknüpft die deutsche Sprache in der angedeuteten Weise mit der gotischen. (KSA 5,264, 15-18 und 3,492,110). Am arischen Mythos wurde bis weit ins 20. Jahrhundert weitergedichtet.111 Die Bezeichnung 'semitisch' wurde, wie die Bezeichnung 'arisch', auch zunächst als Sprachbezeichnung eingeführt. Nachdem zuerst Ludwig von Schlözer im Anschluss an die Bibel zwischen 'semitischen' und 'japhetitischen' Sprachen (Persisch, Armenisch) unterschieden hatte112, führte der Hegelianer K.W.L. Heyse die Indogermanen zusammen mit den Semiten und Ägyptern auf eine 'kaukasische Rasse' zurück, aus deren Verzweigung dann u.a. der indogermanische und der semitische Sprachstamm entstanden seien.113 Wie nahe die beiden Sprachstämme verwandt seien, blieb dann allerdings umstritten. Rudolf von Raumer rückt die beiden sehr nahe zusammen, indem er für beide eine gemeinsame "arisch-semitische Urzeit" 1M 110 111 112 113
Schwab 1950, 198. Parerga,Bd. 303. Weitere Einzelheiten bei Römer 1989, 62-75. Poliakov 1979, 190. Römer 1989, 61.
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Die Völker Europas
ansetzte."4 Im weiteren Verlauf der Diskussion wurde diese große Nähe jedoch von der antisemitischen Propaganda wieder bestritten. 115 Wie sieht nun Nietzsches Rezeption des arischen Mythos aus? Wir wollen hier ein paar grundsätzlichere Äußerungen Nietzsches anfuhren, weitere Teilantworten ergeben sich im Lauf der Untersuchung. Die These von der Besiedlung Europas durch aus dem Orient einwandernde Stämme scheint Nietzsche geteilt zu haben. Wie wir schon sahen, war Europa erst von 'vorarischen' Völkern bewohnt, die dann durch einwandernde 'arische' Stämme erobert wurden. Auf diesen Prozeß der Eroberung durch einwandernde "indogermanische Wanderstämme" geht Nietzsche einmal genauer ein, wenn er darstellt, daß und wie die Sprachen der "Unterworfenen" und der Eroberer sich beeinflußt haben: "In den Eigenthümlichkeiten der indogermanischen Sprachen, welche sie gegen die Urmuttersprache abheben, hat man die zurückgelassenen Spuren der verlorenen Sprachen zu erkennen, welche ursprünglich die Völker hatten, die durch indogermanische Wanderstämme überfallen und besiegt wurden: und so daß die Sprache der Eroberer ebenfalls siegreich wurde und auf die Unterworfenen übergieng. Vielleicht im Accent und dergleichen blieb die alte Gewöhnung noch hängen und gieng auf die neu erlernte Sprache über." (8,444: Ende 76/S 77: 23/115).
In diesem Text wird die Einwanderungs- und Eroberungs-These aufgenommen und akzeptiert. Die Beeinflussung der Sprachen, die Nietzsche andeutet, wird in der heutigen Sprachwissenschaft unter den Stichwörtern 'Substrat/Superstrat' untersucht. Aus Nietzsches Feststellung ergibt sich, daß die 'indogermanische Sprache' bei diesem Prozeß Merkmale der unterlegenen Sprachen übernommen hat: sie blieb also nicht 'rein' erhalten. Diesem Sachverhalt scheint Nietzsche jedoch keinen besonderen Wert beizumessen, denn er erwähnt und 'beklagt' ihn nicht. Noch konkreter wird die Einwanderungsthese in der schon herangezogenen Stelle der "Genealogie der Moral" greifbar. Hier wird ja auch das Wort "arya" genannt und, ganz ähnlich wie oben referiert, gedeutet (5,262,27-30): u.a. "die
114 115
Römer 1989, 60. Poliakov 1979, 262.
Arisch und semitisch
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Mächtigen", die "Herren". Auch hier werden "vorarische" Völker durch einwandernde "arische" erobert. Bemerkenswert an der GM-Passage ist, daß Nietzsche hier viel detaillierter Bezug nimmt auf spezifische Einzelkomponenten des arischen Mythos. Er zieht z.B. die Farbthese heran; die "arische Eroberer-Rasse" (5,263,20) ist "blond", die eroberten "vorarischen Insassen" (5,263,19) sind "dunkelfarbig" und "schwarzhaarig". (5,263,17-18). Ja er geht bei der Beschreibung der "vorarischen Insassen" noch viel weiter, indem er das ganze Repertoire des arischen Mythos zu ihrer Beschreibung heranzieht: er erwähnt die "Farbe, Kürze des Schädels" und vermutet sogar Beziehungen zwischen diesen Merkmalen und "den intellektuellen und socialen Instinkten" der Vorarier (5,264, 1-2). Des weiteren wird zumindest gefragt, ob nicht ein Zusammenhang zwischen dieser vorarischen Bevölkerung und ihrem neuerlichen "Oberhand-Bekommen" und der politischen Entwicklung in Europa besteht, d.h. ob sie nicht für die Entstehung der "Demokratie" verantwortlich zu machen seien. (5,264,2-7). Damit scheint sich Nietzsche an dieser Stelle bedenklich der modernen Rasse-Vorstellung anzunähern, der Vorstellung eines engen Zusammenhangs zwischen physischen Merkmalen von Menschen einerseits und intellektuellen bzw. sozialen Anlagen andererseits. Es ist jedoch, worauf schon hingewiesen wurde, fraglich, ob in dieser Textstelle tatsächlich Nietzsches eigene Auffassung zum Ausdruck kommt. Die Frage ist noch näher zu prüfen. Übrigens war das Aufstellen von Thesen über einen Zusammenhang zwischen der 'Mentalität' von Völkern und ihren politischen Neigungen im 19. Jahrhundert keineswegs selten. Michelet etwa vertrat in seiner "Histoire de France" die These, das aristokratische Prinzip gehe von den Germanen aus, der Begriff der "Gleichheit" der Menschen jedoch von den Kelten."6 Von Montesquieu wurde jedoch für die Germanen die entgegengesetzte These vertreten: seiner Auffassung nach sind die Germanen in England für die Einführung des parlamentarischen Prinzips verantwortlich.117
116 117
Poliakov 1979, 48. Poliakov 1979, 40.
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Diese Parallelen sind jedoch nicht ohne weiteres auf Nietzsche übertragbar, da er z.B. keine Linie zieht von den 'arischen Erobern' zu den Germanen. Diesen zentralen Teilbaustein des arischen Mythos lehnt er ab. Nietzsche denkt bei 'seinen' Ariern eher an die Griechen: er nennt in der GM-Stelle z.B. den "griechischen Adel" (5,263,1). Daß Nietzsche, trotz der bedenklichen GM-Passage, ein eher gebrochenes Verhältnis zum arischen Mythos hat, geht aus einem anderen, ziemlich fragmentarischen Text hervor: "Dies ist das Problem der Rasse, wie ich es verstehe: denn an dem plumpen Geschwätz von arisch —" (12,50: H85/F 86:17 178/). Dies der Text. Er besagt zumindest, daß er den arischen Mythos für "plumpes Geschwätz" hält, also für zu undifferenziert. Der KSA-Kommentar verweist zum besseren Verständnis dieses Textes auf den folgenden Text: "NB. Gegen Arisch und Semitisch. Wo Rassen gemischt sind, der Quell grosser Cultur." (12,45: H85/F86: 1/153/). Nietzsche lehnt also 'arisch' als Opposition zu 'semitisch' ab. Und gerade mit dieser Opposition wurde zu seiner Zeit die verhängnisvolle antisemitische Propaganda betrieben, die er ja energisch zurückweist, wie schon belegt wurde. Oben wurde auch schon gezeigt, daß für Nietzsche Europa nicht ohne, sondern nur mit den Juden mit Aussicht auf Erfolg gebaut werden kann. Ein weiterer Text unterstreicht diesen Punkt: "daß die semitische Rasse zur indoeuropäischen gehört, glaube ich mit G.I. Ascoli und E. Renan." (10,14: Juli/Äug. 82: 1/237). Es ist vielleicht kein Zufall, daß Nietzsche in diesem Textfragment die Formulierung ''maoeuropäisch' statt der auch bei ihm sonst üblichen ''maogermanisch' verwendet. In einigen Texten werden 'arisch' und 'semitisch' in Beziehung gesetzt, mehr oder weniger vergleichend, wobei einmal eher ein partieller Unterschied, im anderen Fall eher Gemeinsames betont wird: In Text 14/1957 (KSA 13,3801: F 88) wird darauf hingewiesen, daß es "arische" Religionen gibt von "herrschenden Classen" u.z. "Jasagende": "das Gesetzbuch Manu's" und "Neinsagende": "der Buddhismus" aber "keine Religion unterdrückter arischer
Arisch und semitisch
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Rassen"; daß es jedoch neben der "Jasagenden semitischen Religion der herrschenden Classen": "das Gesetzbuch Muhammeds. Das Alte Testament, in den älteren Theilen" auch eine "Nein-sagende semitische Religion, als Ausgeburt der unterdrückten Klassen" gebe: "nach indisch-arischen Begriffen: das Neue Testament - eine Tschandala-Religion." Nietzsche kommentiert diesen Unterschied folgendermassen: "Es ist vollkommen in Ordnung, daß wir keine Religion unterdrückter arischer Rassen haben: denn das ist ein Widerspruch: eine Herrenrasse ist obenauf oder sie geht zu Grunde." (13,381,6-8).
Dies muß nicht unbedingt als Lob der "arischen Rassen" gelesen werden. Denn Nietzsche bedauert einmal, daß die "Nordländer" (5,69) keine Kraft mehr haben, neue Religionen zu schaffen, und er weist einmal darauf hin, daß die "Erfahrungen der Geschichte" lehren, daß "die starken Rassen sich gegenseitig dezimiren", was ihn sogar zu der Frage veranlaßt: ist "Die Steigerung des Typus verhängnissvoll für die Erhaltung der Art!" (13,369,25-9). Interessant ist noch im Text 14/195/ der Sprachgebrauch Nietzsches: 2 mal heißt es: "herrschende Classen" (13,380,23 u. 26); l mal: "unterdrückte Klasse" (sie) (13,380, 30); l mal: "herrschende Stände" (13,381,4); l mal: "unterdrückte arische Rasse" (13,381,7); l mal: "Herrenrasse" (13,381,8). Dies ist ein neuer Hinweis darauf, daß Nietzsche bei "Rasse" sehr stark an etwas Schichtspezifisches denkt: an soziale Schichten, Klassen, Stände, oder zumindest, daß "Rassen" in erster Linie über ihre gesellschaftlichen Funktion gesehen werden. Dies klang auch in der GM-Stelle an, wo die "arya" als die "Mächtigen", als "Herren" eingeführt wurden. Aber, dies zeigte der letzte Text, es gibt auch "semitische herrschende Classen". In Text 14/204/ (KSA 13,386-7: F 88) werden 'semitisch' und 'arisch' unter dem Gesichtspunkt des "Schemas eines unveränderlichen Gemeinwesens, mit Priestern an der Spitze" (13,386,26-7), sehr nahe aneinander gerückt: "Man redet heute viel von dem semitischen Geiste des neuen Testaments: aber was man so nennt, ist bloß priesterlich,- und im arischen Gesetzbuche reinster Rasse, im Manu, ist diese Art 'Semitismus' d.h. der Priester-Geist schlimmer als irgendwo. Die Entwicklung des jüdischen Priesterstaates ist nicht original: sie haben das Schema in Babylon kennen gelernt: das Schema ist arisch. Wenn dasselbe später
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wieder, unter dem Übergewicht des germanischen Bluts, in Europa dominirte, so war dies dem Geiste der herrschenden Rasse gemäß: ein großer Atavismus. Das germanische Mittelalter war auf Wiederherstellung der arischen Kasten-Ordnung aus. Muhammedanismus hat von den Christen wiederum gelernt: die Benutzung des 'Jenseits' als Straf-Organ. Das Schema eines unveränderlichen Gemeinwesens, mit Priestern an der Spitze: das älteste große Cultur-Produkt Asiens im Gebiete der Organisation - muß natürlich in jeder Beziehung zum Nachdenken und Nachahmen aufgefordert haben. Noch Plato: aber vor allen die Aegypter."
Nietzsche versucht hier herauszuarbeiten, daß eine bestimmte "Art 'Semitismus'" (13, 386,15), d.i. der "Priester-Geist", der "Priesterstaat", der von Babylon über Ägypten bis zu Plato zu beobachten sei, arischer Herkunft sei. (Er stuft die Babylonier offenbar als arisch ein.) Die Versuche der Wiederherstellung der "arischen Kasten-Ordnung" im "germanischen Mittelalter" waren zwar dem "Geiste der herrschenden Rasse" gemäß. Er betrachtet diese Versuche aber dennoch als "großen Atavismus". "Das Schema eines unveränderlichen Gemeinwesens, mit Priestern an der Spitze", das "das 'Jenseits' als Straf-Organ" benutzt, ist für Nietzsche nicht mehr diskutabel, 'auch wenn' es letztlich kern "Semitismus", sondern arischer Herkunft ist. "Arische" "Cultur-Produkte" sind nicht per se akzeptabel, sondern werden wie alle anderen der Kritik seines eigenen Denkens unterworfen, die im vorliegenden Falle zu einer Zurückweisung führt. Übrigens: im angeführten Text ist (auf semitischer Seite) nur vom "semitischen Geiste des neuen Testaments" die Rede, nicht etwa von den Juden insgesamt. Auch in dem folgenden Textstück wird ein Vergleich vorgenommen, wobei die semitische 'Seite' im Grunde genommen 'nietzscheanischer' beschrieben wird als die indogermanische: Text 26/2437 (KSA 11,212, Sommer/ H 84). Der Text trägt den Titel "Die neue Rangordnung. Vorrede zur Philosophie der ewigen Wiederkunft.1" Der Text ist ziemlich umfangreich und soll in Teil II im Zusammenhang mit Nietzsches Konzept der Menschentypen ausführlicher zur Sprache kommen. Hier wird nur ein Ausschnitt herangezogen, der direkt auf die Frage "arisch/ indogermanisch/semitisch" Bezug nimmt.
Arisch und semitisch
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Nietzsche behandelt in diesem Text das Problem einer "Moral der Gleichheit" (11, 212,17). Er unterscheidet dabei drei Ebenen bei seiner "neuen Rangordnung" (11, 212,10): Die Ungleichheit der Menschen; Die Ungleichheit der Schaffenden; Die Ungleichheit der höheren Menschen. Auf jeder der drei Ebenen werden mehrere Stufen unterschieden. Bei der Ebene I: "1. Führer und Heerde. . .; 2. Vollständige Menschen und Bruchstücke . . .; 3. Gerathene und Missrathene; 4. Schaffende und 'Gebildete' . . ." Hier interessiert uns Stufe
:
"3. Gerathene und Missrathene (letztere vielleicht die höheren in der Anlage, auch bei Völkern und Rassen. Problem: indogermanisch und semitisch, letztere südennäher NB. religiöser, würdevoller und mehr raubthier-Vollkommenheit, weiser erstere muskelkräftiger kälter gröber schwerer, verderbbar)" (11,212,23-29).
Hier wird 'semitisch' fast ausschließlich mit Attributen versehen (wenn man 'religiöser' vielleicht ausnimmt), die auf Nietzsches Werteskala (wenn man einmal so formulieren darf) einen oberen Platz einnehmen: "Süden-näher", "würdevoller", "mehr raubthier-Vollkommenheit" und "weiser". Die 'indogermanische' Seite zeigt demgegenüber Merkmale, die in Nietzsches Augen eher auf einen niedrigeren Typus hinweisen - und: sie ist "verderbbar", womit hier wohl auf Phänomene wie "decadence" angespielt werden soll. Auf der "indogermanischen" Seite ist damit vielleicht die Gefahr des "Mißrathens" größer. Wir können hierbei an die in Europa auftretenden Phänomene der "Willenslähmung" denken, auf die noch näher einzugehen sein wird. Der vorliegende Textausschnitt kann die alleinige Nennung der "arya" in der oben herangezogenen GM-Stelle ergänzen. Wenn dort der Eindruck entstehen konnte, daß in erster Linie die 'arische' Einwanderung zur Begründung der "Cultur" in Europa führte, so werden ihnen hier die "semitischen Völker" als gleichrangige, wenn nicht sogar überlegene Werte-'Träger" an die Seite gestellt. Nietzsche betont es ja oft genug: Europa kann nur mit den Juden zu einer höheren Bildung gelangen. Etwas 'Raubtierhaftes' wird den 'Semiten' auch schon in einem Text aus dem Jahre 1878 zugeschrieben (KSA 8,549: 30/1537 S 78):
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"Furchtbare Wildheit, das Zerknirschte Vernichtete, der Freudenschrei, die Plötzlichkeit, kurz die Eigenschaften, welche den Semiten innewohnen - ich glaube, semitische Rassen kommen der Wagnerischen Kunst verständnissvoller entgegen als die arische." Diese Einschätzung dürfte dem antisemitischen, 'progermanischen' Wagner sicher nur als sehr zweifelhaftes Kompliment erschienen sein. Sie kann aber deutlich machen, warum Wagner auch nach dem Bruch für Nietzsche immer noch "anziehend" blieb. Die besprochenen Texte können wohl deutlich machen, daß Nietzsche zwar einige Elemente des 'arischen Mythos' übernimmt - die These von der arischen Einwanderung, die Vorstellung von der Vorbildlichkeit der 'Arier' (wobei er aber bevorzugt an die Griechen denkt) -, daß aber daneben die Semiten ebenfalls als für die Kultur Europas gleichwichtig beschrieben werden. Es lassen sich sogar Tendenzen beobachten, "arisch" und "semitisch" nicht als getrennt, sondern als zusammengehörig zu betrachten. Gelegentlich werden die "Semiten" mit "arischen" Merkmalen beschriebem ("RaubthierVollkommenheit", "Wildheit") und gelegentlich hängen sie sogar unentwirrbar zusammen ("Semitismus"; "Priesterstaat"). Die nicht seltene Verwendung der Ausdrücke "Classen" und "Stände" neben "Rasse" legt die Vermutung nahe, daß Nietzsche sich die 'Arier' und 'Semiten' in erster Linie als soziale Einheiten gedacht hat, etwa als 'Völker' oder soziale Schichten, hingegen weniger als 'Rassen' im modernen Sinn. Sie sind das, was sie sind, weil sie lange Zeit in bestimmten "Umgebungen" im vorn beschriebenen Sinn gelebt und gesiedelt haben: also "Rassen" im Sinn der oben besprochenen Textstelle über die Entstehung der Rassen (KSA 11,136). Ihre Eigenschaften sind kulturell erworben. Wenn Nietzsche bei den "arischen Völkerschaften" die helle Farbe so sehr betont (im Unterschied zu den "vorarischen" Siedlern), so ist auch hier daran zu erinnern, daß die helle Farbe, nach Nietzsches Auffassung, ebenfalls eine erworbene ist. Das wurde oben schon herausgestellt.
Die Inder
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Poliakov weist darauf hin, daß im 18./19. Jahrhundert vier große Genealogien erörtert wurden, die zum Teil auch kombiniert wurden: die biblische, die germanische (Arndt, Jahn, Fichte), die Orientthese, d.i. die indische Genealogie (Herder, F. Schlegel, Schopenhauer) und schließlich die darwinistische.118 Darüber wurde schon Einiges berichtet. Hier folgen zunächst noch ein paar Hinweise zu der Rolle, die insbesondere die indische These damals spielte. Dann ist zu fragen, wie Nietzsche die Inder im Rahmen seines Denkens einschätzt. Die indische Genealogie wurde zunächst auch in Verbindung mit der biblischen vertreten (Jacolliot), dann aber von der letzteren losgelöst. Buffon vertrat die Auffassung, nach der Sintflut habe es nochmals eine große Zerstörung gegeben und nur bei den Brahmanen hätten sich Reste der alten Kultur bewahrt.119 Ähnlich sah es Linne: nach der Sintflut sei die Kultur von einem hohen Berg ausgegangen, die höchsten Berge fänden sich aber in Indien und China.120 Nach Auffassung Voltaires hat Adam alles den Indem zu verdanken, sogar seinen Namen.121 Gemäß Diderots Ansicht war die Wissenschaft in Indien älter als die ägyptische.122 Kant wies auf Tibet als das höchste Land hin.123 Herder weist den Persem den ersten Platz zu und läßt die Deutschen mit den Persem verwandt sein, wobei er die von Noah ausgehende biblische Genealogie zurückweist.124 Für Schopenhauer steht wiederum Indien an erster Stelle, auch für die Genealogie der Deutschen.125 Die damalige Sprachwissenschaft kam zu der Auffassung, daß zwar nicht die ganze Menschheit aus Indien gekommen sei, sondern nur die "weiße Rasse". Ihr Weg verlief von den Bergen Asiens nach Westen: diese weiße Rasse, das seien die "Arier".126 Diese Auffassung findet sich in groben Zügen auch bei
118
Poliakov 1979, 197.
119
Poliakov Ebenda. Poliakov Ebenda. Poliakov Poliakov Poliakov Poliakov
120 121 122 123 124 125 126
1979, 186. 1979, 187. 1979, 188. 1979, 189. 1979, 189. 1979, 190.
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Gobineau. Zu der weißen Rasse zählt er die "kaukasischen und semitischen Rassen". Sie haben sich aus Zentralasien in alle Himmelsrichtungen verbreitet, der "beste Teil" jedoch, die "Arier" zogen aus Indien nach Europa. Dazu gehören nach seiner Einschätzung auch die Germanen in Skandinavien.127 So sah etwa der damalige Diskussionsstand zu dieser Frage aus. Nietzsches Stellung zur "Arier-These" allgemein haben wir schon beleuchtet. Hervorzuheben wäre vielleicht noch einmal, daß Nietzsche die These einer direkten genealogischen Linie von den "Ariern" in Indien bis zu den Germanen oder gar Deutschen wiederholt zurückweist. Zwischen den Deutschen und den Germanen besteht für ihn weder eine "Begriffs- noch Blutverwandtschaft" (5, 276,4). Die Inder bzw. "Arier" sind für Nietzsche nicht als direkte genetische Vorfahren der Deutschen von Bedeutung. Ihn beschäftigt ihr Versuch, den Menschen zu "verbessern", wie er im "Manu-Gesetzbuch" seinen Niederschlag gefunden hat. Diesen Versuch lehnt Nietzsche übrigens ab. Darauf ist nun näher einzugehen. Nietzsche lernte das "Gesetz des Manu" zu Anfang des Jahres 1888 kennen. Manu gilt als "sagenhafter indischer Gesetzgeber".128 Er las den Text in der französischen Übersetzung von Jacolliot.129 Zunächst war Nietzsche vom Manu-Gesetzbuch stark beeindruckt, wie aus einem Brief vom Mai 1888 an Köselitz hervorgeht (KSB 8, 325): das Gesetzbuch erschien ihm als "absolut arisches Erzeugnis", "ein Priestercodex der Moral auf der Grundlage der Veden" und ihrer "Kasten-Vorstellung". Er hielt es für "nicht pessimistisch, wie sehr auch immer priesterhaft". Es "ergänzt meine Vorstellungen über Religion in der merkwürdigsten Weise". Alle "anderen großen Moral-Gesetzgebungen" seien eine "Nachahmung davon" (dies war auch die These Jacolliots). "Voran der Ägypticismus", "aber auch Plato selbst scheint mir in allen Hauptpunkten einfach bloß gut belehrt durch einen Brahmanen". "Die Juden erscheinen
127 128 129
Römer 1989, 23. Vgl. KSA-Register "Manu". L. Jacolliot: Les legislateurs religieux. Manou-Moüse-Mahoummet. Paris 1876. Zu Nietzsches Jacolliot-Lektüre vgl. Etter 1984.
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mir dabei wie eine Tschandala-Rasse, welche von ihren Herren die Principien lernt, auf die hin eine Priesterschaft Herr wird und ein Volk organisirt." "Auch die Chinesen scheinen unter dem Eindruck dieses klassischen uralten Gesetzbuchs ihren Confucius und Laotse hervorgebracht zu haben". "Die mittelalterliche Organisation sieht wie ein ... Tasten aus, alle die Vorstellungen wieder zu gewinnen, auf denen die uralte indisch-arische Gesellschaft ruhte - doch mit pessimistischen Werthen, die ihre Herkunft aus dem Boden der Rassen-decadence haben." "Die Juden scheinen auch hier bloß 'Vermittler' - sie erfinden nichts".
Aber bald darauf, oder schon zur gleichen Zeit, finden sich bei Nietzsche kritische Äußerungen zum Manu-Gesetzbuch (KSA 13,439: F 88: 15/457): "Zur Kritik des Manu-Gesetzbuchs.- Das ganze Buch beruht auf der heiligen Lüge: - ist es das Wohl der Menschheit, welches dieses ganze System inspirirt hat? diese Art Mensch, welche an die Interessirtheit jeder Handlung glaubt, war sie interessirt oder nicht, dieses System durchzusetzen? - die Menschheit zu verbessern - woher ist diese Absicht inspirirt? Woher ist der Begriff des Bessern genommen? - wir finden eine Art Mensch, die priesterliche, die sich als Norm, als Spitze, als höchsten Ausdruck des Typus Mensch fühlt: von sich aus nimmt sie den Begriff des 'Bessern' - sie glaubt an ihre Überlegenheit, sie will sie auch in der That: die Ursache der heiligen Lüge ist der Wille zur Macht..."
In der "Götzen-Dämmerung" geht Nietzsche dann im Teil "Die 'Verbessere!' der Menschheit" nochmals ausführlicher auf das Manu-Gesetzbuch ein. (Kap. 3: KSA 6,100-101). Die wichtigsten Punkte dürften sein: das Manu-Gesetzbuch ist das "großartigste Beispiel" dafür, daß und wie die "sogenannte Moral" hinzielt auf die "Züchtung einer bestimmten Rasse und Art" (6,100,2-3). Die "indische Moral des Manu stellt sich sogar die "Aufgabe", gleich "vier Rassen auf einmal zu züchten" (6,100,4-6): "eine priesterliche, eine kriegerische, eine handler- und ackerbauerische, endlich eine Dienstboten-Rasse" (6, 100,6-8). Aber diese Moral hat eine Kehrseite: sie schließt einen Teil der Menschen als "Nicht-Zucht-Menschen" aus: die "Mischmasch-Menschen", die "Tschandala" (6,100,17-18). Ihr "Mittel" hierzu besteht darin, den Ausgeschlossenen "schwach zu machen, krank zu machen" (6,100,19-20). Eine Moral, die solche "Mittel" nötig hat, lehnt Nietzsche ab. Er kommentiert diese Moral folgendermassen:
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"Diese Verfugungen (gemeint sind die Reinheitsvorschriften der indischen Moral: 6,100,21 ff) sind lehrreich genug: in ihnen haben wir einmal die ansehe Humanität, ganz rein, ganz ursprünglich - wir lernen, daß der Begriff 'reines Blut' der Gegensatz eines harmlosen Begriffs ist. Andrerseits wird klar, in welchem Volk sich der Haß, der Tschandala-Haß gegen diese 'Humanität' verewigt hat, wo er Religion, wo er Genie geworden ist..." (6, 101,21-7). Die Manu-Moral, die "arische 'Humanität'", arbeitet, wie Nietzsche hier herausstellt, mit einem Begriff, dem "Begriff 'reines Blut'", der der "Gegensatz eines harmlosen Begriffs ist". Also mit einem gefährlichen unheilvollen Begriff. Sie erzeugt durch ihr Programm der "Züchtung" von "Rassen" "Haß" auf sich selbst, auf die "arische 'Humanität'". Ihr "Mittel" ist Ausschluß und "Krankmachen". Sie ist daher, wie Nietzsche später feststellt, "von Grund aus unmoralisch" (6,102,22). Im anschließenden Kapitel 4 (KSA 6,101-2) geht Nietzsche dann ein auf die "Evangelien" und "noch mehr das Buch Henoch". Er begreift diese als "Gegenbewegung gegen jede Moral der Züchtung, der Rasse, des Privilegiums" (6,101,27-31): 11
- es ist die antiarische Religion par excellence: das Christenthum die Umwertung aller arischen Werthe, der Sieg der Tschandala-Werthe... der Gesammt-Aufstand alles Niedergetretenen... gegen die 'Rasse'.- die unsterbliche Tschandala-Rache als Religion der Liebe..." (6,101,31-102,5). Aber auch diese "antiarische" "Gegenbewegung" gegen die "arische 'Humanität'" schneidet hier in seinen Augen nicht besser ab: zu stark sind die Gemeinsamkeiten zwischen beiden. Er schreibt in Kapitel 5 (6,102,7'f): "Die Moral der Züchtung und die Moral der Zähmung sind in den Mitteln, sich durchzusetzen, vollkommen einander würdig: wir dürfen als obersten Satz hinstellen, daß, um Moral zu machen, man den unbedingten Willen zum Gegentheil haben muß. Dies ist das große, das unheimliche Problem, dem ich am längsten nachgegangen bin: die Psychologie der 'Verbesserer' der Menschheit... Weder Manu, noch Plato, noch Confucius, noch die jüdischen und christlichen Lehrer haben ja an ihrem Recht zur Lüge gezweifelt. Sie haben an ganz anderen Rechten nicht gezweifelt... In Formel ausgedrückt dürfte man sagen: alle Mittel, wodurch
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bisher die Menschheit moralisch gemacht werden sollte, waren von Grund aus unmoralisch.-" (6,102,7-22).
Dies bedeutet eine klare Distanzierung von der "indischen" Moral, wie sie im Gesetzbuch des Manu dargestellt ist, und eine Distanzierung von ihrer "Umwerthung", wie sie in den Evangelien greifbar wird. Ihr gemeinsames "Mittel", den Menschen "ungefährlich, ihn schwach zu machen, ihn krank zu machen" (6,100,19-20), d.h. ihn zu "züchten" und zu "zähmen", kann für Nietzsche kein "moralisches" "Mittel" sein. Denn dahinter steht jedesmal ein "Nein" zum Leben, wie wir vielleicht ergänzen dürfen. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn Nietzsche die "Inder" gelegentlich als Beispiel für eine "absterbende Rasse" nennt (11,490,25) (zusammen mit den "Europäern von heute"), oder als Beispiel für "willensschwache Rassen", die eben daran "zu Grunde gehen" können (11,443,21-22). Das Wort "Rasse" erscheint in den herangezogenen Texten zumindest in zwei Bedeutungen: in den GD-Texten über das Manu-Gesetzbuch sind mit den vier "Rassen" ganz deutlich "Stände" gemeint, oder auch "Kasten" (ein Wort, das Nietzsche auch gelegentlich verwendet). Wenn er die "Inder" insgesamt als "absterbende Rasse" einstuft, meint "Rasse" jedoch "Volk". Durch die Begriffe "reines Blut" sowie "Züchtung" kommt eine dritte Komponente ins Spiel, die auf ein Rasse-Konzept im 'modernen' Sinn anspielt. Nietzsche stuft sie als "Gegensatz eines harmlosen Begriffs" ein. Nietzsche scheint also nicht ausschließen zu wollen, daß bei der 'arischen 'Humanität' des Manu auch solche Momente eine Rolle spielen könnten. Er für seine Person distanziert sich jedoch klar davon. In einem späteren Abschnitt wird noch deutlich werden, daß die Vorstellung einer "Ordnung der Kasten" auch in Nietzsches eigenem Denken durchaus eine Rolle spielt. Diese "Kasten" werden jedoch nicht durch "Züchtung" angestrebt. Griechen und Römer
Die Römer spielen im vorliegenden Zusammenhang keine besondere Rolle. Nur einmal werden sie erwähnt, wenn Nietzsche eine Einteilung der Völker in "männliche" "zeugende" und "weibliche", "sich befruchten lassende" vornimmt.
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Nietzsche spricht in diesem Text zwar nicht direkt von "männlich/weiblich", wohl aber von "Mann" und "Weib" (5,191,30-31), und er spielt damit deutlich auf die genannte Einteilung von Völkern an. Eine solche Einteilung war keineswegs neu, wenn auch die jeweiligen Zuteilungen nicht einheitlich waren. Bevor wir auf Nietzsches Text eingehen, werfen wir einen Blick auf diese Einteilungsversuche, wobei wir auch Autoren begegnen, die Nietzsche durchaus bekannt waren. Anschließend werden wir es vor allem mit den Griechen zu tun haben, die für Nietzsche an der Spitze der Kultur stehen (also nicht die "Arier" oder Inder). Hütten betont für die Deutschen ihre Männlichkeit, den Romanen wirft er "Verweiblichung" vor.130 Carlyle stellt in analoger Weise Germanen und Lateiner gegenüber131, Bismarck die Germanen den Kelten und Slawen.132 Otto Weininger kontrastiert Arier (männlich) gegenüber den weiblichen Semiten.133 Flourens sieht die Weißen als männlich, die Schwarzen als weiblich.134 Am breitesten wurde dieser Ansatz von G. Klemm (1802-67) in seiner "Allgemeinen Kulturgeschichte" (1843-52) ausgebaut. Klemm wollte Wissenschaftler, nicht Politiker sein. Er teilt die Menschheit ein in einen männlichen, aktiven Teil und in einen weiblichen, passiven. Beide sind gleich viel wert und neigen zur Verschmelzung. Eine Vervollkommnung der Menschen erfordert die Verschmelzung von aktiven und passiven Völkern. Daraus entsteht "Kultur". Leider hätten die aktiven Völker die passiven unterworfen. Die aktiven Völker zeichnen sich aus durch Freiheitsliebe, Mut und Wertbewußtsein. Ihr "Ideal" ist der Apollo von Belvedere. Zu den weiblichen Völkern gehören die Farbigen und die Slawen. Die Lateiner gehören jedoch zu den männlichen Völkern, auch wenn sie von den Germanen besiegt worden seien.135 Klemms zeitliches Schema sieht folgende Schritte vor: am Anfang steht eine weibliche, passive Bevölkerung, dann wandern aus dem Himalaya aktive
130 131 132 133 134 135
Poliakov 1979, 104. Poliakov 1979, 260. Ebenda. Ebenda. Poliakov 1979, 225. Poliakov 1979, 259-260.
Griechen und Römer
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Rassen ein und erobern die passiven Völker. Letztere sind, im Gegensatz zu den aktiven männlichen, nicht schöpferisch. Die männlichen Völker sind weniger zahlreich, zu ihnen zählt er die Griechen und Römer, Perser und Araber, sowie die Germanen. Die aktiven Völker bringen Denker, Forscher und Eroberer hervor.136 Klemm teilt die männlichen Völker dem "kaukasischen" Stamm zu, die weiblich-passiven dem "mongolischen".137 Ob Nietzsche Klemm gelesen hat, läßt sich (so weit ich sehe) nicht nachweisen. Mehrere Komponenten von Klemms Einteilungsvorschlag finden sich auch bei Nietzsche, der sie jedoch auch aus anderer Quelle bezogen haben kann, da Versuche dieser Art damals offenbar sehr verbreitet waren. Im 8. Hauptstück von JGB ("Völker und Vaterländer"), Aph. 248 (KSA 5, 191) nimmt Nietzsche folgende Zweiteilung von Völkern (siehe die Überschrift des 8. Hauptstücks) vor: "Es giebt zwei Arten des Genie's: eins, welches vor allem zeugt und zeugen will, und ein andres, welches sich gern befruchten läßt und gebiert. Und ebenso giebt es unter den genialen Völkern solche, denen das Weibsproblem der Schwangerschaft und die geheime Aufgabe des Gestaltens, Ausreifens, Vollendens zugefallen ist die Griechen zum Beispiel waren ein Volk dieser Art, insgleichen die Franzosen -; und andere, welche befruchten müssen und die Ursache neuer Ordnungen des Lebens werden, - gleich den Juden, den Römern und, in aller Bescheidenheit gefragt, den Deutschen?-" (5,191,15-24).
In Nietzsches Einteilung fallen zwei Besonderheiten auf: die Griechen werden unter die weiblichen Völker gezählt (anders z.B. Klemm), die Juden stehen an erster Stelle unter den männlichen Völkern (anders z.B. Weininger.)138 Nietzsche fährt dann fort: "Völker gequält und entzückt von unbekannten Fiebern und unwiderstehlich aus sich herausgedrängt, verliebt und lüstern nach fremden Rassen (nach solchen, welche sich 'befruchten lassen') - ..." (5, 191,24-7). Hier wird "Rassen" synonym mit "Völker" verwendet. Und dann heißt es:
136 137
138
Young 1968, 109-110, sowie Römer 1989, 28. Römer 1989, 20. Über weitere Einteilungsversuche berichtet Poliakov 1979, 207-208, wo auch die Beiträge der Romantiker zu dieser Frage erörtert werden. Willemsens (1996, 89) umgekehrte Zuteilung für Nietzsche (Griechen männlich, Juden weiblich) dürfte demnach kaum vertretbar sein.
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"Diese zwei Arten des Genie's suchen sich, wie Mann und Weib; aber sie mißverstehen auch einander,- wie Mann und Weib". (5,191,29-31).
Nietzsche gibt in diesem Text nicht nur eine Einteilung in "männliche" Völker (Juden, Römer, Deutsche) und "weibliche" (Griechen und Franzosen), wie er sie sieht, - er betont auch nachdrücklich das Aufeinanderangewiesensein dieser Völker. Sie "suchen sich", um "zeugend" sich zu "befruchten". Die am Textende angedeutete Spannung zwischen "Mann" und "Weib" ist erwünscht und wertvoll: sie dient der Verschmelzung der Völker und so, wie noch deutlicher wird, der Förderung der Kultur. Völker sollen also keineswegs getrennt und "rein" bleiben, das Gegenteil ist der Fall. "Fremde Rassen", d.h. Völker, werden nicht gemieden, sondern "verliebt" "gesucht". Mit der Herkunft der Griechen befaßt sich Nietzsche in zwei Texten eingehender. Im Nachlaß-Text KSA 8,96 (F/S 75: 5/198/) nimmt er schon für die "Urbevölkerung (des) griechischen Bodens" eine gemischte Bevölkerung an: "Urbevölkerung griechischen Bodens: mongolischer Abkunft mit Baum und Schlangenkult. Die Küste mit einem semitischen Streifen verbrämt. Hier und da Thrakier. Die Griechen haben alle diese Bestandtheile in ihr Blut aufgenommen, auch alle Götter und Mythen mit (in den Odysseusfabeln manches Mongolische). Die dorische Wanderung ist ein Nachstoß, nachdem schon früher alles allmählich überfluthet war." (8,96,5-12).
Im mongolischen Bestandteil könnte, folgt man der Einteilung von Klemm, das weibliche Element gesehen werden. Der semitische "Streifen" sowie der wohl als indoeuropäisch einzustufende thrakische Anteil stellen dann, Nietzsche zählt die Juden zu den männlichen Völkern, das männliche Element dar. Die Griechen wären dann, entgegen Nietzsches Darstellung im zuvor herangezogenen Text, kein 'rein' weibliches Volk, sondern - und das stellt ihren Reichtum und ihre Fruchtbarkeit dar - von vom herein ein 'Mischvolk'. Bemerkenswert ist, daß hier von einem 'arischen' Anteil, etwa sogar noch im Übergewicht, mit keinem Wort gesprochen wird. Vielmehr sind die Griechen, die für Nietzsches Auffassung von Kultur eine so große Rolle spielen, von vorn herein ein Volk der "Synthese" (eine für Nietzsche sehr wichtige Vorstellung, wie noch zu zeigen sein wird). Nietzsche weist daher auch im Folgenden die Vorstellung von "Rassegriechen" mit Nachdruck zurück:
Griechen und Römer
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"Was sind 'Rassegriechen'? Genügt es nicht anzunehmen, dass Italiker mit thrakischen und semitischen Elementen gepaart Griechen geworden sind?" (8,96,12-15). In dem Ausdruck "Rassegriechen" wird hier wohl angespielt auf eine gewisse Vorstellung von "Nicht-gemischt-sein", also von "Reinheit", jedoch, wie Nietzsches Ausführungen deutlich machen, von 'kultureller Reinheit'. Diese Vorstellung weist Nietzsche zurück. "Griechen" sind eine Synthese aus den genannten Elementen: sie sind nur als diese Synthese "Griechen". Das verleiht ihrer Kultur Reichtum und Spannung. Es ist sinnlos, nach "Rassegriechen", also etwa nach noch 'griechischeren' Griechen suchen zu wollen. In dem zweiten Text, der hier zu besprechen ist, scheint Nietzsche jedoch einiges von diesem 'souveränen' Standpunkt zurückzunehmen: 8,327: Sept. 76: 18/467. Die "Griechen" sind hier noch nicht mit den übrigen Bevölkerungen (mongolisch, semitisch und Thrazier) verschmolzen. Vielmehr müssen sie diese erst auf ihr Niveau heraufheben. Die Griechen waren genötigt, "vor Allem die Superiorität der Qualität festzuhalten und immer wieder zu erzeugen; damit übten sie ihren Zauber über die Massen aus. Das Gefühl, allein als höhere Wesen unter
einer
feindseligen
Überzahl es auszuhalten,
zwang sie
fortwährend zur höchsten geistigen Spannung" (8,327,7-11). Der zweite Text liesse sich mit dem ersten in Einklang bringen, wenn man annimmt, daß Nietzsche im zweiten Text eine zeitlich frühere Stufe des Werdens der Griechen ins Auge gefaßt hat. Die 'ursprünglichen' Griechen (Text II) sind die 'klassischen' Griechen geworden (Text I), indem sie die anderen Bevölkerungsanteile einerseits zu sich empor gezogen haben, sich jedoch andrerseits mit ihnen "gepaart" haben. Diese "Paarung" hat zugleich zu einer Bereicherung ihrer 'ursprünglichen' Kultur geführt.139 m einem Text der "Götzen-Dämmerung" (Streifzüge 47: KSA 6,148-9) heißt es über die Griechen:
13»
Vgl. vorher "Odysseusfabeln".
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"Die Griechen bleiben deshalb das erste Cultur-Ereigniss der Geschichte - sie wussten, sie thaten, was Noth that; das Christenthum, das den Leib verachtete, war bisher das größte Unglück der Menschheit.-" (6, 149,30-33). Der Titel des Textes lautet: "Die Schönheit kein Zufall.-" und Nietzsche deutet in diesem Text an, wie die Griechen zu dem "ersten Cultur-Ereigniss" geworden sind: "Auch die Schönheit einer Rasse oder Familie, ihre Anmuth und Güte in allen Gebärden wird erarbeitet: sie ist, gleich dem Genie, das Schlußergebniss der accumulirten Arbeit von Geschlechtem." (6,148,27-30). Die "Arbeit", durch die "Schönheit" erreicht wird, besteht in Folgendem: "Man muß dem guten Geschmacke große Opfer gebracht haben, man muß um seinetwillen Vieles gethan, Vieles gelassen haben - das siebzehnte Jahrhundert Frankreichs ist bewunderungswürdig in Beidem -, man muß in ihm ein Princip der Wahl, für Gesellschaft, Ort, Kleidung, Geschlechtsbefriedigung gehabt haben, man muß Schönheit dem Vortheil, der Gewohnheit, der Meinung, der Trägheit vorgezogen haben. Oberste Richtschnur: man muss sich auch vor sich selber nicht "gehen lassen". -" (6,148,30149,8). Diese "Schönheit" kann erst durch die "Arbeit" mehrerer Geschlechter erreicht werden. Cicero konnte in Athen die Früchte dieser "Arbeit" bewundern: "In Athen waren zur Zeit Cicero's, der darüber seine Überraschung ausdrückt, die Männer und Jünglinge bei weitem den Frauen an Schönheit überlegen: aber welche Arbeit und Anstrengung im Dienste der Schönheit hatte daselbst das männliche Geschlecht seit Jahrhunderten von sich verlangt!" (6,149,12-6). Nietzsche geht dann noch näher auf die dafür notwendige "Methodik" ein: "Man soll sich nämlich über die Methodik hier nicht vergreifen: eine blosse Zucht von Gefühlen und Gedanken ist beinahe Null...: man muß den Leib zuerst überreden. Die strenge Aufrechterhaltung bedeutender und gewählter Gebärden, eine Verbindlichkeit, nur mit Menschen zu leben, die sich nicht 'gehen lassen', genügt vollkommen, um bedeutend und gewählt zu werden: in zwei, drei Geschlechtem ist bereits Alles verinnerlicht." (6,149,16-25). Es geht also um eine 'Bildung' zur Vornehmheit, die bei dem 'Leib' beginnen muß! Diesen ließ die "deutsche Bildung" außer acht, so daß ihre Bemühungen "illusorisch" bleiben mußten (6,149,19). Eine solche Bildung muß also an der "rechten Stelle" ansetzen: "Es ist entscheidend über das Loos von Volk und Menschheit, daß man die Cultur an der rechten Stelle beginnt - nicht an der 'Seele' (wie es der verhängnissvolle Aberglaube der Priester... war): die rechte Stelle ist der Leib, die Gebärde, die Diät, die Physiologie, der Rest folgt daraus..." (6,149,25-30). Die Griechen waren hierin wegweisend und darum bleiben sie "das erste Cultur-Ereigniss der Geschichte..." (6, 149,30-1).
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Das Christenthum hingegen hat den "Leib" "verachtet", und darum "war (es) bisher das größte Unglück der Menschheit". (6,149,33). Im vorliegenden Text skizziert Nietzsche seine Auffassung des griechischen Bildungskonzepts. Dieses ist für ihn wegweisend für "Volk und Menschheit" (6,149,25-6). Wenn er also zu Beginn des Textes von der "Schönheit einer Rasse oder Familie" spricht, so dürfte auch damit "Volk und Menschheit" gemeint sein. "Rasse" steht demnach hier für "Volk" und vielleicht auch "Menschheit", ein damals durchaus üblicher Sprachgebrauch. Wenn Nietzsche die Rolle des "Leibes" so sehr betont und sogar Diätgesichtspunkte als äußerst wichtig herausstellt, so zielt dies sicher vor allem auf die Erhaltung des gesunden Leibes, der allein Ausgangspunkt für Bildung im griechischen Sinne sein kann. Es wird dabei keineswegs an eine "Züchtung" des Leibes gedacht. "Griechische Bildung" ist nur durch "Arbeit" im oben angedeuteten Sinn erreichbar, auf der Grundlage eines gesunden Leibes. In einem weiteren Text der "Götzen-Dämmerung" ("Was ich den Alten verdanke" 3: KSA 6,157) wird das Zustandekommen der griechischen Bildung weiter erörtert und gegen die Kritik der Philosophen verteidigt. Die Griechen seien keine "schönen Seelen" und "goldne Mitten". Vielmehr seien ihre "Institutionen" gewachsen "aus Schutzmaassregeln, um sich vor einander gegen ihren inwendigen Explosivstoff sicher zu stellen. Die ungeheure Spannung im Innern entlud sich dann in furchtbarer... Feindschaft nach Aussen: ... Man hatte es nöthig, stark zu sein: die Gefahr war in der Nähe... Die prachtvoll geschmeidige Leiblichkeit, der verwegene Realismus und Immoralismus, der dem Hellenen eignet, ist eine Noth, nicht eine 'Natur' gewesen. Er folgte erst, er war nicht von Anfang an da..." (6,157,2-22).
Es sei unangebracht, die "Griechen auf deutsche Manier nach ihren Philosophen zu beurtheilen, etwa die Biedermännerei der sokratischen Schulen zu Aufschlüssen darüber benutzen, was im Grunde hellenisch sei! ..." (6,157,225). Denn: "Die Philosophen sind ja die decadents des Griechenthums, die Gegenbewegung gegen den alten, den vornehmen Geschmack" (6,157,22-7). Und nun gibt Nietzsche in Stichworten eine Erläuterung dazu, was er hier unter "vornehmem Geschmack" versteht: die Philosophen sind "gegen den agonalen Instinkt, gegen die Polis, gegen den Werth der Rasse, gegen die Autorität des Herkommens" (6,157,27-9). "Hellenisch" ist also nach Auf-
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fassung Nietzsches der "alte, vornehme Geschmack", der "agonale Instinkt", die Wertschätzung der "Polis", der "Rasse", der "Autorität des Herkommens", sowie die "prachtvolle Leiblichkeit" und der "verwegene Realismus und Immoralismus", nicht jedoch die von den decadents-Philosophen gepredigten "sokratischen Tugenden" (6,157,29). Diese 'vorsokratischen' "hellenischen" 'Tugenden' waren den Griechen nicht von 'Natur' eigen, sondern sie waren erworben zum Zwecke der Selbstbehauptung gegen eine gefahrvolle Umgebung. Das Wort "Rasse" steht in diesem Text in ganz enger Verbindung mit dem "vornehmen Geschmack" als dem Ziel griechischer Bildung. Es könnte also hinzielen auf den Stand der "Vornehmen", die durch die oben genannten Merkmale gekennzeichnet sind: "agonaler Instinkt" usw. Die "Rasse" der Vornehmen, die gekennzeichnet ist durch "vornehmen Geschmack", ist demnach ein zentrales Anliegen der griechischen Bildung. Sie ist nicht von 'Natur' da. Sie wird erworben und, wie der vorhergehende Text deutlich machte, "erarbeitet". In einem Nachlaß-Text (KSA 8,60: F/S 75: 5/727) wird die "griechische Cultur" als "Herrschafts-Verhälmiss" thematisiert: "Die griechische Cultur ruht auf dem Herrschafts-Verhältniss einer wenig zahlreichen Classe gegen 4-5mal so viele Unfreie. Der Masse nach war Griechenland ein von Barbaren bewohntes Land. Wie kann man die Alten nur human finden!" (8,60,21-24). Hier könnte man an Platos Beschreibung des griechischen Staates denken, der nach Auffassung von Pierart "fondamentalement bipartite" ist.140 In diesem Sinne stellt Nietzsche auch im Folgenden zwei "Klassen" gegenüber: "Gegensatz des Genie's gegen den Broderwerber, das halbe Zug- und Lastthier. Die Griechen glaubten an eine Verschiedenheit der Rasse" (8,60,25-7). Hier spielt Nietzsche sicherlich auf Platos "Gesetze" an, aber auch andere griechische Philosophen glaubten an eine Klassengesellschaft, d.h. an eine ständische Ordnung des Staates.141 Nur Schopenhauer scheint, nach Nietzsches Auffassung, daran Zweifel zu haben. Es heißt in unserem Text:
140 141
Pierart 1974, 50. Pierart 1974, 49.
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"Schopenhauer wundert sich, daß es der Natur nicht beliebt habe, zwei getrennte Species zu erfinden" (6,80, 27-8).142
Aus den Erörterungen des vorliegenden Abschnitts ergeben sich für das Wort "Rasse" drei Bedeutungen: 1. "Volk"; 2. "sozialer Stand allg."; 3. "dieVornehmen". Bei dem Wort "Rassegriechen" könnte eine gewisse "Reinheitskomponente" mitspielen. Es könnte aber auch zu Bedeutung 3 ("die Vornehmen") gerechnet werden. Der oberste Rang der "Vornehmen" wird durch "Arbeit " (in Nietzsches Sinn) erworben.
Die Juden "Welche Wohlthat ist ein Jude unter Deutschen!" (KSA 13,456,16-7: F 88: 15/80)
Diese Äußerung kann als Motto über diesen Abschnitt gesetzt werden. Sie findet sich fast wörtlich noch mehrmals bei Nietzsche: 13,580,21-2: H 88: 21/67 sowie 13,619,14-5: Okt./Nov. 88. Werfen wir zunächst wieder einen Blick auf die Äußerungen zur Genealogie der Juden, die im 18./19. Jahrhundert gemacht wurden. Allgemein kann gesagt werden, daß die Juden bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts ohne Vorbehalte zur "weißen Rasse" gerechnet wurden. Erst in der zweiten Hälfte gibt es Versuche, die Juden als selbständige Rasse hinzustellen, was dann später als Grundlage für eine Diskriminierung herhalten mußte. Auch Michelet betrachtete die Juden als "reine Rasse", wohl ohne zu ahnen, daß gerade daraus den Juden später Probleme erwachsen könnten.143 Aus den sehr verwickelten Erörterungen, über die Römer eingehend berichtet, wollen wir hier nur einige Punkte hervorheben.144 In "Meyers Lexikon" (1852) werden die Juden, wie schon 1848 bei Kriegk, zu der 142 143 144
Dazu KSA-Kommentar 562. Poliakov 1979, 231. Römer 1989, 171-172.
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"schönen und geistig am höchsten stehenden kaukasischen Rasse" gerechnet. Die Kaukasier gelten als gemeinsames Ursprungsland für Semiten und Indoeuropäer. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts setzen dann die Abgrenzungsversuche ein. Römer sieht hier einen "religiösen und völkischen Anti-Judaismus" am Werk.145 Diskutiert wurde die Frage, ob die Juden "physiognomisch" und "physisch" so einheitlich seien, daß von einer eigenen Rasse gesprochen werden könne. Viele Forscher kamen jedoch zu der Ansicht, daß davon keine Rede sein könne. Feist, der es ablehnte, von einer jüdischen Rasse zu sprechen, vertrat die Ansicht, der "jüdische Typ" sei ausschließlich kulturell bedingt, und zwar durch das Leben im Ghetto; dieser Typ verschwinde bei geänderten Lebensbedingungen.146 Wir haben oben schon gesehen, daß auch Virchow die These einer speziellen jüdischen Rasse ablehnt. Auch Kautsky vertritt die These der kulturellen Bedingtheit des jüdischen Erscheinungsbildes.147 Robert Knox, ein englischer Arzt, vertrat hingegen die These, die Juden stellten eine eigene Rasse dar. Die "Rasse" war für ihn der entscheidende Faktor der Geschichte. Als begabteste Rassen galten ihm die Goten und die Slawen. Die Juden stufte er als "unfruchtbare Parasiten" ein. Gemäß Poliakov bekam Knox Beifall von Seiten Darwins.148 Die Vertreter der "Rassenthese" mußten natürlich Probleme bekommen bei der Frage nach der Herkunft von Jesus. Sie lösten das Problem, indem sie Jesus' jüdische Herkunft bestritten: so Fichte, Wagner und schließlich Chamberlain. Wagner stützte sich dabei auf C. Frantz (1817-91) und Paul de Lagarde.149 Bei F. Döllinger wurde Jesus sogar zu einem "blonden Helden", also einem Germanen. Für diese These begeisterte sich auch Wilhelm der Zweite, der Chamberlain auf Döllingers 'Forschungen' hinwies.150 Bei Nietzsche finden wir nichts von diesen Abstrusitäten. Der Name Paul de Lagardes erscheint bei ihm ledigüch in der langen Reihe der von ihm bekämpften Antisemiten. Wiederholt unterstreicht Nietzsche die Zusammengehörigkeit von
145 146 147 I4S 149 150
Römer 1989, 171. Römer 1989, 172 und Aschheim 1992, 110. Vgl. Laqueur 1975, 437. Poliakov 1979, 238. Zu Frantz und Lagarde vgl. im Namensregister. Poliakov 1979, 124, 128, 315, 321 sowie 408, Anm. 254.
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Indoeuropäern und Semiten (wie oben schon deutlich wurde), was gegen die Annahme einer eigenen jüdischen Rasse spricht. Die Juden erscheinen bei Nietzsche als ein Volk mit eigener Geschichte, Kultur, Tradition und Religion.151 Er zählt sie, mit den Römern, zu den 'männlichen' Völkern, die 'neue Ordnungen' schaffen, was als hohes Lob zu betrachten ist. Von einem spezifischen äußeren Erscheinungsbild 'der Juden' ist bei Nietzsche so gut wie nie die Rede. Nur einmal nimmt er - ironisch - auf die angeblich 'krumme Nase' der Juden Bezug, wie wir gleich noch sehen werden. Juden haben kein spezifisch jüdisches Aussehen! Nietzsche unterscheidet bei den Juden zwischen den Juden des Alten Testaments und den christlich gewordenen Juden des Neuen Testaments. Gelegentlich geht eine soziale Unterscheidung damit Hand in Hand, so wenn er einerseits von der "herrschenden Classe" des Alten Testaments spricht (13,179,28), und den "kleinen Leuten der Diaspora" (12,564 und 12,508), die das Christentum verbreiten. Von den 'alten' Juden spricht er immer mit einer gewissen Bewunderung, aber auch für die "kleinen Leute der Diaspora" kann er sich gelegentlich erwärmen, so wenn es heißt: "Wenn das Christenthum etwas Wesentliches in psychologischer Hinsicht gethan hat, so ist es eine Erhöhung der Temperatur der Seele bei jenen kälteren und vornehmeren Rassen, die damals obenauf waren; es war die Entdeckung, daß das elendste Leben reich und unschätzbar werden kann durch eine TemperaturErhöhung..." (12,564,31-564,4).
Es empfiehlt sich, diese Unterscheidungen zu beachten, denn Nietzsche spricht gelegentlich von "Juden", wenn er nur die Christen meint. Das kann dann u.U. zu Mißverständnissen fuhren. So wenn er z.B. in der "Genealogie der Moral" die Frage stellt, ob "Rom oder Judäa": einstweilen "gesiegt hat" (5, 287,1). Hier sind mit "Judäa" (nur) die Christen gemeint, wie aus dem weiteren Text hervorgeht, wo aber immer noch von "Juden" die Rede ist: Rom habe sich "vor drei Juden" gebeugt und "Einer Jüdin": es geht um Petrus, Paulus, Jesus und Maria (5,287,2-9).152 Besonders verfänglich ist hierbei das 151 152
Dazu auch eingehender Santaniello 1994. Dazu der Hinweis in Anm. 99.
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Wort "verjüdeln", das zugleich ein antisemitisches Kampfwort der Zeit war, so bei E. Dühring und anderen. Dort meinte es aber tatsächlich die Juden des alten Testaments, also die Juden im engeren Sinn.153 Bei Nietzsche ist dieses Wort jedoch 'umgewertet', es ist immer auf die christliche Religion bezogen: KSA 3,486, 10-13: "Sünde ist ein jüdisches Gefühl... und in Hinsicht auf diesen Hintergrund aller christlichen Moral war in der That das Christenthum darauf aus, die Welt zu 'verjüdeln"1. KSA 5,269,32 f: "Die 'Erlösung' des Menschengeschlechts (nämlich von den 'Herren') ist auf dem besten Wege: Alles verjüdelt oder verchristlicht oder verpöbelt sich zusehends (was liegt an den Worten!)". Hier sind demnach "verjüdelt" und "verchristlicht" synonym. KSA 13,625,4f: "Zuletzt geht mein Mißtrauen in die Tiefe bei Plato: ich finde ihn so abgeirrt von allen Grundinstinkten des Hellenen, so verjüdelt, so präexistentchristlich in seinen letzten Absichten..." Es gibt bei Nietzsche in der Tat einen Text, in dem er selbst von der "Umwerthung des Begriffs 'Jude'" spricht: KSA 13,585: Sept./Okt. 88: 22/47: "Paulus: er sucht Macht gegen das regierende Judenthum, - seine Bewegung ist zu schwach... Umwerthung des Begriffs 'Jude': die 'Rasse' wird bei Seite gethan -: aber das hieß das Fundament negiren: der 'Märtyrer', der Fanatiker, der Werth alles starken Glaubens..." (13,585,11-15). Paulus spaltet die Juden: er reißt eine "Kluft" zwischen "Juden" und "JudenChristen" auf, wie es im "Antichrist" heißt, was dazu führte, daß Juden sich gegen sich selbst richteten (6,220,33): "sobald einmal die Kluft zwischen Juden und Juden-Christen sich aufriß, blieb letzteren gar keine Wahl, als dieselben Prozeduren der Selbsterhaltung, die der jüdische Instinkt anrieth, gegen die Juden selber anzuwenden, während die Juden sie bisher bloß gegen alles NichtJüdische angewendet hatten. Der Christ ist nur ein Jude 'freieren' Bekenntnisses. -" (6,220,33-221,5). Trotz dieser Nähe von Juden und Juden-Christen besteht dennoch ein großer Unterschied zwischen beiden: die Juden des Alten Testaments stellten das "regierende Judenthum", die "Rasse" dar (13,585,11-13), das "Fundament" des Judentums, das nunmehr von den Juden-Christen "bei Seite gethan" und "negirt" wird (13,585,13-14). Es ist bekannt, daß Nietzsche diese "Um-
153
Zu "verjüdeln" bei den Antisemiten vgl Cobet 1973, 84.
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werthung des Begriffs 'Jude'" weitgehend ablehnt, und es ist nur konsequent, wenn er stets zwischen Juden und Juden-Christen unterscheidet. Dies heißt aber nicht, daß er nicht auch in der christlichen Religion einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung der europäischen Kultur sieht, wie oben schon angedeutet wurde. Im Text KSA 13,585: 22/47 erscheint auch das Wort "Rasse": es steht dort für "das regierende Judenthum" des Alten Testaments. Es hat also deutlich eine 'ständische' Komponente: es zielt ab auf die 'vornehme' Schicht der "regierenden" Juden im Unterschied zu den "kleinen Leuten der Diaspora", denen das Christentum seine Verbreitung verdankt. "Rasse" meint hier also die vornehme Schicht/Kaste. Diese Bedeutungsvariante von "Rasse" war uns auch schon im Griechen-Kontext begegnet. Auf das Wort "Rasse" ist gleich noch weiter einzugehen. Wie sehr Nietzsche das Alte Testament dem Neuen vorzieht, möge aus dem folgenden Textstück hervorgehen ("Genealogie der Moral": asketische Ideale: 22: KSA 5,393,24-33): "Das alte Testament - ja das ist etwas ganz Anderes: alle Achtung vor dem alten Testament! In ihm finde ich große Menschen, eine heroische Landschaft und Etwas vom Allerseltensten auf Erden, die unvergleichliche Naivetät des starken Herzens; mehr noch, ich finde ein Volk. Im neuen (Testament) dagegen lauter kleine SektenWirthschaft, lauter Rokoko der Seele, lauter Verschnörkeltes, Winkliges... nicht zu vergessen einen gelegentlichen Hauch bukolischer Süßlichkeit, welcher der Epoche (und der römischen Provinz) angehört und nicht sowohl jüdisch als hellenisch ist." Über das Volk Israel und seinen Gott heißt es im Nachlaß (KSA 13,523: Mai/Juni 88: 17/47): "Ein Volk, das noch an sich selbst glaubt, hat auch seinen Gott noch. In ihm verehrt es die Bedingungen, durch die es obenauf ist,- es projicirt seine Lust an sich, sein Machtgefühl in ein Wesen, dem man dafür danken kann. Religion, innerhalb solcher Voraussetzungen, ist eine Form der Dankbarkeit. Ein solcher Gott muß nutzen und schaden können, muß Freund und Feind sein können: die widernatürliche Castration eines Gottes zu einem Gott des Guten kommt diesen starken Realisten nicht in den Sinn... Wenn ein Volk zu Grunde geht; wenn es den Glauben an seine Zukunft, an Freiheit und Übermacht schwinden fühlt... dann freilich ändert sich auch sein Gott. Er wird Duckmäuser, furchtsam, bescheiden, räth zum 'Frieden der Seele'..." (13, 523,4-21).
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Von diesem Text aus können wir nochmals auf die Frage zurückkommen, was das Wort "Rasse" in Bezug auf die Juden bedeuten könnte. Oben ist von einem Gott die Rede, der "nutzen und schaden können muß". Diese Vorstellung findet sich auch in dem folgenden Text (KSA 13,112: Nov. 87/März 88: 11/2877): "In den Begriff der Macht, sei es eines Gottes, sei es eines Menschen, ist immer zugleich die Fähigkeit zu nützen und die Fähigkeit zu schaden eingerechnet. So bei den Arabern; so bei den Hebräern. So bei allen stark gerathenen Rassen." (13,112,12-15). Der hier beschriebene Begriff der "Macht" ("nutzen und schaden können", im obigen Text dem israelischen Gott zugeschrieben) wird hier "allen stark gerathenen Rassen" zugelegt. An Stelle des hier verwendeten Wortes "Rasse" steht im vorhergehenden Text "Volk": nichts hindert uns also daran anzunehmen, daß hier "Rasse" synonym mit "Volk" im vorhergehenden Text ist. Nietzsche stützt sich bei diesen Ausführungen übrigens auf J. Wellhausen, den er z.T. wörtlich zitiert.154 Man erinnere sich auch an den kurz vorher zitierten Text über das alte Testament, wo Nietzsche ausdrücklich betont: "Ich finde in ihm (dem AT)... Etwas vom Allerseltensten auf Erden, die unvergleichliche Naivetät des starken Herzens; mehr noch, ich finde ein Volk' (5,393, 15-8. Hervorhebung GS). Damit wird auch etwas deutlicher, was das Wort "stark" in der Formulierung "stark gerathene Rassen" bedeuten könnte: es zielt zunächst einmal auf die "Naivetät des starken Herzens". Dieses eignet einem Volk, "das noch an sich selbst glaubt", wie es im zitierten Text (KSA 13,523) heißt. Ein weiterer Aspekt des "Starkseins" wird aus der folgenden Textstelle deutlich (KSA 5,193,23-30): "Die Juden sind aber ohne allen Zweifel die stärkste, zäheste und reinste Rasse, die jetzt in Europa lebt; sie verstehen es, selbst noch unter den schlimmsten Bedingungen sich durchzusetzen (besser sogar, als unter günstigen), vermöge irgend welcher Tugenden, die man heute gem zu Lastern stempeln möchte, - Dank, vor allem, einem resoluten Glauben, der sich vor den 'modernen Ideen' nicht zu schämen braucht..."
154
Vgl. KSA-Kommentai 755 zu H/287/.
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Die Juden sind also auch "stark" dank ihrem "resoluten Glauben", der sie zu "zäher" Selbstbehauptung auch unter "schlimmsten Bedingungen" befähigt. Das Wort "rein" könnte auf die "reine" Bewahrung eben dieses Glaubens zielen, der sich durch die "modernen Ideen" nicht beirren läßt. Wir werden noch sehen, daß im 19. Jahrhundert etwa auch von der "Reinheit" der Kultur im Sinne der Bewahrung der Tradition gesprochen wurde. Etwas später im gleichen Text bezeichnet Nietzsche die Juden sogar als ein "aere perennius" (5,194,9). An zwei weiteren Stellen stuft er sie als die "älteste und reinste Rasse ein" (11,74,7 und 11.569,24), was dann im angedeuteten Sinn zu interpretieren wäre. In einem weiteren Text wird noch einmal ausführlicher erörtert, warum die Juden in Europa "die stärkste Rasse" sind (KSA 13,532-3: Juli/Äug. 88: 18/3/): "Eine Rasse, die nicht zu Grunde gegangen ist, ist eine Rasse, die immerfort gewachsen ist. Wachsen heißt vollkommen werden. Die Dauer im Dasein einer Rasse entscheidet mit Nothwendigkeit über die Höhe ihrer Entwicklung: die älteste muß die höchste sein, - Die Juden sind im unbedingten Sinn gescheut (gescheit); einem Juden zu begegnen kann eine Wohlthat sein." (13,532, 11-17).
Die Juden sind also nach Nietzsches Auffassung das älteste, stärkste und dank ihrem unbeirrbaren Glauben, das reinste Volk in Europa! In Preußen jedoch werden die Juden, nach Nietzsches Einschätzung, nicht genügend gewürdigt (KSA 11,568-9: Juni/Juli 85: 36/427): "Die preußischen Juden würden, wenn allein Geist, Fleiß und Anstelligkeit in Betracht kämen, bereits im Besitz der höheren Staats-Beamtungen, besonders im Verwaltungs-Fache sein: kurz, sie würden die 'Macht' auch in den Händen haben (wie sie dieselbe schon - nach vielfachen Zeugnissen zu schließen - 'in der Tasche' haben). Das was sie davon ausschließt, ist ihre Unfähigkeit, die Macht zu repräsentiren. Die Juden sind selbst in ihrem Vaterlande keine herrschende Kaste gewesen: ihr Auge überzeugt nicht, ihre Zunge läuft leicht zu geschwinde und überschlägt sich dabei, ihr Zorn versteht sich nicht auf das tiefe ehrliche LöwenGebrüll, ihr Magen hält großen Gelagen, ihr Verstand starken Weinen nicht Stand..." (ll,568,6-17). "Wenn die Juden vielfach als untauglich zur Richter-Würde empfunden werden, so ist damit nicht ihre Moralität, sondern nur ihre Unsicherheit, diese Moralität 201 repräsentiren, verurtheilt." (11,568,23-6).
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Kulturelle Unterschiede stehen also der angemessenen Einbeziehung der Juden in die preußische Gesellschaft im Wege. Die Juden waren "niemals eine ritterliche Rasse", wie Nietzsche hervorhebt: sie konnten nicht so elegant ein Pferd besteigen, wie die Preußen (11,568,20-23). Dies alles führte nun, nach Nietzsches Ansicht, zu einer Herabsetzung der Juden in Preußen: "Nun ergiebt sich hieraus sofort, daß der Jude Preußens eine herabgebrachte und verkümmerte Art von Jude sein muß: denn an sich versteht der Orientale das Repräsentiren unvergleichlich viel besser als etwa ein Norddeutscher: Delacroix. Diese Entartung des Juden hängt mit einem falschen Clima und der Nachbarschaft mit unschönen und gedrückten Slaven Ungarn und Deutschen zusammen: unter Portugiesen und Mauren bewahrt sich die höhere Rasse des Juden/ja im Ganzen ist vielleicht die Feierlichkeit des Tod(es) und eine Art von Heiligung der Leidenschaft auf Erden bisher noch nicht schöner dargestellt worden als von gewissen Juden des alten Testaments: bei denen härten auch die Griechen in die Schule gehen können!" (11,568,26-569,7).
Die Juden Preußens sind also "herabgebracht" und "verkümmert", wobei ein "falsches Clima" und die Nachbarschaft mit "unschönen und gedrückten" Völkern eine Rolle spielen. Diese Ausführungen entsprechen Nietzsches "Rasse"-Konzept, wie wir es vorn kennengelernt haben: der "Charakter" eines Volkes wird in starkem Masse bestimmt durch die "Umgebung", hier "das falsche Clima" und die "unschönen und gedrückten" Nachbarn. Das Wort "unschön" bezieht sich dabei, ebenso wie "gedrückt", nicht auf das Äußere, sondern auf den "Charakter" und auf die politischen Zustände der genannten Völker. Wenn Nietzsche hier sogar von der "Entartung des Juden" spricht, so sind damit eben jene Sachverhalte gemeint: in Preußen haben die Juden ihre "höhere Rasse" eingebüßt, die sie unter günstigeren Bedingungen, z.B. "unter den Portugiesen und Mauren", bewahrt haben. Als "Orientalen" verstanden sie sich auf das "Repräsentiren11, ebenso wie sie es "unter den Portugiesen und Mauren" noch verstehen, erst in ihrer Rolle als preußische 'Untertanen' ist ihnen diese Fähigkeit abhanden gekommen. Die "Entartung des Juden" in Preußen ist also nicht zuletzt auch sozial, gesellschaftlich bedingt. Die Juden in Preußen sind ihrer wahren Art entfremdet worden, ihrer "höheren Rasse", wie er mit einem Hinweis auf das alte Testament veranschaulicht: nie wurde die "Heiligung der Leidenschaft auf Erden" "schöner" dargestellt als im alten
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Testament. Nie wurde, auch angesichts des Todes, "schöner" JA gesagt zum Leben als bei den alten Juden. Die "höhere Rasse des Juden" meint also hier nichts anderes als das jüdische Volk des alten Testaments, ein Volk, bei dem auch die Griechen "in die Schule" hätten gehen können. Europa und insbesondere die Deutschen haben den Juden sehr viel zu verdanken. Der "deutsche Geist", "wenn es endlich doch so etwas geben sollte", sei "erst durch Entdeutschung, ich meine durch Mischung mit ausländischem Blut ermöglicht worden". "Wer rechnet nach, was den Slaven oder den Kelten oder den Juden für die Vergeistigung Deutschlands alles verdankt wird!" (KSA 11, 702,26-30). Durch Herausarbeitung der Logik haben die Juden Europa und den Deutschen zu "reinlicheren Kopfgewohnheiten" verhelfen. Dazu heißt es in der "Fröhlichen Wissenschaft" (KSA 3,584,24f): "Ein Jude umgekehrt ist, gemäß dem Geschäftskreis und der Vergangenheit seines Volkes, gerade daran - daß man ihm glaubt - am wenigsten gewöhnt: man sehe sich darauf die jüdischen Gelehrten an,- sie Alle halten große Stücke auf die Logik, das heißt auf das Erzwingen der Zustimmung durch Gründe; sie wissen, daß sie mit ihr siegen müssen, selbst wo Rassen- und Classen-Widerwille gegen sie vorhanden ist, wo man ihnen ungern glaubt. Nichts nämlich ist demokratischer als die Logik: sie kennt kein Ansehn der Person und nimmt auch die krummen Nasen für gerade. (Nebenbei bemerkt: Europa ist gerade in Hinsicht auf Logisirung, auf reinlichere Kopfgewohnheiten den Juden nicht wenig Dank schuldig; voran die Deutschen, als eine beklagenswerth deraisonnable Rasse, der man auch heute immer noch zuerst 'den Kopf zu waschen' hat. Überall wo Juden zu Einfluß gekommen sind, haben sie ferner zu scheiden, schärfer zu folgern, heller und sauberer zu schreiben gelehrt: ihre Aufgabe war es immer, ein Volk 'zur Raison' zu bringen." (3,584,24-585,7).
Hier wird genauer erläutert, wie der "deutsche Geist" durch die jüdische Schulung "zur Raison" gebracht wurde, wie die "deraisonnable Rasse" "schärfer folgern", "heller und sauberer schreiben" lernte. "Rasse" steht in diesem Text einmal für "Volk", denn es wird abwechselnd mit "Volk" verwendet. Zum ändern kommt auch die 'ständische' Komponente zum Tragen, wenn von "Classen- und Rassen-Widerwille" gegen die Juden die Rede ist. Bemerkenswert ist die Hervorhebung der "demokratischen" Komponente der Logik: sie ebnet die sozialen Unterschiede ein: gute "Gründe" gelten für alle, "ohne Ansehn der Person". Durch sie werden auch "krumme Nasen" gerade gemacht, womit Nietzsche hier spöttisch auf die angeblich krummen Nasen der Juden anspielt. Die Juden sind durch ihr "Zustimmung"
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erzwingendes logisches Denken auf spezifische Weise "demokratisch", denn ihr Denken ist nicht "Classen"-gebunden. Diese "reinlicheren Kopfgewohnheiten" können die Deutschen und das um Demokratie ringende Europa von den Juden lernen.155 In einem Brief an den antisemitischen Verleger Theodor Fritsch hat Nietzsche noch einmal generell auf den wichtigen Beitrag der Juden zur deutschen Kultur hingewiesen (KSB 8,45-46, Brief vom 23-3-87): Es heißt unter anderem: "Die Juden sind mir, objektiv geredet, interessanter als die Deutschen: ihre Geschichte giebt viel grundsätzlichere Probleme auf. Sympathie und Antipathie bin ich gewohnt bei so ernsten Angelegenheiten aus dem Spiele zu lassen: wie dies zur Zucht und Moralität des wissenschaftlichen Geistes und - schließlich - selbst zu seinem Geschmack gehört. Ich gestehe übrigens, daß ich mich dem jetzigen "deutschen Geiste" zu fremd fühle, um seinen einzelnen Idiosynkrasien ohne viel Ungeduld zusehen zu können. Zu diesen rechne ich in Sonderheit den Antisemitismus. Der auf S. 6 Ihres geschätzten Blattes [gemeint ist Fritschs "Antisemitische Correspondenz"156] gerühmten 'klassischen Litteratur' dieser Bewegung verdanke ich sogar manche Erheiterung: oh wenn Sie wüßten, was ich zum vorigen Frühling über die Bücher jenes ebenso gespreizten als sentimentalen Querkopfs, der Paul de Lagarde heißt, gelacht habe! Es fehlt mir offenbar jener 'höchste ethische Standpunkt', von dem auf jener Seite die Rede ist. Es bleibt nur übrig, Ihnen für die wohlwollende Voraussetzung zu danken, daß ich nicht 'durch irgend eine gesellschaftliche Rücksichtnahme zu meinen schiefen Urtheilen verführt' bin; und vielleicht dient es zu Ihrer Beruhigung, wenn ich zuletzt noch sage, daß ich unter meinen Freunden keinen Juden habe. Allerdings auch keine Antisemiten... Ein Wunsch: geben Sie doch eine Liste deutscher Gelehrter, Künstler, Dichter, Schriftsteller, Schauspieler und Virtuosen von jüdischer Abkunft oder Herkunft heraus! (Es wäre ein werthvoller Beitrag zur Geschichte der deutschen Cultur (auch zu deren Kritik^." (KSB 8,45-46). Wenn Nietzsche hier schreibt, daß er "unter seinen Freunden keinen Juden habe", so will er damit vielleicht sagen, daß er in diesem Zeitpunkt (Frühjahr 1887) keine jüdischen Freunde mehr hatte, denn die Beziehung mit Paul Ree
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Das Wort "demokratisch" wird hier von Nietzsche in einer neuen, umgewerteten Bedeutung verwendet. Es zielt hier nicht auf eine 'mittlere' Schicht (die "Mittelmässigen"), die nach seiner Auffassung in einer Demokratie den Ton angibt, sondern auf den Menschen als "animal rationale", der in allen Ständen begegnen kann. Dazu im Namensregister.
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war durch die Lou-Affäre abgekühlt, und die Bekanntschaft mit Georg Brandes war noch nicht zu einer Freundschaft gediehen. Gerade von der neuen Bekanntschaft mit Brandes versprach sich Nietzsche aber sehr viel. Brandes hatte als erster Vorlesungen über Nietzsches Philosophie gehalten und von Brandes, mit dem er längere Zeit Briefe wechselte, fühlte er sich erstmals verstanden und er lobt dessen Mut: "Er gehört zu jenen internationalen Juden, die einen wahren Teufels-Muth im Leibe haben" (KSB 8,399: Aug. 88 an Fuchs). Und im "Ecce homo" heißt es über Brandes: ein Jude habe für ihn mehr "Zeichen von Takt" gezeigt als die Deutschen (KSA 6, 363,5). Auch fur Miss Helen Zimmern findet er Worte des höchsten Lobes. Sie hat seine Schrift "Schopenhauer als Erzieher" ins Englische übersetzt. An Köselitz schreibt er: "Natürlich Jüdin. Es ist toll, wie sehr diese Rasse jetzt die "Geistigkeit" in Europa in den Händen hat" (KSB 7,214: Juli 86). An die Mutter schreibt er in diesem Zusammenhang: "Der Himmel erbarme sich des europäischen Verstandes, wenn man den jüdischen Verstand davon abziehen wollte." (KSB 7,249: Sept. 86). Und im gleichen Brief berichtet er von einem jungen Mathematiker in Pontresina, "der vor Aufregung und Entzücken über mein letztes Buch... die Nachtruhe verloren... es war wieder ein Jude." (a.a.O.). Angemerkt sei hier noch, daß Nietzsche auch mit reichen Juden keine Probleme hat. Er berichtet lobend von dem "reichen Juden Bischoffsheim", der bei einem Astronomen-Congres in Nizza "alle Kosten" trägt, ein Observatorium gestiftet hat, die Angestellten besoldet und die Publikationen bezahlt (KSB 8,180). Demgegenüber kritisiert er an anderer Stelle den "deutschen Adel", der "selbst im Luxus" "unproduktiv" sei (KSA 9,382: Ende 80: 7/308/). In Nietzsches Überlegungen zur kulturellen und politischen Gestaltung Deutschlands und Europas nehmen die Juden einen festen Platz ein. In Preußen könnten sich vor allem "die stärkeren und bereits fester geprägten Typen des neuen Deutschthums mit ihnen (den Juden) einlassen..., z.B. der adelige Offizier aus der Mark: es wäre von vielfachem Interesse, zu sehen, ob sich nicht zu der erblichen Kunst des Befehlens und Gehorchens - in Beiden ist das bezeichnete Land heute klassisch - das Genie des Geldes und der Geduld (und vor allem etwas Geist und Geistigkeit, woran es
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reichlich an der bezeichneten Stelle fehlt -) hinzuthun, hinzuzüchten ließe." ("Jenseits von Gut und Böse": 8. Hauptstück: Völker und Vaterländer: Aph. 251: KSA 5,194,27-195,1).
Bei der jüdischen Geistigkeit könnte Nietzsche nicht zuletzt auch an die Berliner Salons einer Rahel oder Dorothea Veit gedacht haben. So erklärt es sich vielleicht, daß einmal von "einer Verschmelzung der europäischen Aristokratie oder vielmehr des preußischen Junkers mit Jüdinnen" die Rede ist. (KSA 11,569,29-30: Juni/Juli 85: S6/44/). Der genannte Text wird eingeleitet mit dem in der Forschung oft auf Befremden stoßenden Satz: "Die Zukunft der deutschen Cultur ruht auf den Söhnen der preußischen (11,569,22-23).
Offiziere".
Er verliert viel von seinem Schrecken, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Nietzsche hier wohl kaum an die radikalisierten, nationalistisch gewordenen Preußen des ausgehenden 19. Jahrhunderts gedacht haben dürfte, als deren Repräsentaten er Bismarck und Wilhelm ja vielfach mit Nachdruck kritisiert. Wir haben vom schon darauf hingewiesen. Und außerdem können hier ja kaum antisemitische Preußen gemeint sein, von denen man ja kaum erwarten durfte, daß sie sich mit Jüdinnen und ihrer Geistigkeit "verschmelzen". Nietzsche denkt hier zweifellos an die Preußen v o r dieser Radikalisierung, deren "Kunst des Befehlens und Gehorchens" er wohl geschätzt haben dürfte, etwa als Ausdruck des "sich nicht gehen lassens". Die alten Preußen entsprechen wohl seiner Vorstellung von "Rangordnung", auf die er großen Wert legt, wie noch deutlich werden wird. Wenn er in dem gleichen Text dann ausdrücklich "die Schönheit der (jüdischen) Frauen" hervorhebt: "Die Juden, die älteste und reinste Rasse. Schönheit der Frauen" (11,569,24-25) -
dann wird hier sicher nicht nur auf die 'äußere' Schönheit angespielt. Es ist eher die Schönheit der Menschen eines Volkes, "das noch sich selbst glaubt", wie es in einem vorher zitierten Text über das Volk Israel hieß (13,523,4f.). "Schön" ist demnach, wer zu sich selbst und zum Leben 'ja' sagt. In diesem Sinn wünscht sich Nietzsche eine "Verschmelzung" von Junkern und Jüdinnen. 'Vornehme' aus beiden Völkern sollen sich zusammentun zur Hebung der "deutschen Cultur". Eine solche Forderung war damals in Deutschland un-
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üblich. H. Ahlwardt führte damals im Umkreis Berlin einen Wahlkampf mit dem Motto: "Gegen Junker und Juden!"157 Nietzsche schätzt die Juden ferner als "conservirendste Macht in unserem so bedrohten und unsicheren Europa": "Die Macht der Mitte wird sodann aufrecht gehalten durch den Handel, vor allem den Geldhandel: der Instinkt der Großfinanciers geht gegen alles Extreme,- die Juden sind deshalb einstweilen die conservirendste Macht in unserem so bedrohten und unsicheren Europa. Sie können weder Revolutionen brauchen, noch Sociahsmus, noch Militarismus: wenn sie die Macht haben wollen und brauchen auch über die revolutionäre Partei, so ist dies nur eine Folge des Vorhergesagten und nicht im Widerspruch dazu. Sie haben nöthig, gegen andre extreme Richtungen gelegentlich Furcht zu erregen - dadurch daß sie zeigen, was Alles in ihrer Hand steht. Aber ihr Instinkt selbst ist unwandelbar conservativ..." (13,368,34-369,11: F 88: 14/1827). Gerade die Langsamkeit der Veränderung der Juden macht sie in Nietzsches Augen zu einem der "zunächst sichersten und wahrscheinlichsten Faktoren" in einem noch zu gestaltenden Europa: "sie [die Juden] verändern sich, wenn sie sich verändern, immer nur so, wie das russische Reich seine Eroberungen macht, - als ein Reich, das Zeit hat und nicht von Gestern ist -: nämlich nach dem Grundsatze 'so langsam wie möglich!' Ein Denker, der die Zukunft Europa's auf seinem Gewissen hat, wird, bei allen Entwürfen, welche er bei sich über diese Zukunft macht, mit den Juden rechnen wie mit den Russen, als den zunächst sichersten und wahrscheinlichsten Faktoren im grossen Spiel der Kräfte. Das, was heute in Europa 'Nation' genannt wird und eigentlich mehr eine res facta als nata ist (ja mitunter einer res ficta et picta zum Verwechseln ähnlich sieht -), ist in jedem Falle etwas Werdendes, Junges, LeichtVerschiebbares, noch keine Rasse, geschweige denn ein solches aere perennius, wie es die Juden-Art ist: diese 'Nationen' sollten sich doch vor jeder hitzköpfigen Concurrenz und Feindseligkeit sorgfältig in Acht nehmen! Daß die Juden, wenn sie wollten - oder, wenn man sie dazu zwänge, wie es die Antisemiten zu wollen scheinen -, jetzt schon das Übergewicht, ja ganz wörtlich die Herrschaft über Europa haben könnten, steht fest; daß sie nicht darauf hin arbeiten und Pläne machen, ebenfalls." ("Jenseits von Gut und Böse": 8: Völker und Vaterlärider: KSA 5,193,30-194,16). Die Juden sind also einer der "sichersten... Faktoren" in einem werdenden Europa, um das sich der "Denker" bemüht. Die Juden wollen dabei aber keineswegs die "Herrschaft" an sich reißen, wie ihnen gelegentlich unterstellt wird,
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Vgl. Puhle 1966, 299. Zu Ahlwardt vgl. im Namensregister.
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auch wenn paradoxerweise gerade die Antisemiten sie zu einer solchen Selbstbehauptung zwingen zu wollen scheinen. Im vorhergehenden Zitat erscheint auch das Wort "Rasse", und zwar wieder in Nietzsches Bedeutung, die vom expliziert wurde: "Rasse" als eine aufgrund einer gewissen Dauer der "Umgebung" festgewordene soziale Einheit. Die "Nationen" Europas sind nun in diesem Sinne jedoch keine "Rassen", da Europa ja noch etwas "Werdendes, Junges, Leicht-Verschiebbares" ist. "Rasse" ist also auch hier wieder als ein 'kulturelles' Produkt gedacht. Europa, das noch etwas "Junges, Werdendes, Leicht-Verschiebbares" ist, braucht also "sichere Faktoren", und dazu zählen für Nietzsche die Juden. Und Nietzsche geht noch einen Schritt weiter: dieses noch zu schaffende Europa soll zugleich "die Herrschaft auf der Erde" antreten. Dieser Gedanke findet sich in verschiedenen Formulierungen wiederholt in Nietzsches Überlegungen, und immer spielen dabei auch die Juden eine maßgebliche Rolle. Das "deutsche Reich" etwa, so wie es ist, ist für ihn nur "eine neue MachtCombination", ein Reich, das nicht weiß, "was es will". Ihm fehlt "der neue Gedanke" (KSA 11,238,14-16). Aus dem weiteren Verlauf des Textes wird deutlich, daß er dabei an den Gedanken der "Größe" denkt: "Ich sehe mehr Hang zur Größe in den Gefühlen der russischen Nihilisten als in denen der englischen Utilitarier [vorher ist von "Englands Klein-Geisterei" die Rede]. Ein In-einander-wachsen der deutschen und der slavischen Rasse,- auch bedürfen wir der geschicktesten Geldmenschen, der Juden, unbedingt, um die Herrschaft auf der Erde zu haben." (11,238,22-27).
Die Juden sind also bei diesen Vorstellungen als "Geldmenschen" unentbehrlich! Ganz ähnlich heißt es in dem folgenden Text (KSA 11, 457: April/Juni 85: 34/111/): "die Deutschen sollten eine herrschende Kaste züchten: ich gestehe, daß den Juden Fähigkeiten innewohnen, welche als Ingredienz bei einer Rasse, die Weltpolitik treiben soll, unentbehrlich sind. Der Sinn für Geld will gelernt, vererbt und tausendfach vererbt sein: jetzt noch nimmt es der Jude mit den Amerikanern auf." (11,457,20-25).
In einem Brief vom Dezember 1888 an Brandes geht Nietzsche noch ausführlicher auf diesen Punkt ein. Er führt darin aus, der "Antichrist" sei ein "Vernichtungsschlag gegen das Christenthum". Für den weiteren Kampf habe
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man aber die Juden nötig, da diesen eine "Instinkt-Feindschaft gegen das Christenthum" eigne. Daher "müssen wir aller entscheidenden Potenzen dieser Rasse in Europa und in Amerika" sicher sein. Denn eine "solche Bewegung" habe auch "das Groß-Capital" nötig. (KSB 8,500-501). Was man von diesen "Weltpolitik"-Träumen auch halten mag,- bemerkenswert ist hier doch, daß Nietzsche die Juden nicht nur hochschätzt wegen ihres "resoluten Glaubens", an dem sie unbeirrt festhalten, nicht nur wegen ihrer "Geistigkeit", die er den Preußen "anzüchten" will, sondern daß er sie auch als "Geldmenschen" hochschätzt - denn gerade dies war den Juden immer wieder zum Vorwurf gemacht worden. Nach dem Gesagten liegt es auf der Hand, daß Nietzsche eine Integration der Juden in Europa befürwortet. Wie schon angedeutet wurde, wollen sie seiner Ansicht nach keineswegs "die Herrschaft über Europa" (5,194,14), sondern: "Einstweilen wollen und wünschen sie vielmehr, sogar mit einiger Zudringlichkeit, in Europa, von Europa ein- und aufgesaugt zu werden, sie dürsten darnach, endlich irgendwo fest, erlaubt, geachtet zu sein und dem Nomadenleben, dem 'ewigen Juden' ein Ziel zu setzen -; und man sollte diesen Zug und Drang... wohl beachten und ihm entgegenkommen: wozu es vielleicht nützlich und billig wäre, die antisemitischen Schreihälse des Landes zu verweisen." (5,194,16-25).
Und nun verweist er auf das englische Vorbild: "Mit aller Vorsicht entgegenkommen, mit Auswahl, ungefähr so wie der englische Adel es thut." (5,194,25-26).
Und dann folgen die oben schon zitierten Empfehlungen an den preußischen Adel. Zum englischen Vorgehen im 19. Jahrhundert gibt etwa Laqueur die folgenden Einzelheiten: es wurden zahlreiche "Mischehen" geschlossen, auch in der Aristokratie. Jedoch wurde bei der Aufnahme der Juden in Gesellschaft und Politik ein langsames Tempo gewählt (- auch Nietzsche fordert für Mischung von Völkern immer ein langsames Tempo, wie noch deutlich werden wird -). Eine völlige Assimilation wurde jedoch nicht angestrebt. Auch Nietzsche scheint eine solche Art des Vorgehens vorgeschwebt zu haben. Wie ent-
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schieden Nietzsche die Ausgrenzung und Diffamierung der Juden durch die Antisemiten ablehnt, wurde in der Einleitung schon dokumentiert.158 Das Wort "Rasse" erscheint in den vorhergehenden Texten mit den Bedeutungen: "Volk" und "höhere Schicht eines Volkes". Ein "Volk" kann gemäß Nietzsche als "Rasse" bezeichnet werden, wenn es aufgrund langer gleichbleibender "Existenzbedingungen" einen spezifischen "Charakter" erworben hat. In diesem Sinn kann das jüdische Volk als "Rasse" bezeichnet werden. Das äußere Erscheinungsbild spielt dabei keine Rolle. Nirgends ist von einem spezifischen Aussehen der Juden die Rede. Die angeblich "krumme Nase" der Juden wird ausdrücklich und spöttisch zurückgewiesen. Die Germanen
Auf die Germanen brauchen wir nicht so ausführlich einzugehen, denn sie spielen bei Nietzsche keine große, und insbesondere keine rühmliche Rolle. Auch die frühe Nennung der Germanen bei Tacitus war für Nietzsche kein Anlaß, die Germanen besonders herauszustreichen.159 Über die bei Tacitus schon erwähnten "blauen Augen" und "flächsernen (blonden) Haare" der Germanen macht er sich eher lustig.160 Nach Römer kann Tacitus' "Germania" zu jenen Schriften gerechnet werden, die den edlen Barbaren darstellten, der zugleich eine Bedrohung für die Römer bildete.161 Dies dürfte auch in etwa Nietzsches Standpunkt gegenüber den Germanen gewesen sein. Noch im 18. Jahrhundert wurden die Germanen eher als "tiefstehende Barbaren" eingestuft, so bei Adelung, dem Sprachforscher der Aufklärung. 158
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Eingehende Analysen zum "Eintritt" der Juden in die deutsche Gesellschaft finden sich z.B. bei Richarz 1974. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden erstmals in Preußen Juden zum Studium an deutschen Universitäten zugelassen. Dies geschah unter dem Großen Kurfürsten, der selbst in den Niederlanden studiert hatte und dieses Vorbild auf Preußen übertrug. Die ersten zwei jüdischen Studenten kamen dabei interessanterweise aus Polen! Vgl. Richarz 1974, 32-33. Zur Rezeption der "Germania" vgl. Römer 1989, 85 f. Interessant ist in unserem Zusammenhang noch, daß ausgerechnet Rousseau in seinem ersten Discours (1750) die Germanen positiv bewertet und in den Rang von "edlen Wilden" erhebt, wogegen Nietzsche ein gänzlich negatives Bild der Germanen zeichnet, wie sich noch zeigen wird, zumindest der mittlere und späte Nietzsche. Zu Rousseau vgl.: G. Hutter (1990): "Die feinste Barbarei". Das Völkerschlachtdenkmal bei Leipzig. Mainz. S. 18. Schon Herodot sprach von den "blauen Augen" der Skythen. Vgl. Römer 1989, 86. Römer 1989, 87.
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Nach Adelungs Auffassung waren sie "gastfrei, wie alle Trunkenbolde", und "keusch aus Natur, nicht aus Tugend".162 Auch in Nietzsches Germanenbild spielt der Alkoholismus eine große Rolle. Daß die Germanen in Poesches Buch über "Die Arier", das auch Nietzsche gekannt hat, als die "unvermischten Arier" gefeiert werden, dürfte Nietzsche wenig beeindruckt haben. Er erwähnt diesen Sachverhalt nirgends. Zudem war für ihn ja gerade die "Mischung" von Völkern der "Quell großer Cultur", wie wir schon sahen.163 Das Hochjubeln der "germanischen Rasse" bahnte sich erst im 19. Jahrhundert an und fand seinen Höhepunkt zur Zeit Wilhelms II und seinem Pangermanismus.164 Im 19. Jahrhundert galt es als großer Vorzug, wie ein "alter Germane" auszusehen. So wurde etwa der Maler C.D. Friedrich wegen seiner "aschblonden Haare" und "blauen Augen" mit einem "alten Germanen" verglichen.165 Wie wir noch sehen werden, legte Nietzsche viel größeren Wert darauf, wie ein Pole auszusehen.166 Zunächst nun noch eine Anmerkung zum Sprachgebrauch. Seit der Entdeckung der "Germania" wurden die Ausdrücke "deutsch" und "germanisch" lange Zeit synonym verwendet. Zuerst bei Aventinus 1541, aber auch der schon genannte Adelung schrieb eine "Grammatik der Deutschen bis zur Völkerwanderung". Auch Jakob Grimm nennt seine Grammatik der germanischen Sprachen "Deutsche Grammatik" (1819-22). Grimm denkt bei "Deutsch" an "thiudisc" (lat. "theodischus"), das heißt "volkssprachlich" im Unterschied zum Latein. Auch Förstemann verwendet noch 1874/5 "deutsch" für "germanisch".167 Nietzsche verwendet hingegen den modernen Sprachgebrauch. Nur ironisch werden die heutigen Deutschen gelegentlich als "Germanen" angeredet (KSA 6,364,5). Die "Deutschen der starken Rasse", womit vielleicht
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Zitat bei Römer 1989, 87. Zu Adelung cf. Namensregister. Der frühe Nietzsche der Intematszeit scheint etwas positiver über die Germanen gedacht zu haben: eine von ihm redigierte Schülerzeitung, an der die Mitschüler Krug und Finder mitarbeiteten, trug den Namen "Germania". Vgl. dazu W. Ross, Der ängstliche Adler, 1980, 55-56. Römer 1989, 94. Jensen 1975, 7. Eine ausfuhrliche Darstellung der Germanenideologie gibt Römer 1989, 85-100. Römer 1989, 88-89.
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die Germanen gemeint sein könnten, sind für ihn "ausgestorbene Deutsche" (6,291,1). Für Nietzsche ist das Band zwischen Deutschen und Germanen, falls es überhaupt je bestand, durchgeschnitten. Er schreibt in der "Genealogie der Moral" (5,276,3-6): daß "zwischen alten Germanen und uns Deutschen kaum eine Begriffs-, geschweige eine Blutverwandtschaft besteht". Wenn Europa jahrhundertelang mit "Entsetzen" dem "Wüthen der blonden germanischen Bestie" zugesehen habe, so sei das den heutigen Deutschen gegenüber also nicht mehr angebracht, denn - sie sind keine Germanen! (5,276,1-2). Für dies alles konnte Nietzsche sich auf Virchow berufen, der in seinen Forschungen dem germanischen Mythos den Garaus gemacht hatte. Für Nietzsche galt zudem die in seiner Zeit durchaus fortschrittliche Maxime, daß "Kein Schluß aus Sprach-Verwandtschaft auf Rassen-Verwandtschaft" zulässig sei (12,14,17-18).
Wenn er daher eine sprachliche Verwandtschaft zwischen Deutschen und Goten sieht (5,264,15-9), wie schon Schopenhauer, dann ist damit also noch keine genealogische Verwandtschaft impliziert. Eine solche sprachliche Verwandtschaft wurde übrigens auch von dem berühmten dänischen Sprachforscher Rask angenommen, so daß Coseriu's Schelte auf Schopenhauer in diesem Punkt mit Recht, wie Römer betont, zurückgewiesen werden muß.168 Daß Nietzsche sich für das Gotische näher interessiert zu haben scheint, geht aus seinen Ausführungen über Ulfilas Bibelübersetzung hervor: KSB 6,377: Mai 83: Brief an Köselitz. Die Germanen können kein Vorbild für die heutigen Deutschen sein. Die Kirche hat sie schon im frühen Mittelalter "gezähmt", schwach, krank und zu "Sündern" gemacht: "Im frühen Mittelalter... machte man allerwärts auf die schönsten Exemplare der 'blonden Bestie' Jagd,- man 'verbesserte' zum Beispiel die vornehmen Germanen. Aber wie sah hinterdrein ein solcher 'verbesserter', in's Kloster verführter Germane aus? Wie eine Caricatur des Menschen, wie eine Mißgeburt: er war zum 'Sünder' geworden, er stak im Käfig, man hatte ihn zwischen lauter schreckliche Begriffe eingesperrt... Da lag er nun, krank, kümmerlich, gegen sich selbst böswillig; voller
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Coseriu 1979 und Römer 1989, 126.
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Haß gegen die Antriebe zum Leben, voller Verdacht gegen Alles, was noch stark und glücklich war. Kurz, ein 'Christ'..." ("Götzen-Dämmerung", Die "Verbesserer" der Menschheit 2: KSA 6,99, 17-28).
Daher wohl auch lehnt Nietzsche die Vorstellung ab, die Germanen als "die 'sittliche Weltordnung' in der Geschichte" zu betrachten; wie dies die heutigen Historiker tun, denen der "große Blick für den Gang... der Cultur gänzlich abhanden gekommen" sei (Ecce homo, Der Fall Wagner 2: KSA 6, 358,2126). Ihre Forderungen weist Nietzsche zurück: "Man muß vorerst 'deutsch' sein, 'Rasse' sein, dann kann man über Werthe und Unwerthe in historicis entscheiden.- man setzt sie fest... 'Deutsch' ist ein Argument, 'Deutschland, Deutschland über Alles' ein Prinzip, die Germanen sind die 'sittliche Weltordnung' in der Geschichte; im Verhältniss zum Imperium romanum die Träger der Freiheit, im Verhältniss zum achtzehnten Jahrhundert die Wiederhersteller der Moral, des 'kategorischen Imperativs' ... Es giebt eine reichsdeutsche Geschichtsschreibung, es giebt, furchte ich, selbst eine antisemitische,- es giebt eine Hof-Geschichtsschreibung und Herr von Treitschke schämt sich nicht..." (6,358,26-359,3).169
Hier könnte man auch an Hegel denken. Wir sehen bei den deutschen Historikern, wie Nietzsche sie darstellt, die oben erwähnte Verknüpfung des germanischen Mythos mit den heutigen (damaligen) Deutschen, die Nietzsche ja ausdrücklich zurückweist. Zudem sieht sein Germanenbild bei weitem nicht so positiv aus, wie das der Historiker. Das zeigte das vorhergehende Zitat. Die Forderung der Historiker 'deutsch' [zu] sein, 'Rasse' [zu] sein" - womöglich im Bewußtsein, die Germanen als "Träger der Freiheit" zu Vorfahren zu haben - kann Nietzsche angesichts seines Germanenbildes nur peinlich erschienen sein. Daß mit einem solchen Deutschen- und Germanenbild allzu leicht ein Haß gegen andere Völker einhergeht, wird von Nietzsche kurz angedeutet, wenn er die "antisemitische" Geschichtsschreibung erwähnt. Ein solcher Begriff von "Volk" und "Rasse" ist gerade nicht offen für eine Verschmelzung mit anderen Völkern, wie Nietzsche sie ja gerade für das deutsche Volk fordert, denn für Nietzsche gilt "Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen".
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Zu Treitschke vgl. das Namensregister.
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Der Rassebegriff der deutschen Historiker ist also nach Auffassung Nietzsches stark bestimmt durch die Komponenten 'Herkunft' (Deutsche von den 'edlen' Germanen) und 'Reinheit' im Sinne des Ausschließens anderer Völker. Das unterscheidet ihn von Nietzsches Rasse-Konzept, wie wir es bisher kennengelernt haben. Für Nietzsche gibt es keine "germanischen Tugenden", nur "deutschthümelnde Jünglinge" können von so etwas "faseln" (11,456,5-6). Die Germanen sind, nach Nietzsches Einschätzung, zu einem erheblichen Teil schuld an der "europäischen Krankheit", wie er sie in der "Genealogie der Moral" darstellt. Zunächst wird eingehend erörtert, wie "zerstörerisch" das "asketische Ideal" "der Gesundheit und Rassen-Kräftigkeit, namentlich der Europäer, zugesetzt hat" (5,392,19-21). Man darf, seiner Einschätzung nach, das "asketische Ideal" "ohne alle Übertreibung das eigentliche Verhängniss in der Gesundheitsgeschichte des europäischen Menschen nennen." (5,392,21-3). Nur ein "Einfluß" hat sich ebenso verheerend ausgewirkt, und das ist der Einfluß der Germanen: "Höchstens, daß seinem Einflüsse noch der spezifische germanische Einfluß gleichzusetzen wäre: ich meine die Alkohol-Vergiftung Europa's, welche streng mit dem politischen Rasse-Übergewicht der Germanen bisher Schritt gehalten hat (- wo sie ihr Blut einimpften, impften sie auch ihr Laster ein)." (5,392,23-28).
Nietzsche kommt noch öfter auf diesen Punkt zurück (so etwa in 34/104/: April/Juni 85: KSA ll,455,-456). Die Germanen sind hier also keineswegs das Volk, das Europa im Sinne Nietzsches vorwärts bringen kann oder vorwärts gebracht hat. Eher das Gegenteil läßt sich aus der obigen Textstelle herauslesen. In einem Brief an Köselitz vom März 87 erwähnt Nietzsche einen Brief, den er von von Seydlitz erhalten hat. Dieser schildere darin seine "Existenz unter der Nation mißrathener Knödel und dem ganzen schief aufgegangenen Teige germanischer Rasse" (KSB 8,43). Diese Formulierung gibt sicher auch Nietzsches Einschätzung wieder. Die Deutschen werden hier als "germanische Rasse" bezeichnet, und im vorliegenden Zusammenhang kann das nur als ironische Bezeichnung gelesen werden. Wenn die Deutschen glauben, die direkten Nachfahren der Germanen zu sein, so ist das nach seiner Meinung zum einen unzutreffend, zum ändern aber wäre es auch keine Empfehlung.
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Die Deutschen Werfen wir zunächst wieder einen Blick auf die genealogischen Versuche. Die üblichen Vorschläge, eine Linie von den Ariern über die Germanen zu den Deutschen zu ziehen, die Nietzsche ablehnt, wurden schon angedeutet. Zu ergänzen sind noch Versuche, die sich speziell mit der Herkunft der Deutschen befassen. Seit der Entdeckung der "Germania" des Tacitus (16. Jahrhundert) zog man für die "Deutschen" auch eine doppelte bzw. kombinierte Herkunft aus Bibel und "Germania" in Erwägung. Der biblische Askenaz, dem "Tuisto" bei Tacitus entsprechen sollte, soll aus Asien nach Europa eingewandert sein. Die Kelten und Germanen sind seine Nachkommen. Sie bilden das Urvolk Europas. Ihre Sprache, die Ursprache also, war "Deutsch", was also hier wieder die Bedeutung "Germanisch" hat. Ein Hauptvertreter dieser These war der Holländer Goropius in Leiden. Die Deutschen im heutigen Sinn waren also die Nachkommen der Germanen.170 Fichte ("Reden an die deutsche Nation") geht sogar so weit, zu behaupten, alle Völker Europas seien Germanen, wobei er jedoch eine Zweiteilung vornimmt: neben dem "Urvolk" (Germanen) stehen die neo-lateinischen Völker. Nach Fichtes Auffassung war Jesus nicht von jüdischer Abstammung, so daß "ein germanischer Gottesdienst möglich sei".171 Nietzsche hat sich an derartigen Spekulationen nicht beteiligt. Für ihn war Jesus ein Jude und die christliche Religion eine jüdische Religion, wenn auch "freieren Bekenntnisses", wie er gelegentlich zum Ausdruck bringt. Durch Nietzsche wird eine germanische Herkunft der Deutschen in äußerstem Masse in Zweifel gezogen, ja sogar bestritten. Wie wir schon sahen, redet er die Deutschen nur konisch als "Germanen" an (6,364,5). Für Nietzsche sind die Deutschen, wie schon Virchow nachgewiesen hatte, ein Mischvolk. Sie haben nicht nur, wie Goethe meinte, zwei Seelen in ihrer Brust, sondern sehr viel mehr:
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Poliakov 1979, 111-112.
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Poliakov 1979, 124.
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"Als ein Volk der ungeheuerlichsten Mischung und Zusammenrührung von Rassen, vielleicht sogar mit einem Übergewicht des vor-arischen Elementes (dazu 5, 263, 19f), als 'Volk der Mitte' in jedem Verstande, sind die Deutschen unfassbarer, umfänglicher, widerspruchsvoller, unbekannter, unberechenbarer, überraschender, selbst erschrecklicher, als es andere Völker sich selber sind: - sie entschlüpfen der Definition und sind damit schon die Verzweiflung der Franzosen. Es kennzeichnet die Deutschen, daß bei ihnen die Frage 'was ist deutsch?' niemals ausstirbt. Kotzebue kannte seine Deutschen gewiß gut genug: 'wir sind erkannt' jubelten sie ihm zu, - aber auch Sand [der Mörder Kotzebue's - GS -] glaubte sie zu kennen. Jean Paul wußte, was er that, als er sich ergrimmt gegen Fichte's verlogene, aber patriotische Schmeicheleien und Übertreibungen erklärte - aber es ist wahrscheinlich, daß Goethe anders über die Deutschen dachte, als Jean Paul, wenn er ihm auch in Betreff Fichtens Recht gab. Was Goethe eigentlich über die Deutschen gedacht hat? - Aber er hat über viele Dinge um sich herum nie deutlich geredet und verstand sich zeitlebens auf das feine Schweigen: - wahrscheinlich hatte er gute Gründe dazu." ("Jenseits von Gut und Böse", Aph. 244: KSA 5,184,18185.3).172 Die Deutschen sind also ein Mischvolk ("Volk" und "Rasse" wird hier abwechselnd verwendet), daher "entschlüpfen sie der Definition".
Aufgrund
dieser Mischung sind sie "unfassbarer, umfänglicher, widerspruchsvoller... unberechenbarer... selbst erschrecklicher, als es andere Völker sich selber sind". Das heißt aber auch, die Deutschen sind aufgrund ihrer Mischung "reicher" als weniger gemischte Völker. Das bringt einerseits Gefahren mit sich, ("unberechenbarer"), andrerseits aber auch große Möglichkeiten: dies wird mit dem Wort "umfänglicher"
angedeutet, das, wie wir noch sehen
werden, bei Nietzsche positiv konnotiert ist: es bedeutet Offenheit nach vielen Seiten. Wiederholt erwägt Nietzsche, inwiefern auch Barbaren in der Herkunft der "Nordländer" (Deutschen?) eine Rolle spielen könnten. Darauf könnte auch das im obigen Text genannte "vor-arische Element" (sie) hindeuten. In "Jenseits von Gut und Böse" (Aph. 48: KSA 5,69,16f) heißt es hierzu: "Wir Nordländer stammen unzweifelhaft aus Barbaren-Rassen, auch in Hinsicht auf unsere Begabung zur Religion: wir sind schlecht für sie begabt." (5,69,16-18). Vorher fuhrt Nietzsche dazu aus:
Zu Jean Paul in diesem Kontext vgl. KSA-Kommentar S. 369.
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"Es scheint, daß den lateinischen Rassen ihr Katholicismus viel innerlicher zugehört, als uns Nordländern das ganze Christenthum überhaupt: und daß folglich der Unglaube in katholischen Ländern etwas ganz Anderes zu bedeuten hat, als in protestantischen - nämlich eine Art Empörung gegen den Geist der Rasse, während er bei uns eher eine Rückkehr zum Geist (oder Ungeist-) der Rasse ist. Wir Nordländer ... (s.o.) ... Man darf die Kelten ausnehmen, welche deshalb auch den besten Boden für die Aufnahme der christlichen Infektion im Norden abgegeben haben: - in Frankreich kam das christliche Ideal, soweit es nur die blasse Sonne des Nordens erlaubt hat, zum Aufblühen." (5,69,10-22).
Völker bzw. Rassen sind also in unterschiedlichem Maasse für Religion(en) begabt, die Nordländer weniger als die "lateinischen Rassen (Völker)". Nietzsche bringt das mit einem Barbaren-Anteil der Nordländer in Verbindung. Die "Barbaren" sind bei Nietzsche wenig greifbar. Den Südländern entspricht der Katholizismus besser (und überhaupt die christliche Religion) als den Nordländern. Unglaube bedeutet daher bei den lateinischen Völkern "eine Empörung gegen den Geist der Rasse", während er bei den Nordländern eine "Rückkehr" zu ihrem "Geist (oder Ungeist-) der Rasse ist". Schon bei Schopenhauer findet sich die Vorstellung, daß zum Süden der Katholizismus 'passe' und zum Norden der Protestantismus. Er bringt dies mit dem Klima in Zusammenhang.173 Vielleicht ist es kein Zufall, daß hier als Beispiel für Religion nur das Oiristenthum genannt wird, die Religion der "kleinen Leute der Diaspora", wie wir vorn schon sahen. Diese konnte natürlich am wenigsten zu den "Nordländern" passen, für die Nietzsche hier doch offenbar - trotz der Nennung der "Barbaren-Rassen" - auch noch vage einen 'arischen' Hintergrund anzunehmen scheint. Die 'Arier', insbesondere die Inder, hatten natürlich auch 'ihre' Religionen (siehe vorn), die Nietzsche jedoch auch zurückweist. Auch später kommt Nietzsche in "Jenseits von Gut und Böse" (Aph. 256, KSA 5, 203) nochmals auf die Barbaren zu sprechen, als er R. Wagner mit den Franzosen des 19. Jahrhunderts vergleicht: "Vielleicht wird man bei einer feineren Vergleichung, zu Ehren der deutschen Natur Richard Wagners finden, daß er es in Allem stärker, verwegener, härter, höher getrieben hat, als es ein Franzose des 19. Jahrhunderts treiben könnte, Dank dem Umstände, daß wir Deutschen der Barbarei noch näher stehen als die Franzosen -; vielleicht ist sogar das Merkwürdigste, was Richard Wagner ge-
Parerga 2, 352.
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schaffen, der ganzen so späten lateinischen Rasse für immer und nicht nur für heute unzugänglich, unnachfühlbar, unnachahmbar: die Gestalt des Siegfried, jenes sehr freien Menschen, der in der That bei weitem zu frei, zu hart, zu wohlgemuth, zu gesund, zu anti-katholisch für den Geschmack alter und mürber Culturvölker sein mag." (5,203,28-204,6)."*
In den Deutschen ist also immer noch die "Barbarei" am Werk, die sich in "Stärke" und "Härte" und "Gesundheit" und "Antikatholizismus" äußert. Was es mit den Barbaren auch auf sich haben mag, Nietzsche scheint offenbar für "die Deutschen" eine herkunftsmäßig-geschichtlich bedingte Nicht-Begabung für die christliche Religion anzunehmen, wofür dann zur "Erklärung" die Chiffre "Barbaren" eingesetzt wird. Dieser in Nietzsches Augen wohl eher als begrüßenswert einzustufende Befund kann ihn jedoch nicht daran hindern, in schärfster Weise sein Mißfallen mit den heutigen (damaligen) Deutschen auszusprechen. In schärfster Weise wird das Haus Hohenzollern kritisiert, das "Haus von Narren und Verbrechern", das "Klüfte" aufreißt zwischen den "werdenden Nationen" und "hirnverbrannte Kriege" führt und "alle Voraussetzungen für große Aufgaben, für welthistorische Zwecke, für eine edlere und feinere Geistigkeit mit einer fluchwürdigen Sicherheit des Instinkts vernichtet" (13,644: Dez./Anf. Jan. 89: 25/147: 13,644,l-8).175
So daß er zu dem Ausspruch kommt: "Und seht euch doch die Deutschen selber an, die (-) niedrigste, stupideste, gemeinste Rasse wohl, die jetzt auf Erden da ist, verhohenzollert bis zum Haß gegen Geist und Freiheit." (13,644,8-11).176
Die Deutschen sind also ein Mischvolk, und das bringt große Möglichkeiten, aber auch Gefahren mit sich, Begabungen und Nicht-Begabungen. Sie sind "verderbbar", wie Nietzsche einmal formuliert (11,212,29), und zu seiner Zeit hatten, seiner Ansicht nach, unter Leitung der Hohenzollern ganz offensichtlich die weniger wünschbaren Eigenschaften die Oberhand gewonnen. Gegen die 174
175
176
Auch Marti 1993, 140, versteht die Siegfriedfigur als Typ des "freien, gottlosen Menschen", der "den alten Sitten und Verträgen den Krieg erklärt". Er könne vielleicht gar als eine "revolutionäre Figur" gelten und damit als eine Anregung für Nietzsches Typ des "höheren Menschen". Dazu später mehr. Der frühe Nietzsche urteilte jedoch milder über Bismarcks Politik, der deutschen "Kleinstaaterei" ein Ende zu machen. Vgl. Marti 1993, 88-91. Ähnliche Urteile finden sich noch öfter beim späten Nietzsche: KSB 8, 453-454, KSB 8,482 und KSB 8,513.
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angedeutete "große Politik" der Hohenzollern (13,640, 26) will er mit seiner eigenen "großen Politik" ankämpfen (13,637,1) - Nietzsche verwendet diese Formel tatsächlich in zwei ganz unterschiedlichen Bedeutungen -, die nicht "Klüfte" aufreißen soll, sondern vielmehr Europa einen soll. Aus dem Vorhergehenden wird deutlich, daß Nietzsche nicht den Versuch unternommen hat, die zahlreichen "Elemente" näher aufzudröseln, aus denen das Volk der Deutschen sich als "ungeheuerlichste Mischung... von Rassen" zusammensetzen könnte. Dies war für ihn auch umso weniger von Interesse, als er in der Geschichte der Deutschen eine große "Kluft" glaubt feststellen zu können, die die heutigen Deutschen von den frühreren Deutschen trennt. In dem Fragment "Die Deutschen" (KSA 11,455-6: Apr./Juni 85: 34/103/) wird dies näher erläutert: "Die Deutschen, von denen ich hier nur rede, sind etwas Junges und Werdendes: ich trenne sie ab von den Deutschen der Reformation und des dreißigjährigen Krieges und will nicht an der Geschichtsfälscherei Antheil haben, welche über diese Kluft hinwegspringt: wie als ob damals nichts geschehen wäre. Daß sich im 16. Jahrhundert etwas mit ihnen zugetragen hat, was dem Untergang einer früheren Rasse gleichkommt, wird sich schwerlich leugnen lassen: diese Erscheinung der Entmuthigung, der Feigheit, der Greisenhaftigkeit, des chinesischen Zopfes, im Bilde zu reden - das muß im Ganzen die Folge einer furchtbaren Blutverderbniss gewesen sein, hinzugerechnet, daß die männlichen Männer fort und fort in's Ausland giengen und im Auslande starben und verdarben. Andererseits hat damals eine unfreiwillige Mischung mit wenig verwandten Rassen stattgefunden: die Unzucht des Krieges war, nach allen Beschreibungen, über die Maassen unheilvoll." (11,455,1-20).
Nietzsche sieht im 16. Jahrhundert also eine starke "Kluft": sie kommt dem "Untergang einer früheren Rasse" gleich. Wer auch immer die Vorfahren waren, sie sind untergegangen. Auch mit etwaigen Germanen besteht daher, wie wir schon gesehen haben, "kaum eine Begriffs-, geschweige denn Blutverwandtschaft" (5,276,3-6). Die durch den dreißigjährigen Krieg dann zusätzlich verursachte "Mischung mit wenig fremden Rassen" scheint Nietzsche einerseits zu bedauern, andrerseits hat diese aber offenbar die Kraft der Deutschen nicht beeinträchtigt, denn sie sind ja, wie er eingangs sagt, "etwas Junges und Werdendes".177
Für diese Einschätzung des dreißigjährigen Krieges könnte Nietzsche sich auf Gustav
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Zudem gab es bis vor kurzem noch "Reste" der früheren, "stärkeren Rasse": "Es gab wohl hier und da noch Reste einer stärkeren Rasse: z.B. ist der Musiker Händel, unser schönster Typus eines Mannes im Reiche der Kunst, ein Zeugniss davon: oder, um ein Weib zu nennen, Frau Professor Gottsched, welche mit Fug und Recht eine gute Zeit lang über die deutschen Professoren das Scepter geführt hat,- man sehe sich noch die Bilder von Beiden an!" (11,455,20-26).
Aber diese Deutschen der "starken Rasse", wie "Heinrich Schütz, Bach und Händel", sind nun "ausgestorbene Deutsche" wie es in "Ecce homo" heißt (6, 291,1-2). Die Deutschen sind also "etwas Werdendes, Junges", wenn sie auch nicht mehr zur früheren "starken Rasse" gehören. Die von Nietzsche genannten Beispiele können auch deutlich machen, was er mit der "starken Rasse" meint. Er denkt dabei offensichtlich in erster Linie an schöpferische Menschen der Kunst und des Geistes (Frau Gottsched), die aus der Fülle der Kraft heraus schaffen und handeln. Die Stärke besteht in der Kraft des Geistes und Willens. Nietzsche unterscheidet also zwischen Deutschen vor und nach der genannten "Kluft". Die "männlichen Männer" und die willensstarken "Weiber" sind seither seltener geworden. Dennoch bleibt noch Hoffnung, da die heutigen Deutschen ja trotz allem "etwas Junges und Werdendes" sind. Was hat Nietzsche nun sonst noch von den Deutschen zu sagen? Sehr viel. Aber er ist sich der Problematik solcher Aussagen wohl bewußt: (KSA 7,645, 6: S/H 73: 297 477): "Die verfluchte Fo/faseele! Wenn wir von deutschem Geiste reden, so meinen wir die großen deutschen Geister, Luther, Goethe, Schiller und einige Andere, nicht den mythologischen Phantom der vereinigten Ungeistermasse, in der Besser wäre es schon, von lutherartigen Menschen usw. zu reden." (7,645,13-18).
Über ein "Volk" kann man also gar nichts sagen, zumal der "Geist" ja auch nur in wenigen Vertretern eines Volkes manifest wird. "Wir wollen vorsichtig sein, etwas deutsch zu nennen: zunächst ist es die Sprache, diese aber als Ausdruck des Volkscharakters zu fassen, ist eine reine Phrase und jetzt bei keinem Volke möglich gewesen, ohne fatale Unbestimmtheiten und Redensarten. Griechische Sprache und griechisches Volk! Das bringe einer zusammen!" (7,645,18-230). Nietzsche weist hier die Versuche zurück, Sprache
Freytag stützen. Dazu Franz 1961, l f.
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und Volk/"Rasse" in enger Entsprechung zu sehen, wie dies etwa Gobineau getan hat, der auch versucht hat, eine Rangordnung der Sprachen zu erstellen und Hand in Hand damit eine Rangordnung der "Rassen".178 "Von einem Volke Prädikate auszusagen, ist immer sehr gefahrlich: zuletzt ist alles so gemischt, daß erst immer später eine Einheit wieder an der Sprache sich einfindet oder eine Illusion der Einheit sich an ihr einstellt."
Dies ist ein Grundgedanke Nietzsches: die Phänomene bilden in ihrer Verschiedenartigkeit eine Vielheit, erst die Sprache schafft mit Verallgemeinerungen in ihren Begriffen Einheit(en). Wer "Prädikate" über ein Volk aussagt, sieht über die bunte Vielheit Volk hinweg und verdeckt damit die Phänomene. "Ja Deutsche! Deutsches Reich! Das ist etwas, Deutschsprechende ist auch etwas. Aber Race-Deutsche!" (7,645,30-32).
Das ist bis jetzt noch nichts, können wir hinzufügen: "Das Deutsche als künstlerische Stileigenschaft ist erst noch zu finden, wie bei den Griechen der griechische Stil erst spät gefunden ist: eine frühere Einheit gab es nicht, wohl aber eine schreckliche krasis." (7,645,32-646,3).
Das Deutsche als Stileigenschaft besteht also noch nicht, die Einheit fehlt noch. Die Deutschen sind bis jetzt noch ein "Tummelplatz geistiger Versuchungen und Kämpfe", wie Nietzsche einmal formuliert (11,703,10). Über ein Volk kann man also erst "Prädikate aussagen", wenn und nachdem es eine Einheit erworben hat, was bei den Deutschen besonders schwierig ist, da "zuletzt alles so gemischt" ist. Nietzsche macht nun aber doch Aussagen über die Deutschen, wobei wir aber die Vorbehalte nicht vergessen dürfen, die er hier selbst zur Sprache gebracht hat. Zum Teil befaßt er sich dabei auch mit der Zurückweisung von "Prädikaten", die die Deutschen über sich selbst in Umlauf gebracht haben, etwa wenn er die Behauptung immer wieder bestreitet, die Deutschen seien "tief (5,184-6). Seiner Meinung nach ist hierbei eher der "Genius der Unklarheit" am Werke, wie es in einem Brief vom Oktober 85 heißt (KSB 7, 100). Auch die "Redlichkeit" hält er für eine gefährliche "deutsche Verkleidung" (5,186,14-17). Und in diesem Zusammenhang interpretiert er "das deutsche
8
Römer 1989, 133.
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Volk" als "das 'tiusche' Volk": "das Tausche-Volk" (5,186,30-31). Auch im "Ecce homo" heißt es: "Dürfte ich das Wort 'deutsch' nicht als internationale Münze für diese [vorher ist die Rede von der "Instinkt gewordenen Unsauberkeit in psychologicis"] psychologische Verkommenheit in Vorschlag bringen?" (6,361,25-27).
Wir wollen hier aber darauf verzichten, weitere Beispiele für Nietzsches Kritik am deutschen Selbstbild anzuführen und zunächst noch kurz auf die Stellen eingehen, wo er selbst eine Diagnose der deutschen Zustände versucht. Nach Nietzsches Ansicht befinden sich die Deutschen heute in einem Zustand der "Erschöpfung", ein Wort, das bei Nietzsche oft für "decadence" steht, womit meist ein Schwächezustand der Kräfte und des Willens gemeint ist. Diese Erschöpfung ist eine "erworbene, nicht eine ererbte" (KSA 13,456, l f: F88: 15/80/). Bei den Deutschen ist es "Der Alcoholismus, nicht der Instinkt, sondern die Gewöhnung, die stupide Nachahmung, die feige oder eitle Anpassung an ein herrschendes regime..." (13,456,14-16). Also wieder der Alkohol! Aber wichtig ist hier vor allem, daß die Erschöpfung durch Alkohol "erworben" ist, also nicht "ererbt" ist. Damit ist hier das Phänomen der "decadence" losgelöst von der Vorstellung, daß Völker durch ungünstige Beeinflussung der "Erbsubstanz11 und also durch "Vererbung" eine "decadence" erleiden, wie dies wiederum für Gobineau bezeichnend ist. Die Deutschen haben sich eine schlechte "Gewohnheit" zugelegt, und Nietzsche hofft natürlich, daß sie diese irgendwann wieder aufgeben werden. "Nicht der Instinkt, sondern die Gewohnheit" (13,456,14-15) ist schuld an der "Erschöpfung". Und Nietzsche vergleicht nun die Juden mit den Deutschen, deren "Erschöpfung" er im einzelnen beschreibt: "Welche Wohlthat ist ein Jude unter Deutschen! wie viel Stumpfheit, wie flächsern der Kopf, wie blau das Auge; der Mangel an esprit in Gesicht, Wort, Haltung; das faule Sichstrecken, das deutsche Erholungs-Bedürfhiss, das nicht aus Überarbeitung, sondern aus der widrigen Reizung und Überreizung durch Alcoholica herkommt..." (13,456,16-22).
Bei dieser Gelegenheit spottet er auch zugleich über die klischeehaften "traditionellen" äußeren Attribute der Deutschen: die blonden Haare und die blauen Augen. Sie können das düstere Bild der "Erschöpfung" nicht "aufhellen". An anderer Stelle spricht er sogar von den "treuen blauen leeren
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deutschen Augen" (5,186,19-20)! Auch in den Augen findet die Erschöpfung ihren Ausdruck! Diese "Erschöpfung" mag mit ein Grund dafür sein, daß die "Art" des deutschen Volkes noch "schwach und unbestimmt" ist (5,193,22) ist und daß sie "leicht verwischt" (a.a.O.), so daß die Deutschen auch "verderbbar" sind (11,212,29). Sie unterhegen daher immer wieder "kleinen Anfallen von Verdummung", wie Nietzsche etwas resignierend feststellt: "Man muß es daher in Kauf nehmen, wenn einem Volke, das am nationalen Nervenfieber ... leidet, leiden will -, mancherlei Wolken und Störungen über den Geist ziehn, kurz, kleine Anfälle von Verdummung: zum Beispiel bei den Deutschen von heute bald die antifranzösische Dummheit, bald die antijüdische, bald die antipolnische, bald die christlich-romantische, bald die Wagnerianische, bald die teutonische, bald die preußische (man sehe sich doch diese armen Historiker ... an), und wie sie alle heißen mögen, diese kleinen Benebelungen des deutschen Geistes und Gewissens." ("Jenseits von Gut und Böse" Aph. 251, KSA 5,192,18-28). Die Deutschen haben noch keine "Einheit" gefunden, wie wir vorher sahen. Ihre "Erschöpfung" mag sie zusätzlich daran hindern, diese zu gewinnen. Sie werden daher noch hin und her gerissen. Diese noch vorhandene Nicht-Feststellung der Deutschen stellt aber zugleich für sie und für Europa auch eine Chance dar: die Deutschen können in Europa als "Volk der Mitte, als Volk der Vermittlung, als Ferment-Rasse" wirken. (Auch hier werden "Volk" und "Rasse" wieder synonym verwendet). Allerdings hat es den Anschein, daß auch diese "Vermittlung" den Deutschen noch keineswegs gelungen ist: "Man rechne sich die Geschichte der deutschen Seele nach, man begreife, wie diese in sich unausgeglichenen vielspältigen, vielfachen Menschen äußerlich schwach, servil, bequem, ungeschickt, innerlich ein Tummelplatz geistiger Versuchungen und Kämpfe wurden: wie endlich wenigstens eine Art aufrührerischer Bauern- und Prediger-Geist hervorsprang (Luther ist das schönste Beispiel davon, er, der den Bauernkrieg des Geistes gegen die 'höheren' Menschen der Renaissance anführte-), wie dieser Bauern- und Prediger-Geist später zum angriffsbereiten, schneide- und beißlustigen Bürger- und Kritikergeiste sich wandelt - Lessing ist davon wieder das schönste Beispiel, er, der einen 'Bürger-Krieg', den Krieg des deutschen bourgeois gegen den aristokratischen Geist der französischen Cultur anführte... bis endlich unser letzter Doppel-Typus des fortentwickelnden Geistes, Goethe und Hegel, den Alles umfassenden Boa-Constrictor 'Geist an sich' und seine Ferment-Natur an den Tag brachte, die kosmo- und theopolitische Allzugänglichkeit des Deutschen... ganz Europa sank vor Bewunderung auf die Knie-; -freilich ebenso sehr auch den
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vollkommenen Mangel an Grenzen, an Maass im griechischen Sinn, an 'Stil' in jedem Sinn, an eigentlichem Inhalt - ich meine an neuen Werth-setzungen, WerthSchöpßmgen." (KSA 11,703,7-33: H 88: 43/3/).
Der "vielfältige, vielfache" deutsche Mensch hat sich also nach allen Seiten geöffnet, aber es ist ihm noch nicht gelungen, eine "Grenze", ein "Maass", einen "Stil" zu finden, der sich in "eigentlichem Inhalt", in "neuen WerthSchöpfungen" niedergeschlagen hätte. Die "Ferment-Natur" des Geistes ist allein nicht in der Lage, Werte zu setzen. Dazu bedarf es eines kreativen Aktes, zu dem Kraft und Wille notwendig sind, die den Deutschen ja gerade noch abgehen. Hier ist noch eine Bemerkung zu dem Wort "Ferment" am Platz. Es taucht im 19. Jahrhundert wiederholt im Zusammenhang der antisemitischen Judenhetze auf. Die Juden werden wegen ihres angeblich zersetzenden Einflusses als "Ferment der Dekomposition" angeprangert.179 Wenn Nietzsche hier von der "Ferment-Rasse" der Deutschen spricht, dann scheut er also nicht davor zurück, ein zunächst eher negativ konnotiertes Wort zu verwenden, es auf die Deutschen anzuwenden, und daraus eine zunächst jedenfalls positive Eigenschaft zu machen. Die "Ferment-Rasse" bezeichnet ein Volk, das sich nicht abschließt, sondern sich öffnet für alle Arten Einflüsse. Daß die Deutschen aus dieser Öffnung noch keinen "Gewinn" zu ziehen verstehen, liegt an ihnen selbst, an ihrer -wie Nietzsche hofft- vorübergehenden "Erschöpfung". Eine "Ferment-Rasse" zu sein, ist an sich zu begrüßen, man muß aber auch die Kraft haben, aus der dadurch zu gewinnenden Bereicherung "neue Werthe" zu "schöpfen". Des weiteren kann eine "Ferment-Rasse", wie Nietzsche andeutet, integrierend und "vermittelnd" wirken. Dies kann eine wichtige Aufgabe sein auf dem Weg eines zu einenden Europa, wie Nietzsche es anstrebt. Leider sind aber die Deutschen, und das deutet schon der vorhergehende Text an (Luther und Lessing kämpfen gegen den "'höheren Menschen' der Renaissance" bzw. gegen den "aristokratischen Geist der französischen Cultur"), dieser Rolle bisher nicht gerecht geworden. Im Gegenteil, sie haben als "Nachzügler" und "Verzögerer" den "Gang der Cultur" gehemmt (13, 587,23 f):
179
Belege bei Cobet 1973, 112.
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"Man soll es den Deutschen nie vergeben, die Renaissance um ihr Ziel, um ihren Sieg gebracht/zu haben/,- den Sieg über das Christenthum. Die deutsche Reformation ist ihr dunkler Fluch... Und noch drei Mal hat diese Unglücks-Rasse sich dazwischen gemacht, um den Gang der Cultur zu hemmen - die deutsche Philosophie, die Freiheitskriege, die Gründung des Reichs am Ende des neunzehnten Jahrhunderts - lauter große Verhängnisse der Cultur." (KSA 13, 587,23-30: Sept/Okt. 88: 22/9/). Nietzsche urteilt nicht nur im Jahre 1888 so negativ über die Deutschen. Schon in "Jenseits von Gut und Böse" ist von "dumpfen zögernden Rassen" die Rede, "welche auch in unserm geschwinden Europa halbe Jahrhunderte nöthig hätten, um solche atavistischen Anfalle von Vaterländerei und Schollenkleberei zu überwinden und wieder zur Vernunft, will sagen zum 'guten Europäerthum' zurückzukehren". (Aph. 241: 5,180,28-181,1). Hier ist zweifellos von den Deutschen die Rede. Im Frühjahr 84 heißt es: "Die Deutschen verderben, als Nachzügler, den großen Gang der europäischen Cultur: Bismarck Luther z.B.; neuerdings, als Napoleon Europa in eine StaatenAssociation bringen wollte (der einzige Mensch, der stark genug dazu war!), haben sie mit den 'Freiheits-Kriegen' Alles vermanscht und das Unglück des Nationalitäten-Wahnsinns heraufbeschworen (mit der Consequenz der Rassenkämpfe in so altgemischten Ländern wie Europa!) So haben Deutsche die saracenische Cultur zum Stehen gebracht -: immer sind es die Zurückgebliebenen!" (KSA 11,43-44: F 84: 25/1157). Hier weist Nietzsche noch zusätzlich auf die Sinnlosigkeit des Nationalitätendenkens hin, da Europa ohnehin ein "altgemischtes" Land sei, in dem alle Völker mit einander "gemischt" sind, so daß "Rassenkämpfe" von vornherein ein Unding sein müssen. Es gibt in Europa keine "Rassen" im Sinn irgendwelcher "reinen Rassen", sondern nur "Rassen" als "Mischvölker",
d.h.
"Rassen" sind hier "Völker", und sonst nichts. Hier wird jedwelche Vorstellung von "rassischer Reinheit", besonders im genealogischen Sinn, abgelehnt. Wie Nietzsche sich die Zukunft der Deutschen vorstellt, haben wir schon in einigen Hinweisen kennengelernt. Für die jetzigen Deutschen stellt Nietzsche fest: "Die Deutschen sind noch nichts, aber sie werden etwas... Sie sind noch nichts: das heißt: sie sind allerlei. Sie werden etwas: das heißt, sie hören einmal auf, allerlei zu sein. Dies letzte ist im Grunde nur ein Wunsch, kaum noch eine Hoffnung; glücklicher Weise ein Wunsch, auf den hin man leben kann, eine Sache des Willens, der
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Arbeit, der Zucht, der Züchtung so gut als eine Sache des Unwillens, des Verlangens, der Entbehrung, des Unbehagens, ja der Erbitterung..." (KSA 11,572,7-18: Juni/Juli 85: 36/53/). Die Deutschen müssen ihre "Einheit" in Nietzsches Sinn finden, davon war schon die Rede. Dies ist u.a. "eine Sache des Willens, der Arbeit". Die "Arbeit" als Weg zur Kultur war uns schon bei den Griechen begegnet. Wenn hier auch von "Zucht/ Züchtung" gesprochen wird, so dürfte dabei primär an Erziehung und Bildung gedacht sein: Nietzsche nennt Schopenhauer z.B. seinen "Zuchtmeister" und er spricht etwa auch von der "Zucht von Gefühlen und Gedanken" (6,149, 18). Auf dieses Problem ist später aber noch gründlicher einzugehen. Die Deutschen müssen ihre "Deutschthümelei" und "Vaterländerei" aufgeben: "Man möchte fast glauben, daß, wenn es endlich doch so etwas geben sollte, wie 'deutschen Geist', er erst durch Entdeutschung, ich meine durch Mischung mit ausländischem Blut ermöglicht worden ist. Wer rechnet nach, was den Slaven oder den Kelten oder den Juden für die Vergeistigung Deutschlands alles verdankt wird!" (11,702, 25-30: H 85: 43/3/). An anderer Stelle erwähnt Nietzsche auch die "Slaven": "Erst durch eine starke Mischung mit slavischem Blute" seien die Deutschen "in die Reihe der begabten Nationen eingerückt". Dabei werden auch ausdrücklich die Polen genannt. (9,682,3-8: S 82: 21/27). Es fallt auf, daß Nietzsche immer wieder auch solchen Völkern eine hohe Bedeutung zumisst (wie den Polen und Juden), deren Wertschätzung im allgemeinen Urteil damals keineswegs besonders groß war. In der "Fröhlichen Wissenschaft" wird in dem Aphorismus 146 mit dem Titel "Deutsche Hoffnungen"
auch die Möglichkeit begrüßt, daß die Deutschen
"das erste unchristliche Volk Europa's würden". Sie könnten dadurch "aus ihrem alten Schimpfnamen sich nachträglich einen Ehrennamen" machen. Die "Völkernamen" seien nämlich "gewöhnlich Schimpfnamen". Die "Deutschen" bedeute ursprünglich "die Heiden": "so nannten [nämlich] die Gothen nach ihrer Bekehrung die große Masse ihrer ungetauften Stammes verwandten". (3, 492,2-8). Daß Nietzsche hierbei auf die Unterstützung der Juden rechnet, haben wir schon gesehen.
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Parlamente und demokratische Verfahren lehnt Nietzsche für die Deutschen vorläufig ab. Diese könnten zwar für einen "starken und biegsamen Staatsmann äußerst nützlich sein, er hat etwas, worauf er sich stützen kann... wohin er viele Verantwortung abwälzen kann!" (11,456,22-25: Apr./Juni 85: 34/1097). Die Deutschen scheinen ihm aber "noch nicht" reif genug für solche Verfahren: "Im Ganzen aber wünsche ich, daß der Zahlen-Blödsinn und der Aberglaube an Majoritäten sich noch nicht [Unterstreichung GS] in Deutschland wie bei den lateinischen Rassen festsetzte; und daß man endlich auch noch etwas in politicis erfinde! Es hat wenig Sinn und viel Gefahr, die noch so kurze und leicht wieder auszurottende Gewohnheit des allgemeinen Stimmrechts tiefer Wurzel schlagen zu lassen: während seine Einführung doch nur eine Noth- und Augenblicks-Maassregel war." (11,457,1-8).
Vordringlicher erscheint ihm ein anderer Punkt: "Die Deutschen sollten eine herrschende Kaste züchten", um "Weltpolitik" treiben zu können. Und dies offenbar wieder, indem sie von den Juden lernen: "Die Deutschen sollten eine herrschende Kaste züchten: ich gestehe, daß den Juden Fähigkeiten innewohnen, welche als Ingredienz bei einer Rasse, die Weltpolitik treiben soll, unentbehrlich sind. Der Sinn für Geld will gelernt, vererbt und tausendfach vererbt sein..." (11,457,20-24: Apr./Juni 85: 34/111/).
Das Volk der Deutschen soll also mit anderen Völkern zusammen - vorher wurden die Polen, Kelten, Slawen und Juden genannt - "Weltpolitik treiben". Was Nietzsche damit meint, ist nicht ohne weiteres auszumachen. Daß er dabei nicht an eine imperialistische Politik auf nationalistischer Basis gedacht haben dürfte, läßt sich aus seiner Polemik gegen das Haus Hohenzollem vermuten. Eher könnte vielleicht an einen übernationalen "Völkerbund" gedacht werden180, unter der Führung eines "vereinten Europa", in dem dann die genannten Völker eine maßgebliche Rolle spielen würden. Auf diese Frage ist noch einmal zurückzukommen.181
180 181
So auch Brose 1994, 115. Zu dem hier angeschnittenen Fragenkreis vgl. auch die sehr aufschlußreichen Ausführungen zu dem Stichwort "Erdregierung" bei Marti 1993, 177, 194 und 206. Der Akzent scheint bei Nietzsche weniger auf einem machtpolitischen Aspekt zu liegen, sondern eher auf einem ökonomisch-wirtschaftlichen, unter Reduzierung des Machtaspekts. Er spricht einmal von einer "Wirtschaftsgesamtverwaltung der Erde" mit einem "immer wachsenden Überflüssigwerden aller dominirenden und commandirenden Elemente" (KSA 12,462 f: 10/17/). Dazu auch Marti 1993, 177.
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Die Völker Europas
Im obigen Zitat begegnen wir auch wieder dem Wort "züchten". Eine genauere Untersuchung des damit angeschnittenen Problems erfolgt im zweiten Teil dieser Untersuchung. Wie wir sehen, sind die Deutschen bei Nietzsche ein Mischvolk, das kaum etwas mit den Germanen zu tun hat, das sich erst von seiner "Erschöpfung" erholen und eine "Einheit" finden muß, und dies in regem Austausch mit anderen Völkern. Sie sind noch nichts, aber sie können etwas werden, aber auch dies nur zusammen mit anderen Völkern. Persönlich ist er enttäuscht, daß die Deutschen, "diese schwerfällige Rasse" so lange braucht, sich für ihn, "eine ihrer seltsamsten Mißgeburten zu interessiren" (Brief an Köselitz, Okt. 87: KSB 8,179). Nie habe ihn ein Wort von ihnen erreicht: "das zwang mich, mich selber zu erreichen... Ich wäre nicht möglich ohne eine Gegensatz-Art von Rasse, ohne Deutsche, ohne diese Deutschen, ohne Bismarck, ohne 1848, ohne 'Freiheitskriege', ohne Kant, ohne Luther selbst... Die großen Cultur-Verbrechen der Deutschen rechtfertigen sich in einer höheren Ökonomik der Cultur... Ich will Nichts anderes, auch rückwärts nicht,- ich durfte Nichts anders wollen... Amor fati..." (13,641,15-23: Dez. 88/Anf. 89: 25/77).
Die Deutschen, so wie sie sind, haben ihn, Nietzsche, "möglich" gemacht. Im Kampf, Agon mit dieser "Gegensatz-Art von Rasse" konnte Nietzsche Nietzsche werden, mußte er Nietzsche werden: "das zwang mich..." Dies akzeptiert er: "Amor fati". Dies ist, bei aller Erbitterung, ein versöhnliches Wort, auch zu den "Cultur-Verbrechen der Deutschen".
Die Polen
Die Polen spielen bei Nietzsche, neben den Juden, eine ganz besondere Rolle, war er doch davon überzeugt, von den Polen abzustammen.182 Von 'guten' Deutschen wurde seine Philosophie offenbar für nicht gut 'deutsch' gehalten, denn sie beschimpften ihn teils als Juden, und teils als Polen. Poliakov hebt dies hervor:
182
Auch Leibniz zog für sich polnische Vorfahren in Erwägung. Dazu Kurt Huber, Leibniz. München 1951. S. 13.
Die Polen
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"Eugen Dühring beweerde dat Nietzsche een Jood was, en Theodor Fritsch waarschuwde de jeugdige Studenten tegen deze Onbeschaamde Pool'".183
Wir haben Dühring und Fritsch bereits als führende Antisemiten des radikal gewordenen Preußentums der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kennengelernt.184 Bismarck rechnete die Polen zu den 'weiblichen' Völkern, zu denen Nietzsche z.B. auch die Griechen zählte.185 Virchow "recognized the high cultural level of the early Slav settlers in areas such as his native Pomerania".186 Hitler hatte jedoch eine ganz andere Meinung von den Polen: Abgesehen von einer "dünnen germanischen Schicht" bestehe das polnische Volk "aus einem furchtbaren Material", und die polnischen Juden seien "das Grauenhafteste, was man sich überhaupt vorstellen kann".187 Von Nietzsche kann Hitler diese Einschätzung der Polen nicht bezogen haben. Polen war im 19. Jahrhundert noch lange Zeit ein Agrarland, also von Bauern bewohnt. Hinzu kam die weitläufige Schicht der adligen Großgrundbesitzer. Den bürgerlichen Mittelstand, Handel u.a., stellten die Juden.188 Von 1815 bis zum Ende des ersten Weltkriegs war Polen unter die drei Kaisermächte Preußen, Russland und Österreich aufgeteilt, ein polnischer Staat bestand nicht. In mehreren Aufständen versuchten die Polen, das Joch der Fremdherrschaft abzuschütteln (1830, 1848, 1863), jedoch ohne Erfolg. Diese Zustände führten dazu, daß ein Teil des Adels nach Frankreich in die Emigration ging, wo er mit Begeisterung aufgenommen wurde. Unter den Emigranten war auch der Schriftsteller Adam Mickiewicz, dessen Epos "Herr Thaddeus", in dem er die große Vergangenheit Polens besingt und über das auch Georg Brandes sich in seinem Polenbuch lobend ausläßt, auch Nietzsche in der Übersetzung von Lipiner gelesen hat (KSB 6,494).
183
184 185 186 187 188
Poliakov 1979, 310 und 405, Anm. 196. Auf Deutsch: "Eugen Dühring behauptete, daß Nietzsche ein Jude sei, und Theodor Fritsch warnte die jugendlichen Studenten vor diesem 'schamlosen' Polen". Zu Dühring und Fritsch vgl. im Namensregister. Brackmann 1939, 5. Weindling 1989, 55. Broszat 1963, 217-218. Bernhard 1910, 31.
108
Die Völker Europas
Die Beziehungen zwischen Polen und Russen waren unter Zar Alexander bis 1825 sehr gut, verschlechterten sich jedoch unter der Herrschaft von Zar Nikolaus zusehends.189 Napoleons Feldzüge hatten schon 1806 zu einer Vertreibung der Preußen aus Polen geführt, die jedoch nur von kurzer Dauer war. Dennoch kann dieser Befreiungsversuch mit zu Nietzsches Napoleonbegeisterung beigetragen haben.190 Die preußische Polenpolitik hatte es lange Zeit nicht auf eine 'Germanisierung' der in Polen, Schlesien und Westpreußen lebenden Polen abgesehen. Erst nach dem dritten Aufstand (ab 1864) verschärfte sich das Klima, von nun ab sollte die "deutsche Schule" den Osten "germanisieren".191 In Deutschland gab es sowohl polenfreundliche wie auch polenfeindliche Stimmen. Platen schrieb "Polen-Lieder", der Historiker F. von Raumer beklagte den Untergang Polens, C. von Rotteck nannte in seiner "Weltgeschichte" (1832) die "Leidensgeschichte Polens... das traurigste Schauspiel in der Geschichte".192 Zu den antipolnischen Stimmen gehört etwa G. Freytag, der den Polen "Mißwirtschaft, Liederlichkeit, Falschheit und jüdische Gemeinheit" vorwirft.193 Ab 1873 gehören die Polen als "dreckige Polacken" zu den in Deutschland diffamierten Minderheiten.194 Nietzsche weist diese "antipolnische Dummheit" der Deutschen ausdrücklich zurück (KSA 5,192,23). Im "Ecce homo", in dem er seine eigene polnische Abstammung hervorhebt (darauf ist zurückzukommen), stuft er die Polen als
189 190
191 192 193 194
Broszat 1963, 67-68. Napoleons Feldzüge brachten nicht nur den Polen eine (wenn auch nur zeitweise) Befreiung von Fremdherrschaft. Auch die Juden in Deutschland empfanden seine Eroberungszüge als Beiträge zu ihrer Befreiung, so etwa in den linksrheinischen Gebieten. Die Juden betrachteten daher das napoleonische Frankreich als "Land der Befreiung" (Richarz 1974, 151). Napoleon galt lange Zeit im 19. Jahrhundert in Deutschland als "großer Ohew Israel", also als "großer Judenfreund", so gemäß einem Ausspruch von E. Silbermann, der als erster Jude Deutschlands 1879 zum Staatsanwalt ernannt wurde und später Senatspräsident beim Oberlandesgericht in München war (Richarz 1976, 169). Dieser emanzipatorische Aspekt der Politik Napoleons dürfte keine geringe Rolle gespielt haben für Nietzsches positives Napoleonbild, was leider meist übersehen wird. Bernhard 1910, 82. Broszat 1963, 71. Broszat 1963, 90. Rosenberg 1967, 115-116.
Die Polen
109
die "vornehmste Rasse" ein, "die es auf Erden gab" (6,268,20-21). Auch in einem Nachlaßfragment (KSA 9,681-2: S 82: 21/27), singt er, nach einem weiteren Hinweis auf seine polnische Herkunft, das Lob der Polen: "Die Polen galten mir als die begabtesten und ritterlichsten unter den slavischen Völkern; und die Begabung der Slaven schien mir höher als die der Deutschen, ja ich meinte wohl, die Deutschen seien erst durch eine starke Mischung mit slavischem Blute in die Reihe der begabtesten Nationen eingerückt." (9,682,3-8).
Diesen Passus kennen wir schon. Die Deutschen haben sich mit den Slawen, also auch Polen, vermischt, und dieser Vermischung sehr viel zu verdanken. Vermerkt sei, daß Nietzsche in den beiden Zitaten wieder "Rasse" und "Völker" nebeneinander verwendet, was nahelegt, daß er sie synonym verwendet. Im Anschluß an das obige Textstück nennt Nietzsche dann weitere Einzelheiten für seine Polenwertschätzung: "Es that mir wohl, an das Recht des polnischen Edelmanns zu denken, mit seinem einfachen Veto den Beschluß einer Versammlung umzuwerfen; und der Pole Copernicus schien mir von diesem Rechte gegen den Beschluß und den Augenschein aller anderen Menschen eben nur den größten und würdigsten Gebrauch gemacht zu haben." (9,682, 8-13).
Der polnische Edelmann kann durch sein Veto den Beschluß einer Versammlung umwerfen, und Copernicus hat sich des gleichen Rechtes bedient, als er gegen "den Augenschein" sein neues Weltbild einführte. Bemerkenswert ist hier das von Nietzsche verwendete Verb "umwerfen": es dürfte eine Anspielung auf seine "Umwertung aller Werthe" enthalten. Und die Formel "gegen den Augenschein" dürfte eine Anspielung auf den bekannten Text "Wie die wahre Welt zur Fabel wurde" enthalten. Nietzsche deutet hier Parallelen zwischen dem Recht und Handeln des polnischen Edelmanns und seinem eigenen Denken an. Und vielleicht geht es nicht nur um ein "Recht", sondern vielleicht auch um eine "Berechtigung": wie der polnische Edelmann, einschließlich Copernicus, das Recht hat, Beschlüsse gegen "den Augenschein" "umzuwerfen", so hat auch er, Nietzsche, als polnischer Abkömmling, das Recht und die Berechtigung, ähnliche "Umwerfungen", d.i. "Umwertungen" vorzunehmen. Schließlich geht Nietzsche noch auf die politischen Zustände der Polen ein:
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Die Völker Europas
"Die politische Unbändigkeit und Schwäche der Polen, ebenso wie ihre Ausschweifung waren mir eher Zeugnisse für ihre Begabung als gegen dieselbe." (9, 682,13-16).
Nietzsche denkt hier wohl an das geteilte Polen und die daraus resultierenden politischen Wirren, auf die kurz hingewiesen wurde. Vielleicht dachte er auch an Deutschland, das ja, seiner Auffassung nach, die staatüche Einswerdung unter Bismarck mit einem hohen Preis bezahlt hatte, mit einem zu hohen Preis. Denn nach Nietzsches Urteil war diese Vereinigung auf Kosten der Kultur herbeigeführt worden. Wenn staatliche "Stärke" einen solchen Preis erfordert, dann war Nietzsche die "Schwäche" der Polen Heber. Nietzsche spricht dann von seiner Verehrung für Chopin, und aus diesen Ausführungen wird noch besser deutlich, was ihm an den Polen besonders zusagte: "An Chopin verehrte ich namentlich, daß er die Musik von den deutschen Einflüssen, von dem Hange zum Häßlichen, Dumpfen, Kleinbürgerlichen, Täppischen, Wichtigthuerischen freigemacht habe: Schönheit und Adel des Geistes und namentlich vornehme Heiterkeit, Ausgelassenheit und Pracht der Seele, insgleichen die südländische Gluth und Schwere der Empfindung hatten vor ihm in der Musik noch keinen Ausdruck. Mit ihm verglichen, war mir selbst Beethoven ein halbbarbarisches Wesen..." (9,682,16-24).
In diesem Textstück taucht auch wieder das Wort "vornehm" auf: "vornehme Heiterkeit und Pracht der Seele". Daran dachte Nietzsche wohl auch, wenn er die Polen als die "vornehmste Rasse" einschätzte, "die es auf Erden gab". Die Polen werden damit an die Seite der Griechen gestellt. Auf Copernicus, "den Gegner des Augenscheins", dem Nietzsche sich so verwandt fühlen konnte, kommt er noch mehrmals zu sprechen. Öfter nennt er dabei zugleich auch den Namen Boscovich, eines Mathematikers, der 1758 eine "Theoria philosophiae naturalis" veröffentlicht hatte, die auf Nietzsche großen Eindruck machte, und den er ebenfalls für einen Polen hielt. So heißt es in einem Fragment (KSA 9,643: H 81: 15/217): "Die beiden größten Gegner des Augenscheins sind Copernicus und Boscovich, beides Polen und beides Geistliche - letzterer erst hat den Stoff - Aberglauben vernichtet, mit der Lehre vom mathematischen Charakter des Atoms."195
195
Dazu eingehender Dohmen 1994, 237-238.
Die Polen
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Nietzsche war in der Tat überzeugt, väterlicherseits von Polen abzustammen. In einem Fragment vom Sommer 1882 hat er sich ausführlich dazu geäußert (KSA 9, 681-2: S 82: 21/2/): "Man hat mich gelehrt, die Herkunft meines Blutes und Namens auf polnische Edelleute zurückzufuhren, welche Nietzky hießen und etwa vor hundert Jahren ihre Heimat und ihren Adel aufgaben, unerträglichen religiösen Bedrückungen endlich weichend: es waren nämlich Protestanten. Ich will nicht leugnen, daß ich als Knabe keinen geringen Stolz auf diese meine polnische Abkunft hatte: was von deutschem Blute in mir ist, rührt einzig von meiner Mutter, aus der Familie Oehler, und von der Mutter meines Vaters, aus der Familie Krause, her, und es wollte mir scheinen, als sei ich in allem Wesentlichen trotzdem Pole geblieben. Daß mein Äußeres bis jetzt den polnischen Typus trägt, ist mir oft genug bestätigt worden; im Auslande, ..., hat man mich oft als Polen angeredet; in Sorrent, wo ich einen Winter verweilte, hieß ich bei der Bevölkerung il Polacco; und namentlich bei einem Sommeraufenthalt in Marienbad wurde ich mehrmals in auffallender Weise an meine polnische Natur erinnert: Polen kamen auf mich zu, mich polnisch begrüßend und mit einem ihrer Bekannten verwechselnd, und Einer, vor dem ich alles Polenthum ableugnete und welchem ich mich als Schweizer vorstellte, sah mich traurig längere Zeit an und sagte endlich: 'es ist noch die alte Rasse, aber das Herz hat sich Gott weiß wohin gewendet'." (9,681, 6-27).
Nietzsche ist also polnischer "Abkunft", sein "Äußeres" hat seine polnische Herkunft bewahrt: Polen erkennen ihn an seiner "polnischen Natur", ja sogar die Bevölkerung von Sorrent erkennt dies und nennt ihn "il Polacco". Ein Pole bestätigt ihm sogar, daß die "alte Rasse" noch zu erkennen sei. Polen und auch Nicht-Polen (Sorrent) haben offenbar ein Bild von der "polnischen Natur": sie erkennen Polen an ihrer "polnischen Natur". Nietzsche nennt hier keine näheren Einzelheiten, worin denn diese "polnische Natur" bestehe. Denn dadurch würde ja einem Volk, einer "Rasse", ein konkretes äußeres Erscheinungsbild zugeordnet. Dies wird hier, wohl bewußt, vermieden. Die "polnische Natur" Nietzsches ist nicht "mit den Händen zu greifen". Und ein Pole erkennt zudem, "daß das Herz sich, Gott weiß wohin, gewendet hat". Nietzsche ist nicht bei seiner polnischen Herkunft stehengeblieben, obwohl er sie als wertvollen Besitz betrachtet. Auch in "Ecce homo" macht Nietzsche nähere Angaben zu semer polnischen Herkunft (6,268-9), und er deutet dort auch darüber hinausgehende Verwandtschaften an. Diese Stelle soll in anderem Zusammenhang eingehender interpretiert werden.
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Die Völker Europas
In den Briefen geht Nietzsche wiederholt auf seine polnischen Vorfahren ein (KSB 6,37; 6,287; 6,494) und einmal bringt er seine Einsamkeit als Deutscher damit in Verbindung: "Ich wage zu sagen, daß meine Vorfahren, vierte Generation, polnische Edelleute waren; meine Urgroßmutter und Großmutter väterlicherseits in die Goethische Zeit Weimars gehören: Gründe genug, um in einem kaum denkbaren Grade heute der einsamste Deutsche zu sein." (KSB 8,533: Brief Dez. 88 an J. Bourdeau, Paris).
Zwischen sich und den Deutschen sieht Nietzsche offenbar eine Kluft, die einmal in seiner Herkunft liegen mag, zum ändern aber sieht er sich auch als 'unzeitgemäß': ein Teil seiner Wurzeln reicht in die "Goethische Zeit Weimars" zurück. Was läßt sich nun an Belegen für Nietzsches These semer polnischen Abstammung beibringen? Wie weit hält sie der Forschung stand? Zunächst einmal soll Nietzsche, wie die Schwester berichtet, "im Winter 1883/84 in Genua oder Nizza" ein Dokument vorgelegen haben, das Nietzsches These bestätigte.196 Dieses Dokument soll von einem Polen besorgt worden sein. Es trug den Titel: "L'origine de la famille seigneuriale de Nietzki". Nach Auffasung von Janz "muß Niezsche hierbei einer der häufigen Stammbaumfälschungen aufgesessen sein, denn das zehnbändige Adelslexikon 'Herbarz polski' von K. Niesiecki, Leipzig 1839/48 kennt überhaupt keinen solchen Adelsnamen."197
Auch Drews und Meyer halten das Dokument für eine Fälschung.198 Elisabeth hielt es offenbar nicht für eine Fälschung und sie weiß über die polnische Herkunft Folgendes zu berichten: "Die Familientradition erzählt, daß ein Schlachzize Nicki (phonetisch Nietzky) sich August dem Starken als König von Polen besonders angeschlossen hat und von ihm den Grafentitel erhielt. Als dann der Pole Stanislaus Leszcinski König wurde, verwickelte sich unser mythischer Vorfahr in eine Verschwörung zugunsten der Sachsen und des Protestantismus. Er wurde zum Tode verurteilt, floh mit seiner Frau, die soeben einen Sohn geboren hatte, und irrte mit ihr zwei oder drei Jahre flüchtend in den Kleinstaaten Deutschlands umher, während welcher die Ururgroßmutter den kleinen Sohn mit ihrer eigenen Milch ernährte."199
196 197 198
199
Janz 1978, I, 27. Janz ebenda. Drews 1904, 6 und Meyer 1913, 10-108.
Zitat bei Janz 1978,1, 27.
Die Polen
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Raoul Richter schließt sich in seinem Nietzsche-Buch dieser Darstellung im wesentlichen an, nimmt aber einige Korrekturen vor und versucht sogar eine 'rassenmäßige' Einordnung Nietzsches. Über die 'Schädelform' der Familie habe man zwar keine "exakten Aufschlüsse". Nietzsche selbst hatte hellbraune Augen, braunes Haar (als Kind blond), sein Schädel war 'dolichocephal' [also 'germanischer Langschädel': GS]. "Danach würde er im Sinne neuerer Theorien etwa der a potion germanisch genannten Rasse mit alpinem Einschlag anzugliedern sein."200
Und zur Polenfrage meint Richter: "Auch die Zugehörigkeit zum Polentum hat eine eigentümliche Bestätigung dadurch erfahren, daß zwar nicht eine gräfliche Familie Nietzki, wohl aber eine adlige Familie Nicki im Jahre 1632 nach Preußen auswanderte, und daß das Wappen dieser Familie (Radwan-Wappen) sich auf einem Petschaft befindet, das die Nietzsches als Erbstück hüteten."201
Es ist zweifellos bemerkenswert, wie unbefangen ein Nietzscheforscher sich zu Beginn der 20-er Jahre des pseudowissenschaftlichen Rassejargons bedient und daraus glaubt, Schlüsse ableiten zu können. Max Oehler hat als erster die Ahnentafel Nietzsches eingehend untersucht.202 Er geht zurück bis ins 16. Jahrhundert und findet zunächst vier Generationen der Nietzsches in Burkau in der Oberlausitz, etwa im Zeitraum von 1570 bis 1706. Dann ziehen die Nietzsches nach Bibra, und schließlich nach Eilenburg. Der Sohn des Eilenburger Nietzsche ist Nietzsches Vater. Oehler betont, daß die Bevölkerung 'Mitteldeutschlands' teils germanischer, teils slawischer Herkunft sei. Auch er räumt ein, daß zwischen diesen Bevölkerungen fortwährend "neue Verbindungen" eingegangen wurden.203 Die Forschungen Oehlers schließen also eine polnische (bzw. slawische) Herkunft, zumindest eine derartige Teilherkunft, keineswegs aus. Sehr fraglich geworden ist jedoch, ob die Nietzsches von einem "Edelmann" abstammen. Es könnte vielleicht noch aufschlußreich sein, die Schicksale der Protestanten in Preußen und den preußischen Ostgebieten näher zu untersuchen. Nietzsche weist selber im oben zitierten Text (KSA 9,681-2) auf 200
201 202 203
Richter 1922, 17.
Richter ebenda. Oehler 1939. Zu Oehler vgl. Janz 1978,1, 27-30.
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diesen Punkt hin: er spricht von "unerträglichen religiösen Bedrückungen", denen seine protestantischen Vorfahren weichen mußten (9,681,9-10). Broszat, der zweihundert Jahre preußischer Polenpolitik genauer untersucht hat, gibt zu den bei Nietzsche angedeuteten religiösen "Wanderungen" der Protestanten einige Hinweise. Demnach wichen deutsche Protestanten im 16./17. Jahrhundert wegen religiöser Verfolgung aus Böhmen und Schlesien nach Polen aus. Da sie auch hier nicht gem gesehen waren, folgten sie "den Werbern des Preußenkönigs, der die Dissidenten anderer Länder als Kolonisten in Schlesien, der Neumark und in Westpreußen ansiedeln ließ."204
Hieraus lassen sich zwar keine direkten Schlüsse für die Nietzsches ziehen, jedoch könnten diese Hinweise ein Ansatzpunkt sein für eine weitere Erhellung von Nietzsches Herkunftsfrage. Wenn Nietzsches genealogische Verwandtschaft mit den Polen auch weiterhin nicht als gesichert gelten kann, so bleibt doch seine 'Wahlverwandschaft' davon unberührt: er fühlte sich den Gegnern des "Augenscheins" verwandt. Wie Copernicus eine "Umwälzung" des Weltbildes herbeigeführt hatte, so wollte Nietzsche eine "Umwerthung" der Werte bewerkstelligen. Poliakov hält es für sehr aufschlußreich, daß Nietzsche von den Polen abstammen wollte.205 Es ist die Sympathie für ein wenig geachtetes, ohnmächtiges Volk, das dennoch große Taten des Geistes vollbrachte.206
Die Russen
Die Russen werden öfter zusammen mit den Polen genannt, die Polen sind jedoch nach Nietzsches Auffassung die "begabtesten unter den slavischen Völkern" (9,682,4). Zwischen Russen und Preußen bestand im 19. Jahrhundert lange Zeit eine "Tradition der Freundschaft", insbesondere der russische adlige Großgrundbesitz war preußenfreundhch eingestellt. Erst nach dem Sieg der 204 205 206
Broszat 1963, 22. Poliakov 1979, 310. Paul van Tongeren gibt zu bedenken, ob bei Nietzsche hier nicht ein romantisches Motiv am Werk sein könnte; der von Gott verlassene Künstler sucht sich in der Fremde eine neue, vornehme Herkunft. Wie wir noch sehen werden, sieht Nietzsche im "Ecce homo" in Alexander und Cäsar frühe Verwandte. Wie dies zu verstehen sei, ist ihm selbst nicht verständlich. Seine Herkunft ist ihm 'rätselhaft'.
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Preußen über Frankreich 1870/71 traten Spannungen auf, die von einem entstehenden antideutschen Nationalismus verschärft wurden.207 Wenn Nietzsche wiederholt ein Zusammengehen der Russen und Preußen/Deutschen befürwortet, denkt er offenbar primär an die Zeit der spannungsfreien Freundschaft zwischen beiden Völkern. Wie aus einem Brief vom März 1887 hervorgeht, hat er vor allem im Rahmen seiner Dostojewsky-Lektüre "über die Gemüths-Eigenschaften des russischen Volkes viel nachgedacht". Er schreibt an Emily Fynn: "Sagen Sie, bitte, Ihrer verehrten Freundin [Gräfin Muchanoff-Kalergis, mit der Nietzsche ebenfalls befreundet war], daß ich diesen Winter über die GemüthsEigenschaften des russischen Volks viel nachgedacht habe, dank dem eminenten Psychologen Dostojewsky dem, was Schärfe der Analyse betrifft, selbst das modernste Paris Niemanden zur Seite zu stellen hat. Man lernt die Russen durch ihn lieben - man lernt sie auch fürchten. Das ist ein Volk, das seine Kräfte noch nicht verbraucht hat, wie die meisten europäischen Völker, weder die Kräfte seines Willens noch die seines Herzens." (KSB 8,39).
Das russische Volk hat also nicht mit einer "Erschöpfung" zu kämpfen, wie etwa das deutsche, aus der es sich erst herausarbeiten müßte! Im Februar 1887 schreibt er an Overbeck, kurz nachdem er Dostojewsky kennengelernt hat: "Der Instinkt der Verwandtschaft (oder wie soll ich's nennen?) sprach sofort, meine Freude war außerordentlich..." (KSB 8,27).
Das muß ihn in der Forderung bestärkt haben, die er schon im Herbst 1885 erhoben hatte: die "Entdeutschung" des "deutschen Geistes" durch "Mischung mit ausländischem Blut", wobei er auf die Slawen, Kelten und Juden verweist. (KSA 11,702,26-29). Schon im Sommer/Herbst 1884 hatte er ein "m-einanderwachsen der deutschen und der slavischen Rasse" begrüßt: "Ich sehe mehr Hang zur Größe in den Gefühlen der russischen Nihilisten als in denen der englischen Utilitarier. Ein In-einander-wachsen der deutschen und der slavischen Rasse, - auch bedürfen wir der geschicktesten Geldmenschen, der Juden, unbedingt, um die Herrschaft auf der Erde zu haben." (KSA 11,238,22-27).208
Wie er in einem anderen Fragment nochmals hervorhebt, hatte es ihm vor allem die "Willens-Kraft" der Russen angetan:
207 208
Müller-Link 1977, 51-52 sowie 166. Diese Stelle wurde oben schon erläutert. Dazu auch oben schon Anm. 181.
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Die Völker Europas
"Mir scheint das erfinderische Vermögen und die Anhäufung von Willens-Kraft am größten und unverbrauchtesten bei den Slaven zu sein, dank einem absoluten Regimenter und ein deutsch-slavisches Erd-Regiment gehört nicht zu dem Unwahrscheinlichsten." (KSA 11,457,9-13: April-Juni 85: 34/1107).
Aus den zitierten Texten ergibt sich, daß nach Nietzsches Auffassung die Kräfte des Willens und "des Herzens" (Brief an Emily Fynn) ein Volk stark machen. Mit seiner Hilfe könnte die europäische "Willenslähmung", von der er an anderer Stelle spricht, überwunden werden. Schon an den Juden im Alten Testament hatte er die "Naivetät des starken Herzens" gelobt (5,393,15-18). Demnach soll also Stärke des Willens und des Herzens, Fülle der Kraft die Grundlage eines "Erd-Regiments" sein, nicht Schwäche. Der Starke leidet nicht an Ressentiment und neigt daher weniger zur Unterdrückung der Schwachen. Dies läßt die eher bedrohliche Vorstellung eines "Erd-Regiments" in einem freundlicheren Licht erscheinen. In den obigen Texten verwendet Nietzsche "Volk" und "Rasse" nebeneinander (nur einmal "Rasse"). Wir dürfen daher annehmen, daß auch hier "Rasse" semantisch mit "Volk" zusammenfällt.
Frankreich und die Franzosen
Auch die Franzosen haben, wie die anderen europäischen Völker, versucht, für sich eine möglichst ehrenvolle Genealogie zu erstellen. Ein Problem bildete dabei der nicht wegzuleugnende fränkisch-germanische Einfluß. Dieser Einfluß wurde von einem Teil der Theoretiker begrüßt, von einem anderen Teil aber so weit wie möglich heruntergespielt. Poliakov hat sich bemüht, die hin- und herwogende Diskussion näher zu erörtern.209 Als Ausgangspunkt waren einerseits die Gallo-Romanen gegeben, für die man eine weitgehende Vermischung annahm, denen auf der anderen Seite der fränkische Adel gegenüberstand. Die damit gegebene Spannung versuchte man aufzulösen, indem man für beide eine gemeinsame Herkunft ansetzte: aus Troja kamen demnach einerseits die Römer, die sich mit den Galliern zu den Gallo-Romanen vermischten; aber auch die Franken stammten über die Ver-
209
Poliakov 1979, 32-48.
Frankreich und die Franzosen
117
mittlung Hektars und eines ebenso mythischen Franciscus von den Trojanern ab. Auch Ronsard behielt diese trojanische Herkunft bei. Die Auffindung der "Germania" des Tacitus führte jedoch zu neuen Kontroversen. Es bildeten sich drei Standpunkte: die Königsgegner waren pro-gemianisch, die Königstreuen stuften Karl den Großen als Franzosen ein, die dritte Partei sah die Gallier als Vorfahren der Franzosen an. Bodin versuchte das Problem mit seiner "Reemigrationsthese" zu lösen: die Gallier waren vor den Römern geflüchtet und über den Rhein gewandert, um "frei" d.i. "frank" zu werden. Durch ihre Rückwanderung haben diese Gallier-Franken dann Gallien befreit. Die Franken waren also eigentlich Gallier. Der "Sonnenkönig" lehnte diese Theorie ab. Für ihn blieben die Franken die Franken. Es gab nun auch wieder Vorschläge, die Franzosen von dem biblischen Jafet abstammen zu lassen, so etwa Pascal. Diese These wurde jedoch als Fabelei eingestuft. Im 18. Jahrhundert bildete sich allmählich eine Frontstellung zwischen den beiden 'Ausgangsvölkern', also den Galliern (Galloromanen) und den Franken und ihren jeweiligen Befürwortern heraus. Gemäß Boulainvillier haben die Franken die Gallier besiegt und sind daher, dank ihres Sieges, die Herren in Frankreich. Diese These stellte den Adel dem König und seinen Bürgern gegenüber. Auch Saint-Simon teilte diese Auffassung. Für den Adel wurde daher eine Superiorität beansprucht: der Adel genieße Vorrechte dank seiner Siege. Auch Montesquieu vertrat diese Ansicht und er stellte die These auf, das englische Parlament sei der "Tugend der Germanen" zu verdanken. Am Vorabend der Revolution nahm man folgende Einstufung vor: die Römer galten als Unterdrücker, die Gallier als Unterdrückte und die Franken als Befreier. Dies änderte sich jedoch bald. Abbe Sieves forderte den dritten Stand auf, die Franken in die Wälder zurückzuschicken. Rom und die römische Republik seien die Wiege Frankreichs.210 Der Adel berief sich jedoch weiterhin auf die Elitestellung der Franken und verwies auf Tacitus. Chateaubriand hatte keine Zweifel an der germanisch-fränkischen Superiorität.
210
Poliakov 1979, 44.
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Die Völker Europas
Die Revolution warf neue Fragen auf: war sie als primär soziales Ereignis oder als Völkerkrieg zu interpretieren? Augustin Thierry versuchte eine vermittelnde Stellung einzunehmen: "Rasse" und Klima bestimmen die Moral und den Geist eines Volkes. In Frankreich gebe es aber zwei gleich ursprüngliche "Rassen". Zwar seien die Franzosen "Kinder des dritten Standes", aber die aristokratischen Führer hätten die Revolution zum Siege gefuhrt. Guizot sah in der Revolution einen Krieg der zwei "Rassen" (also der Gallier und Franken: "Rasse" ist hier "Volk".) Erst in und durch die Revolution sei eine Angleichung, eine Nivellierung beider Völker eingetreten. Die Juli-Revolution (1830) wurde wiederum als Sieg der "Gallier" gefeiert: Bürger und Industrie hätten gesiegt. In Deutschland wurde dieser "gallische" Sieg als Verfall Frankreichs interpretiert, Bismarck sah sogar schon in der Revolution von 1789 den "Sieg der Kelten über das 'Germanische'", und er stellte die rhetorische Frage: "Und was haben wir seither in Frankreich gesehen?"211 Michelet sah die Rolle der Gallier und Germanen in politischer Hinsicht gerade umgekehrt wie Montesquieu: für Michelet stammt von den Franken das aristokratische Prinzip, von den Kelten hingegen das Prinzip der Gleichheit. Demnach haben in Frankreich dann doch die Kelten gesiegt. Die kurze Übersicht zeigt, daß viele Franzosen sich nur schwer mit dem Umstand anfreunden konnten, daß Frankreich ein gemischtes Land war. Das Bedürfnis nach einer Abtrennung, ja sogar Vertreibung gewisser Teile der Bevölkerung, insbesondere der "Franken", meldete sich immer wieder. Wenn von drei "Rassen", d.h. "Völkern" gesprochen wird, dann ist das kaum noch nachvollziehbar. Denn diese hatten sich seit Jahrhunderten vermischt. Richtiger war es daher, von sozialen Schichten oder Ständen zu sprechen, wie es z.B. auch der Abbe Sieves tat. Dies ist dann auch überwiegend die Bedeutung des Wortes "Rasse" in den angedeuteten Erörterungen. Poliakov weist jedoch zurecht darauf hin, daß gerade in den Bemühungen um eine Trennung und Nichtvermischung dieser längst vermischten Bevölkerungsteile gewisse "rassistische"
Tendenzen greifbar
211
Vgl. Dehn 1903, 205.
212
Poliakov 1979, 47.
werden.212 Diese werden später von
Frankreich und die Franzosen
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anderen französischen Theoretikern wie Gobineau und Vacher de Lapouge noch stärker herausgearbeitet werden. Nietzsche hatte demgegenüber keine Probleme mit dem Tatbestand, daß die Deutschen ein Mischvolk waren. Wie wir schon sahen, fordert er vielmehr eine weitere Mischung mit "ausländischem Blut", eine "Entdeutschung des 'deutschen Geistes'", der sich nur dadurch erst entfalten könne. Die französische Revolution ist auch für ihn ein 'revolutionäres' Ereignis. Aber er fragt nicht, ob dabei die Kelten/Gallier oder die Germanen/Franken "gesiegt" haben. Die französische Revolution ist für ihn der Sieg der "modernen Ideen", wobei die innerfranzösische Frage nach irgendwelchen Bevölkerungsanteilen bei ihm mit keinem Wort erwähnt wird.213 Die Zeit vor der Revolution, insbesondere das 17. Jahrhundert in Frankreich ist für ihn eine vorbildliche Zeit des guten Geschmacks und der Vornehmheit. In der "Götzen-Dämmerung", wo Nietzsche betont, daß "Die Schönheit einer Rasse oder Familie" "erarbeitet" werden müsse, indem man dem "guten Geschmack grosse Opfer" bringt und "um seinetwillen Vieles gethan, Vieles gelassen haben" müsse, heißt es über die Franzosen des 17. Jahrhunderts: "- das siebzehnte Jahrhundert Frankreichs ist bewunderungswürdig in Beidem -, man muß in ihm ein Princip der Wahl, für Gesellschaft, Ort, Kleidung, Geschlechtsbefhedigung gehabt haben, man muß Schönheit dem Vortheil, der Gewohnheit, der Meinung, der Trägheit vorgezogen haben. Oberste Richtschnur: man muß sich auch vor sich selber nicht 'gehen lassen'." (KSA 6,149,2-8).
Später kommt er in diesem Textstück auf die Griechen zu sprechen, und man darf daher annehmen, daß er hier eine Parallele zwischen Griechen und den Franzosen des 17. Jahrhunderts sah. Der "schöne" Mensch ist ein Mensch, der sich selber achtet, der sich "auch vor sich selber nicht 'gehen läßt"1. Sein "Geschmack", seine "Schönheit" beginnt nicht erst in Anwesenheit dritter. Er ist "selbstherrlich" in dem Sinn, wie Nietzsche dieses Wort gelegentlich verwendet. Auch im "Ecce homo" betont Nietzsche die "Arbeit" an sich selbst, auf der die Kultur des französischen 17. Jahrhunderts beruht. Er rechnet dort mit der 213
Marti (1993) gibt eine eingehende Analyse der Stellung Nietzsches zur französischen Revolution.
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Die Völker Europas
"Unsauberkeit (der Deutschen) in psychologicis" ab und verweist dabei auf die Franzosen: "Sie [die Deutschen] haben nie ein siebzehntes Jahrhundert harter Selbstprüfung durchgemacht wie die Franzosen, ein La Rochefoucauld, ein Descartes sind hundertmal in Rechtschaffenheit den ersten Deutschen überlegen,- sie haben bis heute keinen Psychologen gehabt. Aber Psychologie ist beinahe der Maaßstab der Reinlichkeit oder Unreinlichkeit einer Rasse..." (KSA 6,361,12-18).
Kultur, Geschmack, Vornehmheit und Redlichkeit sind also etwas "hart" Erarbeitetes, nicht etwas aufgrund irgendeiner Herkunft Ererbtes. Jedes Volk, jede "Rasse" kann sich durch "Arbeit" auf dieses Niveau erheben. Hier treten die Ausdrücke "reinlich/sauber" und "Rasse" in unmittelbarer Nachbarschaft auf. Es geht aber eindeutig bei "Reinlichkeit" um "psychologische" Sachverhalte: die "Redlichkeit", und bei "Rasse" um "Volk". Es geht also nicht um "Reinheit" im Sinn der "Nichtvermischtheit". Dies sei hier unterstrichen. In der "Genealogie der Moral" wird auch das 18. Jahrhundert noch zur "vornehmen" Zeit Frankreichs gezählt. Diese Zeit geht in Europa mit der französischen Revolution zu Ende: "In einem sogar entscheidenderen und tieferen Sinne als damals [Zeit der Reformation] kam Judäa noch einmal mit der französischen Revolution zum Siege über das klassische Ideal: die letzte politische Vornehmheit, die es in Europa gab, die des siebzehnten und achtzehnten französischen Jahrhunderts brach unter den volksthümlichen Ressentiments-Instinkten zusammen..." (5,287, 21-26).
Hier gibt Nietzsche auch andeutungsweise seine Interpretation der französischen Revolution: es ist der Sieg der "Sklavenmoral" über die "vornehmen Instinkte".214 Der Sieg der "Sklavenmoral" ist für Nietzsche ein Ereignis, das mit den christlich gewordenen Juden beginnt, das durch die "kleinen Leute der Diaspora" seinen Fortgang findet und schließlich in die französische Revolution einmündet. Bei ihm ist die französische Revolution also nicht etwa das Werk der Gallier/Kelten, wie viele Franzosen das sehen wollten,- sie ist
2M
Eine engehendere Interpretation der Wörter "Sklave", "Sklavenarbeit" und "Sklavenmoral" findet sich bei Marti 1993, 149-158. Er weist daraufhin, daß ab Mitte der 70-ger Jahre das Wort "Sklave" die Versklavung des Menschen durch Maschine, Besitz und Ökonomie bedeutet. Wer keine Zeit für sich hat, wer eine ökonomische Tätigkeit ausübt, gilt Nietzsche als "Sklave". Der reiche Kaufmann ist daher "der typische moderne Sklave" (Marti 1993, 159). Aus dieser Sicht ist "Sklaverei" und "Sklavenmoral" auch in unserer heutigen Gesellschaft noch nicht abgeschafft.
Frankreich und die Franzosen
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bei Nietzsche nicht ein von einem Volk getragenes Ereignis, sondern vielmehr ein religiös-soziales Ereignis, an dem die unteren Schichten vieler verschiedener Völker beteiligt sind. Seine Interpretation unterscheidet sich also klar von den französischen Interpretationen.215 So sehr Nietzsche nun auch die vornehme Kultur des französischen 17. und 18. Jahrhunderts bewundert, so ist er doch keineswegs blind für ihre Schwächen,- und gerade diese doppelte Optik ist kennzeichnend für Nietzsches Denken. Die französische Revolution hat diese vornehme Zeit zwar an ihr Ende gebracht, aber das bedeutet nicht nur Verlust, sondern auch Gewinn. Wir "modernen Seelen" haben seither den "historischen Sinn" erworben, der zwar ein "unvornehmer Sinn" ist, der uns aber "geheime Zugänge überallhin" eröffnet. Wir sind jetzt in der Lage, Homer wieder "zu genießen", der der vornehmen französischen Zeit verschlossen war: "Durch unsere Halbbarbarei in Leib und Begierde haben wir geheime Zugänge überallhin, wie sie ein vornehmes Zeitalter nie besessen hat, vor Allem die Zugänge zum Labyrinthe der unvollendeten Culturen und zu jeder Halbbarbarei, die nur jemals auf Erden dagewesen ist; und insofern der beträchtlichste Theil der menschlichen Cultur bisher eben Halbbarbarei war, bedeutet 'historischer Sinn' beinahe den Sinn und Instinkt für Alles, den Geschmack und die Zunge für Alles: womit er sich sofort als ein unvornehmer Sinn ausweist. Wir gemessen zum Beispiel Homer wieder: vielleicht ist es unser glücklichster Vorsprung, daß wir Homer zu schmecken verstehen, welchen die Menschen einer vornehmen Cultur (etwa die Franzosen des siebzehnten Jahrhunderts, wie Saint-Evremond, der ihm den esprit vaste vorwirft, selbst noch ihr Ausklang Voltaire) nicht so leicht sich anzueignen wissen und wussten,- welchen zu gemessen sie sich kaum erlaubten." ("Jenseits von Gut und Böse": Aph. 224: KSA 5, 158,12-27).
Der "Gang der Cultur" in Europa hat zwar gewisse Verluste zu verzeichnen, aber er bietet, wie wir hier sehen, für Nietzsche auch neue Möglichkeiten. Gerade etwa die Erschliessung neuer "Zugänge", die Erweiterung des Blicks, ist für den neuen Menschentyp, wie Nietzsche ihn herbeiführen möchte, ein ganz zentraler Punkt. Darauf ist noch einzugehen. Eine vornehme Epoche in Europa ist zu Ende, aber damit ist Europa noch nicht an sein Ende gekommen. Nietzsche selbst verwendet einen großen Teil seines Denkens darauf, die
215
Auch hierzu Marti 1993.
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Die Völker Europas
Zukunft Europas weiterzugestalten, wobei er sich nicht zuletzt auch um die "Erarbeitung" einer neuen Vornehmheit bemüht. Wie Nietzsche das 16. Jahrhundert als eine "Kluft" in der Geschichte der Deutschen einstufte, nach der er in Deutschland eine gewisse "Erschöpfung" der Kräfte feststellen zu können glaubte, so hat er offenbar die französische Revolution als ähnlich schwerwiegenden Einschnitt für Frankreich empfunden. Gelegentlich scheint nun den Schriftsteilem die Kraft zu fehlen, die nötig ist für die Einhaltung der bereits zitierten "obersten Richtschnur: man muß sich auch vor sich selber nicht 'gehen lassen"1,
die er als kennzeichnend für das vornehme 17. Jahrhundert ansah (6,149,2-8). Über Michelet heißt es in einem Fragment aus dem Jahr 1885 (KSA 11,601-4: Juni/Juli 85: 38/6/): "Er ist mir zu erregt... Auf einer gewissen Höhe von Erregung überkommt ihn jedesmal der Anfall des Volks-Tribunen... Daß ihm Napoleon ebensosehr als Montaigne fremd ist, bezeichnet das Unvornehme seiner Moralität genügend. Seltsam, daß auch er, der arbeitsame sittenstrenge Gelehrte, reichlich an der neugierigen Geschlechts-Lüsternheit seiner Rasse Theil hat: und je älter er wurde, desto mehr wuchs diese Art der Neugierde." (11,603,5-15).
Auch in einem Fragment aus dem Jahr 1888 wird die Lockerung der Sexualität mit einer "Erschöpfung" in Verbindung gebracht und von dieser Erschöpfung heißt es, sie sei eine "erworbene, nicht ererbte Erschöpfung": "Erworbene, nicht ererbte Erschöpfung unzureichende Ernährung, oft aus Unwissenheit über Ernährung; z.B. bei Gelehrten die erotische Präcocität: der Fluch vornehmlich der französischen Jugend, der Pariser voran... :übrigens in den häufigsten Fällen bereits Symptom der Rassen- und Familien-decadence, wie alle Hyper-Reizbarkeit; insgleichen als Contagium des milieu -: auch bestimmbar zu sein durch die Umgebung, gehört zur decadence -" (13,456,1-13: F 88: 15/80/)·
Wichtig ist hier vor allem, daß diese "Erschöpfung" ausdrücklich als eine "erworbene" angesehen wird, sie ist nicht "ererbt". Hier geht es also nicht um Erschöpfung aufgrund einer Verschlechterung der "Erbsubstanz" der "Rasse" im Sinn Gobineaus, sondern um einen sozialen, gesellschaftlichen Prozeß, der in der französischen Revolution, nach Auffassung Nietzsches, seinen deutlichsten Ausdruck gefunden hatte. Bei der "Rassen- und Familien-decadence" muß also in erster Linie an Krankheits- und Erschöpfungszustände gedacht werden, die durch die sozialen Umwälzungen verursacht oder begünstigt
Die Engländer
123
worden sind. Darauf könnte auch das im obigen Text verwendete Wort "milieu" hinweisen, das hier wohl im Sinn der französischen sozialen naturalistischen Milieu-Theorie im Anschluß an Taine verwendet wird. Im vorn explizierten Rasse-Konzept Nietzsches erschien das Wort "milieu/Umgebung" in einer anderen Bedeutung, nämlich als durch die Natur gegebene "Existenzbedingungen" überhaupt, in der ein Volk längere Zeit lebt und durch die es seinen spezifischen Charakter als "Rasse" im Sinn von "Volk" erhält. Nietzsche verwendet das Wort "milieu" in diesen zwei Bedeutungen, die jeweils auseinanderzuhalten sind. Nietzsches Bild der Franzosen ist aber noch differenzierter; vom 17. Jahrhundert bis zum "jetzigen Paris", also über den Einschnitt der Revolution hinweg, reicht die Reihe der Schriftsteller, Philosophen und Psychologen, deren Namen er im "Ecce homo" mit Bewunderung und Dankbarkeit nennt. Da sind einmal die Großen der vornehmen Zeit wie Pascal, den Nietzsche nicht "liest, sondern liebt", Montaigne, dessen "Muthwillen" er sich verwandt fühlt, Moliere, Corneille, Racine, die sein "Artisten-Geschmack" "gegen ein wüstes Genie wie Shakespeare in Schutz nimmt" (6,285,11-19). Da sind aber auch die Franzosen der Zeit nach der Revolution: "das schließt zuletzt nicht aus, daß mir nicht auch die allerletzten [allerneusten] Franzosen eine charmante Gesellschaft wären". Insbesondere die Psychologen "im jetzigen Paris" haben es ihm angetan (6, 285,19-26). Und es gibt auch jetzt noch Reste der "starken Rasse" (mit einer ähnlichen Formulierung hatte Nietzsche für die Deutschen Bach, Händel und Schütz genannt): "um Einen von der starken Rasse hervorzuheben, einen echten Lateiner, dem ich besonders zugethan bin, Guy de Maupassant." (6,285,26-28). Frankreich bleibt für Nietzsche auch nach der Revolution ein Land hoher Kultur, dem er sich stets dankbar verbunden fühlen wird.
Die Engländer
Zu den Engländern hatte Nietzsche eher ein kühles Verhältnis, aber es gibt auch anerkennende Äußerungen. Mehrmals taucht das Wort "Rasse" auf, immer in der Bedeutung "Volk". Der englische Utilitarismus und das
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Die Völker Europas
parlamentarische System blieben Nietzsche fremd. Die preußischen Junker verabscheuten England als "Nährboden modernistischer Gedanken". Auf den englischen Adel, dessen Vertreter sie als Händler und Bankiers betrachteten, blickten sie herab.216 Wenn Nietzsche die Engländer gelegentlich als "Krämer" bezeichnet, steht er also in preußischer Tradition. (KSA 12.357 und 12.525). Das Wort "Krämer" sollte auch in der antienglischen Polemik zur Zeit des ersten Weltkriegs noch eine peinliche Rolle spielen217 Da aber diese Einstufung der weit verbreiteten preußischen Einstellung der Zeit entsprach, ist Nietzsches Anteil an dieser Kampagne nicht genau einzuschätzen. Die englischen Versuche zur Erstellung einer Genealogie für die Engländer, über die Poliakov berichtet, zeigen ein gewisses Schwanken218: zunächst werden eher biblische Anfange betont, dann germanische, bis schließlich eine "gemischte" Herkunft der Engländer angesetzt wird. Über die Angleichung von Namen (über angelsächsisch SCEAF - Königskind - kam man zu SETH und schließlich SEM) wurde der biblische SEM als Urahne der Engländer angesetzt. Das englische Königshaus ging auf David und Sem zurück. Heinrich VHI sagte sich auf dieser Basis von Rom und dem Papst los. Für Cromwell und Milton stand fest, daß die Engländer, nicht die Juden, das auserwählte Volk seien. Man versuchte eine Herleitung angelsächsischer Gesetze aus dem Talmud. Einige Theoretiker stellten die These auf, viele Engländer stammten von Juden ab.219 Die englische Revolution brachte eine Wendung hin zur germanischen Abstammung der Engländer. Die nach 1688 eingeführte konstitutionelle Regierungsform wurde als Resultat germanischer und gotischer Freiheitsvorstellungen betrachtet. Hume stellt den "verwerflichen Bretanniers" die "dappere Angelsaksen" gegenüber. Um 1840 brach in England eine richtige "Teutomanie" aus, so bei Carlyle und "zahlreichen weiteren Denkern und Romanciers". Bei Charles Kingsley tauchen dann auch die sprichwörtlichen "blonden Haare" der Germanen auf, während die "Vasallen" "braune Haare" zuerteilt bekamen.220
216 217 218 219 220
Hallgarten 1967, 20. Vgl. Aschheim 1992, 246 sowie Lohalm 1970, 47 und 63. Poliakov 1979, 53-69. So z.B. Toland. Vgl. Poliakov 1979, 61. Die genannten Einzelheiten bei Poliakov 1979, 68.
Die Engländer
125
Ab 1885 meldete sich eine Gegenströmung, die die gemischte Herkunft der Engländer zur Geltung brachte: die Briten waren nun eine "menging en kruising van verschillende typen en rassen".221 Damit war man bei dem gleichen Standpunkt angelangt, den Nietzsche auch für die Deutschen vertrat. Es gab in Europa keine "reinen" Völker im Sinn nicht-gemischter Völker. In "Jenseits von Gut und Böse" (Achtes Hauptstück: Völker und Vaterländer, Aph. 252) zeichnet Nietzsche ein wenig schmeichelhaftes Bild der Engländer: "Das ist keine philosophische Rasse - diese Engländer: Bacon bedeutet einen Angriff auf den philosophischen Geist überhaupt, Hobbes, Hume und Locke eine Erniedrigung und Werth-Minderung des Begriffs 'Philosoph' für mehr als ein Jahrhundert." (5,195, 7-11).
Daher habe zum Beispiel Kant sich mit Recht gegen Hume erhoben: "Es kennzeichnet eine solche unphilosophische Rasse, daß sie streng zum Christenthum hält: sie braucht seine Zucht zur 'Moralisirung' und Veranmenschlichung. Der Engländer, düsterer, sinnlicher, willensstärker und brutaler als der Deutsche ist eben deshalb, ... auch frömmer als der Deutsche; er hat das Christenthum eben noch nöthiger. Für feinere Nüstern hat selbst dieses englische Christenthum noch einen acht englischen Nebengeruch von Spleen und alkoholischer Ausschweifung, gegen welche es aus guten Gründen als Heilmittel gebraucht wird,- das feinere Gift nämlich gegen das gröbere: eine feinere Vergiftung ist in der That bei plumpen Völkern schon ein Fortschritt, eine Stufe zur Vergeistigung." (5,195,25-196,5).
Wir wollen auf die hier erhobenen Vorwürfe nicht im einzelnen eingehen. Vielleicht ist es hilfreicher sich zu vergegenwärtigen, daß Nietzsche gegen die Deutschen ganz ähnliche Einwände vorbringt, so etwa den Alkoholismus. Auch stellt er die deutsche Philosophie wiederholt grundsätzlich in Frage, wenn auch aus anderem Gesichtspunkt, nämlich wegen ihres "Idealismus". Es geht liier also nicht um eine 'deutsche' Kritik an den Engländern, Nietzsche kritisiert in ganz ähnlicher Weise die Engländer wie die Deutschen. Beides sind nach seiner Auffassung keine "philosophischen Völker". In seinem auf den ersten Blick so wenig anerkennenden Text findet sich sogar ein Lob auf die Engländer; "der Engländer" ist "willensstärker und brutaler als der Deutsche". Die "Willensstärke" ist in Nietzsches Augen ein großer Vorzug eines Volkes. Und das Wort "brutal" dürfte hier noch nicht die heutige
221
So Keith, zitiert bei Poliakov 1979, 69. Auf deutsch: "eine Mischung und Kreuzung unterschiedlicher Menschentypen und Rassen".
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Die Völker Europas
Bedeutung haben, etwa "rücksichtslos", sondern eher noch dem französischen "brüte" nahestehen, also etwa "rohe Kraft" bezeichnen. Das Wort "plump" - oben werden die Engländer zu den "plumpen" Völkern gerechnet - erscheint auch in einem Brief im Zusammenhang mit den Engländern. Nietzsche berichtet im Mai 88 Köselitz, welche Bücher er durch die Bibliothek in Chur kennengelernt hat: "Zum ersten Mal sah ich das vielberühmte Buch von Buckle 'Geschichte der Civilisation in England' - und sonderbar! es ergab sich, daß Buckle einer meiner stärksten Antagonisten ist. Übrigens ist es kaum glaublich, wie sehr E. Dühring sich von den plumpen Werthurtheilen dieses Demokraten in historischen Dingen abhängig gemacht hat..." (KSB 8,79).
Das Wort "plump" könnte demnach im obigen Text eine Anspielung auf die demokratischen Zustände in England sein und eine Kritik auf die nach Nietzsches Auffassung damit einhergehende Moral des Mittelmaßes enthalten. Nietzsche vermisst bei "plumpen Werthurtheilen" den Sinn für Rangordnung. Daß er Dühring auch wegen seines Antisemitismus ablehnt, haben wir schon gesehen. Wie ein Fragment vom Mai/Juli 85 zeigt, enthält das Wort "plump" ferner eine Kritik am englischen Utilitarismus: "Nichts Kläglicheres als die moralistische Litteratur im jetzigen Europa. Die utilitaristischen Engländer voran, plump wie Hornvieh in den Fußstapfen Bentham's wandelnd, wie er selber schon in den Fußstapfen des Helvetius wandelte; kein neuer Gedanke, nicht einmal eine wirkliche Historic des FrüherGedachten, sondern immer die moralische Tartüfferie, das englische Laster des cant unter der neuen Form der Wissenschaftlichkeit nebst geheimer Abwehr von Gewissensbissen, wie sie eine Rasse von ehemaligen Puritanern anzufallen pflegen." (11,523,14-22: Mai/Juli 85: 35/S4/).
Der Utilitarismus ist eine "plumpe" Moral, ihm fehlt der Sinn für Rangordnung. "Plump wie Hornvieh": auch hier der Hinweis hilfreich, daß auch die Deutschen als "Hornvieh" bezeichnet werden (z.B. KSA 6,427 u. KSB 8,356). "Rasse" hat in allen angeführten Belegen die Bedeutung von "Volk". Der eingangs zitierte Text über die Engländer steht in "Jenseits von Gut und Böse" im Hauptstück "Völker und Vaterländer" [Hervorhebung GS]. Im Utilitarismus sieht Nietzsche offenbar den englischen Hang zur "KleinGeisterei" begründet:
Völkerbeschreibung
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"England's Klein-Geisterei ist die große Gefahr jetzt auf der Erde. Ich sehe mehr Hang zur Größe in den Gefühlen der russischen Nihilisten als in denen der englischen Utilitarier. Ein In-einander-wachsen der deutschen und der slavischen Rasse,auch bedürfen wir der geschicktesten Geldmenschen, der Juden, unbedingt, um die Herrschaft auf der Erde zu haben." (11,238,21-27: S/H 84: 26/33S/).
In seinen politischen Plänen, über die schon gesprochen wurde, sieht Nietzsche keinen Platz für die "Klein-Geisterei", wie sie hier skizziert wird. Und dennoch denkt Nietzsche auch über die politischen Leistungen der Engländer keineswegs gering. In einem Brief an die Mutter vom Mai 85 kritisiert er die Kolonisationspläne seines Schwagers B. Förster, nicht zuletzt auch, weil dieser in seiner Kolonie in Paraguay für alle Siedler Pflanzennahrung vorschreiben wolle. Dazu sei Fleischnahrung besser geeignet, meint Nietzsche, denn so seien auch die Engländer verfahren: "die Engländer, das war bisher die Rasse, welche am besten Colonien gründete". Ihr "Recept: Phlegma und Rostbeef! (KSB 7,54).
Völkerbeschreibung
Wir haben hiermit die Völker etwas näher kennengelernt, die in Nietzsches kulturkritischen und anthropologischen Überlegungen eine größere Rolle spielen. Wir verwenden hier bewußt das Wort "Völker", da, wie wir sahen, das Wort "Rasse" in den besprochenen Texten ganz überwiegend "Volk" bedeutete (und daneben "Stand"), hingegen kaum je "Rasse" im modernen Sinn. Dies soll aber noch keine endgültige Festlegung sein,- die Frage wird noch näher geprüft. Als nächstes wollen wir die Wörter und Konzepte etwas eingehender analysieren (etwa "alt/jung", "stark/schwach"), mit denen Nietzsche Völker beschreibt. Vielleicht erhalten wir auf diesem Weg noch etwas mehr Einblick in die Beschreibungskategorien, die Nietzsche hier heranzieht. Wir haben schon gesehen, daß Nietzsche sich des Problems bewußt war, das darin liegt, "von einem Volke Prädikate auszusagen", da "zuletzt alles so gemischt" ist, ist es doch die Sprache, an der sich erst später "eine Illusion der Einheit" einstellt. (KSA 7,645,27-30). Wir können aber aus der Sprache nicht "heraustreten" (obwohl Nietzsche immer wieder Versuche dazu macht), und so blieb auch Nietzsche, trotz aller Bedenken, nichts anderes übrig, als - trotz aller Vorbehalte -
128
Die Völker Europas
dennoch von Völkern "Prädikate auszusagen". Wir sollten aber diese Vorbehalte nie aus den Augen verlieren, wenn wir Nietzsche gerecht werden wollen. Die folgende Erörterung kann nur versuchen, die Hauptlinien herauszuarbeiten, eine eingehende philologische Analyse ist nicht beabsichtigt. Wir haben es bei Nietzsche mit den folgenden Wörtern und Konzepten zu tun: Alter: alt/jung, früh/spät, absterbend; Kraft: stark/schwach, erschöpft, decadence, mürbe, entartend. Weitere einzelne Eigenschaften: tief, Geist, usw. Mischung/ Reinheit. Position in der Gesellschaft: herrschend, verkümmert; Verwandtschaft: fremd, entgegengesetzt; Rang: niedrig/hoch. Wir wollen hier nur die Konzepte alt/jung, stark/schwach, gemischt/rein etwas näher analysieren. Die anderen kommen später noch zur Sprache.
Alt/jung und Varianten
Die Semantik der Altersadjektive ist kompliziert, wie eine Untersuchung von Geckeier zu den französischen Altersadjektiven zeigt.222 Wir können die Ergebnisse seiner Untersuchung hier zur Orientierung heranziehen. Wir geben kurz eine Zusammenfassung der Ergebnisse mit seinen Beispielen und führen ergänzend jeweils die entsprechenden Adjektive bei Nietzsche an, soweit Entsprechungen vorliegen. Geckeier entwirft für die Altersadjektive folgendes Beschreibungsverfahren223:
222 223
Geckeier 1971. Geckeier 1971, 520-521.
Völkerbeschreibung 1.
Eigenalter: in hohem Grad: (1) ja: vieux (2) nein: jeune Alter einer besonderen Funktion oder Relation (3) ja: les vieux (4) (nein): les jeunes
2.
129
Wertende Einschätzung: (5) respektvoll: ago (6) ohne Respekt: vieux
N: alt N: jung dt: alte Freunde dt: neue Freunde dt: Greis
3.
zeitliche Einordnung: relativ weit zurück: (7) ja: ancien, antique, archaique (8) nein: moderne recent frais seit kurzem: (9) nouveau: dt: neu seit langem: (10) ancien dt: alt Phasen: (11) frühere: ancien N: früh (12) spätere: nouveau N: spät die Ursprünge betreffend: (13) archa'ique N: früh, primitiv
4.
Gradation: sehr -: (14) antique, archa'ique recent, frais
5.
Zustand: relativ stark gebraucht (15) (ja): vieux (16) nein: frais, neuf mit Qualitätsminderung: (17) ja: vieux (18) nein: frais
6.
N: erschöpft N: überlebt N: jung, werdend
Grad der Bekanntheit: (19) nicht bekannt: nouveau (20) bekannt: ancien
7.
Änderung der Funktion: (21) beendete Funktion: ancien (22) Neubesetzung: nouveau
130
Die Völker Europas
Gemäß Poliakov224 setzt mit dem Sturm und Drang in Deutschland ein "Kult des Jungen" ein, wobei nach obiger Analyse für "jung" offenbar die Bedeutung (18) (jung/werdend) einzusetzen ist, für "alt" die Bedeutungen (15) und (17): "alt": "erschöpft/überlebt". In England und Frankreich orientiert sich das Denken an der Opposition "alt/ modern": Die Modernen wollten nicht mehr die Kinder der Antike sein.225 Hier geht es um die Bedeutungen (7) und (8): statt weit zurück zu gehen wollte man "zeitgemäß/modern" sein. Pascal und Bacon verschieben den Standpunkt: Die "Alten" waren damals jung... In uns selbst ist die "'oudheid', die we bij anderen vereren".226 Damit könnte auf die Bedeutungen (11) und (12) angespielt sein: wir blicken als "Späte" auf die "Frühen" zurück, die wir verehren. Mit Geckelers Differenzierungen läßt sich auch Nietzsches "unzeitgemäß sein" zuordnen: es ist selbst keine Zeit- oder Altersangabe, aber es richtet sich offenbar gegen Bedeutung (8): "modern sein". Wir wissen, was Nietzsche von den "modernen Ideen" hält. Das kurze Zwischenspiel macht deutlich, wie sich Hand in Hand mit wechselnden geistigen und kulturellen Strömungen die Bedeutungen von Wörtern (hier "jung/alt") verschieben. Welche Bedeutungen für "jung/alt" stehen bei Nietzsche im Mittelpunkt? Wie werden die Völker beschrieben? Die Juden sind die "älteste und reinste Rasse" (11,74,7 und 11,569,24). Sie gingen "nicht zu Grunde", sie sind daher "immerfort gewachsen" und "vollkommen" geworden. Die "Dauer" bestimmt die "Höhe der Entwicklung": "die älteste (Rasse) muß die höchste sein". Die Juden sind "im höchsten Maasse gescheut" (13,532,11-17). Das Alter (Eigenalter) ist hier die Grundlage der Vervollkommnung. Die ununterbrochene "Dauer" des Wachsens bestimmt die "Höhe der Entwicklung". Die Juden sind (daher) auch eine "späte" Rasse und sie besitzen die "Eigenart später Rassen": "esprit" (13,365,25). "Spät sein" ist hier positiv gewertet (vgl. auch 13,532,25: "Die Juden haben allein im modernen Europa an die supremste Form der Geistigkeit gestreift...").
224
Poliakov 1979, 125. Poliakov ebenda. 226 Poliakov 1979, 125-126. Deutsch: "In uns selbst ist das 'Alter', das wir in den Anderen verehren". 225
Völkerbeschreibung
131
Die Franzosen sind für Nietzsche die "älteste und späteste Cultur Europas" (13,532,31f): "Die älteste und späteste Cultur Europa's stellt ohne Zweifel Paris dar; esprit de Paris ist deren Quintessenz". "L'esprit" ist hier, wie bei den Juden, das Ergebnis einer "späten" Phase der Kultur. Auch die Chinesen haben eine späte Kultur und besitzen daher "esprit" (13, 365,25). Anders steht es mit den Deutschen. Aufgrund der "Kluft" in ihrer Geschichte (11, 455,8) konnte sich ihre Kultur nicht ununterbrochen entwickeln. Im Unterschied zu den Juden ist bei ihnen "die frühere Rasse" untergegangen (11,455,11). Sie sind seither gespalten; einerseits haben sie unter "Greisenhaftigkeit" zu leiden (11,455,13), andrerseits sind sie, dank der "Kluft", jetzt "etwas Junges und Werdendes" (11,455,5-6). Weil ihrer Geschichte die "Dauer" fehlt, konnten sie keine "späte" Phase erreichen, daher auch keinen "esprit". Ausnahmen wie etwa Heine, haben sie dem jüdischen Einfluß zu verdanken, den Nietzsche jedoch zum "esprit Parisien" rechnet (13,533,3-4). Daher kommt Nietzsche wohl auch zu der Einschätzung: "wir Deutschen stehen der Barbarei näher" (5,203,33). Das läßt zwei Lesungen zu: den Deutschen fehlt Kultur, oder: sie stehen den Anfängen näher. Also in einer frühen Phase der kulturellen Entwicklung. Letzteres kann positiv verstanden werden. Auch Italien wird von Nietzsche als "junges" Land eingestuft; es ist "zu jung, als dass es schon wüsste, was es wollte" (5,139,22-23). Die römische Vergangenheit spielt demnach für das heutige Italien keine größere Rolle. Auch hier setzt Nietzsche offenbar eine "Kluft" zwischen dem alten und dem neuen Italien an. Nietzsche unterscheidet demnach bis jetzt: alte und späte Völker (Juden, Franzosen und Chinesen), die "Geist", "esprit" entwickelt haben, und: junge, werdende Völker (Deutsche, Italien), die eine "Kluft" von ihrer früheren Geschichte trennt und die sich daher wieder am Anfang, in einer frühen Phase der kulturellen Entwicklung befinden. Die genannten "alten" Völker, die sich in einer "späten" Phase ihrer Entwicklung befinden, sind den "jungen, werdenden" in ihrer "frühen" Phase überlegen. Die Überlegenheit bemisst sich hierbei allein am Grad der kulturellen Entwicklung. "Rasse" im modernen Sinn spielt dabei keine Rolle.
132
Die Völker Europas
Dieses bis jetzt gewonnene Bild beschreibt jedoch noch nicht genügend differenziert die komplexen Zustände und Vorgänge in Europa. Diese werden verwickelter durch den Einfluß der christlichen Religion und des "Heerdeninstinkts" (13,238,12). "Späte Menschen" sind, wie Nietzsche im Zusammenhang mit dem Buddhismus betont, "gütige, sanfte, übergeistigte" Menschen (6,189,13-14). Sie sind "mürbe" (5,204,5) und ermüden leicht. Das macht sie empfänglich für die neinsagende christliche Religion. Sogar die "jungen starken Rassen des nördlichen Europa" haben der christlichen Religion nicht genügend Widerstand leisten können (13,525,14-17): "Mit einer solchen krankhaften und altersschwachen Ausgeburt der decadence hätten sie fertig werden müssen (13,525,17-19). Daher liegt nun ein "Fluch" auf ihnen: "sie haben die Krankheit, den Widerspruch, das Alter in alle ihre Instinkte aufgenommen..." (13,525,20-21). Das Alter, das wir beim jüdischen Volk als Grundlage der Vollkommenheit kennengelernt haben, zeigt hier seine 'negative' Seite: Krankheit und Altersschwäche. Die "jungen" Völker Europas, etwa die Deutschen, sind also auch vom "Alter" in diesem Sinn gezeichnet. Im jetzigen Europa kämpft also das aufsteigende Leben (junge, werdende Völker) mit dem "niedersinkenden Leben" (13,238,9), und Nietzsche wird versuchen, diesen Kampf zugunsten des aufsteigenden Lebens zu beeinflussen. Neben der christlichen Religion kann auch eine "pessimistische Philosophie" zum Niedersinken des Lebens beitragen (11,55,30). Diese kurze Analyse der Völkerbeschreibung anhand der Dimension "jung/ alt" zeigt, daß Nietzsche hierbei vor allem die folgenden Unterscheidungen heranzieht (um Geckerlers Terminologie zu verwenden): Das "Eigenalter" der Völker (jung/alt), die Phasen in denen sich die Völker befinden (spät/früh) sowie ihr "Zustand" (bei Nietzsche etwa: "mürbe", "müde geworden"). Die einzelnen Konzepte erhalten dabei zum Teil eine doppelte Wertung: Alter:
'positiv':
Juden: Grundlage der Vollkommenheit
'negativ':
christliche Religion und ihr Einfluß auf die Völker des "nördlichen Europa"
spät:
'positiv':
bei den Juden und Franzosen: Grundlage für Entstehung von "Geist" und "esprit"
Völkerbeschreibung
'negativ':
133
Gefahr der Ermüdung und Empfänglichkeit für christliche Religion und Pessimismus.
Die Analyse deutet an, daß vor allem Lebensverneinung, sei es durch christliche Religion oder pessimistische Philosophie, das aufsteigende Leben in Europa in Frage stellen könnte. Nicht Alter an sich oder eine späte Phase der Kulturentwicklung sind dafür verantwortlich zu machen. Die "älteste Rasse", die Juden, sind Nietzsche ein Beweis dafür.
Stark//schwach und Varianten
Die "Prädikate" stark/schwach werfen in der Nietzsche-Interpretation immer wieder Probleme auf. Hier wollen wir uns damit begnügen, einige Inhalte dieser Konzepte anhand der in unserem Zusammenhang relevanten Texte aufzuspüren. Wir haben auch bei den vorhergehenden Erörterungen schon einige Hinweise erhalten, auf die wir noch zurückkommen. In einem Fragment vom Herbst 87 deutet Nietzsche an, welche Eigenschaften eine "stärkere Rasse" haben sollte: "Die zunehmende Verkleinerung des Menschen ist gerade die treibende Kraft, um an die Züchtung einer stärkeren Rasse zu denken: welche gerade ihren Überschuß darin hätte, worin die verkleinerte species schwach und schwächer würde (Wille, Verantwortlichkeit, Selbstgewissheit, Ziele-sich-setzen-können)." (12,425,15-20: H 87: 9/153/).
Nietzsche spricht hier von der "Verkleinerung des Menschen" [Hervorhebimg GS], also nicht von Angehörigen bestimmter Völker, sondern von den "verkleinerten Menschen" der Gegenwart. Man könnte daher sagen, er spricht von einem Menschentyp: dem des "verkleinerten Menschen". Daher liegt es nahe anzunehmen, daß auch bei der "stärkeren Rasse" nicht an ein Volk, sondern an einen Menschentyp zu denken ist, dessen Verkleinerung rückgängig gemacht ist. Der verkleinerte Mensch soll wieder "stark" werden. Diese WiederErstarkung soll durch "Züchtung" erreicht werden. Daß es dabei primär um Erziehung gehen könnte, wird später zu erörtern sein. Beim "verkleinerten Menschen" denkt Nietzsche an den "Heerdenmenschen" des demokratischen Zeitalters. Diesem fehlt nach seiner Auffassung Willens-
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kraft, Mut zur Verantwortlichkeit, Selbstgewissheit und die Fähigkeit, sich Ziele setzen zu können. Alles dies muß der "verkleinerte Mensch" wieder lernen, dann ist er "stark". "Stark sein" meint hier die Kraft, aus sich selbst heraus zu entscheiden und zu handeln: "sich selbst befehlen und gehorchen zu können". Und Nietzsche fordert sogar einen "Überschuß" an solcher Kraft, "Fülle" der Kraft. Die "starken Rassen" (Völker) haben den "Muth dazu die Dinge zu sehen, wie sie sind": "Die starken Rassen, so lange sie reich und überreich noch an Kraft sind, haben den Muth dazu die Dinge zu sehen, wie sie sind: tragisch..." (13,228,18-21: F 88: 14/22/). Der starke Mensch hat die Kraft, zu Werden und Vergehen ja zu sagen. Erst wenn der Mensch schwach und müde wird, ist er dazu nicht mehr in der Lage. Wenn die Kraft des Menschen sich erschöpft, klammert er sich an eine "arme Denkweise": "Aber das ist niedrig gedacht: die Furcht vor dem Schmerz, vor der Verunreinigung, vor der Verderbniss selbst als ausreichendes Motiv, alles fahren zu lassen... dies ist eine arme Denkweise... Zeichen einer erschöpften Rasse..." (13,160,23-26: Nov. 87März 88: /363/).
"Schwäche, Ermüdung" und "Rassen-decadence" schlagen sich im "romantischen Pessimismus" eines Schopenhauer und in "nihilistischen Religionen" nieder (13,229,17-31: F 88: 14/25f). In diesem Zusammenhang spricht Nietzsche gelegentlich auch von "entartet" und "Entartung". "Entartende Rassen" sind Menschen, die sich - auf eine kurze Formel gebracht - "wider das Leben" stellen. Sie haben nicht mehr die Kraft, die Dinge "zu sehen, wie sie sind" (a.a.O.) Sie sind nicht mehr in der Lage, eine "tragische" Sicht des Lebens zu ertragen. Sie stellen sich "wider das Leben". (11,163,7: S/H 84: 26/5S/). Erschöpfung der Kräfte und "Entartung", das heißt Verneinung des Lebens, gehen nach Nietzsches Auffassung Hand in Hand. Die Erschöpfung der Kräfte wird dabei von Nietzsche nicht Völker- oder "rassen"-spezifisch gesehen. Sie ist ein Kennzeichen des "verkleinerten" Menschen, dem man in allen Völkern heute begegnen kann. Die so verstandene "Rassen-decadence" hat jedoch spezifische physiologische Grundlagen. Darauf ist später einzugehen.
Völkerbeschreibung
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Wenn wir nun noch einmal die Völker betrachten, von denen schon oben die Rede war, so sind nahezu bei allen mehr oder weniger deutliche Anzeichen einer solchen Erschöpfung wahrzunehmen. Eine Ausnahme machen am ehesten die Juden, wenn wir die "kleinen Leute der Diaspora", die christlich geworden sind, nicht dazurechnen. Bei den Juden findet Nietzsche ein "starkes Herz" (5,393,27), wie wir schon gesehen haben, und er zählt sie, mit den Arabern, zu den "stark gerathenen Rassen" (13,112, 15). Dies aufgrund ihres "Begriffes der Macht", in den "zugleich die Fähigkeit zu nützen und zu schaden eingerechnet" ist (13,112,12-14). Sie können daher Werden und Vergehen akzeptieren und "die Feierlichkeit des Todes" "schöner" darstellen als selbst die Griechen (11,569,2-7). Nietzsche betrachtet sie daher als "die stärkste Rasse" im heute "unsichem Europa" (13,532,4-5). Auch die Russen stuft Nietzsche als ein "Volk" ein, "das seine Kräfte noch nicht verbraucht hat, wie die meisten europäischen Völker, weder die Kräfte seines Willens noch die seines Herzens." (KSB 8,39). Die Griechen, das "erste Cultur-Ereigniss", haben ihre "Schönheit" "erarbeitet": sie ist "das Schlußergebniss der accumulirten Arbeit von Geschlechtem". Auch dazu war sicherlich Kraft des Willens und des Herzens notwendig (6,148,27-30). Den gleichen Kräften verdanken sie ihre tragische Weltsicht. Bei den Griechen meldete sich aber auch zuerst der "wissenschaftliche Mensch" zu Wort, in der Gestalt des Sokrates. Dieser entstammt den "Niedergangs-Zeiten einer starken Rasse" (13,228,11), die durch ein Nachlassen der Kraft gekennzeichnet sind. Der "wissenschaftliche Mensch" trägt von nun ab, später mit dem "asketischen Ideal" verbündet, zur Schwächung des europäischen Menschen bei. Auch bei den Franzosen findet sich ein Einschnitt: die "vornehme Cultur" des 17. und 18. Jahrhunderts geht mit der französischen Revolution zu Ende. Die "vornehme Cultur" war, ähnlich wie die griechische "Schönheit", ein Ergebnis der Kraft des Willens: ihre "Oberste Richtschnur (lautete): man muß sich auch vor sich selber nicht 'gehen lassen"1 (6,149,7-8).. Nach der französischen Revolution gehören "Franzosen der starken Rasse" nur noch der Vergangenheit an, mit wenigen Ausnahmen wie etwa Maupassant (6,285,26-
28).
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Für die Deutschen stellt, wie wir schon sahen, das 16. Jahrhundert eine solche "Kluft" in ihrer Geschichte dar. Deutsche der "starken Rasse" sind nun, wie Nietzsche mehrmals betont, "ausgestorbene Deutsche" (6,420,26-8 und 11, 455, 20f.). Wenn er die Deutschen dennoch als "etwas Junges und Werdendes" einstuft, so ist das eine sehr wohlwollende Einschätzung. Es ist allenfalls ein Versprechen, noch nicht Wirklichkeit. Dies läßt sich unschwer an seiner nicht müde werdenden Kritik an den Deutschen ablesen. Die Engländer schließlich sind jedenfalls "willensstärker und brutaler" als die Deutschen, was schon näher erläutert wurde (5,195,28). Aber auch sie sind durch das "Christenthum" gezeichnet, dessen "Zucht [sie] zur 'Moralisirung'" brauchen (5,195,25-27). Dieser kurze Vergleich läßt deutüch werden, daß die Juden in der Tat die "stärkste Rasse" in Europa sind, also das Volk, das noch uneingeschränkt über die Kräfte seines Willens und seines "Herzens" verfügt. In ihrer Entwicklung gibt es keine "Kluft" wie etwa bei den Deutschen und den Franzosen. Das macht die Auszeichnung verständlich, mit der Nietzsche die Juden immer wieder erwähnt. Und es macht auch einsehbar, weshalb bei seinen Zukunftsplänen für Europa immer wieder die Juden an vorzüglicher Stelle genannt werden, neben den "Slaven", insbesondere Russen, deren Kräfte er ja auch noch für ungebrochen hält. Nietzsche wäre jedoch nicht Nietzsche, wenn er nicht auch hier Vorbehalte anmelden würde. Seine "doppelte Optik" läßt ihn auch die Gefahren der "starken Rassen" erkennen. Wir haben in der Einleitung schon darauf hingewiesen. Die "Erfahrungen der Geschichte" lehren ihn, daß "die starken Rassen" sich "gegenseitig dezimiren": "Krieg, Machtbegierde, Abenteuer; ihre Existenz ist kostspielig, kurz,- sie reiben sich unter einander auf -" (13,369,27-31). Die "starken Rassen" haben also nur eine Chance auf "Dauer", wenn sie diese gegenseitige Vernichtung in Grenzen zu halten lernen. Dazu müssen sie Nationalismus und Imperialismus a la Hohenzollern aufgeben, wie Nietzsche wiederholt fordert. Gelingt ihnen dies nicht, dann werden "die Schwachen siegen" (13,365, 17).
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"Stärke", wie Nietzsche sie verstanden haben möchte, kann nicht in nationalistischem oder imperialistischem Machtstreben bestehen, sondern, wie gesagt, in der Kraft des Willens und "Herzens": in der Kraft, "sich nicht 'gehen zu lassen'", wie Nietzsche es selbst formuliert. "Stärke" zeigt sich nicht in der Macht über andere, sondern in der Macht über sich selbst: "sich selbst befehlen und sich selbst gehorchen" ist Nietzsches Formel hierfür.
Rein/gemischt und Varianten
Im Kontext der "Rassen"-Diskussion ("Rasse" im zoo- und biologischen Sinn) bedeutet "rein sein": nicht vermischt/gemischt sein mit anderen Rassen. Postuliert wird hierbei die Möglichkeit oder tatsächliche Existenz "reiner, unvermischter" Rassen, wobei meist die Superorität einer dieser "reinen" Rassen angenommen wird. Die Überlegenheit dieser einen Rasse darf nicht durch Mischung mit niederen Rassen beeinträchtigt werden. Ein Modellfall für dieses Denken ist die Rassentheorie Gobineaus. Die Geschichte der Menschheit beginnt für ihn mit drei "reinen" Rassen: die Weißen, die Gelben und die Schwarzen. Die weiße Rasse ist die überlegene (Arier etc.). Durch Mischung kann sie nur an Wert verlieren. Die weiße Rasse hat die Zivilisation geschaffen. Da sie ihre "Reinheit" durch Mischung verloren hat, kam es zu einem Niedergang der Kultur. Rassenmischung fuhrt bei Gobineau sogar zu Sprachverfall. Der Sprachwissenschaftler Pott hat in einer Streitschrift die Rassentheorie Gobineaus angegriffen. Er schließt sich darin der These A. von Humboldts an, daß "alle Rassen gleichmäßig zur Freiheit bestimmt sind". Er bezeichnet Gobineaus Theorie als "Völkerchemie", mit der er den Völkern die "Blutmischung" bis auf Prozente nachrechnen wolle.227 Zulässig ist Mischung nach Gobineau nur in sehr beschränktem Rahmen, nämlich für die Entstehung von Kunst und Musik.228 Ist die "Reinheit" der "Super-Rasse" (GS) verloren gegangen, soll sie durch "Züchtung" wiedergewonnen werden. Präsupposition für diesen Einsatz von 327 528
Zu Pott vgl. Römer 1989, 138-140 sowie Poliakov 1979, 266. Römer 1989, 28.
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"Züchtung" ist hier die vorherige Existenz der einen, überlegenen reinen Rasse! Diese Auffassung von Züchtung findet sich bei Wagners Schwiegersohn H.S. Chamberlain, der Menschen wie Pferde züchten wollte.229 Seine "Theorien" wurden von Wilhelm und Hitler geschätzt.230 Gobineaus Reinheits-Kult war keineswegs Gemeingut im 19. Jahrhundert! Er fand erst gegen Ende des Jahrhunderts seine Anhänger, wobei wiederum die von Bayreuth ausgehende, 1894 von L. Schemann gegründete GobineauVereinigung keine geringe Rolle spielte.231 Michelet befürwortete die Verschmelzung der Völker, "Rein-Bleiben" wurde eher als negativ gesehen.232 Gemäß Klemm führt Rassenmischung zur Entstehung von Kulturen, und dies sei am besten in Europa gelungen.233 SaintSimon und Auguste Comte erwarten von der Mischung der Völker sogar ein "tijdperk van harmonieus geluk" sowie das "eeuwig leven voor het menselijk ras"234 Auch der bei Nietzsche erwähnte Cabanis bejahte die Mischung der Völker.235 Es liessen sich noch weitere Befürworter nennen. Und, das haben wir schon in der Einleitung gesehen, auch die Preußen des 19. Jahrhunderts sind bis etwa 1880 Vertreter dieser Auffassung! Bisher haben wir das Wort "rein" nur im Kontext der Rassentheorie diskutiert. Es wird aber auch in anderen Zusammenhängen verwendet, und dies ist auch bei Nietzsche meist der Fall. Heinrich Zöpfl spricht etwa 1832 (in seinem Buch "Microcosmos") von der "Sonderheit der (jüdischen) Race", von der "jüdischen Racenreinheit", die nach seiner Auffassung auf den "spezifischen Traditionen, Sitten und Vorstellungen" der Juden beruht.236 Die Bewahrung der eigenen Traditionen macht also hier die "Reinheit" aus. Das Wort "rein" hat einen kulturellen Bezug, fern der Rassentheorie.
229
Römer 1989, 32. Vgl. Chamberlain im Namensregister. 231 Vgl. Römer 1989, 32 sowie Schemann im Namensregister. 232 Poliakov 1979, 52. 233 Römer 1989, 28. 234 Poliakov 1979, 220 f. Deutsch: eine "Epoche harmonischen Glücks" sowie "das ewige Leben für die menschliche Rasse". 235 Poliakov 1979, 223. 236 Gemäß Puhle 1966, 114. 230
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Wie verwendet Nietzsche das Wort "rein"? Die Verbindung "'reines Blut'" wird von Nietzsche selbst in Anführungszeichen gesetzt und als "Gegensatz eines harmlosen Begriffe" eingestuft (6,101,23-4). Den Kontext bildet dort das "Gesetzbuch des Manu" und die "arische Humanität", von denen sich Nietzsche distanziert, wie die Erörterung zu Anfang des Kapitels 2 gezeigt hat. Manu fordert die Ausgrenzung der Tschandalas zwecks Reinerhaltung der "arischen Humanität". Reinheit ist bei ihm Nicht-Vermischung. Dies lehnt Nietzsche ab. Er hält die "arische Humanität" ebenso wie ihre "Gegenbewegung", die "antiarische Religion par Execellence: das Christenthum" (6,101, 30-32), in ihren Mitteln für "von Grund aus unmoralisch". (6,102,22). Die Behauptung, daß es (am Anfang der Menschheit) "reine Rassen" gab, wird von Nietzsche in äußerstem Maße in Zweifel gezogen: "Es giebt wahrscheinlich keine reinen, sondern nur reingewordene Rassen, und diese in großer Seltenheit" heißt es in der "Morgenröthe" (Aph. 272: KSA 3,213,18-20). "Gekreuzte Rassen" weisen zwar gewisse "Disharmonien" auf, aber der "Fortschritt zur Reinheit" bringt im allgemeinen "Beschränkung" und "Verarmung" mit sich: "Das Gewöhnliche sind die gekreuzten Rassen, bei denen sich immer, neben der Disharmonie von Körperformen (zum Beispiel, wenn Auge und Mund nicht zu einander passen), auch Disharmonien der Gewohnheiten und Werthbegriffe finden müssen. (Livingstone hörte Jemand sagen: 'Gott schuf weiße und schwarze Menschen, der Teufel aber schuf die Halbrassen'.) Gekreuzte Rassen sind stets zugleich auch gekreuzte Culturen, gekreuzte Moralitäten: sie sind meistens böser, grausamer, unruhiger. Die Reinheit ist das letzte Resultat von zahllosen Anpassungen, Einsaugungen und Ausscheidungen, und der Fortschritt zur Reinheit zeigt sich darin, daß die in einer Rasse vorhandene Kraft sich immer mehr auf einzelne ausgewählte Functionen beschränkt, während sie vordem zu viel und oft Widersprechendes zu besorgen hatte: eine solche Beschränkung wird sich immer zugleich auch wie eine Verarmung ausnehmen und will vorsichtig und zart beurtheilt sein." (3,213,20-214,4).
"Fortschritt zur Reinheit" ist also nicht unbedingt ein "Fortschritt" (Nietzsche verwendet "Fortschritt" im Sinn von "Weiterentwicklung", hier also nicht im heutigen Sinn!). "Gekreuzte Rassen" weisen zwar "Disharmonien" auf, für Nietzsche besteht aber, wie wir noch sehen werden, der "Fortschritt" (im heutigen Sinn) nicht darin, daß an Stelle der "Disharmonie" die (leere) "Einheitlichkeit" tritt, er plädiert vielmehr für "Vielheit" als "Synthese". Dieses Wort verwendet Nietzsche selbst wiederholt, wenn es um die "Erhöhung" des
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Menschen geht: der Mensch soll "umfänglicher" und "komplexer" werden, nicht "reiner" im Sinn von "Eintönigkeit". Als Beispiel für die geglückte "Reinwerdung" einer "Rasse" in diesem Sinn nennt Nietzsche dann die Griechen: "Endlich aber, wenn der Process der Reinigung gelungen ist, steht alle jene Kraft, die früher bei dem Kampfe der disharmonischen Eigenschaften daraufgieng, dem gesammten Organismus zu Gebote: weshalb reingewordene Rassen immer auch stärker und schöner geworden sind. Die Griechen geben uns das Muster einer reingewordenen Rasse und Cultur: und hoffentlich gelingt einmal auch eine reine europäische Rasse und Cultur." (3,214,4-
).
Wir haben vorn gesehen, daß die Griechen ein Mischvolk sind. Sie sind "rein" geworden - nicht durch Ausschaltung der vielfältigen damit einhergehenden Komponenten -, sondern indem sie dafür eine spannungsreiche, komplexe "Synthese" erarbeitet haben. Die "Reinheit" eines Mischvolkes besteht in der gelungenen Fruchtbarmachung aller ihrer Komponenten in einer spannungsreichen kulturellen "Synthese". "Mischung" ist Vorstufe zu einer reichen kulturellen "Reinheit", die als spannungsvolle "Synthese" verstanden werden. "Reingewordene Rassen" haben ihre durch Mischung gewonnene Vielfalt in einer spannungsreichen kulturellen Synthese bewahrt. Disharmonie wird in fruchtbare Spannung und Reichtum umgewandelt. "Reinwerden" hat hier also klar einen kulturellen Bezug. Der vorstehende Text beinhaltet eine klare Absage an Gobineaus These über die "reinen Rassen", die am Anfang stehen sollen. "Reine" Völker im Sinn Nietzsches: als "reingewordene" Völker sind immer wieder möglich, auch heute noch. Nietzsche erhofft sich ein solches "reingewordenes" Volk für das heutige Europa. Sie sind ein Produkt der kulturellen "Arbeit" - : diesen Ausdruck verwendet Nietzsche für die Griechen: ihre "Schönheit" ist ein Ergebnis ihrer "Arbeit" an sich selbst. Wobei "Schönheit" auf die angedeutete erreichte spannungsreiche "Synthese" zielt, nicht nur und nicht primär auf "äußere Schönheit" (genauso wenig wie das Wort "mißgestaltet" auf nur Äußeres hinweist, wie offenbar immer wieder irrtümlich angenommen wird.). Die Juden haben im Alten Testament den Tod "schöner" als die Griechen dargestellt; - das sollte uns zu denken geben. Wenn Nietzsche die Juden wiederholt als "älteste und reinste Rasse" einstuft (11,74 u. 11,569), so dürfte auch hier der kulturelle Bezug im Vordergrund
Völkerbeschreibung
stehen. Das Wort "rein" wird hier offenbar wie bei Zöpfl 1832 verwendet. Es verweist darauf, daß die Juden über lange Zeiten ihre Kultur bewahrt haben, ihre Sitten, ihre Religion, ihre Traditionen. Bei Nietzsche sind Juden Juden dank ihrer Kultur, die sie treu bewahren, nicht aufgrund irgendwelcher anderer Eigenschaften. Das wird erst bei den Antisemiten anders, etwa bei E. Dühring, der die Juden ausdrücklich zu einer "Rasse" im modernen Sinn macht, zu einer ausschließlich biologisch aufzufassenden Spezies Mensch. Davon kann bei Nietzsche keine Rede sein. Das Wort "reinlich" ist bei Nietzsche auf die Redlichkeit und Rechtschaffenheit eines Volkes bezogen. Im "Ecce homo" beklagt Nietzsche die "Falschmünzerei" der deutschen Philosophen und ihre "Unsauberkeit in psychologicis" (6,361,1-12). Er verweist dabei auf die Franzosen und ihr "Jahrhundert harter Selbstprüfung", das hervorragende Psychologen hervorgebracht habe, während die Deutschen "bis heute keinen Psychologen gehabt haben" (6,361,12-17). Dies ist ein ernster Mangel: denn "Psychologie ist beinahe der Maaßstab der Reinlichkeit oder Unreinlichkeit einer Rasse." (6,361,17-18). Das Wort "rein" erscheint bei Nietzsche schließlich noch in einem Zusammenhang, z.B. Alkoholmißbrauch, wo man heute etwa von "trocken(werden)" sprechen würde: "Der übermässige Gebrauch von Musik und geistigen Getränken, durch welchen die Verstandeskräfte eines Volkes leiden, während seine Affekte zunehmen - sodaß, nach den zuverlässigsten Aufstellungen, die Deutschen an Selbstmördern alle Völker übertreffen, und zwar im Verhältniss zu dem Reinerwerden der Rasse." (9,429,3-8: F 80/F 81: 10/D74/).
Das Textende ist etwas unklar. Mit "Rasse" könnte "Mensch/Menschen" allgemein, aber auch "Völker" gemeint sein. Die Rede ist von einem Zusammenhang Alkohohnißbrauch/Selbstmordneigung. Je mehr Alkohol, umso mehr Selbstmord, und je weniger Alkohol (je "reiner"), umso weniger Neigung zu Selbstmord. Wir haben schon gesehen, daß Nietzsche den hohen Alkoholkonsum als ein Hauptlaster der Deutschen ansieht. Aber auch in der Medizin der damaligen Zeit wurde immer wieder Alkohol (neben Syphilis, die auch bei Nietzsche eine Rolle spielt) mit "Reinheit" bzw. "Entartung" von Völkern in
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Verbindung gebracht: "Unreinheit" durch Alkoholmißbrauch als Auslöser von Krankheiten.237 Was nun die Mischung von Völkern betrißt, so haben wir schon gesehen, daß Nietzsche geradezu ein Verfechter der Mischung ist: "NB. Gegen Arisch und Semitisch. Wo Rassen gemischt sind, der Quell großer Cultur" (12,45: H 85/F 86: 1/153/).
Für den "deutschen Geist" fordert er "Entdeutschung" durch Mischung mit "ausländischem Blut" (11,702-704). Und Europa/Amerika soll sich mit Asien mischen: "Ich imaginire zukünftige Denker, in denen sich die europäisch-amerikanische Rastlosigkeit mit der hundertfach vererbten asiatischen Beschaulichkeit verbindet: eine solche Combination bringt das Welträthsel zur Lösung. Einstweilen haben die betrachtenden Freigeister ihre Mission: sie heben alle die Schranken hinweg, welche einer Verschmelzung der Menschen im Wege stehen: Religionen Staaten monarchische Instinkte Reichthums- und Armutsillusionen, Gesundheits- und Rassenvorurtheile- usw." (8,306,17-25: S 76: 17/55/).
Deutlicher kann Völkermischung nicht gefordert werden und die Absage an "Rassenvorurtheile". Wir sehen, die "Erhöhung" des Menschen führt bei Nietzsche über eine gegenseitige Befruchtung der Kulturen. Wenn auf dieser Grundlage dann noch ein "Reinwerden", im angedeuteten Sinn, erreicht wird, dann ist "Schönheit" und "Stärke" erreicht.
Hierarchie der Völker?
Gibt es bei Nietzsche eine Hierarchie der Völker? Wenn ja, wie sieht sie aus? Wie wird sie begründet? Die Vorstellung eines grundsätzlichen Wertunterschieds der Menschen und Völker geht bis auf die Antike zurück. Schon bei Aristoteles gibt es eine hierarchische Einteilung der Menschen, die bis in die Neuzeit oft zur Aufrechterhaltung der Sklaverei herangezogen wurde. Von A. von Humboldt wurde dieses Vorgehen kritisiert.238 Welche Auswüchse diese Wertungsweise
237 238
Dazu Weindling 1989, 88-89. Zu Aristoteles und A. von Humboldt vgl. Poliakov 1979, 176.
Hierarchie der Völker
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zeitigen konnte, zeigt der Vorschlag des Maupertius (1698-1759), zum Zwecke der Forschung Experimente an Verbrechern zu machen. Schon der einzelne Mensch an sich bedeute nichts "im Vergleich zur großen Menschheit", und ein Verbrecher sei ja noch "weniger" als ein Mensch!239 Nietzsche lehnt den Vorschlag des Maupertius ab: wenn schon Experimente, dann solle der Forscher diese an sich selbst vornehmen: "Maupertius schlug vor, um das Wesen der Seele zu erforschen, möge man Vivisectionen mit Patagoniem machen. Jeder ächte rechte Moralist behandelt sich als Patagonier." (KSA 11,149,1-3: F 84: 25/519/).
Auch die Aufklärung war in diesem Punkt noch nicht sehr aufgeklärt. Diderot etwa verkündet die Superiorität der "Weißen". Die Lappen sind demgegenüber "mißgestaltete Zweifüssler".240 Auch Charles White (17281801) stellt den weißen Europäer auf den obersten Rang: er ist "der Schönste der menschlichen Rasse": durch Intelligenz, Schädelform, Schädelinhalt, aufrechte und edle Haltung, sogar die Brüste sind schöner.241 Nietzsche macht wiederholt Äußerungen zum Rang von Völkern, aber mit anderen Maßstäben, und (natürlich) meldet er gelegentlich wieder Zweifel an seinen eignen Vorschlägen an und erwägt sogar schließlich eine Art Umkehrung seiner Vorschläge. Zunächst einmal gibt es bei Nietzsche Überlegungen, Völker anhand skalierbarer Eigenschaften abzustufen. Als "höhere Rassen" werden eingestuft: die Juden, aufgrund von "Geist" (9,43,19) und "Handel" (8,349,4) sowie aufgrund der "Feierlichkeit der Todesdarstellung" und der "Heiligung der Leidenschaft auf Erden" (ll,569,3f); die Italiener: aufgrund von Verstellung und Verschlagenheit ("die Verschlagenheit gehört mit in das Wesen höherer Geschöpfe": 11,630,17-23) (auch 12, 550). Als "niedrigere Species" gelten: die "Verherrlicher der Vaterländerei" (12,310), wobei Nietzsche sicherlich an die Deutschen denkt.
239 240 241
Zitat bei Poliakov 1979, 165. Vom Verfasser übersetzt. Vgl. bei Poliakov 1979, 170. Poliakov 1979, 160.
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Als "niedrigste, stupideste, gemeinste Rasse" werden einmal die Deutschen genannt (13,644,8-10), wo ausdrücklich die Hohenzollern erwähnt werden. Die Abstufung nach der "Stärke" wurde schon eingehend erörtert. Auch hier stehen die Juden an höchster Stelle. Die Engländer galten dort als "willensstärker" als die Deutschen, so daß letztere auch hier einen unteren Platz einnehmen. Qua Alter und "Reinheit" im Sinn der Bewahrung der eigenen Kultur stehen die Juden in Europa an erster Stelle (11,74 und 11,169). Nach der Vornehmheit haben die Polen (6,268,20-21) und Frankreich (17. und 18. Jahrhundert) die Führung in Europa. Die Polen haben auch eine "höhere Begabung als die Deutschen" (9,682,5), die "erst durch eine starke Mischung mit slavischem Blute in die Reihe der begabten Nationen eingerückt" sind (9,682,6f). Nach der "Reinlichkeit" der Seele übertreffen die Franzosen die Deutschen bei weitem. Ja, die "Reinlichkeit" ist beinahe ein Maßstab für den Wert von Völkern und Menschen (6,361,17-18 und KSB 8,75). Gelegentlich kombiniert Nietzsche auch zwei Skalen zur genaueren Abwägung der Abstufung. So heißt es über die "Slavisch-germanisch-nordische Cultur": sie ist zwar "die geringere, aber kräftigere und arbeitsarmere" (9,546,21). Neben der skalierenden stehen dichotome Abstufungen, wobei für die jeweiligen Pole teils gleicher Rang, teils unterschiedlicher Rang angenommen wird. Bei seiner Einteilung der Völker in männliche und weibliche, "zeugende" und "sich befruchten lassende" Völker haben offenbar beide einen gleichen Rang: Juden, Römer und Deutsche werden als "Ursache neuer Ordnungen" bezeichnet, Griechen und Franzosen übernehmen die "Aufgabe des Gestaltens, Ausreifens, Vollendens" (5,191, 23-24). Beides ist offenbar gleich wertvoll. An anderer Stelle werden die Deutschen aus der Zahl der "Zeugenden" herausgenommen: bei ihnen gebe es "keine neuen Wert-Schöpfungen" (11,703,32-33). Die Einteilung in "befehlende" und "gehorchende" Völker (und Stände) ist hingegen mit unterschiedlicher Wertung verbunden. Der "Herren-Rasse", deren Aufgabe es ist, zu "regiren" (12,426,4-5), steht der "gesellschaftliche Mensch" gegenüber (der "Heerdenmensch") (11,642,7).
Hierarchie der Völker
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Schließlich kann der "Werth von Menschen, von Rassen darnach" geschätzt werden, "wie nothwendig sie den Gott nicht abgetrennt vom Satyr zu verstehen wissen" (6, 286,18-20). Eine weitere Abstufung ergibt sich für Nietzsche daraus, wie weit ein Volk oder Mensch das Leben bejaht oder verneint. Auf der einen Seite stehen die Menschen, die "immer das Böse erwarten", die eine "pessimistische Denkweise" pflegen, die "für Andere unerträglich" ist und durch die sie selber "an der Gesundheit leiden", und schließlich "krank werden" und "aussterben" (9,59, 20-23). Auf der anderen Seite sieht er die "zufriedeneren und hoffnungsreicheren Naturen", die "am Leben geblieben" sind (9,59,23-24). Dieser Gesichtspunkt kommt bei Nietzsche wiederholt zur Sprache, so wenn er über den Sozialismus sagt: "In der Lehre des Socialismus versteckt sich schlecht ein 'Wille zur Verneinung des Lebens'; es müssen missrathene Menschen oder Rapen sein welche eine solche Lehre ausdenken.11 (11,586,31-587,1). "Missrathene Menschen" verneinen das Leben, darin besteht ihre "Missrathenheit". Neben dem Sozialismus wird auch die Demokratie mit dieser Form des "Missrathenseins" in Verbindung gebracht (ll,469,9f.). Im Dezember 88/Januar 89 formuliert Nietzsche dies einmal sehr pointiert: "... die grosse Politik macht die Physiologie zur Herrin über alle ändern Fragen... sie misst den Rang der Rassen, der Völker, der Einzelnen nach ihrer Zukunfts [-], nach ihrer Bürgschaft für Leben, die sie in sich trägt.- sie macht unerbittlich mit allem Entarteten und Parasitischen ein Ende." (13,638,20-25: Dez. 88/Jan 89: 25/1/). Auf diese Stelle ist zurückzukommen. Hier genügt es festzuhalten, daß es Nietzsche, wie die vorhergehenden Texte zeigen, um bestimmte "Denkweisen" und "Lehren" geht, die dem Leben verneinend oder bejahend gegenüber stehen. Seine Absage richtet sich an lebensverneinende Denkweisen, wie zum Beispiel die "pessimistische", wie es oben heißt. Dieser möchte er eine lebensbejahende Denkweise entgegenstellen. Überblicken wir diese Abstufungsvorschläge, dann ergibt sich keine klare Hierarchie. Je nach "Maaßstab" verschieben sich die Einstufungen. Greifbar wird aber, daß die Juden meist an der Spitze stehen, auch die Polen und Franzosen erhalten einen sehr guten Platz. An unterster Stelle fungieren jedoch wiederholt die Deutschen. Es liegt auf der Hand, daß eine solche Abstufung
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geradezu das Gegenteil von dem ist, was später 'gute', nationalistische Deutsche für 'richtig' halten werden. Insbesondere die "Spitzenposition" von Juden und Polen mußte ihnen ein Dorn im Auge sein. Es ist also nicht verwunderlich, wenn Nietzsche gelegentlich als Jude und Pole beschimpft wurde, wie wir schon gesehen haben.242 Nietzsche hatte aber durchaus auch gelegentlich Zweifel an einer möglichen Hierarchisierung von Völkern: "Wie soll man handeln? So daß der Einzelne möglichst erhalten bleibt? Oder so daß die Rasse möglichst erhalten bleibt? Oder so daß eine andere Rasse möglichst erhalten bleibt? (Moralität der Thiere). Oder so daß das Leben überhaupt erhalten bleibt? Oder so daß die höchsten Gattungen des Lebens erhalten bleiben? Die Interessen dieser verschiedenen Sphären gehen auseinander. Aber was sind höchste Gattungen? Giebt die Höhe des Intellekts oder die Güte oder die Kraft den Ausschlag? In Bezug auf diese allgemeinsten Maasstäbe für das Handeln gab es kein Nachdenken, geschweige denn eine Übereinstimmung." (9,9,10-19: Anf. 80: 1/4/). Nietzsche referiert hier zunächst einmal. Aber man hat doch den Eindruck, daß er auf diese Fragen auch keine einfache Antwort geben kann oder will. Antworten können nur Versuche sein. Wir haben vorher einige Antwortversuche Nietzsches kennengelernt. Nietzsche stellt seine eigenen Antworten auch manchmal selbst radikal in Frage, bis zur Umkehrung. Wurden oben die "Missrathenen", die zum Leben nein sagenden, auf eine untere Stufe gestellt, so erwägt er einmal auch, ob nicht gerade die "Missrathenen" die "höheren in der Anlage" sind. In dem Fragment "Die neue Rangordnung" vom S/H 84 wird eine solche Umkehrung erwogen: "... 3. Gerathene und Missrathene (letztere vielleicht die höheren in der Anlage, auch bei Völkern und Rassen..." (11,212,23-25: S/H 84: 26/243S/). Nietzsches Hierarchisierungsversuche bleiben in Bewegung und er betrachtet sie mit Vorbehalten. Bis ins Frühjahr 88 beschäftigt ihn die Frage, ob nicht
242
Zu erwähnen ist hier aber, daß Nietzsche bis zum Bruch mit Wagner (18757 76) den Deutschen und Bismarck z.T. noch positiv gegenüber steht. Der Bruch mit Wagners Nationalismus und Antisemitismus bringt für Nietzsche auch eine zunehmende Distanz gegenüber den Deutschen und der Hohenzollernpolitik.
Das Wort "Rasse": Zwischenbilanz
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vielleicht doch die "Schwachen" die Stärkeren sind. Wir haben diesen Text "Warum die Schwachen siegen", der eine scharfe Kritik der Starken enthält, schon in der Einleitung erörtert (13,365-70: F 88: 14/1827). Auch bei der Frage der Hierarchie der Völker bei Nietzsche empfiehlt es sich, Nietzsches 'doppelte Optik', auf die schon mehrmals verwiesen wurde, nicht aus dem Blick zu verHeren. Wichtig ist auch noch, daß Nietzsche nicht, im Gegensatz zu den "Rassentheoretikern", den Wert von Völkern aus ihrer Genealogie ableitet. Die Deutschen sind bei ihm nicht mit den Germanen verwandt, und schon gar nicht mit den 'Ariern', und sie haben einen niedrigen Platz, weil ihre Kultur bisher wenig entwickelt ist, im Unterschied zu den anderen genannten Völkern. Nur Deutscher zu sein, ist für Nietzsche noch keine Empfehlung oder gar ein Beweis eines besonderen Wertes.
Das Wort "Rasse": Zwischenbilanz
In den vorangegangenen Erörterungen wurden aus den insgesamt 200 Belegen mit dem Wort "Rasse" zunächst jene Texte ausgewählt und interpretiert, in denen Nietzsche das Wort "Rasse" (öfter abwechselnd mit "Classe", "Stand" und "Volk") verwendete. Wir haben versucht, die verschiedenen Bedeutungen von "Rasse" jeweils in den gegebenen Kontexten näher zu bestimmen. Wir stellen die gefundenen Bedeutungen nun hier in einer ersten Übersicht zusammen. Wir haben vier Bedeutungsvarianten ermittelt: 1. eine soziale, schichtorientierte Bedeutung: "Rasse" als "Stand/Kaste", die ihre Eigenschaften kulturell erworben hat. Dies passt gut zu Nietzsches "Rasse"-Konzept, das vorn expliziert wurde: längerer Aufenthalt in einer bestimmten "Umgebung" führt zur Herausbildung spezifischer sozialer und kultureller Einheiten: Völker, Stände. 2. "Rasse" als Volk. Hierfür gilt das zu (1) Gesagte. 3. "Rasse" ganz allgemein als Mensch, Menschheit, Menschentyp. 4. Anklänge an einen moderneren Rassebegriff, wobei vor allem Reinheitsvorstellungen im Sinn von Nichtgemischtsein (genealogisch, biologisch)
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Die Völker Europas
eine Rolle spielen. Dieser Rasse-Begriff wird von Nietzsche zitiert (Manu, die deutschen Historiker) und kritisiert. Die Verteilung der einzelnen Bedeutungsvarianten sieht folgendermassen aus: 1. "Rasse": "Volk": 16 Belege 2. "Rasse": "Stand": 5 Belege 3. "Rasse": "Mensch allgemein, Menschheit, Menschentyp": 2 Belege 4. "Rasse": "moderne" Bedeutung: 2 Belege. Das Wort "Rasse' hat demnach bei Nietzsche, in den bisher interpretierten Texten, überwiegend die Bedeutung "Volk", was auch daraus hervorgeht, daß Nietzsche oft die Wörter "Rasse" und "Volk" im gleichen Text nebeneinander verwendet. "Volk" wird dabei als kulturell gewordene Einheit verstanden, die aber auch noch teilweise fehlen kann (so bei den Deutschen). Vorbilder sind die Griechen, Juden und Franzosen, die ihre Einheit (Griechen "Schönheit", auch bei den Juden) "erarbeitet" haben. Die Vorstellung einer "reinen" genealogischen oder biologischen Basis im Sinn einer unvermischten Abstammung spielt dabei bei Nietzsche keine Rolle. J_m Gegenteil: Völkermischung wirkt bereichernd und kann durch kulturelle "Arbeit" ("sich nicht gehen lassen"), im oben erörterten Sinn einer "Synthese", "rein" werden. Häufiger hat das Wort "Rasse" bei Nietzsche auch die Bedeutung "sozialer Stand/soziale Schicht", was unterstrichen wird durch die gelegentliche parallele Verwendung der Wörter "Rasse/Kaste/Classe" und, an einigen Stellen, "Schicht". Diese Bedeutungsvariante für "Rasse" ist auch bei den französischen Historikern öfter anzutreffen. Weniger häufig ist die Bedeutung "Mensch allgemein", "Menschheit" und "Menschentyp". Diese war jedoch im Französischen (la race humaine) und im älteren Deutsch keineswegs selten. Die moderner anmutende Bedeutung, die die 'biologische' "Reinheit" betont, begegnet bei Nietzsche nur in Texten, in denen er Vorstellungen Dritter bespricht und kritisiert, so bei der Erörterung des Gesetzbuchs des Manu ("der Begriff 'reines Blut': der Gegensatz eines harmlosen Begriffs") und in der Kritik an den deutschen Historikern. Diese Bedeutungsvariante war ihm also durchaus bekannt, natürlich auch durch Antisemiten wie Dühring, aber er distanziert sich nachdrücklich davon. "Reinheit der Abstammung" spielt als Gesichtspunkt bei Nietzsche keine Rolle.
Das Wort "Rasse": Zwischenbilanz
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Das bisherige Ergebnis wird weiter zu überprüfen sein. Es kann aber als Anhaltspunkt für die weiteren Interpretationen dienen.
Der "Gang der Cultur" Vorbemerkung Bisher wurden Texte interpretiert, in denen das Wort "Rasse" in Völkerbeschreibungen verwendet wurde. Das Wort "Rasse" begegnet aber auch in zahlreichen Texten, in denen über einzelne Bereiche der Kultur, wie etwa Moral und Religion, gesprochen wird. Kulturbereiche werden also in Zusammenhang mit "Rasse(n)" gesehen. Es geht dabei vor allem um folgende Bereiche: Gesundheit/ Krankheit, "Erschöpfung" (stark/schwach, decadence), Moral, Religion und Politik. Hinzu kommen vereinzelte Äußerungen zu Vernunft, Musik und Sprache. Versuchen wir zunächst, die Fragen genauer zu formulieren, die hierbei aus dem Blickwinkel der vorliegenden Untersuchung genauer erörtert werden müssen. Wir haben es zu tun: A: mit den genannten Kulturbereichen B: mit den Sachverhalten, die mit dem Wort "Rasse" angedeutet werden, sowie mit der Frage nach der Natur der Beziehung zwischen A und B Die Kulturbereiche (A) können hier nur soweit analysiert werden, wie es im vorüegenden Rahmen nötig erscheint (das dürfte schon schwierig genug sein). Bei B sind zunächst die für "Rasse" gefundenen Bedeutungen heranzuziehen. Vielleicht stoßen wir hier auf weitere, damit verbundene Sachverhalte, wie etwa Eroberung, auf deren Einfluß Nietzsche ja auch kulturellen Wandel zurückführt. Am meisten Probleme wirft die Frage der Beziehung zwischen A und B auf. Nietzsches Formulierungen sind hier nicht einheitlich. Er spricht einmal von "Ursache", dann von "Folge", von "Symptom", von "Semiotik". Wir wollen diese Formulierungen jedoch erst in ihren Textzusammenhängen zu interpretieren versuchen. Vielleicht ergibt sich ein einheitlicheres Bild, wenn weitere Differenzierungen bei der Textarbeit gewonnen sind.
Krankheit, "Erschöpfimg", "docadence" Krankheit, "Erschöpfung",
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"decadence"
Das wichtige Thema der Krankheit in Nietzsches Denken, zu dem derzeit eine eingehendere Untersuchung im Entstehen ist,243 soll hier im wesentlichen nur an Texten aus der "Genealogie der Moral" (Buch , Kap. 12-21) behandelt werden, da in diesen Texten auch "Abkünfte" der Erkrankung Europas (5,378, 13) von Nietzsche namhaft gemacht werden. Nietzsche selbst formuliert die Frage, um die es ihm in der "Genealogie der Moral" an dieser Stelle geht, als die "Krankhaftigkeit im bisherigen Typus des Menschen, zum Mindesten des zahm gemachten Menschen, das physiologische Ringen des Menschen mit dem Tode" (5,366,16-19).
Wir geben zunächst eine kurze Übersicht über die genannten Kapitel der dritten Abhandlung, deren Titel lautet: "was bedeuten asketische Ideale": KSA 5,363f: Kap. 12-16: Leben ist immer partiell krank und partiell gesund (366,1-4). Insbesondere der "zahm gemachte" Mensch ist krank (366,17). Der asketische Priester ist ein Arzt, der selber krank ist (372,9). Seine Methode besteht darin, die Richtung des Ressentiment zu verändern: der Kranke ist selber schuld an seiner Krankheit (373,32). Diese Methode ist physiologisch gesehen wertlos (375,29f.). Denn die Krankheit liegt "nicht in der Seele", sondern "wahrscheinlicher noch am Bauche" (376,32-33). In Kapitel 17 (5,377-82) gibt Nietzsche zunächst eine Diagnose der "Krankhaftigkeit", dann erörtert er verschiedene Behandlungsmethoden. Zunächst unterstreicht er nochmals, daß der asketische Priester "eigentlich kein Arzt" ist, denn er bekämpft "nur das Leiden selbst, die Unlust der Leidenden, aber nicht deren Ursache, das eigentliche Kranksein" (377,11-16). Als eigentliche "Ursache" nimmt Nietzsche ein "physiologisches Hemmungsgeföhl" an, das sich "von Zeit zu Zeit an bestimmten Stellen der Erde fast
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Zur Zeit wird zu dieser Problematik an der Katholieke Universiteit Nijmegen von Jelle Boursma eine eingehende Untersuchung durchgerührt. Dort wird auch eine breitere Textbasis zugrunde gelegt, was im vorliegenden Rahmen jedoch nicht möglich ist. Wir beschränken uns hier auf jene Texte, in denen Krankheit im Zusammenhang mit "Rasse" thematisiert wird. In den anschließenden Kapiteln werden jedoch auch Moral und Religion in diesen Fragenkomplex einbezogen.
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Der "Gang der Cultur"
nothwendig" breit macht (378,5-7). Dieses "Hemmungsgefühl" kann "verschiedenster Abkunft" sein, und hier taucht auch das Wort "Rasse" auf (378,12-13). Nietzsche nennt im einzelnen die folgenden fünf "Abkünfte": 1.
2.
3. 4.
5.
"Folge der Kreuzung von zu fremdartigen Rassen (oder von Ständen - Stände drücken immer auch Abkunfts- und Rassen-Differenzen aus: der europäische 'Weltschmerz', der 'Pessimismus' des 19. Jahrhunderts ist wesentlich die Folge einer unsinnig plötzlichen Stände-Mischung)" (378,13-18). Oder: "bedingt durch eine fehlerhafte Emigration - eine Rasse in ein Klima gerathen, für das ihre Anpassungskraft nicht ausreicht (der Fall der Inder in Indien)" (378,18-21). Oder; "die Nachwirkung von Alter und Ermüdung der Rasse (Pariser Pessimismus von 1850 an)" (378,21-2). Oder: "Nachwirkung einer falschen Diät (Alkoholismus des Mittelalters; der Unsinn der Vegetarians, welche freilich die Autorität des Junker Christoph bei Shakespeare für sich haben)" (378,22-25). Oder von: "Blutverderbniss, Malaria, Syphilis und dergleichen (deutsche Depression nach dem dreißigjährigen Kriege, welcher halb Deutschland mit schlechten Krankheiten durchseuchte und damit den Boden für deutsche Servilität, deutschen Kleinmuth vorbereitete)" (378,25-29).
Nietzsche geht dann ein auf bisher versuchte Behandlungsmethoden, die seiner Meinung nach alle ungeeignet sind. Zunächst bespricht er vier "unschuldige" Methoden, danach die "schuldigen" Mittel des asketischen Priesters. Die "unschuldigen" Methoden sind: Methode I (noch in Kapitel 17): "das Lebensgefühl überhaupt auf den niedrigsten Punkt herabsetzen" (379,6-8), sei es durch Philosophie oder "Hypnotisierung" (379,16). In Kapitel 18 erfolgt dann die Kritik weiterer Methoden: Methode II: "Depressions-Zustände" dämpfen durch die "machinate Thätigkeit" (382,14). Methode III: die "Trainingsmethode", die darin besteht, "im Kampf mit der Depression" die "kleine Freude" zu "ordiniren" (383,6). Methode IV: die Zuflucht zur "Heerdenbildung". (383,32). In Kapitel 19 wird dann die Rolle des asketischen Priesters näher beleuchtet. Während es sich bisher, wie gesagt, um "unschuldige Mittel im Kampfe mit der Unlust" (384,32-385,1) gehandelt habe, verwende der asketische Priester "schuldige" Mittel. Allen gemeinsam sei "eine Ausschweifung des Gefühls" (385,2-4).
Krankheit, "Erschöpfung", "decadence"
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In Kapitel 20 wird die "Gefuhlsausschweifung" näher erörtert. Nietzsche wirft dem asketischen Priester vor, sich das "Schuldgefühl zu Nutze" zu machen (389, 6-7). Und so werde aus dem "Kranken der Sünder" gemacht (389,30), aus dem "physiologisch" Leidenden (389,18) wird ein "Sünder" gemacht. Kapitel 21 bewertet die "priesterliche Medikation" (391,2): sie macht den Kranken zwar "besser", aber auch "kränker" (391,18-19). Das "asketische Ideal ... und diese Systematisirung aller Mittel der Gefuhlsausschweifung [habe sich] unter dem Schutz heiliger Absichten auf eine furchtbare Weise in die ganze Geschichte des Menschen eingeschrieben" (392,12-27). Nichts habe in vergleichbarem Maße "zerstörerisch der Gesundheit und Rassen-Kräftigkeit, namentlich der Europäer, zugesetzt als dies Ideal; man darf es ohne alle Übertreibung das eigentliche Verhängniss in der Gesundheitsgeschichte des europäischen Menschen nennen." (392, 19-23). Allenfalls sei vergleichbar: "der spezifisch-germanische Einfluß: ich meine die Alkohol-Vergiftung Europa's, welche streng mit dem politischen und Rassen-Übergewicht der Germanen bisher Schritt gehalten hat (- wo sie ihr Blut einimpften, impften sie auch ihr Laster ein)." (392,18-23). "Zudritt in der Reihe wäre die Syphilis zu nennen..." (392,28). Nietzsche unterscheidet hier in der "Gesundheitsgeschichte des europäischen Menschen" zwei Phasen:- der europäische Mensch wird "physiologisch" krank, - der physiologisch erkrankte Mensch wird durch den asketischen Priester und das asketische Ideal noch "kränker" gemacht. Zuerst ist er nur am "Leib" erkrankt, dann zusätzlich noch an der "Seele". Die physiologische Erkrankung (Phase I) drückt sich aus in "Unlust" (377,15 u. 385,1) und "Depression" (382,12 und 383,5). Ihre "Ursache" (377,11-16) ist physiologisch; ein "physiologisches Hemmungsgeföhl"
(378,6), das "von Zeit
zu Zeit an bestimmten Stellen der Erde fast nothwendig... über breite Massen Herr werden muß" (378,5-7). Für dieses "physiologische Hemmungsgefuhl" weist Nietzsche fünf "Abkünfte" (378,13 ff) nach, die gleich noch näher erörtert werden sollen. Er nennt dann vier "unschuldige Mittel im Kampfe mit der Unlust" (385,1):
Herabsetzung des "Lebensgefühls" (379,6-8),
Dämpfen der "Depressions-Zustände" durch "machmale Thätigkeif
das
(382,14),
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Der "Gang der Cultur"
die "Trainingsmethode" (Aufsuchen der "kleinen Freuden" (383,6), sowie die Zuflucht zur "Heerdenbildung" (383,32). Nietzsche zeigt hier Verbindungslinien auf zwischen der physiologischen Erkrankung des europäischen Menschen und seinen kulturellen und politischen Zuständen. Darauf ist später zurückzukommen. Durch das Eingreifen des asketischen Priesters (Phase II) erfährt diese physiologische Erkrankung eine unheilvolle Steigerung. Der asketische Priester verkennt die physiologische Natur der Erkrankung des europäischen Menschen, er betrachtet die Erkrankung als eine seelische. Für Nietzsche liegt aber die Krankheit "nicht in der Seele", sondern "wahrscheinlicher noch am Bauche" (376, 32-33). Der asketische Priester wendet nun "schuldige" Mittel an "im Kampfe mit der Unlust" (385,2). Er macht sich das "Schuldgeföhl zu Nutze" (389,7), er richtet das Ressentiment auf den Kranken selbst zurück, der selbst schuld sei an seiner Krankheit (373,32). Diese Methode der "Gefühlsausschweifung" (385,2-4) macht den Kranken noch kränker, als er ist. Der physiologisch Kranke wird zusätzlich zum seelisch Kranken, zum "Sünder" gemacht (389,30). Er wird zwar vielleicht ("gesetzt, daß es ihn 'besser' machte") "besser", aber auf jeden Fall "kränker" (391,17-19). Die Maßnahmen des asketischen Priesters und sein "asketisches Ideal" verschlimmern also nur die Erkrankung des europäischen Menschen. Das fragwürdige "Besser"-Werden des Menschen kann diese Verschlechterung des Krankheitszustandes nicht aufwiegen. Für Nietzsche hat das "eigentliche Kranksein" des europäischen Menschen (377, 16) eine physiologische "Ursache" (377,16). Hier muß der Arzt ansetzen, nicht erst bei den daraus folgenden Gefühlen der "Unlust" und "Depression". Als Ursache betrachtet Nietzsche das bereits erwähnte "physiologische Hemmungsgefühl". Seine "Abkünfte" muß der Arzt näher erforschen, wenn er die Erkrankung an der richtigen Stelle bekämpfen will. Und damit sind wir auch bei dem Fragenkomplex angekommen, der im vorliegenden Rahmen unsere primäre Aufmerksamkeit finden muß. Betrachten wir also die "Abkünfte" des "physiologischen Hemmungsgeruhls" genauer! Welche Rolle spielen hier "Rassen", und welche Bedeutung hat dieses Wort im vorliegenden Zusammenhang?
Krankheit, "Erschöpfung", "decadence"
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"Abkunft" I (378,13-18): das "physiologische Hemmungsgefühl" kann sein: "Folge der Kreuzung von zu fremdartigen Rassen (oder von Ständen - Stände drücken immer auch Abkunfts- und Rassen-Differenzen aus: der europäische 'Weltschmerz', der 'Pessimismus' des 19. Jahrhunderts ist wesentlich die Folge einer unsinnig plötzlichen Stände-Mischung)..."
Das physiologische Hemmungsgefühl "kann" (378,13) sein: Folge von "Kreuzung" und "Mischung" von "Rassen" oder "Ständen". Hierbei macht Nietzsche zwei Einschränkungen: falls die Rassen/Stände "zu fremdartig" sind, und falls die Kreuzung/Mischung "unsinnig plötzlich" erfolgt. Also nur unter gewissen Bedingungen führt Kreuzung/Mischung von Rassen/ Ständen zu einem physiologischen Hemmungsgefuhl. Abstand und Tempo der Kreuzung "Stände" Vielleicht Stände ja
sind entscheidend. Der Akzent liegt auf "Stände-Mischung". werden hier aber auch mit "Rassen" in Verbindung gebracht. denkt Nietzsche hier an die Verhältnisse in Frankreich, wo die z.T. noch mit ihrer unterschiedlichen Völkerherkunft in Verbindung
gebracht wurden; erster Stand (fränkische Herkunft), "tiers etat": gallisch/ keltische Herkunft. Diese Betrachtungsweise spielte ja bei den französischen Historikern eine gewisse Rolle. Man könnte auch an spätrömische Vorgänge denken, wo Völker und Stände gemischt wurden. Die christliche Religion wurde von den "kleinen Leuten der Diaspora" nach Rom gebracht, von Völkern, die in Rom zugleich die soziale Rolle niederer Stände einnehmen sollten. Nietzsche nennt als Beispiele für "physiologisches Hemmungsgefühl" den "europäischen 'Weltschmerz'" und den "Pessimismus des 19. Jahrhunderts", den er "wesentlich" als "Folge einer unsinnig plötzlichen Ständemischung" interpretiert. Damit könnte auf den rasanten sozialen Wandel im Laufe des 19. Jahrhunderts angespielt sein, der vor allem die oberen Stände in hohem Maße verunsicherte. Die Historiker haben z.B. in Preußen für die Jahre 1873-96 eine "große Depression" auf dem wirtschaftlichen Sektor festgestellt, die zu "Panik, Krisenstimmung" und einer "pessimistischen Grundstimmung" im ganzen Land führte.244
244
Vgl. Rosenberg 1967, 51.
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Das "physiologische Hemmungsgefühl" meint hier also eine Herabsetzung des "Lebensgefühls", um Nietzsches eigene Formulierung (379,7) zu gebrauchen. Die vorangehenden Überlegungen machen deutlich, daß es dabei vorrangig um Folgen sozialen Wandels gehen dürfte, der "unsinnig plötzlich" erfolgt und "zu Fremdartiges" durcheinander wirbelt. Nicht "Kreuzung" oder "Mischung" von Völkern und Ständen an sich ist der Auslöser, sondern das zu hohe Tempo und der zu große Abstand des Gemischten. Daß Nietzsche die Mischung von Völkern geradezu fordert, haben wir ja schon zur Genüge gesehen. Aber offensichtlich ist für Nietzsche Bedingung dabei, daß die Mischung langsam erfolgt, insbesondere, wenn der Abstand der beteiligten Völker und Stände groß ist. Man kann demnach festhalten, daß "Rasse" und "Stand" bei "Abkunft" I als soziale Einheiten zu verstehen sind ("Völker" und "Stände"), und daß "Kreuzung/Mischung" nicht per se das Lebensgefühl beeinträchtigt, sondern nur, wenn bei großem Abstand zu schnell ("unsinnig plötzlich") eine Mischung erfolgt. Werden die genannten Bedingungen eingehalten, führt die Mischung von Völkern, wie vorher schon deutlich wurde, zu einer Bereicherung und "Erhöhung" der Völker. "Abkunft" (378,18-21): das "physiologische Hemmungsgefühl" kann sein: "bedingt durch eine fehlerhafte Emigration - eine Rasse in ein Klima gerathen, für das ihre Anpassungskraft nicht ausreicht (der Fall der Inder in Indien)".
Es ist nicht deutlich, worauf Nietzsche mit der Formulierung "fehlerhafte Emigration" anspielt. Der Hinweis auf die "Inder in Indien" könnte ein Hinweis auf die Wanderungen sein, durch die Europa von Indien aus besiedelt sein sollte. Davon war vorn schon die Rede. Die weiteren Ausführungen werden deutlicher, wenn wir auf Nietzsches Konzept der Entstehung von "Rassen" zurückgreifen (11,136). Eine "Rasse" bildet sich, wenn Menschen längere Zeit in einer sich nicht ändernden "Umgebung" leben. Dann erhalten sie einen "Charakter", der ihre "Rasse" ausmacht. Wird dann das "Milieu" gewechselt, so kann entweder eine Bereicherung der "Rasse" zur "Überrasse" eintreten - wenn die "Assimilations-Kraft" stark genug ist, oder die "Rasse" geht zugrunde, wenn es ihr an dieser Kraft gebricht. (11,136,3-27). Bei "Abkunft" II hat Nietzsche einen solchen Fall im Auge: die "Anpassungskraft" ist zu schwach, um mit einem geänderten "Klima" fertig zu werden. Das für die eingewanderte "Rasse" zu ungünstige Klima führt zu einer
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Schwächung der Kräfte, die Nietzsche hier als eine Variante des "physiologischen Hemmungsgefühls" einstuft. Daß Nietzsche dem Klima eine sehr große Bedeutung für das Wohlbefinden auch des Einzelnen beimißt, ist bekannt, war er doch selbst ein Leben lang auf der Suche nach dem für ihn am besten geeigneten Klima. Viele seiner Briefe lesen sich streckenweise geradezu wie Wetterberichte. In einem Brief an die Mutter weist er z.B. auf die nachteiligen Folgen hin, die das "heiße Clima" in Paraguay für die Försters und ihre Kolonialisten haben müsse. Er führt aus, das "heisse Clima" habe "leibliche Consequenzen": "es ruinirt den Muth und die Kraft des Willens" (KSB 7,183. April 1886). Dies ist zweifellos ein durch Klima herbeigeführtes "physiologisches Hemmungsgefuhl": Sinken des Mutes und der Willenskräfte. Dies gilt nach Nietzsche offenbar auch für Völker: sie befinden sich am wohlsten in dem Klima, wo sie lange gelebt haben und ihren "Charakter" gebildet haben. Klimawechsel ist mit Risiken verbunden und kann nachteilige Folgen haben, wenn die "Assimilations-Kraft" nicht ausreicht. "Abkunft" ffl (378,21-22): "die Nachwirkung von Alter und Ermüdung der Rasse (Pariser Pessimismus von 1850 an)".
Bei den Analysen zu "alt/jung" hat sich gezeigt, daß das Alter eines Volkes nicht per se die Kräfte verringern muß. Alter und damit auch "Dauer" ist bei den Juden geradezu eine Voraussetzung für ihre "Vervollkommnung": sie sind die "älteste und reinste Rasse". Auch "späte" Phasen müssen noch kein "Ermüden" bringen. Sie entwickeln "esprit", so die Franzosen (13,532,3If). Jedoch kann bei "späten Menschen" auch eine Ermüdung eintreten, ein Nachlassen der Kraft, wie Nietzsche im Zusammenhang mit dem Buddhismus feststellt: die Menschen werden "gütig, sanft, übergeistigt" (6,189,13-14). Nietzsche gibt noch eine Präzisierung: er denkt an den "Pariser Pessimismus von 1850 an". Damit könnte der "romantische Pessimismus" gemeint sein, den Nietzsche als Pessimismus der Schwäche versteht. Dies zielt auf die romantischen Schriftsteller. Politycki verweist in diesem Zusammenhang noch auf Bourgets Dekadenz-Theorie, die demnach auch als Ergebnis der Ermüdung der Kräfte gesehen werden muß.245 Des weiteren wäre Taine zu nennen, mit dem Nietzsche ja im Briefaustausch stand. 245
Politycki 1989, 239.
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Möglich wäre auch noch eine Anspielung auf Vorwürfe, die gegen die "Geburt der Tragödie" erhoben wurden, und auf die Nietzsche in seinem "Versuch einer Selbstkritik" eingeht: "wie? ist das nicht das ächte rechte Romantiker-Bekenntniss von 1830, unter der Maske des Pessimismus von 1850? hinter dem auch schon das übliche Romantiker-Finale präludirt,- Bruch, Zusammenbruch, Rückkehr und Niedersturz vor einem alten Gotte, vor dem alten Gotte..." (KSA 1,21,17-21).
Dies lehnt Nietzsche natürlich für seine Person ab. Aber der Text enthält auch eine Anspielung auf Wagner, der einige Zeit in Paris verweilt hatte und zuletzt vor dem Kreuz niedergesunken war: so verstand Nietzsche Wagners "Parsifal". Zur Übersendung des "Parsifal" bemerkt er im "Ecce homo": "Unglaublich! Wagner war fromm geworden..." (6,327,25).
Bei "Abkunft" handelt es sich demnach um ein Nachlassen der Kräfte, das bei Völkern und Einzelnen auftreten kann (aber nicht muß: so nicht bei den Juden). Die auf diesem Weg entstehende "physiologische Hemmung" kann ihren Ausdruck im Pessimismus der Schwäche finden. "Abkunft" IV (378,22-25): "Nachwirkung einer falschen Diät (Alkoholismus des Mittelalters; der Unsinn der Vegetarians...)"
Hierzu braucht in diesem Zusammenhang nicht viel bemerkt zu werden. Die Vergiftung durch Alkohol kommt bei Nietzsche immer wieder zur Sprache, insbesondere wenn es um die Germanen und die Deutschen geht. Die Engländer werden als fähige Kolonisatoren gelobt, wozu sie nicht zuletzt ihr "Rostbeef'-Essen befähige (KSB 7,54). Demgegenüber räumt er der vegetarischen Förster-Kolonie in Paraguay nur geringe Durchsetzungschancen ein. Nietzsche mißt der Diät, auch für seine Person246, so viel Gewicht zu, weil er überzeugt ist, daß nur ein richtig ernährter "Leib" frei sein kann von "physiologischen Hemmungsgefuhlen". Sein Vorbild in dieser Frage sind die Griechen. Diese haben die "Cultur an der rechten Stelle" begonnen" "nicht an der 'Seele' (wie es der verhängnissvolle Aberglaube der Priester... war): die rechte Stelle ist der Leib, die Gebärde, die Diät, die Physiologie, der Rest folgt daraus..." (6, 149,26-30).
"Abkunft" V (378,25-29): Nachwirkung von "Blutverderbniss, Malaria, Syphilis, und dergleichen (deutsche Depression nach dem dreißigjährigen Kriege, welcher halb Deutschland mit
24«
Dazu Volz 1990, 238 f.
Krankheit, "Erschöpfung", "docadence"
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schlechten Krankheiten durchseuchte und damit den Boden für deutsche Servilität, deutschen Kleinmuth vorbereitete)."
Der 30-jährige Krieg hat also Deutschland mit "schlechten Krankheiten" "durchseucht". An anderer Stelle heißt es dazu: zur Zeit des 30-jährigen Krieges hat "eine unfreiwillige Mischung mit wenig verwandten Rassen stattgefunden: die Unzucht des Krieges war, nach allen Beschreibungen, über die Maassen unheilvoll". (11,455, 17-20).
Hier wird wieder, ähnlich wie bei "Abkunft " I, eine "falsche" Mischung für "physiologische Hemmungen" verantwortlich gemacht. Auch hier ist der Abstand der vermischten Völker zu groß, und die Mischung erfolgte "unfreiwillig", aufgrund der "Unzucht des Krieges". Dies ist wiederum keine Absage an Mischung an sich, sondern, wie schon vorher, die Forderung nach einem "freiwilligen" und überlegten Vorgehen. Denn, um es noch einmal zu betonen, Nietzsche fordert für die Deutschen eine "Entdeutschung", nur so könne sich der "deutsche Geist" entwickeln. Die Analyse der "Abkünfte" ergibt, daß es sich dabei primär um folgende Phänomene handeln dürfte: um überstürzten sozialen Wandel, bei dem Völker und Stände durcheinander gewirbelt werden (I); um ungünstige klimatische Einflüsse, deren schwächender Einfluß bei der "Emigration" von Völkern nicht richtig eingeschätzt wurde ( ); um eventuell eintretende Ermüdungserscheinungen bei Völkern und Einzelpersonen (III); um Fragen der richtigen Ernährung (IV); um Krankheiten, die sich in Kriegszeiten ausbreiten (V). Das wiederholt verwendete Wort "Rasse" kann im Sinne Nietzsches verstanden werden, als "Volk", wie dies besonders bei "Abkunft" II greifbar wurde. Mischung (in I und V) fuhrt nur bei Mißachtung gewisser Bedingungen zu "physiologischen Hemmungen": wenn der Abstand der Völker zu groß ist, wenn die Mischung zu schnell erfolgt und wenn sie "unfreiwillig" erfolgt. Werden diese Bedingungen beachtet, so ist Mischung nach Nietzsches Auffassung notwendig für die Bereicherung der Völker. Wir können nun auch die Frage nach der Beziehung zwischen den "Abkünften" und dem "physiologischen Hemmungsgeführ etwas genauer beantworten:
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Der "Gang der Cultur"
das "physiologische HemmungsgefuhT; ist "Folge" von I (378,13); ist "bedingt durch" (378,18); ist "Nachwirkung von" und IV und V (378,21). Wie weit hier eine 'kausale' Vorstellung angenommen werden kann, ist nicht ohne weiteres zu entscheiden. Das "physiologische Hemmungsgefuhl" seinerseits bezeichnet Nietzsche als "Ursache" (377,16) von "Unlust" und "Depression". Damit ergibt sich folgende "Kette'VLinie": die als "Abkünfte" => genannten Phänomene
haben als "Folge"/ => "Nachwirkung"
das "phys. Hern- => mungsgeruhl"
welches "Ursache" => ist von
"Unlust" und "Depression1
Der Arzt, der erfolgreich sein will, muß ganz "links" ansetzen. Dies ist die "rechte Stelle". "Der Rest folgt daraus", um Nietzsches Formulierung zu verwenden. (6, 149,29-30).247 Um nochmals auf die Interpretation dieser Bezüge einzugehen: Nietzsche spricht auch an anderen Stellen in ähnlichen Zusammenhängen von "Ursache/ Folge": etwa 13,429, 20-430,14 (wo es sich übrigens um ein Fere-Zitat handelt).248 Es gibt bei Nietzsche aber noch eine zweite Betrachtungsweise, die Nietzsches eigener Sicht wohl eher gerecht wird: die semiotische. So etwa wenn in der "Genealogie" vom "physiologischen Gedeihen" die Rede ist, das seinen "Ausdruck" in der "Schönheit" und der "Freude" findet (5,363, 15-16). Es Hessen sich noch viele solcher Stellen anfuhren. In der "GötzenDämmerung" etwa wird die "Moral" als "Zeichenrede, Symptomatologie" bezeichnet: "man muß bereits wissen, worum es sich handelt, um von ihr Nutzen zu ziehen." (6,98,20-22).
Ähnlich verhält es sich im vorliegenden Fall: "Unlust" und "Depression" sind nur Symptome, die eigentliche Erkrankung ist physiologisch, und der Arzt muß bei der physiologischen Erkrankung ansetzen und ihre "Abkünfte" aus der Welt zu schaffen versuchen.
247
248
Noch genauer könnte man formulieren: der Philosoph setzt bei seiner Diagnose auf der rechten Seite an, bei "Unlust" und "Depression". Als "Arzt" muß er bei seinen Therapievorschlägen jedoch an der linken Seite ansetzen. Dazu KSA-Kommentar S. 764.
Krankheit, "Erschöpfung", "decadence"
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In dieser Verkennung von physiologischer Erkrankung und ihren psychologischen Symptomen liegt der Fehlgriff des asketischen Priesters als Arzt. Er setzt erst bei den Symptomen an, was nicht geeignet ist, die Erkrankung zu beheben. Im Gegenteil kommt vielmehr durch die oben angedeuteten Methoden des asketischen Priesters zu der physiologischen Erkrankung eine seelische Erkrankung noch hinzu. Der Mensch wird nicht gesünder, sondern nur noch "kränker" (5,391, 18-19), als er vorher war. Daher ist für Nietzsche der asketische Priester und sein asketisches Ideal "das eigentliche Verhängniss in der Gesundheitsgeschichte des europäischen Menschen" (392,21-23). Ihrem Einfluß könne "höchstens" die "AlkoholVergiftung" durch die Germanen sowie "die Syphilis" gleichgesetzt werden, jedoch, wie er betont: "-magno sed proxima intervallo" (5,392,23-29).
Diese Schlußbewertung Nietzsches könnte besagen, daß er bei der physiologischen Erkrankung, von den vorher erwähnten fünf "Abkünften", die "Alkohol-Vergiftung" und die "Syphilis" für die am schwersten wiegenden Krankheitsauslöser hält. Damit wären die "Germanen", und damit sind hier sicher auch die Deutschen gemeint, zu einem erheblichen Teil für die Erkrankung des europäischen Menschen verantwortlich. Die schummere Erkrankung, die Steigerung der physiologischen Erkrankung zur seelischen, hat jedoch der asketische Priester zu verantworten. Bei dieser zweiten, schummeren Krankmachung des Menschen spielen nun aber einzelne Völker gar keine Rolle, denn Nietzsche betont an anderer Stelle, daß der asketische Priester "keiner Rasse" angehöre. Er kann sogar zu allen Zeiten (wieder) auftreten: "Erwägen wir doch, wie regelmäßig, wie allgemein, wie fast zu allen Zeiten der asketische Priester in die Erscheinung tritt; er gehört keiner einzelnen Rasse an; er gedeiht überall; er wächst aus allen Ständen heraus." (5,362,30-33).
Der asketische Priester kann also weder ethnisch ("keiner Rasse angehören") noch sozial ("aus allen Ständen") festgemacht werden, und auch nicht zeitlich/ historisch ("zu allen Zeiten"). Diese Bedrohung der seelischen Gesundheit kann also nie endgültig aus der Welt geschafft werden. Daß der "Asketismus" jedoch nicht mit dem "Judenthum" in Verbindung gebracht werden kann, wird von Nietzsche an anderer Stelle ausdrücklich betont (12, 509,20). Damit ergibt sich aus diesen für unseren Zusammenhang zweifellos wichtigen Kapiteln aus der "Genealogie der Moral", daß zwar für die phy-
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Der "Gang der Cultur"
siologische Erkrankung des europäischen Menschen ethnische und soziale Momente eine gewisse Rolle spielen, daß aber die seelische Verschlimmerung dieser Erkrankung durch den ethnisch, sozial und historisch nicht festlegbaren asketischen Priester erfolgt. Dieses Resultat unterscheidet sich ganz klar von "rassistischen" oder antisemitischen Thesen, die etwa die Juden für den "Niedergang" Europas verantwortlich zu machen versuchen. Mit den vorhergehenden Analysen konnte jedoch nur ein kleiner Teil des Phänomens Krankheit in Nietzsches Philosophie erfaßt werden. Es ging nur darum zu prüfen, inwiefern hier "Rassen" eine Rolle spielen. In den folgenden Abschnitten wird das hier gewonnene Bild noch einige Ergänzungen erfahren. Bemerkt sei noch, daß auch die Ausdrücke "Erschöpfung", "decadence" und "Entartung", die in vieler Hinsicht von Nietzsche als Synonyme verwendet werden, sehr oft auf die physiologische Basis der Erkrankung des europäischen Menschen Bezug nehmen, so etwa in dem langen Fragment IS/37/ (KSA 13, 429-31: F 88), wo auch von "ungenügender Ernährung" (13,429,22), "ErSchöpfung" (13,430,9) und "Pessimismus" (13,431,16) die Rede ist. Es würde aber zu weit fuhren, alle diese Texte im einzelnen zu erörtern, zumal dazu eine gesonderte Untersuchung in Arbeit ist. Es mag vielleicht verwundern, daß Nietzsche dem Alkohol und der Syphilis in seinen Überlegungen so großes Gewicht beimisst. Er befindet sich jedoch hierin in Übereinstimmung mit den Wissenschaften seiner Zeit, die ebenfalls den Alkohol und die Syphilis als primäre Krankheitsfaktoren betrachteten.249
Moral Wir müssen uns nun auf die schwierige Frage einlassen, inwiefern in Nietzsches Überlegungen zu Fragen der Moral "Rassen" eine Rolle spielen, also inwiefern Moral(en) "rassemäßig" (12,252,13) und ggf. auch "ständisch bedingt" sind (12,252,12). Es liegt auf der Hand, daß hier nicht der Anspruch erhoben werden kann, die Komplexität des Problems der Moral bei Nietzsche
249
Dazu sei nochmals auf Weindling 1989, 88-89 verwiesen.
Moral
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aufrollen zu wollen.250 Es kann sich hier nur um eine grobe Skizze handeln aus der Sicht der hier vorliegenden Fragestellung. Zunächst bemühen wir uns um einen Einblick in Nietzsches Auffassung der Entstehung der Moral. Die Textbasis bildet hierbei der Aphorismus 262 aus "Jenseits von Gut und Böse", in dem die aristokratische Moral und ihre Auflösung zur Sprache kommt. Im Anschluß daran sind weitere Komponenten des Niedergangs der Moral kurz zu erwähnen. Wir gehen dann kurz auf einige Fragen ein, die sich für Nietzsche angesichts dieser Entwicklung der Moral gestellt haben ("Rangordnung der Moralen, "Stufen" der Moral). Danach ist aus dem Blickwinkel unserer Untersuchung zu fragen, inwiefern bei den angeschnittenen Problemen ethnische ("Rassen"/Völker), soziale (Stände/Schichten) sowie andere Faktoren (z.B. Krankheit und der asketische Priester) eine Rolle spielen. Schließlich stellt sich dann zunächst die Frage, ob Moral als "Folge" oder als "Ursache" einzustufen ist, und zwar aus Nietzsches Sicht. Sodann die weitere Frage, wer dann - "gesetzt", daß Moral als "Folge" zu sehen ist Moral schafft bzw. schaffen soll. In Aphorismus 262 aus "Jenseits von Gut und Böse" wird dargestellt, unter welchen Bedingungen ein "aristokratisches Gemeinwesen" und seine Moral sich bilden, und unter welchen veränderten Bedingungen es zu ihrer Auflösung kommt. (KSA 5,214-7). Einleitend verweist Nietzsche zunächst auf "Erfahrungen der Züchter" (214,22-23) über die Entstehung von "Arten" (214,20): "Eine Art entsteht, ein Typus wird fest und stark unter dem langen Kampfe mit wesentlich gleichen ungünstigen Bedingungen." (214,20-22). Ändern sich jedoch die Bedingungen dergestalt, daß "eine überreichliche Ernährung und überhaupt ein Mehr von Schutz und Sorgfalt" gegeben ist, dann neigt die "Art" alsbald "zur Variation des Typus", und das heißt zu ihrer Auflösung (214,22-27).
Diese Bemerkungen über die "Feststellung" einer "Art" erinnern stark an Nietzsches oben besprochenes "Rasse"-Konzept; auch Völker entstehen, prägen ihren "Charakter" aus, wenn sie lange unter gleichen Existenzbedingungen gelebt haben. Bei Änderung der Existenzbedingungen konnte entweder eine Steigerung zur "Überrasse" auftreten, oder aber der Untergang: wenn die "Assirnilationskraft" zu schwach war. Das Gedeihen einer "Art", eines "Typus"
250
Dazu Van Tongeren 1989.
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und einer "Rasse" (Volk) hängen ab von den Existenzbedingungen und von der Kraft, sich in diesen zu behaupten. Nietzsche veranschaulicht diese allgemeine Feststellung am Beispiel der "griechischen Polis oder Venedig". Beide mußten sich unter "ungünstigen Bedingungen" behaupten und konnten sich dadurch als "aristokratisches Gemeinwesen" "feststellen". Die Menschen waren "auf sich angewiesen", um "ihre Art durchzusetzen" (214,30-31), da sie sonst "Gefahr gelaufen" wären, "ausgerottet zu werden". (215,1). Sie mußten sich "in beständigem Kampfe mit den Nachbarn" behaupten. (215,6). In diesem Kampf lernen sie die "Eigenschaften" kennen und schätzen, denen sie ihr Überleben verdanken (215,7-10): "diese Eigenschaften nennt sie [die aristokrat. Gemeinschaft] Tugenden, diese Tugenden allein züchtet sie groß. Sie thut es mit Härte, ja sie will die Härte; jede aristokratische Moral ist unduldsam, in der Erziehung der Jugend, in der Verfügung über die Weiber, in den Ehesitten, im Verhältniss von Jung und Alt, in den Strafgesetzen..." (215,10-15). "Ein Typus mit wenigen, aber sehr starken Zügen, eine Art strenger kriegerischer klug-schweigsamer, geschlossener und verschlossener Menschen (und als solche vom feinsten Gefühle für die Zauber und nuances der Societät) wird auf diese Weise über den Wechsel der Geschlechter hinaus festgestellt; der beständige Kampf mit immer gleichen ungünstigen Bedingungen ist, wie gesagt, die Ursache davon, daß ein Typus fest und hart wird." (215,18-25).
Hier sehen wir, wie, allgemein, ein "Typus" "fest" wird, und, im vorliegenden Fall, wie eine "aristokratische" Gemeinschaft und Moral sich bilden: im "beständigen Kampfe mit immer gleichen ungünstigen Bedingungen". Die "aristokratische" Moral ist die Moral der "Starken", die sich im beständigen Kampf mit der Umgebung und der Bedrohung durch Nachbarn behaupten müssen. "Kampf, Wettkampf und Agon sind die Grundlage der "aristokratischen" Moral. Wenn nun aber diese Bedingungen sich ändern, wenn sie "günstiger" werden und dadurch die Notwendigkeit entfällt, sich im "beständigen Kampfe" als Gemeinschaft zu behaupten, dann ändert sich auch die Gemeinschaft selbst und ihre Moral: es kommt zu ihrer Auflösung: "Endlich aber entsteht einmal eine Glückslage, die ungeheure Spannung läßt nach; es gibt vielleicht keine Feinde mehr unter den Nachbarn, und die Mittel zum Leben, selbst zum Genüsse des Lebens sind überreichlich da." (215,25-28).
Dies hat Folgen für die Moral:
Moral
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"Mit Einem Schlage reisst das Band und der Zwang der alten Zucht: sie fühlt sich nicht mehr als nothwendig, als Dasein-bedingend..." (215,28-30). Die "aristokratische" Moral entstand in der Behauptung des Gemeinwesens gegen "ungünstige" Existenzbedingungen und feindliche Nachbarn. Wenn beides wegfallt, ist diese Moral nicht mehr "nothwendig", nicht mehr "Daseinbedingend". Nietzsche skizziert nun, welche Veränderungen, welche "Variation", der "Art", des "Typus" und das heißt des Gemeinwesens eintreten, wenn die "ungeheure Spannung" (215,26), die bisher durch die "aristokratische" Moral im Dienste der Behauptung des Daseins aufrecht erhalten wurde, nachläßt und sich entladen kann. Das Gemeinwesen verliert seine Einheit, löst sich auf: zweierlei Entwicklungen treten hervor: zum einen eine "Abartung" "in's Höhere, Feinere, Seltnere" (215,33), zum ändern eine Tendenz zum "Mittelmassigen" (217,1). Bei der "Abartung" "in's Höhere, Feinere, Seltnere" tritt "der Einzelne" hervor: "der Einzelne wagt einzeln zu sein und sich abzuheben. An diesen Wendepunkten der Geschichte zeigt sich... ein herrliches vielfaches urwaldhaftes Heraufwachsen und Emporstreben, eine Art tropisches Tempo im Wetteifer des Wachsthums und ein ungeheures Zugrundegehen und Sich-zu-Grunde-Richten, dank den wild gegeneinander gewendeten, gleichsam explodierenden Egoismen, welche... keine Grenze, keine Zügelung... mehr aus der bisherigen Moral zu entnehmen wissen." (216,1-11). Die "aristokratische" Moral hat das Explodieren der Egoismen verhindert: "Diese Moral selbst war es, welche die Kraft in's Ungeheure angehäuft, die den Bogen auf so bedrohliche Weise gespannt hat:- jetzt ist, jetzt wird sie 'überlebt'". (216,11-13). Die "aristokratische" Moral hat durch Bündelung der Kräfte eine einmalige "Höhe" der Kraft erreicht, die nun verloren geht: "Der gefährliche und unheimliche Punkt ist erreicht, wo das größere, vielfachere, umfänglichere Leben über die alte Moral hinweg lebt; das 'Individuum' steht da, genöthigt zu einer eigenen Gesetzgebung, zu eigenen Künsten und Listen der Selbst-Erhaltung, Selbst-Erhöhung, Selbst-Erlösung." (216,14-18). Es gibt nun nicht mehr eine Moral für das ganze Gemeinwesen, die für alle "Erhaltung, Erhöhung" und "Erlösung" bieten kann. Der Einzelne muß nun diese Aufgabe für sich selbst lösen:
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"Lauter neue Wozu's, lauter neue Womit's, keine gemeinsamen Formeln mehr" (216,18-20).
Statt dessen quillt nun "das Genie der Rasse aus allen Füllhörnern" über: "Missverständniss und Missachtung mit einander im Bunde, der Verfall, Verderb und die höchsten Begierden schauerlich verknotet, das Genie der Rasse aus allen Füllhörnern des Guten und Schlimmen überquellend, ein verhängnissvolles Zugleich von Frühling und Herbst..." (216,20-24).
Das "Genie der Rasse", damit ist wohl der Mensch überhaupt gemeint, das "nicht festgestellte Thier", entfaltet hier die ganze Fülle seines "Genies", sein "Füllhorn" "des Guten und Schlimmen", und steht wieder vor der Aufgabe, nun als Einzelner, zu einer "Gesetzgebung" zu kommen. Diese Aufgabe ist nun noch schwerer geworden, nachdem das Gemeinwesen zerfallen ist, in dem diese Aufgabe im gemeinsamen Kampf gegen "ungünstige" Lebensbedingungen und feindliche Nachbarn gelöst werden konnte. Damals war die "Gefahr", "die Mutter der Moral", auf zwei Gemeinwesen "verlegt", die mit- und gegeneinander um ihr Dasein kämpften. Der Einzelne war in sein Gemeinwesen eingebettet und konnte in Gemeinschaft dieser Gefahr trotzen. Nun steht der Einzelne allein dieser Gefahr gegenüber: "Wieder ist die Gefahr da, die Mutter der Moral, die große Gefahr, dies Mal in's Individuum verlegt, in den Nächsten und Freund, auf die Gasse, in's eigne Bund, in's eigne Herz, in alles Eigenste und Geheimste von Wunsch und Wille..." (216,26-29).
Nach der Auflösung der "aristokratischen" Gesellschaft und Moral steht der Mensch also als Einzelner, als Individuum, vor der schwierigen Aufgabe, sich ein "Gesetz" zu geben. Nietzsche ist offenbar nicht bereit, vor dieser Aufgabe zu kapitulieren. Mit einem gewissen Spott spricht er nämlich nun von den "Moral-Philosophen", die "entdecken", "daß es schnell zu Ende geht, daß Alles um sie verdirbt und verderben macht" (216,29-33).
Darf man aus der Auflösung der "aristokratischen" Moral den Schluß ziehen, daß nur die Moral der "Mittelmässigen" hinfort die einzige Moral sein kann oder soll? Diese Moral, die fordert "werdet mittelmässig", sei "schwer zu predigen": "diese Moral der Mittelmässigkeit! - sie darf es ja niemals eingestehen, was sie ist und was sie will! sie muß von Maass und Würde und Pflicht und Nächstenliebe reden, - sie wird Noth haben, die Ironie zu verbergen}" (217,6-9).
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Fassen wir kurz zusammen: Nietzsche skizziert zunächst die "aristokratische" Moral, die in einer Gemeinschaft entsteht, die sich in beständigem Kampf mit ihren Nachbarn behaupten muß. Die hierzu notwendigen "Tugenden" gehen in diese Moral ein. Diese Moral ist "Daseinbedingend" (215,30). Die "Gefahr" ist die "Mutter der Moral". Wenn das Gemeinwesen nicht mehr um sein Dasein kämpfen muß, wird diese Moral obsolet, sie wird "überlebt". Die bisher durch die Moral gebündelten und in die Höhe gesammelten Kräfte werden freigesetzt: der Einzelne kann sich abheben. Das "Genie der Rasse" kann sich ohne Behinderung durch eine gemeinsame Moral entfalten. Das Gemeinwesen zerfällt in Einzelne, die die Kraft haben, sich selbst ein "Gesetz" zu geben, und in die Vielen, die diese Kraft nicht haben und auf das "Mittelmaass" absinken. Es gibt nicht mehr eine gemeinsame Moral für das ganze Gemeinwesen. Der Mensch sieht sich nun vor die Aufgabe gestellt, angesichts des Absinkens ins "Mittelmässige" die "Erhöhung" des Menschen nicht aus dem Auge zu verlieren. Auch in anderen Texten geht Nietzsche auf die Auflösung der einen Moral für alle ein: "Es giebt so viele Moralen jetzt... - Ehemals wo die Leute Einer Rasse gleich waren, genügte auch Eine Moral. Jetzt sind die Menschen sich sehr ungleich*. Es giebt mehr Individuen als je, man lasse sich nicht täuschen..." (9,124,8-25: S 80: 4/100/).
Bei der "Einen Moral" denkt Nietzsche vielleicht, wie im vorhergehenden Aphorismus, an die "aristokratische" Moral. Die Menschen der aristokratischen Gesellschaft waren "gleich" in dem Sinn, daß sie alle der einen "aristokratischen" Moral verpflichtet waren. Durch das Hervortreten des Individuums ging diese eine Moral unter und damit die "Gleichheit" der Menschen qua Moral.251 Im soeben besprochenen Aphorismus 262 (JGB) umreißt Nietzsche vor allem die große Bedeutung, die dem Kampf zwischen Gemeinwesen zum Zwecke der Daseinssicherung, insbesondere für die Entstehung und Auflösung der "aristokratischen" Moral, zukommt. Hervorgehoben wurde in diesem Zu-
251
Zum Konzept der "Gleichheit" in diesem Zusammenhang vgl. Van Tongeren 1989, 153.
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sammenhang auch das Hervortreten des Individuums und sein wachsender Einfluß.252 Aus weiteren Texten Nietzsches ergibt sich, daß daneben noch andere Phänomene an der Entwicklung der Moral beteiligt sind: so etwa das Nachlassen der Kräfte und die "Ermüdung", die "Verinnerlichung" der Instinkte und das Entstehen der "Seele" und des "schlechten Gewissens" (Aph. 16 JOB), sowie schließlich die physiologische Erkrankung des europäischen Menschen, und ihre Steigerung durch den asketischen Priester und sein asketisches Ideal. Die genannten Punkte wurden zum Teil schon etwas eingehender analysiert, zum Teil ist später noch darauf einzugehen. Hier nur noch ein kurzer Hinweis zur "Ermüdung". Den "Sokratismus", "die Moral, Dialektik, Genügsamkeit des theoretischen Menschen" bezeichnet Nietzsche als eine "Form der Ermüdung". Der "wissenschaftliche Mensch" wird "reif in "den Niedergangszeiten einer starken Rasse" (13,228: F 88: 14/22/). Aus der Sicht des Aphorismus 262 (JGB) wäre das der Zeitpunkt, in dem die "aristokratische" Moral aufgrund gewandelter Lebensbedingungen (Wegfallen des Kampfes) ihre kräftesammelnde Wirkung eingebüßt hat. Auch der "Sklavenaufstand in der Moral" geht Hand in Hand mit einer "Ermüdung". Das "junge Christenthum" wird von "Schichten" emporgehoben, die "durch Nichts schärfer gezeichnet (sind) als durch die Instinkt-Ermüdung. Man hat es satt: das ist das Eine - und man ist zufrieden, bei sich, in sich, fiir sich - das ist das Andere." (13,179: Nov. 87/März 88: 11/3807: 179,28-32).
Beiden Formen der "Ermüdung" ist die "Genügsamkeit" gemeinsam. Der Wille zu einer kämpferischen "aristokratischen" Moral ist verloren gegangen. Und so ist es nur konsequent, wenn Nietzsche in der "Genealogie der Moral" die Wissenschaft als eine Ausprägung des asketischen Ideals beschreibt (Kapitel 23, dritte Abhandlung: KSA 5,395 ff). Der "Gang" der europäischen Moral, wie er kurz umrissen wurde, wirft für Nietzsche einige grundsätzliche Fragen auf, die er an verschiedenen Stellen wiederholt zur Sprache bringt.
252
Zum damals viel diskutierten Phänomen der Atomisierung der Gesellschaft im Kontext der Demokratisierung vgl. Marti 1993, 182.
Moral
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So fragt er etwa, wessen "Wohl" die beiden "entgegengesetzten Werth-Gesichtspunkte", die "aristokratische" und die "Sklaven-Moral", im Auge haben und was als ihre wirkliche Grundlage zu betrachten sei. Wie schon angedeutet, spielt die Erkrankung des europäischen Menschen auch für die Moral eine wesentliche Rolle, und es ist daher einleuchtend, daß Nietzsche für die Bewertung aller "Gütertafeln" eine "physiologische Beleuchtung" fordert: "In der That bedürfen alle Gütertafeln ... zunächst der physiologischen Beleuchtung und Ausdeutung, eher jedenfalls noch als der psychologischen; alle insgleichen warten auf eine Kritik von Seiten der medicinischen Wissenschaft." (5,289,14-18). Die Erforschung der "Gesundheitsgeschichte", und hier wiederum der physiologische Bereich, sind also von zentraler Bedeutung für eine Erörterung der Probleme der europäischen Moral. Für die Bewertung von Moralen ist sodann die Frage entscheidend, "Wozu" eine bestimmte Moral dient, wessen "Wohl" sie zu befördern sucht: "Die Frage: was ist diese oder jene Gütertafel und 'Moral' werthl will unter die verschiedensten Perspektiven gestellt sein; man kann namentlich das 'werth wozuV nicht fein genug auseinander legen. Etwas zum Beispiel, das ersichtlich Werth hätte in Hinsicht auf möglichste Dauerfahigkeit einer Rasse (oder auf Steigerung ihrer Anpassungskräfte an ein bestimmtes Klima oder auf Erhaltung der größten Zahl), hätte durchaus nicht den gleichen Werth, wenn es sich etwa darum handelte, einen stärkeren Typus herauszubilden. Das Wohl der Meisten und das Wohl der Wenigsten sind entgegengesetzte Werth-Gesichtspunkte: an sich schon den ersteren für den höherwerthigen zu halten, wollen wir der Naivetät englischer Biologen überlassen..." (5,289,18-28). Eine Moral, die auf die "Dauerfahigkeit einer Rasse" abzielt, genießt also nicht Nietzsches Sympathie. Für wichtiger erachtet er die Herausbildung eines "stärkeren Typus" Mensch und er denkt dabei zweifellos an eine "aristokratische" Moral. Er bezeichnet es als die "Zukunfts-Aufgäbe" des Philosophen, bei der ihn die Wissenschaften unterstützen müssen, das "Problem der Werthe" in der angedeuteten Weise zu lösen: "diese Aufgabe dahin verstanden, daß der Philosoph das Problem der Werthe zu lösen hat, daß er die Rangordnung der Werthe zu bestimmen hat." (5, 289,28-32).
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Nietzsche "fühlt" sich im Gegensatz" zu einer "Moral der Gleichheit", die das "Wohl der Meisten" in erster Linie anstrebt (11,212-3). Die Moral des "modernen Europäers", die das "Individualistische" bevorzugt und mit der "Forderung gleicher Rechte" verbindet, verneint die Rangordnung und fuhrt zu einer "gesellschaftlichen Rasse", also zum "Heerdenmenschen" (11,642,1-9): "Damit ist eine gesellschaftliche Rasse charakterisirt, in welcher thatsächlich die Begabungen und Kräfte nicht erheblich auseinandergehen." (11,642,7-9).
Hier wird die zwiespältige Rolle des Individuums deutlich, dessen Auftritt mit der Auflösung der "aristokratischen" Moral beginnt, wie wir oben gesehen haben. Das "Individual-Princip" steht im Gegensatz zur "aristokratischen" Moral: "Das Individual-Princip lehnt die ganz großen Menschen ab" (11,642,15-16).
Das hiermit angeschnittene Problem einer Rangordnung der Moralen kann aber für Nietzsche offenbar nicht einfach dadurch gelöst werden, daß aus den genannten zwei Moralen eine Wahl getroffen wird. Es gibt Texte, die andeuten, daß eine Antwort auf die gestellte Frage eher in einer "Synthese" mehrerer Moralen bestehen könnte. In Fragment 1/73/ (KSA 9,21-23: Anf. 80) wird dargelegt, daß "Davids Psalmen" uns Europäern vertrauter sind als das "Lesen Pindars" (21,21-22,1). Dann heißt es: "Dieser Zug zu Erzeugnissen einer asiatischen, sehr fernen und sehr absonderlichen [heutige Bedeutung: besonderen] Rasse ist vielleicht inmitten der Verworrenheit unserer modernen Cultur eine der wenigen sichern Erscheinungen, welche noch über dem Gegensatz von Bildung und Unbildung erhaben stehen: die stärkste sittliche Nachwirkung des Christenthums, welches sich nicht an Völker, sondern an Menschen wendet und deshalb gar kein Arg dabei hatte, den Menschen der indogermanischen Rasse das Religionsbuch eines semitischen Volkes in die Hand zu geben. Erwägt man aber, welche Anstrengungen das nichtsemitische Europa gemacht hat, um diese fremdartige kleine jüdische Welt sich recht nahe ans Herz zu legen... - so hat vielleicht in nichts Europa sich so sehr selbst überwunden wie in dieser Aneignung der jüdischen Litteratur." (9,22,1-15).
Diese Aneignung wird von Nietzsche gefeiert als der "größte Sieg über die Beschränktheit der Rasse": "Das europäische Gefühl für die Bibel ist der größte Sieg über die Beschränktheit der Rasse [womit hier offensichtlich die europäischen Völker gemeint sind] und über den Dünkel daß für Jeden eigentlich nur das werthvoll sei, was sein Großvater und dessen Großvater gesagt und gethan haben." (9,22,16-19).
Moral
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Hier wendet sich Nietzsche gegen nationalistische und antisemitische Bestrebungen, wohl nicht zuletzt in Deutschland, die die christliche Religion durch eine 'eigene', arische ersetzen wollten. Dazu wurde schon einiges gesagt. Europa sei viel zu sehr mit der Bibel verwachsen, um sich noch trennen zu können. Die "Puritaner Englands" hätten sogar "ihre Sentenzen, ihre Gewohnheiten... ihre kleinen und großen Schicksale in dem jüdischen Buche aufgezeichnet (prophezeit)" gefimden (9,22,2628).253 Nietzsche fragt dann, worin der Europäer "den Vorzug der altjüdischen Litteratur" sehe. Die Antwort lautet: "Es ist mehr Moral darin" (22,31). Diese Antwort nimmt Nietzsche zum Anlaß, um weiter über den Wert von Moralen nachzudenken: "Das heißt aber: es ist mehr von der Moral darin, welche jetzt in Europa anerkannt wird: und dies heißt wiederum nichts anderes als: Europa hat die jüdische Moralität angenommen und hält diese für eine bessere, höhere, der gegenwärtigen Gesittung und Erkenntniss angemessenere als die arabische, griechische, indische, chinesische." (9,22,31-23,2). Dieser Auffassung kann Nietzsche sich nicht anschließen: "Was ist der Charakter dieser Moralität? Sind die Europäer wirklich vermöge dieses moralischen Charakters die ersten und herrschenden Menschen des Erdballs? Aber wonach bemißt man den Rang der verschiedenen Moralitäten? Zudem wollen es die Nicht-Europäer gar nicht Wort haben [wahr haben], daß die Europäer sich durch Moralität vor ihnen auszeichneten. Es gehört vielleicht mit zum Wesen der jüdischen Moralität, daß sie sich für die erste und höchste hält: es ist vielleicht eine Einbildung." (9,23,3-11). Nietzsche hält die "jüdische Moralität" nicht für die "erste und höchste" (hier müssen wir uns daran erinnern, daß "jüdisch" hier wieder für "christlich" steht), obwohl er den Wert der christlichen Moral und Religion, wie er vorher andeutet, für den Gang der europäischen Kultur hier durchaus anerkennt. Im Folgenden deutet Nietzsche nun eine mögliche Antwort auf die Frage nach der Rangordnung der Moralen an: "Ja man kann fragen: giebt es überhaupt eine Rangordnung der Moralitäten? Giebt es einen Kanon, der über allen waltet, das Sittliche definirt ohne Rücksicht auf
;53
Vgl. dazu die im Kapitel über die Engländer gegebenen Hinweise zur Berufung Cromwells auf den Talmud.
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Volk, Zeit, Umstände, Erkenntnissgrad? Oder ist eine Ingredienz aller Moralen, der Grad der Anpassung an die Erkenntniss, vielleicht das, was eine Rangordnung der Moralen ermöglicht?" (9,23,11-17).
Der Alleinanspruch eines Moral-"Kanons", der "das Sittliche definirt ohne Rücksicht auf Volk, Zeit, Umstände, Erkenntnissgrad" wird abgelehnt. Das entspricht der Forderung, die Nietzsche schon gestellt hatte: Philosophie und Wissenschaft müssen zusammen an einer Rangordnung der Moral arbeiten (5, 289,28-32). Diese mögliche Rangordnung wird hier etwas näher bestimmt als "Ingredienz aller Moralen", als "Grad der Anpassung an die Erkenntniss". Für unsere Untersuchung ist hierbei wichtig festzuhalten, daß nicht ein bestimmtes Volk Anspruch erheben kann, die "höchste" Moral zu besitzen. Vielmehr sollte eine Rangordnung der Moralen zwar alle Moralen berücksichtigen, ihren Rang jedoch messen daran, wieweit sie der "Erkenntniss" standhalten können. Und das heißt, wenn wir uns die vorhergehenden Erörterungen vergegenwärtigen, es ist jeweils zu fragen, welche Beschaffenheit die jeweilige physiologische Basis einer Moral aufweist, also in wieweit sie etwa Ausdruck der "Krankhaftigkeit" oder "Ermüdung" des (europäischen) Menschen ist, um nur diese beiden Punkte zu nennen. Nicht Völker ("Rassen") bestimmen den Rang einer Moral, dieser wird vielmehr durch die "Gesundheitsgeschichte" der Völker bestimmt. Es gibt bei Nietzsche auch Texte, in denen von "Stufen" der Moral die Rede ist, so in Fragment 26/487 (KSA 11,160: S/H 84). Nietzsche unterscheidet drei Stufen: "1. Die Überwindung der bösen kleinlichen Neigungen. Das umfängliche Herz, man erobert nur mit Liebe. (Richard) Wagner warf sich vor einem tiefen Liebevollen Herzen nieder, ebenso Schopenhauer. (Dies gehört zur ersten Stufe). Vaterland, Rasse, alles gehört hierher. 2. Die Überwindung auch der guten Neigungen, unvermerkt solche Naturen wie Dühring und Wagner oder Schopenhauer als noch nicht einmal auf dieser Stufe stehend! 3. Jenseits von Gut und Böse. Er nimmt sich der mechanischen Weltbetrachtung an und fühlt sich nicht gedemüthigt unter dem Schicksal: er ist Schicksal. Er hat das Loos der Menschen in der Hand..." Die drei "Stufen" führen von der "Gut-Böse"-Moral zu einer Moral "Jenseits von Gut und Böse", die zum "Schicksal" ja sagt, einer Haltung, die Nietzsche
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auch mit der Formel "Amor fati" umschreibt. Wir können diesen Text hier nicht eingehender interpretieren. Wichtig ist für uns hier, daß Nietzsche die Liebe zu "Vaterland" und "Rasse" zu den "bösen kleinlichen Neigungen" rechnet, die überwunden werden müssen. Der Name Dühring macht deutlich, daß es hierbei um Nationalismus und Antisemitismus gehen dürfte. "Rasse" meint hier demnach "Volk", hier das deutsche Volk. Durch ihre "bösen kleinlichen Neigungen" zu "Vaterland" und "Rasse" bleiben Dühring und Wagner und sogar Schopenhauer noch dieser ersten, niedrigsten Stufe verhaftet. Eine Moral der dritten Stufe ist also losgelöst von Fixierungen auf einzelne Völker. Sie ist überhaupt nicht auf "Vaterländer" oder Völker ausgerichtet, sondern auf das "Schicksal" des Menschen in dieser Welt, wie Nietzsche sie versteht. Der KSA-Kommentar verweist für den eben zitierten Text auf den vorhergehenden Text, der die Überschrift trägt: "Der Weg zur Weisheit. Fingerzeige zur Überwindung der Moral." (KSA ll,159f: S/H 84: 26/41 f). Dieser Text spricht nicht von "Stufen" der Moral, sondern von drei "Gängen". Der "dritte Gang" führt ebenfalls zu "Amor fati": "(Um Freude irgendworan zu haben, muß man Alles gutheissen.) ..." (11, 160,1112).
Im zweiten Teil dieser Untersuchung wird noch zu zeigen sein, welche Rolle die "Weisheit" in Nietzsches Projekt einer Erhöhung des Menschen spielt. Von den Religionen ist es der Buddhismus, in dem Nietzsche ein Streben hin zu einer "Jenseitigkeit der Moral" feststellen zu können glaubt: "es wird da eine raffinirte Jenseitigkeit der Moral ausgedacht, die mit dem Wesen der Vollkommenheit zusammenfallt unter der Voraussetzung, daß man auch die guten Handlungen bloß zeitweilig nöthig hat, bloß als Mittel, - nämlich um von allem Handeln loszukommen." (KSA 12,570; 22-17: H 87: 10/190/).
Für den Buddhismus weist Nietzsche in diesem Text eine Affinität zu gewissen sozialen Ständen nach, die sich in einer späten Phase der kulturellen Entwicklung befinden: "Zu alledem sind es die gebildeten und sogar übergeistigten Stände, die im Buddhismus ihre Rechnung finden: eine Rasse, durch einen Jahrhunderte langen Philosophenkampf abgesotten und müde gemacht, nicht aber unterhalb aller Cultur, wie die Schichten, aus denen das Christenthum entsteht..." (12,570,15-20).
Das "Loskommen von allem Handeln" geht hier einher mit einer hohen geistigen Entwicklung von Oberschichten, die "müde" geworden sind. Es ist ein Kulturphänomen, das nicht an Völker ("Rassen") als solche gebunden ist.
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Der "Gang der Cultur"
Blicken wir nun auf die vorhergehenden Analysen zurück, dann ergibt sich, daß zum einen die Lebensbedingungen von Völkern sie die "Eigenschaften" entdecken lassen, die ihre Erhaltung und Behauptung sichern können. Diese "Eigenschaften" gehen als "Dasein-bedingende" (5,216,22) "Tugenden" in ihre Moral ein. Ist der "Kampf mit feindlichen Nachbarn dabei ein zentrales Element, bildet sich eine "aristokratische" Moral (JOB, Aph. 262). Ändern sich die Lebensbedingungen in einer Weise, die den Kampf nicht mehr nötig macht, dann "überlebt" sich diese Moral. Dann tritt das Individuum, "das Genie der Rasse", das heißt der nicht mehr durch die "Zucht" der "aristokratischen" Moral gebundene Einzelne in den Vordergrund und ist gezwungen, sich selbst ein "Gesetz" zu geben. Je nach dem Maß der Kraft schaffen Einzelne eine "Selbsterhöhung", viele sinken aber auf das "Mittelmässige" herab (JGB, Aph. 262). Aus den weiteren Analysen ergab sich, daß zweitens die physiologische Verfassung des Menschen und der Völker von wesentlicher Bedeutung ist für ihre Moral: je nach dem Grad der "Ermüdung" und "Erkrankung" ändern sich die Moralinhalte. Auch die Höhe der sozialen und kulturellen Entwicklung hat Einfluß auf die Moral. Demgegenüber betont Nietzsche, daß nicht einzelne Völker ("Rassen") als solche einen Anspruch auf die "erste, höchste" Moral erheben können. Der "Rang" von Moralen bemißt sich vielmehr an den zuvor genannten Gesichtspunkten. Ihre angemessene Berücksichtigung bei der "Bewertung" von Moralen erfordert die Einbeziehung der "Erkenntnisse" der Wissenschaften auf den genannten Gebieten. Der Philosoph muß sich auf diese Wissenschaften stützen, wie Nietzsche ausdrücklich fordert (5,289,7-32). Eine Moral, die die "bösen kleinlichen Neigungen" nicht überwindet und auf "Vaterländer, Rassen" bezogen bleibt, wird von Nietzsche auf die niedrigste "Stufe" verwiesen (11, 160). Entscheidend für den Wert einer Moral sind die oben genannten Maßstäbe, nicht die Bindung an ein bestimmtes Volk. Die wichtige Rolle der Physiologie für die Moral wird auch deutlich, wenn Nietzsche von seinem "Versuch" spricht: "die moralischen Urtheile als Symptome und Zeichensprachen zu verstehen, in denen sich Vorgänge des physiologischen Gedeihens oder Missrathens, ebenso das
Moral
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Bewußtsein von Erhaltungs- und Wachsthumsbedingungen verrathen". (12, 149,912: H 85/H 86: 2/165).
Er stuft an dieser Stelle die "moralischen Urtheile" als "Vorurtheile" ein, "denen Instinkte souffliren (von Rassen, Gemeinden, von verschiedenen Stufen wie Jugend oder Verwelken usw.)" (12,149,13-15).
Aus dem Vorhergehenden ergibt sich, daß (die) Moralen von Nietzsche gesehen werden als "Folge" aus den Lebensbedingungen, den physiologischen, sozialen und kulturellen Vorgängen und Zuständen der Völker insgesamt. Die Versuche, die Moral und die "Werthschätzungen" als "Ursache" zu sehen und setzen zu wollen, lehnt er ausdrücklich ab. Dieser Versuch ist kennzeichnend für den Platonismus, die christliche Religion oder auch das "Gesetzbuch" des Manu. In dem Fragment 7/2/ (KSA 12,251-3: Ende 86/Frühj. 87) geht er ausführlich auf diese Frage ein. Die Überschrift dieses Textes lautet: "Die Werthschätzungen
A) als Folge (Leben oder Niedergang) B) als Ursache" (12,252,6-8). Zu A (Die Werthschätzungen als Folge) gibt Nietzsche folgende Stichwörter: "ständisch bedingt" rassemässig bedingt Sonntags- und Alltags-Werthe in Krisen, in Kriegen und Gefahren oder im Frieden" (12,252,12-16).
Die Stichwörter "Kriege, Gefahren" verweisen deutlich auf den Aphorismus 262 (JGB), in dem deren Bedeutung für Entstehung und Verfall der "aristokratischen" Moral erörtert wird. "Ständisch" und "rassemässig" verweisen auf die sozialen und ethnischen Grundlagen von Moralen, was oben schon erläutert wurde. Das umgekehrte Vorgehen (Werthschätzungen als Ursache nehmen) veranschaulicht Nietzsche zunächst am Beispiel des Künstlers: "Ein Künstler hält keine Wirklichkeit aus, er blickt weg, zurück, seine ernsthafte Meinung ist, daß was ein Ding werth ist, jener schattengleiche Rest ist, den man aus Farben, Gestalt, Klang, Gedanken gewinnt, er glaubt daran, daß, je mehr subtilisirt, verdünnt, verflüchtigt ein Ding, ein Mensch wird, um so mehr sein Werih zunimmt: je -weniger [fett gedruckt] real, um so mehr Werth." (12,253,5-11).
Dieses Vorgehen stuft Nietzsche als "Platonismus" ein: "Dies ist Platonismus: der aber noch eine Kühnheit mehr besaß, im Umdrehen: - er maß den Grad Realität nach dem Werthgrade ab und sagte: je mehr 'Idee', desto mehr Sein. Er drehte den Begriff 'Wirklichkeit' herum und sagte: 'was ihr für
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Der "Gang der Cultur"
wirklich haltet, ist ein Irrthum, und wir kommen, je näher wir der 'Idee' kommen, (um so näher) der Wahrheit'". (12,253,11-17).
Das war nach Nietzsches Auffassung die "größte Umtaufung" (12,253,16-7): "und weil sie vom Christenthum aufgenommen ist, so sehen wir die erstaunliche Sache nicht". (12,253,17-19).
Hier wird, wie Nietzsche dann resümierend feststellt, "der Werthbegriff als Ursache gedacht" (12,253,26). Dies läßt sich nun vielleicht auch von der christlichen Moral sagen, obwohl im obigen Text davon nicht die Rede ist: sie setzt sich als "Ursache", sie will von ihren Werten aus die "Wirklichkeit" bewerten und gestalten. Sie versteht sich nicht als "Folge": sie fragt nicht nach ihrer "Begründung" in etwaigen Lebensbedingungen, physiologischen, sozialen oder kulturellen Zuständen und Vorgängen jener Völker, denen sie als "Ursache" entgegentritt. Damit steht sie im Widerspruch zu Nietzsches Auffassung, der Moral als "Folge" eben jener Vorgänge und Zustände begreift: Moral als Symptom und "Zeichensprache" von "Vorgängen des physiologischen Gedeihens und Missrathens" (12,149,9-12). Moral sieht Nietzsche demnach wohl in erster Linie als "Folge". Moral geht aus von Völkern und ihren Lebensbedingungen, ihren physiologischen, sozialen und kulturellen Zuständen.254 Der jeweilige "Rang" von Moralen bemißt sich für Nietzsche nicht daran, von welchen Völkern eine Moral geschaffen wurde, sondern daran, in welchem Zustande des "Gedeihens" oder "Missrathens" sich jeweils die Völker befanden. Diese Zustände zu erkennen, ist die Aufgabe von Philosophen und Wissenschaftlern.
Religion
Wie dies schon für die Frage der Krankheit und der Moral geschehen ist, so kann hier auch das komplexe Phänomen der Religion bei Nietzsche nur ausschnitthaft im Rahmen der Fragestellung unserer Untersuchung angeschnitten
254
Dieser Aspekt wurde hier vielleicht mit etwas zu viel Nachdruck herausgestellt. Der Grund liegt darin zu prüfen, inwiefern "Rasse" für Moral als auslösender Faktor in Frage kommen könnte. In vielen Fällen wird im historischen Kontext mit Wechselwirkungen zu rechnen sein: eine als "Folge" sich bildende Moral wird aus dem historischen Kontext herausgelöst und dann ihrerseits wieder zur "Ursache" der Gestaltung des Lebens eines Volkes.
Religion
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werden. Zuerst ist der Frage der Entstehung von Religionen, so wie Nietzsche dies sieht, nachzugehen: also Religion(en) als "Folge" der Existenzbedingungen von Völkern, als "Folge" ihrer physiologischen, sozialen und kulturellen Verfassung. Religion erscheint hier als "Semiotik", "Zeichensprache" der Verfassungen von Völkern. Sodann ist zu erörtern, welche Rolle Religionen als "Ursache" im "Gang der Kultur" oder auch einzelner Völker gespielt haben. Hier erscheint Religion als "Werth"-Kanon, der - losgelöst von seinen jeweiligen Entstehungsbedingungen - die Zustände von Völkern zu bewerten und zu beeinflussen versucht. In beiden Textgruppen erscheint gelegentlich das Wort "Rasse", und auch hier ist jeweils im Auge zu behalten, worauf es jeweils verweist. Im Anschluß an diese Analysen versuchen wir uns dann ein Bild davon zu machen, welche Bewertung die einzelnen Religionen unter den genannten zwei Perspektiven bei Nietzsche rinden. Unter welchem Aspekt spielen "Rassen" hier eine Rolle? Inwiefern haben oder können die bei Nietzsche erwähnten Religionen zu einer "Erhöhung" des Menschen beitragen? Schon oben wurde deutlich, an welcher Stelle der Philosoph ansetzen muß, wenn er auch hier als "Arzt" etwas bewirken will, und femer wurde deutlich, an welcher (falschen) ungeeigneten Stelle der asketische Priester mit seinem asketischen Ideal eingriff. Damit zeigt sich auch, daß die in den Abschnitten "Krankheit" und "Moral" erarbeiteten Strukturen auch im vorliegenden Abschnitt als Orientierung dienen können. Die Verankerung von Religionen in den Lebensbedingungen von Völkern wird von Nietzsche in verschiedenen Texten thematisiert. Wir haben vorn schon einen Text kennengelernt, in dem die bei Nietzsche öfters erwähnten und diskutierten fünf Religionen (Manu's "Gesetzbuch", der Buddhismus, das "Gesetzbuch" Muhameds, das Alte Testament, das Neue Testament) nach ethnischen (arisch, semitisch), sozialen (herrschend, unterdrückt) Gesichtspunkten sowie nach Ja- bzw. Neinsagen eingeteilt wurden (13,380-1: F 88: 14/195/): in ein Schema gebracht ergibt sich folgende Ein- bzw. Zuteilung:
178
Der "Gang der Cultur" Religionen
I
arisch
semitisch
l
l
herrsch.Classe
l
unterdrückte
herrschende Cl.
jasagend neinsagend jasagend neinsagend
I
I
Manu Buddhismus
unterdrückte Cl.
jasagend neinsagend
jasagend neinsagend
l —
—
AT, Muh.
l —
—
NT
Daß die Religionen dabei jeweils als "Folgen" der jeweiligen ethnischen und sozialen Komponenten gesehen werden, ergibt sich daraus, daß Nietzsche 3 mal einzelne Religionen als "Ausgeburten" der jeweiligen ethnischen und sozialen Komponenten einstuft. So etwa: "Wie eine Jasagende arische Religion, die Ausgeburt der herrschenden Classen, aussieht: das Gesetzbuch Manu's." (13,380,22-23).
Entsprechende Formulierungen verwendet er für das "Gesetzbuch Muhammeds" und das "Alte Testament" sowie für das "Neue Testament" (13, 380,25 und 380,29). Stände und "Classen" schaffen, in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen sozialen Bedeutung ("herrschend'V'unterdrückt"), die ihnen gemäße Religion. "Herrschende" Stände haben, so lange sie "stark" sind, "ja-sagende" Religionen (Manu, Muhammed, das Alte Testament). Wenn sie "müde" werden, wird ihre Religion "nein-sagend" (Buddhismus). "Unterdrückte" "Classen", die es nach dieser Aufstellung nur bei den "semitischen" Völkern gibt, haben eine "nein-sagende" Religion (das Neue Testament). Daß es bei den "arischen Rassen" keine "nein-sagende" Religion gibt oder geben kann, erläutert Nietzsche folgendermassen: "Es ist vollkommen in Ordnung, daß wir keine Religion unterdrückter arischer Rassen haben: denn das ist ein Widerspruch: eine Herrenrasse ist obenauf oder geht zu Grunde." (13,381,6-8).
"Arische Rassen" gibt es also nur als "herrschende Rassen", werden sie "unterdrückt", dann gehen sie "zu Grunde". Es ist nicht ganz klar, an welches Volk Nietzsche hier denkt. Genannt wird Manu und sein "Gesetzbuch". Demnach könnten hier die Inder gemeint sein. Auch die "nein-sagende" Religion des Buddhismus verweist auf die Inder. Der Buddhismus leidet jedoch nicht an Unterdrückung, sondern an Ermüdung.
Religion
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Kommt in dieser Bemerkung über die "arischen Rassen" hier nicht doch eine gewisse Sonderstellung der "Arier" zum Ausdruck? Wir glauben, daß das nicht der Fall ist: denn Nietzsche lehnt ja die "arische Humanität" des Manu ab, da seine Moral der "Züchtung" ebenso "unmoralisch" in ihren Mitteln sei wie die christliche. Das haben wir vorn schon gesehen. (6,102,20-22). Die Bemerkung über die "Arier" ist also als Feststellung zu lesen, hinter der sich keine Bewunderung Nietzsches verbirgt. Auch über die "semitischen" Völker, insbesondere die Juden, liesse sich ja eine analoge Feststellung treffen. Auch die alten, starken Juden gehen "zu Grunde", soweit sie Christen werden. Das wird von Nietzsche an anderer Stelle ausdrücklich erörtert: es ist Paulus, der eine solche "Umwerthung des Begriffs 'Jude'" vornimmt. Der Text wurde schon besprochen (13,585,11-15). Die "arischen Völker" spielen also keine Sonderrolle. Sie teilen das Schicksal mit jenem Teil der "semitischen" Völker, der "zu Grunde" geht: mit den Juden, die Christen geworden sind. Die Juden, die nicht Christen wurden, gingen nicht "zu Grunde". Auch in dieser Hinsicht sind die Juden den "arischen Völkern" überlegen; sie sind "die älteste und reinste Rasse", wie Nietzsche wiederholt hervorhebt. Bedenken wir, daß auch die Anhänger Muhammeds nicht "zu Grunde" gehen (bis heute nicht "zu Grunde" gegangen sind), dann erweisen sich hier die "semitischen" Völker als die stärkeren und lebensfähigeren. Nur die "semitischen" Völker haben "ja-sagende" Religionen gestiftet, die sich bis heute behauptet haben, und ihre Völker mit ihnen! Auf Nietzsches Spachgebrauch in diesem Text ("Stände", "Classen" und einmal "Rasse") wurde oben schon eingegangen. Deutlich wurde, daß Nietzsche hiermit in erster Linie auf soziale Aspekte der genannten Völker abzielt, insbesondere darauf, ob sie "herrschend" oder "unterdrückt" sind/ waren. Mit diesen Formulierungen wird wohl auch zusätzlich auf die physiologische Basis der Völker angespielt, also darauf, ob sie ihre Religionen in einem Zustand der "Stärke", "Schwäche" oder "Ermüdung" geschaffen haben. Das wird in den folgenden Texten noch besser greifbar. Völker schaffen also ihre Religionen, und je nach der sozialen und physiologischen Verfassung der Völker, tragen diese Reügionen ein unter-
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Der "Gang der Cultur"
schiedliches Gesicht. "Herrschende", und das heißt wohl auch "starke" Völker haben eine andere Religion als "unterdrückte" Völker. Und sie haben auch einen unterschiedlichen Gottesbegriff. Dies stellt Nietzsche in einem Fragment vom Mai-Juni 1888 dar (KSA 13, 523,-526: 17/47), ("Zur Geschichte des Gottesbegriffs"). Der Text beginnt mit der Beschreibung des israelischen Volkes und seines Gottes: "Ein Volk, das noch an sich selbst glaubt, hat auch seinen Gott noch. In ihm verehrt es die Bedingungen, durch die es obenauf ist,- es projicirt seine Lust an sich, sein Machtgefühl in ein Wesen, dem man dafür danken kann. Religion, innerhalb solcher Voraussetzungen, ist eine Form der Dankbarkeit. Ein solcher Gott muß nützen und schaden können, muß Freund und Feind sein können: die widernatürliche Castration eines Gottes zu einem Gott des Guten kommt diesen starken Realisten nicht in den Sinn. Was liegt an einem Volke, das nicht furchtbar sein kann? Was liegt an einem Gotte, der nicht Zorn, Rache, Neid, Gewaltthat und vielleicht nicht einmal die gefährlichen ardeurs der Zerstörung kennt?" (13,523,4-15).
Das Volk, das hier beschrieben wird, ist ein starkes Volk. Es "glaubt noch an sich selbst", es hat "Lust an sich", und hat ein "Machtgefühl". "Die Bedingungen, durch die es obenauf ist", "projicirt" es in ein "Wesen" in dem es diese Bedingungen "verehren" kann, dem es "dafür danken" kann. "Religion" ist "innerhalb solcher Voraussetzungen" "eine Form der Dankbarkeit". Ein solches Volk, das auch "furchtbar" sein kann, schafft einen Gott, der ebenfalls "furchtbar" sein kann, der "nützen und schaden" können muß. Ein Volk solcher "starker Realisten" könnte mit einem "Gott des Guten" nichts anfangen. Das starke Volk schafft sich einen Gott, der Ausdruck seiner "Lust an sich" und seines "Machtsgefühls" ist. Auch bei Nietzsche selbst können wir eine gewisse Sympathie mit einem solchen Gott annehmen, also mit dem Gott Israels. Die Formulierung, daß dieser Gott "nutzen und schaden können muss", weist eine große Nähe zu Nietzsches Naturbegriff auf und auch zum Gott Dionysos, der ebenfalls schaffen und vernichten kann. Nietzsche kommt auf die Formel vom Gott, der "nutzen und schaden" auch an anderer Stelle zurück, wie wir gleich sehen werden. Es gibt also offenbar 'geheime' Verbindungslinien zwischen zentralen Punkten seines Denkens und dem israelischen Gottesbegriff. Dies mögen jene gespürt haben, die ihn einen Juden nannten,- natürlich mit herabsetzender Absicht.
Religion
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Nietzsche beschreibt dann jene Völker, die "schwach" werden, was ein verändertes Gottesbild zum Gefolge hat: "Wenn ein Volk zu Grunde geht: wenn es den Glauben an seine Zukunft, an Freiheit und Übermacht schwinden fühlt; wenn ihm die Unterwerfung als erste Nützlichkeit, die Tugenden der Unterworfenen als Erhaltungsbedingungen ins Bewußtsein treten: dann freilich ändert sich auch sein Gott. Er wird Duckmäuser, furchtsam, bescheiden, räth zum 'Frieden der Seele', zum Nicht-mehr-hassen, zur Nachsicht, zur Liebe selbst gegen Freund und Feind. Er kriecht in die Höhle der Privattugend'zurück, wird der Gott der kleinen Leute,- er stellt nicht mehr die aggressive und machtdurstige Seele eines Volkes, seinen Willen zur Macht dar..." (13,523,15-26).
Ein Volk, das "den Glauben an seine Zukunft" verliert und die "Tugenden der Unterworfenen als Erhaltungsbedingungen" in sein Bewußtsein übernimmt, hat einen Gott, der dem entspricht; Gott wird zum "Duckmäuser". Er wird "furchtsam" und "bescheiden", "räth zum Frieden der Seele" usw. Er wird der Gott "der kleinen Leute". Und da die Seele eines solches Volkes kein "Machtgefühl" mehr empfindet, stellt sein Gott "nicht mehr ... seinen Willen zur Macht dar." Ein solcher Gott ist "macht-los" geworden, er kann nicht mehr "schaden", wenn er vielleicht auch noch "nutzen" kann. Damit ist sicherlich der christliche Gott gemeint, so wie Nietzsche ihn sieht. Gott ist "castrirt" zu einem "Gott des Guten". (13,523,10-11).
Im weiteren Verlauf des Textes kommentiert Nietzsche dann diesen Übergang vom "starken" Gott zum "Duckmäuser", wobei er die damit einhergehende Veränderung der physiologischen Zustände der Völker im Auge behält: "Wo dieser Wille, der Wille zur Macht, niedergeht, giebt es jedes Mal decadence. Die Gottheit der docadence, beschnitten an ihren männlichsten Gliedern und Tugenden, wird nunmehr zu einem Gott der Guten. Dir Cultus heißt 'Tugend'; ihre Anhänger sind die 'Guten und Gerechten'.- Man versteht, in welchen Augenblicken erst der dualistische Gegensatz eines guten und eines bösen Gottes möglich wird. Denn mit demselben Instinkte, mit dem die Unterworfenen ihren Gott zum 'Guten an sich' herunterbringen, streichen sie aus dem Gott ihrer Überwinder die guten Eigenschaften aus. Sie nehmen Rache an ihren Herren, indem sie deren Gott verteufeln." (13,523,28-524,6).
Die Ersetzung des 'starken' Gottes durch den "Duckmäuser" geht Hand in Hand mit der Unterwerfung des Volkes, das den "Glauben an seine Zukunft" verloren hat. Zugleich baut dieses unterworfene Volk einen "dualistischen
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Der "Gang der Cultur"
Gegensatz" zwischen seinem Gott und dem "starken" Gott auf: der erste Gott wird zum "bösen Gott" "verteufelt", der eigene zum "guten Gott" - "heruntergebracht". Die Unterwerfung des Volkes geht mit dem 'Abstieg' seines Gottes Hand in Hand. Hier wird eine deutliche Parallele zwischen dem physiologischen und sozialen Abstieg eines Volkes und dem "Herunterbringen" seines ihm gemäßen Gottes greifbar. Gott ist nun "zum Widerspruch des Lebens abgeartet, statt dessen Verklärung und ewiges Ja zu bedeuten; in Gott dem Leben, der Natur, dem Willen zum Leben die Feindschaft angesagt; Gott die Formel für jede Verleumdung des Lebens, für jede Lüge vom 'Jenseits'; in Gott das Nichs vergöttert, der Wille zum Nichts heilig gesprochen!.... Weiß man es noch nicht? das Christenthum ist eine nihilistische Religion - um ihres Gottes willen." (13,525,4-12).
Völker schaffen sich also die ihren jeweiligen physiologischen und sozialen Zuständen entsprechende Religion und den ihnen gemäßen Gottesbegriff als deren Ausdruck. Auch Religionen sind, wie die Moralen, "Zeichensprachen" ihrer Völker. Daß die "jungen starken Rassen des nördlichen Europa den christlichen Gott nicht von sich gestossen haben", darüber wundert Nietzsche sich anschließend (13,525,14-1566). Aber die Antwort darauf sieht Nietzsche darin, daß diese Völker offenbar doch nicht so "jung" und "stark" sind, wie es den Anschein hat: "sie haben die Krankheit, den Widerspruch, das Alter in alle ihre Instinkte aufgenommen..." (13,525,20-21).
So steht es jedenfalls mit den Deutschen, wie wir schon gesehen haben. Nur "stark gerathene Rassen", und Nietzsche nennt hier ausdrücklich die Juden und die Araber, haben einen Gott, der "schaden" und "nützen" kann, also einen starken Gott: "In den Begriff der Macht, sei es eines Gottes, sei es eines Menschen, ist immer zugleich die Fähigkeit zu nützen und die Fähigkeit zu schaden eingerechnet. So bei den Arabern; so bei den Hebräern. So bei allen stark gerathenen Rassen. Es ist ein verhängnissvoller Schritt, wenn man dualistisch die Kraft zum Einen von der zum Anderen trennt... Damit wird die Moral zur Giftmischerin des Lebens..." (13,112,12-18: Nov. 87/März 88: H/287/).
Und das Letztere gilt auch für die Religion, wie wir aus dem vorhergehenden Text ersehen konnten.
Religion
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Es ist nicht uninteressant zu wissen, daß der zuletzt zitierte Text ein fast wörtliches Zitat aus einem Buch des Orientalisten J. Wellhausen darstellt.255 Nietzsche stand also mit dem hier vorgetragenen Macht- und Gottesbegriff nicht allein. Damit dürfte deutlich geworden sein, daß Nietzsche Religion(en) als "Folge(n)" versteht, als "Zeichensprachen" von Völkern und ihrer physiologischen und sozialen Zustände. Nietzsche verwendet dabei abwechselnd die Ausdrücke "Stände", "Classen", "Völker" und "Rassen", woraus sich einerseits auch durch die Hinzufügung der Prädikate "herrschend"/"unterworfen"/"stark gerathen" - eine deutliche soziale und physiologische Komponente seiner Überlegungen ergibt, auf der anderen Seite eine ethnische ("Volk'VRasse"). Daß dabei die sozialen und physiologischen Zustände primär wichtig sind für die Religionen der Völker, haben die Analysen deutlich werden lassen. Ein Volk hat nicht als solches eine bestimmte Religion, sondern nur dank und aufgrund seiner jeweiligen physiologischen und sozialen Verfassung. Diese Zustände können sich ändern und damit auch die jeweilige Religionsvorstellung. Religionen sind damit "Zeichensprachen" der physiologischen und sozialen Zustände. Eine Priorität von Volk (oder "Rasse") ist bei Nietzsche nicht festzustellen, denn Völker sind nicht auf ewig 'festgestellt', sondern fließend und veränderlich, und so auch ihre Religionen. Besondere Aufmerksamkeit fand im vorliegenden Zusammenhang (Religion als "Folge") bei Nietzsche das Phänomen des Nachlassens der Kräfte eines Volkes oder einzelner seiner Stände/Schichten und dessen Einfluß auf die Gestaltung und Umgestaltung der Religion(en). Die Geschichte bot zwei klare Beispiele für diesen Vorgang: zum einen: "herrschende Classen/Stände", die "müde" und "nein-sagend" werden: der Buddhismus; zum ändern: "unterdrückte Classen", die ebenfalls zum Leben "nein" sagen: die christliche Religion. Dies kam schon in dem oben herangezogenen Text 14/195 (KSA 13, 380-1) zur Sprache. Nietzsche geht aber auch noch in weiteren Texten auf diese beiden Vorgänge ein.
255
Vgl. KSA-Kommentar 14,755 mit dem Text Wellhausens. Vgl. auch im Namensregister.
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Der "Gang der Cultur"
Für das "Müde"-werden einer "herrschenden Classe", die dann eine "neinsagende" Religion, den Buddhismus schafft, kann noch auf den Text 10/190 (KSA 12,569-70: H 87) verwiesen werden, der schon erwähnt wurde. Es handelt sich hier, wie Nietzsche ausführt, um "gebildete und sogar übergeistigte Stände", die "durch einen Jahrhunderte langen Philosophen-Kampf abgesotten und müde gemacht" worden sind, die aber nicht "unterhalb aller Cultur" stehen, "wie die Schichten, aus denen das Christenthum entsteht..." (12,570,15-20). Die Religion des "Nein-sagens" im Buddhismus ist hier die Frucht einer späten Phase der Kulturentwicklung. Die Oberschicht, oder ein Teil davon, ist durch langen "Philosophen-Kampf "abgesotten und müde" geworden, ihre physiologische Basis ist geschwächt worden, die Kräfte des Willens sind gesunken. Der Wille zum Kampf geht verloren. Erne zu hoch entwickelte Kultur, die zu "Übergeistigung" führt, kann also die Kräfte des Willens in Bedrängnis bringen. Religion ist hier die "Folge" einer "decadence", des Nachlassens der Kräfte der Oberschicht. In einem weiteren Text stellt Nietzsche den Zusammenhang von physiologischer "decadence" und pessimistischer Religion dar, jedoch ohne deutlicheren Bezug auf eine bestimmte soziale Schicht (KSA 13,357-8: F 88: 14/1717): "Religion als decadence der Schlaf als Folge jeder Erschöpfung, die Erschöpfung als Folge jeder übermässigen Reizung... das Bedürmiss nach Schlaf, die Vergöttlichung und Adoration selbst des Begriffs 'Schlaf in allen pessimistischen Religionen und Philosophien - die Erschöpfung ist in diesem Fall eine Rassen-Erschöpfung; der Schlaf, physiologisch genommen, nur ein Gleichniss eines viel tieferen und längeren Ruhen-Müssens... In praxi ist es der Tod, der hier unter dem Bilde seines Bruders, des Schlafes, so verführerisch wirkt..." (13,357,26-358,5).
Daß die "Erschöpfung" physiologischer Natur ist, wird hier klar gesagt. Ihre Ursachen werden nicht namhaft gemacht. Sie betrifft hier aber das gesamte Volk, es ist eine "Rassen-Erschöpfung", im Unterschied zum vorherigen Text, wo im Falle des Buddhismus nur ein Teil, eine Schicht des Volkes betroffen war: die "herrschende Classe". "Rasse" steht hier demnach in Opposition zu "Classe/ Stand" und bezeichnet die Gesamtheit eines Volkes als Volk, nicht eine spezifische Eigenart dieses/eines Volkes. "Gleichniss" und das heißt "Zeichen/Symptom" dieser Erschöpfung ist das "Ruhen-Müssen", die Fixierung auf den "Schlaf, der ein "Bruder" des Todes ist. Die physiologische Erschöpfung des/eines ganzen Volkes findet ihren
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Ausdruck in einem "Nein-sagen" zum Leben, dessen Ausdruck wiederum "alle pessimistischen Religionen und Philosophien" sind. Als Paradefall für eine "nein-sagende" Religion, die von "nein-sagenden" unteren Schichten, "unterdrückten Classen" ausgeht, galt Nietzsche die christliche Religion. Dies geht klar aus einem Fragment hervor, in dem Buddhismus und christliche Religion verglichen werden. Der Text trägt den Titel: "die Religion als decadence Buddha gegen den 'Gekreuzigten'" (KSA 13,267-8: F 88: 14/91/)· Einleitend fordert hier Nietzsche, daß "innerhalb der nihilistischen Bewegung" die buddhistische und die christliche Bewegung "scharf auseinander zu halten" seien (13,267,17-19). Dann stellt er die buddhistische Bewegung dar: "die buddhistische drückt einen schönen Abend aus, eine vollendete Süßigkeit und Milde, - es ist Dankbarkeit gegen alles, was hinten liegt, mit eingerechnet, es fehlt die Bitterkeit, die Enttäuschung, die Rancune: zuletzt, die hohe geistige Liebe, das Raffinement des physiologischen Widerspruchs ist hinter ihm, auch davon ruht es aus: aber von diesem hat es noch seine geistige Glorie und Sonnenuntergangs-Gluth. (- Herkunft aus den obersten Kasten. -)" (13,267,20-17).
Der Buddhismus entsteht in einer späten Phase der Kultur, er ist ein "schöner Abend" voll "Milde" und "Dankbarkeit", also ohne "Bitterkeit" und ohne "Rancune". Er kommt aus den "obersten Kasten". Ganz anders die christliche Bewegung: "die christliche Bewegung ist eine Degenerescenz-Bewegung aus Abfalls- und Ausschuß-Elementen aller Art: sie drückt nicht den Niedergang einer Rasse aus, sie ist von Anfang an eine Aggregat-Bildung aus sich zusammendringenden und sich suchenden Krankheits-Gebilden... Sie ist deshalb nicht national, nicht rassebedingt: sie wendet sich an die Enterbten von Überall." (13,267,28-268-4).
Hier wird zunächst die Herkunft, die physiologische und soziale Basis der christlichen Bewegung beschrieben: "sie drückt nicht den Niedergang einer Rasse aus".
Dies ist wohl eine Anspielung auf die "Herkunft" des Buddhismus "aus den obersten Kasten". Der Buddhismus ist bei Nietzsche Ausdruck "übergeistigter" Oberschichten, die "müde" geworden sind, und dadurch einen physiologischen (und vielleicht auch sozialen) "Niedergang" erleiden. Bei der christlichen Bewegung liegt ein solcher "Niedergang" nicht vor, da die "Classen", die
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christlich wurden, von vornherein sozial unten angesiedelt und "unterdrückt" waren. Die christliche Bewegung setzt also keinen "Niedergang" von "Classen" voraus, sie findet diese bereits vor. Von diesen "unterdrückten Classen" (13,380,30) wird hier gesagt, daß sie "krank", also physiologisch Leidende sind: es handle sich "um eine AggregatBildung aus... Krankheits-Gebilden". Diese Formulierung wird deutlicher, wenn wir an die Kapitel in der "Genealogie der Moral" denken, wo Nietzsche die vielfachen "Abkünfte" der "Krankhaftigkeit" des "europäischen Menschen" im einzelnen beschrieben hatte. Das wurde oben schon eingehender analysiert. Dort hob Nietzsche auch hervor, daß der asketische Priester an den Symptomen ("Unlust", "Depression") dieser bereits vorhandenen Erkrankung ansetzt, ohne sich um die eigentlichen "Ursachen" dieser Erkrankung zu kümmern, daß er also die physiologische Natur dieser Erkrankung verkennt. Da der asketische Priester also von einer bereits vorhandenen Erkrankung ausgeht (und sie durch seine "Medikation" noch verschlimmert), kann Nietzsche im vorliegenden Text feststellen: die christliche Bewegung "ist von Anfang an [Hervorhebung GS] eine Aggregat-Bildung... aus KrankheitsGebilden". Und da nun diese Erkrankung des Menschen nach Nietzsches Auffassung den gesamten "bisherigen Typus des Menschen" betrifft (5,366,16-17), kann er im vorliegenden Text feststellen, daß die christliche Bewegung, insofern sie "von Anfang an eine Aggregat-Bildung aus... KrankheitsGebilden" ist, "nicht national, nicht rassebedingt" ist. Und dies in zweierlei Hinsicht; die Krankheit, an deren Symptomen die christliche Bewegung ansetzt, ist in ihrer physiologischen Natur "nicht national" und "nicht rassebedingt", wie wir oben gesehen haben, und: die Erkrankung ist auch nicht auf bestimmte "Nationen" oder "Rassen" beschränkt -sie geht quer durch die Völker - wenn auch in unterschiedlicher Schwere. (Die Deutschen sind etwa stärker betroffen als die Juden, die frei davon sind). So daß Nietzsche feststellen kann: die christliche Bewegung "wendet sich an die Enterbten von Überall." Und das heißt; die christliche Bewegung kann sich "überall" ausbreiten, also ohne Beschränkung auf bestimmte Völker. Voraussetzung ist nur die physiologische Erkrankung des Menschen, die nach Nietzsches Auffassung überall in Europa in unterschiedlichem Grade eingetreten sei.
Religion
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Dabei scheint Nietzsche offenbar eine gewisse Koppelung zwischen sozialer Schichtung und Ausmaß der Erkrankung anzunehmen. Wenn in Text 14/195 (13,380-1) die "unterdrückten Classen" als "nein-sagend" mit der christlichen Religion in Verbindung gebracht werden und in Text 14/917(13,267-8) die "christliche
Bewegung" als eine "Aggregat-Bildung aus ... Krankheits-
Gebilden" bezeichnet wird, dann könnte damit angedeutet sein, daß die "unterdrückten Classen" in besonderem Maße unter Erkrankung zu leiden haben und daher in besonderem Maße zur "christlichen Bewegung" hinneigen. Diese Vermutung liesse sich sehr wahrscheinlich durch historische Forschungen stützen, und sie trifft zweifellos für das 19. Jahrhundert nach Einsetzen der Industrialisierung zu. Ohne Zweifel sind die Existenzbedingungen der "unterdrückten Classen" weniger forderlich für die Gesundheit ihrer Angehörigen als die Existenzbedingungen der Nicht-Unterdrückten für deren Angehörigen. Dabei geht es hier natürlich nur um die Erkrankungen, die durch ungünstige soziale Verhältnisse bedingt sind. Die hier bei Nietzsche offenbar zu beobachtende starke Verknüpfung von Erkrankungen, die durch soziale Unterdrückung bedingt sind, mit der christlichen Bewegung, läßt deutüch werden, in wie hohem Maße er die christliche Bewegung als soziale, gesellschaftlich bedingte Bewegung interpretiert. Im weiteren Verlauf des zitierten Textes stellt Nietzsche nun dar, durch welche spezifischen Merkmale sich die christliche Bewegung, aufgrund ihrer Bindung an "unterdrückte", an Erkrankung leidende "Classen", von der buddhistischen unterscheidet: "sie hat die Rancune auf dem Grunde gegen alle Wohlgerathene und Herrschende, sie braucht ein Symbol, welches den Fluch auf die Wohlgerathenen und Herrschenden darstellt... sie steht im Gegensatz auch zu aller geistigen Bewegung, zu aller Philosophie: sie nimmt die Partei der Idioten und spricht einen Fluch gegen den Geist aus. Rancune gegen die Begabten, Gelehrten, Geistig-Unabhängigen: sie erräth in ihnen das Wohlgerathene, das Herrschaftliche". (13,268,5-12). Das Schlüsselwort ist hier wohl "Rancune": während die buddhistische Bewegung "vollendete Süßigkeit und Milde" und "Dankbarkeit" ausdrückt und ohne "Bitterkeit", ohne "Enttäuschung" und ohne "Rancune" "gegen alles" lebt, "was hinten" liegt, ist das bei der christlichen Bewegung gerade nicht der Fall.
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Der "Gang der Cultur"
Sie hat "die Rancune auf dem Grunde", das heißt sie ist von Grund auf bestimmt durch "Rancune", also "Bitterkeit" und "Enttäuschung" über ihr Dasein. Während die "buddhistische Bewegung", trotz ihres "Nein-sagens", beinahe zu einer Haltung des "Amor fati" gelangt (12,570,20-27), verharrt die christliche Bewegung bei einem vollen "Nein": insbesondere gegen alles "Wohlgerathene, Herrschende" und "Herrschaftliche". Dieses wird als das "Böse" abgewertet.256 Das "Symbol" für diese Umwertung ist der "Gekreuzigte", der im Titel des Textes als Gegenbild Buddhas erscheint (vgl. auch AC: 6,232,178): "Buddha gegen den 'Gekreuzigten'".257 Die christliche Bewegung nimmt dabei die "Partei der Idioten" ein und stellt sich damit "gegen den Geist". Die "Idioten" meint bei Nietzsche die "Einfältigen", auch Jesus wird in diesem Sinne einmal als "Idiot" bezeichnet.258 Der "Geist" meint hier bei in diesem Zusammenhang das "Vielfältige", die Fähigkeit zu einer vielseitigeren Betrachtung des Daseins, die, wie das Beispiel der buddhistischen Bewegung zeigt, zu einer "vollendeten Süßigkeit und Milde" des Urteils führen kann. Während also die buddhistische Bewegung, obwohl auch sie eine "nihilistische" Bewegung ist, zu einer Haltung der "Dankbarkeit" gegen das Dasein gelangt, bleibt die christliche bei ihrer "Rancune" stehen. Sie bleibt unversöhnt mit ihrem Dasein und daher hat sie das "asketische Ideal" nötig, von dem sie eine Kompensation für ihre "Enttäuschung" erwartet. Der Text 14/91/(13,267-8) zeigt zum einen, wie ein Nachlassen der Kräfte (Ermüdung, Erkrankung) zu nihilistischen Bewegungen führt. Er zeigt aber auch, daß nihilistische Bewegungen, in Abhängigkeit von ihrer sozialen "Herkunft" (13,267,27), eine unterschiedliche Ausprägung erfahren können, die auf der einen Seite ("Herkunft aus den obersten Kasten") zu einer Haltung der "Dankbarkeit" (Buddhismus), auf der anderen Seite zur "Rancune" gegen das Dasein führt ("Herkunft" aus erkrankten, "unterdrückten Classen") (christliche Bewegung). Gemeinsam ist beiden, daß sie ihre Herkunft spezifischen physio-
256 257 258
Vgl. GM, erste Abhandlung. Zur Interpreation des "gegen" bei Nietzsche vgl. Schank 1993. Dazu Van Gelre 1990, 14 f.
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logischen und sozial-gesellschaftlichen Zuständen verdanken, also: Religion als "Folge" physiologischer und sozialer (gesellschaftlicher) Zustände. Völker als Völker, in ihrer spezifischen Eigenart, falls es so etwas überhaupt gibt,259 spielen dabei keine Rolle. Die christliche Bewegung, und wohl auch andere, sind "nicht national, nicht rassebedingt" (13,268,3). Dies hebt Nietzsche im "Antichrist" nochmals, und fast mit den gleichen Worten, hervor: "Das Christenthum war nicht 'national', nicht rassebedingt,- es wendete sich an jede Art von Enterbten des Lebens, es hatte seine Verbündeten überall" (6,232,6-8).
Also weder in seiner Entstehung, noch in seiner Ausbreitung ist das Christenthum "national" oder "rassebedingt". Maßgebüch für seine "Herkunft" und seine Ausbreitung sind allein physiologische und gesellschaftliche Bedingungen, nicht jedoch "nationale", beziehungsweise "rassen"-massige, also ethnische.260 Soweit das die "Herkunft" der christlichen Religion betrifft, wurde im Vorhergehenden schon Einiges erörtert. Wir wenden uns daher noch kurz der Ausbreitung dieser Religion zu, wonach dann Religion als "Ursache" zur Sprache kommen soll. In mehreren Texten geht Nietzsche auf die Ausbreitung der christlichen Religion ein. In 10/92 (12,508-9: H 87) wird zunächst als Ausgangspunkt des "christlichen Lebens" das "jüdische Leben" genannt: "nicht vielleicht das der herrschenden Familien, aber das der kleinen Leute, namentlich der in der Diaspora lebenden Juden" (12,508,26-30).
Das Christenthum geht also von den "kleinen Leuten" aus, namentlich von den "in der Diaspora" lebenden Juden. Dieses Leben wird von Nietzsche mit einer gewissen Wärme gezeichnet: "Es ist erlebt, gesehen, aus dem Verehrtesten und Geliebtesten heraus - dieses Ideal: es ist erkannt als vorbildlich für Menschen anderer Rasse, vorausgesetzt, daß sie unter ähnlichen Bedingungen leben." (12,508,30-509,3). Und zwar von Paulus: "Dies ist die That des Paulus: er erkannte die Anwendbarkeit des jüdischen Privatlebens auf das Privatleben der kleinen Leute von Überall."
259 260
Vgl. Nietzsches diesbezügliche Zweifel: 7,645,13 f. Daß Nietzsche diesen Punkt so sehr betont, könnte als Protest gegen den religiös begründeten Antisemitismus verstanden werden.
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Das "christliche Leben" ist zunächst das "jüdische Privatleben" der kleinen Leute, der Juden, die in der Diaspora leben. Nietzsche stellt die niedere soziale Herkunft heraus, von Erkrankung ist jedoch nicht die Rede. Paulus erkennt dieses Leben als "vorbildlich" "für Menschen anderer Rasse", wobei jedoch Bedingung ist, daß diese "unter ähnlichen Bedingungen leben", also auch "kleine Leute" sind. Voraussetzung für die "Anwendbarkeit" dieses Lebens auf andere ist also nur die gleiche gesellschaftliche Lage dieser Menschen, die ethnische Zugehörigkeit spielt keine Rolle. Paulus erkannte dieses Leben als "vorbildlich", da es lehren konnte, "wie eine Art Mensch sich durchsetzt, ohne die Macht zu haben und ohne auch nur die Absicht auf Macht haben zu dürfen." (12,509,7-9).
Dieses Leben ist also noch frei von "Rancune", um ein Wort aus dem vorigen Text zu verwenden. Es ist durch folgende Eigenschaften gekennzeichnet: "Ein Glaube an ein absolutes Vorrecht, das Glück der Auserwählten, welches jede Erbärmlichkeit adelt,- nämlich als Gegenzahlung und Sporn, die Tugenden der Familie, der kleinen Congregation, der unbedingte Ernst in Einem, in der Unantastbarkeit ihres Lebens durch die Gegner, zwischen denen sie leben - und alles Besänftigende, Mildernde, Erquickende, Gebet, Musik, gemeinsame Mahlzeiten und Herzensergießungen, Geduld, Nachsicht, Hülfe und Dienstbarkeit gegeneinander, vor Allem jenes Stillehalten der Seele, damit die Affekte Zorn, Verdacht, Haß, Neid, Rache nicht obenauf kommen..." (12,509,9-20).
In seiner Anfangsphase ist das "christliche Leben" also noch nicht durch "Rancune" gezeichnet. Die damit verbundenen Affekte werden im Zaum gehalten durch ein "Stillehalten der Seele". Das jüdische christliche Leben der "kleinen Leute in der Diaspora" unterscheidet sich also noch wesentlich von der späteren "christlichen Bewegung", von der in den vorigen Texten die Rede war. Es ist noch nicht vom "Asketism" beherrscht. Das hebt Nietzsche ausdrücklich hervor: "Der Asketism ist nicht das Wesen dieses Lebens: die Sünde ist nur in dem Sinn im Vordergrund des Bewußtseins, als sie die beständige Nähe der Erlöstheit und Zurückgekauftheit bedeutet" (12,509,20-24).
Die Sünde ist also noch keine drückende Last. Dies sollte jedoch durch das Auftreten des asketischen Priesters und seines asketischen Ideals anders werden, wie wir schon gesehen haben. Im "Antichrist" (Kap. 51: 6,230-32), wo nicht mehr die Rede ist von dem mit einer gewissen Bewunderung gezeichneten jüdischen Ausgangspunkt des
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"christlichen Lebens", gibt Nietzsche ein düsteres Bild der Ausbreitung der christlichen Religion. Als Voraussetzung für die Ausbreitung wird jetzt (wieder) die Krankheit in den Vordergrund gerückt, nicht mehr die niedere soziale Lage. Dies entspricht der Darstellung in der "Genealogie der Moral", wo der europäische Mensch insgesamt als mehr oder weniger physiologisch erkrankt beschieben wurde. Das würde dann bedeuten, daß die christliche Religion in ihren Anfangen zwar eine Bewegung der niederen sozialen Schichten ist, daß ihre Ausbreitung dann aber vor allem durch die physiologische Erkrankung des Menschen ermöglicht und begünstigt würde. Im "Antichrist" heißt es: "Es steht Niemandem frei, Christ zu werden: man wird nicht zum Christenthum 'bekehrt', - man muß krank genug dazu sein..." (6,231,12-14).
Die physiologsiche Erkrankung ist also, wie in der "Genealogie der Moral", der Ausgangspunkt dafür, daß man Christ werden kann. Über die Erkrankung selbst wird auch hier das gesagt, was wir schon kennen: es handelt sich um eine "Aggregat-Bildung sich zusammendrängender und sich suchender Decadence-Formen von Überall." (6,231,29-31).
Im Unterschied aber zu der jüdischen Frühphase der christliche Bewegung, die weder "die Macht" hatte und auch nicht "die Absicht auf Macht haben" durfte (12,509,7-9), will die "christliche Bewegung" nun "zur Macht": "die christliche Bewegung, als eine europäische Bewegung, ist von vornherein eine Gesammt-Bewegung der Ausschuß- und Abfalls-Elemente aller Art: - diese will mit dem Christenthum zur Macht." (6,231,25-28).
Von einem "Stillehalten der Seele" (12,509,18-9) kann also nicht mehr die Rede sein. Neid, Haß und "Rancune" werden nicht mehr im Zaum gehalten. Die Erkrankten, wohl insbesondere jene, die der unteren sozialen Schicht angehören, wollen eine Veränderung ihrer Lage und bedienen sich hierzu des "Christentums": sie wollen "mit dem Christenthum zur Macht" (6,231,28). Das "Christenthum" wird also bei seiner Übernahme und Ausbreitung durch die "Kranken" bis zu einem gewissen Grade zum Instrument gemacht, mit dem "Macht" errungen werden soll. Damit entfernt es sich von seinen jüdischen Anfangen. Im "Antichrist" widerspricht Nietzsche auch dem "gelehrten Idiotismus", dem zu Folge das Christenthum sich dank dem "Niedergang einer Rasse" habe ausbreiten können (6,231,28-232,1). Davon könne keine Rede sein:
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"Es ist nicht, wie man glaubt, die Corruption des Alterthums selbst, des vornehmen Alterthums, was das Christenthum ermöglichte..." (6,231,31-33). Vielmehr blieb die "Vornehmheit" auch während der Christianisierung "in ihrer schönsten und reifsten Gestalt vorhanden": "In der Zeit, wo die kranken, verdorbenen Tschandala-Schichten im ganzen Imperium sich christianisirten, war gerade der Gegentypus, die Vornehmheit, in ihrer schönsten und reifsten Gestalt vorhanden" (6,232, 1-4). Das "Christenthum" verbreitete sich also nicht durch das Absinken oder Verschwinden der "vornehmen" Stände, vielmehr waren daneben die "kranken, verdorbenen Tschandala-Schichten" vorhanden, die letztlich durch ihre "grosse Zahl Herr wurden": "Die grosse Zahl wurde Herr; der Demokratismus der christlichen Instinkte siegte..." (6,232,4-6). Die "christliche Bewegung" begann also als eine Bewegung der unteren sozialen Schichten und blieb eine solche, und sie "siegte" auch als eine solche, insbesondere nachdem sie durch das Hinzutreten der "kranken... TschandalaSchichten" einen Durst nach der Macht entwickelt hatte. Der "Sieg" der "christlichen Bewegung" hat nichts mit dem "Niedergang einer Rasse" zu tun, womit, wie wir sahen, hier die "Vornehmen" des "Alterthums" gemeint sind, also die "vornehmen" Stände. Dieser "Sieg" ist vielmehr ein gesellschaftlicher Sieg der unteren sozialen Schichten aller Völker: "Das Christenthum war nicht 'national', nicht rassebedingt" (6,232,6-7). Hier ist die "christliche Bewegung" also eine Bewegung, die ihren "Sieg" den erkrankten, unteren sozialen Schichten verdankt, die es in allen Völkern gibt (geben kann). Ihre Ausbreitung geht daher quer durch die Völker. Wir können nun noch etwas genauer formulieren: Soweit die "christliche Bewegung" eine jüdische Angelegenheit der "kleinen Leute in der Diaspora" war, war sie frei von "Rancune", von einem Hunger "zur Macht", auch scheint "Krankheit" dabei keine besondere Rolle gespielt zu haben, denn Nietzsche sagt darüber in diesem Zusammenhang nichts (12,5089: H 87: 10/92/), wie wir gesehen haben. Erst als sie zur "europäischen Bewegung" wurde, entwickelte sie einen Durst "zur Macht" (6,231,25-8), wofür sicherlich die nun maßgeblich an ihrer
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Ausbreitung beteiligten erkrankten unteren sozialen Schichten verantwortlich zu machen sind.261 Als eine solche europäisierte Bewegung, die von "Rancune" und Ressentiment beherrscht ist, ist sie nicht mehr an einzelne Völker gebunden, sondern geht als Bewegung unterer sozialer Schichten quer durch die Völker. "Die grosse Zahl", der "Demokratismus der christlichen Instinkte" verhelfen ihr zum "Sieg". (6,232,4-6). Die bisherigen Analysen haben ergeben, daß Nietzsche Religionen, wie schon Krankheit und Moral, als "Zeichensprachen" auffaßt, als "Zeichensprachen", in denen vor allem physiologische und gesellschaftlich-soziale Zustände und Verfassungen ihren Ausdruck finden. Religionen wurden jeweils als "Folge(n)" dieser Zustände gesehen. Nietzsche betrachtet Religionen aber auch noch aus einem anderen Blickwinkel: gleichsam als "Kanon" von "Wertmaßstäben", die, wenn sie einmal etabliert sind, aus ihrer Sicht das Leben und die Wirklichkeit auf der Erde bewerten und gestalten wollen. Nietzsche führt diese doppelte Betrachtungsweise der Religion als "Folge" und als "Ursache" in dem Text 1121 (12,251-3: Ende 86/Frühj. 87), den wir schon besprochen haben, selbst ein. Religionen, "als Ursache gedacht" (12,253,26), üben Einfluß auf Völker und Menschen und ihr Dasein aus. Das ist zumindest ihre Absicht. Welcher Art sind nun die Einflüsse der unterschiedlichen Religionen, nach Nietzsches Auffassung, was bewirken sie, und wie werden diese Einflüsse von Nietzsche bewertet? Haben sie Einfluß auf die physiologische Verfassung der Menschen? In welcher Weise tragen sie zu sozialem Wandel und vielleicht sogar zu sozialen Umschichtungen bei? Es liegt auf der Hand, daß auch diese Fragen hier nur ausschnittweise, aus dem Blickwinkel der vorliegenden Untersuchung heraus, angeschnitten werden können, wobei wir wieder vor allem von den Texten ausgehen müssen, in denen das Wort "Rasse" erscheint. Wir müssen uns mit den Teilantworten begnügen, die auf diesem Weg erarbeitet werden können.
261
Vgl. ACKap. 51.
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In Aphorismus 62 von "Jenseits von Gut und Böse" macht Nietzsche offenbar den Versuch, eine Art umfassender Bilanz für die "beiden größten Religionen" (5,81,30) aufzustellen, für den Buddhismus und das "Christenthum". Was "bringen" sie für die "europäische Rasse" (5,82,23), wenn sie "souverän walten", wenn sie "selber letzte Zwecke und nicht Mittel neben ändern Mitteln sein wollen." (5,81,16-17). Nietzsches Antwort ist abwägend: "Sie suchen zu halten, im Leben festzuhalten, was sich nur irgend halten läßt, ja sie nehmen grundsätzlich für sie Partei, als Religionen für Leidende, sie geben allen Denen Recht, welche am Leben wie an einer Krankheit leiden, und möchten es durchsetzen, daß jede andere Empfindung des Lebens als falsch gelte und unmöglich werde." (5,81,31-82,4).
Die beiden Religionen nehmen einseitig "Partei" für die "am Leben wie an einer Krankheit" Leidenden und möchten diesen Standpunkt als allein gültigen durchsetzen. "Möchte man diese schonende und erhaltende Fürsorge, insofern sie neben allen anderen auch dem höchsten, bisher fast immer auch leidendsten Typus des Menschen gilt und galt, noch so hoch anschlagen: in der Gesammt-Abrechnung gehören die bisherigen, nämlich souveränen Religionen zu den Hauptursachen, welche den Typus 'Mensch' auf einer niedrigeren Stufe festhielten,- sie erhielten zu viel von dem, was zu Grunde gehn sollte." (5,82,4-11).
Die "souveränen Religionen", die einseitig für die Leidenden "Partei" ergreifen, stehen einer "Erhöhung" des "Typus Mensch" im Wege, trotz aller Verdienste, die sie nicht zuletzt auch für den "höchsten, bisher fast immer auch leidendsten Typus des Menschen" hatten. Sie stehen nicht zuletzt auch gerade dadurch im Wege, daß sie, was Nietzsche besonders für die christliche Religion hervorhebt, an den "Symptomen" ansetzen, statt nach dem Vorbild des philosophischen Arztes bereits an der physiologischen Erkrankung des Menschen anzusetzen, und das heißt, die eigentlichen Ursachen des "physiologischen Hemmungsgefuhls" aus dem Weg zu räumen. Nach Nietzsches Auffassung sind die "souveränen Religionen" also letztlich auch nicht imstande, das "zu Grunde gehn" der "am Leben" Leidenden zu verhindern. Vielmehr verschlimmern sie die Krankheit, indem sie, insbesondere der asketische Priester, noch eine seelische Erkrankung, die "Sünde", hinzufügen. Die Formulierung "sie erhielten zu viel von dem, was zu Grunde gehen sollte" (5, 82,10-11) wirft schwierige Fragen auf. Was steckt in "sollte"!
Religion
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Kommt hier Nietzsches eigenes "Urteil" zum Ausdruck: enthält es seine Befürwortung des "zu-Grunde-gehens"? Oder stellt er nur als quasi teilnahmsloser Beobachter etwas fest? Wird hier das "zu-Grunde-gehen" gefordert, oder nur 'zur Kenntnis' genommen? Wir wollen diese Frage später wieder aufgreifen. Sie wirft auch die Frage auf: kann überhaupt geholfen werden? Und hier ist Nietzsche offenbar der Ansicht, daß auch die "souveränen Religionen" nicht über die dazu notwendigen Mittel verfügen. Ein HelfenWollen, das nicht über die geeigneten 'Hilfs-Mittel' oder gar nur über ungeeignete verfügen kann, erscheint ihm wenig 'hilfreich'. Nietzsche fährt dann wieder abwägend fort: "Man hat ihnen Unschätzbares zu danken; und wer ist reich genug an Dankbarkeit, um nicht vor alle dem arm zu werden, was zum Beispiel die 'geistlichen Menschen' des Christenthums bisher für Europa gethan haben! Und doch, wenn sie den Leidenden Trost, den Unterdrückten und Verzweifelnden Muth, den Unselbständigen einen Stab und Halt gaben und die Innerlich-Zerstörten und Wild-Gewordenen von der Gesellschaft weg in die Klöster und seelische Zuchthäuser lockten: was mußten sie ausserdem thun, um mit gutem Gewissen dergestalt grundsätzlich an der Erhaltung alles Kranken und Leidenden, das heißt in That und Wahrheit an der Verschlechterung der europäischen Rasse zu arbeiten? Alle Werthschätzungen auf den Kopf stellen - das mußten sie!" (5,82,11-24).
Die beiden Religionen haben "Unschätzbares" getan, wofür man ihnen nicht genug danken kann. Aber, indem sie einseitig für die "Leidenden und Kranken" Partei genommen haben, haben sie zu einer "Verschlechterung der europäischen Rasse" beigetragen, vor allem auch dadurch, daß sie "alle Werthschätzungen auf den Kopf gestellt haben. Die "europäische Rasse" meint hier den "europäischen Menschen" insgesamt. In der "Genealogie der Moral" spricht Nietzsche sinngemäß von der "Krankhaftigkeit im bisherigen Typus des Menschen" (5,366,16-17). Die "Verschlechterung" ist zunächst darin zu sehen, daß diese "Krankhaftigkeit" durch die Religionen nicht behoben, das heißt an der "rechten Stelle" angegangen wird, sondern vielmehr noch durch "schuldige" Mittel verschlimmert wird. Das haben wir schon gesehen. Und die "Verschlechterung" ist wohl weiterhin darin zu sehen, daß "alle Werthschätzungen auf den Kopf gestellt werden. Also in der Umwertung der "aristokratischen" Werte in die Werte des "asketischen Ideals", was Nietzsche gelegentlich auch als "Sklavenaufstand in der Moral" bezeichnet (5,268). Nietzsche gibt im Verfolg des
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Textes eine konkretere Beschreibung dieser Umkehrung "aller Werthschätzungen": die "geistlichen Menschen" "mußten": "die Starken zerbrechen, die großen Hoffnungen ankränkeln, das Glück in der Schönheit verdächtigen, alles Selbstherrliche, Männliche, Erobernde, Herrschsüchtige, alle Instinkte, welche dem höchsten und wohlgerathensten Typus 'Mensch' zu eigen sind, in Unsicherheit, Gewissens-Noth, Selbstzerstörung umknicken, ja die ganze Liebe zum Irdischen und zur Herrschaft über die Erde in Haß gegen die Erde und alles Irdische verkehren das stellte sich die Kirche zur Aufgabe und mußte es sich stellen, bis für ihre Schätzung endlich 'Entweltlichung', 'Entsinnlichung' und 'höherer Mensch' in Ein Gefühl zusammenschmolzen." (5,82,24-34). Die Kirche hat also einen Typus des "höheren Menschen" aufgestellt und durchgesetzt, der dem des "aristokratischen" Menschen geradezu entgegengesetzt ist. Dies führte zur Aufhebung der "Rangordnung und Rangkluft zwischen Mensch und Mensch" (5, 83,23-24), "bis endlich eine verkleinerte, fast lächerliche Art, ein Heerdenthier, etwas Gutwilliges, Kränkliches und Mittelmässiges, herangezüchtet ist, der heutige Europäer...". So der Schluß des Textes. (5,83,25-28). Die christliche Religion hat also, indem sie sich als "souveräne Religion" setzte, den "verkleinerten Menschen" gefördert und "herangezüchtet", für den sie nun auch noch alleinige Geltung als Wertmaßstab fordert. Sie hat dadurch, wie es im vorherigen Text hieß, der "großen Zahl", dem "Demokratismus der christlichen Instinkte" zum "Sieg" in Europa verholfen (6,232,4-6). Die christliche Religion hat eine umfassende soziale Umorientierung bewirkt, indem sie den "verkleinerten Menschen",
das
"Heerdenthier" zum alleingültigen Menschentyp in Europa machte. Trotz aller Verdienste, die Nietzsche den Religionen zuerkennt, ist dieses Resultat für ihn nicht annehmbar: die "Rangordnung zwischen Mensch und Mensch" darf für ihn nicht zugeschüttet werden. Dem "höheren Menschen" nach christlichem Zuschnitt setzt er, wie noch näher zu untersuchen sein wird, seinen aristokratisch orientierten Typus des "höheren Menschen" entgegen. Eine europäische Gesellschaft ohne "Rangordnung" ist für ihn nicht annehmbar. Aus dem soeben besprochenen Aphorismus 62 aus "Jenseits von Gut und Böse" wird schon deutlich, daß Nietzsche die Bedeutung der Religionen für Europa in einem immer wieder neu einsetzenden Abwägen des "Für und Wider" differenziert zu bestimmen versucht. Von einer einseitigen Ablehnung
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kann keine Rede sein. Ja, aufs "Ganze gerechnet" (um eine Formulierung Nietzsches zu gebrauchen) hat etwa die christliche Religion eine für die Entwicklung Europas unentbehrliche Rolle gespielt, wenn auch das "vornehme Ideal" dadurch, nur zeitweilig, wie Nietzsche hofft, in Bedrängnis geraten ist. Die christliche Religion hat sogar, wie Nietzsche wiederholt hervorhebt, zu einer Bereicherung und Vertiefung der "vornehmeren Rassen" beigetragen: '» "Wenn das Christenthum etwas Wesentliches in psychologischer Hinsicht gethan hat, so ist es eine Erhöhung der Temperatur der Seele bei jenen kälteren und vornehmeren Rassen, die damals obenauf waren; es war die Entdeckung, daß das elendste Leben reich und unschätzbar werden kann durch eine TemperaturErhöhung..." (12,564,31-564,3: H 87: 10/181/). In einem Text vom Sommer 1887 (Lenzer Heide, den 10. Juni 1887), in dem er die "Vonheile" der "christlichen Moral-Hypothese" herausarbeitet, geht Nietzsche sogar so weit, der christlichen Religion eine gewisse Bejahung des Lebens zuzuerkennen: "sie verhütete, daß der Mensch sich als Menschen verachtete, daß er gegen das Leben Partei nahm, daß er am Erkennen verzweifelte: sie war ein Erhaltungsmittel·, - in Summa: Moral war das große Gegenmittel gegen den praktischen und theoretischen Nihilismus." (12,211,19-23: 5/71/). Hier ist zwar nur von der "christlichen Moral-Hypothese" die Rede, aber diese ist natürlich in die christliche Religion eingebettet. Nietzsches
ist also durchaus um eine umfassende Einschätzung des
Phänomens Religion bemüht. Auch hier bewährt sich wieder seine "doppelte Optik", von der schon mehrmals die Rede war. Wenn er sich nun bemüht, dem "christlichen Ideal" ein eigenes, "vornehmes Ideal" entgegenzustellen, so soll dieses vor allem "umfänglicher" sein als das christliche: die breite, reiche Entwicklung des europäischen Menschen soll in ihm 'aufgehoben', das heißt bewahrt und weitergeführt werden. Fassen wir einige Punkte kurz zusammen: Religionen werden nach Nietzsches Auffassung von Völkern oder Ständen geschaffen. Ihre spezifische Ausprägung erhalten sie jedoch in Abhängigkeit von den jeweiligen sozialen und/oder physiologischen Zuständen dieser Völker oder einzelner ihrer Schichten. Aus dieser Sicht sind Religionen "Zeichensprachen". Die ethnische Herkunft an sich einer Religion besagt nicht unbedingt etwas über ihren Wert für eine "Erhöhung" des Menschen. Das "arische" "Gesetzbuch" Manu's wird
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wegen seiner "Mittel" als "unmoralisch" eingestuft. Die Ausbreitung von Religionen hängt ebenfalls in erster Linie von gesellschaftlichen sowie physiologischen Umständen ab. Der Einfluß der sich als "souverän" setzenden Religionen in Europa, insbesondere der christlichen Religion, wird von Nietzsche differenziert abwägend beurteilt. Er wird begrüßt, soweit sich ein Beitrag für eine neuerliche "Erhöhung" des europäischen Menschen feststellen läßt. Das Wort "Rasse" erscheint in den besprochenen Texten mit den Bedeutungen "Volk", "Stände" (die "Vornehmen") sowie "Mensch"/ "Menschentyp" (der europäische Mensch). In den interpretierten Texten stehen "Stände" und "Menschentypen" (etwa der "höhere Mensch", die "Heerdenthiere") im Mittelpunkt der Überlegungen, während Völker als solche nur eine untergeordnete Rolle spielen. Religion erscheint als "Zeichensprache", in der sich soziale (gesellschaftliche) und physiologische Verfassungen spiegeln.
Staat und Politik
Welche Rolle spielen "Rassen" in Nietzsches Äußerungen über Staat und Politik? Welche Bedeutung hat das Wort "Rasse" in diesen Äußerungen? Lassen sich Phänomene benennen, die Nietzsche in diesem Problemkreis für wichtiger hält, etwa Krankheit und Religion? Bei welchen Einzelfragen taucht das Wort "Rasse" auf? Auch im Abschnitt "Staat und Politik" gehen wir also von den Belegen aus, in denen das Wort "Rasse" erscheint. Daher können auch diese Analysen nur fragmentarisch sein. Es kann nicht darum gehen, den angedeuteten Fragenkreis in größerem Rahmen behandeln zu wollen.262 Obwohl also, gemäß der Fragestellung der Untersuchung, nur eine eingeschränkte Textauswahl herangezogen wird, kommen dennoch eine Reihe von Fragen zur Sprache, die für Nietzsches Denken eine große Bedeutung haben: so insbesondere das Problem des Übergangs von der Aristokratie zur Demokratie. Dem schließen sich Fragen an, die sich für Nietzsche beim Übergang von der Aristokratie zur Demokratie mit besonderer Dringlichkeit gestellt
262
Dazu vgl. Ottmann 1987 und Ansell-Pearson 1994.
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haben: Fragen der Rangordnung, der Einheit der Moral, sowie das Problem des Nationalismus. Auf Nietzsches Antwortversuche auf diese Fragen, wofür etwa die Stichwörter "große Politik", "neue" Aristokratie genannt werden können, soll erst in einem späteren Zusammenhang eingegangen werden. Es sei nochmals betont, daß diese Fragen hier nur aus dem Blickwinkel der vorliegenden Untersuchung angeschnitten werden. Die hier zu erzielenden Ergebnisse haben also einen sehr vorläufigen Charakter. Zum Problem des Niedergangs der Aristokratie und dem Aufkommen von Demokratie in Europa finden wir Texte mit Belegen des Wortes "Rasse" in "Jenseits von Gut und Böse" sowie in der "Genealogie der Moral". Das Druckmanuskript von JGB war 1885/6 abgeschlossen,263 die GM ist im Juli 1887 entstanden,264 also später als JGB, Aus diesen beiden Schriften sind hier für uns von Belang: (1) - aus JGB der Aphorismus 262, der schon im Abschnitt "Moral" besprochen wurde (2) - aus der GM: Buch I, Kapitel 5, das ebenfalls schon erörtert wurde, sowie: (3) - GM: Buch ffl, die Kapitel 12-21, die schon im Abschnitt "Krankheit" interpretiert wurden. Kürzere Erwähnungen finden sich im "Antichrist" (51) sowie in den Nachlaß-Fragmenten. Letztere tragen jedoch kaum neue Gesichtspunkte gegenüber der Darstellung in JGB und GM bei. Sie erörtern jedoch einzelne Aspekte des Übergangs von der Aristokratie zur Demokratie, auf die anschließend gesondert einzugehen ist (z.B. das Rang-Problem). Vergleichen wir die genannten drei Texte bzw. Textgruppen, dann läßt sich in Nietzsches Darstellung der Verursachung des Niedergangs der Aristokratie und des Aufkommens der Demokratie eine Verschiebung der Analysekategorien beobachten, die eine Zunahme an Komplexität erkennen läßt: In JGB (262) gründet sich die Aristokratie auf "ungünstige Existenzbedingungen", die gemeistert werden müssen, sowie auf das Moment des "be263 264
KSA-Kommentar 346. KSA-Kommentar 377.
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ständigen Kampfes", durch den man sich gegen feindliche Nachbarn behaupten muß. Auf dieser Basis ruht die "aristokratische" Moral, an der alle Teil haben. Alle sind "gleich" in ihrer Teilhabe an dieser Moral. Der Wegfall der Feinde, das Überflüssigwerden des Kampfes, das "Günstigerwerden" der Existenzbedingungen führen zur Auflösung dieser aristokratischen Gemeinschaft. Nun tritt das "Individuum" hervor, das sich selbst ein "Gesetz" geben muß. Das "Genie der Rasse" entfaltet sich (5,216,22). Die "Gefahr" als "Mutter der Moral", die vorher die aristokratische Gemeinschaft als ganzes zusammen band und die aristokratische Moral schuf, ist nun "ins Individuum verlegt" (5,216, 27). Die Einheit der Moral geht verloren, es bilden sich viele Moralen, ausgehend von Individuen. Die Gleichheit qua Moral geht verloren. In diesem Text ist zwar nicht explizit von Demokratie die Rede, aber es wird deutlich darauf angespielt, so wenn Nietzsche von den "Mittelmässigen" spricht, die die "Menschen der Zukunft" sind, "die einzig Überlebenden" (5, 217,1-3). In diesem Text bewirken die Änderung der Lebensbedingungen, das Entbehrlichwerden des Kampfes zur Daseinssicherung sowie das dadurch ermöglichte Hervortreten des Individuums und des "Genies der Rasse" den Übergang von der Aristokratie zur Demokratie. Von "Rassen" ist hier nicht die Rede, da mit der Formulierung "Genie der Rasse" der Mensch insgesamt gemeint ist. Von Krankheit ist auch nicht explizit die Rede, es sei denn, man dürfte in den Formulierungen vom "vielfältigeren, umfänglicheren Leben" (5, 216,15), das nun hervortritt, sowie vom "Verfall, Verderb" (5,216,21) Hinweise darauf sehen. Wie dem auch sei, wichtig ist, daß diesen Erscheinungen die Änderung der Lebensbedingungen sowie das Wegfallen des Kampfes vorausgehen. Diese sind also hier die primären "Ursachen" für die Auflösung der Aristokratie. In GM 1,5 wird der Übergang von der Aristokratie zur Demokratie in einen breiteren historischen Rahmen gestellt, in dem das Werden Europas skizziert wird. Für Europa, das als "altgemischtes Land" gilt (11,44,1), wird zunächst eine "vorarische" Bevölkerung angenommen (5,263,19). Diese "vorarischen Insassen" sind "dunkelfarbig" und "schwarzhaarig" (5,263,18-19). In einer jüngeren Besiedlungswelle werden diese "Insassen" von einer "arischen
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Eroberer-Rasse" unterworfen (5, 263,20), die sich durch ihre "blonde" Farbe "am deutlichsten" von den "Ureinwohnern" abhebt (5,262,20-21). Sie wird die "herrschende Rasse" (5, 263,19-20). Diese "Eroberer- und Herren-Rasse" begründet den ersten "Staat" "auf Erden" (5,324, 26), was nur mithilfe von "Gewaltakten" möglich war (5, 324,14-15), wenn die "bisher ungehemmte und ungestaltete Bevölkerung in eine feste Form" gebracht werden sollte (5,324,12-
14). Jedoch konnte sich diese "arische Eroberer-Rasse" nicht auf alle Zeiten behaupten: die "unterworfene Rasse" erhält "schließlich" "wieder die Oberhand" (5,263,33-34). Und zwar "in Farbe, Kürze des Schädels, vielleicht sogar in den intellektuellen und socialen Instinkten" (5,264,1-2). Und Nietzsche
fragt: "wer steht uns dafür, ob nicht die moderne Demokratie, der noch modernere Anarchismus und namentlich jener Hang zur 'Commune', zur primitivsten GesellschaftsForm, der allen Socialisten Europa's jetzt gemeinsam ist, in der Hauptsache einen ungeheuren Nachschlag zu bedeuten hat - und daß die Eroberer- und Herren-Rasse, die der Arier, auch physiologisch im Unterliegen ist?..." (5,264,2-9). In dieser Darstellung wird das Entstehen des Staates, der Aristokratie sowie Demokratie an den Machtkampf von "vorarischen Insassen" mit einer "arischen Eroberer-Rasse" geknüpft. Die "vorarischen Insassen" werden durch die "arische Eroberer-Rasse" erobert, unterdrückt und mit einem "Gewaltakt" in einen, den ersten Staat eingefügt, den man sich wohl als Aristokratie vorstellen darf. Auch hier spielt also das Moment des Kampfes bei der Begründung der Aristokratie, wie in JGB 262, eine zentrale Rolle. Jedoch bleiben hier die "Feinde" nicht außerhalb der Aristokratie, sie werden "einverleibt". Dies mag auch der Anlaß für den späteren Niedergang der "arischen Eroberer-Rasse" sein; die Notwendigkeit des Kampfes wird nach der Eingliederung der "vorarischen Insassen" in den herrschenden aristokratischen Staat geringer, der Zwang zum und die Übung im Kampf gehen verloren. Die "Herren" werden "schwächer" und die "unterdrückte Rasse" erhält so eine Gelegenheit, wieder die "Oberhand" zu bekommen. Bei der Beschreibung der beiden "Rassen", die hier um die "Oberhand" kämpfen, nähert sich Nietzsche in bedenklicher Weise der Rassenideologie im engeren Sinne an. Die beiden "Rassen" werden beschrieben über die Hautfarbe, die Haarfarbe, den Schädelbau, und weiterhin werden der "vorarischen" Be-
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völkerung, Hand in Hand mit ihrem Aussehen, gewisse "intellektuelle und sociale Instinkte" zugeschrieben, die dann als mögliche Ursache für die "moderne Demokratie" in Erwägung gezogen werden. Nach dieser Darstellung, und das heißt, soweit man nur diese Sachverhalte aus Nietzsches Text herausliest, wäre der Wandel der Staatsformen (Aristokratie, Demokratie) nur eine "Rassenfrage", "Rasse" im "modernen" Sinn verstanden. Jedoch werden in GM 1,5 noch weitere Themen angeschlagen. Die "arische Eroberer-Rasse" ist offenbar eine "starke" Rasse, denn sie schafft es, die "vorarischen Insassen" durch einen "Gewaltakt" in einen Staat einzuverleiben. Das ist das Moment des Kampfes wie in JGB 262. Nach dieser Staatengründung verliert der Kampf an Bedeutung, und dies führt Hann offenbar zu einer "Schwächung" der "arischen Eroberer-Rasse". Ihre "physiologische" Basis wird schwächer, wobei man, angesichts dessen, was Nietzsche über die "Krankhaftigkeit des bisherigen Typus des Menschen" sagt, wohl an eine physiologische Erkrankung eben dieser "arischen Eroberer-Rasse" denken darf. Somit wäre es eine Erkrankung, ein Schwächerwerden der "arischen ErobererRasse", die letztlich den "vorarischen Insassen" wieder die Möglichkeit gibt, die "Oberhand" aufs Neue zu gewinnen. Demnach wären in GM 1,5 letztlich dann auch die Momente Kampf bzw. Wegfallen des Kampfes sowie die damit zusammenhängende physiologische Verfassung für den Wechsel der Staatsformen verantwortlich zu machen. Dies wäre dann das grundlegendere Interpretationsmuster, das wir schon aus JGB 262 kennen, hier jedoch mit einer 'rassenideologischen' Einkleidung versehen. Daß Nietzsche diese Einkleidung vielleicht nicht ganz ernst gemeint haben könnte, geht aus zweierlei hervor: zum einen steht die ganze Passage über "Farbe", "Schädelform" und "intellektuelle und sociale Instinkte", die der "vorarischen" Bevölkerung zugeschrieben werden, sowie ihr möglicher Zusammenhang mit der "modernen Demokratie" zwischen Klammern: ( ). Also die Passage 5,263,33 - 264,9. Zum ändern steht ein Fragezeichen an ihrem Ende: "?" (5,264,9). Es könnte sich also um eine Art Einschub handeln, in dem Nietzsche eine Version der fraglichen Vorgänge, hinter der er selbst keineswegs steht, zur Diskussion stellt.
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Es dürfte also problematisch sein, in dieser Textpassage eine Wiedergabe von Nietzsches eigener Auffassung sehen zu wollen. Seine eigene Meinung gerade zu dieser Textpassage bleibt vielmehr weitgehend ausgespart. Es könnte sich bei dieser Textpassage um eine Anspielung auf Gobineau handeln, bei der jedoch eine Distanzierung Nietzsches nicht zu verkennen ist: alles in Klammer und mit einem Fragezeichen am Ende! Wir wollen auf die Frage nach Nietzsches Gobineau-Rezeption erst am Ende der Untersuchung etwas näher eingehen.265 Die bisherigen Analysen haben ja bereits deutlich werden lassen, daß bei Nietzsche nicht Völker ("Rassen") im Mittelpunkt der Betrachtung stehen, sondern eher Stände und Menschentypen, soziale und physiologische Zustände, Religionen, Moralen sowie das Moment des Kampfes. Für GM 1,5 könnte demnach festgehalten werden, daß auch hier das Moment des Kampfes eine zentrale Rolle spielt - wie in JGB 262, daß hier aber auch die physiologische Komponente ausdrücklich genannt wird ("physiologisches Unterliegen"), was in JGB 262 nicht der Fall war. In dritten Text, GM III, 12-21 wird dann die "Krankhaftigkeit im bisherigen Typus des Menschen" ganz in den Mittelpunkt gestellt. Zunächst die physiologische Erkrankung, die sich in gewissen Symptomen äußert, wie "Unlust" und "Depression", dann die Verschlimmerung dieser Erkrankung durch den asketischen Priester und seine "schuldigen" Mittel der Medikation, die nur/erst bei den Symptomen ansetzen. Diese sehr ausführliche Darstellung steht also in der gleichen Schrift wie der zuvor besprochene Text. Dies dürfte deutlich machen, daß GM 1,5, insbesondere die Textpassage in Klammern, eher als Episode zu werten ist, der Nietzsche hier seine eigene Sicht des Problems entgegenstellt. Demnach stehen für Nietzsche Veränderungen der physiologischen Grundlagen des Menschen im Vordergrund sowie Fragen ihrer richtigen oder falschen Medikation, wenn es um das Problem des Niedergangs der Aristokratie und der Entstehung der Demokratie geht. Zwar erscheint bei der Erörterung der "Abkünfte" des "physiologischen Hemmungsgefuhls" auch hier 265
Vgl. dazu im Anhang. Dort wird deutlich, daß Nietzsche sich wohl kaum in wichtigeren Punkten auf Gobineau gestützt haben dürfte.
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das Wort "Rasse", die genauere Analyse hat jedoch gezeigt, daß es dabei nicht primär um spezifische Völker ("Rassen") geht, sondern um überstürzten sozialen Wandel von Ständen und Völkern, um fehlende Anpassungskräfte bei Klimawechsel durch Emigration, um Ermüdungserscheinungen von Einzelnen und Völkern, um Fragen der richtigen Ernährung, sowie um durch Kriege verursachte und verbreitete Krankheiten. Eine Erkrankung des europäischen Menschen, die vielfältige Ursachen hat (Klima, Ernährung, Krieg, Emigration, sozialer Wandel) bildet den Ausgangspunkt für eine, in Nietzsches Augen, unheilvolle Entwicklung Europas, die dann maßgeblich durch den asketischen Priester beeinflußt wurde. Neben die Erkrankung tritt damit die Religion (das asketische Ideal). Dieses "Ideal" bildet für Nietzsche das "eigentliche Verhängniss in der Gesundheitsgeschichte des europäischen Menschen" (5,392, 21-23). Hatte schon der physiologisch erkrankte Mensch "im Kampf mit der Depression" seine Zuflucht in der "Heerdenbildung" gesucht (5,383,32-33), so bringt das Eingreifen des asketischen Priesters natürlich eine völlige Absage an die aristokratische Moral und damit an die Aristokratie. Der "starke" Mensch ist nun der "Böse", der geschwächte, sündenbewußte Mensch der "gute" Mensch. Die Aristokratie ist damit in weite Ferne gerückt, der Weg ist frei für eine Staatsform, in der nach Nietzsches Auffassung die "Mittelmässigen" den Ton angeben: die Demokratie. Vergleichen wir nun die drei Darstellungen, so zeigt sich, daß der Übergang von der Aristokratie zur Demokratie mit wachsender Komplexität analysiert und beschrieben wird: In JOB 262 steht das Moment des Kampfes im Mittelpunkt. Er bildet die Grundlage der aristokratischen Moral. Sein Überflüssigwerden fuhrt zur Auflösung dieser Moral, das Individuum tritt in Erscheinung und mit ihm viele Moralen. In GM 1,5 spielt ebenfalls der Kampf, der sich in Eroberungen äußert, eine große Rolle. Auch hier könnte sein Zurücktreten nach vollzogener Staatengründung mit ein Grund sein für ein Schwächerwerden der aristokratischen oberen Stände und damit für den Niedergang der Aristokratie. Daß die physiologische Verfassung hierbei eine Rolle spielt, wird von Nietzsche ausdrücklich erwähnt. In GM 111,12-21 wird dann die Erkrankung ausführlich erörtert, zunächst in ihren physiologischen Aspekten, sodann in ihrer Verschlimmerung durch den asketischen Priester. Damit tritt hier die Religion als weitere Komponente in
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der "Gesundheitsgeschichte" bzw. Krankheitsgeschichte des europäischen Menschen in Erscheinung. Alle Komponenten zusammen rühren zum Niedergang der Aristokratie und zum Entstehen der Demokratie. Bei einer breiteren Textbasis kämen wohl noch weitere "Ursachen" ans Licht, so etwa die Bedeutung der "Zähmung" des Menschen durch und in der "Cultur", wie sie etwa in dem Fragment "Anti-Darwin" zur Sprache kommt: "Dritter Satz: die Domestikation (die 'Cultur') des Menschen geht nicht tief... Wo sie tief geht, ist sie sofort die Degenerescenz (Typus: der Christ). Der 'wilde' Mensch (oder, moralisch ausgedrückt: der böse Mensch) ist seine Rückkehr zur Natur- und, in gewissem Sinne,- seine Wiederherstellung, seine Heilung von der 'Cultur'..." (13,317,24-19).
Die vorhergehende Erörterung gilt also nur für die genannten drei Texte. In diesen wird der moderne Rassebegriff zwar gestreift, jedoch räumt ihm Nietzsche in seiner eigenen Erörterung und Auffassung des Übergangs von der Aristokratie zur Demokratie keinen nennenswerten Raum ein. Wichtiger sind Kampf, Krankheit und Religion, die nicht an bestimmte Völker gebunden sind. Nietzsche faßt den Übergang von der Aristokratie zur Demokratie als eine Bedrohung für den Typus Mensch auf. Indem der "mittelmässige" Mensch als Norm gesetzt wird und der "aristokratische" Mensch auf die Seite geschoben wird, wird der Blick auf die Rangordnung und auf eine mögliche und wünschenswerte "Erhöhung" des Menschen verstellt. Die Bezogenheit aller Menschen einer Gemeinschaft auf eine Oben' angesiedelte aristokratische Moral geht verloren. Die so verstandene 'Gleichheit' der Menschen verschiebt sich zugunsten einer 'Gleichheit' auf einer niedrigeren Ebene des "Mittelmasses", sofern nicht auch diese verlorengeht in den unterschiedlichen Moralen der autonom gewordenen Individuen. Der Ausdruck 'Gleichheit' ist also bei Nietzsche zunächst hier auf die Ebene der Moral(en) bzw. Werte bezogen, die jeweils geteilt oder nicht geteilt werden. Daß in der Aristokratie alle auf die eine Moral bezogen sind und insofern 'gleich' sind, schließt aber offenbar nicht aus, daß es auf unterschiedlicher sozialer Stufe mehrere Stände geben kann. Darauf ist noch zurückzukommen. Gemeinsam ist diesen aber, daß sie alle auf die eine, obere Ordnung der Werte bezogen bleiben. In der Demokratie wird diese eine, für alle gültige Bezugsebene nach unten verlegt, auf eine mittlere Ebene. Die
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Gleichheit besteht nun darin, daß alle auf diese Ebene bezogen sind. Da die obere Ebene in der Demokratie ihre 'maßgebende' Funktion eingebüßt hat, ist der Raum, in dem sich der Mensch nun darzustellen hat, 'flacher' geworden. Die Dimension für eine "Erhöhung" des Menschen ist verloren gegangen, und damit der Raum für "Rangordnung". Schon aus dem Text JOB 262 ging hervor, daß Nietzsche für eine Aristokratie offenbar eine Moral bzw. Wertordnung auf einer oberen Ebene, eben der aristokratischen, die für alle Geltung beansprucht, anzunehmen scheint. Ganz explizit wird das in einem Fragment vom Sommer 1880 gesagt, ohne daß allerdings ausdrücklich von Aristokratie die Rede ist: "Es giebt so viele Moralen jetzt: der Einzelne wählt unwillkürlich die, welche ihm am nützlichsten ist(...) - Ehemals, wo die Leute Einer Rasse gleich waren, genügte auch Eine Moral." (KSA 9,124,17-18 und 21-22). Die übrigen Teile des Textes lassen jedoch vermuten, daß Nietzsche hier einen ähnlichen Prozeß des Niedergangs einer aristokratischen Gesellschaft im Auge hat, wie in JGB 262 angedeutet wurde. Es heißt nämlich: "Es giebt so viele Moralen jetzt: der Einzelne wählt unwillkürlich die, welche ihm am nützlichsten ist (er hat nämlich Furcht vor sich selber) d.h. er muß den Irrthum umarmen, im Grade darnach, daß er ein gefährliches Thier ist." (9,124, 17-19). Dies erinnert stark an das "Genie der Rasse", von dessen Freisetzung nach der Auflösung der aristokratischen Kampf-Gemeinschaft in JGB 262 die Rede
war. Nach der Auflösung der aristokratischen Gemeinschaft tritt das Individuum als "gefährliches Thier" in den Vordergrund, in ihm entfaltet sich das "Genie der Rasse" und schafft sich Nützlichkeits-Moralen. Hier könnte etwa an das englische Manchestertum gedacht sein.266 Da es keine gemeinsame verbindliche Moral mehr gibt, sind die "Leute" auch nicht mehr in dieser Hinsicht "gleich": "Jetzt sind die Menschen sich sehr ungleich*. Es giebt mehr Individuen als je, man lasse sich nicht täuschen! Nur so malerisch und grob sichtbar sind sie nicht, wie früher." (9,124,23-25). An die Stelle der einen maßgeblichen aristokratischen Moral treten "viele", auf individuelle Nützlichkeit gerichtete Moralen. Und diese Moralen stuft
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Dazu eingehender Marti 1993, 182 f.
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Nietzsche als Moralen des Mittelmaßes, als Moralen der "Mittelmässigen" ein. Der obere Moralkanon hat seine Verbindlichkeit verloren, die NützlichkeitsMoralen der Individuen siedeln sich auf einer mittleren Ebene an. Weitere Texte können dieses Bild ergänzen. In einem Fragment von AprilJuni 85 (KSA 11,475-6: 34/163/) benützt Nietzsche das Bild des Bogens und seiner Spannung bzw. Entspannung, um den Übergang von einer aristokratischen zu einer demokratischen Gesellschaft zu veranschaulichen. Dabei geht er aus von dem "Druck", der in einer Gesellschaft vorhanden ist und ausgeübt wird. Dieser ist in einer Aristokratie, wie sie in JGB 262 beschrieben wurde, hoch: der Kampf, der dort notwendig war zur Daseinssicherung gegenüber den feindlichen Nachbarn, erzeugte einen "Druck" in dieser Gesellschaft. Sie braucht "Härte" (5,215,12): "ja sie will die Härte; jede aristokratische Moral ist unduldsam, in der Erziehung der Jugend... in den Ehesitten... in den Strafgesetzen..." (5,215, 12-15).
Ein solcher "Druck" wird von Nietzsche sogar dann begrüßt, wenn er nicht mehr von einer Aristokratie, sondern etwa von der Kirche ausgeht. Und damit kommen wir zu dem eben genannten Fragment zurück: "Der kirchliche Druck von Jahrtausenden hat eine prachtvolle Spannung des Bogens geschaffen, insgleichen der monarchische" (11, 475,20-22).
Und damit wurden auch hier, nach Nietzsches Auffassung, Voraussetzungen für Rangordnung geschaffen, die jedoch nicht genutzt wurden. Denn, "statt mit dem Bogen zu schießen", liefen die "beiden Entspannungen" nur hinaus auf 1) "den Jesuitism" und 2) "die Demokratie" (11,475,22-23). Dazu bemerkt Nietzsche, daß ihm Gesellschaften, in denen "Druck" herrscht, lieber seien als solche "Entspannungen": "Ich bin zufrieden mit despotischen Zuständen, vorausgesetzt, daß man mit gemischten Rassen zu thun hat, wo immer eine Spannung überhaupt gegeben ist." (11,475,25-28).
Lieber ist ihm also eine Gesellschaft, in der es "gemischte Rassen", das heißt hier unterschiedliche soziale Stände und die daraus resultierende "Spannung" gibt, als eine Demokratie, in der diese spannungserzeugenden sozialen Unterschiede angeblich (Nietzsche hat gewisse Zweifel daran, wie wir noch sehen werden) beseitigt sind. Denn Spannung ist nach seiner Meinung die Voraussetzung für Rangordnung und für eine "Erhöhung" des Menschen. Nach
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Nietzsches Einschätzung ist die "europäische Demokratie" nicht einmal durch "Entfesselung" von durch Spannung erzeugten "Kräften" zustande gekommen (11,475,30), "sondern [sie ist] vor Allem eine Entfesselung von Sich-gehen-lassen, von Bequemhaben-wollen, von inneren Faulheiten." (11,475,30-476,3).
Das heißt, nicht einmal die durch "kirchlichen" und "monarchischen Druck" geschaffene "prachtvolle Spannung des Bogens" konnte die dadurch gesammelten "Kräfte" an die Demokratie weitergeben. Die Demokratie hätte also sogar aus dem "kirchlichen und monarchischen Druck" noch Vorteile ziehen können, was sie aber leider versäumt hat. Die "Spannung des Bogens" verbindet also immerhin so verschiedene Organisationsformen wie Aristokratie, Kirche und Monarchie. Dieser "Spannung" zuliebe könnte Nietzsche sich sogar mit den letzteren anfreunden. "Spannung" meint bei Nietzsche auch "sich-nicht-gehen-lassen". Das hatte er gerade bei den Griechen und den Franzosen des 17. Jahrhunderts als "Vornehmheit" gelobt. Eine Staatsform, die, wie die Demokratie, sich "gehenlässt" und es "bequem haben" will, kann daher nicht "vornehm" sein oder werden, ihr fehlt die "Spannung". Das Verlorengehen der "Spannung" ist also auch als ein Absinken und Flacherwerden des Entfaltungsraums des Menschen zu werten. Beim Übergang von der Aristokratie zur Demokratie gehen also der obere Werte-Kanon sowie die "Spannung" verloren: femer macht sich "Tartüfferie" breit: die Demokratie wird zur "Schauspielerei" (11,603,15). In dem Fragment "Die Moral in der Werthung von Rassen und Ständen" arbeitet Nietzsche zunächst heraus, daß die Verteufelung der aristokratischen Moral im Namen einer "Forderung der 'Vermenschlichung'" keinen Gewinn für die Moral bringt, sondern daß sich dahinter der "Heerdeninstinkt" verbirgt: daß diese Forderung daher als eine "Tartüfferie" zu gelten habe (KSA 12,437439: H 87: 9/173/). Nietzsche fuhrt aus: "Worin eine gegnerische Rasse oder ein gegnerischer Stand seine Stärke hat, das wird ihm als sein Bösestes, Schlimmstes ausgelegt: denn damit schadet er uns (- seine 'Tugenden' werden verleumdet und umgetauft)" (12,437,30-438,2).
Dies zielt auf die Umwertung der aristokratischen Werte "gut/schlecht" in die Werte "gut/böse" (GM I), die dann in der Demokratie zur alleinigen Geltung
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gelangen. Nietzsche sieht in dieser "Forderung der 'Vermenschlichung"1 eine "Tartüfferie": "Die Forderung der 'Vermenschlichung' (welche ganz naiv sich im Besitze der Formel 'was ist menschlich?' glaubt) ist eine Tartüfferie, unter der sich eine ganz bestimmte Art Mensch zur Herrschaft zu bringen sucht: genauer, ein ganz bestimmter Instinkt, der Heerdeninstinkt." (12,438,7-12).
Hinter der "Forderung nach 'Vermenschlichung'" verbirgt sich also der "Heerdeninstinkt", der sich "zur Herrschaft" zu bringen sucht. Diese "Forderung" ist daher Heuchelei: "Tartüfferie11.267 Die Demokraten benützen diese Forderung nach "Vermenschlichung" also nur als Vorwand, hinter dem sie ihre "Nützlichkeitsinteressen" verbergen. Sie sind "Schauspieler" (11,603,15), und die "Socialisten" sind sogar "DreivierteisSchauspieler" (11,586,3). Beim Übergang zur Demokratie geht also auch die "Redlichkeit", die 'Tugend' der "Vornehmen", verloren.268 In dem Hervortreten des Individuums, von dem ja schon mehrmals die Rede war, sieht Nietzsche einen weiteren Bereich, in dem die Gesellschaft durch die Demokratie einen Verlust erleidet: die "gesellschaftliche Rasse", also der "Heerdenmensch" verdrängt die Vornehmen und Einsamen. Dies ist das Thema des Fragments 40/26/ (KSA 11,642-3: Aug/Sept 85). Zunächst legt Nietzsche dar, daß das "Individualistische" und die "Forderung gleicher Rechte" sich nicht widersprechen, sondern in die gleiche Richtung gehen: "Scheinbar entgegengesetzt die 2 Züge, welche die modernen Europäer kennzeichnen: das Individualistische und die Forderung gleicher Rechte: das verstehe ich endlich. Nämlich, das Individuum ist eine äußerst verwundbare Eitelkeit: - diese fordert, bei ihrem Bewußtsein, wie schnell sie leidet, daß jeder andere ihm gleichgestellt gilt, daß er nur inter pares ist. Damit ist eine gesellschaftliche Rasse charakterisiert, in welcher thatsächlich die Begabungen und Kräfte nicht erheblich auseinandergehen. Der Stolz, welcher Einsamkeit und wenige Schätzer will, ist ganz außer Verständniss; die ganz 'großen' Erfolge giebt es nur durch Massen, ja man begreift es kaum noch, daß ein Massen-Erfolg immer eigentlich ein kleiner Erfolg ist: weil Pulchrum estpaucorum hominum." (11,642,1-13).
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Marti (1993, 107) weist in diesem Zusammenhang daraufhin, daß schon Schopenhauer der "modernen Gesellschaft" ihre "Maskerade" vorwirft. Vgl. Van Tongeren 1989, 115-132.
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Die Individuen, die "gleiche Rechte" fordern, legen also ihr Maß auf die mittlere Ebene, "in welcher thatsächlich die Begabungen und Kräfte nicht erheblich auseinandergehen". Dort können sie "Erfolge" feiern: bei den "Massen", deren Niveau sie sich anpassen müssen, wenn sie "große", d.h. Massen-Erfolge haben wollen. Das wirklich "Große" ist in die "Einsamkeit" verwiesen und wird an den Rand gedrängt: "Das Individual-Princip lehnt die ganz großen Menschen ab und verlangt, unter ungefähr Gleichen [auf der mittleren Ebene: GS], das feinste Auge und die schnellste Herauserkennung eines Talentes; und weil Jeder etwas von Talenten hat, in solchen späten und civilisirten Culturen, also erwarten kann, sein Theil Ehre zurückzubekommen, deshalb findet heute ein Herausstreichen der kleinen Verdienste statt wie niemals noch: - es giebt dem Zeitalter einen Anstrich von grenzenloser Billigkeit." (l 1,642,15-23).
Der Geschmack und die Werte werden auf ein mittleres Niveau festgelegt, das für jeden erreichbar ist. Die Wertschätzung für das "Große", das diese Ebene überragt, geht verloren. Daher kommt Nietzsche, wenn die Forderung "gleicher Rechte" auf dieses mittlere Maß hinausläuft, zu dem Urteil: "Die Forderung gleicher Rechte (z.B. über Alles und Jeden zu Gericht sitzen zu dürfen) ist anti-aristokratisch." (11,642,26-28).
Das "Individual-Princip" und die "Forderung gleicher Rechte", die für die Demokratie kennzeichnend sind, laufen also auf die Herrschaft der "gesellschaftlichen Rasse" hinaus, die Vorherrschaft der "Mittelmässigen". Sie sind "anti-aristokratisch": sie verdrängen und verstellen das ganz "Große", das zugleich ein "Einsames" ist. Wieder wird also durch Demokratie der Entfaltungsraum des Menschen, die "Rangordnung" reduziert und "verkleinert". Sie befördert die "Verkleinerung" des Menschen. Aus diesen Analysen zum Rangproblem beim Übergang von der Aristokratie zur Demokratie ergibt sich, daß die für die Aristokratie kennzeichende Orientierung der Werte auf einer oberen, aristokratischen Ebene in und durch die Demokratie in vielfacher Weise in Frage gestellt und entwertet wird. In der Demokratie wird der Maßstab auf eine mittlere Ebene verlegt, die "Spannung", die große Menschen und Taten ermöglicht, geht verloren, wie auch die vornehme Tugend der Redlichkeit; und eine "gesellschaftliche Rasse", die nun den Ton angibt, bestimmt nun, was "groß" ist. All dies bedeutet und bewirkt eine
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"Verkleinerung" des Menschen durch die Demokratie. Der Sinn für "Rang" und "Rangordnung" kommt abhanden. Das Wort "Rasse" erscheint in den zum Rangproblem besprochenen Texten mit den Bedeutungen "Volk" (hier aristokratische Gemeinschaft), soziale Stände (allgemein und aristokratischer Stand), sowie in der Formulierung "gesellschaftliche Rasse" mit der Bedeutung "Heerdenmensch", die "Mittelmassigen". Das Aufkommen der scheinung im Gefolge, drücklich kritisiert wird: Nationalstaaten und, in
Demokratie in Europa hatte noch eine weitere Erdie von Nietzsche ebenfalls und wiederholt nachdas Entstehen von Nationen im modernen Sinn, von letzter Konsequenz, des Nationalismus.269 Seit der
französischen Revolution verstanden sich die Völker als "Souverän" des Staates und seiner Politik. Teil des Staates war nur, wer zum Staatsvolk gehörte. Ein neues Identitätsbewußtsein entstand und mit ihm das Bedürfnis, den eigenen Staat und das eigene Volk von anderen, 'fremden' Völkern und Nationen abzugrenzen. Zwar wurde die Volkszugehörigkeit zunächst nur nach der gemeinsamen kulturellen Teilhabe gemessen. Im späten 19. Jahrhumdert wurde jedoch immer stärker die Forderung laut, die Zugehörigkeit vom gemeinsamen "Blut" abhängig zu machen, von der gemeinsamen "Rasse", das Wort nun im modernen Sinn verstanden. In Deutschland wurde diese Forderung von den extremen Nationalisten wie etwa Dühring, Stoecker, Lagarde erhoben, die wir schon als 'Antagonisten' Nietzsches kennengelernt haben.270 Diese extreme Form des Nationalismus ging, da nun z.B. die Juden als eigne Rasse definiert wurden (Dühring), mit dem Antisemitismus Hand in Hand. Auch hierzu haben wir Nietzsches Proteste schon kennengelernt, der ja seinerseits unbedingt mit den Juden zusammen das neue Europa bauen will. Als Vorreiter für ein solches Europa galt Nietzsche Napoleon. Es sollte ein Europa jenseits der Nationen sein. Dieses Europa hatte es, vor dem Erwachen der Nationen, schon einmal gegeben.271 Das Entstehen der Nationen, und 269 270 271
Auch Burckhardt sah nach der französischen Revolution und dem Hervortreten von 'Nationen' einen "steigenden Nationalismus" um sich greifen. Vgl. bei Marti 1993, 65. Zu den genannten Personen vgl. im Namensregister. So auch Harry Graf Kessler. Dazu Grupp 1995, 9. Sein Bild Europas war kosmopolitisch, international, übernational.
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schließlich des Nationalismus, wurde von Nietzsche also eher als Rückschritt, keineswegs als Fortschritt gesehen. So wird seine Kritik etwa an der "Deutschthümelei" und an der "Vaterländerei" verständlich. Während Demokratien (und auch schließlich Monarchien) sich immer stärker national und nationalistisch gebärdeten, war die alte Aristokratie, nach Nietzsches Auffassung, europäisch orientiert. Diese aristokratische, über- und internationale Komponente schwingt also, so glauben wir, immer in Nietzsches Europaauffassung mit.272 Wie bereits angedeutet, betrachtet Nietzsche die moderne Nationenbildung und ihre Abgrenzungsbemühungen mit Mißtrauen. In einem Fragment vom September 1876 geht er ausführlicher auf dieses Phänomen ein (KSA 8,318319: 18/197). Er sieht hier machtpolitische und "kaufmännische Interessen" am Werk, hält es für ein "blindes Vorurtheil" zu glauben, "es seien die Racen und die Verschiedenheit der Abstammung, was jetzt die Nationen zu Großstaaten umbildet." (8,319,6-9). Der Text setzt mit folgender Überlegung ein: "Was kann das Motiv für die jetzt geforderte Abschliessung der Nationen von einander sein, während doch alles Andere auf Verschmelzung derselben hinweist? Ich glaube dynastische Interessen und kaufmännische Interessen gehen da Hand in Hand." (8,318,21-25).
Nach seiner Auffassung ist also der Weg zu einem offenen 'vereinten' Europa angezeigt, wie ihn - seiner Meinung nach - Napoleon zu gehen versuchte. Statt dessen werde die "Abschliessung der Nationen von einander" gefordert. Hinter dieser Forderung vermutet Nietzsche "dynastische... und kaufmännische Interessen" (und andere, wie sich gleich zeigen wird). Was damit gemeint sein könnte, wird deutlicher, wenn man sich daran erinnert, daß Preußen-Deutschland zunächst eine gewisse, alle deutschen Gebiete umfassende politische und staatliche Einheit anstrebte, u.Z. dadurch, daß zunächst eine alle diese Gebiete umfassende Zoll- und das heißt Handelsgemeinschaft
272
Wir werden noch sehen, daß Nietzsche für Europa "internationale Werte" fordert. Für nationalistisch und antisemitisch eingestellte Intellektuelle und Politiker in Deutschland und Österreich war das Wort 'international' ein Schimpfwort. Für den österreichischen Agitator Schönerer sollte die Kunst 'völkisch' sein, die 'internationale" Wiener Moderne qualifizierte er als 'jüdisch' ab. Vgl. Hamann 1996, 347.- Die Berliner antisemitischen Studenten der 80-ger Jahre hatten den Wahlspruch: "Hier deutschnational, dort jüdisch-international". Vgl. Kampe 1988, 236, Anm. 23.- Hitler ist bei den Wiener Agitatoren in die Schule gegangen. Vgl. Hamann 1996, passim.
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errichtet wurde, die den Handel im Innern erleichtern sollte und zugleich, durch Errichtung der Zollschranken, die kaufmännischen Gewinnchancen nach Außen, d.h. mit und gegenüber den angrenzenden 'fremden' Nationen verbessern sollte. Preußen-Deutschland ist auf diesem Wege zunächst als Zollgemeinschaft zustande gekommen. Diese Zollgemeinschaft diente natürlich auch den preußischen "dynastischen" Interessen. "Dynastische und kaufmännische Interessen" gingen hier also "Hand in Hand". Sie sollten eine Stärkung des preußischen Staates als Nation bringen und sie brachten dabei zugleich eine "Abgrenzung" dieser Nation gegen andere Nationen mit sich.273 Neben diesen Kräften sieht Nietzsche noch andere am Werk: "Sodann benutzen alle liberalen Parteien die nationale Abschliessung als einen Umweg, um das sociale Leben freier zu gestalten. Während man grosse Nationalstaaten aufbaut, wird man viele kleinere Machthaber und den Einfluss einzelner bedrückender Kasten los..." (8,318,25-319,4).
Auch dies könnte auf Preußen und die deutschen Zustände anspielen. In den damaligen deutschen Ländern und später in Preußen waren die "liberalen Parteien" stark national gesinnt und in dem Sinne "liberal", daß sie für die deutschen Länder eine politische und staatliche Einheit forderten, die vor allem "frei" sein sollte von französischer Bevormundung. Zu diesem Zweck wurden die "Befreiungskriege" gegen Napoleon gefuhrt, die Nietzsche wiederholt als einen Irrweg ablehnt. Und zusätzlich wollten die "Liberalen" durch die staatliche Einswerdung den Druck der bisher in den zahlreichen deutschen Ländern regierenden Fürsten loswerden, also den Druck der "vielen kleineren Machthaber" und "einzelner bedrückender Kasten". Hier wird greifbar, daß die Bildung der "großen Nationalstaaten" natürlich auch eine Beschneidung der Stellung und Macht der aristokratischen Stände mit sich brachte. "Dynastische", "kaufmännische" und national-"liberale" Interessen verstärken ihre Position auf Kosten der aristokratischen Kräfte. Nietzsche sieht dahinter eine Dynamik am Werk, die auch bei der Bildung der "Großstaaten" nicht stehen bleiben dürfte: "dabei versteht sich von selbst, daß dieselbe Macht, welche jetzt den Kleinstaat zertrümmern muß, einstmals den Großstaat zertrümmern muß." (8,319,4-6).
273
Vgl. Henderson 1958, 231.
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Der "Gang der Cultur"
Er sieht also in der angedeuteten Entwicklung den Weg zu imperialistischen Unternehmungen vorgezeichnet, wie er sie an anderer Stelle den Hohenzollern und insbesondere Bismarck wiederholt vorwerfen wird. Das ist eine Art der "großen Politik", die Nietzsche ausdrücklich ablehnt. Seine eigene "große Politik" läuft genau auf das Gegenteil hinaus: auf ein vereintes Europa - ohne "Nationalstaaten". Jedoch dazu später mehr. In all den angedeuteten Entwicklungen sind also nach Auffassung Nietzsches Macht- und Nützlichkeitsinteressen am Werk, nicht jedoch "Racen und die Verschiedenheit der Abstammung": "Ein blindes Vorurtheil ist es dagegen, es seien die Racen und die Verschiedenheit der Abstammung, was jetzt die Nationen zu Großstaaten umbildet." (8,319,6-9).
Diese letzte Feststellung könnte dreierlei besagen: Zum einen eine Kritik an solchen Nationalisten, die hier "Race" und "Abstammung" am Werk sehen wollen und dadurch den Blick für die wirklich wirksamen Kräfte vernebeln (Dühring, Treitschke) und zugleich das politische und geistige Klima vergiften. Zum zweiten wird hier festgestellt, daß "Race" und "Abstammung" keineswegs so wichtig sind, daß sie für solche Prozesse verantwortlich gemacht werden könnten. Zum dritten könnte hier eine gewisse Genugtuung Nietzsches zum Ausdruck kommen darüber, daß eben "Race" und "Abstammung" - Gott sei Dank - keineswegs eine solche Bedeutung für die Gesellschaft haben. Wer dies annimmt, unterliegt einem "blinden Vorurtheil". Nicht "Race" und "Abstammung" steuern die Geschichte, sondern Macht- und Nützlichkeitsinteressen.274 Das Wort "Race" könnte hier, in Verbindung mit "Abstammung", und wenn wir an die wahrscheinlich angesprochenen Schriftsteller wie Dühring und Treitschke denken, eine moderne Bedeutung haben: "Rasse" als "Abstammungs- und Blutsgemeinschaft" mit jeweils kennzeichnenden vererbten Eigenschaften etc. Aber dieser Rassebegriff wird hier, sowie seine unterstellte große Bedeutung für die Enwicklung der menschlichen Gesellschaft, ausdrücklich als "blindes Vorurtheil" zurückgewiesen.
274
Zur Rolle des wirtschaftlichen Liberalismus als Basis für Demokratisierungsbestrebungen im 19. Jahrhundert vgl. Marti 1993, 96 f.
Staat und Politik
215
In einem etwas früheren Text (KSA 8,306; S 76: 17/55/) befürwortet Nietzsche es, die Schranken hinwegzuheben, "welche bisher einer Verschmelzung der Menschen im Wege stehen" (8,306,21-23). Dabei werden ausdrücklich auch die "Rassenvorurtheile" erwähnt: "Religionen Staaten monarchische Instinkte Reichthums- und Armutsillusionen, Gesundheits- und Rassenvorurtheile- usw." (8,306,23-25). Dies sei eine Aufgabe für "zukünftige Denker", für die "betrachtende Freigeister" Vorarbeit leisten könnten. (8,306,17-21).
Zu den "bösen kleinlichen Neigungen", die überwunden werden müssen, rechnet er an anderer Stelle "Vaterland, Rasse". Und dies sei nur die "erste Stufe" auf dem Weg "zur Wahrheit" (KSA 11,160,13-17: S/H 84: 26/487). Und in einem Fragment von Ende 86/Frühjahr 87 mit dem Titel "Kritik der Vaterländerei", das viele Themen des oben eingehender besprochenen Textes vom September 76 (KSA 8,318-9) wieder aufnimmt, verurtheilt er nochmals nachdrücklich die "Vaterländerei" und plädiert für "internationale Werthe" (KSA 12,310-1: 7/47/): "Kritik der Vaterländerei·, wer über sich Werthe fühlt, die er hundert Mal höher nimmt als das Wohl des 'Vaterlands', der Gesellschaft, der Bluts- und Rassenverwandtschaft,- Werthe, die jenseits der Vaterländer und Rassen stehen, also internationale Werthe - der würde zum Heuchler, wenn er den 'Patrioten' spielen wollte. Es ist eine Niederung von Mensch und Seele, welche den nationalen Haß bei sich aushält (oder gar bewundert und verherrlicht): die dynastischen Familien beuten diese Art Mensch aus,- und wiederum giebt es genug Handels- und Geschäftsklassen (auch natürlich die käuflichen Hanswurste, die Künstler), die ihre Förderung gewinnen, wenn diese nationalen Scheidewässer wieder die Macht haben. Thatsächlich ist eine niedrigere Species zum Übergewicht gelangt--" (12, 310,23-311,5).
Dieser Text ist deutlich genug in seiner Aussage. Zwischen ihm und dem vorher herangezogenen Text vom September 76 üegen 10 Jahre, so daß hier die Kontinuität in Nietzsches Einstellung gegenüber der "Vaterländerei" deutlich wird. Die Bemerkung über die "käuflichen Künstler" könnte auf Wagner anspielen, auf seine allzu-"deutschen" Musikdramen und seinen Antisemitismus: er hatte auch ein Pamphlet über "Das Judentum in der Musik" veröffentlicht.275
275
Zu diesem Pamphlet vgl. Wagner im Namensregister.
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Der "Gang der Cultur"
Nietzsche plädiert für "internationale Werthe", die "hundert Mal höher" stehen als "Vaterland", "Bluts- und Rassenverwandtschaft". Diese sollten wohl in seinem neuen Europa verwirklicht werden.276 Stellen wir die Ergebnisse dieses Abschnitts für das Wort "Rasse" kurz zusammen. Bei der Erörterung des Übergangs von der Aristokratie zur Demokratie streift Nietzsche in einer Episode in Klammem und mit Fragezeichen einmal den modernen Rassebegriff. Für seine eigene Analyse dürften jedoch die Konzepte Kampf (und dessen Wegfall), physiologische Verfassung (Gesundheit/Erkrankung) sowie der Einfluß der Religion entscheidend sein. Diese Phänomene sind nicht an bestimmte Völker gebunden. Im Zusammenhang mit dem Rangproblem erscheint das Wort "Rasse" immer in der Bedeutung "Stände" ("Schichten") einer Gesellschaft. Die Formulierung "gesellschaftliche Rassen" verweist auf den "Heerdenmenschen." In seinen kritischen und ablehnenden Äußerungen zur "Vaterländerei" scheint Nietzsche wiederum auf den modernen Rassebegriff anzuspielen. Dieser kann und darf jedoch, seiner Meinung nach, im Leben der Völker und in Europa keinerlei Rolle spielen. Für ihn gelten hier "Werthe", die "hundert Mal" "höher" stehen "als das Wohl des 'Vaterlands', der Gesellschaft, der Bluts- und Rassenverwandtschaft": "internationale" Werte.- "Bluts- und Rassenverwandtschaft" können keine Basis abgeben für jene Werte, die er in Staat und Politik zur Geltung bringen möchte.
Vernunft, Sprache und Musik
Bei Nietzsche finden sich nur wenige Texte, in denen in Erörterungen über Vernunft und Sprache das Wort "Rasse" erscheint. Da sie jedoch wichtige Aussagen enthalten, sollen sie kurz besprochen werden. Zahlreicher sind Texte, in denen einzelne Musiker quasi als Vertreter ihrer Völker charakterisiert werden, wobei aber meist nicht von "Rassen" die Rede ist. Die letzteren Texte können als Ergänzungen zu den in Kapitel 2 gegebenen Völkerbeschreibungen
276
Dazu schon Anm. 272.
Vernunft, Sprache und Musik
217
gesehen werden. Von ihnen soll nur eine Auswahl exemplarisch erwähnt werden. Im Abschnitt über Moral haben wir gesehen, daß Nietzsche Moralen als "Zeichensprachen" begreift von "Vorgängen des physiologischen Gedeihens und Missrathens" (12,149,9-12). Moralen drücken physiologische Zustände von Völkern und Ständen aus. Sie sind geworden und können sich, Hand in Hand mit den physiologischen Zuständen, ändern. Sie können demnach keine Geltung unabhängig, quasi "a priori", von diesen Zuständen beanspruchen. Etwas ganz Ähnliches scheint Nietzsche auch für die "Kategorien der Vernunft" anzunehmen, auf die er z.B. in dem Fragment 14/1057 (KSA 13, 282-3: F 88) eingeht. Zunächst wird erörtert, daß eine Moral dadurch eine "dominirende" Stellung gewinnen kann, daß ihre "Herkunft vergessen" wird: "eine Moral, eine durch lange Erfahrung und Prüfung erprobte, bewiesene Lebensweise kommt zuletzt als Gesetz zum Bewußtsein, als dominirend... und damit tritt die ganze Gruppe verwandter Werthe und Zustände in sie hinein: sie wird ehrwürdig, unangreifbar, heilig, wahrhaft es gehört zu ihrer Entwicklung, daß ihre Herkunft vergessen wird... Es ist ein Zeichen, daß sie Herr geworden ist..." (13,283,8-15). Ganz ähnlich verhält es sich offenbar nach Nietzsches Auffassung auch mit den "Kategorien der Vernunft": sie sind durch Vergessen ihrer Herkunft (scheinbar) "unangreifbar" geworden: "Ganz dasselbe könnte geschehen sein mit den Kategorien der Vernunft: diesselben könnten, unter vielem Tasten und Herumgreifen, sich bewährt haben durch ihre relative Nützlichkeit... Es kam ein Punkt, wo man sie zusammenfasste, sich als Ganzes zum Bewusstsein brachte, - und wo man sie befahl... d.h. wo sie wirkten als befehlend..." (13,282,16-21). Die Kategorien wurden also "befehlend", d.h. "Herr", nachdem man ihre Herkunft vergessen hatte, nachdem man vergessen hatte, daß sie nur "unter vielem Tasten" gefunden und wegen ihrer "relativen Nützlichkeit" als zweckdienlich für die Erhaltung des Daseins bewahrt worden waren:277 "Von jetzt ab galten sie als a priori..., als jenseits der Erfahrung, als unabweisbar..." (13,283,22-23). Dieser Anspruch der "Kategorien der Vernunft" ist aber nach Nietzsches Auffassung kaum haltbar: 277
Dieser Gedanke wird eingehender entwickelt bei Nies 1991, 153-168.
218
Der "Gang der Cultur"
"Und doch drücken sie vielleicht nichts aus als eine bestimmte Rassen - und Gattungs-Zweckmässigkeit, - bloß ihre Nützlichkeit ist ihre 'Wahrheit' -" (13, 283,24-26). Nietzsche bezweifelt also ("vielleicht nichts als") ihren a-priori-Anspruch. Vielleicht ist "bloß ihre Nützlichkeit ihre 'Wahrheit'". Dieser Text kann als Kritik an Kant gelesen werden, der etwa für Raum, Zeit und Kausalität eine a priori- Geltung beanspruchte als "Anschauungs- und Begriffsformen des Verstandes". Nach Nietzsches Ansicht genießt etwa die Kausalität nur deshalb ein so hohes Ansehen, weil wir gewohnt sind, in Ursache und Wirkung zu denken, einen "Täter" (Subjekt) und eine Handlung anzusetzen und so das Handeln des Menschen und die Vorgänge der Natur zu interpretieren. Dieses Interpretationsmodell mag vielleicht nützlich sein und sogar, wie Descartes dies getan hat, zur Begründung einer Metaphysik dienlich sein. Aber es ist dennoch, wie Nietzsche in seiner Descartes-Kritik zeigt, unzureichend. Seine "Wahrheit" ist "bloß seine Nützlichkeit" im praktischen Leben, in der Bewältigung der Probleme zur Erhaltung der "Rasse und der Gattung". "Rasse" zielt hier auf den Menschen insgesamt: der Mensch als "Gattung" braucht eine solche Vernunft und solche "Kategorien der Vernunft" zur Abwicklung der für die Erhaltung seiner Gattung notwendigen Aufgaben. Aber auch hier hat Nietzsche bekanntlich noch Vorbehalte: vielleicht braucht nur der Mensch auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung diese "Kategorien der Vernunft": der zivilisierte Mensch, der sich nicht unbeträchtlich von der Natur entfernt hat. Die "Kategorien der Vernunft" können also keine a-priori-Geltung beanspruchen, sie sind geworden, - und vielleicht gelten sie nicht einmal für den Menschen "an sich", sondern nur für den heutigen Menschen. Die "Kategorien der Vernunft" wären demnach nur die Kategorien des heutigen Menschen, der eine Moral der "Nützlichkeitsinteressen" befolgt. In der "Götzen-Dämmerung" geht Nietzsche ausführlicher auf die hier angeschnittenen Probleme ein ("Die 'Vernunft' in der Philosophie"). Er verweist z.B. darauf, daß die "Vernunft" und ihre Kategorien das "Zeugniss der Sinne" "fälschen": in das "Zeugnis der Sinne" legt sie "die Lüge der Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer" hinein, während doch die Sinne "das Vergehn, den Wechsel zeigen" (6,75,17-21).
Vernunft, Sprache und Musik
219
Auch hieraus wird deutlich, daß die "Kategorien der Vernunft" keineswegs eine a priori-Geltung beanspruchen können. Ihre "Wahrheit" ist in der Tat "bloß ihre Nützlichkeit". Sie machen die Welt nur in einer bestimmten Weise zurecht; so, daß sie der Mensch im praktischen Leben bewältigen kann. Ihr Erkenntniswert ist im höchsten Grade einseitig: nur "nützlich". Sie verstellen das "Zeugnis der Sinne". Daß die "Kategorien der Vernunft" auch unter einem anderen Blickwinkel nur eine eingeschränkte Gültigkeit beanspruchen können, wird auch deutlich, wenn wir uns ihren Zusammenhang mit der spezifischen "Philosophie der Grammatik" vergegenwärtigen, die für eine bestimmte Sprachfamilie kennzeichnend ist. Auf diese Frage geht Nietzsche im Aphorismus 20 von "Jenseits von Gut und Böse" ein (KSA 5,34-35). Er verweist zunächst auf die "wunderliche Familien-Ähnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen Philosophirens" (5,34,23-25). Sie erkläre sich "einfach genug" aus der "Sprach-Verwandtschaft" dieser Völker (5,34,256). In diesen verwandten Sprachen sei eine "gemeinsame Philosophie der Grammatik" enthalten, so daß "Dank der unbewußten Herrschaft und Führung durch gleiche grammatische Funktionen... von vornherein Alles für eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet liegt" (5,34, 27-31).
Und dies hat zugleich auch zur Folge, daß "zu gewissen ändern Möglichkeiten der Welt-Ausdeutung der Weg wie abgesperrt erscheint." (5,34,31-35,1).
Nietzsche verweist zur Verdeutlichung seiner Überlegungen auf den "Subjekt-Begriff1 (5,35,2). Dieser sei im "ural-altaischen Sprachbereich" "am schlechtesten entwickelt" im Unterschied zu den Sprachfamilien der "Indogermanen" und "Muselmänner" (5,35,1-5). Die "Philosophie der Grammatik" der genannten Sprachbereiche unterscheidet sich also in der mehr oder weniger deutlichen Ausprägung des "Subjekt-Begriffs". Dies hat seine Folgen für die jeweilige "Welt-Ausdeutung": "Die Philosophen des ural-altaischen Sprachbereichs... werden mit großer Wahrscheinlichkeit anders 'in die Welt' blicken..., als Indogermanen oder Muselmänner" (5,35,1-5).
Dies leuchtet ein, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß bei den Indogermanen der in der "Philosophie der Grammatik" so klar ausgeprägte "Subjekt-Begriff
220
Der "Gang der Cultur"
sehr wahrscheinlich die Grundlage abgegeben haben dürfte für die Kategorien der "Einheit", "Dinglichkeit", "Dauer" und "Substanz", von denen oben die Rede war. Hier wird greifbar, wie die "unbewußt" in der Sprachfamilie enthaltene "Philosophie der Grammatik" das philosophische Denken ihrer Völker beeinflußt hat. Und deutlich wird auch ein Band zwischen Sprachfamilie, "Philosophie der Grammatik" und den "Kategorien der Vernunft", die jeweils in spezifischer Weise aus dieser "Philosophie der Grammatik" hervorgehen. "Kategorien der Vernunft" sind jeweils über "Philosophien der Grammatik" an bestimmte Sprachfamilien gebunden und nicht a priori gültig. In diesen "Philosophien der Grammtik" einzelner Sprachfamilien finden nun die Existenzbedingungen ihren Ausdruck, unter denen die jeweiligen Völker gelebt und sich haben behaupten müssen: "der Bann bestimmter grammatischer Funktionen ist im letzten Grunde der Bann physiologischer Werthurteile und Rasse-Bedingungen." (5,35,5-7).
Erinnern wir uns nochmals an Nietzsches Rasse-Konzept: eine "Rasse" entsteht als "Folge eines Milieu[s]", "gesetzt daß die Umgebung sich nicht ändert" (11, 136,9-13). Dabei ist mit "Milieu" die konkrete Lebensumgebung gemeint: "Landschaft", "Natur", "die Jahreszeiten, die Wärme und Kälte usw." (11,136, 24-25). Ein "Volk" (11,136,23) bildet in einer "Umgebung" (11,136,13) einen "Charakter" (11,136,9) aus und ebenso "physiologische Werthurteile", die dem Dasein in dieser "Umgebung" gemäß sind. Und Hand in Hand damit bildet es auch seine "Philosophie der Grammatik" aus - dies scheint Nietzsche hier anzunehmen. Die "Philosophie der Grammatik" drückt dabei eine "WeltAusdeutung" aus, die das Dasein in dieser Umgebung ermöglicht. Insofern ist auch sie "nützlich"; nützlich für das physiologische "Gedeihen" in dieser Umgebung. Aber zunächst auch nur in dieser Umgebung. Wie weit sie in anderen Umgebungen nützlich ist, muß sich dann erst noch erweisen. Die jeweilige "Philosophie der Grammatik" ist also über die Existenzbedingungen von Völkern zunächst eben an diese Völker gebunden. Auch sie ist nicht a priori gültig. Nietzsches These einer ethnischen Verankerung von Sprachstrukturen und darauf beruhenden Weltbildern wird auch in der modernen Wissenschaft ernst-
Vernunft, Sprache und Musik
221
haft diskutiert.278 Nietzsche wagt sogar die These, daß wir unseren Begriff von Gott so lange nicht loswerden können, wie wir unsere "Philosophie der Grammatik" nicht ändern können.279 Sprachen derselben Sprachfamilie haben also eine "gemeinsame Philosophie der Grammatik" (5,34,27), das "tempo ihres Stils" kann jedoch offenbar unterschiedlich sein. Im Bereich des Stiltempos gibt es feine Unterschiede unter diesen Sprachen. Das ist das Thema des Aphorismus 28 von "Jenseits von Gut und Böse". Dies wird nach Nietzsches Auffassung am klarsten bei Übersetzungen deutlich: "Was sich am schlechtesten aus einer Sprache in die andere übersetzen läßt, ist das tempo ihres Stils... Es giebt ehrlich gemeinte Übersetzungen, die beinahe Fälschungen sind, als unfreiwillige Vergemeinerungen des Originals, bloß weil sein tapferes und lustiges tempo nicht mit übersetzt werden konnte..." (5,46,7-13). Da etwa "der Deutsche" "beinahe des Presto in seiner Sprache unfähig" sei, blieben "Aristophanes und Petronius" für Deutsche "unübersetzbar" (5,46,1520). Bei den Deutschen ist alles "Gravitätische, Schwerfällige, FeierlichPlumpe... des Stils... in überreicher Mannichfaltigkeit entwickelt", auch Goethe mache hier "keine Ausnahme" (5,46,20-24). Nur "Lessing macht eine Ausnahme, Dank seiner Schauspieler-Natur, die vieles verstand und sich auf Vieles verstand: er, der nicht umsonst der Übersetzer Bayle's war und sich gerne in die Nähe Diderot's und Voltaire's, noch lieber unter die römischen Lustspieldichter flüchtete: - Lessing liebte auch im tempo die Freigeisterei, die Flucht aus Deutschland." (5,46,28-47,2). Aber selbst die Prosa eines Lessing sei nicht in der Lage, "das tempo MacchiavelFs nachzuahmen", der "Gedanken, lang, schwer, hart, gefährlich, und ein tempo des Galopps und der allerbesten muthwilligsten Laune" verbindet. (5, 47,2-9). Ebenso wenig könne Petronius ins Deutsche übersetzt werden, "der, mehr als irgend ein großer Musiker bisher, der Meister des presto gewesen ist, in Erfindungen, Einfallen, Worten..." (5,47,11-12). "Tempo des Stils" hat also auch zu tun mit Leichtigkeit, Geist und "Freigeisterei": das erinnert uns an die "Lieder des Prinzen Vogelfrei"! 278 279
Vgl. Schütze 1975, I, 173 f. zur Sapir-Whorf-Hypothese. Dazu Henke 1981; Nies 1991, 198 und Crawford 1988, 137.
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Der "Gang der Cultur"
Dieses unterschiedliche "tempo des Stils" hat nun, Nietzsche zufolge, "im Charakter der Rasse seinen Grund, physiologischer gesprochen, im Durchschnitts-tempo ihres 'Stoffwechsels'" (5,46,8-10).
Wieder verweist hier das Wort "Rasse" auf die unterschiedlichen Lebensbedingungen der Völker: Umgebung, Wärme, Kälte... Macchiavelli läßt uns etwa in seinem "Principe" "die trockne reine Luft von Florenz athmen" (5,47,4-5) und von Wagner, um einen Deutschen zu nennen, betont Nietzsche immer wieder, daß sein "Polype in der Musik", seine "unendliche Melodie" (6,14,2) nur im "feuchten Norden" (6,15,3) möglich sei, weshalb Nietzsche auch vom "Wasserdampf des Wagnerschen Ideals" spricht (6,15,4). Merimee hingegen hat "noch die Logik in der Passion, die kürzeste Linie, die harte Notwendigkeit" (6,15,5-6). Und er "hat vor Allem, was zur heißen Zone gehört, die Trockenheit der Luft, die limpidezza in der Luft. Hier ist in jedem Betracht das Klima verändert." (6,15,6-9).
Im "Charakter" der Völker spiegelt sich also das Klima, die Umgebung wieder, in der sie leben. Und davon hängt, "physiologischer gesprochen, das Durchschnitts-tempo ihres 'Stoffwechsels'" ab. Nietzsche spricht öfter von der Bedeutung des "Stoffwechsels", der "Verdauung" für das Wohlbefinden des Menschen. Er knüpft hier an Vorstellungen der Humorallehre und Diätetik an, für die die Verdauung eine der wichtigsten Körperfunktionen war. Die Diätetik hatte dabei auch den "Bereich der Affekte" im Auge: "und da der Zusammenhang zwischen Körper und Seele sehr eng und als eine umkehrbare Wechselwirkung gedacht wurde, war für den gesunden Ablauf der körperlichen Funktionen ein ausgewogener Affektzustand von großer Bedeutung". Und dieser wurde durch eine gute Verdauung in höchstem Masse gefördert.280
Umgebung, Klima, "Stoffwechsel" und physiologisches Wohlbefinden hängen also eng zusammen. So mag sich auch Nietzsches Begeisterung für den Süden und seine trockene Luft erklären, in der alles leichter fällt und das "tempo des Stils", ebenso wie das Tempo des Lebens, höher ist. Daher auch stellt er die Musik Bizets höher als die Wagners. Der "feuchte Norden" begünstigt die Flucht in die Metaphysik, der Süden den klaren Blick auf die Welt, wie sie ist.
280
Kümmel 1976, 387.
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Was die Musik betrifft, wollen wir uns hier auf drei Namen beschränken, die bereits genannten Wagner und Bizet sowie Chopin. Bach, Händel und Schütz als Vertreter der Reste einer "starken Rasse" wurden schon erwähnt. Der "Fall" Wagner hat für Nietzsche eine exemplarische Bedeutung. Es geht ihm dabei nicht primär um die Person Wagners, sondern in erster Linie um das Problem der "decadence": "Der Fall Wagner ist für den Philosophen ein Glücksfall,- diese Schrift ist, man hört es, von der Dankbarkeit inspirirt..." heißt es am Ende des Epilogs zum "Fall Wagner" (6,53,10-12). Wagner ist für Nietzsche ein typischer Vertreter der "decadence", weil er aus der "Krankheit" heraus schafft und so "die Musik krank gemacht" hat (6, 21,16-17): "Ein typischer decadent, der sich notwendig in seinem verderbten Geschmack fühlt, der mit ihm einen höheren Geschmack in Anspruch nimmt, der seine Verderbniss als Gesetz, als Fortschritt, als Erfüllung in Geltung zu bringen weiß." (6,21,18-21). Und gerade darin sieht Nietzsche ein weiteres Problem: daß Wagner "seine Verderbniss" als "höheren Geschmack" ausgeben will. Er wirft ihm daher "Falschheit" vor. Diese "Falschheit" Wagners zeige sich auch darin, daß er einerseits nach der "vornehmen Moral" hinschiele: "die isländische Sage ist beinahe deren wichtigste Urkunde" (6,51,21-23), daß er aber andererseits "dabei die Gegenlehre, die vom 'Evangelium der Niedrigen', vom Bedürfhiss der Erlösung, im Munde" führe (6,51, 23-25). Ein weiteres Moment der "Falschheit" Wagners sieht Nietzsche darin, daß er doch offenbar "ein Semite" sei (8,500,3), daß er dies aber zu verheimlichen versuche (6,41,33f): "Er hatte nicht Stolz genug zu irgend einer Wahrheit über sich, Niemand war weniger stolz; er blieb, ganz wie Victor Hugo, auch im Biographischen sich treu, er blieb Schauspieler." Die mangelnde Redlichkeit ist vielleicht Nietzsches Hauptkritikpunkt an Wagner. Darauf kommt Nietzsche auch in einem Brief zurück, in dem er zu dem Epilog zum "Fall Wagner" bemerkt: "Ich komme nämlich in einer Art Epilog mit aller Wucht auf die Falschheit Wagners zurück..." (KSB 8,393,5-7: August 88, an Köselitz). Nicht daß Wagner "ein Semite" ist, wirft er ihm vor, sondern daß er sich nicht dazu bekennt.
224
Der "Gang der Cultur"
Denn Nietzsche glaubt, daß gerade die "semitischen Rassen" mehr Verständnis für Wagners Musik hätten als "arische": "Furchtbare Wildheit, das Zerknirschte Vernichtete, der Freudenschrei, die Plötzlichkeit, kurz die Eigenschaften, welche den Semiten innewohnen - ich glaube, semitische Rassen kommen der Wagnerischen Kunst verständnissvoller entgegen als die arischen." (KSA 8,549: S 78: 30/153/)·
Daß die "semitischen Rassen" mehr Verständniss für Wagners Kunst haben sollen, kann hier sogar als Kompliment für Wagners Musik gelesen werden. Wir kennen Nietzsches Hochschätzung für die Juden, die hier zweifellos gemeint sind.281 Auch die hier genannten Eigenschaften, wie "Wildheit" und "Plötzlichkeit" haben einen hohen Stellenwert in Nietzsches Bild des "starken" Menschen. Mit der "arischen" "Rasse" dürften hier die Deutschen gemeint sein, die keine besondere Wertschätzung Nietzsches genießen. Daher könnte "arisch" hier einen ironischen Unterton haben. Es geht also letzlich um Juden und Deutsche und um Wagners mangelnde Bereitschaft, sich zu seiner jüdischen Herkunft zu bekennen. In dieser "Falschheit", in diesem "Schauspielertum" Wagners ist wohl auch ein Teil der Ursachen für Wagners "Krankheit" zu suchen. Als Gegenbild zu Wagner hat Nietzsche für sich Bizet entdeckt: "Diese Musik scheint mir vollkommen. Sie kommt leicht, biegsam, mit Höflichkeit daher. Sie ist liebenswürdig, sie schwitzt nicht [im Unterschied zur Musik Wagners: GS]. 'Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füssen': erster Satz meiner Aesthetik. Diese Musik ist böse, raffinirt, fatalistisch: sie bleibt dabei populär - sie hat das Raffinement einer Rasse, nicht eines Einzelnen. Sie ist reich. Sie ist präcis. Sie baut, organisirt, wird fertig: damit macht sie den Gegensatz zum Polypen in der Musik, zur 'unendlichen Melodie'". (6,13,22-14,2).
Ähnliches hatte Nietzsche schon über Macchiavelli und Petronius gesagt und Petronius sogar mit einem Musiker verglichen. Wie das jeweilige "Tempo des Stils" dort als Ausdruck des "Charakters der Rasse" aufgefasst wurde, so wird auch hier Bizets Musik auf das "Raffinement einer Rasse, nicht eines Einzelnen" zurückgeführt.
281
Mehrere bekannte Wagner-Dirigenten waren Juden.
Vernunft, Sprache und Musik
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In Bizet kommt das "Raffinement einer Rasse" zum Ausdruck, und dieses "Raffinement" dürfte sich, ähnlich wie das "Tempo des Stils", wiederum den Lebensbedingungen, der Umwelt und dem Klima verdanken, in denen diese "Rasse", und das heißt, dieses Volk, also die Franzosen leben. Zu ergänzen wäre nun noch, was oben schon über Physiologie und "Stoffwechsel" gesagt wurde. "Rasse" meint auch hier ein Volk, das unter spezifischen Bedingungen lebt, und im vorliegenden Fall diesen Bedingungen sein "Raffinement" zu verdanken hat. Als "Beweis" dafür, daß Bizets Musik "gut" ist, gilt ihm der Umstand, daß diese Musik ihn "fruchtbar" mache: "Bizet macht mich fruchtbar. Alles Gute macht mich fruchtbar. Ich habe keine andre Dankbarkeit, ich habe keinen ändern Beweis dafür, was gut ist." (6,14,29-32).
Auch Chopin und seine "vornehme Heiterkeit" hatten es Nietzsche angetan: "An Chopin verehrte ich namentlich, daß er die Musik von den deutschen Einflüssen, von dem Hange zum Häßlichen, Dumpfen, Kleinbürgerlichen, Täppischen, Wichtigthuerischen freigemacht habe: Schönheit und Adel des Geistes und namentlich vornehme Heiterkeit, Ausgelassenheit und Pracht der Seele, insgleichen die südländische Gluth und Schwere der Empfindung hatten vor ihm in der Musik noch keinen Ausdruck. Mit ihm verglichen war mir selbst Beethoven ein halbbarbarisches Wesen, dessen große Seele schlecht erzogen wurde, so daß sie das Erhabene vom Abenteuerlichen, das Schlichte vom Geringen und Abgeschmackten nie recht zu unterscheiden gelernt hat." (9.682, 16-27: S 82: 21/2/).
Diese Passage steht in dem Fragment, in dem Nietzsche ausfuhrlich auf seine eigene, polnische Herkunft eingeht. Er hebt an Chopins Musik hervor, daß sie sich von "deutschen Einflüssen freigemacht habe", und er hebt das "Südländische" hervor. Vor Beethoven zeichne er sich durch die Sicherheit seines Geschmacks aus. Beethoven erscheint ihm im Vergleich mit Chopin als "ein halbbarbarisches Wesen, dessen große Seele schlecht erzogen wurde". Auch eine "große Seele" erlangt erst durch sorgfältige Erziehung "Schönheit und Adel des Geistes". "Schönheit" wird "erarbeitet", wie Nietzsche im Hinblick auf die Griechen einmal hervorhebt. Die Deutschen haben diese "Arbeit" noch nicht in hinlänglichem Maße geleistet. Das Wort "Rasse" erscheint in den Texten zu Vernunft, Sprache und Musik in zwei Bedeutungen:
226
Der "Gang der Cultur"
zum einen in der Bedeutung "Mensch allgemein" (als Gattungswesen), das als solches spezifische "Kategorien der Vernunft" entwirft, die zur Erhaltung seines Daseins "nützlich" sind und (nur) insofern Anspruch auf "Wahrheit" erheben können. Zweitens in der Bedeutung von "Völkern", die in spezifischen, unterschiedlichen "Umgebungen" ihren "Charakter" ausbilden und dabei einerseits zu unterschiedlichen "Welt-Ausdeutungen" gelangen, die sich in ihrer jeweiligen "Philosophie der Grammatik" niederschlagen, die je nach der Sprachfamilie unterschiedlich sein kann; und die, andererseits, ihrem "Charakter" gemäße unterschiedliche "Tempi des Stils" der Sprache sowie Musikauffassungen und Musizierweisen entwickeln. In der zweiten Bedeutung des Wortes "Rasse" kommt vor allem, wie wir gesehen haben, Nietzsches eigenes Rasse-Konzept zum Tragen; "Rasse" als Volk, das in der "Umgebung", in der es länger zu leben gezwungen ist, seinen "Charakter" ausbildet. Von einem von vorn herein "festgelegten" "Charakter" eines Volkes ist also nicht die Rede. Völker können sogar die Sprache einer anderen Sprachfamilie und damit z.B. auch deren "Philosophie der Grammatik" übernehmen, so daß ein Schluß aus der "Sprach-Verwandtschaft auf Rassen-Verwandtschaft" nicht zulässig ist, wie Nietzsche einmal hervorhebt: "Kein Schluß aus Sprach-Verwandtschaft auf Rassen-Verwandtschaft" (12,14,17-8: H 85/F 86: 1/17/).
Der angedeutete Sachverhalt kann etwa bei Eroberungen eintreten. Wir haben auf die Bedeutung dieser Feststellung Nietzsches schon vorn Jiingewiesen. Sie beinhaltet eine Absage an die Versuche der Sprach- und Völkerforschung des frühen 19. Jahrhunderts, aus Sprachverwandtschaften und Sprachfamilien Völkerverwandtschaften oder gar ein "Urvolk" herauskristallisieren zu wollen.282 Nietzsches Grundsatz bedeutet gegenüber diesen Versuchen einen großen Fortschritt.
282
Dazu Römer 1989, 69 f.
Nochmals "Rasse"
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Nochmals "Rasse"
Auch im Kapitel "Gang der Cultur" erscheint das Wort "Rasse" in den vier Bedeutungen, die wir schon aus dem vorhergehenden Kapitel kennen, Die Verteilung ist wie folgt: "Rasse" Mensch. allg. Krankheit Moral
Volk (gemäß N.s RasseKonzept)
Stände Schichten Classen
'modern'
X X
X
X
X
X
X
X
"Genie der Rasse" Religion Staat u. Politik
X
"Genie der Rasse"
"gesellschaftliche Rasse" ("HeerdenMensch")
Vernunft
X
X
Sprache, Sprachfamilien
X
X
Musik
X
GMI,5: "arische vorarische Rassen" 8,319,6f: "Racen": "blindes Vorurtheil"
X
Die Bezugnahmen auf das moderne Rassekonzept spielen in Nietzsches Überlegungen keine wesentliche Rolle: Der Passus über "arische" und "vorarische Rassen", der insofern den modernen Rassebegriff aufgreift, als er diese "Rassen" auch über Merkmale wie Hautfarbe, Haarfarbe, Schädelbau usw. beschreibt, steht bei Nietzsche in Klammern und hat ein Fragezeichen am Ende. Zudem wird die gleiche Fragestellung (Niedergang der Aristokratie) in der
228
Der "Gang der Cultur"
gleichen Schrift (GM 111,12-21) wieder aufgenommen und völlig unabhängig von GM 1,5 detailliert erörtert. Hinzu kommt die Darstellung in JGB 262, die auch nicht auf einen modernen Rassebegriff Bezug nimmt. In der zweiten Stelle, die auf den modernen Rassebegriff anspielt (8,319,69), wird dieser sowie seine angebliche Bedeutung für die Bildung von Nationen als "blindes Vorurtheil" eingestuft. (a.a.O.). Im Abschnitt über die Erkrankung des europäischen Menschen hat sich gezeigt, daß, soweit diese physiologisch ist, ethnische und soziale Momente namhaft zu machen sind, daß die schummere, seelische Erkrankung jedoch auf den asketischen Priester und sein asketisches Ideal zurückzuführen ist. Moral versteht Nietzsche als "Zeichensprachen" der Existenzbedingungen von Völkern, als "Symptom" ihrer physiologischen, sozialen und kulturellen Zustände. Eine ähnliche Feststellung läßt sich für Religionen treffen. Für den Bereich Staat und Politik stehen bei Nietzsche Konzepte wie Kampf, physiologische Verfassung sowie der Einfluß der Religion im Mittelpunkt. Sie sind nicht an bestimmte Völker gebunden. In den Bereichen Vernunft ("Kategorien der Vernunft"), Sprache ("Philosophie der Grammatik") sowie "tempo des Stils" und Musik geht es einerseits um den Menschen als Gattung, der sich die für sein Dasein "nützlichen" "Kategorien der Vernunft" "zurecht macht" (ein Ausdruck Nietzsches), zum ändern um Völker, die sich gemäß ihrem "Charakter" eine "Welt-Ausdeutung" schaffen ("Philosophie der Grammatik") sowie ihnen gemäße sprachlich-stilistische und musikalische Ausdrucksmittel. In den Erörterungen über Vernunft, Sprache und Musik wird Nietzsches eigenes Rassekonzept (Volk, das in seiner "Umgebung" [s]einen "Charakter" ausprägt) in besonderem Maße greifbar. Der moderne Rassebegriff spielt, unbeschadet zweier Anspielungen darauf (insbesondere in GM 1,5), bei Nietzsche keine nennenswerte Rolle, ja er wird in einer dieser Stellen ausdrücklich als "blindes Vorurtheil" abgelehnt.
"Physiologisch gesprochen" Vorbemerkung Die vorhergehenden Analysen haben deutlich werden lassen, daß nach Nietzsches Auffassung die "Existenz-Bedingungen" (11,136,4), also "Umgebung", "milieu", Klima, Diät eines Volkes in sehr hohem Maße seinen "Charakter" (11,136,9) und auch seine physiologische Verfassung beeinflussen und in jeweils spezifischer Weise prägen. Wir haben des weiteren gesehen, daß Unterschiede der physiologischen Verfassung (Gesundheit, Erkrankung, Ermüdung) ihren Ausdruck finden in den Bereichen Moral, Religion sowie Staat und Politik. Nietzsche bezeichnet Letztere gelegentlich als "Zeichensprachen", in denen sich jene physiologischen Zustände ausdrücken. In diesen "Zeichensprachen" fanden aber zusätzlich auch die sozialen Zustände von Völkern und Ständen ihren Ausdruck, das heißt, ob ein Volk/Stand "herrschend" oder "unterdrückt" war. Die physiologischen Zustände spielen also offensichtlich eine zentrale Rolle in Nietzsches genealogischen Überlegungen zur Herausbildung der "Zeichensprachen" Moral, Religion usw. In diesem Kapitel soll dieser also offenbar sehr wichtige Bereich noch etwas eingehender untersucht weden. Dabei kann aber nicht das gesamte Phänomen der Physiologie bei Nietzsche angeschnitten weden. Wir beschränken uns weitgehend auf die Texte, in denen das Wort "physiologisch" im Zusammenhang mit "Rasse"-Belegen auftritt. Die Vermutung liegt nahe, daß von hier aus noch mehr Licht fällt auf die von Nietzsche mit dem Wort "Rasse" gemeinten Sachverhalte: "Rassen" als Völker und Stände, die gemäß Nietzsches "Rassekonzept" in und durch bestimmte "Umgebungen" ihre "Physiologie" ausbilden, die dann in den genannten "Zeichensprachen" ihren weiteren Ausdruck findet. Die so bestimmten "Rassen", d.h. Völker und Stände sind demnach nicht von Anfang an (wie bei Gobineau) mit einem bestimmten "Charakter" oder einer bestimmten Physiologie 'gegeben', sondern sie sind zunächst nicht "festgestellt" und bilden "Charakter" und Physiologie erst im Austausch mit ihren "Existenz-Bedingungen" aus, was auch bedeutet, daß diese, aufgrund von Anpassungsvor-
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"Physiologisch gesprochen"
gangen, sich ändern können. Völker und Stände sind nicht 'fest', sondern geworden. Das Gesagte bedeutet bei Nietzsche nun aber nicht, daß alle physiologischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen durch "Umgebung", Klima, Diät bestimmt seien. Vielmehr treten z.B. auf rätselhafte Weise "Ausnahmemenschen der gefährlichsten und anziehendsten Qualität" (5,183,8) auf und greifen in die kulturellen, religiösen, physiologischen und politischen Vorgänge ein. So etwa Napoleon und der asketische Priester. Von letzterem wird ausdrücklich gesagt, wie wir schon gesehen haben, daß er "nicht einer Rasse angehört", also offenbar außerhalb der prägenden Wirkung von "Umgebungen" steht, denen die Völker ihren "Charakter" verdanken. Auf diesen Typ Mensch ist im nächsten Teil der Untersuchung weiter einzugehen. Die Linie, die von "Umgebungen" über Physiologisches bis zu den "Zeichensprachen" fuhrt, kann also nicht etwa als 'lückenloser' Kausalverband verstanden werden. Was als 'Folge' erscheint (z.B. Religion), kann auch wieder als 'Ursache' auftreten (so wenn Religion "souverän" gesetzt wird). Die angedeutete 'Linie' läßt sich bei Nietzsche zweifellos aufzeigen, wir müssen sie uns aber als vielfach durchbrochen denken, und vielfach ist an komplizierte Wechselwirkungen der genannten Phänomene zu denken. Und offenbar nicht nur an Wechselwirkungen, sondern auch an etwas, was wir als 'Überschreitung' bezeichnen könnten: Napoleon und der asketische Priester, um hier nur diese zu nennen, stehen offensichtlich Oberhalb', außerhalb der angedeuteten Bedingungsgeflechte: sie gehören keiner "Rasse" an. Nur so wird ihre große Kraft und ihr großer Einfluß verständlich. Die folgenden Analysen zu dem Wort "physiologisch" können wohl deutlich machen, in wie hohem Maße Nietzsches Rassekonzept gerade an Physiologisches, das änderbar ist, gebunden ist. Da nun heute kaum jemand bei dem Wort "Rasse" in erster Linie an "Umgebung" und Physiologie denkt, wird zugleich deutlich, wie irreführend Nietzsches Verwendung des Wortes "Rasse" gerade für uns heute sein dürfte, denken wir doch heute bei "Rasse" primär an feste, körperlich-seelisch-geistige, sozial-kollektive Einheiten, die als solche, unabhängig von "Umgebungen", bestimmte 'Werte' aufweisen, 'rein' erhalten werden müssen usw. Von alle dem kann aber bei Nietzsche kaum die Rede
Vorbemerkung
231
sein. Nietzsches Völker ("Rassen") sind geworden, veränderbar, ihre allmähliche Mischung fördert die Entwicklung der Kultur, das 'Ziel' liegt in der "Erhöhung" des Menschen (nicht der Völker) und das beinhaltet geradezu eine "Überschreitung" der "kümatisch und ständisch gebundenen Rassen" (5,102,2021). Dies hat Nietzsche sehr schön in einem Aphorismus in JOB formuliert, wobei er auch die zentrale Rolle des Physiologischen herausstellt (JOB 242). Es geht dabei um den "Prozess des werdenden Europäers" (5,182,27-28), also auch um die "Überschreitung" der Völker und Nationen: "Nenne man es nun 'Civilisation' oder 'Vermenschlichung' oder 'Fortschritt', worin jetzt die Auszeichnung der Europäer gesucht wird; nenne man es einfach, ohne zu loben und zu tadeln, mit einer politischen Formel die demokratische Bewegung Europa's: hinter all den moralischen und politischen Vordergründen, auf welche mit solchen Formeln hingewiesen wird, vollzieht sich ein ungeheuerer physiologischer Prozess, der immer mehr in Fluss geräth,- der Prozess einer Anähnlichung der Europäer, ihre wachsende Loslösung von den Bedingungen, unter denen klimatisch und ständisch gebundene Rassen entstehen, ihre zunehmende Unabhängigkeit von jedem bestimmten milieu, das Jahrhunderte lang sich mit gleichen Forderungen in Seele und Leib einschreiben möchte, - also die langsame Heraufkunft einer wesentlich übernationalen und nomadischen Art Mensch, welche, physiologisch geredet, ein Maximum von Anpassungskunst und -kraft als ihre typische Auszeichnung besitzt." (5,182,11-27).
Der "werdende Europäer" vollzieht sich also als "wachsende Loslösung von den Bedingungen, unter denen kümatisch und ständisch gebundene Rassen entstehen". Das ist eine klare Anspielung auf sein Rassekonzept (11,136,3-27). Im Unabhängigwerden von "jedem bestimmten milieu, das Jahrhunderte lang sich mit gleichen Forderungen in Seele und Leib [Hervorhebung GS] einschreiben möchte" (5,182,21-23), vollzieht sich die "Heraufkunft" des "werdenden Europäers", einer "wesentlich übernationalen und nomadischen Art Mensch" (5,182,24-25). "Physiologisch geredet" zeigt sich dabei ein "Maximum von Anpassungskunst und -kraft" (5,182,26). Die "Bedingungen", das "milieu", das zunächst die Völker ("Rassen" in Nietzsches Sinn) prägt, werden dabei also durch "Anpassungskunst und -kraft" überschritten, hinter sich gelassen. Bemerkt sei hier noch einmal, daß "milieu" hier die "Umgebung", das Klima u.a. meint, in denen ein Volk Jahrhunderte lang lebt,- es geht also nicht um den Begriff des 'sozialen Milieus' im Sinn der französischen Naturalisten, den Nietzsche ablehnt (dazu etwa 12,306,14-16).
232
"Physiologisch gesprochen"
Wir haben mit diesen letzten Überlegungen schon dem Gang dieser Untersuchung etwas vorgegriffen. Im vorliegenden Kapitel soll aber zunächst einmal die physiologische Komponente im Rahmen unserer Fragestellung etwas näher erörtert werden. Es fallt nicht leicht, Nietzsches zahlreiche Bemerkungen zu physiologischen Aspekten in einer übersichtlichen Weise darzustellen, da alles mehr oder weniger zusammenhängt und sich beeinflußt. Wir glauben aber, die folgenden Themenkreise unterscheiden zu können, bei deren Erörterung sich dann auch noch weitere Einzelfragen jeweils anschließen lassen: 1die Wichtigkeit der Physiologie 23-
die (körperlichen) Phänomene der Physiologie (Verdauung) physiologische Zustände und Potentiale (Kraft, Wille)
4-
physiologische Prozesse (Gedeihen, Geraten, Missraten)
5-
physiologische Typen (die Starken, die Wohlgeratenen usw.)
Wichtigkeit der Physiologie
Nietzsches programmatische Äußerungen zur Wichtigkeit der Physiologie für sein Philosophieren ziehen sich wie ein roter Faden durch seine Schriften hin. Wir geben eine kleine Auswahl. In der Vorrede zur zweiten Ausgabe der "Fröhlichen Wissenschaft", die 1886 entstanden ist und m der Nietzsche ausfuhrlich auf Fragen der Gesundheit und Krankheit und deren Bedeutung für die Philosophie eingeht, wird die Vermutung geäußert, "ob nicht, im Großen gerechnet, Philosophie bisher überhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein Missverständniss des Leibes gewesen ist". Es heißt im Zusammenhang: "Die unbewußte Verkleidung physiologischer Bedürfhisse unter die Mäntel des Objektiven, Ideellen, Rein-Geistigen geht bis zum Erschrecken weit,- und oft genug habe ich mich gefragt, ob nicht, im Großen gerechnet, Philosophie bisher überhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein Missverständniss des Leibes gewesen ist. Hinter den höchsten Werthurtheilen, von denen bisher die Geschichte des Gedankens geleitet wurde, liegen Missverständnisse der leiblichen Beschaffenheit verborgen, sei es von Einzelnen, sei es von Ständen oder ganzen Rassen. Man darf alle jene kühnen Tollheiten der Metaphysik, sonderlich deren Antworten auf die Frage nach dem Werth des Daseins, zunächst immer als Symptome bestimmter Leiber ansehn; und wenn derartigen Welt-Bejahungen oder Welt-Verneinungen in Bausch und Bogen, wissenschaftlich gemessen, nicht ein Korn von Bedeutung
Wichtigkeit der Physiologie
233
innewohnt, so geben sie doch dem Historiker und Psychologen um so werthvollere Winke, als Symptome, wie gesagt, des Leibes, seines Gerathens und Missrathens, seiner Fülle, Mächtigkeit, Selbstheirlichkeit in der Geschichte, oder aber seiner Hemmungen, Ermüdungen, Verarmungen, seines Vorgefühls vom Ende." (3,348,20-349,6). Philosophien als "unbewußte Verkleidung physiologischer Bedürfhisse" und Zustände - wichtig ist hier auch das Wörtchen "unbewußt" - dies will Nietzsche deutlich und bewußt machen: Philosophien sind nichts andres als "Symptome" eben dieser "physiologischen Bedürfhisse". Die "physiologischen Bedürfnisse" gilt es zu erforschen, und dazu können die bisherigen Philosophien als "Symptome" eben dieser "physiologischen Bedürfnisse" beitragen. Darin besteht ihr Wert für den "Historiker und Psychologen". Zur Erfüllung dieser Aufgabe erwartet Nietzsche einen "philosophischen Arzt", "der dem Problem der Gesamt-Gesundheit von Volk, Zeit, Rasse, Menschheit nachzugehn hat" (3,349,7-10). Nietzsche hat selbst versucht, diese Aufgabe zu lösen. In der "Genealogie der Moral" (111,12-21) gibt er als "philosophischer Arzt" seine Diagnose des "physiologischen Hemmungsgefuhls", das seiner Auffassung nach die Erkrankung des europäischen Menschen ausmacht. Wir haben diese Texte schon eingehend erörtert. In dem bereits erwähnten Aphorismus 242 von "Jenseits von Gut und Böse" wird der Prozeß des "werdenden Europäers" als ein "ungeheurer physiologischer Prozess" bezeichnet (5,182,17-18), der "hinter all den moralischen und
politischen Vordergründen" stehe (5,182,15-16).
In der
"Götzen-
Dämmerung" (Streifzüge 47) wird betont, daß "Schönheit" erarbeitet werden müsse, jedoch nicht - das sei das große Mißverständniß der deutschen Bildung - durch "eine blosse Zucht von Gefühlen und Gedanken", sondern: "man muß den Leib zuerst überreden". (6, 149,16-20). Die "Cultur" müsse an der "rechten Stelle beginnen": "-nicht an der 'Seele' (wie es der verhängnissvolle Aberglaube der Priester... war): die rechte Stelle ist der Leib, die Gebärde, die Diät, die Physiologie, der Rest folgt daraus..." (6,149,27-30). Hier wird ganz klar eine Reihefolge aufgezeigt: zuerst der "Leib", die "Gebärde", die "Diät" und "Physiologie": "der Rest folgt daraus". Wird zuerst der Leib "überredet", dann ändert sich auch der "Rest", also die "Zeichensprachen", also die Moral, Religion, "Cultur" in der angestrebten Weise. Vorbildlich sind ihm hierbei die Griechen.
234
Im
"Physiologisch gesprochen"
"Ecce
homo" vergleicht Nietzsche
das
Christenthum,
das
die
Ressentiments verstärke, mit der Religion Buddhas, wo das nicht der Fall sei: "Das Ressentiment ist das Verbotene an sich für den Kranken - sein Böses: leider auch sein natürlichster Hang. - Das begriff jener tiefe Physiolog Buddha. Seine 'Religion', die man besser als eine Hygiene bezeichnen dürfte, um sie nicht mit so erbarmungswürdigen Dingen wie das Christenthum ist, zu vermischen, machte ihre Wirkung abhängig von dem Sieg über das Ressentiment: die Seele davon frei machen - erster Schritt zur Genesung. 'Nicht durch Feindschaft kommt Feindschaft zu Ende, durch Freundschaft kommt Feindschaft zu Ende': das steht am Anfang der Lehre Buddha's, - so redet nicht die Moral, so redet die Physiologie." (6,272,34273,11). Während der asketische Priester sich das Ressentiment zunutze macht und den Kranken dadurch noch kränker macht, rät Buddha, die Seele davon "frei zu machen". Daher gilt Buddha Nietzsche als "Physiolog" und seine Religion ihm als "Hygiene". Diese Einschätzung hat Nietzsche kurz zuvor folgendermassen begründet: "... mit Nichts brennt man schneller ab, als mit den Ressentiments-Affekten" (6, 272,27-28). Denn diese bewirken "einen rapiden Verbrauch von Nervenkraft, eine krankhafte Steigerung schädlicher Ausleerungen, zum Beispiel der Galle in den Magen..." (6,272,32-34). Hier wird eine direkte Linie zum "Magen" gezogen, für Nietzsche ein zentraler 'Ort' für die Gesundheitsgeschichte des Menschen. Darauf ist zurückzukommen. Auch im späten Nachlaß des Jahres 1888 hebt Nietzsche wiederholt die vorrangige Bedeutung der Physiologie hervor. Im Fragment (KSA 13,282: F 88: 14/1047) heißt es: "Die Moralwerthe als Scheinwerthe, verglichen mit den physiologischen". In seinem Programm einer "großen Politik", das er der nationalistischen "großen Politik" der Hohenzollern entgegensetzt, heißt es: "Ich bringe den Krieg. Nicht zwischen Volk und Volk... Nicht zwischen Ständen. Denn wir haben keine höheren Stände, folglich auch keine niederen: was heute in der Gesellschaft obenauf ist, ist physiologisch verurtheilt und überdies - was der Beweis dafür ist - in seinen Instinkten so verarmt, so unsicher geworden, daß es das Gegenprincip einer höheren Art Mensch ohne Scrupel bekennt." (13,637). Nietzsche will keinen "Krieg" zwischen Völkern oder Ständen. Sein "Krieg" richtet sich gegen die "in ihren Instinkten Verarmten", gegen jene, die "physiologisch verurtheilt" sind. Um diese Aufgabe durchführen zu können, will er die "Physiologie zur Herrin über alle anderen Fragen machen" (13, 638,20-21).
Wichtigkeit der Physiologie
235
Diese Äußerung Nietzsches wurde sehr kontrovers diskutiert, unter anderem wollte man ein eugenisches Programm herauslesen, zumal Nietzsche hier auch ausführt, die Physiologie "will die Menschen als Ganzes züchten, sie misst den Rang der Rassen, der Völker, der Einzelnen nach ihrer Zukunfts - [-], nach ihrer Bürgschaft für Leben, die sie in sich trägt..." (13,638,21-24).
Wir gehen erst später zusammenhängend auf diese Fragen ein. Hier sei nur einmal -als Gegenvorschlag zur eugenischen Interpretation- auf die vorher besprochene "Ecce homo"-Stelle über den Physiologen Buddha verwiesen: könnte man nicht annehmen, daß Nietzsche auch in dem Fragment über seine "große Politik" an so etwas wie eine "Hygiene" denken könnte, die die physiologisch Erkrankten z.B. von den "Ressentiments-Affekten" "frei machen" möchte? Dann würde es sich um "Hygiene" handeln, nicht um Eugenik. Nicht Menschen, "Völkern, Rassen" wird der "Krieg" erklärt, sondern ihrer Erkrankung. Der Arzt heilt den Kranken: nicht, indem er ihn vernichtet, sondern indem er seine Erkrankung bekämpft. Daß Nietzsche tatsächlich an harmlosere Maßnahmen zu denken scheint, geht aus einer Passage desselben Fragments über "große Politik" hervor, in der er schreibt: "Ist es nicht eine Erwägung, die einem Schauder macht, daß erst ungefähr seit 20 Jahren alle nächstwichtigen Fragen, in der Ernährung, der Kleidung, der Kost, der Gesundheit, der Fortpflanzung mit Strenge, mit Ernst, mit Rechtschaffenheit behandelt werden" (13,638,3-8).
Hierzu wäre zweierlei anzumerken: - wie weit kannte Nietzsche etwa die Bestrebungen der sog. "Lebensreform", die in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzten?283 Dort ging es ebenfalls um Fragen der Ernährung, Kleidung etc. - Mit der "Fortpflanzung" werden in der Tat Fragen der Eugenik angeschnitten. Diese war aber zunächst ganz allgemein auf Fragen der Gesundheitspflege gerichtet, und fand auch sozialistische Befürworter.
Dazu Krabbe 1974.
236
"Physiologisch gesprochen"
Darauf ist noch einzugehen. Die große Bedeutung der Physiologie für Nietzsches Denken im angeschnittenen Fragenkreis liegt also auf der Hand, wenn auch hier noch einige Detailfragen offen bleiben müssen, auf die später einzugehen ist.
Verdauung
Im Mittelpunkt der physiologischen Überlegungen Nietzsches scheinen der Magen und die Verdauung zu stehen. Diesen Eindruck konnte man schon bei der Erörterung der Stelle aus dem "Ecce homo" gewinnen, wo der krankmachende Einfluß der "Ressentiments-Affekte" auf den Magen zur Sprache kam (6,272,27-34). Zugleich bedingen die "Ressentiments-Affekte" dabei einen "rapiden Verbrauch von Nervenkraft" durch "eine krankhafte Steigerung schädlicher Ausleerungen, zum Beispiel der Galle in den Magen" (6,272.32-34). Affekte, Säfte, Verdauung und "Nervenkraft" stehen also in einem unmittelbaren Zusammenhang. Nietzsche scheint sich hier auf die "Humorallehre" zu stützen, die ein solches Zusammenspiel der genannten Komponenten der Seele und des Leibes annimmt. Dazu wurde oben schon ein Hinweis gegeben. Bei Nietzsche nehmen aber offenbar Magen, Verdauung und Stoffwechsel eine bevorzugte Stellung ein. Ihr Zustand scheint, nach semer Auffassung, in hohem Maße die Zustände der übrigen Komponenten zu bestimmen. Der Stoffwechsel selbst steht aber wieder in steter Wechselwirkung mit der "Umgebung", dem Klima, der Diät. Wir haben es mit einem komplizierten Geflecht zu tun, in dessen Mitte aber Magen und Verdauung als physiologische Zentren zu stehen scheinen. Einige Physiologen gingen sogar so weit, das Denken als "Stoffwechsel" des Gehirns zu betrachten, so etwa Cabanis, der auch bei Nietzsche erwähnt wird.284 "Stoffwechsel" wurde zur Metapher des Lebens. Es folgen ein paar Beispiele zur Verdeutlichung des Gesagten. In der "Genealogie der Moral" ( ,6) betont Nietzsche, daß das "Fertigwerden" mit einem "seelischen Schmerz" eher vom "Bauch" als von der "Seele" abhängen dürfte: "Wenn Jemand mit einem 'seelischen Schmerz' nicht fertig wird, so liegt das, grob gesagt, nicht an seiner 'Seele'; wahrscheinlicher noch an seinem Bauche (grob
284
Dazu auch Lange 1876/77, 2,152.
Verdauung
237
geredet, wie gesagt: womit noch keineswegs der Wunsch ausgedrückt ist, auch grob gehört, grob verstanden zu werden...)" (5,376,30-377,1).
Nietzsche wendet sich hier gegen den asketischen Priester, der die physiologische Basis der Erkrankung des europäischen Menschen verkennt und mit seiner Medikation bei der kranken Seele ansetzt, wogegen der "philosophische Arzt" an der "rechten Stelle" ansetzt, beim kranken Leib, und hier insbesondere beim "Bauch". Nietzsche weist anschließend darauf hin, daß ein "starker und wohlgerathener Mensch" über eine gute "Verdauung" verfugt: "Ein starker und wohlgerathener Mensch verdaut seine Erlebnisse (Thaten, Unthaten eingerechnet) wie er seine Mahlzeiten verdaut, selbst wenn er harte Bissen zu verschlucken hat. Wird er mit einem Erlebnisse 'nicht fertig', so ist diese Art Indigestion so gut physiologisch wie jene andere - und vielfach in der That nur eine der Folgen jener anderen." (5,377,1-7).
"Verdauung" spielt sich also auf zwei Ebenen ab, der konkreten physiologischen und der psychologischen, die beide "vielfach" Hand in Hand gehen, wobei Nietzsche an einen kausalen Zusammenhang beider Ebenen zu denken scheint: die eine Indigestion ist "vielfach in der That nur eine Folge jener anderen", wie es in dem zuvor zitierten Text heißt (5,377,1-7). Wer mit seinen "Mahlzeiten" "fertig wird", wird auch meist mit seinen "Erlebnissen", seien es "Thaten" oder "Unthaten", "fertig". Das "Fertig werden" ist für Nietzsche sehr wichtig, bedeutet es doch auch, nichts nachzutragen, und das heißt, keine "Rancune" und keine "Ressentiments" aufkommen zu lassen. Diese Auffassung dürfte aber keineswegs als "Materialismus" mißverstanden werden: "Mit einer solchen Auffassung kann man, unter uns gesagt, immer noch der strengste Gegner alles Materialismus sein..." (5,377,7-9).
Die "schlechte" Verdauung, das "nicht-fertig-werden", fordert die Bildung von Ressentiments und ist der Gesundheit abträglich. Das hat die schon besprochene Stelle aus dem "Ecce homo" deutlich werden lassen (6,272,27-34). Sie bedingt einen "rapiden Verbrauch von Nervenkraft" (6,272,32). Die Erkrankung verschlimmert sich also, da nun auch die "Nervenkraft" mit einbezogen und geschwächt wird. Das Ansammeln von "Ärger" und "Durst nach Rache" bezeichnet Nietzsche geradezu als das "Giftmischen in jedem Sinne", und das sei "für Erschöpfte sicherlich die nachtheiligste Art zu reagieren" (6,272,29-32). Es ist ein Prozeß, der sich wechselseitig hochschaukelt:
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"Physiologisch gesprochen"
die "schlechte" Verdauung begünstigt das Ressentiment, das Ressentiment steigert die "schädliche Ausleerung", z.B. "der Galle in den Magen" (6,272,3334), was wiederum die Verdauung verschlechtert. Hier muß, nach Nietzsches Auffassung, der philosophische Arzt als Physiologe eingreifen. Nach dem Gesagten leuchtet es ein, daß das "Tempo" der Verdauung für das physiologische und seelische Wohlbefinden von größter Bedeutung ist. Wir haben schon die große Bedeutung des "Tempos" der Verdauung bei der Erörterung der verschiedenen "tempi des Stils" und ihres Einflusses auf die Literatur kennengelernt. Eine Verlangsamung des Stoffwechsels liegt nach Nietzsches Auffassung auch dem asketischen Ideal und seinem Abbild, der Wissenschaft, zugrunde. Dazu heißt es in der "Genealogie der Moral" (m,25): "Auch physiologisch nachgerechnet, ruht die Wissenschaft auf dem gleichen Boden wie das asketische Ideal: eine gewisse Verarmung des Lebens ist hier wie dort die Voraussetzung.- die Affekte kühl geworden, das tempo verlangsamt, die Dialektik an Stelle des Instinktes, der Ernst den Gesichtern und Gebärden aufgedrückt (der Ernst, dieses unmissverständlichste Abzeichen des mühsamen Stoffwechsels, des ringenden, schwerer arbeitenden Lebens)." (5,403,6-14).
Hier rücken bei Nietzsche "Stoffwechsel" und "Leben" in unmittelbare Nachbarschaft: "mühsamer Stoffwechsel" bedeutet "schwerer arbeitendes Leben", dessen "unmissverständlichstes Abzeichen" der "Ernst" ist. Wir werden gleich noch sehen, daß physiologisches "Gedeihen" Hand in Hand geht mit "Wohlgerathensein" und "Freude", während für den asketischen Priester sein "Ernst" kennzeichnend ist. Auch "Freude" und "Ernst" sind "Abzeichen", also "Zeichensprachen" für physiologische Zustände, für hohes oder langsames Tempo des Stoffwechsels. Ganze Völker werden von Nietzsche aufgrund der "Kräftigkeit" ihrer Verdauung unterschieden. In JGB (251) wird den "Italienern", Franzosen und Engländern eine "kräftigere Verdauung" zuerkannt, während die Deutschen mit ihrem "Magen" "Noth haben". Von der unterschiedlichen "Kräftigkeit" der Verdauung hänge es z.B. auch ab, auf welche Weise ein Volk mit den Juden "fertig wird", also mit der Integration und Assimilation der Juden. Die Deutschen würden mit dieser Frage offenbar nicht "fertig", so daß es sogar zur "Antisemiterei" gekommen sei, wogegen "der Italiäner, der Franzose, der Engländer" wohl damit "fertig geworden sind, in Folge einer kräftigeren Verdauung". (5,193,12-17).
Verdauung
239
Auf die "schwere zögernde Verdauung" der Deutschen geht Nietzsche auch kurz vorher schon ein (JOB 244) und er bringt die sogenannte "deutsche Tiefe" damit in Verbindung: "Der Deutsche schleppt an seiner Seele; er schleppt an Allem, was er erlebt. Er verdaut seine Ereignisse schlecht, er wird nie damit 'fertig'; die deutsche Tiefe ist oft nur eine schwere zögernde 'Verdauung'. Und wie alle Gewohnheitskranken, alle Dyspeptiker den Hang zum Bequemen haben, so liebt der Deutsche die Offenheit' und 'Biederkeit': wie bequem ist es, offen und bieder zu sein!" (5,186,7-14). Die "schwere zögernde Verdauung" ist auch der Grund dafür, daß der Deutsche "sich gehen lässt" (5,186,19), während sich die Griechen und die Franzosen des vornehmen 17. Jahrhunderts nicht "gehen liessen". Damit wird hier, über das Mittelglied des sich "Nicht-gehen-lassens", ein Zusammenhang zwischen Verdauung und Vornehmheit angedeutet. Nietzsche hat auch an sich selber Beobachtungen über die Zusammenhänge zwischen Klima, Stoffwechsel und Schaffensfreude bzw. Schaffenskraft gemacht. Er berichtet darüber in seinen Briefen. Im Juli 1885 schreibt er an Elisabeth: "Ich glaube es dieser Tage selber, daß ich um die Riviera nicht herumkomme: die Beschleunigung des 'Stoffwechsels', wie die Physiologen sagen, bedingt durch eine trockene Luft, ... ist für mich, da ich das langweiligste Gedärm von der Welt habe (verdorben überdies durch Jahrzehnte medizinischer Vergiftung), eine Sache ersten Ranges. St. Jean ist etwas für alle Jahreszeiten; ich möchte gem 'der Einsiedler von St. Jean' werden. Im Freien leben und arbeiten - das ist meine Aufgabe..." (KSB 7,73). Im April 1888 schreibt er an Köselitz: "Ich bin guter Laune, in Arbeit von früh bis Abend - verdaue wie ein Halbgott" (KSB 8,298). Im Juni 1888 macht er eine Bemerkung über Stil und Verdauung in einem Brief an Fuchs: "... wie es Ihnen zu Muthe ist, schließe ich aus Ihrem Stil, der biegsam und behend läuft. So schreibt man nicht, wenn man dyspeptisch ist..." (KSB 8,345). Wie sich Dyspeptiker fühlen, hatte Nietzsche ebenfalls, zwei Jahre vorher, an sich erfahren können. Er schreibt im Januar 1886 an Reinhart und Irene Seydlitz, aus Nizza: "Aber der Magen, der Vater der Trübsal auch bei mir! Jetzt will er, daß ich von Milch, Eiern, Feigen und Grahambrot lebe - ich glaube, so hat Epicur gelebt, der auch am Magen litt. Das Glück, wie es jener Weise verstand, ist das Glück eines Dyspeptikers —" (KSB 7,134).
240
"Physiologisch gesprochen"
Auch die Philosophie geht durch den Magen!285 Wie wir schon aus einem Text der "Genealogie der MoraTgesehen haben, "verdaut" "ein starker und wohlgerathener Mensch... seine Erlebnisse (Thaten, Unthaten eingerechnet) wie er seine Mahlzeiten verdaut, selbst wenn er harte Bissen zu verschlucken hat. Wird er mit einem Erlebnisse 'nicht fertig', so ist diese Art Indigestion so gut physiologisch wie jene andere - und vielfach in der That nur eine Folge jener anderen." (5,377,1-7).
Hier dürfen wir das Wort "vielfach" nicht übersehen. Nur unter Vorbehalt kann also die Beziehung der beiden Arten Indigestion als eine 'Folge'Beziehung, als eine kausale Beziehung gesehen werden. Die kausale Interpretation ist nur eine Möglichkeit. Sie setzt eine dualistische Konzeption von Leib/Körper und Seele voraus, die Nietzsche ablehnt. Angemessener dürfte eine semiotische Interpretation im Sinne Nietzsches sein: die leibliche Indigestion findet ihren Ausdruck in Symptomen auf der psychologischen Ebene, der Ebene der Affekte, im Nichtfertigwerden mit "seinen Erlebnissen".
Potentiale: Wille und Kraft
"Stärke" und "Wohlgerathenheit" haben also eine physiologische Grundlage. Sie beinhalten offenbar die Kraft und den Willen, mit seinen "Erlebnissen (Thaten, Unthaten eingerechnet)" "fertig zu werden". Es dürfte daher gerechtfertigt sein, hier Potentiale von Willen und Kraft unter physiologischem Blickwinkel zu betrachten, zumal Nietzsche selbst wiederholt eine solche Verbindung herstellt, etwa in der zentralen Formulierung vom "physiologischen Hemmungsgefühl" oder wenn er von einer "Überfülle an Säften und Kräften" spricht. (13,297,31). "Kraft" und "Willenskraft" bzw. "Willenslähmung" gehen offenbar Hand in Hand mit "Wohlgerathenheit" und "Missrathensein" und haben offenbar,
285
Auch Brillat-Savarin (1755-1825), der französische Gourmet und Lebenskünstler weist in seinem berühmten, 1825 erschienenen Werk "Physiologie du goüt" mit Nachdruck auf die Bedeutung des Stoffwechsels für die Affekte und das Wohlbefinden sowohl des Einzelnen wie auch ganzer Völker hin (niederländische Ausgabe 1987, S. 138-139). Vgl. auch zu den hier angeschnittenen Fragen: Onfray 1990.
Potentiale: Wille und Kraft
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denken wir an das Zitat aus der "Genealogie der Moral", eine physiologische Basis. Bei dem Begriff "Kraft" kann im vorliegenden Zusammenhang wohl in erster Linie an "Energie" gedacht werden, an "een hoeveelheid energie", wie Dohmen im Anschluß an Mittasch eine der drei Bedeutungen von "Kraft" bei Nietzsche erläutert:286 "Kraft" ..." 2. im Sinne von Energie (Arbeit und Arbeitsfähigkeit)". Die dritte, von Mittasch genannte Bedeutung für "Kraft": "3. im Sinne von Richtung Gestaltungskraft, welche potentielle Energien zur Betätigung anstößt, erregt (Mayers 'Auslösung')"287 verweist bereits auf das Konzept des Willens. Bei der Erörterung der Texte ergeben sich gegebenenfalls noch Spezifizierungen. Was nun die "Stärke", die "Kraft" von Völkern, Ständen oder Einzelnen betrifft, so weist Nietzsche ausdrücklich darauf hin, daß es sich dabei nicht um "physische", sondern um "seelische" Kraft handle. Mit Völkern oder Ständen, die über eine hohe seelische Kraft verfügen, hat "bisher jede höhere Cultur auf Erden angefangen" (5,205,24-25): "Menschen mit einer noch natürlichen Natur, Barbaren in jedem furchtbaren Verstande des Wortes, Raubmenschen, noch im Besitz ungebrochener Willenskräfte und Macht-Begierden warfen sich auf schwächere, gesittetere, friedlichere, vielleicht handeltreibende oder viehzüchtende Rassen, oder auf alte mürbe Culturen, in denen eben die letzte Lebenskraft in glänzenden Feuerwerken von Geist und Verderbniss verflackerte. Die vornehme Kaste war im Anfang immer die BarbarenKaste: ihr Übergewicht lag nicht vorerst in der physischen Kraft, sondern in der seelischen, - es waren die ganzeren Menschen (was auf jeder Stufe auch so viel mit bedeutet als 'die ganzeren Bestien' -)" (5,205,25-206,10).
Die seelische Kraft der Barbaren beruht darauf, daß ihre "Willenskräfte" noch "ungebrochen" sind, sie sind noch kein "Tummelplatz", noch kein "Schlachtfeld" auseinanderstrebender Triebe, wie das später für den europäischen Menschen kennzeichnend wird. Sie waren noch "die ganzeren Menschen" im Sinn der Nichtzersplitterung der "Willenskräfte und MachtBegierden". Diese noch "ungebrochenen Willenskräfte" äußern sich nun offenbar auch in der "Kraft, zu organisiren" und Staaten zu schaffen. In einer Stelle der "Genealogie der Moral", die unmittelbar an die eben zitierte Stelle aus "Jenseits von Gut und Böse" erinnert, heißt es dazu: 286 287
Böhmen 1994, 252. Dohmen ebenda.
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"Physiologisch gesprochen"
"... irgend ein Rudel blonder Raubthiere, eine Eroberer- und Herren-Rasse", "kriegerisch organisirt und mit der Kraft zu organisiren" legt "unbedenklich ihre furchtbaren Tatzen auf eine der Zahl nach vielleicht ungeheuer überlegene, aber noch gestaltlose, noch schweifende Bevölkerung... Dergestalt beginnt ja der 'Staat' auf Erden..." (5,324,21-26).
Die überlegenen, noch "ungebrochenen" seelischen "Willenskräfte" schaffen mit ihrer organisatorischen Kraft den ersten Staat. Die Eroberung, die den ersten Staat schafft, ist also nicht nur eine kriegerische Unternehmung, sie ist nur möglich, weil und indem gebündelte Willenskräfte einer noch "gestaltlosen" Bevölkerung gegenüber treten. Die seelische Kraft macht die Eroberung und Staatengründung mit kriegerischen Mitteln erst möglich. Mit der organisierenden Dimension der Kraft hängt wohl auch ihre zeugende zusammen, über die Künstler, aber auch Völker, in unterschiedlichem Maasse verfügen. Wir erinnern uns, daß Nietzsche -von den "Zeugenkräften" ausgehend - die Völker in "männliche" und "weibliche" einteilt ("Jenseits von Gut und Böse" 248). Wichtig bei der Kraft ist nun aber noch, neben ihrer "Stärke" - das heißt neben der mehr oder weniger großen "Fülle" der Kraft ('Kraftmenge'), offenbar auch die Richtung, Gerichtetheit der Kraft: sie kann sich nach außen oder nach innen richten. Darauf geht Nietzsche in der "Genealogie der Moral" ( ,16) bei der Frage der Entstehung des "schlechten Gewissens" ein. Das "schlechte Gewissen" entstand, als der Mensch sich endgültig in den Bann der Gesellschaft und des Friedens eingeschlossen fand." (5,321,32322,2): "Alle Instinkte, welche sich nicht nach Aussen entladen, wenden sich nach Innen dies ist das, was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne: damit wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine 'Seele' nennt. Die ganze innere Welt... ist in dem Maasse aus einander- und aufgegangen, hat Tiefe, Höhe und Breite bekommen, als die Entladung des Menschen nach Aussen gehemmt worden ist. Jene furchtbaren Bollwerke, mit denen sich die staatliche Organisation gegen die alten Instinkte der Freiheit schützte... brachten zu Wege, dass alle jene Instinkte des wilden, freien, schweifenden Menschen sich rückwärts, sich gegen den Menschen selbst wandten." (5,322,22-323,1).
Mit der Entstehung des "schlechten Gewissens" war, nach Nietzsches Auffassung, "die größte und unheimlichste Erkrankung eingeleitet, von welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des Menschen am Menschen, an sich: als die Folge der gewaltsamen Abtrennung von der thierischen Vergangenheit, eines Sprunges und Sturzes gleichsam in neue Lagen und Daseins-Bedingungen, einer
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Kriegserklärung gegen die alten Instinke, auf denen bis dahin seine Kraft, Lust und Furchtbarkeit beruhte." (5,323,14-21). Die große Fülle der Kraft macht also allein noch nicht die "Wohlgerathenheit" des Menschen aus: Bedingung ist auch, daß diese Kräfte sich nach außen entladen können. Mit der Bildung der Gesellschaft und des Staates schneidet der starke Mensch sich diesen Weg selbst ab und leitet seine "größte und unheimlichste Erkrankung" ein. Etwas später geht Nietzsche nochmals auf dieses scheinbare Paradox ein, nimmt aber weitere Differenzierungen vor: "Im Grunde ist es ja dieselbe aktive Kraft, die in jenen Gewalt-Künstlern und Organisatoren grossartiger am Werke ist und Staaten baut, welche hier, innerlicher, kleinlicher, in der Richtung nach rückwärts, im 'Labyrinth der Brust', um mit Goethe zu reden, sich das schlechte Gewissen schafft und negative Ideale baut, eben jener Instinkt der Freiheit (in meiner Sprache geredet: der Wille zur Macht): nur daß der Stoff, an dem sich die formbildende und vergewaltigende Natur dieser Kraft ausläßt, hier eben der Mensch selbst, sein ganzes thierisches altes Selbst ist, und nicht, wie in jenem größten und augenfälligeren Phänomen, der andre Mensch, die andren Menschen." (5,325,29-326,8). Die gleiche Kraft schafft also, wenn sie "grossartiger am Werke" ist, Staaten, wenn sie "innerlicher, kleinlicher, in der Richtung nach rückwärts" gewandt ist, jedoch das "schlechte Gewissen", indem sie sich nur auf den Menschen selbst richtet, und nicht auch auf "die andren Menschen." Und sie baut auch "negative Ideale". Dies verweist auf den asketischen Priester, der durchaus auch über eine Fülle der Kraft verfügt, diese aber "nach innen", gegen sich selbst richtet. Darauf ist noch einzugehen. Ist keine "überströmende Kraft" mehr vorhanden, dann tritt der "Gelehrte" in den Vordergrund, und auch die "Heraufkunft der Demokratie" wird damit in Verbindung gebracht: "Man sehe sich die Zeiten eines Volkes an, in denen der Gelehrte in den Vordergrund tritt: es sind Zeiten der Ermüdung, oft des Abends, des Niedergangs, - die überstömende Kraft, die Lebens-Gewissheit, die ZwAu/i/te-Gewissheit sind dahin. Das Übergewicht des Mandarinen bedeutet niemals etwas Gutes: so wenig als die Heraufkunft der Demokratie... der Religion des Mitleids und was es sonst alles für Symptome des absinkenden Lebens giebt." (5,403,14-22). Auch "pessimistische Religionen und Philosophien" können die Folge einer "Erschöpfung" der Kräfte sein:
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"Religion als decadence der Schlaf als Folge jeder Erschöpfung, die Erschöpfung als Folge jeder übermässigen Reizung... das Bedürfiiiss nach Schlaf, die Vergöttlichung und Adoration selbst des Begriffs 'Schlaf in allen pessimistischen Religionen und Philosophien die Erschöpfung ist in diesem Falle eine Rassen-Erschöpfung; der Schlaf, physiologisch genommen, nur ein Gleichniss eines tieferen und längeren Ruhen-Müssens... In praxi ist es der Tod, der hier unter dem Bilde seines Bruders, des Schlafes, so verführerisch wirkt..." (KSA 13,357-8: F 88: 14/171/).
Das Wort "Rasse" in "Rassen-Erschöpfung" meint nicht eine bestimmte Rasse im modernen Sinn oder ein bestimmtes Volk: der Zustand der Erschöpfung kann bei jedem Volk auftreten, etwa durch Erkrankung oder als Spätphase einer höheren Entwicklung der Kultur. Es handelt sich um einen physiologischen Vorgang, der als solcher nicht völkerspezifisch ist. Wir haben oben schon gesehen, daß Nietzsche für eine neuerliche Bewertung der "bisherigen Werthschätzungen" (5,289,8-9) eine Zusammenarbeit der Philosophen mit den "Wissenschaften" ("Physiologen und Mediciner": 5,289,8) fordert. (GM 1,17). In einem Fragment vom Frühjahr 1888 (KSA 13,282-3: 14/105/) greift er diesen Punkt wieder auf und macht einen konkreteren Vorschlag, der von einer "Zahl- und Maßscala der Kraß" ausgeht: "Unsere Erkenntniss ist in dem Maße wissenschaftlich geworden, als sie Zahl und Maass anwenden kann. Der Versuch wäre zu machen, ob nicht eine wissenschaftliche Ordnung der Werthe einfach auf eine Zahl- und Maßscala der Kraft aufzubauen wäre... - alle sonstigen 'Werthe1 sind Vorurtheile, Naivetäten, Missverständnisse... - sie sind überall reduzirbar auf jene Zahl- und Maß-Scala der Kraft - das Aufwärts in dieser Scala bedeutet Wachsen an Werih: das Abwärts in dieser Skala bedeutet Verminderung des Werths Hier hat man den Schein und das Vorurtheil wider sich" (13,282,23-283,7).
Hier werden zwei gegenläufige Tendenzen auf der Skala der Kraft angedeutet: ein "Aufwärts", das ein "Wachsen an Werth" mit sich bringt, und ein "Abwärts" mit einer zunehmenden "Verminderung des Werths". Bei der ersten Tendenz dürfen wir wohl etwa an die aristokratische Gesellschaft denken und ihre "gut-schlecht-Moral", die demnach einen hohen Werth zugeteilt bekäme, und andrerseits an eine demokratische Gesellschaft sowie an die asketische, christliche Moral (gut-böse), die ihre Ausbreitung, nach Nietzsches Auffassung, der Erkrankung des europäischen Menschen ("physiologisches Hern-
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mungsgefühl" sowie falsche Medikation durch den asketischen Priester) verdanken. Ihnen wäre daher ein "verminderter" Wert zuzuerkennen. In beiden Fällen wäre die Position auf der "Skala der Kraft" für die Zuerteilung der jeweiligen Bewertung maßgebend. Mit einer solchen "Skala der Kraft" ließe sich also Nietzsches eigene Wertung der "bisherigen Wertschätzungen", wie er sie an vielen Stellen ausspricht, untermauern. Die "wissenschaftliche Ordnung der Werthe", die er hier an einer "Zahl- und Maßscala der Kraft" festmachen will, könnte also seine sonst vorgetragene "Rangordnung" der "Werthe" stützen. Die "Rangordnung der Werthe" fände in einer solchen Skale der Kraft die von ihm in der "Genealogie der Moral" geforderte wissenschaftliche Grundlage. Die auf diesem Wege wissenschaftlich untermauerte "Rangordnung der Werthe" hat nun insofern "den Schein und das Vorurtheil wider sich", als eben bis jetzt (bis zu Nietzsches Zeit) die Werte der absteigenden Linie der Skala die höhere Wertschätzung genießen: die christlichen und die demokratischen Werte. Diese letztere Wertschätzung befindet sich aber im Widerspruch mit der von Nietzsche geforderten, an einer Skala der Kraft orientierten, die den aristokratischen Werten den höheren Wert zuerkennen würde. Auch für den Bereich der Erkenntnis vertritt Nietzsche die Auffassung, daß nicht von einer "reinen" Theorie die Rede sein kann, daß vielmehr auch hier "Instinkte (Formen der Vitalität, des Niedergangs, der Stände, der Rassen usw.)" "thätig gewesen sind". Das Fragment datiert ebenfalls vom Frühjahr 1888 (KSA 13,325-6: 14/1427). "Theorie und Praxis Verhängnissvolle Unterscheidung, wie als ob es einen eigenen Erkenntnisstrieb gäbe, der, ohne Rücksicht auf Fragen des Nutzens und Schadens, blindlings auf die Wahrheit los gienge: und dann, davon abgetrennt, die ganze Welt der praktischen Interessen... Dagegen suche ich zu zeigen, welche Instinkte hinter all diesen reinen Theoretikern thätig gewesen sind, - wie sie allesammt fatalistisch im Bann ihrer Instinkte auf Etwas losgiengen, was für sie 'Wahrheit' war, für sie und nur für sie. Der Kampf der Systeme, sammt dem der erkenntnisstheoretischen Scrupel, ist ein Kampf ganz bestimmter Instinkte (Formen der Vitalität, des Niedergangs, der Stände, der Rassen usw.)." (13,325,27-326,7).
Wir haben schon einen Text besprochen, in dem die "Wahrheit" der "Kategorien der Vernunft" als in ihrer "Nützlichkeit" für die Daseinssicherung liegend erläutert wurde.
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"Physiologisch gesprochen"
Auch im gesellschaftlich-politischen Bereich findet unterschiedliche Kraftfülle jeweils ihren spezifischen Ausdruck. Dies stellt Nietzsche in der "Genealogie der Moral" (111,18) dar. Die Schwachen streben zur "Heerdenbildung": "Alle Kranken, Krankhaften streben instinktiv, aus einem Verlangen nach Abschüttelung der dumpfen Unlust und des Schwächegefiihls, nach einer HeerdenOrganisation: der asketische Priester erräth diesen Instinkt und fördert ihn: wo es Heerden giebt, ist es der Schwäche-Instinkt, der die Heerde gewollt hat, und die Priester-Klugheit, die sie organisirt hat." (5,384,3-9).
Die Starken streben eher auseinander und schließen sich quasi nur aus 'taktischen' Gründen zusammen: "die Starken streben ebenso natumothwendig auseinander, als die Schwachen zueinander; wenn erstere sich verbinden, so geschieht es nur in der Aussicht auf eine aggressive Gesammt-Aktion und Gesammt-Befriedigung ihres Willens zur Macht, mit vielem Widerstande des Einzel-Gewissens: letztere dagegen ordnen sich zusammen, mit Lust gerade an dieser Zusammenordnung, - ihr Instinkt ist dabei ebenso befriedigt, wie der Instinkt der geborenen 'Herren' (das heißt der solitären Raubthier-Species Mensch) im Grunde durch Organisation gereizt und beunruhigt wird." (5,384,9-18).
Die "Schwachen", die sich "mit Lust" zusammenordnen, sehen dieses Bedürfnis am ehesten wohl in einer Demokratie befriedigt. Wie eine Staatsform für die "Starken" aussehen könnte, erläutert Nietzsche anschließend mit einem Hinweis auf die griechische Oligarchie: "Unter jeder Oligarchie liegt - die ganze Geschichte lehrt es - immer das tyrannische Gelüst versteckt; jede Oligarchie zittert beständig von der Spannung her, welche jeder Einzelne in ihr nöthig hat, Herr über dies Gelüst zu bleiben. (So war es zum Beispiel griechisch: Plato bezeugt es an hundert Stellen, Plato, der seinesgleichen kannte - und sich selbst...). (5,384,18-24).
Die Starken können sich also nur "zusammenordnen", indem sie "Herr über das tyrannische Gelüst" bleiben, das darin besteht, über die anderen "Herr" werden zu wollen. "Staat" wird möglich durch "Selbstbe-Herr-schung". Aber dieses "Herr"-sein über sich selbst vollzieht sich als beständiger Zustand der "Spannung" im Einzelnen. Der gespannte Bogen kann sich nicht gegen "seines Gleichen" entladen. Es gibt nur die "Aussicht auf eine aggressive GesammtAktion... ihres Willens zur Macht", das heißt, etwa in Eroberungen könnte sich dieser Wille entladen. Andrerseits aber auch in der Verteidigung gegen Bedrohungen von außen, wie Nietzsche dies in JGB 262 darstellt: dort entstand die Aristokratie als notwendige Kampfgemeinschaft gegen äußere Feinde. Der "Wille zur Macht"
Potentiale: Wüle und Kraft
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äußert sich im vorliegenden Zusammenhang einmal als spannungsvolle Selbstbeherrschung im Innern der aristokratischen Gemeinschaft, zum ändern aber als Wille zur Selbstbehauptung dieser Gemeinschaft gegen äußere Bedrohung. Es muß also nicht in erster Linie an Eroberungen gedacht werden. Die besprochenen Texte können deutlich machen, daß die mehr oder weniger große Fülle der Kraft in nahezu allen Feldern der Kultur, etwa der Moral, Religion, Erkenntnis sowie Staat und Politik ihren Ausdruck findet. Neben der 'Menge' der Kraft ist dabei auch wichtig, in welcher Richtung die Kraft ihre Entladung findet (nach außen, nach innen), oder aber ob sie "Herr" über sich selbst wird und sich sammelt, wie im Falle der "Starken", um eine "Zusammenordnung" zu ermöglichen und diese gegen äußere Feinde zu behaupten. In diesem letzteren Fall werden die gesammelten Kräfte zur Grundlage eines "Willens zur Macht", der im von Nietzsche herangezogenen Beispiel zunächst einmal auf die Sicherung der eigenen "Zusammenordnung" gerichtet ist, und vielleicht erst in zweiter Linie auf Ausbreitung nach außen, also auf Eroberung. Zwischen der Fülle der Kraft und der Stärke des Willens kann demnach ein Zusammenhang angenommen werden: "Lebenskraft" und "Willenskraft" gehen offenbar Hand in Hand. Dies scheint auch aus den Texten hervorzugehen, die nun besprochen werden sollen. Wenn in diesen Texten z.T. nur von "Willenskraft" oder "Willenslähmung" die Rede ist, dann dürfte doch die "Lebenskraft", die Fülle der Kraft immer stillschweigend, als Grundlage der "Willenskraft", mitgemeint sein: "Wille" als gerichtete Kraft. Ein klarer Beleg für einen derartigen vermuteten Zusammenhang zwischen Kraft und Wille als einer "gerichteten Kraft" findet sich in dem Fragment "Die Starken der Zukunft" (KSA 12,424-6: H 87: 9/153/), wo Nietzsche von einer "stärkeren Rasse" spricht: "welche gerade ihren Überschuß darin hätte, worin die verkleinerte species schwach und schwächer würde (Wille, Verantwortlichkeit, Selbstgewißheit, Ziele-sichsetzen-können)" (l 2,425,17-20).
Die "stärkere Rasse" hätte als "ihren Überschuß" darin, daß sie "sich Ziele setzen kann", also ihrem Willen eine Richtung geben kann. Die Formulierungen "verkleinerte species" und "stärkere Rasse" spielen offenbar nicht auf bestimmte Völker, sondern auf Menschentypen an: auf die
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"Physiologisch gesprochen"
"Mittelmässigen" und auf die "Starken", "Vornehmen". Die Fülle der Kraft und die Fähigkeit, sich "Ziele setzen zu können", sowie "Verantwortlichkeit" und "Selbstgewissheit" bestimmen hier den Platz in der Rangordnung der Menschentypen. Daß die "Starken" eher bereit sind, "Verantwortlichkeit" zu übernehmen und mehr "Selbstgewissheit" besitzen, ergibt sich auch aus dem vorher herangezogenen Text: die "Starken" streben "auseinander", sie schließen sich sozusagen nur 'taktisch' zusammen, jedoch nicht "mit Lust", wie die "Schwachen". Sie haben die Kraft, allein zu stehen und brauchen nicht die Abstützung in der "Heerde". Die "stärkere Rasse" meint also Menschen, die die Kraft haben, aus sich heraus sich Ziele setzen zu können, die in diesem Sinne "selbstgewiß" und "verantwortlich" sind. Für sich selbst stehen und einstehen zu können, macht den starken Menschen- nicht die 'Macht' über andere. Die Situation des heutigen Europa, auf die Nietzsche in Aphorismus 208 von "Jenseits von Gut und Böse" näher eingeht, ist demgegenüber gekennzeichnet durch "Skepsis" bzw. "Willenslähmung", die der "geistigste Ausdruck einer gewissen vielfachen physiologischen Beschaffenheit" ist, und die jedes Mal entsteht, wenn sich in entscheidender und plötzlicher Weise lang von einander abgetrennte Rassen oder Stände kreuzen" (5,138,11-15): "Skepsis nämlich ist der geistigste Ausdruck einer gewissen vielfachen physiologischen Beschaffenheit, welche man in gemeiner Sprache Nervenschwäche und Kränklichkeit nennt; sie entsteht jedes Mal, wenn sich in entscheidender Und plötzlicher Weise lang von einander abgetrennte Rassen oder Stände kreuzen". (5, 138,11-15).
Die "Kreuzung", und zwar die "plötzliche Kreuzung" "lang von einander abgetrennter Rassen oder Stände" führt zu einer "gewissen vielfachen physiologischen Beschaffenheit", deren Ausdruck "Skepsis" ist, die man in "gemeiner Sprache Nervenschäche und Kränklichkeit" nennt. Diese Formulierungen erinnern stark an die entsprechende Passage in der "Genealogie der Moral", wo als eine der "Abkünfte" des "physiologischen Hemmungsgefühls" die "plötzliche" Mischung "fremder" "Rassen und Stände" genannt wurde (5,378,13-18). Wir haben dort schon gesehen, daß hier der "Plötzlichkeit" der Mischung die entscheidende Bedeutung zukommt, denn Nietzsche begrüßt und fordert ja immer wieder die Mischung der Völker. Nicht also die "Kreuzung" an sich fuhrt zur Erkrankung, sondern ihre Plötzlichkeit und Unvermitteltheit.
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Die "Kreuzung", und zwar die "plötzliche Kreuzung" "lang von einander abgetrennter Rassen oder Stände" führt zu einer "gewissen vielfachen physiologischen Beschaffenheit", deren Ausdruck "Skepsis" ist, die man in "gemeiner Sprache Nervenschäche und Kränklichkeit" nennt. Diese Formulierungen erinnern stark an die entsprechende Passage in der "Genealogie der Moral", wo als eine der "Abkünfte" des "physiologischen Hemmungsgefühls" die "plötzliche" Mischung "fremder" "Rassen und Stände" genannt wurde (5,378,13-18). Wir haben dort schon gesehen, daß hier der "Plötzlichkeit" der Mischung die entscheidende Bedeutung zukommt, denn Nietzsche begrüßt und fordert ja immer wieder die Mischung der Völker. Nicht also die "Kreuzung" an sich führt zur Erkrankung, sondern ihre Plötzlichkeit und Unvermitteltheit. Man darf wohl annehmen, daß Nietzsche mit diesen Formulierungen auf die gewaltigen sozialen Veränderungen durch Industrialisierung und Demokratisierung in Europa anspielt, durch die die frühere "Rangordnung" aufgelöst und die Stände durcheinander gewirbelt wurden. Diese sozialen Veränderungen führten zu einer "vielfachen physiologischen Beschaffenheit", die "in gemeiner Sprache Nervenschwäche und Kränklichkeit" genannt wird. Dies wird von Nietzsche näher erläutert: "In dem neuen Geschlechte, das gleichsam verschiedene Maasse und Werthe in's Blut vererbt bekommt, ist Alles Unruhe, Störung, Zweifel, Versuch; die besten Kräfte wirken hemmend, die Tugenden selbst lassen einander nicht wachsen und stark werden, in Leib und Seele fehlt Gleichgewicht, perpendikuläre Sicherheit. Was aber in solchen Mischlingen am tiefsten krank wird und entartet, das ist der Wille: sie kennen das Unabhängige im Entschlüsse, das tapfere Lustgefühl im Wollen gar nicht mehr.... Willenslähmung: wo findet man nicht heute diesen Krüppel sitzen!" (5,138,16-32).
Durch den "plötzlichen" Wandel sind die "Maasse und Werthe" durcheinander geraten, das "Gleichgewicht in Leib und Seele" ist verloren gegangen, der "Wille" ist krank geworden: die Menschen kennen nicht mehr das "Unabhängige im Entschlüsse", "das tapfere Lustgefühl im Wollen"; der Wille ist "gelähmt". "Wollen" setzt offenbar ein "Gleichgewicht in Leib und Seele" sowie eine "Ordnung" der "Maasse und Werthe" voraus, die nun verloren sind. Im vorhergehenden Text waren die "Starken" jene, die die Kraft haben, "sich Ziele setzen zu können", also ihrem Willen eine Richtung geben zu können. Auch dafür war offenbar eine Ordnung der Werte vorauszusetzen. All dies ist
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nach Nietzsches Auffassung im heutigen Europa nicht mehr gegeben: daher ist der Wille gelähmt. Mit dieser Diagnose stand Nietzsche keineswegs allein. Bei Volz erfahren wir, daß die "Nervenschwäche" unter dem Namen "Neurasthenie" als "Modekrankheit" "in den achtziger Jahren" des 19. Jahrhunderts "in aller Munde" war. Sie wurde erstmals von dem amerikanischen Arzt Beard (1869) eingehender beschrieben. Sie besagt soviel wie "nervöse Schwäche" bzw. "physische Erschöpfung in Folge mangelhafter Ernährung des Nervengewebes".288 Zu ihren Symptomen gehört u.a. auch die Dyspepsie, die uns schon begegnet ist. Der Magen spielt also auch hier eine Rolle. Volz weist darauf hin, daß Nietzsche sich lebhaft für diese Krankheit interessierte, und sie weist auch auf Nietzsches eigene Lektüre zu dieser Frage hin: "Daß Nietzsche selbst sich für diese Phänomen interessierte, bezeugt schon allein seine Lektüre von Loewenfelds Abhandlung über 'Die moderne Behandlung der Nervenschwäche (Neurasthenie), der Hysterie und verwandter Leiden', Wiesbaden 1887."
Diese Lektüre prägte, nach Volz' Auffassung, sowohl die Deutung seiner eigenen Erkrankung wie auch seine Diagnose der Zeiterscheinungen. Sie verweist dafür auf Nietzsches Kritik des religiösen Menschen im "Antichrist" sowie auf seine Urteile über Wagners Musik im "Fall Wagner".289 Die Brüder De Goncourt bezeichnen 'Taffaiblissement general de la volonte" als "vraie maladie du siecle".290 Dohmen weist darauf hin, daß das Konzept des Willens in den genannten Texten durch Nietzsche eine gewisse "Wiederaufwertung" erfahre, denn der "Willensbegriff' gehe ja auf die klassische Metaphysik zurück, die Nietzsche längst ad acta gelegt hatte. Für seine "praktische Philosophie" war er aber offenbar unentbehrlich.291
288
Vgl. Volz 1990, 77. Volz 1990, 78-79. 290 Nguyen 1991, 38. 291 Vgl. Dohmen 1994, 491. Dohmen geht dort auch auf die Formulierung von der "Disgregation des Willens" ein, die ebenfalls bei der Willenslähmung eine Rolle spielt.
289
Potentiale: Wille und Kraft
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Europa braucht aber wieder "Einen Willen", "damit endlich die langgesponnene Komödie seiner Kleinstaaterei und ebenso seine dynastische wie demokratische Vielwollerei zu einem Abschluss käme". Dies schreibt er am Ende desselben Aphorismus 208, in dem er die heutige "Willenslähmung" Europas
diagnostiziert
(5,140,6-11).
Die
"Vielwollerei"
resultiert
in
"Willenslähmung" und der Unfähigkeit, sich Ziele zu setzen. Der Weg zur Wiedergewinnung eines solchen geeinten Willens könnte in einer Bedrohung von außen bestehen, etwa in einer "Zunahme der Bedrohlichkeit Russlands, [so] daß Europa sich entschliessen müsste, gleichennassen bedrohlich zu werden, nämlich Einen Willen zu bekommen". (5,140,4-6). Diese Vorstellung kennen wir schon aus Aphorismus 262 (JOB), wo auch die Bedrohung durch die äußeren Feinde und die Notwendigkeit, sich gegen diese durch stete Kampfbereitschaft behaupten zu können, für die Entstehung und den Zusammenhalt der aristokratischen Gemeinschaft und ihrer einen Moral sorgten. Und so ist es nur konsequent, wenn Nietzsche auch hier von der Entstehung einer "neuen über Europa herrschenden Kaste" spricht (5,140, 7), die einen "langen furchtbaren eigenen Willen" entwickeln müsste, "der sich über Jahrtausende hui Ziele setzen könnte" (5,140,7-0). Der "Eine Wille", der wiederzugewinnen wäre, würde demnach in einem aristokratischen Europa von der oberen, "herrschenden" "Kaste" dieser Aristokratie getragen. Bis jetzt ist es noch nicht so weit, aber es gebe schon "die unzweideutigsten Anzeichen" (5,201,27), "in denen sich ausspricht, daß Europa Eins werden wiir (5,201,28-29). Diese würden jedoch durch den "Nationalitäts-Wahnsinn" (5,201,20-1) noch zum Teil verstellt: aber: "Bei allen tieferen und umfänglicheren Menschen dieses Jahrhunderts war es die eigentliche Gesammt-Richtung in der geheinmissvollen Arbeit ihrer Seele, den Weg zu jener neuen Synthesis vorzubereiten und versuchsweise den Europäer der Zukunft vorwegzunehmen... Ich denke an Menschen wie Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal, Heinrich Heine, Schopenhauer..." (5,201,29-202,6). Die "Willenslähmung" und "Vielwollerei" Europas soll also in einer "neuen Synthesis" überwunden werden, die zugleich eine Bereicherung Europas bringen wird. Die Erkrankung Europas und ihre erhoffte Überwindung bringen Europa also eine Bereicherung: sie ist keineswegs nur Stillstand und Verlust. Herbeigeführt wird die "neue Synthesis" von "Tantalussen des Willens" (5,
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"Physiologisch gesprochen"
203), zu denen auch "heraufgekommene Plebjer" gehören (5,203,6). Es handle sich dabei "im Ganzen [um] eine verwegen-wagende, prachtvoll-gewaltsame, hoch fliegende und hoch emporreissende Art höherer Menschen, welche ihrem Jahrhundert - und es ist das Jahrhundert der Mengel - den Begriff 'höherer Mensch' erst zu lehren hatte..." (5,203,14-18).
Europa ist also noch nicht verloren! Auch in dieser Zuversicht unterscheidet sich Nietzsche von Schwarzsehern wie Gobineau.292 Mitten in der "Willenslähmung" sieht Nietzsche bereits "Anzeichen" für eine Wiedergewinnung einer "neuen Synthese", die Europa wieder einen geeinten Willen bringen wird. Und dieser eine Wille wird ein reicherer Wille sein. Und an seiner Gewinnung sind auch "heraufgekommene Plebejer" beteiligt: die "Stände" sind keine ewig verschlossenen Käfige: "Tantalusse des Willens" brechen sie auf und können sogar der "Menge" "den Begriff 'höherer Mensch'" wieder "lehren". Das Aphorismenbuch "Jenseits von Gut und Böse", das die tiefe Erkrankung Europas beschreibt (ähnlich wie in der "Genealogie der Moral"), gibt zugleich der Zuversicht Ausdruck, daß diese Erkrankung überwunden werden kann, und daß Europa daraus reicher in einer "neuen Synthese" hervorgehen wird. Und diese "neue Synthese" wird auch eine Überwindung des "Nationalitäts-Wahnsinns" bringen (5,201,20-21). In einem Fragment vom Frühjahr 1884 drückt Nietzsche die Überzeugung aus, daß der "Mensch mit dem allergrößten Willen die Herrschaft des Besten durchsetzen" kann: (KSA 11,111-112: F 84: 25/3S2/): "Die Gefahr des Menschen steckt darin, wo seine Stärke ist: er ist unglaublich geschickt darin, sich zu erhalten, selbst in den unglücklichsten Lagen... So erhält sich das Missrathene viel länger und verschlechtert die Rasse: weshalb der Mensch, im Vergleich zu den Thieren, das krankhafteste Thier ist. Im großen Gange der Geschichte muß aber das Grundgesetz durchbrechen und der Beste zum Siege kommen: vorausgesetzt, daß der Mensch mit dem allergrößten Willen die Herschaft des Besten durchzusetzen sucht."
Die Behauptung und die "Herrschaft des Besten" hängen also von der Fülle der Kraft und der Richtung des Willens ab. Hier ist vom Menschen allgemein die Rede, das Wort "Rasse" meint hier die Menschheit "im Vergleich zu den Thieren". Fülle der Kraft und Willenskraft sind unabhängig von Volks- oder
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So auch Arendt 1986, 287.
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Standeszugehörigkeit. Sie eignen dem Menschen allgemein in unterschiedlichem Grade je nach der physiologischen Verfassung, die ihrerseits - gemäß Nietzsches "Rasse-Konzept" - wiederum in hohem Maße von den jeweiligen Existenzbedingungen (Umgebung, Klima, Diät) beeinflußt wird. Von einer biologisch bedingten Vorbestimmung des Menschen, wie sie vom 'modernen' Rassebegriff angenommen wird, kann hier nicht die Rede sein. Zu fragen ist noch, inwiefern in dem zuletzt herangezogenen Nietzsche-Text darwinistische Vorstellungen mit angesprochen sind und welche Funktion dies bei Nietzsche haben könnte. Die Formulierung, daß "das Missrathene sich viel länger erhält und die Rasse verschlechtert", könnte eine Anspielung auf Darwin sein, enthält aber im zweiten Teil zugleich eine Kritik Darwins. Darwins Anpassung und 'Kampf ums Dasein' fuhren nach Nietzsches Auffassung nicht zu einer Erhöhung des Menschen. Nietzsche ist vielmehr der Auffassung, daß "im grossen Gang der Geschichte der Beste zum Siege kommen" müsse. Allerdings unter einer Voraussetzung: "daß der Mensch mit dem ailergrössten Willen die Herrschaft des Besten durchzusetzen sucht". Die Erhöhung des Menschen, wie Nietzsche sie versteht, resultiert also nicht aus Darwins 'Selektion' und 'Kampf ums Dasein', sondern kann, nach Nietzsches Auffassung, nur das Werk des "ailergrössten Willens" sein, "der die Herrschaft des Besten durchzusetzen sucht". Die Erhöhung des Menschen ist das Werk einzelner willensstarker Menschen, die unabhängig von darwinistischen Vorstellungen die Erhöhung des Menschen konzipieren und 'wollen'. Wie Nietzsche diese Idee einer Erhöhung des Menschen im einzelnen zu begründen versucht, wird in Teil II näher zu erörtern sein. Wenn Nietzsche seine Vorstellung einer Erhöhung des Menschen als "Grundgesetz" bezeichnet, könnte dies ebenfalls eine Anspielung auf Darwin sein. Allerdings meint er damit etwas ganz Anderes als Darwin. Während Darwins "Grundgesetz" biologisch zu interpretieren sein dürfte, zielt Nietzsches "Grundgesetz" auf eine Erhöhung des Menschen, die kulturelle "Arbeit" und Erziehung in den Mittelpunkt stellt. Dir Ziel, Vornehmheit, kann auf darwinistischen Wegen weder konzipiert noch erreicht werden. Bemerkenswert an Nietzsches Text ist, daß Nietzsche zwar einerseits auf darwinistische Vorstellungen und Formeln anspielt, daß er diese aber zugleich kritisiert und zurückweist. Indem Nietzsche darwinistische Formern gleichsam
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"Physiologisch gesprochen"
'zitiert', formuliert er zugleich sein anti-darwinistisches Programm. Offenbar will Nietzsche etwas formulieren, das gegensätzlich ist, das aber zugleich eine ähnliche Gültigkeit wie Darwins Lehren beanspruchen will. Das angedeutete Verfahren dient einerseits der Zitierung der Darwinischen Lehre, zugleich aber auch ihrer Kritik und 'Umwertung' im Sinne Nietzsches. Wir werden auch im weiteren Verlauf der Untersuchung diesem Verfahren der gleichzeitigen Aufrufung und Umwertung Darwinscher Konzepte noch wiederholt begegnen.
Gedeihen und Missrathen
Menschen und Völker können vielmehr, was zum großen Teil von ihren Existenzbedingungen abhängt, mehr oder weniger gut "gedeihen" oder aber "missrathen". Dieses unterschiedliche Maß des Gedeihens schlägt sich in ihrer physiologischen Verfassung nieder, die ihrerseits in "Zeichensprachen" wie Moral, Religion usw. ihren Ausdruck findet. Ein Volk ist nicht von vornherein oder 'für immer' zu einer bestimmten physiologischen Verfassung 'bestimmt' oder auf eine solche 'festgelegt'. Die jeweilige physiologische Verfassung kann sich ändern, etwa durch Wechsel der Umgebung und der Existenzbedingungen (worauf Nietzsche selbst hinweist: 11,136,14 "Wechsel der Milieu's"). Sie kann sich aber auch durch Erkrankung ändern, wie wir schon gesehen haben. Die physiologische Verfassung weist zu einer bestimmten Zeit einen bestimmten Zustand, eine bestimmte Verfassung auf, aber da sie sich im Ablauf der Zeit auch ändern kann, hat sie auch eine prozeßhafte Seite: die "Lebenskraft" kann "sinken", unter Umständen aber auch wieder "steigen", wenn es etwa gelingt, spezifische Erkrankungen zu heilen. Schon der asketische Priester hatte einen "Heilungsversuch" gemacht, wenn auch, nach Nietzsches Auffassung, einen ungeeigneten, da er die physiologische Natur der Erkrankung des europäischen Menschen verkannte. Hier eben, an der "rechten Stelle", versucht Nietzsche selbst, als "philosophischer Arzt", anzusetzen. Im vorigen Abschnitt wurde vor allem erörtert, daß und inwiefern bestimmte physiologische Zustände (qua Kraft und Wille) ihren Ausdruck in spezifischen Symptomen finden. Nun werden einige Texte besprochen, die mehr auf die
Gedeihen und Missrathen
255
Veränderung und Veränderbarkeit der physiologischen Verfassung hinweisen und auf ihren Ausdruck in den "Zeichensprachen". Schon in den bereits eingehend besprochenen Texten der "Genealogie der Moral" (
,12-21) werden nicht nur physiologische Zustände, sondern auch
Verläufe, Prozesse behandelt. So werden insbesondere in den "Abkünften" Vorgänge und Ereignisse genannt, die zur Entstehung des "physiologischen Hemmungsgefühls" fuhren. Die Erkrankung ist 'geworden', und sie kann vielleicht auch wieder genesen werden. In einem Fragment vom Frühjahr 1888 (KSA 13,228: 14/22/) weist Nietzsche darauf hin, daß er schon in der "Geburt der Tragödie" "physiologisch nachgerechnet" habe, "daß es die Niedergangs-Zeiten einer starken Rasse sind, wo der Typus des wissenschaftlichen Menschen in ihr reif wird." (13,228,2022). Wenn die "Lebenskraft" sinkt, tritt der "wissenschaftliche Mensch" auf. So verhält es sich auch mit dem "asketischen Ideal": "...physiologisch nachgerechnet, ruht die Wissenschaft auf dem gleichen Boden wie das asketische Ideal: eine gewisse Verarmung des Lebens ist hier wie dort die Voraussetzung." (5,403,6-9). Das Wort "Voraussetzung" scheint hier auf ein gewisses Nacheinander in der Zeit hinzuweisen: zuerst "verarmt" das Leben, dann treten der wissenschaftliche Mensch und das asketische Ideal auf. Auch der Übergang von "Freude" und "Schönheit" zu "Ernst" und "Hässlichkeit" ist Ausdruck eines Übergangs von physiologischem "Gedeihen" zu physiologischem "Missrathen". Der "Ernst" ist das Kennzeichen des asketischen Priesters, er ist der "eigentliche Repräsentant des Ernstes", wie es in der "Genealogie der Moral" heißt (5,361,16-17). Wie wir bereits sahen, verstärkt er die schon vorhandenen Gefühle der "Unlust" und "Depression", also der sinkenden Lebenskraft, indem er den Versuch macht, die Kraft überhaupt gegen das Leben selbst zu richten, was zu einer Vertiefung des "Ernstes" und der "Hässlichkeit" des erkrankten Menschen führt: "hier wird ein Versuch gemacht, die Kraft zu gebrauchen, um die Quellen der Kraft zu verstopfen; hier richtet sich der Blick grün und hämisch gegen das physiologische Gedeihen selbst, in Sonderheit gegen dessen Ausdruck, die Schönheit, die Freude; während am Missrathen, Verkümmern, am Schmerz, am Unfall, am Häss-
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"Physiologisch gesprochen"
liehen, an der willkürlichen Einbusse, an der Entselbstung, Selbstgeisselung, Selbstopferung ein Wohlgefallen empfunden und gesucht wird." (5,363,12-19).
"Schönheit" als Ausdruck des physiologischen "Gedeihens" zeichnete auch die Griechen zur Zeit Ciceros aus (6,149,12-14). Er lobt die Griechen in der "Götzen-Dämmerung" als ein Volk, das "die Cultur an der rechten Stelle beginnt - nicht an der 'Seele' (wie es der verhängnissvolle Aberglaube der Priester... war): die rechte Stelle ist der Leib, die Gebärde, die Diät, die Physiologie, der Rest folgt daraus..." (6,149,26-30). Wir haben diese Stelle schon kennengelernt. Das physiologische "Missrathen" findet hingegen seinen Ausdruck in "Ernst" und "Hässlichkeit", aber auch der Altruismus und der "Socialismus" gehören hierher. In einem Fragment vom Frühjahr 1888 (KSA 13,231-3: 14/29/) wird der "Cultus des Altruismus [als] eine spezifische Form des Egoism" eingestuft, "die unter bestimmten physiologischen Voraussetzungen regelmässig auftritt" (13,233,21-23). Als "Voraussetzung" nennt Nietzsche das physiologische "Missrathensein": "Das Übergewicht einer altruistischen Werthungsweise ist die Folge eines Instinktes für Missrathen-sein. Das Werthurtheil auf unterstem Grunde sagt hier: 'ich bin nicht viel werth': ein bloß [rein] physiologisches Werthurtheil, noch deutlicher: das Gefühl der Ohnmacht, der Mangel der großen bejahenden Gefühle der Macht (in Muskeln, Nerven, Bewegungszentren). Dies Werthurtheil übersetzt sich, je nach der Cultur dieser Schichten, in ein moralisches oder religiöses Urtheil..." (13,232,19-26).
Der "christliche Sünder" "will lieber sich schuldig finden, als umsonst sich schlecht fühlen" (13,232,32-33). Andere "Schlechtweggekommene" suchen "den Grund dafür" "in der Gesellschaft: der Socialist, der Anarchist, der Nihilist" (13,233,1-3). Gemeinsam ist allen: "Der Instinkt der Rache und des Ressentiment ist in beiden Fällen... das Mittel, es auszuhalten, als Instinkt der Selbsterhaltung: ebenso wie die Bevorzugung der altruistischen Theorie und Praxis." (13,233,8-11).
Demgegenüber ist der "Egoism" der "Wohlgerathenen" auf "Wachsthum" gerichtet (13,231,25). In der "Lehre des Socialismus verbirgt sich", nach Nietzsches Auffassung, "schlecht ein 'Wille zur Verneinung des Lebens'; es müssen missrathene Menschen oder Racen sein welche eine solche Lehre ausdenken." (KSA 11,
Physiologische Typen
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586,31-587, 1: Juni-Juli 1885: 37/117). Der Gesichtsausdruck der "Socialisten" stehe im Widersprach zu der Lehre, die sie verbreiten: "Nichts ist lustiger anzusehen als der Widerspruch zwischen den giftigen und verzweifelten Gesichtern welche heute die Socialisten machen - und von was für erbärmlichen gequetschten Gefühlen legt gar ihr Stil Zeugniss ab! - und dem harmlosen Lämmer-Glück ihrer Hoffnungen und Wünschbarkeiten." (11,586,9-14).
Der Lehre fehlt es also an Glaubwürdigkeit. Deshalb erscheinen ihm die "Socialisten" als "Dreivierteis-Schauspieler" (11,586,3), und Eugen Dühring, der die "Pariser Commune" befürworte, ist ihm ein "philosophischer Grimassen-Schneider" (11,586, 17-19). Nietzsche ist sich aber klar darüber, daß die "Pariser Commune" nicht das einzige Ereignis dieser Art bleiben wird. Diese "war vielleicht nur eine leichtere Unverdaulichkeit gemessen an dem, was kommt." (11,586,20-21). Nietzsche kritisiert hier nicht nur die Lehre der "Socialisten", er bezweifelt vor allem, ob man mit einem "verzweifelten und giftigen Gesicht" eine Lehre vom "Glück" entwerfen könne. Diese kann, seiner Meinung nach, wenn überhaupt, dann nur auf dem Boden des physiologischen Gedeihens sich ausbilden. Der "Wille zur Verneinung des Lebens" kann schlechterdings keinen Weg zum "Glück" eröffnen. Wenn Nietzsche hier auch keinen Weg zum "Glück" anbietet, so glaubt er doch zu wissen, daß das physiologisches "Missrathensein" keinen Weg dorthin zeigen kann.
Physiologische Typen
Die vorausgehenden Erörterungen lassen deutlich werden, daß physiologisches "Gedeihen" oder "Missrathen" in der neueren Zeit, etwa zur Zeit Nietzsches, nicht mehr unmittelbar als Folge der Existenzbedingungen von Völkern, Existenzbedingungen im Sinne von Nietzsches Rassekonzept als Umgebung, Klima u.a. verstanden, gesehen werden können. Wenn man dies auch mit Nietzsche für anfänglichere Zeitepochen annehmen will, so haben doch seither weitere Faktoren, etwa das Eingreifen des asketischen Priesters, die physiologische Befindlichkeit von Völkern und Menschen zusätzlich maßgeblich beeinflußt. Hinzu kommen die sozialen und politischen Veränderungen aufgrund industriellen Wandels im 19. Jahrhundert. Ein Resultat dieser komplexen
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"Physiologisch gesprochen"
Beeinflussung der physiologischen Verfassung von Völkern und Menschen scheint nun darin zu bestehen, daß unterschiedliche physiologische Verfassungen nicht mehr jeweils an bestimmte Völker gebunden sind, sondern eher an Stände, oder noch allgemeiner an bestimmte Gruppen von Menschen, an Menschentypen. Der angedeutete Übergang von Völkern auf Menschen und Menschentypen verdankt sich nach dieser Interpretation zunächst einmal der historischen Entwicklung der europäischen Völker, wie Nietzsche sie zu sehen scheint. Es ist aber anzunehmen, daß Nietzsche eine solche vermutete Entwicklung von seinem Standpunkt aus auch begrüßt. Sie bedeutet ein Zurücktreten von Nationen und Nationalismus, was Nietzsche wiederholt befürwortet, und macht den Weg frei für ein vereintes Europa. Zugleich macht sie den Weg frei für das Auftreten und Hervortreten einzelner großer Menschen und von Menschentypen, so insbesondere für die Vornehmen, von denen allein Nietzsche sich eine neuerliche Erhöhung der Menschen und der Menschheit verspricht. Die Entwicklung zu Menschentypen hin, die zunächst historisch verankert ist, gewinnt also für Nietzsche eine zusätzliche und sogar grundsätzliche Bedeutung dadurch, daß sie zugleich der von ihm angestrebten Konzeption einer Höherentwicklung des Menschen entgegen kommt und dieser gleichsam vorarbeitet. Wenn Nietzsche von der "verkleinerten species" Mensch spricht, oder von einer "stärkeren Rasse" (12,425,17-20), so sind damit Menschentypen gemeint, die in allen Völkern auftreten können. Daraus folgt dann auch, daß der "philosophische Arzt" sich nicht mehr in erster Linie für Völker interessieren kann und wird, sondern für Menschentypen. Darauf ist im nächsten Teil dieser Untersuchung ausführlicher einzugehen. Hier wollen wir den genannten Sachverhalt noch etwas vertiefen: daß unterschiedliche physiologische Prägung die Herausbildung von Menschentypen begünstigt und befördert, die ihrerseits nicht mehr bestimmten einzelnen Völkern zugeordnet werden können. Neben der erwähnten "verkleinerten species" Mensch haben wir die "Wohlgerathenen" und "Starken": "der wohlgerathenen Typus Mensch" (5,368,5) gehört zu den "seltnen Fällen der seelisch-leiblichen Mächtigkeit", die Nietzsche als "Glücksfälle des Menschen" einstuft (5,367,25-28), insbesondere in der neueren Zeit.
Ganz ähnlich wird der "starke Mensch" beschrieben:
Physiologische Typen
259
"Der starke Mensch, mächtig in den Instinkten einer starken Gesundheit, verdaut seine Thaten ganz eben so, wie er die Mahlzeiten verdaut; er wird mit schwerer Kost selbst fertig: in der Hauptsache aber fuhrt ihn ein unversehrter und strenger Instinkt, daß er nichts thut, was ihm widerstrebt, so wenig als er etwas ißt, das ihm nicht schmeckt." (KSA 12,305: Ende 1886: 7/28/). Auch der asketische Priester verfügt über eine Fülle der Kraft, aber er richtet diese Kraft gegen das Leben selbst, er leidet daher an einem "Selbstwiderspruch" (5, 365,23). (u. 5,363,8). Er richtet sich "gegen das physiologische Gedeihen selbst" (5,363,15). Vom asketischen Priester sagt Nietzsche selbst, daß dieser "zu allen Zeiten in Erscheinung" treten kann und "keiner einzelnen Rasse" angehört (5, 362,32-3). Besonders aufschlußreich für die Herausbildung von Menschentypen ist eine Stelle in JOB, die den Prozeß des "werdenden Europäers" beschreibt. Dieser Prozeß, den Nietzsche als "ungeheuren "physiologischen Prozeß" bezeichnet, bringt "die wachsende Loslösung von den Bedingungen, unter denen klimatisch und ständisch gebundene Rassen entstehen, ihre zunehmende Unabhängigkeit von jedem milieu", und das heißt die Herausbildung von Menschentypen, die jenseits von "Rassen", d.h. Völkern stehen. (5,182,17-22). Dieser Prozeß wird nach Nietzsches Einschätzung vor allem zur Entstehung von zwei Menschentypen führen: dem "Heerdenthier Mensch" und den "AusnahmeMenschen": "Die selben neuen Bedingungen, unter denen im Durchschnitt eine Angleichung und Vermittelmässigung des Menschen sich herausbilden wird - ein nützliches arbeitsamens, vielfach brauchbares und anstelliges Heerdenthier Mensch -, sind im höchsten Grade dazu angethan, Ausnahme-Menschen der gefährlichsten und anziehendsten Qualität den Ursprung zu geben. Während nämlich jene Anpassungskraft, welche immer wechselnde Bedingungen durchprobirt und mit jedem Geschlecht, fast mit jedem Jahrzehnt, eine neue Arbeit beginnt, die Mächtigkeit des Typus gar nicht möglich macht; während der Gesammt-Eindruck solcher zukünftiger Europäer wahrscheinlich der von vielfachen geschwätzigen willensarmen und äußerst anstellbaren Arbeitern sein wird, die des Herrn, des Befehlenden bedürfen wie des täglichen Erodes; während also die Demokratisirung Europa's auf die Erzeugung eines zur Sklaverei im feinsten Sinne vorbereiteten Typus hinausläuft: wird, im Einzel- und Ausnahmefall, der starke Mensch stärker und reicher gerathen müssen, als er vielleicht bisher gerathen ist,- Dank der Vorurtheilslosigkeit seiner Schulung, Dank der ungeheuren Vielfältigkeit von Übung, Kunst und Maske." (5,183,3-23).
260
"Physiologisch gesprochen"
Hier spricht Nietzsche selbst von der Entstehung von zwei "Typen" von Menschen und er erläutert ihr Zustandekommen. Der "werdende Europäer" wird nicht mehr in erster Linie von den "Bedingungen" bestimmt sein, "unter denen klimatisch und ständisch gebundene Rassen entstehen." Er wird vielmehr jetzt vor allem geprägt werden durch die neu entstandenen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen: durch die "Demokratisierung". Der Niedergang der aristokratischen Gesellschaft
und die Heraufkunft
der
Demokratie prägen in erster Linie die zwei neu entstehenden Menschentypen. Die für den Niedergang der Aristokratie verantwortlichen Vorgänge bilden also im weiteren Sinne die Grundlage für die zwei neuen Menschentypen. Die Demokratisierung ist nur deren Ausläufer. Das Zurücktreten der aristokratischen Moral und die Vorherrschaft der Moral der "Mittelmässigkeit" führen zu den neuen Menschentypen, insbesondere natürlich zur Herausbildung des "Heerdenmenschen", der "verkleinerten species" Mensch. Der "starke Mensch" ist nur noch als "Ausnahmemensch" möglich. Er ist aber, wie Nietzsche betont, gerade für den "Heerdenmenschen" so nötig wie das "tägliche Brod", da dieser selbst "willensarm" ist und sich daher kerne "Ziele setzen kann". Die "Heerdenmenschen" bleiben also paradoxerweise auf einen Menschentyp angewiesen, den ihre Moral selbst ablehnt, auf den "starken" Menschen, den "Ausnahmemenschen". Dieser "starke" Mensch ist aber unter den neuen Bedingungen nur noch als "Ausnahme" und "Glücksfall" möglich. Es wird noch näher zu untersuchen sein, auf welchem Weg die Bewahrung und Herausbildung solcher "Ausnahmemenschen", also die "Erhöhung" des Menschen in der heutigen Zeit bewerkstelligt werden könnte. Über dieses Problem hat Nietzsche sich nicht wenige Gedanken gemacht. Im obigen Text verwendet Nietzsche das Wort "Typ" und spricht von Menschentypen. Wir fügen noch einen Text an, aus dem hervorgeht, daß auch die Wörter "Volk" und "Rasse" gelegentlich die Bedeutung "Typ" haben können: "Das Volk von Willensschwachen (wie Sainte-Beuve) hat einen innerlichen Widerwillen vor der entgegengesetzten Rasse z.B. vor Stendhal." (KSA 11,251: S/H 84: 26/S79/). Da sowohl Sainte-Beuve wie Stendhal zum französischen Volk gehören, kann "Volk" hier nicht das ganze französische Volk meinen. Es meint den Typus der "Willensschwachen". Analoges gilt für "Rasse": auch dieses Wort meint
Von der "Rasse" zum Menschentyp
261
hier Typus, und zwar den Typ der "Willensstarken". Es ist also von zwei Menschentypen die Rede. Der Text zeigt, wie fließend Nietzsche gewisse Wörter verwendet, und daß das Wort "Rasse" jeweils nur in seinen Kontexten interpretiert werden kann.
Von der "Rasse" zum Menschentyp
Wir haben im Vorhergehenden versucht, die zentrale Rolle der physiologischen Komponente in Nietzsches Denken über Volker und Menschen etwas eingehender zu erörtern. "Rassen" und das heißt bei Nietzsche ganz überwiegend Völker, Stände und Menschen erwiesen sich in höchstem Maße als Ausflüsse, 'Produkte' der Existenzbedingungen, unter denen sie leben mußten und ihren "Charakter" sowie ihre "Zeichensprachen" ausbildeten. So hatte es Nietzsche selbst gesehen und in seinem "Rasse-Konzept" zum Ausdruck gebracht (11,136 und 11,448,7-12). Völker sind, wie ihre physiologischen und moralischen, religiösen sowie politischen Zustände wandelbar, veränderlich, also nicht 'von Anfang an' in einer spezifischen Verfassung 'gegeben'. Weiterhin hat sich ergeben, daß in der neueren Zeit Völker und Stände zurücktreten hinter Menschentypen, die zwar auch noch, insbesondere über ihre 'Geschichte', an physiologische Potentiale gebunden sind, die aber andrerseits in hohem Maße ihre Entstehung auch den neuen Bedingungen verdanken, die nach dem Niedergang der Aristokratie und der Heraufkunft der Demokratie entstanden sind. Daß die neuen Bedingungen in einem komplexen Austausch mit den vorhergehenden Bedingungen stehen, wurde schon angedeutet. Der "werdende Europäer" wird möglich durch und nach dem Niedergang der aristokratischen Werte, seine Menschentypen bildet er aber in der neu entstandenen, demokratischen Gesellschaft und ihrer Moral des "Mittelmaßes". Nietzsche weist darauf hin, daß mit den neuen Entwicklungen eine "Loslösung" von jenen "Bedingungen erfolgt, unter denen bisher Völker und Stände sich gebildet haben (5,182,17-22). An ihre Stelle treten, wie wir gesehen habe, Menschentypen. Der "philosophische Arzt", der sich dem "werdenden Europäer" zuwendet, hat es daher in erster Linie mit Menschentypen zu tun. Das Hauptproblem
262
"Physiologisch gesprochen"
besteht dabei darin, der "Verkleinerung" des Menschen entgegen zu arbeiten und neue Räume für die "Erhöhung" des Menschen aufzuzeigen. Die Physiologie verliert dabei nicht ihre Bedeutung, denn die heutigen Europäer sind, soweit es "Heerdenmenschen" sind - und das ist die Mehrheit - "willensarm" und leiden an mancherlei Krankheit, wie etwa der "Nervenschwäche". Der "philosophische Arzt" hat also weiterhin an der "rechten Stelle" anzusetzen, das heißt an der erkrankten physiologischen Verfassung. Er hat aber auch die Aufgabe, Werte Oberhalb1 des demokratischen "Mittelmaasses" aufzuzeigen, die als Richtschnur für eine neuerliche "Erhöhung" des Menschen dienen können. Und es ist nicht zu übersehen, daß Nietzsche bei der Suche nach solchen Werten seinen Blick in erster Linie auf die außer Kurs geratenen aristokratischen Werte richtet. Demokratische Zustände werden an aristokratischen Werten gemessen. Sie sind die einzig bekannten, nach denen der Mensch seine bisherige "Höhe" erreicht hat. Der "philosophische Arzt" steht also vor der Frage: "Wie sind aristokratische Werte unter den neuen Zuständen möglich?", oder auch: "In welcher gewandelten Form können aristokratische Werte innerhalb der Demokratie zu einer Erhöhung des Menschen beitragen?" Diese Frage wurde bei der Besprechung des Aphorismus 262 von "Jenseits von Gut und Böse" schon ansatzweise behandelt und sie wird im nächsten Teil dieser Untersuchung noch eingehender zu erörtern sein.
Teil II Menschentypen und ihre Erhöhung
Vorbemerkung In Teil I dieser Untersuchung wurde eine Klärung der Bedeutungen des Wortes "Rasse" versucht. Zu diesem Zeck wurden die einschlägigen Belege jeweils möglichst in größeren Zusammenhängen von Nietzsches Philosophie erörtert. Wir sahen, daß das Wort "Rasse" ganz überwiegend die Bedeutungen "Volk", "Stand", "Mensch allgemein" sowie "Menschentyp" hat. Nur an wenigen Stellen erschien die moderne Bedeutung. Dabei handelte es sich mehrmals um eindeutig ablehnende Anführungen und Zitierungen der modernen Bedeutung: in GM 1,5 um eine Stelle, in der Nietzsche die moderne Rassenauffassung in Klammern und mit Fragezeichen quasi zur Diskussion zu stellen scheint, wo er aber anschließend sofort und ausführlich seine eigne Sicht der Dinge ausbreitet (GM 111,12-21). Diese Stelle wird uns gleich noch weiter beschäftigen müssen. Teil I hat aber auch deutlich werden lassen, daß "Rassen" (d.i. Völker und Stände) offenbar nicht im Mittelpunkt von Nietzsches Denken stehen dürften. Wenn es um den "Prozeß des werdenden Europäers" geht, interessieren ihn vor allem "Menschentypen" und ihre "Verkleinerung" bzw. "Erhöhung". Und es spricht einiges dafür, daß ihn auch bei früheren Zeiten in erster Linie Menschentypen interessieren, etwa der "vornehme" Mensch Griechenlands oder des französischen 17. Jahrhunderts. Wir werden noch sehen, daß Nietzsche offenbar wohl eine "Genealogie" der Menschentypen zumindest andeutungsweise entworfen hat, daß er aber keine Versuche unternommen hat, eine Genealogie der Völker zu erstellen, wie dies ja damals die große Mode war darauf wurde in Teil I mehrmals hingewiesen. Letzteres wäre im Rahmen seiner Auffassungen auch gar nicht möglich gewesen, da es bei ihm keine durchlaufenden Linien gibt, etwa von den "Ariern" über die Germanen zu den Deutschen. Dies lehnt er ja wiederholt ausdrücklich ab. Ihn interessieren und faszinieren die gelungenen Exemplare der Gattung Mensch, wobei es nicht wichtig ist, ob er diese bei den Griechen, Juden, Polen oder in Frankreich findet. Von Wichtigkeit ist nicht die ethnische Zugehörigkeit, sondern die Bedingungen, unter denen so etwas möglich war. Dabei erwägt er sorgfältig die jeweilige Rolle der Umgebung, des Klimas, der Physiologie, der Erkrankung sowie der gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese Bedingungen so zu gestalten, daß weiterhin gelungene Exemplare des Menschen reifen können, betrachtet er als die Aufgabe des "philosophischen Arztes". Wir glauben daher hier von der Annahme ausgehen zu dürfen, daß Menschentypen
266
Menschentypen und ihre Erhöhung
und die Aufgabe ihrer "Erhöhung" - an Stelle von Völkern und ihrer 'Schicksale' - im Mittelpunkt von Nietzsches Denken stehen. Im ersten Kapitel von Teil (Kap. 5 der Untersuchung) werden zunächst einige grundsätzliche Fragen behandelt, sodann eine Auswahl von Menschentypen etwas eingehender erörtert. Im zweiten Kapitel (Kap. 6) wird eine Zusammenstellung der Kriterien versucht, nach denen Nietzsche Menschentypen bewertet. Im dritten Kapitel (Kap. 7) wird das Problem der "Erhöhung" von Menschen und Menschentypen behandelt.
Menschentypen: Rassebezug und Überschreitung Vorbemerkung
Die Analysen in Teil I haben gezeigt, daß bei den meisten Belegen des Wortes "Rasse" Nietzsches Rasse-Konzept (abgekürzt: RN) im Hintergrund steht (11, 136,3-27) und daß sich für das Wort "Rasse" dabei die Bedeutungen "Volk", "Stand", "Mensch allgemein" und "Menschentyp" ergeben. In einigen wenigen Fällen verwies das Wort "Rasse" auf den modernen Rassebegriff (RM), wobei es sich zum Teil um eindeutig ablehnende Anspielungen handelte, zum Teil um ein zur Diskussion-Stellen des RM. Es hat sich des weiteren gezeigt, daß für Nietzsche offenbar, und vor allem für das heutige Europa, in erster Linie Menschentypen im Zentrum seiner Aufmerksamkeit stehen, da er für die heutige Zeit eine "wachsende Loslösung von den Bedingungen" feststellen zu können glaubt, "unter denen klimatisch und ständisch gebundene Rassen entstehen" (5,182,17-22). Das heißt: "Rassen" im Sinne seines eigenen Rassekonzeptes RN treten heute zurück hinter Menschentypen. Damit ist aber noch nicht die Möglichkeit ausgeschlossen, ob nicht das moderne Rassekonzept RM bei seiner Konzeption von Menschentypen eine Rolle spielen könnte. Zumindest seine Beschreibung der "Vornehmen" und "Plebejer" in der "Genealogie der Moral" läßt diese Frage aufkommen, wie wir noch sehen werden. Daher soll in diesem Kapitel noch einmal die Frage untersucht werden, inwiefern Menschentypen einen Rassebezug aufweisen, sei es auf RN oder auf RM, beziehungsweise ob und inwiefern von einer Überschreitung eines solchen Rassebezugs die Rede sein kann. Um diese Frage beantworten zu können, wird zunächst anhand einer "Genealogie" eine Übersicht über die Menschentypen bei Nietzsche versucht. Anschließend wird für die im Rahmen der Untersuchung zentralen Menschen-
268
Menschentypen: Rassebezug und Überschreitung
typen die Frage des Rassenbezugs bzw. der Überschreitung geprüft. Die angeschnittene Frage kann in Kapitel 5 nur zum Teil beantwortet werden. Bei der Erörterung der "Erhöhung" des Menschen ist wieder darauf zurückzukommen.
Übersicht der Menschentypen: "Genealogie"
Aus den Hinweisen in der "Genealogie der Moral" läßt sich eine Genealogie der Menschentypen bei Nietzsche erstellen. Nietzsche selbst spricht nicht von einer solchen Genealogie. Nach dem Gesagten dürfte es aber zulässig sein, seine Hinweise in dieser Weise zu interpretieren. Wir stellen den Versuch einer Genealogie der Menschentypen zunächst in einer Graphik dar: I Vornehme 5,324,21: "Rudel blonder Raub-thiere"
—>
erobern
Halbthiere 5,324,18 5,324,24-6: große Zahl, gestaltlos, schweif. l Mensch mit schlechtem Gewissen 5,324,7
4-
überwältigen 5,276, 25-6
Vornehme (die 'alten' Vornehmen)
VI der zahme Mensch Hausthier 5,276,21 5,277,14 f.
IV asket. Priester und christl. Religion kommen hinzu 4 V Mensch des Ressentiment
der Heerdenmensch (Plebejer)
Es würde zu weit fuhren, die Graphik im einzelnen zu diskutieren. Die römischen Zahlen stellen die Stationen der Genealogie dar, also einen Ablauf in der Zeit. Am Anfang stehen die "Vornehmen" und die "Halbthiere", die von den Vornehmen "erobert" werden. Nietzsche unterscheidet
genau zwischen
"erobern" und "überwältigen": die "Starken" "erobern", die "Schwachen" "über-
Übersicht der Menschentypen: "Genealogie"
269
wältigen" dank ihrer großen Zahl. Die Vornehmen erobern die "Halbthiere" und begründen den ersten Staat, womit die Entstehung des "schlechten Gewissens" Hand in Hand geht. (5,324, 6-20). Durch das Eingreifen des asketischen Priesters entsteht der Mensch des Ressentiment. Dieser "überwältigt", dank seiner großen Zahl, die Vornehmen, was zur Entstehung des "zahmen Menschen" fuhrt: das "Raubthier" wird zum "Hausthier" (5,276,22). Wichtig ist nun, daß die Vornehmen keineswegs vollständig untergehen. Sie können immer wieder und zu allen Zeiten, wie der asketische Priester, in Erscheinung treten. Hierfür ist Napoleon Nietzsche ein Beispiel. Am Ende der Entwicklung stehen demnach drei Menschentypen: die 'alten' Vornehmen, der "zahme Mensch" und die Menschen des Ressentiment: der "Heerdenmensch". Die 'alten' Vornehmen sind nach Nietzsches Auffassung die eigentlichen "Träger" der "Cultur". Der "zahme Mensch" kann dafür nur mit Vorbehalten in Frage kommen, insofern nämlich, als "er sich im Abstände von der Überfülle des Missrathenen, Kränklichen, Müden, Verlebten fühlt" (5,277,18-20). Der "zahme Mensch" kann demnach "als etwas wenigstens relativ Gerathenes, wenigstens noch Lebensfähiges, wenigstens zum Leben Ja-sagendes" gelten (5, 277',21-22). Der "Heerdenmensch" kann nur als "Werkzeug", nicht als "Träger" der "Cultur" gelten (5,276,26-29). Fraglich ist, ob der "zahme Mensch" als der 'neue' Vornehme eingestuft werden kann. Nietzsches primäres Interesse gilt offenbar doch den 'alten' Vornehmen, für die weiterhin der Ausdruck "Vornehme" allein gelten soll. Für die von den Vornehmen eroberten "Halbthiere" verwendet Nietzsche auch den Ausdruck "Plebejer" (5,263,12), aber auch die heutigen "Heerdenmenschen" werden gelegentlich so genannt, obwohl sie durch die Einwirkung des asketischen Priesters ja kränker sind als die "Halbthiere" und die Menschen mit dem "schlechten Gewissen". Im Nachlaß gibt Nietzsche eine wesentlich längere Aufzählung von Menschentypen: KSA 11,212-14: S/H 1884: 26/243. Diese ist jedoch vor allem für die Frage der Bewertung von Menschentypen wichtig und wird später herangezogen. Von der gegebenen Übersicht ausgehend werden wir die Frage des Rassebezugs und der Überschreitung für die folgenden Menschentypen näher untersuchen:
270
Menschentypen: Rassebezug und Überschreitung
die Vornehmen ("Eroberer- und Herren-Rasse") und die Plebejer, der asketische Priester, die heutigen "Heerdenmenschen", die "Ausnahme-Menschen". Des weiteren werden einige Aussagen, die Nietzsche über sich selbst in diesem Zusammenhang macht, etwas näher betrachtet.
Die Vornehmen und die Plebejer
Für die Vornehmen und die Plebejer gibt es bei Nietzsche zwei unterschiedliche Darstellungen, die wir auseinanderhalten müssen: eine Darstellung für die antike Zeit (Griechen und Römer) und eine für die 'heutige' Zeit. Für die antike Zeit wird eine Korrespondenz zwischen Aussehen (etwa Haarfarbe) und 'Seele" angenommen, für die heutige Zeit jedoch nicht mehr. Die Darstellung der Vornehmen und Plebejer für die antike Zeit findet sich vor allem in der "Genealogie der Moral" (1,4 bis 1,10). Wir geben eine zusammenfassende Übersicht: Plebejer
Vornehme
"typischer Charakterzug" 5,262,31
"lügenhaft" 5,263,8 "Feigheit" 5,263,13
"wahrhaftig" 5,263,5 "agathos" 5,263,15
Aussehen
"dunkelfarbig" 5,263,17 "schwarzhaarig" 5,263,18 "Kürze des Schädels" 5,264,1
"blond" 5,263,20
Instinkte: intellektuell und social 5,264,2
"moderne Demokratie" "Socialismus" 5,264,3
"Rang" 5,262,23-5
nach Herkunft Wohnsitz
"vorarische Insassen" 5,263,19
"arisch" 5,263,20
"Machtverhältniß"
"unterworfene Rasse" 5,263,34
"herrschend gewordene ErobererRasse" 5,263,19-20
Die Vornehmen und die Plebejer
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Diese Darstellung nimmt sehr deutlich Bezug auf das moderne Rassenkonzept RM, zumindest scheint dem so, da es Korrespondenzen zwischen dem Aussehen und der 'Seele' der beiden beschriebenen 'Rassen' annimmt Etwas später gibt Nietzsche jedoch in der "Genealogie der Moral" eine zweite Darstellung, die sich davon völlig gelöst hat. Hier werden die "Vornehmen" mit den "Menschen des Ressentiment" verglichen: die Darstellung beschränkt sich also nicht mehr auf die antike Zeit: "vornehme Rasse" 5,273,2
"Menschen des Ressentiment" 5,272,34-273,1
"Ja-sagen zu sich selbst" 5.270,29
"Nein... ihre schöpferische That" 5,270,32
"agirt spontan" 5,271,9
"braucht, physiologisch gesprochen, äußere Reize, um zu agiren; Aktion = Reaktion" 5,271,4
"ihr positiver Grundbegriff: 'Wir Vornehmen, Guten...'" 5,271,12 "Wohlwollen für 'niederes Volk"1: "schlecht": "unglücklich" 5,271,30 "Wohlgeborene: Glückliche" 5,272,12
sich "Glück einlügen" 5,272,13-15
Volle, mit Kraft überladene Menschen, folglich nothwendig aktive Menschen: Glück und Handeln gehen nothwendig zusammen 5,272,16
bei den Ohnmächtigen: Glück als Narcose: passivisch: Glück ohne Handeln 5,272,21
Offenheit, aufrichtig, "naiv" 5,272,25-8
nicht aufrichtig: nicht ehrlich mit sich selbst, ihre Seele schielt, Sich-Verkleinern 5,272,28-32
Klugheit ist Luxus; wichtiger: die Funktionssicherheit der regulirenden unbewussten Instinkte, eher Unklugheit: Drauflosgehen, Plötzlichkeit 5,273,4
Klugheit: Existenzbedingung 5,273,1
272
Menschentypen: Rassebezug und Überschreitung
Ressentiment keine Chance, weil sofortige Aktion statt Aufschub und Vergiftung 5,273,12 denn starke volle Naturen nehmen Feinde und Unthaten nicht lange ernst 5,273,19 Denn in den Vornehmen: Überschuss an plastischer ausheilender, auch vergessen machender Kraft 5,273,19 Feinde lieben und achten 5,273,26-33
Feind: der "böse" Feind:
"der Böse" 5,273,33 - 274,2 "der Böse" als "Grundbegriff 5,274,2 Von daher als "Gegenbild": seinen "Guten": "sich selbst" 5,274,4
Hier wird kein Bezug mehr genommen auf 'äußere' Merkmale wie Haarfarbe, Hautfarbe, Schädelform. Lediglich vom physiologischen Gedeihen abhängige Potentiale der Kraft werden genannt; "volle, mit Kraft überladene" Menschen (die Vornehmen) und, auf der anderen Seite, die "Ohnmächtigen" (5,272,16-21). Diese Potentiale sind veränderlich und haben nichts mit RM zu tun. Wir haben schon bei der Frage des Niedergangs der Aristokratie ein ähnliches Nebeneinander oder besser Nacheinander der Darstellung kennengelernt. Wie ist dies zu verstehen? Gilt die erste Version für die antike Zeit, die zweite für die neue, heutige Zeit? Wir kommen auf diese Frage zurück. Bleiben wir zunächst bei der ersten Version. Nietzsche bezeichnet die dort für die Vornehmen genannten Merkmale als die "aristokratische Werthgleichung". Sie lautet: "gut=vornehm=mächtig=schön=glücklich=gott-geliebt" (5,267,18-19). Etwas später heißt es: "wir Vornehmen, wir Guten, wir Schönen, wir Glücklichen" (5,271,13-14).
Die Vornehmen und die Plebejer
273
Diese "Werthgleichung" könnte auf ähnliche Vorstellungen Platos Bezug nehmen. In der Tat denkt Nietzsche ja auch, wenn er auf die "Arier" Bezug nimmt, in erster Linie an Griechen und Römer. Dies läßt sich an seiner "etymologischen Methode" ablesen, die vor allem von griechischen Wörtern und Zuständen, und daneben auch von römisch-lateinischen, ausgeht (5,261,20 bis 264,15). Bei Chamberlain sind hingegen die Germanen die "vorbildlichen Arier".293 Demnach sind Nietzsches "arische" Vornehme in erster Linie griechischrömische Vornehme. Für diese wird die angedeutete Korrespondenz von Aussehen, "typischen Charakterzügen", Instinkten, Herkunft und "Machtverhältnissen" angenommen. Wenn Nietzsche auf die heutige Zeit eingeht, spielen Aussehen und Herkunft bei seiner Darstellung der Vornehmen und der Plebejer keine Rolle mehr. Das haben wir oben schon bei der zweiten Version aus GM (5,273 f.) gesehen. Dafür lassen sich aber auch noch weitere Belege anfuhren. In einem Fragment von Juni/Juli 1885 (KSA 11,601-4: 38/6/) werden einige Vertreter des "französischen romantisme" (Hugo, Michelet, G. Sand) mit Repräsentanten der vornehmen französischen "Cultur" verglichen (Corneille, Montaigne, Napoleon). Der "französische romantisme" wird von Nietzsche als "eine plebejische Reaktion des Geschmacks" aufgefaßt: "er ist damit auf der entgegengesetzten Bahn und will gerade das Umgekehrte von dem, was die Dichter einer vornehmen Kultur, wie zum Beispiel Corneille, von sich wollten." (11,601,32-602,3).
Wir stellen auch hier in einer Übersicht zusammen, mit welchen Kennzeichen Nietzsche die "plebejische Reaktion" und die "vornehme Kultur" jeweils beschreibt:
293
Zu Chamberlain vgl. im Namensregeister.
Menschentypen: Rassebezug und Überschreitung
274 "plebejisch" 11,
601,18 601,29
602,14
602,17
602,32
"vornehm" "schlechter Geschmack" die "Sinnes-Begierden" beherrschen den "Geist"
dem "Sinnen-Pöbel" "zu einer Kunst verhelfen wollen" Hugo's "politisches und moralisches" Wollen: "er ist flach und demagogisch... ein VolksSchmeichler, der mit der Stimme eines Evangelisten zu allen Niedrigen, Unterdrückten, Missrathenen... redet und nicht einen Hauch davon weiß, was Zucht und Redlichkeit des Geistes... ist,im Ganzen ein unbewußter Schauspieler, wie fast alle Künstler der demokratischen Bewegung" Michelet "im unklaren Deutschland würde man ihn heute... als einen Menschen des Mitleids ansprechen. Dieses 'Mitleid' ist jedenfalls etwas Zudringliches..."
603,3
"Seine Augen sehen nicht in die Tiefe: alle leicht 'begeisterten' Geister waren bisher oberflächlich"
603,5
"Er ist mir zu erregt: Gerechtigkeit ist ihm ebenso unzugänglich als jene Gnade, welche nur aus der höchsten Überlegenheit quillt"
603,10
"Daß ihm Napoleon ebensosehr als Montaigne fremd ist, bezeichnet das Unvomehme seiner Moralität genügend"
602,5 die vielleicht noch stärker gearteten Sinne mit dem Begriffe überwältigen und gegen die brutalen Ansprüche von Farben, Tönen ... einer feinen hellen Geistigkeit zum Siege verhelfen: womit sie... auf der Spur der großen Griechen waren
(Zucht und Redlichkeit des Geistes)
(Distanz Ehrfurcht und Rang)
(Überlegenheit)
Die Vornehmen und die Plebejer 603,15
"Demokratisch endlich undfolglich ebenfalls schauspielerisch ist das Talent der George Sand: sie ist beredt in jener schlimmen Manier, daß ihr Stil... jede halbe Seite mit ihrem Gefühle durchgeht"
(Sich nicht gehen lassen)
Bei dieser Darstellung der Vertreter der "plebejischen" und der "vornehmen" Kultur spielen Unterschiede der ethnischen Herkunft keine Rolle. Alle gehören der französischen Kultur an. Des weiteren spielt das Aussehen, das in der ersten Darstellung der Vornehmen und der Plebejer in der "Genealogie der Moral" (1,4-10) über die Hautfarbe, die Haarfarbe und den Schädelbau klar angesprochen Vertreter der vielmehr in Wollen", im
und unterschieden wurde, hier ebenfalls keine Rolle. Die "plebejischen" und der vornehmen Kultur unterscheiden sich ihrem "Geschmack", in ihrem "politischen und moralischen Fehlen oder Vorhandensein von "Zucht und Redlichkeit des
Geistes", von Distanz, Ehrfurcht und Ranggefühl, im Grade ihrer "Überlegenheit" sowie darin, ob ihr Gefühl "durchgeht." Gerade das Letztere, das "Sich-nicht-gehen-lassen", wird von Nietzsche immer wieder als Kennzeichen vornehmer Menschen und Kultur hervorgehoben, schon für die Griechen (6, 149,7-8): "Oberste Richtschnur: man muß sich auch vor sich selber nicht 'gehen lassen'", wie auch für die französische vornehme Kultur des 17. Jahrhunderts (ebenda). Die Vornehmen unterscheiden sich im Grade ihres "physiologischen Gedeihens" (sie besitzen "vielleicht noch stärker geartete Sinne" - 11,602,5), im Ausmaß ihrer "Überlegenheit", die ein Ausdruck dieses "Gedeihens" ist, in der Kraft und dem Willen "sich-nicht-gehen-zu-lassen", die sich in "Zucht und Redlichkeit des Geistes" sowie im Gefühl für Distanz und Rang ausdrücken, von den "Plebejern". Da beides innerhalb der gleichen Kultur und innerhalb desselben Volkes möglich ist, ist demnach die ethnische Zugehörigkeit für diese Unterschiede nicht von Belang. Von Bedeutung dürfte eher das unterschiedliche Ausmaß der Erkrankung und Willenslähmung des europäischen Menschen der neueren Zeit sein, von denen schon die Rede war. Wir finden demnach bei Nietzsche zwei unterschiedliche Darstellungen der Vornehmen und der Plebejer: eine für die griechische Zeit, in der - nach Art
275
276
Menschentypen: Rassebezug und Überschreitung
von RM - auch spezifische Unterschiede im Aussehen (Haut- und Haarfarbe, Schädel) mit genannt werden, und eine für die spätere und neuere Zeit, in der das Aussehen nicht mehr erwähnt wird. Auch spielt bei der zweiten Darstellung die Herkunft keine Rolle mehr. Wie ist dieses Nebeneinander, oder besser gesagt, Nacheinander zu verstehen? Nimmt Nietzsche für die griechische Zeit ein in der Rasse begründetes Vornehm- bzw. Plebejersein an? "Rasse" also im modernen Sinn verstanden? Oder kann "Rasse" hier auch im Sinne Nietzsches verstanden werden: unterschiedliche Bedingungen der Umgebung, des Klimas, der Ernährung finden ihren Niederschlag in unterschiedlichem physiologischem Gedeihen, in unterschiedlichem Aussehen, und in unterschiedlichen "Zeichensprachen" ("Seele", Moral, "Zucht und Redlichkeit")? Die letztere Vermutung wäre durchaus vertretbar, wenn man sich erinnert, daß nach Nietzsches Auffassung z.B. die "Schönheit" der Griechen ja nicht natur- (sprich "Rasse"- im modernen Sinn) gegeben ist, sondern Produkt der "accumulirten Arbeit von Geschlechtern" war (6,148,27-30): Produkt des "sich-nicht-gehen-lassens" (6,149,7-8). Also Produkt einer "Cultur", die an der "rechten Stelle" ansetzte: dem "Leib" (6,149,29). Zu erwägen wäre auch die folgende Deutung: Das in der griechischen Zeit über Herkunft und Äußeres auf zwei Völker ('Rassen') aufgeteilte Vomehmsein und Plebejertum geht in der Folgezeit auf Einzelvölker über, die dann aus Vornehmen und Plebejern bestehen, indem durch die von Nietzsche begrüßte Mischung der Völker die Unterschiede in Herkunft und Aussehen verloren gehen. Dieser Prozeß ließe sich dann vielleicht noch weiterführen, derart daß in der neueren Zeit nun das einzelne Individuum der 'Ort' wird, in dem vornehme und plebejische Merkmale zusammentreffen. Letzteres könnte vielleicht für den oben erwähnten Typus des 'zahmen Menschen' angenommen werden, der ja von Nietzsche noch "als etwas wenigstens relativ Gerathenes" (5,277,2122) eingestuft wird. Und allgemeiner könnte hier an den neueren Menschen gedacht werden, sofern er sich 'modernen* Phänomenen öfmet, indem er "umfänglicher" wird, worauf noch ausführlicher einzugehen ist. Damit wird hier eine erste Linie greifbar, die von der 'alten', auf Völker bezogenen Vornehmheit zu einem neuen Konzept von Vornehmheit führt, das an Individuen festgemacht ist und "umfänglicher" ist, indem es einerseits an der 'alten'
Die Vornehmen und die Plebejer
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Vornehmheit teilhat, andererseits aber offen ist für die heutige, "umfänglicher" gewordene Welt. Wenn hier auch Zweifel bleiben mögen - auch ein Verweis auf Plato hilft nicht weiter, da auch Plato des "Rassismus" verdächtigt wurde -,294 so geht aus Nietzsche Darstellungen für die Vornehmen und Plebejer der neueren und heutigen Zeit doch eindeutig hervor, daß kein Band mehr besteht zwischen Vomehmheit/Plebejertum und Herkunft (im Sinn von RM) und Aussehen. Vornehmheit und Plebejertum sind heute unabhängig von RM und RN (da im gleichen Volk möglich). Das hat der zuletzt herangezogene Text über die französischen romantischen Schriftsteller und die damit verglichenen Vertreter der vornehmen Kultur in Frankreich deutlich werden lassen. Die "Loslösung" des Menschen aus solchen Bindungen der "Herkunft" wird von Nietzsche ausdrücklich begrüßt, denn er betrachtet sie als eine Voraussetzung für den "Prozess des werdenden Europäers" (5,182,15-28). Für die heutigen (Nietzsches Zeit) Vornehmen und "Plebejer" läßt sich demnach eine "Loslösung" von den Bindungen an RN und RM (soweit Letzteres für die griechische Zeit in Frage kommen könnte) feststellen, also eine "Überschreitung" derartiger Bindungen,- und insofern können Vornehme und "Plebejer" für die neuere Zeit bei Nietzsche als Menschentypen bezeichnet werden. Daß aber die "aristokratische Werthgleichung" heute längst nicht mehr gilt, wird aus einer scherzhaften Bemerkung Nietzsches in den Briefen deutlich. Als die Schwester für ihn wieder einmal eine Frau suchen will, bemerkt dieser dazu: diese Frau solle "gut, aber reich" sein. (KSB 5,231: April 1887, an Elisabeth).
294
So z.B. von Popper 1962.
278
Menschentypen: Rassebezug und Überschreitung Die "Heerdenmenschen"
Die Wörter "Plebejer", "Heerdenthier", "Heerdenmensch" und "Pöbel" werden bei Nietzsche weitgehend synonym verwendet. Die Frage der "Überschreitung" ist zwar schon beantwortet. Es erscheint aber wünschenswert, Nietzsches Darstellung der "Plebejer/Heerdenmenschen" hier noch in einigen Zügen zu ergänzen. Die Anfange des schwachwerdenden, sich verkleinernden Menschen sieht Nietzsche schon bei den "Griechen der Kaiserzeit": "Die Griechen der Kaiserzeit sind matt und nehmen sich ganz gut als Typen der zukünftigen Menschheit aus. Sie erscheinen menschenfreundlich, namentlich gegen Rom, verabscheuen Gladiatorenkämpfe usw.- Es ist ganz falsch, von da aus Schlüsse auf ihre Jugendzeit zu machen." (KSA 8,95: F/S 1875; 5/195/).
Die Griechen der "Jugendzeit" dürfen also nicht mit den Griechen der "Kaiserzeit" verwechselt werden. In der schon zitierten Stelle (GM 1,4-10) wurden die vornehmen Griechen der "Jugendzeit" dargestellt. Danach sind die Griechen "matt", also schwach geworden: ihre Kräfte haben nachgelassen. Zur "Kaiserzeit" "erscheinen sie menschenfreundlich" und wollen keine "Gladiatorenkämpfe11 mehr sehen. Der Kampf, ein zentrales Element der Aristokratie, ist ihnen fremd geworden. Diese "matt" gewordenen Griechen nehmen sich, nach Nietzsches Auffassung, schon "ganz gut als Typen der zukünftigen Menschheit aus". Wenn wir bedenken, daß das Wort "Menschheit" bei Nietzsche auch die Bedeutung "Menschsein/Mensch allg." haben kann, dann kann die Formulierung "Typus der zukünftigen Menschheit" auch gelesen werden als "Typus des zukünftigen Menschen" bzw. "zukünftiger Menschentyp". Die Griechen der Kaiserzeit verweisen also schon, soweit sie "matt" geworden sind, auf einen "zukünftigen Menschentyp", den des schwach gewordenen Menschen. Daraus entsteht dann, nachdem der asketische Priester seine "Medikation" zur Wirkung gebracht hat, der Mensch des Ressentiment, der "Heerdenmensch". Die absteigende Linie, die dann schließlich zum heutigen europäischen "Heerdenmenschen" hinfuhrt, beginnt also schon bei den Griechen, noch vor der Einwirkung der christlichen Religion. Daß auch eine andere Linie möglich war, macht Nietzsche am Beispiel der "kleinen Leute in der Diaspora" deutlich. Wir haben schon darauf hingewiesen. Diese "in der Diaspora lebenden Juden" (12,508,29-30) zeichnen sich aus
Die ^eerdenmenschen"
279
"vor Allem [durch] jenes Stillenhalten der Seele, damit die Affekte Zorn, Verdacht, Hass, Neid, Rache nicht obenauf kommen... Der Asketism ist nicht das Wesen dieses Lebens..." (12,509,18-21). Neben dem "Mattwerden" des Menschen kommt also dem asketischen Priester eine vorrangige Rolle bei der Weiterentwicklung zum "Heerdenmenschen" zu.
Worin Nietzsche die Hauptunterschiede zwischen den
"Heerdenmenschen", d.i. den Menschen des Ressentiment und den Vornehmen sieht, wurde schon erläutert. Zu erwähnen ist hier noch ein anderer Aspekt, der mit der Entstehung des "Heerdenmenschen" einhergeht: die Mischung der Völker Europas, die mit der "Loslösung" des Menschen von den "klimatischen" und anderen Bedingungen Hand in Hand geht, die vorher für die Bildung von Völkern ("Rassen" im Sinne Nietzsches) verantwortlich waren. Diese Mischung betrachtet Nietzsche aus einer doppelten Optik: soweit es dabei um eine Mischung von Völkern, um einen Austausch und um gegenseitige Befruchtung geht, wird diese Mischung von Nietzsche begrüßt und sogar gefordert. In dem Fragment "Die Starken der Zukunft" heißt es: "Die Ausgleichung des europäischen Menschen ist der große Prozess, der nicht zu hemmen ist: man sollte ihn noch beschleunigen." (KSA 12,425,27-29: H 87: 9/153/). Ausdrücklich wendet er sich hierbei gegen Versuche, etwa eines Theodor Fritsch, diesen Prozeß durch die "Aufrührung von Rassenfragen" hemmen zu wollen. Dabei handle es sich um "verlognen Rassenschwindel" (KSA 12,205,14: S 86/ H 87: 5/527). Denn Europa ist für Nietzsche schon lange ein "altgemischtes Land", wie wir schon vorn gesehen haben. Und das wird von Nietzsche begrüßt. Die Mischung hat aber auch einen gesellschaftlichen Aspekt, insofern nämlich nun auch die Stände und Ränge durcheinander geraten, und hier meldet Nietzsche seine Bedenken an. Nietzsche spricht vom "socialen Mischmasch", der als "Folge der Revolution, der Herstellung gleicher Rechte, des Aberglaubens an 'gleiche Menschen'" entsteht. "Dabei mischen sich die Träger der Niedergangs-instinkte (des ressentiment, der Unzufriedenheit, des Zerstörer-Triebs, des Anarchismus und Nihilismus), eingerechnet der Sklaven-Instinkte, der Feigheits-, Schlauheits- und Canaillen-Instinkte der lange unten gehaltenen Schichten in alles Blut aller Stände hinein: zwei, drei
280
Menschentypen: Rassebezug und Überschreitung
Geschlechter darauf ist die Rasse nicht mehr zu erkennen - Alles ist verpöbelt. Hieraus resultirt ein Gesammtinstinkt gegen die Altswahl, gegen das Privilegium jeder Art, von einer Macht und Sicherheit, Härte, Grausamkeit der Praxis, daß in der That sich alsbald selbst die Privilegirten unterwerfen..." ("Warum die Schwachen siegen": KSA 13,367,11-23: F 88: 14/182/).
Im Gefolge der französischen Revolution und ihrer "modernen Ideen" droht durch die so ausgelöste "sociale" Mischung das Gefühl für Rang und Rangordnung verloren zu gehen: alles "verpöbelt". Die Werte werden auf ein mittleres Maß herabgesetzt: das gesamte Volk wird auf ein Mittelmaß festgelegt, so daß kein Raum mehr bleibt für die "Erhöhung" des Menschen. Von den "utilitaristischen Engländern", die ebenfalls diesem "socialen Mischmasch" huldigen, heißt es: "Niemand von allen diesen schwerfalligen, im Gewissen beunruhigten HeerdenThieren - denn das sind sie allesammt - will etwas davon wissen, daß es eine Rangordnung der Menschen giebt, [daß] folglich Eine Moral für Alle eine Beeinträchtigung der höchsten Menschen ist, daß was dem Einen billig ist, durchaus noch nicht dem Anderen es sein kann; daß vielmehr das Glück der Meisten für Jeden ein Ideal zum Erbrechen ist, der die Auszeichnung hat, nicht zu den Meisten zu gehören." (11,523, 30-524,8: Mai/Juli 85: 3S/34/).
Der "europäische Mischmensch" (5,157,2) weist also zwei Seiten auf, von denen Nietzsche nur eine begrüßt als Zwischenstufe im "Prozess des werdenden Europäers".
Der asketische Priester
Eine eingehende Darstellung des asketischen Priesters findet sich in der "Genealogie der Moral" (insbesondere 111,11: KSA 5,361-3). Seine große Bedeutung für die Verschlimmerung der Erkrankung des europäischen Menschen haben wir schon kennengelernt. Nietzsche betont für den asketischen Priester, daß er "keiner einzelnen Rasse" angehöre: "Erwägen wir doch, wie regelmässig, wie allgemein, wie fast zu allen Zeiten der asketische Priester in die Erscheinung tritt; er gehört keine einzelnen Rasse an; er gedeiht überall; er wächst aus allen Ständen heraus." (5,362,30-34).
Der asketische Priester
281
Der asketische Priester kann also jederzeit in allen Völkern und Ständen auftreten. Seine "Werthungsweise" wird auch nicht "durch Vererbung" "gezüchtet" und "weitergepflanzt": "das Gegentheil ist der Fall, - ein tiefer Instinkt verbietet ihm vielmehr, in's Große gerechnet, die Fortpflanzung". (5,362,34-363,3). Nietzsche vermutet dahinter vielmehr ein "Interesse des Lebens selbst", "daß ein solcher Typus des Selbstwiderspruchs nicht ausstirbt.11 (5,363,5-7): "Denn ein asketische Leben ist ein Selbstwiderspruch: hier herrscht ein Ressentiment sonder Gleichen, das eines ungesättigten Instinktes und Machtwillens, der Herr werden möchte, nicht über Etwas am Leben, sondern über das Leben selbst, über dessen tiefste, stärkste, unterste Bedingungen: hier wird ein Versuch gemacht, die Kraft zu gebrauchen, um die Quellen der Kraft zu verstopfen; hier richtet sich der Blick grün und hämisch gegen das physiologische Gedeihen selbst, in Sonderheit gegen dessen Ausdruck, die Schönheit, die Freude; während am Missrathen, Verkümmern, am Schmerz, am Unfall, am Hässlichen, an der willkürlichen Einbusse, an der Entselbstung, Selbstgeisselung, Selbstopferung ein Wohlgefallen empfunden und gesucht wird." (5,363,8-19). Der asketische Priester richtet die Kraft des Lebens gegen das Leben selbst, gegen das "physiologische Gedeihen" und dessen Ausdruck, "die Freude und die Schönheit". Daher ist er für Nietzsche der "eigentliche Repräsentant des Ernstes", der ein Ausdruck des nicht gedeihenden Lebens ist (5,361,16-17). Die Erscheinung des asketischen Priesters gibt auch Nietzsche Rätsel auf: "Dies ist Alles im höchsten Grade paradox: wir stehen hier vor einer Zwiespältigkeit, die sich selber zwiespältig will, welche sich selbst in diesem Leiden gemesst und in dem Maasse sogar immer selbstgewisser und triumphirender wird, als ihre eigne Voraussetzung, die physiologische Lebensfähigkeit, abnimmt." (5, 363,20-25). Es liegt auf der Hand, daß ein solcher "Typus des Selbstwiderspruchs", der die Kraft des Lebens gegen das Leben selbst richtet, als "Arzt" nicht in Frage kommen kann, denn er setzt, wie wir gesehen haben, mit seiner "Medikation" an der falschen Stelle an, indem er die physiologische Basis der Erkrankung des europäischen Menschen nicht erkennt, sondern an deren Symptomen ansetzt. (5,377,11 ff.).
282
Menschentypen: Rassebezug und Überschreitung
Die Erscheinung des asketischen Priesters wirft viele Fragen auf, die hier offen bleiben müssen. Was seine "Herkunft" betrifft, so erfahren wir, daß hier "eine Necessität ersten Rangs" am Werk sein "muß", "welche diese lebensfeindliche Species immer wieder wachsen und gedeihen macht" (5,363,3-6). Ein "Interesse des Lebens selbst" bringt diesen "Typus des Selbstwiderspruchs" hervor (5,363,6-7). Er gehört also "keiner einzelnen Rasse" an und auch keiner bestimmten Zeit. (5, 362,32-33). "Er gedeiht überall; er wächst aus allen Ständen heraus" (5,362,32-33). Seine "Werthungsweise" wird auch nicht "durch Vererbung" "gezüchtet" und "weitergepflanzt" (5,362,33-363,1).
Auch beim asketischen Priester kann man daher von "Überschreitung" sprechen, da er keine Bindungen an "Rasse", Stände und sogar Zeiten aufweist. Bemerkenswert ist, daß für den asketischen Priester auch "Vererbung", "züchten" und "weiterpflanzen" ausdrücklich ausgeschlossen werden. Er weist damit viele Gemeinsamkeiten mit den "Blitz"-Menschen und "Räthselmenschen" auf, von denen noch zu reden sein wird. Wie diese, hat auch er den größten Einfluss auf die Entwicklung des europäischen Menschen. Wesentlich für die Herkunftsfrage des asketischen Priesters dürfte noch sein, daß sein asketisches Ideal offenbar nicht aus dem Judentum abzuleiten ist. Denn für die ersten Christen, die "kleinen Leute der Diaspora", hebt Nietzsche ausdrücklich hervor, daß der "Asketism ... nicht das Wesen dieses Lebens" ist: "die Sünde ist nur in dem Sinn im Vordergrund des Bewußtseins, als sie die beständige Nähe ihrer Erlöstheit und Zurückgekauftheit bedeutet..." (12,509,20-24).
Der asketische Priester ist demnach ein Menschentyp, der von "Rasse" (Volk), Stand, Zeit (und auch vom Judentum) losgelöst in Erscheinung tritt.
Die "Ausnahmemenschen"
Wie wir schon gesehen haben, entstehen beim "Prozess des werdenden Europäers" auf der einen Seiten die "Heerdenthier-Menschen", auf der anderen Seite
Die "Ausnahmemenschen"
283
"im Einzel- und Ausnahmefall, der starke Mensch", der "stärker und reicher gerathen" muß, "als er vielleicht jemals bisher gerathen ist" (5,183,8 und 19-21).
Das Wort "Ausnahme" hat hier eine quantitative und eine qualitative Komponente: der Mensch des "Ausnahmefalles" tritt nur selten auf und er erhebt sich über das Mittelmaß. Eine ähnliche Doppelbedeutung dürfte auch vorliegen, wenn Nietzsche die "höheren Typen" als "Glücksfälle der Entwicklung" bezeichnet (13,317,10). Des weiteren dürfte mit den Worten "Ausnahme" und "Glücksfall" aber auch noch angedeutet sein, daß diese Menschen offenbar außerhalb der "Regeln" auftreten: sie treten auch dann auf, wenn die Bedingungen dies nicht erwarten lassen. Als Beispiel nennt Nietzsche das Erscheinen Napoleons, der mitten in der französischen Revolution erschien. Als "die letzte politische Vornehmheit, die es in Europa gab, die des 17. und 18. französischen Jahrhunderts" "unter den volkstümlichen Ressentiments-Instinkten" zusammenbrach, da geschah "mitten darin das Ungeheuerste, das Unerwartetste": "das antike Ideal selbst trat leibhaß und mit unerhörter Pracht vor Auge und Gewissen der Menschheit,- und noch einmal, stärker, einfacher, eindringlicher als je, erscholl, gegenüber der alten Lügen-Losung des Ressentiment vom Vorrecht der Meisten, gegenüber dem Willen zur Niederung, zur Erniedrigung, zur Ausgleichung, zum Abwärts und Abendwärts des Menschen die furchtbare und entzückende Gegenlosung vom Vorrecht der Wenigsten! Wie ein letzter Fingerzeig zum ändern Wege erschien Napoleon, jener einzelnste und spätestgebome Mensch, den es jemals gab, und in ihm das fleischgewordene Problem des vornehmen Ideals an sich - man überlege wohl, was es für ein Problem ist: Napoleon, diese Synthesis von Unmensch und Übermensch..." (5,287,23-288,8).295
Der Ausnahmemensch tritt "unerwartet" und wohl auch unerwartbar auf, hier in der Figur des Napoleon, und mit ihm das "vornehme Ideal an sich", und zwar als "Problem", was hier vielleicht "Aufgabe" bedeuten könnte, oder auch "Herausforderung".
295
Für die Interpretation der Formulierung "Synthesis von Unmensch und Übermensch" verweist Marti (1993, 240) auf ähnliche Formulierungen bei Burckhardt, der Napoleon als "etwas mehr oder weniger als ein Mensch" eingestuft hatte, sowie auf Madame de Stael: "C'etait plus ou moins qu'un homme". Gemäß Marti (a.a.O.) wolle Nietzsche damit hinweisen auf "die unbegreifliche Fremdheit eines Menschen, der an den herkömmlichen Wertmaßstäben von Gut und Böse nicht gemessen werden kann".
284
Menschentypen: Rassebezug und Überschreitung
Für die Unerwartbarkeit und Plötzlichkeit des Auftretens des Ausnahmemenschen gibt es bei Nietzsche auch das Bild des "Blitzes", und er spricht in diesem Zusammenhang auch von "Schicksal". Dies könnte auch mitgemeint sein, wenn er im "Ecce homo" von sich selbst als "Schicksal" spricht (6,365). So weit der "höhere Typus" als "Ausnahme-Fall" auftritt, stellt sich also nicht die Frage nach dem Problem des "Züchtens" bei Nietzsche, wie man das Wort auch immer interpretieren mag. Bei den "Ausnahmen" handelt es sich um Überschreitungen von Herkunftsbedingungen jeder Art. Neben den "höheren Typen", soweit sie durch Überschreitung entstehen, gilt das Gesagte auch z.B. für den asketischen Priester, worauf schon hingewiesen wurde. Die Frage wäre zu prüfen, inwiefern auch die "Übermenschen" zu diesem Menschentyp gerechnet werden können. Das würde dann bedeuten, falls diese Frage zu bejahen wäre, daß auch 'TJbermenschen", genauso wie der asketische Priester, nicht etwa "gezüchtet" werden, sondern quasi "spontan" sich bilden. Die Nichtplanbarkeit der 'Ausnahmemenschen' schließt für Nietzsche jedoch nicht aus, daß er sich nicht Gedanken über eine Schaffung "günstiger Umstände" macht, die das Auftreten dieses Menschentyps erleichtern könnten. Darauf ist im Abschnitt zur "Erhöhung des Menschen" noch näher einzugehen. Vorausgreifend sei vermerkt, daß Nietzsche bei diesen "Umständen" in eine ganz andere Richtung denkt als etwa die Darwinisten. Nietzsche denkt zum Beispiel an die Einflüsse des Klimas, an Freunde und Bücher (9,457,28 9,458,5). Die darwinistischen Termini 'Selektion' und 'Umstände' deutet er in seinem Sinne um, das heißt im Sinne seines schon mehrmals explizierten 'Rasse'-Konzepts. Wollte man dieses Vorgehen als 'indirekte Züchtung' einstufen, dann müßte der Akzent auf jeden Fall auf dem Wörtchen 'indirekt' liegen. Nietzsche geht es in erster Linie um eine Art der Lebensgestaltung, die den Weg für eine Erhöhung des Menschen zwar öffnen kann, die aber eine solche Erhöhung keineswegs zielsicher herbeiführen kann oder zu können glaubt. Um diesem Ziel näher kommen zu können, wird Nietzsche versuchen, ein seiner Meinung nach dafür geeignetes Erziehungsprogramm aufzustellen. Auch darauf ist noch einzugehen.
Nietzsche über Nietzsche
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Nietzsche über Nietzsche
Nach Nietzsches Auffassung steht hinter jeder Philosophie die Person des jeweiligen Philosophen, wenn dies auch bis zu seiner Zeit meist übersehen oder verdrängt worden sei. Nietzsche selbst macht jedenfalls kein Geheimnis daraus. In vieler Hinsicht liefert erst die Person des Philosophen einen unentbehrlichen Schlüssel zum besseren Verstehen seiner Philosophie.296 Hier kann dieses Thema nur im Rahmen unserer Untersuchung angeschnitten werden, das heißt, insofern dabei Herkunftsfragen, Physiologisches und deren eventuelle Überschreitung eine Rolle spielen. Wir haben schon einige Aussagen Nietzsches über seine polnische Herkunft sowie über seine physiologischen Befindlichkeiten kennengelernt. Damit ist aber dieser Fragenkreis noch nicht erschöpft. Es sind noch einige weitere Texte
bzw. Textpassagen
zu erörtern, in denen Nietzsche
auf hier
interessierende Fragen eingeht: so auf die "Race"-Eigenschaften der Nietzsches, auf die polnische Herkunft und auf Physiologisches, auf seine Abstammung, soweit sie seine Eltern betrifft, sowie auf seine 'eigentlichen' "Verwandten". Als Textbasis legen wir vor allem Nietzsches Briefe und einen Abschnitt aus "Ecce homo" (Weise 3) zugrunde. In den Briefen geht Nietzsche wiederholt ein auf die "Familieneigenschaften" ("Race-Eigenschaften") der Nietzsches, auf seine physiologischen Befindlichkeiten und auf die polnischen Vorfahren. Im September 1873 schreibt er anläßlich des Todes von "Tante Riekchen", die bis ins Alter nicht auf das "Wohlwollen anderer" angewiesen war: "ich freue mich dessen, weil ich darin die Raceeigenschaft derer, die Nietzsche heißen, finde und sie selbst habe." (KSB 4,159). Hier wird ein gewisser Stolz darüber ausgedrückt, selbständig und ohne Hilfe anderer sein Leben meistern zu können. Zum Verständnis des Wortes "Race" kann vielleicht der folgende Brief weiter helfen, in dem nicht von der "Race" der Nietzsches, sondern von ihrer "Art" die Rede ist. Im September 1875 schreibt Nietzsche an von Gersdorff: 296
Dazu Van Tongeren 1992.
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Menschentypen: Rassebezug und Überschreitimg
"unsere Nietzschische Art hat nur am Für-sich-sein seine Freude [sie], weiß sich selber zu beschäftigen und giebt eher den Menschen als daß sie viel von ihnen fordert. Dabei erträgt es sich vortrefflich, als Denker und Lehrer zu leben - wozu man nun einmal sich verurtheilt fühlt." (KSB 5,112). Hier wird wieder ein ähnlicher Gedanke ausgesprochen, "das Für-sich-sein", das sich selbst Ziele setzen kann, und so reich ist, daß es anderen geben kann. Des weiteren der Gedanke des "Schicksalhaften": man ist dazu "verurtheilt". Diese Formulierungen erinnern an Wendungen, mit denen Nietzsche an anderer Stelle das "vornehme Ideal" beschreibt. Die Wörter "Race" und "Art" scheinen daher am ehsten auf einen Menschentyp zu verweisen. Zehn Jahre später ist wieder von der "Rasse" der Nietzsches die Rede. Elisabeth heiratet Förster und geht mit ihm "in viele Gefahren, fernab von der Heimat, in ein Leben voller Versuche, wo Manches schief, Manches gut gehn wird: in summa es erwartet sie eine tapfere Zukunft. In dem Allen thut sie mir es gleich: es scheint, dies gehört zur Rasse." (April 1885, KSB 7,39). Nietzsche versucht hier der Heirat Elisabeths mit Förster, die er durchaus nicht billigt, eine gute Seite abzugewinnen; zumindest gehe sie "in viele Gefahren", "in ein Leben voller Versuche", in eine "tapfere Zukunft". Dies nimmt Nietzsche auch für sich selbst in Anspruch, und insofern "thut sie mir es gleich". Darin glaubt er eine Bestätigung finden zu dürfen für die "Rasse" der Nietzsches, die selbständig sind und die "Gefahr" lieben. Auch dies ist wieder eine Eigenschaft, die in Nietzsches Bild des Vornehmen paßt. Auch hier könnte es also wieder um ein Menschenbild gehen. Es findet sich, wie in den vorigen Briefen, kein Hinweis, der auf andere Zusammenhänge verwiese. In einem weiteren Brief des gleichen Jahres distanziert sich Nietzsche von seiner Schwester und von Förster und weist darauf hin, daß er eigentlich zu keiner der "heute erlaubten und verständlichen Menschheits-Sorten" gehöre, daß er aber nicht umhin könne, sich unter einer solchen zu "präsentiren": er schreibt an die Schwester: "Von jetzt ab wirst Du ganz andre Sachen zunächst und zuvörderst in Kopf und Herzen haben als die Sachen Deines Bruders, und so soll es recht und billig sein und ebenso liegt es in der Natur, daß Du mehr und mehr die Denkweise Deines Gatten theilen wirst: welche ganz und gar nicht die meine ist, so viel ich auch an ihr zu ehren und zu rühmen habe. Damit Du aber künftighin eine Art Direction hast,
Nietzsche über Nietzsche
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in wiefern die Beurtheilung Deines Bruders viele Vorsicht und vielleicht auch Schonung erfordert: schreibe ich Dir heute, zum Zeichen großer Herzlichkeit, worin das Schlimme und Schwere meiner Lage liegt. Ich habe bisjetzt, von Kindesbeinen an, Niemanden gefunden, mit dem ich dieselbe Noth auf Herzen und Gewissen hätte. Dies zwingt mich heute noch, wie zu allen Zeiten, mich, so gut es gehn will, und oft mit sehr viel schlechter Laune unter irgend einer der heute erlaubten und verständlichen Menschheits-Sorten zu präsentiren. Daß man aber eigentlich nur unter Gleichgesinnten, Gleich-Gewillten gedeihen kann, ist mein Glaubenssatz (bis hinab zur Ernährung und Förderung des Leibes); daß ich Keinen habe, ist mein Malheur." (KSB 7,52: Mai 1885).
Nietzsche geht hier auf Abstand zu seinem Schwager und zu seiner Schwester, und, indem er betont, daß er "von Kindesbeinen an" keinen "Gleichgesinnten" gefunden habe, deutet er auch seinen Abstand von der "Nietzscheschen Race" an. Nur gezwungenermassen habe er sich "unter irgend einer der heute erlaubten und verständlichen Menschheits-Sorten" "präsentirt". Dabei darf wohl an seine Professorenstelle gedacht werden, die ihm schon nach kurzer Zeit zur Last wurde. Man könne aber nur unter "Gleichgesinnten" "gedeihen", und dabei verweist Nietzsche ausdrücklich auch auf Physiologisches: die "Ernährung" und die "Förderung des Leibes". Nietzsche empfindet sich offenbar als "Ausnahme", die in der Einsamkeit leben muß und diese ertragen lernen muß, was ihm aber oft schwerfiel. Aus den "Anfällen des Vereinsamungs-Gefühles" seien "fast alle meine menschlichen Beziehungen" entstanden, die sein Los aber letztlich nicht erträglicher machen konnten (KSB 7,52). In "Ecce homo" kommt Nietzsche auf diese seine Ausnahmestellung zurück. Er betrachtet sie als sein "Malheur", als etwas, das er nicht selbst gesucht hat, das ihm offenbar auferlegt ist. Im "Ecce homo" spricht er in ähnlichem Zusammenhang von "Schicksal". Von seiner Einsamkeit ist in den Briefen oft die Rede. Im Oktober 1885 unterschreibt er einen Brief an die Försters als "Euer Fr. das einsamste aller Thiere" (KSB 7,105). Im Dezember 1885 bezeichnet er sich als "Euer blindes Thier" (KSB 7,128). Seine eigentlichen "Verwandten" sieht er nicht in Deutschland. An Malvida schreibt er im Mai 1887: "Nach Versailles zu kommen - ach wäre es nur irgendwie mir möglich! Denn ich verehre den Kreis Menschen, den Sie dort vorfinden (sonderbares Bekenntniss für einen Deutschen: aber ich fühle mich im heutigen Europa nur den geistigsten
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Menschentypen: Rassebezug und Überschreitung
Franzosen und Russen verwandt, und ganz und gar nicht meinen gebildeten Landsleuten, die alle Dinge nach dem Princip 'Deutschland, Deutschland über Alles' beurtheilen)". (KSB 8,70).
"Verwandt" fühlt er sich also mit den "geistigsten" Menschen seiner Zeit, nicht mit den Verwandten im üblichen Sinn, der Schwester und dem Schwager und seinen "gebildeten Landsleuten", deren Nationalismus ihn abstößt. Nietzsche fühlt sich auch keineswegs frei von der "physiologischen Hemmung", die nach der "Genealogie der Moral" in erster Linie verantwortlich ist für die Erkrankung des heutigen Europäers. Im Juni 1887 schreibt er an Overbeck: "Meine Gesundheit kommt nur langsam von der Stelle: und in der Hauptsache stockt sie: es giebt irgend eine tiefe physiologische Hemmung, deren Ursache und Sitz ich nicht nachzuweisen vermag, Dank welcher die Durchschnittsempfindung ('das Gemeingefühl', wie die Physiologen sagen) beständig unter dem Nullpunkte ist: - ohne alle Ubertreibung, ich habe jetzt ein Jahr lang nicht einen Tag gehabt, wo ich an Geist und Leib frisch und wohlgemuth gewesen wäre. Diese beständige Depression (Tags und Nachts) ist schlimmer als jene heftigen und extrem schmerzhaften Crisen, denen ich oft unterworfen bin." (KSB 8,103-104).
Auch vom Ressentiment fühlt er sich nicht immer frei, aber er kämpft dagegen, genau so, wie er gegen seine Krankheit kämpft. Im Dezember 1887 bekennt er an Köselitz: "ich habe alle mögliche Art von Kasteiung nöthig, um nicht selber unter die Ressentiments-Menschen zu gerathen." (KSB 8,212).
Er bemüht sich also mit allem Nachdruck darum, sich nicht "gehen zu lassen". Dieses "sich nicht gehen lassen" nennt er selbst wiederholt als Merkmal der "vornehmen Kultur". Das haben wir schon gesehen. Auch wenn man selbst an der europäischen Erkrankung teil hat, ist Vornehmheit nicht unerreichbar, wenn man sich dessen bewußt ist und sich darum bemüht, "sich nicht gehen zu lassen". In einem Brief an Brandes vom Februar 1888 geht Nietzsche wieder auf die Frage seiner "Verwandtschaft" ein: "Die beiden Schriften über Schopenhauer und Richard Wagner stellen, wie mir heute scheint, mehr Selbstbekenntnisse, vor allem Selbstgelöbnisse über mich dar als etwa eine wirkliche Psychologie jener mir ebenso tief verwandten als antagonistischen Meister" (KSB 8,260).
Im "Vorwort" zum "Fall Wagner" hat Nietzsche seine Verwandtschaft mit Wagner näher erläutert:
Nietzsche über Nietzsche
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"Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit, will sagen ein decadent: nur daß ich das begriff, nur daß ich mich dagegen wehrte. Der Philosoph in mir wehrte sich dagegen." (KSA 6,11,17-20). "Begreifen", daß man ein "Kind der Zeit" ist, und sich als "Philosoph" dagegen "wehren", also "sich nicht gehen lassen", darin sieht Nietzsche den Unterschied. Deshalb wurde Nietzsche zum "philosophischen Arzt": für sich selbst, und für Europa. Seine polnische Herkunft erwähnt er ebenfalls in einem Brief an Brandes (April 1888), und es scheint ihm, "daß der Typus gut erhalten ist, trotz dreier deutscher Mütter": "Im Auslande gelte ich gewöhnlich als Pole; noch diesen Winter verzeichnete mich die Fremdenliste Nizza's comme Polonais..." (KSB 8,288). Hier deutet sich schon eine gewisse Distanzierung auch von der Mutter an, die in "Ecce homo" noch unterstrichen wird. Während Nietzsche im Brief vom Mai 1885 noch mitgeteilt hatte, daß er sich oft nur mit "sehr viel schlechter Laune unter irgend einer der heute erlaubten und verständlichen Menschheits-Sorten" "präsentire", geht er in einem Brief vom November 1888 an Köselitz einen Schritt weiter. Er schreibt über "Ecce homo": "Übrigens ist das Buch reich an Scherzen und Bosheiten, weil ich mit aller Gewalt mich als Gegentypus zu der Art Mensch, die bisher verehrt worden ist, präsentire: - das Buch ist so 'unheilig' wie möglich..." (KSB 8,488). Auch hier ist von "präsentiren" die Rede: Nietzsche "präsentirt" sich "mit aller Gewalt" "als Gegentypus zu der Art Mensch, die bisher verehrt worden
ist". Handelt es sich auch hier, wie bei den "Menschheits-Sorten", unter denen er wider Willen sich "präsentiren" mußte, um eine "Maske"? Wir wollen auf diese Frage nicht weiter eingehen. Hier genügt es festzuhalten, daß Nietzsche f
sich offenbar als einen Menschen oder als Repräsentanten eines Menschentyps sieht, der einzigartig ist. Blicken wir auf die Briefe zurück, dann ergibt sich etwa folgendes Bild: in den Jahren 1873 bis 1885 bekennt sich Nietzsche noch zu den "Race-Eigenschaften" der Nietzsches, hinter denen das Bild des vornehmen Menschen durchschimmert. Anschließend geht er auf Distanz zu Schwester, Schwager und Mutter. Die polnische Herkunft wird noch in ihrer hohen Bedeutung für Nietzsches Selbstverständnis beibehalten. Er räumt ein, teil zu haben an der
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Menschentypen: Rassebezug und Überschreitung
physiologischen Erkrankung und der "decadence" des europäischen Menschen, betont aber, dies erkannt zu haben und sich dagegen zu "wehren". Hier wird das "Sich-nicht-gehen-lassen" erkennbar, das er an anderer Stelle als Kennzeichen des vornehmen Menschen einstuft. Als seine eigentlichen "Verwandten" nennt er die "geistigsten" Menschen seiner Zeit. Er empfindet sich offenbar als "Ausnahmemensch", der nur notgedrungen "unter den erlaubten... Menschheits-Sorten" sich "präsentire." In "Ecce homo" "präsentire" er sich aber als "Gegentypus zu der Art Mensch, die bisher verehrt worden ist", was wohl auch auf eine Ausnahmestellung hinweisen dürfte. Im "Ecce homo", in dem er sich als "Gegentypus" zu "präsentiren" gedachte (wie wir eben sahen), geht Nietzsche nochmals auf alle in den Briefen schon angeschnittenen Fragen seiner "Herkunft" und seiner Selbstdeutung ein. Die Darstellung in den Briefen wird zum Teil bestätigt, zum Teil aber auch revidiert. Wir beschränken uns auf den Textabschnitt "Warum ich so weise bin" 3 (6,267-9), der die wichtigsten Punkte kompakt zur Sprache bringt. Im Mittelpunkt steht der Begriff der "Verwandtschaft", wobei Nietzsche unterscheidet zwischen Verwandtschaft auf physiologischer Basis, und Verwandtschaft jenseits dieser Basis. "Verwandtschafts-Grade" nach dem ersten Konzept abzulesen sei ein "physiologischer Widersinn" (6,268,29-31): "Man ist am wenigsten mit seinen Eltern verwandt" (6,268,32-33). Das könne man daraus ersehen, daß er eine solche Mutter und Schwester habe: "Die physiologische Contiguität ermöglicht eine solche disharmonia praestabilita..." (6, 268,14-16).
Auf physiologischer Basis erkennt Nietsche nur die Herkunft von seinem Vater und seinen polnischen Vorfahren an. Von Mutter und Schwester sei er so schlecht behandelt worden, daß er sich nicht mit ihnen verwandt glauben könne (6,268,4-14). Mit den Polen fühlt er sich durch ihre Vornehmheit aufs Tiefste verbunden. Die eigentliche "Verwandtschaft" beginnt für Nietzsche aber erst jenseits der physiologischen Verwandtschaft: als "meines Gleichen" erkennt er z.B. Cosima Wagner an: "Frau Cosima Wagner ist bei Weitem die vornehmste Natur." Des weiteren Richard Wagner: "und, damit ich kein Wort zu wenig sage, sage ich, daß Richard Wagner
Nietzsche über Nietzsche
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der mir bei Weitem verwandteste Mann war... Der Rest ist Schweigen..." (6,268,2629).
Dann macht Nietzsche eine allgemeinere Feststellung, die wohl auch für ihn gelten soll: "Die höheren Naturen haben ihre Ursprung unendlich weiter zurück, auf sie hin hat am längsten gesammelt, gespart, gehäuft werden müssen. Die großen Individuen sind die ältesten; ich verstehe es nicht, aber Julius Cäsar könnte mein Vater sein oder Alexander, dieser leibhafte Dionysos..." (6,269,l-5).297
Nietzsche rechnet sich hier zu den "höheren Naturen". Seine "Verwandtschaft" ergibt sich nicht aus seiner direkten Abstammung von seinen Eltern, auch die Vorfahren im weiteren Sinne ("polnischer Edelmann") spielen nur eine sekundäre Rolle (von ihnen hat er seine Vornehmheit). Sein "Ursprung" reicht "unendlich weiter zurück": "Cäsar könnte mein Vater sein". Es ist wohl eine "Verwandtschaft" des Geistes und der Fülle der gesparten Kraft. Nietzsche sieht sich hier selbst vor einem Rätsel: "ich verstehe es nicht..." (6,269,4). Das Wort "physiologisch" erscheint im Vorhergehenden bei Nietzsche in zwei Kontexten: in der zitierten EH-Stelle im Zusammenhang mit leiblicher Abstammung. In diesem Sinne wird "physiologische Verwandtschaft" hier als nicht primär wichtig eingestuft. Wird aber Fülle der Kraft mit "physiologischem Gedeihen" verbunden, dann ist es hier sehr wichtig: die gesammelte Kraft macht die "höheren Naturen" möglich. Im letzteren Sinne kann dann hier doch von "physiologischer Nähe bzw. Verwandtschaft" gesprochen werden, die aber nicht als leibliche Abstammung zu denken wäre. Nietzsche kommt im "Ecce homo" noch öfter auf Fragen der "Verwandtschaft" zurück (etwa 6,286,24: seine Verwandtschaft mit Byron). Besonders aufschlußreich für unseren Zusammenhang dürfte folgende Stelle sein: "Wenn ich meine höchste Formel für Shakespeare suche, so finde ich immer nur die, daß er den Typus Cäsar concipirt hat. Dergleichen erräth man nicht, - man ist es oder man ist es nicht. Der große Dichter schöpft nur aus seiner Realität - bis zu dem Grade, daß er hinterdrein sein Werk nicht mehr aushält..." (6,287,1-6).
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Die Vorstellung, daß das Sammeln, "Kapitalisiren" von Kraft die Voraussetzung für Stärke und Größe ist, findet sich auch sonst bei Nietzsche: 13,369, 32-33.
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Menschentypen: Rassebezug und Überschreitung
So ergehe es ihm auch selbst, wenn er einen Blick in seinen Zarathustra werfe (6,287,6ff). Der "große Dichter" Shakespeare fällt demnach, zumindest für die Zeit des Schaffens, mit dem von ihm "concipirten Typus Cäsar" zusammen. Die "Verwandtschaft" ist eine Art Identität: "dergleichen erräth man nicht,- man ist es oder man ist es nicht." Etwas Ahnliches scheint Nietzsche auch für sich selbst in Anspruch zu nehmen, wenn er auf sich als Schöpfer des Zarathustra hinweist. Aus den Briefen und aus dem "Ecce homo" scheint sich demnach zu ergeben, daß Nietzsche sich für eine "Ausnahme" hält. Die leibliche Abstammung von seinen Eltern und seinen polnischen Vorfahren ist nur von sekundärer Bedeutung. Seine eigentliche "Verwandtschaft" als "höhere Natur" reicht "unendlich weiter zurück" bis zu jenen "großen Individuen" wie Cäsar und Alexander. Geist und Fülle der Kraft vermitteln eine solche "Verwandtschaft", die Räume und Zeiten und leibliche Abstammung überschreitet. Auch im "heutigen Europa" fühle er sich "nur den geistigsten" Menschen "verwandt", wie es im oben zitierten Brief hieß (KSB 8,70). Damit wird ein Menschentyp gezeichnet, der alle äußeren Bedingungen (Volk, Zeit) überschreitet. Er ist eine "Ausnahme" dadurch, daß er selten ist und das übüche Mittelmaß überschreitet.
Überschreitung
Aus den Erörterungen ergibt sich, daß man bei den Menschen der heutigen Zeit nach Nietzsches Auffassung von Menschentypen sprechen kann, die in allen europäischen Völkern auftreten oder auftreten können und die daher keinem einzelnen Volk spezifisch angehören. Damit ist eine "Loslösung" von Nietzsches Konzept der "Rasse" gegeben, das "Völker" und Menschen in jeweils spezifischen "Umgebungen" sich bilden läßt. Des weiteren scheint Nietzsche lediglich für die Zeit der Griechen ein Band zwischen Herkunft, Aussehen sowie "seelischen" und anderen Eigenschaften anzunehmen. Wie wir gesehen haben, bleibt die betreffende Textstelle der "Genealogie" jedoch in
Überschreitung
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ihrer Bewertung problematisch, da Nietzsche im gleichen Werk eine zweite Darstellung gibt, in der von Herkunft und Aussehen nicht mehr die Rede ist. Für die Vornehmen und "Plebejer" der heutigen Zeit stellt sich diese Frage jedoch nicht mehr, wie wir gesehen haben. Hier wird in keiner Weise auf den modernen Rassebegriff Bezug genommen. Der moderne "Heerdenmensch" wird in seiner ethnischen Mischung begrüßt als Station im "Prozess des werdenden Europäers". Soweit jedoch durch diese Mischung im "Misch-Menschen" die Rangordnung der Menschen und Werte verloren zu gehen droht, meldet Nietzsche seine Vorbehalte an. Auch der asketische Priester sowie die "Ausnahmemenschen" überschreiten alle Bindungen an Volk, Zeit oder Stand. Wir haben damit einige der für Nietzsche wichtigeren Menschentypen besprochen. Eine eingehende Erörterung auch der Künstler oder der wissenschaftlichen Menschen hätte zu weit geführt. In einem Fragment vom Frühjahr 1888 ordnet Nietzsche "die Wissenschaft" und einen "großen Theil der Kunst" bei
"einer mittleren Art Mensch" ein. Über die Wissenschaft heißt es ins-
besondere: "sie gehört als solche zu einer mittleren Art Mensch,- sie ist deplacirt unter Ausnahmen,- sie hat nichts Aristokratisches und noch weniger etwas Anarchistisches in ihren Instinkten." (KSA 13,368,29-34). Damit wird die Wissenschaft ebenfalls den "Heerdenmenschen" zugeordnet. Sie ist also in den vorigen Erörterungen schon implizit mitberücksichtigt. Ein Fragment vom Mai/Juli 1885 hebt nochmals hervor, daß "große Menschen" unabhängig von dem Volk, dem sie angehören, auftreten (können). So verhalte es sich etwa bei den Deutschen: "Die Deutschen haben keine Cultur: sie sind nach wie vor von Paris abhängig - die Ursache ist, sie haben noch keinen Charakter. Unsere großen Menschen bezeichnen keine Rasse, sondern Einzelne." (KSA 11, 538: 35/627). Hier könnte z.B. an Wagner gedacht sein, dessen Parisaufenthalt für Wagner nach Nietzsches Auffassung von entscheidender Bedeutung war (5, 203,24-25). Das Stichwort "Charakter" verweist darauf, daß hier mit dem Wort "Rasse" "Volk" gemeint ist, denn nach Nietzsches Rasse-Konzept entsteht ein "Volk", indem es einen "Charakter" ausbildet (11,136,6).
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Menschentypen: Rassebezug und Überschreitung
Wenn die Deutschen "große Menschen" haben, dann ist dies der Fall, obwohl das deutsche Volk noch keinen "Charakter" und noch keine "Cultur" hat. Sie treten unabhängig davon auf. Demnach können "große Menschen" zwar als Frucht der hochentwickelten "Cultur" ihres Volkes in Erscheinung treten, sie können aber auch auftreten, wenn eine solche "Cultur" noch nicht vorliegt. Sie sind also unabhängig davon. In beiden Fällen aber sind "große Menschen" "Ausnahmen", indem sie die vorhandene Höhe der "Cultur" ihres Volkes, und wohl auch der anderen Völker, überschreiten.298
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Die Frage stellt sich, ob der hier skizzierte Befund der "Überschreitung" etwas zum besseren Verständnis von Nietzsches Konzept des "Übermenschen" beitragen kann: der "Übermensch" als (Ausnahme-) Mensch, der sich "losgelöst" hat aus den Bindungen an "Rasse" (in Nietzsches Sinn), an Völker und "Umgebungen"? Ganz ähnlich wird von Nietzsche auch die "Überrasse" verstanden: ein Volk, das sich aus seiner ersten "Umgebung" gelöst und an mehrere andere angepaßt hat und dadurch "über" der Bindung an eine bestimmte Umgebung steht (vgl. 11,136, 19-22). Wenn auch das Konzept des "Übermenschen" durch diese "Loslösung" nicht umfassend beschrieben sein dürfte, so dürfte doch die angedeutete "Überschreitung" einen wesentlichen Bestandteil davon ausmachen.
Menschentypen: Maßstäbe für ihr Gelingen Vorbemerkung
Wie wir bereits gesehen haben, besteht Nietzsches Haupteinwand gegen den europäischen "Misch-Menschen" nicht zuletzt darin, daß durch diesen Prozeß der Sinn für eine Rangordnung der Menschen verloren gehe. Nietzsche anerkennt die "Ausgleichung des europäischen Menschen", dabei darf aber nicht das Gefühl für "Distanz" und "Rangordnung" verloren gehen: "Die Ausgleichung des europäischen Menschen ist der große Prozess, der nicht zu hemmen ist, man sollte ihn noch beschleunigen. Die Nothwendigkeit für eine Kluftaufreißung, Distanz, Rangordnung ist damit gegeben: nicht, die Nothwendigkeit, jenen Prozess zu verlangsamen." (12,425,2733).
Bei der "Ausgleichung des europäischen Menschen" darf wohl an jenen Vorgang gedacht werden, der von Nietzsche im Aphorismus 242 von JOB dargelegt wird als "ein ungeheuerer physiologischer Prozess, der immer mehr in Fluss geräth,- der Pf6Z8§8 einer Anähnlichung der Europäer, ihre wachsende Loslösung von den Bedingungen, unter denen klimatisch und ständisch gebundene Rassen entstehen, ihre zunehmende Unabhängigkeit von jedem bestimmten milieu, das Jahrhunderte lang sich mit gleichen Forderungen in Seele und Leib einschreiben möchte, - also die langsame Heraufkunft einer wesentlich übernationalen und nomadischen Art Mensch, welche physiologisch geredet, ein Maximum von Anpassungskunst und kraft als ihre typische Auszeichnung besitzt..."
Es ist der "Prozess des werdenden Europäers" (5,182,17-28). Dieser Prozeß der "Ausgleichung" bringt also eine "wachsende Loslösung" der Völker von den "Bedingungen", unter denen gemäß Nietzsches 'Rasse'-Konzept (11,136) anfänglich Völker sich bildeten. Es entsteht eine "wesentlich übernationale und nomadische Art Mensch". Diesen Prozeß kann Nietzsche billigen, da er den Weg für ein Einswerden Europas ebnet. Zusätzlich kann dabei durch eine Mischung der Völker und Kulturen die europäische Kultur bereichert werden. Die 'alten', klimatisch bedingten Völker vereinigen sich in einer neuen,
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Menschentypen: Maßstäbe für ihr Gelingen
reicheren, "übernationalen" europäischen Kultur. Das Auftreten der "Ausgleichung" der Europäer ist aus Nietzsches Sicht insofern wünschenswert, als diese eine wichtige Voraussetzung für ein einsgewordenes Europa darstellt, wie Nietzsche sich dieses vorstellt: "übernational" und "nomadisch". Der angedeutete Prozeß soll also weitergehen und sogar noch beschleunigt werden. Da dadurch aber der Sinn für "Rangordnung" verloren zu gehen droht, muß zu seiner Erhaltung eine "Kluft" aufgerissen werden: damit der Sinn für "Rang" und "Distanz" der Menschen weiterhin bewußt bleibt und damit eine Perspektive für eine neuerliche "Erhöhung" des Menschen. Denn die Menschen brauchen nach Nietzsches Auffassung die "höheren Menschen", die "allein die Schaffenden" sind 'm den Bereichen der Kunst, der Werte, der Religion und des Staates. (11,212,30-31). Er ist sich dessen bewußt, "daß die Wissenschaft im Bunde mit der Gleichheits-Bewegung vorwärts geht, Demokratie ist, daß alle Tugenden des Gelehrten die Rangordnung ablehnen." (12, 155,22-24).
Aber er ist dennoch davon überzeugt, "daß es eine Rangordnung der Menschen giebt, [daß] folglich Eine Moral für Alle eine Beeinträchtigung der höchsten Menschen ist, daß was dem Einen billig ist, durchaus noch nicht dem Anderen es sein kann; daß vielmehr das Glück der Meisten für Jeden ein Ideal zum Erbrechen ist, der die Auszeichnung hat, nicht zu den Meisten zu gehören." (11,524,2-8).
Wir müssen daher jetzt zunächst auf das schwierige Thema der Rangordnung der Menschen und Menschentypen bei Nietzsche eingehen, und die Frage stellen, nach welchen Maßstäben sich diese bestimmt. Wenn es gelingt, diese Fragen hier zumindest andeutungsweise zu beantworten, dann wird damit auch deutlicher, was Nietzsche mit seiner Forderung nach einer "Erhöhung" des Menschen im Auge haben könnte. Wie bei allen bereits angeschnittenen Fragen verhält es sich auch im vorliegenden Fall so, daß Nietzsches Äußerungen über viele Texte verstreut sind und zum Teil unterschiedliche Akzente aufweisen. Es gibt jedoch einen offenbar zentralen Text zur Frage der Rangordnung (11,212-4), der aber auch nicht alle Maßstäbe enthalt, die Nietzsche z.T. an anderer Stelle als wichtig erachtet, (etwa die "Reinlichkeit"). Wir werden uns daher um eine Ergänzung bemühen. Es soll hier nicht darum gehen, die Rangstufen, die die "höheren Menschen" unter sich wiederum aufweisen, näher zu erörtern. Uns interessiert zunächst
Rangordnung
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mehr die Frage, welche Maßstäbe überhaupt Nietzsche für die Bewertung von Menschen anlegen möchte. Sodann die Frage, inwiefern diese Maßstäbe auch für die 'Normal'-Menschen gültig sein können, also für die Menschen, die nicht "höhere Menschen" im Sinn "Schaffender" sind (11,212, 30-31).
Rangordnung Ein wichtiger Text zu dieser Frage dürfte das folgende Fragment sein: "Die neue Rangordnung. Vorrede zu einer Philosophie der ewigen Wiederkunft." (KSA 11,212-4: S/H 84: 20/243/).299 In diesem Text geht Nietzsche von der Frage aus: "für wen noch schreiben?" (11,212,13). Und er fährt fort: "Für Vieles von mir Gedachte fand ich keinen reif; und Zarathustra ist ein Beweis, daß Einer mit der größten Deutlichkeit reden kann, aber von Niemandem gehört wird.- Ich fühle mich im Gegensatz zur Moral der Gleichheit." (11,212,13-17). Das mangelnde Verständnis für seinen "Zarathustra" nimmt Nietzsche zum Anlaß, über die Gleichheit bzw. Ungleichheit der Menschen nachzudenken, die offenbar dafür verantwortlich zu machen ist, daß der "Zarathustra" bisher so wenig Verständnis gefunden hat. Er beschreibt die "Ungleichheit" der Menschen in drei Anläufen, die zugleich eine Dreiteilung der Menschen vornehmen: a) "Die Ungleichheit der Menschen" b) "Die Ungleichheit der Schaffenden" c) "Die Ungleichheit der höheren Menschen". Da "allein die Schaffenden" die "höheren Menschen" sind, gehören b) und c) näher zusammen. (11,212,30-31). Unter a) werden vier Typen aufgeführt: 1. "Führer und Heerde..." 2. "Vollständige Menschen und Bruchstücke..." 3. "Gerathene und Missrathene..." 4. "Schaffende und 'Gebildete'..." Unter b) werden fünf Typen aufgeführt: 5. "Die Künstler..." 299
Nietzsche kommt wiederholt mit ähnlichen Formulierungen auf dieses Problem zu sprechen: so etwa in 11,217, 5 f. und 11,542, 8 f.
298 6. 7. 8. 9.
Menschentypen: Maßstäbe fur ihr Gelingen "Die Philosophen..." "Die Heerden-Bildner (Gesetzgeber)..." "Die Werthe-Setzenden (Religionsstifter)..." "Ein fehlender Typus: der Mensch, welcher am stärksten befiehlt, führt, neue Werthe setzt..."
Unter c) werden ebenfalls fünf Typen genannt, wobei jedoch nur noch Typ 10 von Nietzsche selbst eine Zahl erhält: 10. "Das Gefühl der Unvollkommenheit... unterscheidet..." 11. "Das Gefühl nach Vollkommenem hin..." 12. "Die Kraft, etwas Vollkommenes irgend worin gestalten zu können..." 13. "(Dionysische Weisheit) Die höchste Kraft, alles Unvollkommene, Leidende als nothwendig (ewig-wiederholenswerth) zu fühlen aus einem Überdrange der schöpferischen Kraft..." 14. "Der bisherige Mensch als Embryon..."
Die Typen 6 bis 9 werden von Nietzsche ausdrücklich als mehr oder weniger "mißrathenfd]" eingestuft: 6. "... schon sehr viel mißrathener" (wohl als die "Künstler" unter 5) 7. "... ein sehr mißrathner Typus" 8. "... äußerstes Mißrathen und Fehlgreifen" 9. "Erst wenn es eine Regierung der Erde giebt, werden solche Wesen entstehen, wahrscheinlich lange im höchsten Maße mißrathend".
Nietzsche betrachtet also auch das Gelingen der "Schaffenden" und "höheren Menschen" noch mit großer Skepsis. Es sind Entwürfe, die aber offenbar noch keine gelungene, "gerathene" Realisierung gefunden haben. Dies dürfte auch aus der Eintragung 14 hervorgehen, die er an das Ende seiner offenbar immer höher aufsteigenden Reihe der Menschentypen stellt: "Der bisherige Mensch als Embryon..." Der Mensch steht also nach Nietzsches Auffassung, als das "nicht festgestellte Tier", immer noch am Anfang seiner Entfaltungsmöglichkeiten, und Nietzsche wird sich immer wieder Gedanken machen, auf welche Weise eine weitere Entfaltung des Menschen erreicht werden könnte. Es würde hier aber zu weit fuhren, das genannte Fragment in allen Einzelheiten erörtern zu wollen. Wir fragen hier nach den Maßstäben, nach denen Nietzsche die "Rangordnung" der Menschen bestimmt, wobei uns auch interessiert, inwiefern diese für das "Gerathen" des Menschen überhaupt von Bedeutung sind. Nicht die "höheren Menschen" im Sinn der "Schaffenden"
Maßstäbe für das "Gerathen" des Menschen
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sollen hier im Mittelpunkt stehen, sondern die Frage der "Erhöhung" des Menschen überhaupt. Nietzsche erwähnt im genannten Fragment die folgenden Maßstäbe: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
"Führer und Heerde", also "befehlend und gehorchend" "Vollständige Menschen/Bruchstücke" "gerathend/mißrathend" "schaffend/gestaltend" "Werthe-setzend" "Umfänglichkeit" "Vollkommenheits"-Orientierung "Dionysische Weisheit"
Hierbei wird nicht ganz deutlich, ob etwa die Maßstäbe 2 und 3 ("Vollständige Menschen/Bruchstücke" und "gerathen/mißrathen") nur für die Typen 1-3, also unter Ausschluß der "höheren Menschen" gelten sollen, oder ob diese Maßstäbe für alle, auch die "höheren" Menschen gelten sollen. Daher ist es vielleicht ratsam, hier die Frage, wo/wann beginnt der "höhere Mensch", zunächst einmal auf sich beruhen zu lassen, und statt dessen zu prüfen, inwiefern die genannten Maßstäbe ein mehr oder weniger gutes Gelingen des Menschen überhaupt beschreiben und erkennen lassen. Dabei kann auch deutlich werden, worin für Nietzsche das "Gerathen" des Menschen im allgemeineren Sinne liegen könnte. Die Frage der Rangordnung wird also im vorliegenden Rahmen so umformuliert, daß die Maßstäbe versammelt werden, nach denen Nietzsche das "Gerathen" des Menschen allgemein beurteilt. Auf die Frage des "höheren Menschen" wird dabei jedoch auch gelegentlich eingegangen.
Maßstäbe für das "Gerathen" des Menschen
Im zitierten Fragment 26/2437 (S/H 1884: KSA 11,212-4) nannte Nietzsche eine Reihe von Maßstäben, die er seiner "neuen Rangordnung" des Menschen zugrunde legte. Diese Maßstäbe sollen wohl zum einen das Gelingen des Menschen überhaupt beschreiben, zum ändern aber auch vor allem eine "Ordnung" der "Ränge" der "höheren Menschen" aufzeigen. Wir ziehen diese Maßstäbe im folgenden bei der Besprechung der Maßstäbe für das Gelingen des Menschen mit heran. Es scheint aber ratsam, auch noch weitere Maßstäbe
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Menschentypen: Maßstäbe für ihr Gelingen
mit einzubeziehen, die Nietzsche an anderer Stelle, z.T. sehr nachdrücklich nennt. Wir versuchen also, eine vollständigere Liste der Bewertungsmaßstäbe zu erstellen, so weit das möglich sein dürfte. Eine gewisse Zahl der Maßstäbe dürfte für das Gelingen des Menschen allgemein von Bedeutung sein, nur ein Teil für die "höheren Menschen" im Sinn von "Schaffenden". Wie sich zeigen wird, sind einige dieser Maßstäbe schon in früheren Abschnitten dieser Untersuchung zur Sprache gekommen, so daß sie hier nicht mehr eingehender erörtert werden müssen. Soweit ich sehe, lassen sich die Maßstäbe -zumindest jene, die für den Menschen allgemein zu gelten scheinen - in zwei Klassen einteilen: A: Maßstäbe, die die physiologische Seite betreffen und die vom physiologischen Gedeihen bis zu den damit einhergehenden "Zeichensprachen" reichen B: Maßstäbe, die die "Ganzheit" des Menschen betreffen: hier geht es um das Problem der "Vollständigen Menschen" und der "Bruchstücke:, wie Nietzsche in dem Fragment über die "Neue Rangordnung" formuliert, und um die damit zusammenhängenden Probleme (z.B. "Umfänglichkeit"). Die beiden Aspekte hängen zusammen: die physiologisch begründete Willenslähmung und "Vielwollerei" macht den Menschen zum "Tummelplatz" und "Schlachtfeld", wie Nietzsche es gelegentlich formuliert (5,137 u. 8,65): die Einheitlichkeit und "Ganzheit", hier des Wollens, gehen verloren. Nietzsche greift damit ein Problem des 'modernen' Menschen auf, das schon von Goethe, Heine und Hölderlin beklagt wurde. Die beiden Bereiche werden vor allem um der Übersichtlichkeit der Darstellung willen getrennt behandelt. Das physiologische Gedeihen als Maßstab für das "Gerathen" oder "Mißrathen" des Menschen wurde schon eingehender erörtert. Wir haben auch schon gesehen, daß - zumindest für die neuere Zeit - dabei die ethnische Zugehörigkeit des Menschen keine Rolle mehr spielt. Nietzsche setzte das physiologische Gedeihen auch mit der Schnelligkeit des Stoffwechsels in eine analoge Beziehung, derart daß, wer seine Speisen schnell verdaut, auch seine Erlebnisse schnell verdaut, und daher keinen Grund für Nichtvergessen und "Nachtragen" hat, also für "Rancune" und "Ressentiment". Das physiologische
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Gedeihen findet auch in der "Zeichensprache" Moral seinen Ausdruck (13, 231,1-3). Jedoch meldet sich auch hier Nietzsches "doppelte Optik": in dem Fragment zur "Neuen Randordnung" wird etwa erwogen, ob nicht die "Missrathenen" "vielleicht die höheren in der Anlage" sein könnten? (11,212,23-24). Und das heißt doch, daß auch für den heutigen Menschen, den Nietzsche aufgrund der "physiologischen Hemmung" für "missrathener" hält, der Weg zur "Erhöhung" durchaus noch offen ist, wenn er sich auch schwieriger gestalten dürfte als für den "gerathenen" Menschen. Wie ein solcher Weg aussehen könnte, hat Nietzsche in dem Fragment 26/487 (KSA 11,160: S/H 84) angedeutet: er führt über die "Überwindung der bösen kleinlichen Neigungen", zu denen etwa das "Vaterland" gehört, also die "Vaterländerei", bis zum "Jenseits von Gut und Böse" (11,160,13-22). Die physiologische Basis begünstigt oder erschwert diesen Weg, aber der Mensch ist offenbar nicht, falls die physiologischen Bedingungen ungünstig sind, an diese Bedingungen gekettet. Fragen wir, wie sich das bisherige physiologische Gedeihen des europäischen Menschen nach Nietzsches Einschätzung darstellt, dann ergibt sich etwa das folgende Bild: die Juden gelten von Anfang ihrer Geschichte bis auf den heutigen Tag als "stark gerathenes" Volk, was Nietzsche an ihrem Gottesbegriff abliest, wie wir gesehen haben. Die Griechen der klassischen Zeit ebenfalls (11,583): der "antike Mensch" war bisher "der wohlgerathene Mensch". Jedoch wird dies schon für Plato in Zweifel gezogen (11,160,27), und erst recht für den "wissenschaftlichen Menschen", der schon mit Sokrates in Erscheinung tritt. In der "Kaiser-Zeit" tritt dann schon jener "matte" Typ Mensch auf, der als Vorläufer des modernen "Heerdenmenschen" gelten kann. Das Auftreten der "physiologischen Hemmung" bahnt dann den Weg für die Ausbreitung der christlichen Religion, die nach seiner Auffassung die Erkrankung des Europäers nur noch steigert. Umso erstaunlicher ist es, daß Nietzsche den "zahmen Menschen", der doch auch vom Christentum geprägt ist, als "etwas wenigstens relativ Gerathenes" gelten läßt, als etwas "wenigstens noch Lebensfähiges, wenigstens zum Leben Ja-sagendes..." (5,277,21-22). Auch dies ist ein Beleg dafür, daß der physiologische "Abstieg" des Menschen seit der Antike keineswegs unaufhaltsam nach unten führen muß. Sehr ungünstig werden in diesem Zusammen-
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hang jedoch Demokratie und "Socialismus" eingestuft, da sie den durch das fehlende physiologische Gedeihen ohnehin schon erschwerten Weg zur "Erhöhung" des Menschen durch eine Moral des Mittelmaßes zusätzlich verstellen (ll,469,6fund 11,586-7). Bemerkenswert ist, daß für Nietzsche das physiologische "Missrathen" des europäischen Menschen in keiner Weise mit den Juden in Zusammenhang gebracht wird. Es beginnt in der griechischen Antike. Die christliche Religion bringt nicht eine physiologische Schwächung nach Rom: diese war bereits in Rom vorhanden, als das Christentum dort ankam, aber die vornehmen Geschlechter waren durchaus noch "intakt". Das haben wir schon gesehen. Damit unterscheidet sich Nietzsches Darstellung der europäischen "Gesundheitsgeschichte" ganz wesentlich von den Auffassungen der damaligen Antisemiten (Dühring) und auch der der "Germanophilen" (Chamberlain). Auch die von Nietzsche häufig verwendeten Ausdrücke "die Starken" und die "Schwachen" sind zunächst vor allem von der physiologischen Basis aus zu verstehen. Die "Starken" sind stark durch ihre Willenskraft und durch ihre "starkes Herz", wie wir bei der Besprechung der Juden gesehen haben. Die "Stärke" drückt sich in "Schönheit", "Tapferkeit" und "Cultur" aus (12,424-6). Immer wieder betont Nietzsche, daß bei der Stärke nicht nur an die physische Kraft zu denken sei: vielmehr: "Die Stärksten an Leib und Seele sind die Besten" (11,247,3). Wenn die Starken gelegentlich die Befehlenden genannt werden, so ist damit auch und vielleicht sogar in erster Linie, das Befehlen über sich selbst gemeint: die Starken sind "selbstgewiss" und können sich selbst "Ziele setzen". Der starke Mensch ist derjenige, der allein für sich stehen kann, wie Nietzsche in seinen Briefen mehrmals betont und für sich und seine Familie in Anspruch nimmt. Die primäre Ausrichtung von Kraft nach außen, ist kein Zeichen der Stärke, sondern der Schwäche. Der starke Mensch kann sich auch in der Einsamkeit entfalten, und vielleicht gerade nur der starke Mensch. Das Streben nach der "Heerde" wird von Nietzsche als Ausdruck der Schwäche gedeutet, ebenso wie das Streben, die "Heerde" der Schwachen beherrschen zu wollen.
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Der Starke will keineswegs Schwache um sich, sondern auch Starke. Dann fühlt er sich "inter pares", wie Nietzsche dies öfter formuliert. Während die Demokratie nach Nietzsches Auffassung die Schwäche des Menschen begünstigt, will er mit seinem "aristokratischen" Programm den Menschen stärken und auch dadurch "erhöhen". Gerade dadurch glaubt er die Herrschaft von scheinbar "Starken" über eine "Heerde" von Schwachen verhindern zu können. Die Gefahr der Herrschaft von Menschen über Menschen ist nach seiner Auffassung gerade bei der Demokratie größer als bei der Aristokratie. Daß die "Starken" auch "Gesetzgeber" sein können, steht dazu nicht im Widerspruch. Denn der Starke gibt nur Gesetze, mit denen er auch sich selbst quasi "befiehlt" und denen er auch selbst gehorcht. Befehlen und Gehorchen ist nicht auf unterschiedliche Personen verteilt.300 Und auch hier ist wieder eine Einschränkung zu machen: auch physiologisches Gedeihen, das seinen Ausdruck in einem "Überschuss an Kraft" findet, birgt noch nicht die Garantie, auch in seinen Handlungen zu "gerathen". Das zeigte schon das Fragment über die "Neue Rangordnung", in dem Nietzsche für nicht weniger als vier Typen des "höheren Menschen" ein mehr oder weniger starkes "Missrathen" anmerkte: die Philosophen, "Heerden-Bildner", "Religionsstifter" und einen "noch fehlenden Typus". (11,213,3-21). "Gerathen" findet offenbar auf zwei Ebenen statt, von denen die physiologische nur eine ist. Die zweite dürfte vielleicht in der "Arbeit" des "sichnicht-gehen-lassens" bestehen, die Nietzsche immer wieder für die "Vornehmen" hervorhebt, so für die Griechen und für die Franzosen des 17. Jahrhunderts. Vornehmheit wird also letztlich nicht von der "Physiologie" zugeteilt, sondern muß auch erst erworben werden. Ergänzt sei noch, daß Kraft und "Gerathenheit" keineswegs nur an Männer gebunden sind. Nur scheinen Frauen, die "stark gerathen" sind, dies selbst nicht zu bemerken: "Frauen, stark gerathen, von altem Schroth und Köm, mit dem Temperament einer Kuh, denen selbst Unfälle wenig anhaben: aber sie nennen es ihr 'Gottesvertrauen'-
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Dies gilt grundsätzlich auch für die Demokratie, allerdings auf der niedrigeren Ebene der "Mittelmäßigkeit".
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Sie merken nichts davon, daß ihr 'Gottvertrauen' nur der Ausdruck ihrer starken und sicheren Gesammtverfassung ist - eine Formulirung, keine Ursache..." (KSA 13,457,1-6: F 88: 15/83/).
Die "starken" Frauen verwechseln "Ursache" und "Folge": ihr "Gottvertrauen" ist Folge, nicht "Ursache" ihrer "starken und sicheren Gesammtverfassung". Da sie eine "starke... Gesammtverfassung" haben, haben sie Vertrauen in Gott. Und dieser Gott ist vermutlich ein "starker" Gott. Das Fragment erinnert an das Fragment über die Juden: "Ein Volk, das noch an sich selbst glaubt, hat auch seinen Gott noch..." (KSA 13,523 f: Mai/Juni 88: 17/47).
Es wurde schon besprochen. An welche Frauen könnte Nietzsche hier gedacht haben? Der Vergleich mit der "Kuh" könnte auf George Sand verweisen, zu der Nietzsche jedoch ein zwiespältiges Verhältnis hatte.301 Vielleicht denkt er auch an seine Tante Riekchen, die uns vorn in einem Brief begegnet ist. Sie wurde von Nietzsche gelobt, weil sie auf sich selbst gestellt das Leben meisterte - und sie hatte "Gottvertrauen". Es gibt aber noch ein anderes Fragment, in dem Nietzsche ein starkes "Weib" lobt und ihren Namen nennt. Als er von den "Resten einer stärkeren Rasse" in Deutschland spricht, nennt er neben Händel auch ein "Weib": "Es gab wohl hier und da noch Reste einer stärkeren Rasse: z.B. ist der Musiker Händel, unster schönster Typus des Mannes im Reiche der Kunst, ein Zeugniss davon: oder, um ein Weib zu nennen, Frau Professor Gottsched, welche mit Fug und Recht eine gute Zeit lang über die deutschen Professoren das Scepter geführt hat,- man sehe sich doch die Bilder von Beiden an!" (11,455,20-26).
Frau Professor Gottsched wird hier wohl als "starkes Weib" genannt, weil sie eine bedeutende Rolle im Geistesleben der deutschen Aufklärung spielte. Sie war die Gattin des Leipziger Aufklärers und Literaturprofessors J.G. Gottsched (1700-1766), der in seiner "Critischen Dichtkunst vor die Deutschen" für die Literatur seiner Zeit neue Maßstäbe gesetzt hatte. Sie war eine selbstbewußte Mitarbeiterin ihres Mannes und übersetzte zwei Dramen Voltaires ins Deutsche, die als Vorbilder für die deutsche Produktion gelten sollten. Anläßlich eines Besuches Voltaires in Leipzig (1753) kam eine geplante Begegnung Voltaires mit Frau Gottsched aber nicht zustande, da dieser eine
Dazu Schank 1992.
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Einladung aus Krankheitsgründen ablehnte und Frau Gottsched ihrerseits erklärte, sie sei zu unabhängig, um Voltaire in seinem Gasthof zu besuchen. Diese Vornehmheit der Frau Gottsched und ihre Übersetzertätigkeit mögen ihr die Hochschätzung Nietzsches eingebracht haben, wogegen er für Gottsched selbst in seiner zweiten "Unzeitgemässen Betrachtung" keine besondere Anerkennung mehr aufbringen konnte (KSA 1,325). Auch "Freude" und "Schönheit" sind zu einem guten Teil Ausdruck des physiologischen Gedeihens. Zum Teil werden sie aber auch "erarbeitet", wie das Beispiel der griechischen Vornehmen zeigte. Das "schlechte Gewissen" ist hingegen ein "hässliches Gewächs" (5,325,16), und der asketische Priester, der es sich zu Nutze macht, ist der "Repräsentant des Ernstes" (5,361,16-17). Wenn "starke" und "schöne" Menschen wie die Juden unter "unschönen und gedrückten" Menschen wie den Deutschen leben müssen, beeinträchtigt dies ihr physiologisches Gedeihen und ihre eigene "Schönheit" und "Freude" (11,568, 30-569,2). Es ist also nicht so, wie die Antisemiten meinen, daß die Juden die Deutschen beeinträchtigen, sondern umgekehrt! Vielleicht ist es nicht überflüssig darauf hinzuweisen, daß bei den "Hässlichen" und "Missrathenen" natürlich nicht an äußerlich sichtbare Mißbildungen zu denken ist. Es geht um seelische Zustände wie übermässige Ernsthaftigkeit und Traurigkeit und fehlenden Lebenswillen. Nietzsche zieht gelegentlich eine direkte Linie von den Zuständen der Seele zur "Rangordnung" hin: es sind "die erhobenen stolzen Zustände der Seele, welche als das Auszeichnende und die Rangordnung Bestimmende empfunden werden." (5,209,4-6).
Zustände der Seele, die zum Teil physiologisch bestimmt sind, zum Teil aber auch "erarbeitet" werden, bestimmen demnach hier den "Rang" des Menschen. Der Mensch, der zum Leben ja sagen kann, gilt Nietzsche als der "gerathene" Mensch. Im Fragment über die "Neue Rangordnung" formuliert Nietzsche das folgendermaßen: "(Dionysische Weisheit) Die höchste Kraft, alles Unvollkommene, Leidende als nothwendig (ewig-wiederholenswerth) zu fühlen aus einem Überdrange der schöpferischen Kraft..." (11,214,10-14).
Wenn dieses umfassende Ja-sagen wohl auch nur durch viel "Arbeit" des "sich-nicht-gehen-lassens" erreicht werden kann, so ist damit doch eine
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Richtung angegeben, in der das Gelingen und die "Größe" des Menschen, wie Nietzsche sie sieht, gesucht werden können. Dieses Ja-sagen, das Nietzsche auch als "Amor fati" bezeichnet, macht demnach die "Größe" des Menschen aus.302 Nun zu den Maßstäben der "Ganzheit". Das Wort "ganz" dürfte im vorliegenden Zusammenhang vor allem auf "Nicht-getrenntheit" zielen. Der Mensch ist "ganz", wenn "Leib", "Herz", "Kopf, Instinkte, "große" und "kleine" Vernunft nicht abgetrennt von einander sind, sondern in komplexem Austausch mit einander kommunizieren, ohne daß eines der Elemente ein Übergewicht oder eine dominante Stellung hat. Alles bewegt sich in einem interagierenden und sich immer wieder herstellenden Gleichgewichtszustand. Zum "Bruchstück" wird der Mensch, wenn etwa die Vernunft die alleinige Führung übernimmt und der übrige Mensch "kaltgestellt" wird, wofür der wissenschaftliche Mensch ein Beispiel ist, inbesondere Sokrates, bei dem Nietzsche eine "Superfotation der Vernunft" feststellen zu können glaubt. "Ganze" Menschen im angedeuteten Sinn waren nach Nietzsches Auffassung offenbar die "Barbaren": "Menschen mit einer noch natürlicheren Natur, Barbaren in jedem furchtbaren Verstande des Wortes, Raubmenschen, noch im Besitz ungebrochener Willenskräfte und Macht-Begierden, warfen sich auf schwächere, gesittetere... Rassen, oder auf mürbe Culturen, in denen eben die letzte Lebenskraft... verflackerte." (5,205,25206,6).
"Barbaren" sind "ganze" Menschen, da ihre "Willenskräfte" noch "ungebrochen", also noch "ganz" sind. Darin liegt auch ihre Stärke. Das haben sie mit den "Vornehmen" gemeinsam: "Die vornehme Kaste war im Anfang immer die Barbaren-Kaste: ihr Übergewicht lag nicht vorerst in der physischen Kraft, sondern in der seelischen, - es waren die ganzeren Menschen (was auf jeder Stufe auch so viel mit bedeutet als 'die ganzeren Bestien' -)." (5,206,6-10).
Die Stärke der "Vornehmen" liegt in der "Seele", in den noch "ungebrochenen Willenskräften". "Vornehmheit" beinhaltet demnach "Ganzheit", "Ungebrochenheit". Sie können daher mit "Bestien" verglichen werden, also vielleicht sogar mit Raubtieren, die nicht die "große Vernunft" oder ein
So auch Owen 1995, 106.
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"schlechtes Gewissen" von der Natur, von ihrer eigenen und von der sie umgebenden, abtrennt. Und diese beiden "Naturen" sind dabei natürlich auch nicht getrennt. Nietzsches Betonung der "Ganzheit" soll wohl weniger besagen, daß der Mensch zum Raubtier im wahren Sinne des Wortes werden soll, als vielmehr, daß er jene Abtrennungen vermeiden soll, an denen z.B. der theoretische Mensch leidet. Die "Ganzheit" wird so sehr betont, weil sie zum Desiderat zu werden droht. Das Preisgeben der "Ganzheit" bezeichnet er als "Urleiden der theoretischen Cultur". Das Trennen, etwa das Unterbrechen der Kreisläufe der Natur, fuhrt zu unübersehbaren Zerstörungen. Das haben wir heute im Gefolge von Wissenschaft und Technik in reichlichem Maße erfahren. Auch in der neuzeitlichen
sozialen Entwicklung sieht Nietzsche die
Menschen zu "Bruchstücken" werden: "Zur Signatur des Sklaven: die Werkzeug-Natur, kalt, nützlich,- ich betrachte die Utilitarier als unwillkürliche Sklaven. Menschen-Bruchstücke - das zeichnet die Sklaven." (11,75,15-18: F 84: 25/2427). (Auch Aph. 258 JOB: KSA 5,206). Man sollte hier nicht nur oder in erster Linie den verächtlichen Nebenklang des Wortes "Sklave" hören. Hier äußert sich eine echte Sorge um das Schicksal des modernen, utilitaristischen Menschen, der nur auf Nützlichkeit ausgerichtet ist.303 Ein solcher Menschentyp ist mißlungen, weil er seine Bestimmung, wie Nietzsche sie sieht, die "Ganzheit" aus dem Auge verliert. Der Mensch darf nicht zum "Werkzeug" gemacht werden. Wenn die "Werkzeug-Reduktion der Preis der modernen Gesellschaft ist, dann ist für Nietzsche dieser Preis zu hoch. Es müssen andere Wege gefunden werden, die ebendies verhindern. Das Wort "Sklave" enthält hier nicht nur eine Verurteilung, sondern auch ein Programm, zumindest eine Forderung zur Umkehr. Jedoch scheint der Verlust der "Ganzheit" den modernen Menschen insgesamt zu kennzeichnen. Auch auf dem Feld der Kultur konnte dieses Ziel bisher noch nicht erreicht werden: "so daß die Menschen, mit denen wir leben, einem Trümmerfelde der kostbarsten bildnerischen Entwürfe gleichen, wo alles uns entgegenruft: kommt, helft, vollendet,
303
Dazu Marti 1993, 152 f. Marti glaubt in nicht wenigen Äußerungen Nietzsches "eine erstaunliche Sympathie zur arbeitenden Bevölkerung" feststellen zu können (a.a.O. 152).
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bringt zusammen, was zusammengehört, wir sehnen uns unermesslich, ganz zu werden." (1,385,34-386,4).
Für den modernen Menschen scheint sich das Problem der "Ganzheit" in verschärfter Form zu stellen.304 Durch die sozialen Umwälzungen, das Entstehen des europäischen "Misch-Menschen", durch das Bekanntwerden mit fremden Kulturen werden bestehende "Ganzheiten" in Frage gestellt und aufgebrochen. Durch die Entstehung des "historischen Sinnes" erhält der Mensch "unheimliche Zugänge" zu Vielem, was bisher außerhalb seiner jeweiligen Kultur stand (5, 203,1). Dies führt dazu, daß der "zukünftige Europäer" sich zunächst als "Chaos" darstellt: "als das intelligenteste Sklaventhier, sehr arbeitsam, im Grunde sehr bescheiden, bis zum Excess neugierig, vielfach, verzärtelt, willensschwach - ein kosmopolitisches Affekt - und Intelligenzen-Chaos" (13,17,21-24).
Die Deutschen heute haben z.B. "zwanzig Seelen" in ihrer Brust, nicht nur zwei, wie Goethe von sich sagte (11,703,1). Sie sind damit zwar sehr "umfänglich", aber die Vielheit ist noch ein "Chaos", es ist noch keine neue Synthese erreicht. In Goethe und Hegel erreicht diese Umfänglichkeit zwar ein Non plus ultra, aber es fehlt "Maass" und "Stil". Die Deutschen führten einen "Krieg" gegen den "höheren Menschen" und dessen "Ganzheit": "bis endlich unser letzter Doppel-Typus des fortentwickelten Geistes, Goethe und Hegel, den Alles umfassenden Boa-Constrictor 'Geist an sich' und seine FermentNatur an den Tag brachte, die kosmo- und theopolitische Allzugänglichkeit des Deutschen... - ganz Europa sank vor Bewunderung auf die Knie - freilich ebenso sehr auch den vollkommenen Mangel an Grenzen, an Maass im griechischen Sinn, an 'Stil' in jeglichem Sinn, an eigentlichem Inhalt - ich meine an neuen WerthSetzungen, Werth-Schöpfungen." (11,703,21-33).
Die Vergrößerung der "Umfänglichkeit" ist solange kein Gewinn, wie sie im "Chaos" stecken bleibt. Erst wenn wiederum "Maass", "Stil" und "neue Werthe" erarbeitet sind, ist sie ein Gewinn. Und das heißt auch, wenn aus dem entstandenen "Chaos" wieder eine "Ganzheit" gebildet worden ist. Nietzsche
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Zum damit zusammenhängenden Problem der "Atomisierung" der modernen Gesellschaft vgl. Marti 1993, 182 f. Auch in dem schon eingehender erörterten Aphorismus 262 JGB wird das Phänomen der "Atomisierung" nachdrücklich herausgestellt.
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spricht hier auch wiederholt von der Notwendigkeit einer "neuen Synthese". Darauf ist später zurückzukommen. Am Beispiel der Homer-Einschätzung macht Nietzsche deutlich, inwiefern der "historische Sinn", obwohl er ein "unvomehmer" Sinn ist, es uns dennoch erlaubt, die "Beschränktheit" eines vornehmen Zeitalters mit Gewinn zu überwinden: "Durch unsere Halbbarbarei in Leib und Begierde haben wir geheime Zugänge überall hin, wie sie ein vornehmes Zeitalter nie besessen hat, vor Allem die Zugänge zum Labyrinthe der unvollendeten Culturen und zu jeder Halbbarbarei, die nur jemals auf Erden dagewesen ist; und insofern der beträchtlichste Theil der menschlichen Cultur bisher eben Halbbarbarei war, bedeutet 'historischer Sinn' beinahe den Sinn und Instinkt für Alles, den Geschmack und die Zunge für Alles: womit er sich sofort als ein unvornehmer Sinn ausweist. Wir genießen zum Beispiel Homer wieder: vielleicht ist es unser glücklichster Vorsprung, daß wir Homer zu schmecken verstehen, welchen die Menschen einer vornehmen Cultur (etwa die Franzosen des 17. Jahrhunderts, wie Saint-Evremond, der ihm den esprit vaste vorwirft, selbst noch ihr Ausklang Voltaire) nicht so leicht sich anzueignen wissen und wussten,welchen zu gemessen sie sich kaum erlaubten." (5,158,12-27).
Und das heißt doch, auch bisherige vornehme Kulturen weisen Beschränktheiten des Geschmackes auf, die für uns nicht mehr akzeptabel sein können. Der Geschmack muß "umfänglicher" werden, aber ohne daß ein "Chaos" entsteht. Vorbildlich bleibt für uns offenbar die "Ganzheit" jener vornehmen Kulturen, aber sie muß heute auf einer umfänglicheren Basis neu gewonnen werden. "Ganzheit" und Vornehmheit bleiben Ziele, die es zu verwirklichen gilt, jedoch nicht durch Versuche, frühere Vorbilder konservieren oder restaurieren zu wollen. Nietzsche begrüßt daher das Umfänglicherwerden und die "umfänglicheren Menschen dieses Jahrhunderts", die den "Weg zu jener neuen Synthesis" vorbereiten "und versuchsweise den Europäer der Zukunft" vorwegnehmen (5,201,29-202,1). Auch Nietzsches politische Europapläne sind in diesem Zusammenhang zu sehen: indem der Mensch "umfänglicher" wird, kann auch Europa "eins" werden. Dafür sieht Nietzsche in seiner Zeit die "unzweideutigsten Anzeichen" (5,201,27-9). Das "Einswerden" Europas könnte am ehesten durch einen wachsenden kulturellen Austausch gefördert werden, bei dem eine neue "Ganz-
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Menschentypen: Maßstäbe fur ihr Gelingen
heit" erreicht werden könnte, die die durch das bisherige Machtstreben der europäischen Völker errichteten Schranken überwinden könnte. Auch die neu entstandenen Nationen und Nationalstaaten stellen Schranken für die neu zu erarbeitende "Ganzheit" Europas dar. Daher ist es verständlich, daß Nietzsche immer wieder vor diesen neuen Schranken warnt. Der zukünftige, "umfänglichere" Europäer soll und wird daher "eine wesentlich übernationale und nomadische Art Mensch" sein (5,182,24-25). Die Frage stellt sich, ob die von Nietzsche z.B. im "Ecce homo" nachdrücklich gestellte Forderung der "Reinlichkeit" bzw. sein Vorwurf der "Unsauberkeit in psychologicis", den er den Deutschen macht, auch im vorliegenden Zusammenhang gesehen werden kann. "Sauberkeit" würde dann hier besagen, die eingetretene Gespaltenheit des heutigen Menschen zumindest insofern 'anzuerkennen', daß sie als Tatbestand gesehen und eingestanden wird, und nicht durch Täuschungen, "Falschmünzerei" auch seiner selbst, weggelogen wird. (6,361,1-18).305 Auch die Prediger der "Moral der Mittelmässigkeit" sehen sich vor das Problem der "Sauberkeit" gestellt. Denn sie dürfen ja nicht zugeben, daß sie eine solche Moral predigen: "Aber sie ist schwer zu predigen, diese Moral der Mittelmässigkeit! - sie darf es ja niemals eingestehn, was sie ist und was sie will! sie muß von Maass und Würde und Pflicht und Nächstenliebe reden, sie wird Noth haben, die Ironie zu verbergend (5,217,5-9). "Reinlichkeit" und in diesem Sinne auch "Ganzheit" verbieten es also, eine Moral zu predigen, zu deren wahrer Natur man sich nicht offen bekennen zu können glaubt. "Sich etwas nicht einzugestehen"
ist ein Mangel an
Kommunikation, bedeutet Schranken aufrichten. Dies aber beeinträchtigt die "Ganzheit" des Menschen. Wenn die Prediger der "Moral der Mittelmässigkeit" diese mit "Lügen" an den Mann zu bringen versuchen, hindern sie die Menschen daran, sich über ihre "Ganzheit" bewußt zu werden. Das Letztere ist vielleicht in Nietzsches Augen das größere Übel.
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Schon für Schopenhauer ist die moderne Gesellschaft eine "große Maskerade", wo keiner das ist, was er vorstellt. Vgl. Marti 1993, 107.
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Ist nun aber heute, angesichts der zusätzlich eingetretenen Vielfalt und Vielheit, "Ganzheit" überhaupt noch möglich, überhaupt noch erreichbar? In "Jenseits von Gut und Böse" versucht Nietzsche eine Antwort zu geben: "Angesichts einer Welt der 'modernen Ideen', welche Jedermann in eine Ecke und 'Specialität' bannen möchte, würde ein Philosoph, falls es heute Philosophen geben könnte, gezwungen sein, die Größe des Menschen, den Begriff 'Größe' gerade in seine Umfänglichket und Vielfältigkeit, in seine Ganzheit im Vielen setzen: er würde sogar den Werth und Rang darnach bestimmen, wie viel und vielerlei Einer tragen und auf sich nehmen, wie weit Einer seine Verantwortlichkeit spannen könnte. Heute schwächt und verdünnt der Zeitgeschmack und die Zeittugend den Willen, Nichts ist so zeitgemäss als Willensschwäche: also muß, im Ideale des Philosophen, gerade Stärke des Willens, Härte und Fähigkeit zu langen Entschliessungen in den Begriff 'Größe' hineingehören..." (5,146,7-20).
Zu vermeiden ist also die Entstehung von 'Fachidioten', um ein modernes Schlagwort zu verwenden. Die "Größe" des Menschen bestimmt sich nach seiner "Umfänglichkeit und Vielfältigkeit" als "Ganzheit im Vielen", und auch nach dem Maß der Verantwortung, das einer zu tragen bereit ist. Will ein Philosoph diesem "Ideal" gerecht werden, dann braucht er dazu "Stärke des Willens, Härte und Fähigkeit zu langen Entschliessungen". Der große Mensch, der auch Philosoph sein will, muß fähig sein zu "Umfänglichkeit" und "Ganzheit im Vielen", zur Übernahme größter Verantwortlichkeit, er muß "Stärke des Willens" besitzen: dann wäre er auch in der Lage, "lange Entschliessungen" zu treffen. Und das heißt wohl, neue Werte zu setzen, die auf lange Zeit Geltung beanspruchen könnten. Wichtig ist hier, daß Nietzsche zweierlei betont: - die "Umfänglichkeit" und "Ganzheit im Vielen": der Philosoph versucht also, dem Menschen als solchen gerecht zu werden, und: - die große Verantwortlichkeit: der Philosoph hat ebenfalls das "Wohl" des Menschen im Auge, wenn auch auf einer anderen Ebene als etwa die Manchester-Philosophen: seine Ebene ist die "Größe des Menschen" als neuer "Ganzheit im Vielen", nicht das Nützlichkeits-Streben vieler zerstrittener, urn kleine Vorteile kämpfender Einzelner und Vereinzelter. Nietzsche kommt aber immer wieder auf die Frage der "Ganzheit" und ihrer Realisierung zurück. Dabei versucht er wiederholt das Bild eines "weisen" Menschen zu entwerfen, in dem sich eben jene Ganzheit verwirklichen könnte. So in einem Fragment vom S/H 84 (KSA 11,181-2:26/119/):
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"Einsicht: bei aller Werthschätzung handelt es sich um eine bestimmte Perspektive: Erhaltung des Individuums, einer Gemeinde, einer Rasse, eines Staates, einer Kirche, eines Glaubens, einer Cultur - vermöge des Vergessens, daß es nur ein perspektivisches Schätzen giebt, wimmelt alles von widersprechenden Schätzungen und folglich von widersprechenden Antrieben in Einem Menschen, im Gegensatz zum Thiere, wo alle vorhandenen Instinkte ganz bestimmten Aufgaben genügen. - dies widerspruchsvolle Geschöpf aber hat an seinem Wesen eine große Methode der Erkenntniss: er fühlt viele Für und Wider - er erhebt sich zur Gerechtigkeit zum Begreifen jenseits des Gut- und Böseschätzens. Der weiseste Mensch wäre der reichste an Widersprüchen, der gleichsam Tastorgane für alle Arten Mensch hat: und zwischeninne große Augenblicke grandiosen Zusammenklangs - der hohe Zufall auch in uns! - eine Art planetarischer Bewegung -" (11,181,25-182,15). Dies ist ein wunderbarer Text, wenn eine solche Formulierung in einem wissenschaftlichen Werk erlaubt ist. Nietzsche fordert, die unvermeidliche Vielfalt der Perspektiven nicht zugunsten einzelner davon zu reduzieren, sondern die Vielfalt in sich auszuhalten: erst die Vielfalt ermöglicht eine "Ganzheit" der Sicht und des Urteilens und in diesem Sinne "Gerechtigkeit" und Werten "Jenseits von Gut und Böse". Das Viele, das bewahrt wird und in steter Interaktion bleibt, ist das "Ganze". Daher ist der "weiseste Mensch", der ebendies zu verwirklichen sucht, "der reichste an Widersprüchen": und er hat daher "gleichsam Tastorgane für alle Arten Mensch". Und das heißt: er versucht nicht, die Vielheit der Menschen nach irgend einem Bilde zu reduzieren, er bejaht die Vielheit als Vielheit, die Vielheit ist wiederum das "Ganze". Gelegentlich wird diese Vielheit, dieser Reichtum an Widersprüchen auch als "grandioser Zusammenklang" erfahren, aber dies geschieht offenbar nur ausnahmsweise: "der hohe Zufall auch in
uns!" Die "Weisheit" des "weisesten Menschen" ist also, auch nach Nietzsches Einschätzung, nicht ohne weiteres zu erreichen. Aber dennoch ist damit ein Weg aufgezeigt, der zu der neu anzustrebenden "Ganzheit" des heutigen Menschen führen könnte. Ein solcher "weiser" Mensch darf nicht mit dem "wissenschaftlichen" oder "religiösen" Menschen verwechselt werden. Um diese Weisheit zu erlangen, muß man es "persönlich mit dem Leben auf hundert Arten versucht haben." Dies betont Nietzsche in einem Fragment vom Mai/Juli 85 (KSA 11,518-9:
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3S/24/), in dem er die Frage stellt, ob "der 'Philosoph' heute noch möglich ist?" Er gibt eine verneinende Antwort. "Philosophisch leben weise-sein" muß heute anders aussehen: "was bedeutet uns heute philosophisch leben weise-sein? Ist es nicht fast ein Mittel, sich aus einem schlimmen Spiele herauszuziehen! Eine Art Flucht? Und wer dergestalt abseits und einfach lebt, ist es wahrscheinlich, daß er damit seiner Erkenntniss den besten Weg gewiesen hat? Müßte er es nicht persönlich mit dem Leben auf 100 Arten versucht haben, um über seinen Werth mitreden zu können? Genug, wir glauben, daß Einer ganz und gar 'unphilosophisch', nach den bisherigen Begriffen, gelebt haben muß, vor allem nicht als scheuer Tugendhafter - um über die großen Probleme aus Erlebnissen heraus zu urtheilen. Der Mensch der umfänglichsten Erlebnisse, der sie zu allgemeinen Schlüssen zusammendrängt: Müßte er nicht der mächtigste Mensch sein? - Man hat den Weisen zu lange mit dem wissenschaftlichen, und noch länger mit dem religiös-gehobenen Menschen verwechselt." (11,519,11-25).
"Weisheit" wird im Leben erworben, indem man es "persönlich mit dem Leben auf 100 Arten" versucht. Die "vita activa" wird hier über die "vita contemplativa" gestellt. Das ist eine Umkehrung der bisherigen Auffassungen. Man erkennt sich und die anderen nicht, indem man vor allem in sich selbst starrt. Am Anfang der Erkenntnis müssen "umfänglichste Erlebnisse" stehen. Wer daraus "allgemeine Schlüsse" ziehen kann, der wäre der "mächtigste Mensch". Diese "Macht" dürfte sich im vorliegenden Zusammenhang vor allem auf die Urteilsfähigkeit eines solchen weisen Menschen beziehen: er kann sich zur "Gerechtigkeit" erheben, wie Nietzsche es im vorhergehenden Text formulierte. Auf dieser Grundlage kann der "weise" Mensch dann gegebenenfalls zum Schöpfer "neuer Werte" werden. Umfänglichkeit, Weisheit, Gerechtigkeit und Urteilsvermögen werden hier einander zugeordnet. Sie könnten die "Ganzheit" ausmachen, die es nun anzustreben gilt. Der Mensch, der es "persönlich mit dem Leben auf 100 Arten versucht", erwirbt ein "Tastorgan für alle Arten Mensch" - und Leben, wie man hinzufügen darf. Er ist dann in der Lage, die Vielheit und Buntheit der Menschen und des Daseins in ihrer Umfänglichkeit aufzunehmen und ihnen in seinen "Urteilen" Rechnung zu tragen. In diesem Sinne erwirbt er die "Macht" zur "Gerechtigkeit".
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Menschentypen: Maßstäbe für ihr Gelingen
In gewissem Sinne könnte ein solcher "weiser" Mensch als "Übermensch" gelten: in der Mitte der Menschen stehend erhebt er sich über die "Beschränkheit" des einzelnen Menschen, indem er es mit dem Leben "auf 100 Arten" versucht und ein "Tastorgan für alle Arten Mensch" erwirbt: er vereinigt die Vielheit der Menschen und Perspektiven in sich. Indem er sich diese "Ganzheit" jenseits der "Specialitäten" erwirbt, ist er ein "Übermensch". Hier spielen die umstrittenen Fragen der "Züchtung" keine Rolle. "Höhe", "Übersicht" wird durch "Umfänglichkeit" der "Erlebnisse" mitten unter den Menschen erzielt. "Höhe" wäre dann "Umfanglichkeit", die wiedergewonnene "Ganzheit" bedeutet. Vom "weisen", "ganzen" Menschen zur "Dionysischen Weisheit" der "Neuen Rangordnung" wäre es dann vielleicht nur noch ein Schritt, der darin bestehen könnte, daß ein "Überdrang schöpferischer Kraft" hinzukommt: die Kraft, "alles Unvollkommene, Leidende als nothwendig holenswerth) zu fühlen". (11,214,10-12).
(ewig-wieder-
"Kleine" und "große" Menschen
Wollten wir nun versuchen, auf der Grundlage der vorhergehenden Erörterungen eine "Rangordnung" des Menschen zu entwerfen, so könnte sie etwa folgendermassen aussehen. Man könnte zwischen "kleinen" und "großen" Menschen unterscheiden. Zu den "kleinen" Menschen gehören jene, die im angedeuteten Sinn "missrathen" sind und die "unvollständige" Menschen, "Bruchstücke" sind. Sie leiden an der "physiologischen Hemmung" und ihre Willenskräfte sind "gebrochen". Sie sind befangen in einer einzigen "Perspektive" auf Dasein und Leben und daher nicht "umfänglich" und nicht in der Lage, eine "Ganzheit" zu werden. Das trifft zu für die "Heerdenmenschen", aber auch z.B. für den wissenschaftlichen Menschen, sofern er nur auf eine "Specialität" ausgerichtet ist und seine Vernunft, losgetrennt vom Leib, eine abgelöste Übersteigerung erfährt, wofür Sokrates ein frühes Beispiel ist. Beim utilitaristisch orientierten "Heerdenmenschen" ist es der Nützlichkeitstrieb, der zur Bruchstückhaftigkeit führt. Auch die einseitig auf Nation und "Nationalitätenwahnsinn" gerichteten Menschen werden von Nietzsche als "missrathen"
"Kleine" und "große" Menschen
und
unvollständig
eingestuft,
da
sie
Schranken
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aufrichten,
die
die
Kommunikation zwischen Völkern hemmen und dadurch weiterhin verhindern, daß die Menschen und Völker, etwa Europas - aber auch Asien und Amerika werden gelegentlich genannt - sich als "Ganzheit" zu sehen und verstehen lernen, die nur gemeinsam die schwierigen Aufgaben des Daseins lösen können. Das "Neinsagen" und das Ressentiment der "kleinen" Menschen hindern sie daran, "umfänglicher" und dadurch "ganz" und "weise" zu werden. Als "groß" können demgegenüber jene Menschen gelten, die die perspektivische Befangenheit zu überwinden suchen, indem sie es "mit dem Leben auf 100 Arten" versuchen und dadurch ein "Tastorgan für alle Arten Mensch" erwerben. Auf diesem Wege erringen sie "Umfänglichkeit", "Ganzheit" und damit "Weisheit". Auf dieser Grundlage können sie "gerecht" urteilen und "gerecht" sein zu anderen Menschen. Sie gewinnen auf diesem Wege Selbstgewißheit, können sich Ziele setzen und haben in diesem Sinne "Macht" - zum einen über sich selbst, zum anderen auch über andere - und zwar dadurch, daß sie zu anderen "gerecht" sein können. Vielleicht darf man diese "großen" Menschen als (neue) "Vornehme" bezeichnen. Sie sind insofern auch "aristokratisch", als sie sich kraft ihrer "Umfänglichkeit" über die perspektivische Befangenheit und Bruchstückhaftigkeit des "kleinen" Menschen erheben. Als Ausnahmefall der "großen" Menschen wären sodann die "Schaffenden", die "schöpferischen" Menschen zu nennen, die Nietzsche gelegentlich auch als "höhere" Menschen bezeichnet. Auf sie geht er in der "Neuen Rangordnung" ausführlicher ein, wie wir gesehen haben (11,212-4). Ihr Gelingen ist aber wieder mit großen Risiken verbunden, so daß Nietzsche hervorhebt, daß sie oft "missrathen". "Schaffende" können, wenn sie "gerathen", den Menschen "neue Werthe" geben. Da sie aber oft "missrathen", steht Nietzsche ihnen nicht ohne große Vorbehalte gegenüber. Auch der noch "fehlende Typus" 9, von dem Nietzsche sich offenbar viel verspricht, wird so eingestuft: "Ein fehlender Typus: der Mensch, welcher am stärksten befiehlt, führt, neue Werthe setzt, am umfänglichsten über die ganze Menschheit urtheilt und Mittel zu ihrer Gestaltung weiß - unter Umständen sie opfernd für ein höheres Gebilde. Erst wenn es eine Regierung der Erde giebt, werden solche Wesen entstehen, wahrscheinlich lange im höchsten Maasse mißrathend". (11,213,13-21).
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Menschentypen: Maßstäbe für ihr Gelingen
Nietzsche ist offenbar von der Notwendigkeit eines solchen Typus überzeugt, für den Fall, daß die "Erde" eine "Ganzheit" werden soll.306 Aber er ist sich auch im Klaren darüber, daß ein solcher Typus höchste Gefahren in sich birgt,- falls er nicht "geräth". Und das Letztere hält Nietzsche "lange" für "wahrscheinlich". Von einer blinden 'Begeisterung' Nietzsches für einen solchen Typus kann keine Rede sein. Er kann nur gelingen, wenn er nicht nur "schaffend", sondern vor allem auch ein "großer" Mensch im angedeuteten Sinne ist, also auch "Macht" hat zur "Gerechtigkeit". Die Überlegungen lassen erkennen, daß Nietzsche sich nicht nur Gedanken macht über die "höheren" Menschen, die "Schaffenden".307 Seine Gedanken über "Umfänglichkeit" und "Ganzheit" richten sich an alle Menschen. Die Vorherrschaft des Nützlichkeitsdenkens soll aufgegeben werden. Der "Nationalitätenwahnsinn" ebenso. Der Mensch, jeder Mensch soll ein "Tastorgan für alle Arten Mensch" entwickeln, soll das Dasein "umfänglicher" sehen, damit er dem Anderen "gerechter" werden kann. Zugleich erwartet Nietzsche wohl von dem "Umfänglicherwerden" des Menschen auch eine "Erhöhung" des Menschen. Nicht zuletzt die Befangenheit in einseitigen Perspektiven macht ja den "kleinen" Menschen aus. Durch "Weisewerden" könnte auch das Ressentiment z.T. überwunden werden, an dem der "kleine" Mensch so sehr leidet, - aber nicht nur er.
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Zum Konzept der "Erdregierung", das nicht machtpolitisch mißverstanden werden darf, vgl. schon die Hinweise oben in Anm. 181. Marti (1993) prüft eingehender, welche historischen Vorbilder Nietzsche bei seinem Konzept des "höheren Menschen" vor Augen gehabt haben könnte. Vier Anregunen werden genauer besprochen: Napoleon (a.a.O. 236 f.), Stendhal's Julien Sorel (247 f.), Bourget's "Staatenlenker, Genie, Rebell" (259 f.) sowie Emerson's "oversold" (261 f.). Er kommt zu dem Ergebnis, daß der französische Typ des "höheren Menschen", und zwar Julien Sorel, für Nietzsche am wichtigsten war: dieser war, als "Schauplatz vieler Konflikte", der "komplexeste" Typus (Marti 1993, 262). Martis Ergebnis paßt gut zu dem in der vorliegenden Arbeit skizzierten Typ des "umfänglichen" und "ganz" gewordenen und daher als "groß" eingestuften Menschen.
Zur Erhöhung des Menschen Vorbemerkung
Der Gang der Untersuchung hat, wie wir glauben, deutlich werden lassen, daß auf dem hier behandelten Problemfeld nicht Völker oder "Rassen" im Zentrum von Nietzsches Denken stehen, sondern Menschen und Menschentypen. Einzelne Völker werden nur insofern mit Auszeichnung erwähnt, wenn und solange sie sich etwa durch ihre "Vornehmheit" vor anderen hervortun, so die Juden, die Griechen, die Franzosen und Polen. Die Vornehmheit ist aber kein 'ererbtes' Vorrecht dieser Völker. Sie ist erworben und kann auch wieder verloren gehen. Die Vornehmheit der Griechen ist untergegangen, schon in der Kaiserzeit zeigen sich die Vorläufer des heutigen "Heerdenmenschen". Die Erkrankung des europäischen Menschen und die christliche Religion haben zu ihrer Verbreitung beigetragen. Die französische Revolution hat der vornehmen Epoche in Frankreich ein Ende bereitet. Die "modernen Ideen", die Demokratie und der Sozialismus sowie der Utilitarismus tragen zu einer weiteren "Verkleinerung" des Menschen bei. Der moderne Mensch droht zum "Sklaventhier" (11,155,25-26) und zum "Bruchstück" zu werden. (11,212,20). Dieses 'Schicksal' droht den "Gebildeten" und den weniger Gebildeten. Angesichts dieser Entwicklung stellt sich für Nietzsche die Frage einer "Erhöhung" des Menschen. Nietzsches Projekt einer "Erhöhung" des Menschen, sollte, so glauben wir, zunächst einmal vor dem Hintergrund der eben angedeuteten Entwicklung gesehen werden, die Nietzsche als "Verkleinerung" des Menschen versteht. Der Mensch Europas hatte schon einmal eine "Höhe" und "Größe" erreicht, die nun wieder verloren zu gehen droht. Daher könnte seine "Erhöhung" zunächst einmal auf die Wiedergewinnung eben dieser "Höhe" und "Größe" gerichtet sein, und nicht auf die 'Erzeugung' eines bisher noch nie dagewesenen Typus eines "Super-Menschen". Wir haben schon gesehen, daß der "Übermensch" vielleicht auch interpretiert werden könnte als Wieder-
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Zur Erhöhung des Menschen
gewinnung des bereits dagewesenen "wohlgerathenen", "ganzen" Menschen, und nicht als "höherer Schwindel", um Nietzsches eigene Formulierung zu gebrauchen (KSB 8,458: Oktober 1888), verstanden werden darf. Worauf richtet sich also Nietzsches "Erhöhung" des Menschen? Wer soll sie ins Werk setzen? Welche Mittel sollen eingesetzt werden? Welche Hindernisse stehen im Weg? Welcher Preis ist zu zahlen? Wir versuchen zunächst, diese Fragen hier etwas zu vertiefen. Anschließend sollen drei Wege der "Erhöhung", die in Nietzsches Schriften wiederholt zur Sprache kommen, näher erörtert werden: die "Selbsterhöhung"; das Problem der Erhöhung durch "Züchtung"; sowie das Projekt einer Erhöhung durch "Erziehung" mittels einer "Lehre". Zu klären ist dabei, inwiefern Vorstellungen des "Züchtens" im modernen (rassistischen) Sinne eine Rolle spielen. Zu untersuchen ist auch das Problem, inwiefern für die "Erhöhung" des Menschen "Opfer" gebracht werden sollen. Und schließlich muß gefragt werden, welche Bedeutung eugenischen Rezepten bei der "Erhöhung" in Nietzsches Projekt zukommt. Es kann im Folgenden aber nicht darum gehen, eine mehr oder weniger umfassende Darstellung von Nietzsches Erziehungsprogramm geben zu wollen. Es kann nur darum gehen, das Konzept der "Erhöhung" so weit zu klären, daß deutlich wird, auf welchen Menschentyp es sich richtet, sowie darum, eine Abgrenzung gegenüber den Nietzsche oft vorgeworfenen Züchtungsvorstellungen zu erarbeiten. Letzteres dürfte nicht zum geringen Teil auf sprachlichen Mißverständnissen beruhen, da das Wort "züchten/Zucht", ebenso wie das Wort "Rasse", heute allzuschnell vom heutigen Deutsch aus verstanden wird. Es geht darum, besser zu verstehen, was Nietzsche wirklich gemeint haben könnte. Wenn wir uns um eine so beschaffene "Gerechtigkeit" Nietzsche gegenüber bemühen, dann nicht in der Absicht, aus heutiger Sicht zu verurteilende Sachverhalte weginterpretieren zu wollen. Auch wenn wir uns um eine solche "Fairness" bemühen, bleibt noch genug übrig, was wir heute nicht mehr akzeptieren können. Es geht aber darum, hier die Grenze an der vertretbaren Stelle zu ziehen.
Probleme der "Erhöhung"
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Probleme der "Erhöhung"
Vorab eine Bemerkung zu Nietzsches Sprachgebrauch: Nietzsche unterscheidet zwischen Versuchen, die Menschen zu "verbessern" und seinem Anliegen einer "Erhöhung" des Menschen. Die bisherigen Versuche, die Menschen mit den Mitteln verschiedener Moralen zu "verbessern", sind seiner Auffassung nach mißlungen. In der "Götzen-Dämmerung" geht er ausführlich auf diese Versuche ein ("Die 'Verbesserer' der Menschheit": KSA 6,98-102). Die christliche Moral und die Moral des Manu-Gesetzbuches laufen seiner Meinung nach auf eine "Zähmung" und "Züchtung" des Menschen hinaus, mit dem Resultat, daß der Mensch "krank" und "schwach" wird (6,29-32): "die Kirche... verdarb den Menschen, sie schwächte ihn,- aber sie nahm in Anspruch, ihn 'verbessert' zu haben." Daher kommt er am Ende des genannten Kapitels zu dem Schluß: "In Formel ausgedrückt dürfte man sagen: alle Mittel, wodurch bisher die Menschheit moralisch gemacht werden sollte, waren von Grund aus unmoralisch.-" (6,102,20-2).
Die genannten Moralen haben also eher zu einer "Verkleinerung" des Menschen beigetragen. In einem Fragment von Juni/Juli 1885 (KSA 11,580-3: 37/87) deutet Nietzsche an, wie er sich eine "Erhöhung" des Typus Mensch" vorstellt: "Wer aber gründlich darüber nachgedacht hat, wo und wie die Pflanze Mensch bisher am kräftigsten emporgewachsen ist, muß vermeinen, daß dies unter den umgekehrten Bedingungen geschehen ist: daß dazu die Gefährlichkeit seiner Lage ins Ungeheure wachsen, seine Erfindungs- und Verstellungs-Kraft unter langem Druck und Zwang sich emporkämpfen, sein Lebens-Wille bis zu einem unbedingten Willen zur Macht und zur Übermacht gesteigert werden muß, und daß Gefahr, Härte, Gewaltsamkeit, Gefahr auf der Gasse wie im Herzen, Ungleichheit der Rechte, Verborgenheit, Stoicismus, Versucher-Kunst, Teufelei jeder Art, kurz der Gegensatz aller Heerden-Wünschbarkeiten, zur Erhöhung des Typus Mensch nothwendig sind." (11, 581,24-582,2).
Dieser Text skizziert die Moral und die Zustände in einer aristokratischen Gesellschaft, er erinnert sehr stark an den Aphorismus 262 von "Jenseits von Gut und Böse", den wir schon eingehender besprochen haben. Ausdrücklich betont wird hier der "Gegensatz" zu allen "Heerden-Wünschbarkeiten". Die "Erhöhung" des Menschen wird hier also im ausdrücklichen Gegensatz zur Situation des "verkleinerten", des "Heerdenmenschen" gedacht. Und der Text macht auch deutlich, daß der Typus Mensch, auf den die heutige "Erhöhung"
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Zur Erhöhung des Menschen
abzielt, schon einmal dagewesen ist. Das Vorbild für die jetzt geplante "Erhöhung" des Menschen scheint demnach der aristokratische Mensch, etwa Griechenlands, zu sein. Die jetzige "Erhöhung" wäre dann zunächst einmal eine "Wieder"-Erhöhung" des zwischenzeitlich "verkleinerten" Menschen. Die jetzige "Erhöhung" zielte demnach nicht auf einen 'utopischen' Entwurf eines bisher nie verwirklichten Menschen. Vielmehr ginge es dann darum, für den heutigen Menschen zunächst wiederum die "Vornehmheit", "Wohlgerathenheit" und "Ganzheit" des früheren aristokratischen Menschen mehr oder weniger wiederzugewinnen. Jedoch kann die neuerliche Erhöhung nicht bei dieser 'Wieder'-Erhöhung stehen bleiben. Die neue Vornehmheit soll vielmehr auf einer "umfänglicheren" Basis errichtet werden, als dies in der griechischen Zeit der Fall sein konnte. Darauf wurde schon nachdrücklich hingewiesen. In einem Brief an Burckhardt vom 22. September 1886, in dem er diesem das Erscheinen von "Jenseits von Gut und Böse" ankündigt, umschreibt Nietzsche noch einmal das Problem, um das es ihm bei der "Erhöhung" - er spricht hier von der "Vergrößerung" - "des Typus Mensch" geht: "Bitte, lesen Sie dies Buch (ob es schon dieselben Dinge sagt, wie mein Zarathustra, aber anders, sehr anders -). Ich kenne Niemanden, der mit mir eine solche Menge Voraussetzungen gemein hätte wie Sie: es scheint mir, daß Sie dieselben Probleme in Sicht bekommen haben,- daß Sie an den gleichen Problemen in ähnlicher Weise laboriren, vielleicht sogar stärker und tiefer noch als ich, da Sie schweigsamer sind. Dafür bin ich jünger... Die unheimlichen Bedingungen für jedes Wachsthum der Cultur, jenes äußerst bedenkliche [hier: "bedenkenswerte": GS] Verhältniss zwischen dem, was 'Verbesserung' des Menschen (oder geradezu 'Vermenschlichung') genannt wird, und der Vergrößerung des Typus Mensch, vor Allem der Widerspruch jedes Moralbegriffs mit jedem wissenschaftlichen Begriff des Lebens - genug, genug, hier ist ein Problem, das wir glücklicher Weise, wie mir scheint, mit nicht gar Vielen unter den Lebenden und Todten gemein haben dürften. Es aussprechen ist vielleicht das gefahrlichste Wagniss, das es giebt, nicht in Hinsicht auf den, der es wagt, sondern in Hinsicht auf die, zu denen er davon redet. Mein Trost ist, daß zunächst die Ohren für meine großen Neuigkeiten fehlen..." (KSB 7,254-255).
Nietzsche unterscheidet hier nochmals zwischen der "Verbesserung" des Menschen, worunter meist dessen "Vermenschlichung" verstanden werde, und der "Vergrößerung des Typus Mensch". Das Verhältnis zwischen beiden ist seiner Meinung nach "äußerst bedenklich", das heißt: darüber muß weiter und
Probleme der "Erhöhung"
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tiefer nachgedacht werden. Vor allem wohl auch, weil er beide in einem Gegensatz zueinander sieht. Das Problem lautet etwa: ist beides zugleich erreichbar, "Verbesserung" (im Sinne der "Vennenschlichung") und "Vergrößerung"? Oder geht "Verbesserung" nicht auf Kosten der "Vergrößerung"? Nietzsche neigt offenbar zu der letzteren Auffassung. Dafür spricht sein Hinweis auf den "Widerspruch", der bestehe zwischen "jedem Moralbegriff' (von dem die "Verbesserung" des Menschen bisher ausging) und "jedem wissenschaftlichen Begriff des Lebens". Wer der Moral folgt, ist demnach nicht in der Lage, dem "wissenschaftlichen Begriff des Lebens" gerecht zu werden. Nietzsche plädiert offenbar dafür, auf dem letzteren die "Vergrößerung" des Menschen zu konzipieren. In der "Genealogie" legt Nietzsche dar, wie er die Diskrepanz zwischen bisheriger Moral und Wissenschaft, und auch dem "wissenschaftlichen Begriff des Lebens", auflösen möchte. Er schreibt, es sei "nöthig, die Theilnahme der Physiologen und Mediciner für diese Probleme (vom Werthe der bisherigen Werthschätzungen) zu gewinnen" (5,289,7-9).
Die Wissenschaften sollen hierbei den Philosophen "vorarbeiten": "Alle Wissenschaften haben nunmehr der Zukunfts-Aufgabe des Philosophen vorzuarbeiten: diese Aufgabe dahin verstanden, daß der Philosoph das Problem vom Werthe zu lösen hat, daß er die Rangordnung der Werthe zu bestimmen hat.-" (5,289,28-32).
Bei dem Versuch, den Typus Mensch zu erhöhen, dürfen also die bisherigen Moralwerte nicht mehr unbesehen zugrunde gelegt werden. Ihr "Werth" ist vielmehr erst im Lichte der genannten Wissenschaften, "Medicin" und "Physiologie", neu zu bestimmen. Diesen Versuch hat Nietzsche in der "Genealogie der Moral" selbst unternommen. Wie wir vorn schon sahen, geben sich Moralen dabei als "Zeichensprachen" zu erkennen, die ihre jeweiligen "Werthe" letztlich aus der physiologischen Beschaffenheit ihrer Repräsentanten herleiten. Nach Nietzsches Auffassung können aber "Werthe", die sich der Erkrankung des europäischen Menschen ("physiologisches Hemmungsgefühl") und dem Einwirken des asketischen Priesters verdanken, heute nicht maßgebend sein, wenn das Problem einer "Erhöhung" oder auch "Vergrößerung" des Typus Mensch in Angriff genommen werden soll. Die "Vergrößerung" des Typus Mensch müßte demnach bei der Gesundung des Menschen beginnen. Der "philosophische Arzt" Nietzsche meldet sich hier
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Zur Erhöhung des Menschen
also wieder zu Wort. Wir können hier wieder auf das verweisen, was Nietzsche im Zusammenhang mit der griechischen Kultur festgestellt hatte: mit dem "Leib" beginnt die Kultur, die Kultur beginnt als Kultur des "Leibes": "der Rest folgt daraus". Dabei ist "Leib" zunächst wörtlich zu verstehen: der europäische Mensch muß von seiner Krankheit, dem "physiologischen Hemmungsgefühl" geheilt werden. Der so geheilte und gesundete Leib findet dann in dem nun metaphorisch verstandenen 'Leib', dem geistigen Leib, also der Kultur, in einer lebensbejahenden Moral, als seiner Zeichensprache, den ihm gemäßen Ausdruck. Dafür dürfen wir hier vielleicht auf die Maxime "mens sana in corpore sano" verweisen. Nietzsche stellt also wieder die Physiologie in den Vordergrund: ohne "physiologisches Gedeihen" ist eine "Erhöhung" des Menschen nicht denkbar.308 Es ist sicher kein 'Zufall', daß Nietzsche die obigen Gedanken in einem Brief an Burckhardt äußert. In ihm sieht er einen Gesinnungsgenossen, hatte dieser doch die "Größe" des Menschen in Griechenland und in der Renaissance hervorgehoben. Der Brief an Burckhardt macht wiederum deutlich, daß sich Nietzsches Vorstellungen für eine "Erhöhung" des Menschen ganz wesentlich an den schon einmal dagewesenen "großen", "vornehmen", "ganzen" Menschen Griechenlands orientieren. Unterschiedlich ist aber die Stellung des "Leibes": während dieser offenbar in Griechenland ganz unhinterfragt die Grundlage der Kultur bildete, kann ihm diese grundlegende Stellung in der heutigen Zeit nur durch bewußte Arbeit und unter Mithilfe der Wissenschaften zurückgewonnen werden. Daher muß der Philosoph heute auch "Arzt" sein.309
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Ein besseres physiologisches Gedeihen im 19. Jahrhundert würde natürlich eine Verbesserung der Existenzbedingungen vieler erfordern. Auf diesen Aspekt geht Nietzsche immerhin am Rande gelegentlich ein, wenn er etwa das Los der Industriearbeiter beklagt, die in "machinaler Thätigkeit" befangen sind und ihr Leben als "Bruchstücke" fristen müssen. Aber Nietzsche begründet darauf kein Programm der sozialen Umwälzung, wie etwa Marx. Eine Erleichterung des Loses der Arbeiter hält er eher dadurch für erreichbar, daß diese ihre Bedürfhisse reduzieren, daß sie "wenig brauchen, um vergnügt zu sein", also einem kynisch-epikureischen Ideal nachstreben. Vgl. dazu Marti 1993, 152 f. Dazu Van Tongeren 1990.
Probleme der "Erhöhung"
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Wir haben damit zumindest den ungefähren Rahmen kennengelernt, vor dem sich Nietzsche das Problem der "Erhöhung" des heutigen Menschen stellt. Auf der einen Seite stehen die Erkrankung des europäischen Menschen und die dadurch ausgelösten "Zeichensprachen" der bisherigen Moralen, die nach Nietzsches Auffassung zwar eine "Verbesserung" ("Vermenschlichung") gebracht haben, zugleich aber auch eine "Verkleinerung" des europäischen Menschen. Die "Willenskräfte" sind "gebrochen" und der Mensch ist weithin zum "Bruchstück" geworden, das nur noch in einer "Heerde" leben zu können glaubt. Auf der anderen Seite stehen die "ganzen", "vornehmen" und "wohlgerathenen" Menschen etwa der griechischen Zeit, ihr "physiologisches Gedeihen" und ihre auf dem "Leib" aufbauende Kultur, die Nietzsche in vieler Hinsicht als Vorbild zu dienen scheinen für eine neuerliche "Erhöhung des Typus Mensch". Nietzsche ist sich jedoch im klaren darüber, daß "viele Arten von großen Menschen" heute "vielleicht nicht mehr möglich" sind. Diese Frage stellt er sich selbst in einem Fragment vom Mai/Juli 1885 (KSA 11,519-20: 35/25/) und er prüft, wie "Größe" in der heutigen "demokratischen Welt" aussehen könnte: "Problem: viele Arten von großen Menschen sind vielleicht nicht mehr möglich"? Z.B. der Heilige. Vielleicht auch der Philosoph. Endlich das Genie! Die ungeheuren Distanz-Verhältnisse zwischen Mensch und Mensch haben vielleicht abgenommen? Mindestens hat das Geföhl dieser Distanz abgenommen, und das bringt als Wirkung eine weniger schroffe Haltung und Zucht mit sich, vermöge deren es der Mensch auch nicht mehr so hoch bringt, wie ehedem. - Wir bedürfen eines neuen Begriffs der Größe des Menschen; welcher wir fähig sind, und von der die Meisten von uns tief abgetrennt sind. Voila: diese demokratische Welt verwandelt jeden in eine Specialität, also ist heute Größe das Universal-sein, Sie schwächt den Willen, also ist Stärke des Willens heute Größe. Sie entwickelt das Heerdenthier, also gehört Alleinstehn und Auf-eigene-Faust-leben heute zur Größe zu rechnen. Der umfänglichste Mensch, allein gehend, ohne Heerden-Instinkte, und mit einem unbezwinglichen Willen, welcher ihm erlaubt, viele Verwandlungen zu haben und unersättlich in neue Tiefen des Lebens zu tauchen.- Wir müssen die Größe des Menschen dort suchen, wo wir am wenigsten zu Hause sind. Für Zeitalter der Energie ist der sanfte entsagende beschauliche Mensch die große Ausnahme: es gehört große innere Zucht und Härte dazu, um aus einem halbwilden Thiere zu einem Socrates zu werden. Der Indifferentism des Epicur wirkt fast wie eine Verklärung. Wir kommen zu entgegengesetzten Idealen: und zuerst haben wir die alten Ideale für uns selber zu zertrümmern." (11,519,26-520,20).
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Zur Erhöhung des Menschen
Zuerst gibt Nietzsche eine Diagnose, warum bestimmte Arten große Menschen heute vielleicht nicht mehr möglich sind. Er nennt als Beispiele die "Heiligen", "Philosophen" und "Künstler" (das Genie). Diese werden auch an anderer Stelle wiederholt als Beispiele der "Größe" des Menschen genannt. Sie sind "vielleicht nicht mehr möglich", weil in der modernen Zeit das "Gefühl" für Distanz und Rang schwächer zu werden droht, Hand in Hand mit dem Niedergang der Aristokratie. Der Sinn für "innere Zucht", das "Sich-nichtgehen-lassen", droht zu schwinden, "vermöge deren es der Mensch so hoch" brachte. "Spannung" erzeugt "Höhe" und "Größe", wie wir schon gesehen haben. Der alte Begriff der "Größe des Menschen" ruhte auf einer großen Stärke des Willens und der Zucht und auf einem starken Gefühl der Distanz, zu denen die meisten Menschen heute aber nicht mehr fähig zu sein scheinen. Die "Größe des Menschen", an der Nietzsche nach wie vor festhalten will, kann sich heute nur noch auf eine weniger starke Haltung und Zucht und auf ein schwächeres Gefühl für Distanz stützen. Dieses Gefühl für Distanz soll aber auch heute, wenn auch in schwächerer Form, die Basis für die "Größe" des Menschen bilden. Das Gefühl der Distanz verbindet also den neuen Begriff der "Größe" des Menschen mit dem älterem, am griechischen Vorbild abgelesenen Begriff der "Größe des Menschen". Nietzsche unternimmt nun den Versuch, einen solchen "neuen Begriff der Größe" zu entwerfen, den er hier im wesentlichen quasi als Gegenbild der "demokratischen Welt" skizziert, in der wir heute leben (müssen). Die "demokratische Welt" - verwandelt Jeden in eine Specialität - Sie schwächt den Willen - Sie entwickelt das Heerdenthier,
also ist heute Größe: das Universal-sein also ist Stärke des Willens heute Größe also gehört Alleinstehn und Auf-eigeneFaust-leben heute zur Größe
Probleme der "Erhöhung"
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Diesen "neuen Begriff der Größe" faßt er dann folgendermaßen zusammen: der Mensch, der den "neuen Begriff der Größe" erfüllen will, weist folgende Eigenschaften auf: er ist der "umfänglichste", er geht allein, "ohne Heerden-Instinkte", er
hat
einen
"unbezwinglichen
Willen,
welcher
ihm
erlaubt,
viele
Verwandlungen zu haben und unersättlich in neue Tiefen des Lebens zu tauchen". Die "Umfänglichkeit" richtet sich gegen die "Specialität" und das Bruchstückhafte und verweist auf "Ganzheit". Das "Allein gehen" verweist auf Selbstgewißheit, auf die Fähigkeit, sich selbst befehlen und gehorchen zu können, frei vom Bedürfnis, sich auf eine "Heerde" stützen zu müssen. Der "unbezwingliche Wille" und die Fähigkeit "viele Verwandlungen zu haben" und "unersättlich in neue Tiefen des Lebens zu tauchen" erinnern an die schon zitierten Formulierungen, das "Leben auf 100 Arten" zu suchen und dabei ein "Tastorgan für alle Arten Mensch" zu erwerben. Hier wird also als "neuer Begriff der Größe" der Typus des "ganzen", "umfänglichen", "vornehmen", "selbstgewissen", "starken" und nicht auf eine Perspektive beschränkten Menschen entworfen, den wir in den vorhergehenden Erörterungen schon kennengelernt haben. Er ist zwar insofern nicht ganz "neu", als er in vieler Hinsicht doch an den "alten" vornehmen Menschentyp erinnert. "Neu" ist er aber in der heutigen "demokratischen Welt", in der er sich erst wieder Geltung verschaffen muß. Im Schlußteil des Textes weist Nietzsche darauf hin, daß die Begriffe der Größe nicht ganz unabhängig von der Epoche konzipiert werden können, in der sie gelten sollen und können. In einem "Zeitalter der Energie" bedeuten eher "Sanftheit, Entsagung und Beschaulichkeit" eine "Ausnahme" und damit "Größe". Nietzsche verweist auf Sokrates und Epikur. Wir heute leben aber, nach Nietzsches Auffassung, in einem "Zeitalter" der "Willenslähmung" und "Willensschwäche" und "Specialität": daher bedürfen wir des "starken" und "umfänglichen" Menschen, wie Nietzsche ihn für unsere "demokratische Welt" zu entwerfen unternimmt. Die "Begriffe der Größe" bestimmen sich also in gewisser Weise als "entgegengesetzte Ideale" ihres jeweiligen Zeitalters. Da wir nicht mehr in einem
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Zur Erhöhung des Menschen
"Zeitalter der Energie" leben, haben wir deren "Ideale", soweit sie auf "Sanftheit" und "Entsagung" gerichtet waren, "für uns selbst zu zertrümmern". Wir benötigen andere "Ideale" der "Größe", solche, die unserem "demokratischen" Zeitalter "entgegengesetzt" sind: "Ideale" der "Stärke" und "Ganzheit". Und zum Teil kann bei der Suche nach solchen "Idealen" an die "alten" griechischen Vorbilder angeknüpft werden. Hier fallt ein neues Licht auf Nietzsches angebliche 'Anbetung' der "Stärke". Diese Forderung erhebt er offenbar nur für "schwache" Zeitalter. In "Zeitaltern der Energie" finden hingegen "Sanftheit" und "Beschaulichkeit" sowie "Entsagung" seine Billigung. Entscheidend und gemeinsam ist in beiden Fällen, daß "Gefühl" für Distanz und Rang geweckt und aufrecht erhalten wird. Dies kann, je nach Zeitalter, dann auf unterschiedlichem Wege geschehen. Da aber nun unser Zeitalter ein Zeitalter der "Verkleinerung" und Spezialisierung des Menschen ist, bedürfen wir als "entgegengesetztes Ideal" eines Begriffs der "Größe", der auf "Willensstärke" und "Umfänglichkeit" ausgerichtet ist. (12,425,15-20). Der von Nietzsche entworfene Begriff der "Größe", den er für die "Erhöhung" des heutigen Menschen anlegen möchte, hat demnach, wenn man so sagen darf, zwei 'Wurzeln': zum einen wird er vom modernen "Zeitalter" gefordert, wenn das "Gefühl" für Distanz und Rang nicht völlig verloren gehen soll. Zum anderen bedeutet er aber zugleich offenbar einen Rückgriff auf ein Zeitalter, in dem ein auf Distanz beruhender Begriff von "Größe" schon einmal verwirklicht war, auf das "vornehme" Zeitalter der Griechen. Sein "neuer" Begriff der "Größe" entspringt demnach nicht nur der "Nostalgie", sondern auch, wie Nietzsche glaubt, einem Erfordernis seiner Zeit, der "demokratischen Welt" von heute.310 Und bei dem Rückgriff kann es sich natürlich nicht einJ1
° Auch Marti (1993) sieht gewissennassen ein Zusammengehen von Demokratisierung und der Herausbildung eines neuen Typus des "homme superieur": nach seiner Analyse ist der Typ des Julien Sorel "nicht in Opposition zur demokratischen Gesellschaft" entstanden, sondern er ist "ihr Produkt". (Marti 1993, 254). Erinnern wir uns auch daran, daß Nietzsche in JOB 262 darlegt, wie die Demokratisierung zwar einerseits den Typus der "Mittelmäßigen" hervortreten läßt, daß aber andrerseits zugleich auch die "Ausnahmemenschen" in Erscheinung treten. Noch genauer könnte man vielleicht formulieren: sie treten zwar als "Produkt" des demokratischen Zeitalters auf, zugleich aber auch als
Selbsterhöhung
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fach um eine 'Wiederholung' handeln, sondern, wie angedeutet, um eine für die 'moderne' Zeit gemäße Umformulierung eines Begriffs von "Größe". Wir wollen nun an drei "Modellen", die wir in Nietzsches Texten unterscheiden zu können glauben, das Problem der "Erhöhung" des Menschen noch detaillierter untersuchen: dem Weg der "Selbsterhöhung"; den Versuchen, einen "besseren" Menschen zu "züchten"; sowie Nietzsches Programm, durch Maßnahmen der "Erziehung" den Menschen zu "erhöhen".
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Hier wollen wir jene Fälle der "Erhöhung" des Menschen besprechen, die ohne - zumindest ohne direkt greifbare - Ein- oder Mitwirkung eines Dritten, sei es eines Priesters oder eines "Lehrers" sich ereignen. Die klarsten Fälle einer solchen Selbsterhöhung haben wir in jenen Menschen vor uns, die Nietzsche als "Ausnahmemenschen" bezeichnet. Aber das sind nicht die einzigen Fälle, die wir bei Nietzsche beobachten können. Das Wort "Selbst-Erhöhung" wird auch von Nietzsche selbst verwendet, etwa im Aphorismus 262 von "Jenseits von Gut und Böse", den wir schon kennengelernt haben. Dort wird dargestellt, wie sich in einer Gemeinschaft unter dem ständigen Druck, sich durch Kampf gegen äußere Feinde zu behaupten, eine aristokratische Moral bildet, und wie diese sich nach dem Wegfall der Notwendigkeit dieses Kampfes auflöst. Dann wird "der gefährliche und unheimliche Punkt erreicht, wo das größere, vielfachere, umfänglichere Leben über die alte Moral hinweg lebt: das 'Individuum' steht da, genöthigt zu einer eigenen Gesetzgebung, zu eigenen Künsten und Listen der Selbst-Erhaltung, Selbst-Erhöhung, Selbst-Erlösung. Lauter neue Wozu's, lauter neue Womit's, keine gemeinsamen Formeln mehr, Missverständniss und Missachtung miteinander im Bunde, der Verfall, Verderb und die höchsten Begierden schauerlich verknotet, das Genie der Rasse aus allen Füllhörnern des Guten und Schlimmen überquellend..." (5,216,14-23).
Opposition dazu. Nietzsche sprach in dem vorher zitierten Text von "Idealen", die zwar im demokratischen Zeitalter entstehen, diesem aber zugleich "entgegengesetzt" sind.
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Die Auflösung der "alten Moral" setzt das "umfänglichere Leben" und das "Individuum", das "Genie der Rasse" frei, die durch die "alte Moral" in Schranken gehalten wurden. Die "Zucht" und die "Höhe", die in der "alten Moral" errungen waren, fallen dahin. Das "Individuum" sieht sich vor der Aufgabe einer "eigenen Gesetzgebung", die zugleich wieder eine "Erhöhung" des Menschen bringen kann und soll. Da es allein auf sich gestellt ist, bedeutet dies "Selbst-Erhöhung". Wie Nietzsche andeutet, führen diese Versuche der "Selbst-Erhöhung" zunächst nicht zu einer neuen "Synthese", sondern zu "Missverständniss und Missachtung": es gibt zunächst "keine gemeinsamen Formeln" mehr. Die Auflösung der "alten Moral" und die vielen Versuche der "Selbst-Erhöhung" enden zunächst in dem "Chaos", von dem schon die Rede war. Der Weg zum "Umfänglicherwerden" ist zwar geöffnet, aber eine neue "Ganzheit" ist noch nicht erreicht. Nietzsche setzt im obigen Text das Wort "Individuum" in Anführungszeichen. Damit deutet er seine Vorbehalte an, ob vom "Individuum" aus überhaupt, solange es nur auf sich bezogen bleibt, eine neuerliche "Erhöhung" und eine neue "Ganzheit" des Menschen erreicht werden können. Aus anderen Texten geht hervor, daß er als Entfaltungsraum des "Individuums" vor allem die Demokratie sieht, die zum einen den Wertmaßstab auf die mittlere Linie legt, zum ändern aber dazu neigt, im Einzelnen in erster Linie "Specialitäten" zu begünstigen, also die "Bruchstückhaftigkeit" des heutigen Menschen zu befördern. Das führt ihn zu der Feststellung: "Das Individual-Princip lehnt die ganz großen Menschen ab..., weil Jeder etwas von Talent hat..." und deshalb "findet heute ein Herausstreichen der kleinen Verdienste statt" (11,642,15-21).
Eine neuerliche "Erhöhung" des Menschen, und auch eine "Selbst-Erhöhung" sind angesichts der Auflösung der "alten Moral" also notwendig, für Nietzsche bleiben aber Zweifel, ob gerade die "demokratische Welt" dafür den geeignetsten Rahmen abgeben kann.311 Dennoch scheint auch heute "SelbstErhöhung" möglich zu sein, und wenn sie nur schwer erreichbar ist, so ist diese Aufgabe dadurch nur umso dringlicher.
311
Zu dieser Frage schon Anm. 310.
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Worin besteht diese Aufgabe? Es geht einmal darum, angesichts des an sich begrüßenswerten Umfänglicherwerdens des Menschen zu verhindern, daß er zum "Bruchstück" wird und sich in "Specialitäten" auflöst. Wenn zunächst eher ein "Chaos" entsteht, so ist zu versuchen, eine neue "Ganzheit", eine neue "Synthese" zu gewinnen. Zum zweiten muß die beim Umfänglicherwerden allzu leicht auftretende "Willenslähmung" überwunden werden. Der Wille muß, durch Gewinnung einer neuen "Ganzheit", wieder "eins" und stark werden, so daß der Mensch "allein stehen" kann und wieder "für sich Ziele setzen" kann. Dies könnte ihn auch von dem Bedürfnis befreien, sein "Heil" in erster Linie in der "Heerde" suchen zu wollen. Auf dieser Grundlage kann dann drittens ein neues "Gefühl für Distanz" und Rang sich herausbilden, das Maßstäbe für die (weitere) Erhöhung des Menschen setzen kann. Damit wird dann ein Raum für unterschiedliche Stufen der Erhöhung und Selbsterhöhung des Menschen geöffnet. Nietzsche hat wiederholt angedeutet, wie eine Selbsterhöhung des Menschen aussehen kann. In "Jenseits von Gut und Böse" (Aph. 257) macht er zunächst deutlich, daß auch der "aristokratische Mensch", trotz aller bereits erreichten "Höhe", immer noch auf dem Wege einer weiteren Selbsterhöhung ist. Er hat zwar in der "aristokratischen Gesellschaft" bereits das "Pathos der Distanz" erworben. Aber dennoch fühlt er weiterhin beständig "jenes andere geheimnissvolle Pathos": "jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltnerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände, kurz eben die Erhöhung des Typus 'Mensch', die fortgesetzte 'Selbst-Überwindung des Menschen', um eine moralische Formel in einem übermoralischen Sinne zu nehmen." (5,205,14-20).
Auch der "vornehme" Mensch ist also noch nicht 'angekommen', er ist "fortgesetzt" auf dem Wege der "Selbst-Überwindung" semer selbst. Die "Erhöhung" des Menschen ist ein Weg, der nie an sein Ziel kommen kann. Wir haben schon gesehen, wie das "vornehme französische 17. Jahrhundert" sich selbst überwinden mußte, wenn es etwa Homer gerecht werden wollte. Jeder erreichte Grad der Vornehmheit bedeutet zugleich auch eine spezifische 'Beschränkung', die stets wieder überwunden werden muß. So stellt sich jede Vornehmheit zugleich als Aufgabe dar, als "Pathos", als "Verlangen nach
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immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst". Dieses "Pathos", dieses "Verlangen" ist der Motor der stets neu gesuchten Selbsterhöhung, die sich der "vornehme" Mensch selbst auferlegt. Die "Erweiterung" findet "innerhalb der Seele" statt, also nicht durch Machtausbau über andere. Die "Seele" erweitert sich etwa, indem sie, um eine frühere Formulierung Nietzsches zu verwenden, sich ein "Tastorgan für alle Arten Mensch" erwirbt. Dies erlaubt ihr dann, "ganz" und "gerecht" zu sein. Die Selbsterhöhung des Menschen kommt also nicht nur dem Selbsterhöhten zu Gute, sondern auch den anderen. Selbsterhöhung erweist sich damit zum einen als Weg in die "Höhe", zu Distanz und "Rang", zum anderen aber auch als Weg zu größerem Verständnis für die anderen, und damit als Weg zu den anderen, zur Gesellschaft. Der selbsterhöhte Mensch steht über und mitten in der Gesellschaft, die er in seine "erweiterte Seele" aufgenommen hat. Insofern ist auch der "vornehme" Mensch heute keineswegs "unzeitgemäß". Nietzsche glaubt nun aber auch bei den "Plebejern" Ansätze einer neuen Erhöhung und Selbsterhöhung beobachten zu können. Darauf weist er in Aphorismus 256 von "Jenseits von Gut und Böse" hin: "Bei allen tieferen und umfänglicheren Menschen dieses Jahrhunderts war es die eigentliche Gesammt-Richtung in der geheimnissvollen Arbeit ihrer Seele, den Weg zu jener neuen Synthesis vorzubereiten und versuchsweise den Europäer der Zukunft vorwegzunehmen..." (5,201,29-202,1). Mit der "neuen Synthesis" meint Nietzsche hier die Eins-Werdung Europas" (5,201,29): "Europa will eins werden." Dafür gebe es die "unzweideutigsten Anzeichen" (5, 201,27), und er kritisiert vorher den "Nationalitätenwahnsinn" der "Politiker des kurzen Blicks", also der nicht "umfänglichen" Politiker. (5,201,22). Das "Umfänglicherwerden" betrifft also auch das Gebiet der Politik, die Einswerdung Europas. Als Beispiele für eine solche "Distanz-Erweiterung" nennt Nietzsche hier: "Menschen wie Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal, Heinrich Heine, Schopenhauer", und sogar Wagner. (5,202,5-7). Denn Wagner sei nicht nur ein deutscher, sondern auch ein französischer Musiker. Es sei "Thatsache", "daß die französische Spat-Romantik der Vierziger Jahre und Richard Wagner auf das Engste und Innigste zu einander gehören. Sie sind sich in allen Höhen und
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Tiefen ihrer Bedürfhisse verwandt, grundverwandt: Europa ist es, das Eine Europa, dessen Seele sich durch ihre vielfältige und ungestüme Kunst hinaus, hinauf drängt und sehnt..." (5,202,13-18).
Als Künstler Europas, nicht Deutschlands oder Frankreichs, seien sie "allesammt" "Vermittler und Vermischer der Künste und der Sinne ... Virtuosen durch und durch, mit unheimlichen Zugängen zu Allem, was verführt, lockt, zwingt, umwirft, geborne Feinde der Logik und der geraden Linien, begehrlich nach dem Fremden, dem Exotischen, dem Ungeheuren, dem Krummen, dem Sich-Widersprechenden." (5,202, 26-203,5).
Die Schriftsteller und Künstler sind also "umfänglicher" geworden: sie "vermischen" und "vermitteln" alle Stile Europas bis zum "Sich-Widersprechenden": das "Umfängliche" und die neue "Synthese" überschreiten die "Logik" und die "gerade Linie": die neue "Synthesis" wird eher "krumm" als "gerade" sein. Die neue Vielfalt der Perspektiven läßt keine "gerade Linie" mehr zu. Die Bezüge werden vielfältiger und komplexer. Interessant ist nun, daß Nietzsche diese neuen Ansätze zur "Erhöhung" des europäischen Menschen "heraufgekommenen Fiebern" zuerkennt: sie sind "als Menschen Tantalusse des Willens, heraufgekommene Plebejer, welche sich im Leben und Schaffen eines vornehmen tempo, eines lento, unfähig wussten, - man denke zum Beispiel an Balzac - zügellose Arbeiter, beinahe Selbst-Zerstörer durch Arbeit; Antinomisten und Aufnihrer in den Sitten, Ehrgeizige und Unersättliche ohne Gleichgewicht und Genuss ..." (5,203,5-11).
Sie haben also den Weg zu einer neuen, umfänglicheren Synthesis beschritten, aber sie haben diese noch nicht erreicht. Sie sind zwar "Tantalusse des Willens", aber ihnen fehlt das "vornehme tempo", das "lento". Sie zerstören sich durch ihre "zügellose Arbeit", die sie kein "Gleichgewicht" und keinen "Genuss" finden läßt. Sie haben, als "Plebejer", die Herausforderung des neuen Europa angenommen, die darin besteht, "umfänglicher" zu werden, die "Seele" zu "erweitern". Aber eine neue "Ganzheit" ist ihnen auf dieser neuen Ebene noch nicht gelungen. Festzuhalten ist hier jedenfalls, daß auch "Plebejer" nach Nietzsches Auffassung zu einer "Selbsterhöhung' fähig sind. Aus sich selbst heraus ist auch ihnen dieser Weg offen. Es ist kein Vorrecht des aristokratischen
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Menschen, wenn dieser es vielleicht dabei auch leichter hat, da er schon lange gelernt hat, "sich nicht gehen zu lassen". Denn "zügellose Arbeit" bedeutet auch "sich gehen lassen". Von dem "vornehmen" Menschen könnte der "heraufkommende Plebejer" dieses "Maass" lernen. Auch aus diesem Grund braucht auch die "demokratische Welt" noch die "alten" Vornehmen.312 Wie stellt sich nun Nietzsche die neu zu erringende "Ganzheit" in "Umfänglichkeit" vor? Daß dieses Ziel nicht leicht zu erreichen ist, haben wir schon gesehen. Es gibt einige Texte, in denen Nietzsche Hinweise gibt, wie diese neue "Synthesis" aussehen könnte. Sie besteht offenbar darin, daß alles, was bisher als gegensätzlich, sich widersprechend, als "unvereinbar" galt, in einen Zusammenklang gebracht wird. In einem Brief an Köselitz (Jan. 1887) beschreibt Nietzsche eine solche "Synthesis", nachdem er in Monte-Carlo zum ersten Mal die Einleitung zu Wagners "Parsifal" gehört hat. In dieser Einleitung glaubt Nietzsche eine solche "Synthesis" verwirklicht zu finden: "Die allerhöchste psychologische Bewußtheit und Bestimmtheit in Bezug auf das, was hier gesagt, ausgedrückt, mitgetheilt werden soll, die kürzeste und direkteste Form dafür, jede Nuance des Gefühls bis aufs Epigrammatische gebracht; eine Deutlichkeit der Musik als deskriptiver Kunst, bei der man an einen Schild mit erhabener Arbeit denkt; und zuletzt, ein sublimes und außerordentliches Gefühl, Erlebniss, Ereigniss der Seele im Grunde der Musik, das Wagner die höchste Ehre macht, eine Synthesis von Zuständen, die vielen Menschen, auch 'höheren Menschen', als unvereinbar gelten werden, von richtender Strenge, von 'Höhe' im erschreckenden Sinne des Worts, von einem Mitwissen und Durchschauen, das eine Seele wie mit Messern durchschneidet - und von Mitleiden mit dem, was da geschaut und gerichtet wird. Dergleichen giebt es bei Dante, sonst nicht." (KSB 8,12-13). Wagner gelingt also eine "Synthesis von Zuständen, die vielen Menschen, auch 'höheren Menschen', als unvereinbar gelten werden." Wagner überschreitet hier in seiner "Umfänglichkeit" auch das Maß der "höheren Menschen". Bisher als unvereinbar Geglaubtes wird vereinigt: "richtende Strenge" und "Höhe" im "erschreckenden Sinne des Worts" sowie "Mitleiden
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Die "heraufgekommenen Plebejer", die "Tantalusse des Willens" haben auch nach Martis Einschätzung eine zentrale Bedeutung für Nietzsches Bild des "höheren Menschen", welches für die 'moderne', demokratische Zeit gelten soll. Vgl. dazu Martis Ausführungen (1993, 262-263).
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mit dem, was da geschaut und gerichtet wird". "Richtende Strenge" und "Mitleiden", man könnte etwa an das Alte und das Neue Testament denken, sind hier in einer "Synthesis" verbunden. Wir haben schon gesehen, daß "Höhe" den Weg zur Gerechtigkeit frei macht und das Verstehen der anderen befördert. Der "erhöhte" Mensch erwirbt ein "Tastorgan für alle Arten Mensch". Nietzsche verwendet unterschiedliche Formulierungen, um den Prozeß der "Einswerdung", den Weg zur neuen "Synthesis" näher zu beschreiben. In einem Fragment vom Sommer 1876 (KSA 8,306: 17/55/) spricht er von einer "Combination" bisher getrennter Qualitäten: "Ich imaginire zukünftige Denker, in denen sich die europäisch-amerikanische Rastlosigkeit mit der hundertfach vererbten asiatischen Beschaulichkeit verbindet: eine solche Combination bringt das Welträthsel zur Lösung." (8,306, 17-20).
Die europäischen "Tantalusse des Willens", "zügellose Arbeiter" wie Balzac, könnten dadurch vor einer "Selbst-Zerstörung" durch Arbeit bewahrt werden. Im "lento", im "vornehmen tempo", sind die Asiaten für die Europäer vorbildlich. In dem Fragment "Anti-Darwin" (KSA 13,315-7: F 88: 14/133/) gibt Nietzsche eine noch genauere Beschreibung der komplexen "Ganzheit", die im "höheren Typus" des Menschen erreicht werden kann: dieser Typus "stellt eine unvergleichlich größere Complexität, - eine größere Summe coordinirter Elemente dar" (13,317,19-20).
Die Vielzahl der "coordinirten Elemente" macht demnach die "unvergleichlich größere Complexität" des "höheren Typus" aus. "Coordination", Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit der "Elemente", die in "complexem" Austausch stehen: darin wäre die "Höhe", "Größe" und "Ganzheit" des "höheren Menschen" und der in ihm erreichten "Synthesis" zu sehen. Nietzsche weist zugleich darauf hin, daß diese "Synthesis" ständig neu gewonnen und 'erhalten' werden müsse. Sie ist von ständiger "Disgregation" bedroht. (13, 317,21). Es handelt sich also um einen labilen Zustand der "Spannung", ohne die aber keine "Höhe" möglich ist. Nur der "gespannte Bogen" kann weit und hoch schießen. Wir haben dieses Bild schon kennengelernt. Der angedeutete Zustand der Spannung ist ein komplexer Austausch "coordinirter Elemente". Damit unterscheidet er sich von dem Zustand des
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"Krieges", in den "schwächere Menschen" durch das "Urnfänglicherwerden geraten können (5,120,30-31). Die "schwächeren Menschen" neigen dazu, aus diesem Zustand herauszustreben und in einen Zustand des "Ausruhens" zu gelangen, den sie etwa in der christlichen Religion finden zu können glauben (5,120,32-121,5). Der "stärkere Mensch" hingegen nimmt die Herausforderung dieses "Kriegszustandes" an und gewinnt daraus einen zusätzlichen "Lebensreiz und -kitzel": "Wirkt aber der Gegensatz und Krieg in einer solchen Natur wie ein Lebensreiz und - Kitzel mehr -, und ist andererseits zu ihren mächtigen und unversöhnlichen Trieben auch die eigentliche Meisterschaft und Feinheit im Kriegfuhren mit sich, also Selbst-Beherrschung, Selbst-Überlistung hinzuvererbt und angezüchtet: so entstehen jene zauberhaften Unfassbaren und Unausdenklichen, jene zum Siege und zur Verfuhrung vorherbestimmten Räthselmenschen, deren schönster Ausdruck Alcibiades und Caesar (- denen ich gerne jenen ersten Europäer nach meinem Geschmack, den Hohenstaufen Friedrich den Zweiten zugesellen möchte), unter Künstlern vielleicht Lionardo da Vinci ist. Sie erscheinen genau in den selben Zeiten, wo jener schwächere Typus, mit seinem Verlangen nach Ruhe, in den Vordergrund tritt: beide Typen gehören zu einander und entspringen den gleichen Ursachen." (5,121,5-19). Im "stärkeren Menschen", sofern er auch die "Meisterschaft im Kriegführen mit sich" selbst gelernt hat, wirken "Gegensatz und Krieg" in der "umfänglicher" gewordenen Seele wie ein zusätzlicher "Lebensreiz und -Kitzel": er wird noch reicher und stärker. In den offenbar doch eher selteneren Fällen, wo dies gelingt, entstehen dann jene "Räthselmenschen", für die Nietzsche ein paar Beispiele aufzählt. Friedrich der Zweite hatte in Sizilien die morgen- und die abendländische Kultur in einen fruchtbaren Austausch gebracht, und er wird von Nietzsche im "Antichrist" als Vorbild für "Toleranz" erwähnt. Der dank "Selbst-Beherrschung" im Innern der Seele gemeisterte "Krieg" der "Gegensätze" erhöht den "Lebensreiz" und die "Umfanglichkeit" des Menschen. Diese "Räthselmenschen" darf man wohl als im Sinne Nietzsches gelungene Beispiele der "Selbsterhöhung" und der neuen "Synthesis" betrachten. Bemerkenswert ist, daß im letzten Text - wie auch schon in der Briefstelle über Wagners "Parsifal" - das christliche Element offenbar auch in die "größere Summe coordinirter Elemente" hineingezählt wird, die im Text "AntiDarwin" den "höheren Typus" ausmacht. Das gilt zumindest für Friedrich den Zweiten und für Dante.
Erhöhung durch Züchtung?
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Nietzsche äußert sich im letzten Text auch wieder über den "Zeitpunkt" des Erscheinens dieser "Räthselmenschen". Sie erscheinen offenbar 'gegenzyklisch' zu den vorherrschenden Tendenzen der jeweiligen "Zeitepoche". Schon oben bemerkte Nietzsche, daß in einer Epoche der "Energie" die beschaulichen Typen als "Ausnahme" auftreten. Entsprechend treten in einer Epoche der "Schwäche", wovon hier die Rede ist, die stärkeren Typen als "Ausnahmen" auf: "beide Typen gehören zu einander und entspringen den gleichen Ursachen". Das ist wohl so zu verstehen: beide tragen jeweils in ihrer Epoche zu einer "Distanz-Erweiterung" des Menschen und der Seele bei. Beide öffnen Raum für die Selbsterhöhung des Menschen, jeder in seiner Epoche. Die höchste "Synthese", die offenbar auch unabhängig vom Charakter spezifischer Zeitepochen gilt, stellt aber wohl jener "weiseste Mensch" dar, den Nietzsche in einem bereits erwähnten Fragment folgendermaßen beschreibt: "Der weiseste Mensch wäre der reichste an Widersprüchen, der gleichsam Tastorgane für alle Arten Mensch hat: und zwischeninne seine großen Augenblicke grandiosen Zusammenklangs - der hohe Zufall auch in uns! - eine Art planetarischer Bewegung -" (11,182,10-15).
Der höchste Grad der Selbsterhöhung, das Umfassen möglichst vieler Widersprüche und Gegensätze in einem "grandiosen Zusammenklang", ist offenbar nur in seltenen Augenblicken zu verwirklichen. Aber deutlich ist, worin die Aufgabe der Selbsterhöhung, die Nietzsche dem heutigen Europäer auferlegt, besteht: im Umfänglicherwerden, in der "Distanz-Erweiterung" der Seele und in dem Bestreben, es hierbei zu einer neuen "Ganzheit" zu bringen. Ein Ausruhen kann es nicht geben. Die Aufgabe bleibt, auch wenn sie nur in seltenen Augenblicken sich ganz erfüllt, als Aufgabe gestellt.
Erhöhung durch "Züchtung"?
Hat Nietzsche an eine Erhöhung des Menschen durch "Züchtung" gedacht? In seinen Texten begegnet uns das Wort "züchten" und seme Ableitungen ziemlich oft. Welche Bedeutung(en) hat das Wort "züchten" bei Nietzsche? Verwendet er es (auch) in der modernen Bedeutung, d.h. inwiefern werden damit auch biologische Prozeduren angesprochen, wie etwa bei Chamberlain,
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der durch gezielte Kreuzung von Rassen Menschen wie Pferde züchten will, mit dem Ziel, die eine, angeblich allein wertvolle, ursprüngliche, reine Rasse wiedergewinnen zu wollen? Um diese Frage zumindest annähernd beantworten zu können, müssen wir uns zuerst die Semantik des Wortes "züchten" genauer ansehen. Wir neigen heute dazu, hier mehr oder weniger unbesehen die moderne, oben angedeutete Bedeutung anzusetzen. Das Wort hatte aber jahrhundertelang, vor allem im Bezug auf den Menschen, die Bedeutung "erziehen". Diese dürfte auch bei Nietzsche noch in den allermeisten Fällen vorliegen. Zuerst ist also die Semantik des Wortes "züchten" zu klären. Dazu ziehen wir ein Wörterbuch zu Rate. Dann prüfen wir, welche Bedeutung das Wort "züchten" in den jeweiligen Kontexten haben könnte, in denen Nietzsche das Wort verwendet. Anschließend ist dann auf die Frage der "Erhöhung" in zwei Kontexten näher einzugehen: zuerst im Kontext Moral und Religion, sodann in den Kontexten, in denen eher biologische bzw. darwinistische Fragen angeschnitten werden. Welche Bedeutung hat das Wort "züchten" in den angedeuteten Kontexten? Verspricht sich Nietzsche von 'moralischen' und darwinistischen Maßnahmen in der Tat eine Erhöhung des Menschen? Wir haben bei der Interpretation der Belege eher den Eindruck gewonnen, daß Nietzsche einen dritten Weg bevorzugt: den der Erziehung. Darauf ist dann später einzugehen. Wenn wir das "Etymologische Wörterbuch des Deutschen", das vom ostdeutschen Zentralinstitut für Sprachwissenschaft erarbeitet wurde, heranziehen, erhalten wir folgende Auskünfte:313 "Zucht f.: das Aufziehen, Züchten (von Tieren, Pflanzen) und dessen Ergebnis, (strenge) Erziehung, Gehorsamkeit, Disziplin." "mhd. 'zucht': das Ziehen, Zug, Richtung , Weg. Erziehung. Bildung. Strafe, feine Sitte und Lebensart. Ernährung, Unterhalt. Abstammung, das Aufgezogene" ... "Mhd. 'zucht' gehört im Sinne von 'feine Sitte und höfische Lebensart' zu den Kernbegriffen der mittelalterlichen Ethik". "züchten: planmäßig und auswählend Pflanzen oder Tiere heranziehen".
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Etymologisches Wörterbuch des Deutschen M-Z. Zweite Auflage von W. Pfeifer. Akademie Verlag Berlin 1993.
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"Züchter: wer planmäßig, auswählend, veredelnd Tiere und Pflanzen heranzieht (wohl erst im 19. Jh.). Zuvor fhhd. 'Lehrer, Erzieher'..." "Züchtig: 'brav, anständig'" "züchtigen: '(körperlich) strafen"1 "Unzucht: 'unsittliche Handlung'" "Zuchthaus: 'Strafanstalt' (17. Jh.). 'Wohngemeinschaft, Internat, Erziehungs-, Besserungsanstalt (16. Jh.)." Bei der Semantik von "züchten" müssen wir offenbar unterscheiden, ob es auf Pflanzen und Tiere oder auf Menschen bezogen wird. Bei Pflanzen und Tieren ist auch von "auswählendem" Tun die Rede, in Bezug auf Menschen geht es immer um "erziehen", Sitte, "Abstand", "lehren", "Lehrer" und um "Besserung" (im moralischen Sinn). Bei "Züchter" wird als ältere Bedeutung "Lehrer, Erzieher" angegeben, und in der Tat nennt Nietzsche Schopenhauer seinen "Zuchtmeister", also "Lehrer". Auch das Wort "Zuchthaus" verwendet Nietzsche nicht nur in der modernen Bedeutung (Strafanstalt), sondern auch in der Bedeutung von "Treibhaus", wie wir gleich sehen werden. Nietzsche neigt also offensichtlich zu dem älteren Sprachgebrauch, bei dem -in Bezug auf den Menschen- "erziehen, lehren, bilden" im Mittelpunkt steht. Wenden wir uns nun den Kontexten zu, in denen Nietzsche das Wort "züchten" vor allem verwendet. Zunächst der Kontext Religion und Moral: In "Jenseits von Gut und Böse" (Aph. 62) heißt es, daß das "Christenthum" das "Heerdenthier" "heranzüchtet" (5,83,16-27). In der "Genealogie der Moral" sagt Nietzsche, der asketische Priester wolle der "Zuchtmeister" der "Kranken" sein. (5,372,23). Wiederum in JGB behauptet Nietzsche, die Engländer brauchten die "Zucht" des "Christenthums" zu ihrer "Moralisirung" (5,195,25-27). Auch die Moral will, wie Nietzsche meint, "züchten": "Alle Moralen und Gesetze gehen darauf aus, Gewohnheiten anzupflanzen, d.h. für sehr viele Handlungen die Frage nach dem Warum? aufzuheben, so daß sie instinktiv gethan werden... Eine Rasse mit starken Instinkten züchten - das will die Moral." (9,115,20-29: S 1880: 4/67/)· Es liegt auf der Hand, daß es hier weder um "Rasse" im modernen Sinn noch um "züchten" im biologischen Sinn gehen kann, sondern um Erziehung.
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Auch die Demokratie, die Nietzsche in vieler Hinsicht als ein Kind der christlichen Moral einstuft, wird in Zusammenhang gebracht mit "züchten": "die Demokratisirung Europa's ist zugleich eine unfreiwillige Veranstaltung zur Züchtung von Tyrannen,- das Wort in jedem Sinne verstanden, auch im Geistigsten" (JGB, Aph. 242: 5,183,23-26). Die "Heerdenmenschen" können sich selbst keine Ziele setzen. Das begünstigt die Entstehung von "Tyrannen". Auch hier kann von "züchten" im engeren Sinne nicht die Rede sein. Von "züchten" wird auch im Zusammenhang mit der aristokratischen Moral gesprochen: im Aphorismus 262 von "Jenseits von Gut und Böse", den wir schon kennen. Die dort beschriebene aristokratische Gemeinschaft lernt durch die "mannigfaltigste Erfahrung", "welchen Eigenschaften vornehmlich sie es verdankt, daß sie, allen Göttern und Menschen zum Trotz, noch da ist, daß sie noch immer obsiegt hat: diese Eigenschaften nennt sie Tugenden, diese Tugenden allein züchtet sie groß." (5,215,8-12). Die aristokratische Gemeinschaft ist also darum bemüht, jene "Tugenden", denen sie ihre Behauptung zuschreiben zu können glaubt, durch besondere Sorgfalt und Strenge zu pflegen und erziehend weiterzugeben, wobei in diesem Falle durch eine solche Erziehung wohl auch eine Erhöhung des Menschen beabsichtigt ist. Es hängt also von der jeweiligen Moral ab, ob eine Erhöhung erzielt werden kann. Immer aber geht es um erzieherische Maßnahmen, nicht um "züchten" im modernen Sinne. Die Belege ließen sich noch vermehren. Es dürfte aber schon hinreichend deutlich geworden sein, daß es hier immer um "erziehen" geht. Nietzsches Sprachgebrauch weicht in den genannten Stellen vom heutigen ab: heute würde man in diesen Zusammenhängen nicht mehr von "züchten" sprechen. Der heutige Sprachgebrauch ist enger und verweist nicht mehr schwerpunktmäßig auf "erziehen", wie dies bei Nietzsche offenbar noch der Fall ist. Einen zweiten wichtigen Kontext, in dem häufig das Wort "züchten" erscheint, stellen die Bereiche Bildung, Lehrer, Schule und Erziehung dar. Bekanntlich hat Nietzsche Schopenhauer seinen "Zuchtmeister" genannt, ein Sprachgebrauch, der heute ungewöhnlich wäre. Und er hat diesen Ausdruck gleich mit einer Mehrzahl von Synonymen eingeführt. Er schreibt in der dritten "Unzeitgemässen Betrachtung":
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"Gewiss, es giebt wohl andere Mittel, sich zu finden, aus der Betäubung, in welcher man gewöhnlich wie in einer trüben Wolke webt, zu sich zu kommen, aber ich weiss kein besseres, als sich auf seine Erzieher und Bildner zu besinnen. Und so will ich denn heute des einen Lehrers und Zuchtmeisters, dessen ich mich zu rühmen habe, eingedenk sein, Arthur Schopenhauer's - um später anderer zu gedenken." (l, 341,19-25).3M "Zuchtmeister" bedeutet also "Erzieher, Bildner, Lehrer". Vielleicht will Nietzsche mit dem Ausdruck "Zuchtmeister" besonders die Strenge dieser Erziehung unterstreichen, die Nietzsche sich nicht zuletzt auch
selbst
auferlegte. Die "Schüler" eines Erziehers werden bei Nietzsche gelegentlich "Züchtlinge" genannt: "Ein Erzieher, der heute vor allem Wahrhaftigkeit predigte und seinen Züchtungen beständig zuriefe 'seid wahr! seid natürlich! gebt euch, wie ihr seid!'- ... würde nach einiger Zeit zu jener furca des Horaz greifen lernen, um naturam expellere..." (5, 219,18-23). Das Wort "züchten" erscheint im Zusammenhang "jemandem etwas anerziehen" häufig in Präfixbildungen: So fragt er sich, "ob sich nicht zu der erblichen Kunst des Befehlens und Gehorchens [des "adeligen Offiziers"]... etwas Geist und Geistigkeit... hinzuthun, hinzuzüchten Hesse". (5, 194,30-195-1). Über die "kleinen Leute" der Diaspora heißt es, "ihre Kunst, sich zu behaupten und durchzusetzen", sei "in einer Anzahl Tugenden angeziichtet" (11,564,19-21). Auch ein "Gefühl" kann "angezüchtet" werden: "Es ist viel erreicht, wenn der großen Menge (den Flachen und Geschwind-Därmen aller Art) jenes Gefühl endlich angezüchtet ist, daß sie nicht an Alles rühren dürfe..." (5,218,9-11). Hier geht es um das "Pathos der Distanz", das anerzogen werden soll. Durch Erziehung wird hier eine Erhöhung des Menschen angestrebt. Gelegentlich verwendet Nietzsche auch "anzüchten" abwechselnd mit "erziehen", woraus deutüch wird, daß er bei "anzüchten" an "erziehen" denkt (5,109,15-29). Auch in einem Brief findet sich diese kombinierte Verwendung von "erziehen" und "züchten": "Es liegt auf der Hand: ich muß erst noch eine Menge erzieherischer Prämissen geben, bis ich mir endlich meine eignen Leser gezüchtet habe..." (KSB 7,264: Okt. 1886: anOverbeck).
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Die ersten vier Hervorhebungen von GS.
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Auch das Wort "Zucht" erscheint in Zusammenhängen, wo wir es heute nicht mehr erwarten würden. Im Nachlaß findet sich ein Fragment, das nur aus einer Zeile besteht: "Zucht des Herzens". (11,709,1: H 85: 45/17). Hier ist wohl "Bildung" des Herzenz, im Sinne Goethes, gemeint. Um "Bildung" und Kultur geht es auch in der "Götzen-Dämmerung" (Streifzüge 47), und um die Frage, wie eine Kultur zu erreichen sei, die mit der griechischen verglichen werden könne. Die Deutschen sind hierbei auf dem falschen Weg, da sie nur an eine "blosse Zucht von Gefühlen und Gedanken" dächten. Statt dessen müsse man "den Leib zuerst überreden", wie es die Griechen getan hätten. (6, 149,16-20). Nietzsche fordert seine Leser einmal auf, die "Aristokratie" versuchsweise "als eine Veranstaltung zum Zwecke der Züchtung" zu betrachten, der es darum gehen müsse, "eine bestimmte Art von Eigenschaften (Tugenden) vor allen und zuoberst zu erhalten" (11,516,25-517,1). Das "demokratische Europa" laufe hingegen "auf eine sublime Züchtung der Sklaverei" hinaus, begünstige also die Entstehung und Zunahme der willensschwachen Menschen. (12,155,25-26). Wie angedeutet, scheint Nietzsche das Wort "Zuchthaus" auch noch in der alten Bedeutung einer "Besserungs- und Erziehungsanstalt" zu verwenden. Das könnte in der folgenden Textstelle der Fall sein, in der er, wenn auch mit Vorbehalten, die '"geistlichen Menschen' des Christenthums" lobt, die die "Innerlich-Zerstörten und Wild-Gewordenen von der Gesellschaft weg in Klöster und seelische Zuchthäuser lockten" (5,82,14-19). Dieser ältere Sprachgebrauch scheint auch noch bei Schopenhauer vorzuliegen, den Nietzsche in der "Genealogie der Moral" zitiert. Es geht um einen Text, den Schopenhauer "zu Ehren des ästhetischen Zustandes geschrieben hat". Er hat folgenden Wortlaut: (Nietzsche zitiert Schopenhauer): "Das ist der schmerzlose Zustand, den Epikur als das höchste Gut... pries: wir sind, für jenen Augenblick, des schnöden Willensdranges entledigt, wir feiern den Sabbat der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still..." (5,348,16-25).
Allerdings könnte bei Schopenhauer auch das 'strafende' Moment mit eine Rolle spielen: das "Wollen" als "Last" und "Strafe" empfunden. Das würde sich der modernen Bedeutung annähern. Bei Nietzsche ist "Zuchthaus" auch mit der heutigen Bedeutung belegt (5,319,4: "die Gefängnisse, die Zuchthäuser").
Erhöhung durch Züchtung?
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In "Jenseits von Gut und Böse" wird der "Philosoph" als der "cäsarische Züchter und Gewaltmensch der Cultur" dem "objektiven Menschen" gegenübergestellt, der nur ein "Spiegel" ist. Als Beispiel für den "objektiven Menschen" verweist Nietzsche auf den "Gelehrten" (5,135,7-13 und 136,2021). Wie wir noch sehen werden, spricht vieles dafür, daß "Züchter" hier eine ähnliche Bedeutung hat wie "Zuchtmeister", d.h. "Lehrer, Erzieher". Im Aphorismus 262 von "Jenseits von Gut und Böse" könnte das Wort "Züchter" zunächst allgemein verwendet sein, also auch auf das Züchten von Pflanzen und Tieren Bezug nehmen. Dann dürfte aber, mit dem Verweis auf das "aristokratische Gemeinwesen", die Bedeutung des "Erziehers" in den Vordergrund treten. Gemeinsam ist beiden, daß das Gelingen ihrer Arbeit auf Bedingungen angewiesen ist, die "günstig" oder aber auch "ungünstig" sein können: "Eine Art entsteht, ein Typus wird fest und stark unter dem langen Kampfe mit wesentlich gleichen ungünstigen Bedingungen. Umgekehrt weiß man aus den Erfahrungen der Züchter, daß Arten, denen eine überreichliche Ernährung und überhaupt ein Mehr von Schutz und Sorgfalt zu Theil wird, alsbald in der stärksten Weise zur Variation des Typus neigen... Nun sehe man einmal ein aristokratisches Gemeinwesen, etwa eine alte griechische Polis oder Venedig, als eine, sei es freiwillige, sei es unfreiwillige Veranstaltung zum Zweck der Züchtung an: es sind da Menschen bei einander und auf sich angewiesen, welche ihre Art durchsetzen wollen, meistens, weil sie sich durchsetzen müssen... Hier fehlt jene Gunst, jenes Übermaass, jener Schutz... die Art hat sich als Art nöthig, als Etwas, das sich gerade vermöge seiner Härte, Gleichförmigkeit, Einfachheit der Form überhaupt durchsetzen und dauerhaft machen kann, im beständigen Kampfe mit den Nachbarn... Die mannigfaltigste Erfahrung lehrt sie, welchen Eigenschaften vornehmlich sie es verdankt, daß sie... noch da ist, daß sie noch immer obsiegt hat: diese Eigenschaften nennt sie Tugenden, diese Tugenden allein züchtet sie groß." (5,214,20-215,12).
Diese "Züchtung" läuft, wie Nietzsche dann darlegt, auf die Herausbildung einer "aristokratischen Moral" hinaus (5,215,13). Es geht also um "Erziehung": um die Pflege und Weitergabe der "Tugenden" einer "aristokratischen Moral. Die beständige Verpflichtung zum "Kampfe" fördert die Entstehung und erzieherische Kultivierung einer "aristokratischen Moral".315
315
Dazu auch Van Tongeren 1989, 150-154.
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Zur Erhöhung des Menschen
In dem soeben zitierten Aphorismus 262 von JGB fallt auf, daß Nietzsche zunächst einmal auf die "Erfahrungen der Züchter" verweist, wobei offenbar an das "Züchten" von Tieren und Pflanzen zu denken ist. Hier hätte dann das Wort "züchten", wie bereits angedeutet und im älteren Sprachgebrauch durchaus auch möglich, eine primär biologische Bedeutungskomponente. Dies ändert sich aber dann, wenn er anschließend auf das "Züchten" von aristokratischen Tugenden übergeht: hier kann es nur noch um "erziehen" gehen. Es fragt sich, wie dieses Nacheinander zu deuten sein könnte. Soll das 'biologische' Tun des Tier- und Pflanzen-"Züchters" als Modell für das erzieherische "Züchten" dienen? Oder soll eher gerade der Unterschied betont werden: daß beide, der biologische Züchter und der Erzieher, zwar um eine planmässige Höherentwicklung bemüht sind, daß aber die jeweils zu verwendenden Mittel und Methoden zur Erreichung dieses Zieles jeweils unterschiedlich sind: während der "Züchter" von Pflanzen und Tieren biologische Mittel verwendet, bedient sich der Erzieher zur Tradierung und Kultivierung aristokratischer "Tugenden" erzieherischer kultureller Methoden. Es könnte sich hier bei Nietzsche wiederum um eine bewußte Anlehung an darwinistisches Vokabular handeln, mit der einerseits eine gewisse Nähe zu Darwin angedeutet werden soll, mit der aber andererseits umso nachdrücklicher das Unterscheidende hervorgehoben werden soll: daß es Niezsche um die Bewahrung und Pflege von "Tugenden" geht, wozu seiner Auffassung nach die darwinistischen Methoden nicht geeignet sind. Das Nebeneinander der beiden Bedeutungen von "züchten" könnte demnach als beabsichtigtes Spiel eingestuft werden: als spielerischer Verweis auf die darwinistische Folie, von der Nietzsche sich absetzen will. Daß es Nietzsche in der Tat eher um eine Distanzierung gehen dürfte, geht etwa daraus hervor, daß er als "begünstigende Umstände" für sein "Züchtungsprogramm" z.B. Bücher, Freunde und das Klima nennt, wie wir noch sehen werden. Das sind aber keine biologischen Faktoren, wie sie die "Züchter" von Pflanzen und Tieren vor Augen haben. Beiden "Züchtern" geht es um eine planende Höherentwicklung, aber die Mittel und Methoden zur Erreichung dieses Zieles sind grundverschieden.
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Die Erörterung einer Anzahl Belege des Wortes "züchten" in den Kontexten Religion/ Moral sowie Lehre/Bildung/Erziehung hat deutlich werden lassen, daß das Wort "züchten" und seine Ableitungen die Bedeutung "erziehen, durch erzieherische Maßnahmen 'Tugenden' herausbilden und weitergeben" hat. Dieser Sprachgebrauch ist heute ungewöhnlich, knüpft aber an die zu Nietzsches Zeit wohl noch vertrautere Bedeutung des Wortes "züchten" an, wie "Züchter: Lehrer/Erzieher" und "Zuchtmeister: Lehrer". Die Kontexte Nietzsches machen deutlich, daß dabei nicht an die moderne Bedeutung des Wortes 'züchten", das heute eine starke biologische Komponente hat, gedacht werden kann. Wir dürfen uns also nicht durch dieses Wort irreführen lassen, indem wir ihm eine Bedeutung unterschieben, ohne Nietzsches eigene Kontexte genügend zu beachten. Wir haben noch nicht näher untersucht, welche Bedeutung das Wort 'züchten' in den mehr oder weniger 'biologischen' und darwinistischen Kontexten hat, denen wir bei Nietzsche ebenfalls begegnen. Dies soll anschließend nachgeholt werden, wenn die Frage gestellt wird, inwiefern auf der einen Seite Religion und Moral, auf der anderen Seite 'biologische' Konzepte zu einer Erhöhung des Menschen, nach Nietzsches Auffassung, beitragen können. Im nächsten Abschnitt wird dann gesondert untersucht, welches die wichtigsten Elemente von Nietzsches Projekt einer Erhöhung des Menschen durch Erziehung sein könnten, sowie die damit angesprochenen Implikationen. Bei der Frage, inwiefern Religion und Moral zur Erhöhung beitragen können, können wir uns kurz fassen, da diese Sachverhalte im Laufe der Untersuchung schon wiederholt zur Sprache kamen. Für die christliche Religion und Moral behandelt Nietzsche diese Frage zum einen in der "Götzen-Dämmerung", im Abschnitt "Die 'Verbesserer der Menschheit'". Die christliche Moral wird dort als eine Moral der "Zähmung" interpretiert. Sie "bessert" den Menschen, indem sie ihn "zähmt". Er vergleicht den Vorgang der "Zähmung" des Menschen mit der "Zähmung" der Tiere in einer "Menagerie": "Die Zähmung eines Thieres seine 'Besserung' nennen ist in unsren Ohren beinahe ein Scherz. Wer weiss, was in Menagerien geschieht, zweifelt daran, daß die Bestie daselbst 'verbessert' wird. Sie wird geschwächt, sie wird weniger schädlich
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gemacht, sie wird durch den depressiven Affekt der Furcht, durch Schmerz, durch Wunden, durch Hunger zur krankhaften Bestie. - Nicht anders steht es mit dem gezähmten Menschen, den der Priester 'verbessert' hat." (6,99,10-17).
In der "Genealogie der Moral" hat Nietzsche das Wirken des asketischen Priesters näher erörtert. Der bereits physiologisch erkrankte europäische Mensch, der an "Unlust" und "Depressionen" leidet, wird vom asketischen Priester weiter krank gemacht, indem dieser bei den genannten Symptomen ansetzt, statt an der physiologischen Erkrankung. Durch Verstärkung von Schuldgefühlen wurde der physiologisch kranke Mensch zum "Sünder" gemacht. (5, 389,30). Dies kann zwar im Lichte der genannten Moral als eine "Besserung" des Menschen bezeichnet werden, aber in Nietzsches Augen ist es eine "Verkleinerung" des Menschen. Denn der Mensch wird in seiner physiologischen Erkrankung belassen und zusätzlich seelisch schwach gemacht: er steckt nun in einem "Käfig" und ist "zwischen lauter schreckliche Begriffe eingesperrt": "Da lag er nun, krank, kümmerlich, gegen sich selbst böswillig; voller Hass gegen die Antriebe zum Leben, voller Verdacht gegen Alles, was noch stark und glücklich war. Kurz ein 'Christ'..." (6,99,24-28).
So beschreibt Nietzsche in der "Götzen-Dämmerung" die von der christlichen Religion gezähmten und "verbesserten" Germanen. Es scheint auf der Hand zu liegen, daß eine Moral, die das Ressentiment des Menschen gegen das Leben befördert, nichts zur Erhöhung des Menschen beitragen kann. Soweit die "Götzen-Dämmerung", in der Nietzsche ausdrücklich feststellt: "alle Mittel, wodurch bisher die Menschheit moralisch gemacht werden sollte, waren von Grund aus unmoralisch." (6,102,20-22).
In der "Genealogie der Moral" deutet Nietzsche aber doch auch an, daß der Mensch der Zukunft gerade durch die Einwirkung der christlichen Moral letztlich nur an "Umfänglichkeit" gewinnen könne. Zwar erfolge durch die "Zähmung" des Menschen zunächst eine "tiefe Erkrankung" (5,321,29), eine "größte Erkrankung" (5,323,14) des Menschen. Die Seele werde "gegen sich selbst gekehrt" und nehme "gegen sich selbst Partei" (5, 323,21). Dadurch war aber zugleich "etwas so Neues, Tiefes, Unerhörtes, Räthselhaftes, Widerspruchsvolles und Zuhinftsvolles gegeben", "daß der Aspekt [hier: Anblick] der Erde sich damit wesentlich veränderte". (5,323,24-26).
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Für Nietzsche beginnt damit ein "Schauspiel zu fein, zu wundervoll, zu paradox,... dessen Ende durchaus noch nicht abzusehen ist" (5,323,29-30). Weil dem Menschen dadurch noch nicht abzusehende Möglichkeiten eröffnet worden seien: "Der Mensch zählt seitdem mit unter den unerwartesten und aufregendsten Glückswürfen, die das 'große Kind' des Heraklit... spielt,- er erweckt für sich ein Interesse, eine Spannung, eine Hoffnung, beinahe eine Gewissheit, als ob mit ihm sich etwas ankündige, Etwas vorbereite, als ob der Mensch kein Ziel, sondern nur ein Weg, ein Zwischenfall, eine Brücke, ein großes Versprechen sei..." (5,323,31324,4). Zunächst bringt die christliche Moral also eher eine "Verkleinerung" des Menschen. Werden die dabei erworbenen Eigenschaften des Menschen jedoch in eine neue Synthese des zukünftigen Menschen aufgenommen, dann trägt sie zur Erhöhung des Menschen bei. Daß die aristokratische Moral zur Erhöhung beiträgt, ja für Nietzsche sogar als Paradigma des erhöhten Menschen gilt, wurde bei der Besprechung des schon mehrmals herangezogenen Aphorismus 262 aus "Jenseits von Gut und Böse" einsichtig. Deutlich wurde auch, daß es dabei um ein Erziehen, und nicht um "züchten" (im modernen Sinn) geht. Erörtert wurde auch schon, daß das alte "vornehme" Ideal der griechischen und französischen Zeit heute, angesichts des Umfanglicherwerdens des Menschen, nur noch in einer neuen, "complexeren" Synthese wiederaufgenommen werden kann. Für Nietzsche steht aber außer Frage, daß es auch heute noch unentbehrliche Hinweise für eine Erhöhung des Menschen liefern kann und muß. Anders verhält es sich mit dem "Gesetzbuch" des Manu, auf das Nietzsche ebenfalls in der "Götzen-Dämmerung" ("Die 'Verbesserer' der Menschheit" 3) ausführlich eingeht. Er hält die "Verfügungen" dieses "Gesetzbuches" für einen Ausdruck der "arischen Humanität" (6,101,21-22), der er mit größten Vorbehalten, ja mit Ablehnung gegenüber steht. Aus ihren "Verfügungen" "lernen wir", wie Nietzsche schreibt, "daß der Begriff 'reines Blut' der Gegensatz eines harmlosen Begriffs ist". (6,101,23-24).
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Nietzsche ist also überzeugt, daß das genannte "Gesetzbuch" auf einem solchen Begriff aufbaut und insofern in der Tat "Züchtung" im modernen Sinn beabsichtigt. Die Konsequenzen eines solchen Verfahrens der "Züchtung" hält er für keineswegs "harmlos". Es führt zur Ab- und Ausgrenzung der Menschen nach "Kasten", die einander nicht mehr berühren dürfen. Es wird eine "Sanitäts-Polizei" eingerichtet, die die "Reinheit" des Blutes überwachen muß: "Der Erfolg einer solchen Sanitäts-Polizei blieb nicht aus: mörderische Seuchen, scheussliche Geschlechtskrankheiten..." (6,101,4-6).
Im vorliegenden Kontext verweist also das Wort "züchten" in der Tat auf ein Vorgehen, das Menschen mit 'biologischen' Maßnahmen der Blutreinerhaltung 'erhöhen' will, verweist also stark auf die moderne Bedeutung von "züchten". Ein solches Vorgehen lehnt Nietzsche entschieden ab. Angesichts dessen hält er die Bibel für einen unermesslichen Fortschritt: "Unter diesem Gesichtspunkt sind die Evangelien eine Urkunde ersten Ranges; noch mehr das Buch Henoch -" (6,101,27-28).
"Züchtung" im modernen Sinn kann also nach Nietzsches Einschätzung nicht zur Erhöhung des Menschen beitragen, da ihre Konzepte und Verfahren -der Begriff "reines Blut", eine "Sanitäts-Polizei" - eher eine Gefährdung der Gesundheit des Menschen bedeuten, als daß sie einen Beitrag zur Erhöhung des Menschen liefern könnten. Es ist der falsche Weg. Unterstrichen sei nochmals, daß Nietzsche hier ausdrücklich "arische" Konzepte ablehnt. "Arisch" ist für Nietzsche nur annehmbar, soweit es auf die Griechen verweist und nicht im Gegensatz zu "semitisch" steht (er lehnt wiederholt die Opposition "arisch'V'semitisch" ab), nicht jedoch, wenn es mit Begriffen und Verfahren verbunden erscheint, wie sie im "Gesetzbuch" des Manu beschrieben und gefordert werden. Wh- müssen nun noch den biologischen Bereich erörtern, womit hier die gelegentlichen Bezugnahmen auf Darwin und Spencer gemeint sind. Wir beschränken uns dabei auf jene Texte, in denen zugleich die Höherentwicklung des Menschen angesprochen wird. Auch hier interessiert uns die Frage, in welcher Bedeutung hier das Wort "züchten" auftritt, sowie die Frage, ob auf biologischem Wege eine Erhöhung des Menschen im Sinne Nietzsches ereicht werden könnte.
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Zu Nietzsches Darwin-Kenntnis sei in diesem Zusammenhang hier kurz angemerkt, daß Nietzsche Darwins "The Origin of the Species" nicht selbst besessen oder selbst gelesen hat. Er bezog seine Darwin-Kenntnis zunächst aus Langes bereits erwähnter "Geschichte des Materialismus" (Band , 240-248) und dann in den 80-ger Jahren aus der kritischen Darwindarstellung des AntiDarwinisten C. von Naegeli, die 1884 erschienen war (Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammung). Dazu stellt A. Hörn fest, daß der AntiDarwinismus "the norm in German scientific circles at the time" war. Abgelehnt wurde insbesondere "the teleological view of history according to which humankind is ineluctably moving towards its own perfection" (Horn, Paper 1997). Und eine solche Ideologische Sicht wurde auch von Nietzsche abgelehnt, wie wir schon bei der Erörterung seines Textes "Anti-Darwin" gesehen haben. Wenn Nietzsche seinerseits an einer Höherentwicklung des Menschen interessiert war, so konnte er hierfür bei Darwin kaum annehmbare Hinweise finden. Bei Weindling erfahren wir, daß ab 1870 in der Biologie praktische Experimente angestellt wurden. Man ging von der Überzeugung aus, daß die menschliche Konstitution geändert werden könne, oder daß zumindest "pathologische" Züge "could be bred out".316 Ziel der Experimente war also zunächst nicht die "Züchtung" eines nie dagewesenen "höheren" Typus Mensch, sondern die Verbesserung des Gesundheitszustandes bereits bestehender, jedoch an Krankheiten leidender Menschen. Es ging auch noch nicht um die Verbesserung von "Rassen", oder gar um die Rückgewinnung einer angeblich überlegenen "Rasse". Auch Nietzsche geht es, wenn er von "physiologischem Gedeihen" oder "Missrathen" spricht, um Erkrankungen des Leibes und der Seele, die der "philosophische Arzt" genesen will. Der "physiologisch Wohlgerathene" ist der von Krankheiten geheilte Mensch, nichts darüber hinaus. "Züchten" im modernen Sinn setzt einige Präsuppositionen voraus, unter anderem Vorhandensein und Niedergang einer angeblich "höheren" "Rasse" (im modernen Sinn), deren "Reinheit" und "Wert" wieder hergestellt werden
316
Weindling 1989, 44.
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sollen. Des weiteren werden Zuchtverfahren benötigt, die kontrollierbar und steuerbar sind. Da bei Nietzsche das Kernstück eines solchen biologischen Züchtungsprogramms, die eine superiore "Rasse", nicht nachweisbar ist, liegt von vornherein der Schluß nahe, daß die Suche nach einem solchen Züchtungsprogramm bei Nietzsche vergeblich sein dürfte. Auch bei Darwin ist nicht die Rede von einer Höherentwicklung des Menschen mittels einer so verstandenen Züchtung, jedoch, wie Nietzsche es in seinem Fragment "Anti-Darwin" formuliert, von einer "wachsenden Entwicklung der Wesen" (13,316, 18), und zwar durch Selektion. Auch dies lehnt Nietzsche ab: "Es fehlt jedes Fundament." (13,316,18-19). Auch der von Darwin behaupteten "tiefen Wirkung" der "Domestikation" steht Nietzsche äußerst skeptisch gegenüber: die "Domestikation" bleibe "oberflächlich" (13,315,6-10). Wh- haben in der Einleitung das Fragment "Anti-Darwin" schon ausführlicher besprochen, und es wurde deutlich, daß Nietzsche allen Thesen Darwins mit größten Vorbehalten gegenübersteht. In einer Zahl von Texten geht Nietzsche auf einige der hier einschlägigen Fragen noch genauer ein. Diese sind nun zu besprechen. Wiederholt wird von Nietzsche in Frage gestellt, daß die "Selektion" zur Erhöhung des Menschen beitrage. Neben dem bereits genannten Fragment "Anti-Darwin" gibt es ein zweites Fragment mit dem gleichen Titel, das zusätzlich noch das Wort "Gegenbewegung" enthält (13,303-5: F 1888: 147 1237), in dem Nietzsche wiederum Kritik am Konzept der "Selektion" übt: "Gegenbewegung Anti-Darwin Was mich beim Überblick über die großen Schicksale des Menschen am meisten überrascht ist, immer das Gegentheil vor Augen zu sehen von dem, was heute Darwin mit seiner Schule sieht oder sehen will: die Selektion zu Gunsten der Stärkeren, Besser-Weggekommenen, den Fortschritt der Gattung. Gerade das Gegentheil greift sich mit Händen; das Durchstreichen der Glücksfalle, die Unnützlichkeit der höher gerathenen Typen, das unvermeidliche Herr-werden der mittleren, selbst der unter-mittleren Typen." (13,303,9-19).
Nietzsche denkt hier wohl an den Niedergang der Aristokratie und an das Entstehen des "Heerdenmenschen" und der Demokratie, die er als "Verkleinerung" des Menschen auffaßt. Von einer "Erhöhung" kann also keine
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Rede sein. Im Gegenteil scheinen die "höher gerathenen Typen" überflüssig geworden zu sein, da ihre "Maßstäbe" nun entbehrlich geworden zu sein scheinen. Die "Selektion" trägt nicht zur "Erhöhung" des Menschen bei. Eher stellt sie eine "Gegenbewegung" zur "Erhöhung" des Menschen dar. Die "Moral der Gattungs-Zweckmässigkeit", die Nietzsche in Darwins Konzept der "Selektion" am Werk sieht, kann kein Maßstab für die Erhöhung des Menschen sein: "Die Vorwegnehmenden.- Ich zweifle, ob jener Dauermensch, welchen die Zweckmässigkeit der Gattungs-Auswahl endlich producirt, viel höher als der Chinese stehen wird. Unter den Würfen sind viele unnütze und in Hinsicht auf jenes Gattungsziel vergängliche und wirkungslose - aber höhere: darauf lasst uns achten! Emancipiren wir uns von der Moral der Gattungs-Zweckmässigkeit!-" (9,458,6-12: F/H 1881: 11/44).
Das Wort "Dauermensch" zielt auf die "Schwachen", die sich nicht selbst "decimiren" - wie die "Starken" - und daher von größerer "Dauer" sind (13, 370,7 und 13,369,29). Die Chinesen galten im 18. und 19. Jahrhundert weithin als Volk des Mittelmaßes.317 Die "Gattungs-Auswahl" begünstigt nach Nietzsches Auffassung das "Mittelmaß", sie kann kein Maßstab für Erhöhung sein. Der Mensch darf aber nicht auf diesem Niveau stehen bleiben, denn "Der Mensch verändert sich noch - ist im Werden", wie es am Ende des zitierten Textes heißt (9,458,17). Bei diesem "Werden" sind ganz offensichtlich nicht die Prozesse gemeint, die durch "Selektion" im Sinne Darwins in Gang gesetzt werden. Gedacht ist an eine "Erhöhung" des Menschen, wie sie schon angedeutet wurde. Ein Weg dahin sind die "unnützen Würfe", die "in Hinsicht auf das Gattungszier1 "vergänglich" und "wirkungslos" zu sein scheinen, es sei denn, es handle sich um "höhere" "Würfe", die dann eben doch zur "Erhöhung" des Menschen beitragen. Auch Spencer wird in diesem Zusammenhang kritisiert, und Nietzsche wirft ihm eine zu eingeschränkte Sicht des Problems vor: "Diese Verherrlicher der Selektions-Zweckmässigkeit (wie Spencer) glauben zu wissen, was begünstigende Umstände einer Entwicklung sind! und rechnen das Böse nicht dazu! Und was wäre denn ohne Furcht Neid Habsucht aus dem
317
In der "Morgenröthe" (Aph. 106: 3,185,25) werden sie etwa als "arbeitsame Ameisen" eingestuft. Auch Ottmann 1987, 297.
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Menschen geworden! Er existirte nicht mehr: und wenn man sich den reichsten edelsten und fruchtbarsten Menschen denkt, ohne Böses - so denkt man sich einen Widerspruch. Von allen Seiten wohlwollend behandelt und selber wohlwollend - da müsste ein Genie furchtbar leiden, denn alle seine Fruchtbarkeit will egoistisch sich von den Anderen nähren ... Kurz, wenn jetzt der Tugendhafte an der Stärke des Egoismus leidet, so dann an der Stärke des Altruismus: alles Thun wird ihm vergällt, weil es seinem Haupthange zuwiderläuft und ihm böse vorkommt." (9,457,7-20: F/H 1881: H/43/).
Das "Böse", hier der Egoismus der "Starken", darf also nicht aus der Reihe der die Entwicklung "begünstigenden Umstände" gestrichen werden. "Böse" ist dieser Egoismus nur in den Augen der "Altruisten", wie z.B. Spencers. Sein Altruismus begünstigt den "verkleinerten" Menschen. Nach Nietzsches Auffassung ist aber der Altruismus auch ein Egoismus, der des "Heerdenmenschen". In einem Fragment vom "Ursprung der Moral-Werthe", in dem er diese Frage eingehender behandelt, heißt es hierzu: "der Cultus des Altruismus ist eine spezifische Form des Egoismus, die unter bestimmten physiologischen Voraussetzungen regelmässig auftritt". (13,233,21-23: F 1888: 14/29/).
Die "Verherrlicher der Selektions-Zweckmässigkeit" sehen nach Nietzsches Auffassung zu kurz: sie räumen der Erhöhung des Menschen keinen Raum mehr ein. In dem Fragment über die "Verherrlicher der Selektionszweckmäßigkeit" zeigt Nietzsche aber auch einen Weg auf, wie "Umstände" geschaffen werden können, die auch heute eine "Erhöhung" des Menschen möglich machen sollen, wobei er wiederum polemisch darwinistisches Vokabular aufgreift, hier "Selektion" und "Umstände", die beide, wie wir sehen werden, in seinem, das heißt Nietzsches Sinn umgewertet werden - Nietzsche kennzeichnet damit seine Vorschläge offenbar als eine Art von Gegenprogramm zu Darwin - : "Übrigens könnte man als Individuum dem ungeheuer langsamen Process der Selektion zuvorkommen, in vielen Stücken und vorläufig [zwei Bedeutungen: GS] den Menschen in seinem Ziele zeigen - mein Ideal! [1] Die ungünstigen Umstände bei Seite thun, indem man sich bei Seite thut (Einsamkeit). [2] Auswahl der Einflüsse (Natur Bücher hohe Ereignisse) darüber nachzudenken. [3] Nur wohlwollende Gegner im Gedächtnisse behalten! [4] Selbständige Freunde!
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[5]
Alle tieferen Stufen der Menschheit aus seinem Gesichtskreis bannen! Oder sie nicht sehen und hören wollen! [6] Blindheit Taubheit des Weisen!" (9,457,28^58,5). Hier stellt Nietzsche wohl seine eigene Lebensführung dar! Seine Absicht ist es, dem "ungeheuer langsamen Process der Selektion zuvorzukommen", was wohl so zu verstehen ist, daß er nicht tatenlos auf die "Glückswüfe" warten will, von denen schon die Rede war. Er will selbst "Umstände" schaffen, in denen gerade diese eine größere Chance haben. Dies zeigt schon, daß er hier die Ausdrücke der Darwinisten in umgewerteter Bedeutung verwendet. So auch das Wort "Auswahl" (Selektion), das bei ihm nicht auf biologische Prozesse bezogen wird, sondern auf kulturelle und soziale. Er bezeichnet es als sein "Ideal", in einem solchen Vorgriff "den Menschen in seinem Ziele zu zeigen". "Der Mensch in seinem Ziele", das ist für Nietzsche der "erhöhte" Mensch, der diese "Erhöhung" nicht durch biologische Selektion, sondern durch die von ihm genannten kulturellen und sozialen Verfahren erreichen soll. Der erste Schritt besteht im Abstandnehmen, im auf Distanz gehen, bis hin zur persönlichen Einsamkeit. In einem noch zu erwähnenden Text spricht Nietzsche hier auch von "Isolation", was bei ihm "Abtrennung" bedeutet: "Einsamkeit". Der zweite Schritt zeigt die umfunktionierte Verwendung des Wortes "Auswahl". Es kommt darauf an, sich die geeignete "Natur" zu wählen, wobei für Nietzsche an seine stete Suche nach dem für ihn gedeihlichsten Klima zu denken ist. Des weiteren sind die "Bücher" und "hohe Ereignisse" auszuwählen, das heißt, Bücher und Ereignisse, in denen sich die Größe des Menschen darstellt. Wir erinnern uns, Nietzsche verbittet sich zum Beispiel die Zusendung antisemitischer Zeitschriften. Der dritte Schritt läßt erkennen, daß auch Nietzsche den Kampf zu den seiner Meinung nach günstigen "Umständen" rechnet. Jedoch denkt er dabei an den Kampf mit ebenbürtigen Gegnern, die "groß" und nicht nachtragend oder herabsetzend sind, also in diesem Sinne "wohlwollend". Wie er sich einen solchen "erhöhenden" Kampf vorstellt, hat er im "Ecce homo" in seiner "Kriegs-Praxis" dargestellt (6,274,22-275,9). Auch ist an sein Konzept des "Agon" zu denken. Der vierte Schritt spricht von Freunden, die "selbstständig"
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sind, die ein eigenes Urteil haben, so daß auch hier das Moment des Kampfes möglich ist.318 Der fünfte und sechste Schritt verweisen auf den ersten und zweiten. Wenn er hier von der "Blindheit" und "Taubheit des Weisen" spricht, so gibt sich daraus vielleicht eine gewisse Resignation zu erkennen, denn an anderer Stelle hatte Nietzsche ja gefordert, daß der "weiseste Mensch" offen ist für alle Widersprüche. Nietzsche stellt hier also sein 'alternatives' Programm einer 'Selektion' dar, das in der "Auswahl" der für die Erhöhung des Menschen geeigneten "Umstände" besteht. Die "Umstände" sind alle kultureller, sozialer und physiologischer Art, nicht jedoch biologischer! Nietzsche hat sich noch öfter zur Frage der "günstigsten Bedingungen" geäußert, wobei es ihm jedoch nicht um die "Gattungs-Zweckmässigkeit" geht, sondern um die "Erhöhung" des Typus Mensch. Din beschäftigt die Frage, "unter welchen Bedingungen die Pflanze 'Mensch' am kräftigsten in die Höhe wächst" (l 1,469,1-2).
Er macht sich die Antwort nicht einfach: mehrmals äußert er "Scepsis"; einmal fragt er sich sogar, ob in dieser Sache nicht noch alles offen sei; an anderer Stelle kommt er jedoch wieder zu einer bejahenden Antwort, die weitgehend den eben besprochenen sechs "Schritten" gleicht. "Scepsis" äußert er etwa in folgendem Fragment: "Könnten wir die günstigsten Bedingungen voraussehen, unter denen Wesen entstehen von höchstem Werthe! Es ist tausendmal zu complicirt, und die Wahrscheinlichkeit des Mißrathens sehr groß: so begeistert es nicht, danach zu streben! Scepsis." (11,181,6-10: S/H 1884: 26/117/).
Wir haben vom bei der Besprechung seiner "Neuen Rangordnung" schon gesehen, daß Nietzsche für die dort erwähnten Typen des "höheren Menschen" (Typen 6-9) ein mehr oder weniger starkes "Mißrathen" feststellt oder erwartet. Er ist sich also dessen bewußt, daß das Unternehmen der "Erhöhung" des Menschen mit großen Risiken verbunden ist.
318
Zu Nietzsches Begriff der Freundschaft vgl. Van Tongeren 1993/94; zu 'Agon' cf. Siemens 1998; zu Nietzsches 'Kriegspraxis" vgl. Schank 1993, 135 f.
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Auch in weiteren Fragmenten kommt Nietzsches "Scepsis" in dieser Frage zum Ausdruck (11,443,1-11: April/Juni 1885: 34/747; sowie 11,463,1-4: April/ Juni 1885: 34/125/). In einem etwas früheren Text sieht Nietzsche noch alle Fragen offen: "Auch könnte man sich fragen: sind die Guten für die Entwicklung neuer und starker Typen nützlicher oder die Bösen? Sind die Guten für die Erkenntniss nützlicher usw. Sind die Guten gesünder und ausdauernder, in Hinsicht auf Erhaltung einer Rasse? -Sind sie im Verhältniss zum Glück heiterer oder trübseliger? - Der äußerst vielfaltige, vielspältige Thatbestand erst hinzustellen. Sind die Künste nützlicher? Für die Dauer des menschlichen Geschlechts? Vor allem: was ist das Merkmal, daß Einer gut oder böse ist? Ist es ein Verhalten in sich? Oder zu Anderen?" (11,179,1-10: S/H 1884: 26/110/).
Der Text gibt keine Antwort. Erst ist der "Thatbestand" in seiner "Vielfältigkeit" und "Vielspältigkeit" "hinzustellen". Diese Bemerkung ist sehr aufschlußreich für Nietzsches Methode, immer wieder viele Fragen zu stellen und einen Sachverhalt nach allen Richtungen hin zu beleuchten, in einer Vielfalt der Antwortversuche, die das Herausfiltern einer Antwort oft sehr schwierig macht. Können Fragen mehr zur Erhellung eines Problems beitragen - als Antworten? Für Nietzsche scheint das in nicht geringen Maasse zuzutreffen. Und seine Antworten sind oft durch eine "doppelte Optik" gekennzeichnet, wie wir schon wiederholt gesehen haben. Und sie sind oft, vielleicht immer "versuchsweise" und vorläufig. Sie gelten nur so lange, bis eine neue Frage sich aufdrängt und sie wieder in Frage stellt. Daß Nietzsche sogar seine am entschiedendsten klingenden Antworten wieder in Frage stellt, haben wir schon in der Einleitung gesehen. Antworten sind nur Zwischenstationen auf dem Weg zur nächsten Frage. Auch wir versuchen hier Antworten auf die gestellten Fragen zu finden, aber es dürfte angebracht sein, Nietzsche nicht auf jeweils eine Antwort (-möglichkeit) festnageln zu wollen. Zumindest müssen wir uns dessen bewußt bleiben, daß Nietzsche bei jeder Äußerung, die nach Antwort aussieht, sich das Recht vorbehalten würde, eine neue Frage zu stellen. Die vorliegende Untersuchung versucht, die vielfache Fraglichkeit und Fragwürdigkeit ihrer "Antworten", auch aus Nietzsches Sicht, immer wieder anzudeuten. Gelingt dies, ist ein wichtiges Anliegen dieser Arbeit erreicht. Aber zurück zu unserer Frage der "Bedingungen" zur "Erhöhung" des Menschen.
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Zur Erhöhung des Menschen
Nach den Texten, in denen Nietzsche seine "Scepsis" zum Ausdruck brachte und alle Fragen für offen erklärte, gibt es wieder einen Text, in dem Nietzsche eine Antwort zu geben versucht: "Die Starken der Zukunft" (12,424: H 87: 9/153/). Auch hier wird erwogen, welche "Mittel" geeignet wären, den Menschen zu "erhöhen". Dabei setzt Nietzsche den Akzent nicht auf den "Nutzen" der bestehenden Gesellschaft, sondern auf den "zukünftigen Nutzen": "Bis jetzt hatte die 'Erziehung' den Nutzen der Gesellschaft im Auge: nicht den möglichsten Nutzen der Zukunft, sondern den Nutzen der gerade bestehenden Gesellschaft. 'Werkzeuge' für sie wollte man." (12,425,1-4).
Dieses Ziel der Erziehung ist aber nach Nietzsches Auffassung, gerade angesichts der "Verkleinerung des Menschen" (12,425,15), zu niedrig angesetzt. Es werden vielmehr Menschen benötigt, die "gerade ihren Überschuss darin" hätten, "worin die verkleinerte species schwach und schwächer würde (Wille, Verantwortlichkeit, Selbstgewissheit, Ziele-sich-setzen-können)." (12,425,17-20).
Gerade die "Verkleinerung des Menschen" mache die "Züchtung" einer solchen "stärkeren Rasse" notwendig (12, 425,15-17). Hier haben wir wieder ein Beispiel dafür, wie irreführend Nietzsches Sprachgebrauch für heutige Leser sein kann, denn der Kontext macht hinreichend deutlich, daß es hier nicht um "Rasse" im modernen Sinn gehen kann, sondern um einen Menschentyp, den Menschen, der willensstark, verantwortungsbewußt, selbstgewiß und urteilsfähig ist. Auch geht es nicht um "Züchtung" im biologischen Sinn, sondern um "Erziehung". Das wird deutlich, wenn wir die "Mittel" näher betrachten, die Nietzsche zur Erreichung des angedeuteten Ziels für geeignet hält: "Die Mittel wären die, welche die Geschichte lehrt: [1] die Isolation durch umgekehrte Erhaltungs-interessen als die durchschnittlichen heute sind; [2] [3] [4]
die Einübung in umgekehrten Werthschätzungen; die Distanz als Pathos; das freie Gewissen im heute Unterschätztesten und Verbotensten." (12, 425,21-26).
Dies sind allesamt keine biologischen Maßnahmen, sondern soziale und moralische. Sie ähneln in vielem den bereits besprochenen sechs Schritten, mit denen der Mensch, nach Nietzsches Auffassung, sein "Ziel" erreichen kann. (9, 457,30).
Erhöhung durch Züchtung?
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Es geht also auch hier um die "Erhöhung" des Menschen, und zwar durch Erziehung zu "Distanz" und aristokratischer Moral. Mit den Formulierungen "Wille, Verantwortlichkeit, Selbstgewissheit, Ziele-sich-setzen-können" wird der erhöhte, aristokratische Mensch beschrieben, der durch Erziehung wiedergewonnen werden soll, und nicht zuletzt auch deshalb, weil die "verkleinerten" Menschen ohne solche erhöhten Menschen in der Zukunft nicht auskommen würden. Der erhöhte Mensch soll also auch "im Dienst" des "verkleinerten" Menschen wiedergewonnen werden und Maßstäbe für eine weitere Erhöhung des Menschen setzen. Damit dürfte deutlich geworden sein, daß Nietzsche sich von den biologischen Konzepten und Verfahren der Schule Darwins nichts für eine Erhöhung des Menschen in seinem Sinne (Nietzsches) verspricht. Nur in metaphorischen Sinn und mit umgewerteter Bedeutung verwendet er gelegentlich darwinistische Vokabeln ('Selektion'/'Auswahl'), und er denkt dabei an die sozialen, kulturellen, physiologischen und moralischen "Umstände" und Bedingungen, "unter denen bisher die Pflanze Mensch am Kräftigsten" gewachsen ist, wobei er aber nicht die "Gattungszweckmässigkeit" im Auge hat, sondern die Erhöhung des Menschen. Das Wort "Züchtung" hat demgemäß in diesen Kontexten bei Nietzsche die Bedeutung "Erziehung". Nur durch "Erziehung" kann nach seiner Auffassung der Mensch "erhöht" werden. Daß Züchtung im biologischen Sinn für Nietzsche nicht von größerem Interesse gewesen sein kann, geht nicht zuletzt auch daraus hervor, daß er der "Erblichkeit" von erworbenen "Vortheilen" äußerst skeptisch gegenübersteht. So im "Anti-Darwin": "Man theilt der natürlichen Selektion zugleich langsame und unendliche Metamorphosen zu: man will glauben, daß jeder Vortheil sich vererbt und sich in nachfolgenden Geschlechtem immer stärker ausdrückt (während die Erblichkeit so capriciös ist...)" (13,315,24-28).
Nietzsche neigt sogar dazu, die "Erblichkeit", soweit sie funktioniert, als ein Hindernis für die Erziehung zu betrachten. Dies bringt er in Aphorismus 264 von "Jenseits von Gut und Böse" deutlich zum Ausdruck. So gehe der "PöbelTypus" von den Eltern auf die Kinder über, den er als "widrige Unenthaltsamkeit", "Winkel-Neid" und "plumpe Sich-Rechtgeberei" kennzeichnet (5,219,8-
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Zur Erhöhung des Menschen
9). Mit Hilfe selbst "der besten Erziehung und Bildung" könne man nur erreichen, "über eine solche Vererbung zu täuschen" (5,219,12-14). Daher könne in unserem Zeitalter "Erziehung" und "Bildung" nicht viel mehr als "Täuschung" sein (5,219,14-17). Die Erziehung des "Heerdenmenschen" stellt also an den Erzieher ganz besondere Anforderungen, will er die "Erblichkeit" des "Pöbel-Typus" durchbrechen und nicht auf der Stufe des Zudeckens und "Täuschens" stehenbleiben. Soweit ich sehe, hat Nietzsche zur Lösung dieses Problems keine weiteren Hinweise gegeben. Nietzsche scheint sich in Fragen der "Erblichkeit" Schopenhauer anzuschließen. (Vgl. KSB 2,321 und 2,331). Wir stellen nun noch einmal kurz die Ergebnisse zusammen, die sich bei der Erörterung des Fragenkreises "Erhöhung durch Züchtung" ergeben haben: Das Wort "züchten" (und seine Ableitungen) verweist in den besprochenen Kontexten immer auf "erziehen" und "erzieherische" Maßnahmen, wozu auch "Bildung" und Schule/Lehre gerechnet werden können. Nur bei der Besprechung des "Gesetzbuches" des Manu könnte das Wort "züchten" auch eine biologische Komponente haben. Die "Verfügungen" des Manu lehnt Nietzsche aber klar und deutlich ab. Die christliche Religion und Moral befördert zwar zunächst eher die "Verkleinerung" des Menschen, kann aber, wenn sie in die neu zu gewinnende umfänglichere Synthese des Menschen aufgenommen wird, zur Erhöhung des Menschen beitragen. Auch die aristokratische Moral kann hierzu wichtige Beiträge liefern. Beide Moralen bedienen sich erzieherischer Mittel. Das "Gesetzbuch" des Manu und seine "arische Humanität", die auf Verfahren des Züchtens im modernen Sinn abzielen, kann hingegen keinen Beitrag zur Erhöhung des Menschen liefern. So lautet jedenfalls Nietzsches abschüeßendes Urteil über Manu, über dessen "Gesetzbuch", wie wir vorn schon sahen, er sich anfänglich eher zustimmend geäußert hatte, um jedoch bald zu entschiedener Kritik überzugehen, so vor allem in GD (6,100-102). Ebensowenig erwartet Nietzsche von den Konzepten und Verfahren der Schule Darwins etwas für die Erhöhung des Menschen, da sie nur die "Gattungs-Zweckmässigkeit" im Auge haben.
Erhöhung durch Erziehung
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Damit ergibt sich, daß Projekte, die der biologischen Komponente einen Raum einräumen, nach Nietzsches Auffassung keinen Beitrag zu einer Erhöhung des Menschen erbringen können, zu einer Erhöhung, wie er sie versteht, und wie sie im Vorhergehenden angedeutet wurde. Nur Erziehung und erzieherische Maßnahmen sind nach seiner Auffassung zu einer solchen Erhöhung in der Lage. Wir haben im Vorhergehenden schon in Ansätzen gesehen, wie er sich ein solches erzieherisches Altemativprogramm zur Schule Darwins vorstellt. Darauf ist im folgenden Abschnitt nun noch näher einzugehen.
Erhöhung durch Erziehung
Wir wollen jetzt versuchen, Nietzsches Projekt einer Erhöhung des Menschen durch Erziehung zumindest in den Umrissen zu skizzieren. Es kann nicht darum gehen, diese Thematik hier in größerer Ausführlichkeit entfalten zu wollen.319 Die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung besteht darin zu prüfen, inwiefern in Nietzsches Denken "Rassen" und "züchten" im modernen Sinn eine Rolle spielen. Die Untersuchung ergab, daß dies verneint werden kann, und daß stattdessen bei Nietzsche Menschentypen und ihre Erhöhung durch Erziehung im Mittelpunkt stehen. Bei der Prüfung und Zurückweisung der Hauptfrage dieser Untersuchung ergab sich zugleich der Befund der Erhöhung des Menschen durch Erziehung. Diesen Befund, diese These gilt es nun noch zu untermauern. Nach Nietzsches Auffassung hat in der modernen Zeit der "Heerdenmensch" die 'Herrschaft' übernommen: der "verkleinerte" Mensch setzt nun die Maßstäbe, der Raum für die Entfaltung der "Größe" des Menschen, zu der dieser nach Nietzsches Auffassung fähig und bestimmt ist, wird dadurch verstellt. In mehreren Fragmenten des späten Nachlasses greift Nietzsche dieses Problem auf und fordert eine Erhöhung, eine Wieder-Erhöhung des
319
Dazu etwa Havenstein 1922.
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Zur Erhöhung des Menschen
Menschen, zumindest eines Teils, der dann für die anderen wieder neue Maßstäbe und neue Entfaltungsspielräume aufzeigen kann. In Fragment 11/31 (13,17-18: Nov. 87/März 88) wird die Befürchtung ausgesprochen, daß der "zukünftige Europäer" "ein kosmopolitisches Affektund Intelligenzen-Chaos" sei (13,17,10-24). Und die Frage gestellt: "Wie möchte sich aus ihm eine stärkere Art herausheben?" (13,17,24-25). Der Wille muß also wieder gestärkt werden und eine neue "Synthese" gewonnen werden. In Fragment 15/13/ (13,412-4: Frühj. 88) fordert Nietzsche zum Kampf gegen die "decadence" auf. Der Mensch sei "verdorben": "Die Rasse [die menschliche Rasse] ist verdorben - nicht durch ihre Laster [wie Gobineau meinte: GS], sondern ihre Ignoranz: sie ist verdorben, weil sie die Erschöpfung nicht als Erschöpfung verstand: die physiologischen Verwechslungen sind die Ursache alles Übels [weil] ihr Instinkt durch die Erschöpften verleitet wurde, ihr Bestes zu verbergen und das Schwergewicht zu verlieren... Hinunter stürzen - das Leben verneinen - das sollte auch als Aufgang, als Verklärung, als Vergöttlichung empfunden werden" (13,413,5-12).
Hier ist wieder der asketische Priester gemeint, der das "physiologische Hemmungsgefühl", unter dem die Europäer leiden, an der falschen Stelle zu heilen versuchte. Fehlendes Wissen, "Ignoranz", nicht die "Laster" haben den Menschen schwach gemacht (Sokrates läßt grüßen). Der "philosophische Arzt" muß hier als Lehrer Abhilfe schaffen. Der Verlust des "Schwergewichts" könnte eine Anspielung auf die Lehre von der "ewigen Wiederkehr" sein (über die noch zu sprechen sein wird): sie kann dem Menschen die nötige "Erdenschwere", und das heißt, die Bejahung des Lebens, geben. Hier wird zugleich deutlich, daß sich der philosophische "Lehrer" in nicht geringem Maße als "Gegenspieler" des asketischen Priesters zu verstehen scheint. Die physiologische Basis des Menschen, der Leib, muß wieder gesunden: "Der Rest folgt daraus" (13,638,26). So formuliert Nietzsche sein Programm in einem dritten Fragment (13,637-8: 25/17: Dez. 88/Anf. Jan. 89), das den Titel "Die große Politik" trägt. Es geht hier um seine "große Politik", die er der imperialistischen nationalistischen "großen Politik" der Hohenzollern entgegenstellt. Nietzsche will den "Krieg" bringen, aber nicht "zwischen Volk und Volk", und auch nicht "zwischen Ständen" (13,637,2-7). Er bringe vielmehr den "Krieg" "quer durch alle absurden Zufälle von Volk, Stand, Rasse, Beruf, Erziehung, Bildung" (13,637,13-14).
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Es geht ihm also um den Menschen! Und wofür will er kämpfen? Dafür, daß "alle nächstwichtigen Fragen, in der Ernährung, der Kleidung, der Kost, der Gesundhat, der Fortpflanzung mit Strenge, mit Ernst, mit Rechtschaffenheit behandelt werden." (13,638,5-8).
Es geht ihm also um "Physiologie", um den Leib. Seine "große Politik" will "die Physiologie [wieder] zur Herrin über alle anderen Fragen machen". (13,638,910). Zweifellos denkt Nietzsche hier an das griechische Vorbild, bei dem nach seiner Auffassung der gesunde Leib die Grundlage der vornehmen Kultur bildete. Nietzsche fährt fort: die "große Politik" "will eine Macht schaffen, stark genug, die Menschheit als Ganzes und Höheres zu züchten, mit schonungsloser Härte gegen alles Entartende und Parasitische am Leben,- gegen das, was verdirbt, vergiftet, verleumdet, zu Grunde richtet... und in der Vernichtung des Lebens das Abzeichen einer höheren Art Seelen sieht." (13,638,10-15). Das klingt sehr hart. Sehen wir uns die einzelnen Formuüemngen an. Zunächst einmal geht es um die "Menschheit als Ganzes", also nicht um "Rassen" im modernen Sinn. Mit der "Macht", die geschaffen werden soll, könnte eine "Lehre" gemeint sein. Wir werden gleich sehen, daß es sich dabei wohl um die Lehre von der "ewigen Wiederkehr" handeln könnte. Diese Lehre verfolgt aber vor allem den Zweck, den Menschen zu erziehen, sodaß das Wort "züchten" auch hier als "erziehen" verstanden werden kann. Der Rest des Zitates zielt ab auf andere Lehren, auf Lehren, die nach Nietzsches Auffassung den Menschen schwach und krank machen, und die in einer solchen "Vernichtung des Lebens" noch "das Abzeichen einer höheren Art" sehen wollen. Dies richtet sich wiederum gegen das asketische Ideal des asketischen Priesters, wie wir gleich noch näher sehen werden. Wenn wir das Zitat seiner 'martialischen' Rhetorik entkleiden, dann ergibt sich, daß es um eine neue Lehre geht, die den Menschen erziehen und erhöhen soll, und die die bisher herrschenden lebensverneinenden Lehren ersetzen soll. Seine neue Lehre richtet sich gegen den "christlichen Priester", der die "Widematur lehrt" (13,638,17-18). Der Lehre der angeblichen Lebensverneinung will Nietzsche eine Lehre entgegenstellen, die zur Bejahung des Lebens erziehen kann. In diesem Sinn ist dann auch die Formulierung von der "Partei des Lebens" zu verstehen, die Nietzsche schaffen will:
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die "große Politik" will "eine Partei des Lebens schaffen, stark genug zur großen Politik: die große Politik macht die Physiologie zur Herrin über alle anderen Fragen..." (13,638,19-21).
Die Formulierung von der "Partei des Lebens" hat zu Mißverständnissen Anlaß gegeben, insbesondere wenn sie diskutiert wird, ohne daß dabei die Lehre von der "ewigen Wiederkehr" explizit zum Thema gemacht wird, wie das bei Nolte geschieht.320 Nolte überschreibt ein Kapitel "Das Vernichtungskonzept und die 'Partei des Lebens'".321 Wenn man die Lehre von der "ewigen Wiederkehr", auf die Nietzsche auch in seinen letzten Texten wiederholt hinweist, einbezieht, wird deutlich, daß es ihm in allererster Linie um "Erziehung" geht und um "Heilung", indem er die Physiologie zur "Herrin" machen will. Also letztlich um die Anwendung eines griechischen Konzeptes auf die heutige Zeit. Sein physiologisches Programm zielt auf Heilung von Krankheit. Dies darf und kann nicht mit "Züchtung" verwechselt werden. Der Arzt ist ein "Heiler", kein "Züchter". Beiden Konzepten liegen völlig unterschiedliche Prämissen zugrunde. Die für das "Züchten" erforderlichen Prämissen fehlen bei Nietzsche. Die "Partei des Lebens" meint diejenigen, die den heutigen Menschen mit erzieherischen Mitteln, die auf Seele, Moral und Physiologie zielen, heilen und dadurch erhöhen wollen. Von "vernichten" ist, wie wir noch sehen werden, in der Tat die Rede. Dabei handelt es sich aber meist nicht um ein aktives Tun der "Partei des Lebens", sondern eher um ein Geschehenlassen: die Anhänger etwa "pessimistischer Denkweisen" gehen an diesen "Denkweisen" selbst zugrunde: diese "Denkweisen" "vernichten" ihre Anhänger, ohne daß die "Partei des Lebens" etwas hinzutun müßte. Wir kommen auf diesen Fragenkreis noch ausfuhrlich zurück. Nietzsche will mit seiner "großen Politik" den "Leib" wieder gesund machen: "Der Rest folgt daraus." (13,638,26). Dies ist der letzte Satz dieses Fragments. Er spielt auf seine Auffassung an, daß Religion und Moral
320 321
Nolte 1990, 190-196. Nolte 1990, 190.
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"Zeichensprachen" des physiologischen Zustandes des Menschen sind, wie schon eingehender erörtert wurde. Wird der "Leib" geheilt, dann stellen sich, seiner Auffassung nach, - wie bei den Griechen - lebensbejahende Moralen als "Zeichensprachen" ein. Daß Nietzsches "große Politik" ausdrücklich nicht machtbezogen, nationalistisch oder imperialistisch ist, geht aus zwei weiteren Fragmenten hervor, in denen er mit den Hohenzollem und Bismarck scharf abrechnet (13,643-44: 25/131: Dez. 88/Anf. Jan. 89 sowie 13,644: 25/147: gleiche Zeit). Im ersten Fragment wirft Nietzsche den Hohenzollem vor, sie hätten "seit Friedrichs des Grossen Tagen" nichts getan als "gestohlen", womit wohl die Annexion polnischer Gebiete gemeint ist, und die "fluchwürdige 'Drachensaat' des Nationalismus zwischen den Völkern" gesät. (13,643,9-18). Bismarck, dem "Idiot par excellence unter allen Staatsmännern" wirft er den "kurzen Blick" vor: er hat "nie eine Handbreit über die Dynastie Hohenzollem hinausgedacht" (13,643,22-24). Dies ist Nietzsches schärfster Vorwurf, denn vom "großen" Menschen verlangt er ja ein "Tastorgan für alle Arten Mensch", das heißt ein Hinausblicken über die eigenen Landesgrenzen. Wer nationalistisch beschränkt denkt, kann kein "großer" Staatsmann sein. Im direkt folgenden Fragment wirft Nietzsche den Hohenzollem Geldverschwendung ("jährlich 12 Milliarden") für "hirnverbrannte Kriege" vor (13, 644, l =4) j und Bismarck habe "zu Gunsten seiner Hauspolitik alle Voraussetzungen für große Aufgaben, für welthistorische Zwecke, für eine edlere und feinere Geistigkeit... vernichtet." (13,644,5-8).
Die Deutschen seien "verhohenzollert bis zum Haß gegen Geist und Freiheit." (13,644,10-11). Nietzsche geht es also um eine Lehre, die heilend ("Physiologie") und erziehend wirken soll und die sich an alle Menschen richtet, jenseits von Volk, Stand etc. Ziel dieser Erziehung ist die Erhöhung des Menschen, die in diesen Fragmenten zwar nicht im einzelnen beschrieben wird, die aber auch hier in größerer Umfänglichkeit und Synthese bestehen dürfte, wie die Kritik an der "Beschränktheit" Bismarcks und am "Affekt- und Intelligenzen-Chaos" des zukünftigen Europäers zeigt.
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Nietzsche versteht seine Rolle als die eines Arztes und Lehrers. Die Menschen sind durch ihre "Ignoranz" schwach geworden (13,413,6): diese muß durch eine Lehre behoben werden. Auch der Gewinn politischer Macht, wie sie das deutsche Reich unter Bismarck gewonnen hat, bedeutet noch keine Überwindung des Schwächezustandes des Menschen: wenn diese Macht "nicht auf einen Gedanken gestellt" ist: "Einem, dem daran gelegen ist, unter welchen Bedingungen die Pflanze 'Mensch' am Kräftigsten in die Höhe wächst,- einem solchermassen Beschäftigten ist das Erscheinen einer neuen politischen Macht, falls sie nicht auf einen Gedanken sich stellt, noch kein Ereigniss..." (11,469,1-5).
Der Gewinn politischer Macht bringt keine Erhöhung des Menschen. Zur Erhöhung des Menschen wird ein "Gedanke", eine Lehre benötigt. In einem Fragment vom Sommer/Herbst 1884 (KSA 11,250: 26/376/) gibt Nietzsche eine erste Andeutung einer solchen Lehre: "Meine Philosophie bringt den siegreichen Gedanken, an welchem zuletzt jede andere Denkweise zu Grunde geht. Es ist der große züchtende Gedanke: die Rassen, welche ihn nicht ertragen, sind verurtheilt; die, welche ihn als größte Wohlthat empfinden, sind zur Herrschaft ausersehn." (11,250,4-8).
Gemeint ist hier wohl der "Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen" (KSA-Kommentar 706). Dieser "Gedanke" will aber erziehend wirken, so daß das Wort "züchten" wieder "erziehen" bedeutet. Das Wort "Rassen" hat hier eine ganz vage Bedeutung, es kann "Völker", aber auch "Menschen" ganz allgemein bedeuten. Auf die Lehre von der "ewigen Wiederkehr" ist gleich näher einzugehen. Zuvor wollen wir aber prüfen, wie Nietzsche die "anderen Denkweisen" im einzelnen einschätzt, die seiner Auffassung nach am "Gedanken der ewigen Wiederkehr" zugrunde gehen. Nietzsche bespricht diese "anderen Lehren" in seinen Fragmenten und bewertet sie im Hinblick auf die von ihm gesuchte erzieherische Wirkung. Es handelt sich dabei um die folgenden "Denkweisen": (1) "alle Lehren, welche ein Ende, eine Ruhe, einen 'Sabbat aller Sabbate' ins Auge fassen" (11,450,1-2)
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(2) die "pessimistische Denkweise und Lehre" (11,547,1) (3) die Lehre vom "Socialismus" (l 1,586,1). Diese "Lehren" werden von Nietzsche einerseits abgelehnt, da sie zur "Verkleinerung" des Menschen beitragen können. Sie werden andrerseits aber insofern bejaht, als sie zum "Sieg" der Lehre von der "ewigen Wiederkehr" beitragen können, und zwar dadurch, daß sie gewissermassen Platz schaffen können für deren Ausbreitung. Jedoch verhält sich der Sachverhalt noch komplizierter, wie die Erörterung der folgenden Fragmente zeigen wird. Zu (1) heißt es (Fragm. 34/90/: 11,449-50: Apr./Juni 85): "Ich bin feindselig... gegen alle Lehren, welche ein Ende, eine Ruhe, einen 'Sabbat aller Sabbate' ins Auge fassen. Solche Denkweisen kennzeichnen gährende, leidende, oft auch absterbende Rassen, z.B. solche Verse, wie bei Richard Wagners 'Nibelungen'". (11,449,23 und 11,450,1^).
Mit den "absterbenden Rassen" ist hier ein Menschentyp gemeint: die Menschen des Ressentiment. In der "Genealogie der Moral" beschreibt Nietzsche etwas näher das Glück, dem diese Menschen als ihrem "Sabbat" zustreben. Vorher ist vom "Glück" der aristokratischen Menschen die Rede, bei denen "das Thätigsein... mit Nothwendigkeit in's Glück hineingerechnet" wird: "Alles sehr im Gegensatz zu dem 'Glück' auf der Stufe der Ohnmächtigen, Gedrückten, an giftigen und feindseligen Gefühlen Schwärenden, bei denen es wesentlich als Narcose, Betäubung, Ruhe, Frieden, 'Sabbat', Gemüths-Ausspannung und Gliederstrecken, kurz passivisch auftritt." (5,272,18-25).
Aus den vorhergehenden Erörterungen wissen wir, daß der starke Mensch "sich nicht gehen lässt", er hält die Spannungen in seiner Seele aufrecht, er achtet darauf, daß die Affekte sich nicht gegen ihn selbst wenden, sondern in einer "Thätigkeit" nach außen ihren Ausdruck finden. Eine Lehre, die statt dessen die "Ruhe", das Aufgeben der Spannungen lehrt, verschließt den Weg zur Erhöhung des Menschen. Nietzsche denkt hier wohl an die christliche Religion, an einer Stelle wird auch die Lehre des "Altruismus" genannt. Sie können nicht, nach Nietzsches Auffassung, zur Erhöhung beitragen (was er an anderer Stelle jedoch auf längere Sicht gesehen und als ein Baustein zum Umfänglicherwerden des Menschen, durchaus zugesteht). Nietzsche verkennt aber nicht, daß die ge-
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nannten Lehren einen gewissen Wert haben für die Gesellschaft, und zwar zur "Niederhaltung des Egoism": "Eine Lehre und Religion der 'Liebe', der Niederhaltung der Selbstbejahung, des Duldens, Tragens, Helfens, der Gegenseitigkeit in That und Wort kann... vom höchsten Werthe sein...: denn sie hält die Gefühle der Rivalität, des ressentiment, des Neides nieder, die allzu natürlichen Gefühle der Schlechtweggekommenen,- sie vergöttlicht ihnen selbst unter dem Ideal der Demuth und des Gehorsams das Sklave-sein, das Beherrschtwerden, das Armsein, das Kranksein, das Untenstehn." (13,232, 6-14).
Die genannten Lehren machen also das Leben in der Gesellschaft, wie sie ist, friedlicher, aber sie tragen zur Erhaltung des "verkleinerten" Menschen bei, nicht zu seiner Erhöhung. Nietzsche weist noch darauf hin, daß die genannten Lehren gerade wegen ihres friedenstiftenden Charakters von den "herrschenden Classen oder Rassen" stets "aufrecht erhalten" worden sind (13,232,15-18). Er läßt aber hier offen, ob er dies selbst billigt oder ablehnt. In einem etwas früheren Fragment "Wie auch die 'Herren' Christen werden können" (12,568-9: H 87: 10/188/) betont Nietzsche, daß das "christliche Ideal" auch auf die Starken eine große "Verführungskraft" ausüben kann: "Es kommt hinzu, daß die Verführungskraft des christlichen Ideals am stärksten vielleicht auf solche Naturen wirkt, welche die Gefahr, das Abenteuer und das Gegensätzliche lieben, welche alles lieben, wobei sie sich riskiren, wobei aber ein non plus ultra von Machtgefühl erreicht werden kann. Man denke sich die heilige Theresa, inmitten der heroischen Instinkte ihrer Brüder: - das Christenthum erscheint da als eine Form der Willens-Ausschweifung, der Willensstärke, als eine Don Quixoterie des Heroismus..." (12, 569,13-22).
Das "Christenthum" ist also auch denkbar als eine "Form" der "Willenstärke", als eine Herausforderung für die Starken, die "sich riskiren". Und so findet es seine uneingeschränkte Bewunderung. Wir müssen also mehrere Fragmente zusammen sehen, wenn wir Nietzsches differenzierte und differenzierende Bewertung der christlichen Religion kennenlernen wollen. Er steht ihr zwar mit Vorbehalten gegenüber - sie kann die Menschen des Ressentiment nicht erhöhen -, aber sie kann den Starken
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einen weiteren Weg zu einer zusätzlichen Erhöhung und zu einem Umfänglicherwerden zeigen. Die christliche Lehre kann zwar demnach, da die von Nietzsche gesuchte Lehre eine Erhöhung des verkleinerten Menschen anstrebt, nicht Teil dieser Lehre ausmachen. Denn als Lehre der "Ruhe" und der "Liebe" verleitet die christliche Lehre die verkleinerten Menschen eher zum 'Sich-gehen-lassen' und zur Beibehaltung der "Gefühle... des ressentiment" (so die eben zitierten Texte 5,272, 18 f. und 13,232,6 f.). Die christliche Lehre kann aber für die "Herren", das heißt für die Willensstarken, eine große "Verruhrungskraft" besitzen, das heißt eine neue Möglichkeit eröffnen, ihre Willenskraft zu erproben und ihr "Machtgefühl" zu steigern: als Herausforderung, "wobei sie sich riskiren" können (Oben Text 12,568-9). Die christliche Lehre wird dann als 'GegensatzIdeal' in die neue Synthese mit aufgenommen, als Ideal, das als würdiger Gegner in den Agon der "Starken" einbezogen werden kann. Die "Liebe" der christlichen Lehre könnte sich zum Beispiel auch mit der Achtung und Ehrfurcht verbinden, die der Starke einem würdigen Gegner, nach Nietzsches Auffassung, entgegen bringen soll. Die christliche Lehre kann demnach zwar nichts zur Erhöhung des Menschen in Nietzsches Sinn beitragen. Sie kann aber für den 'erhöhten' Menschen ein würdiger 'Gegenspieler' sein. Eine Synthese wird sichtbar, die auch das "christliche Ideal" einschließt. Nietzsches Erziehungs- und Erhöhungsprogramm ist offensichtlich reicher und vielfältiger, als gerade die apodiktisch formulierten Texte dies nahezulegen scheinen, wie etwa der vorher zitierte Text (11,250,4-8), der nur die Lehre von der "ewigen Wiederkehr" als "allein seligmachende Lehre" hinstellt. Gerade die apodiktischen Texte sind mit jenen Vorbehalten zu lesen, die Nietzsche selbst in anderen konkurrierenden Texten anmeldet! In den apodiktischen Texten wird Nietzsche der Komplexität seines eigenen Denkens offenbar selbst am wenigsten gerecht. (2) Auch die "pessimistischen Denkweisen" erfahren bei Nietzsche eine doppelte Bewertung. In einem Fragment beschreibt er sie als jene "Denkweisen", an denen ihre Anhänger selbst zugrunde gehen: "Gesetzt, man erwartet immer das Böse, die unangenehme Überraschung, so ist man immer in feindseliger Spannung, wird für Andere unerträglich und leidet selber an der Gesundheit: solche Naturen sterben aus. Im Ganzen sind nur die
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zufriedeneren und hoffnungsreicheren Rassen am Leben geblieben.- Wer immer Schlimmes erwartet, wird böse, nämlich feindselig argwöhnisch unruhig; dies ist die Wirkung pessimistischer Denkweisen." (9,59: F 80: 3/46/).
Es geht hier wohl um den Pessimismus der "Schwäche" und der Schwachen, der die "Gesundheit" untergräbt und zerstört. Diese "Pessimisten" gehen an ihrer eigenen "Denkweise" zugrunde, da sie ihnen keine lebensbejahende Haltung erlaubt. "Zufriedenere und hoffnungsreichere" Völker bleiben hingegen am Leben. Das Bejahen des Lebens erhöht die Lebenskraft. "Denkweise" und Gesundheit stehen in Wechselbeziehung und befördern sich wechselseitig. Hier wird deutlich, wie wichtig in Nietzsches Augen eine lebensbejahende Lehre für die Gesundheit und die Lebenskraft ist. Es sei noch einmal darauf hingewiesen, daß in diesem Fragment wohl vom "Aussterben" "solcher Naturen", also der Anhänger solcher "pessimistischer Denkweisen" die Rede ist. Dieses "Aussterben" ist aber ein "Sterben" an sich selbst, also nicht bewirkt oder befördert von einer "Partei des Lebens". Diese wird eher versuchen, mit ihrer Lehre der "ewigen Wiederkehr" ein solches "Aussterben" zu verhindern oder gegebenenfalls, sollten die "Pessimisten" unbelehrbar sein, diesem Sterben hilflos zusehen müssen. Zumindest in diesem Text wird also keine "aktive Sterbehilfe" oder gar "Vernichtung" befürwortet. Es gibt aber auch Texte, die in dieser Frage nicht so eindeutig sind. Darauf ist noch einzugehen. In einem späteren Fragment erwägt Nietzsche jedoch, inwiefern der "Philosoph" eine "pessimistische Denkweise" als Werkzeug im Dienste der Schaffung einer "neuen Ordnung des Lebens" einsetzen könne (11,547: Mai/ Juli 85: 35/827): "Eine pessimistische Denkweise und Lehre ein ekstatischer Nihilismus kann unter Umständen gerade dem Philosophen unentbehrlich sein: als ein mächtiger Druck und Hammer, mit dem er entartende und absterbende Rassen zerbricht und aus dem Wege schafft, für eine neue Ordnung des Lebens Bahn zu machen oder um dem, was entartet und absterben will, das Verlangen zum Ende einzugeben." (11,547,1-7).
Immerhin werden auch hier Vorbehalte eingebaut: "unter Umständen" "kann" eine solche Lehre dem Philosophen "unentbehrlich" sein. Diese "Umstände" werden aber nicht näher expliziert, es sei denn, die darauf folgenden Spezifikationen sind als solche "Umstände" zu werten. Also dann, wenn man
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es mit "absterbenden Rassen" zu tun hat, oder "mit dem, was absterben will". Dies dürfte wieder auf jene zielen, die von sich aus nicht mehr den Willen zum Leben haben, denen das Bejahen des Lebens schwerfallt, etwa die Menschen des Ressentiment. Hier fehlt also bei Nietzsche der Wille zu helfen, es ist sogar eine gewisse Bereitschaft festzustellen, das "Absterben" dieser Menschen "unter Umständen" zu beschleunigen. Zweifellos wird damit ein Punkt erreicht, an dem wir heute in jedem Fall Nein sagen müssen. Wenn Menschen durch eine selbstgewählte "Pessimistische Denkweise" zu einer Verneinung des Lebens gelangen, so ist daran vielleicht nicht viel zu ändern. Die gezielte Verwendung einer solchen Denkweise zum Zwecke der Verstärkung einer solchen lebensverneinenden Einstellung können wir jedoch nicht nachvollziehen. (3) Als dritte Lehre, die Nietzsche im Rahmen seines Erziehungsprogramms auf ihren diesbezüglichen Wert hin befragt, ist der "Socialismus" zu nennen. Er wird zwar als Lehre der "Verneinung des Lebens" abgelehnt, dennoch wird ihm aber ein gewisser erzieherischer Wert zuerkannt. Im Fragment (11,586-7: Juni/Juli 85: 37/11/) geht Nietzsche auf den "Socialismus" ein: "In der Lehre des Socialismus versteckt sich schlecht ein 'Wille zur Verneinung des Lebens'; es müssen mißrathene Menschen oder Racen sein welche eine solche Lehre ausdenken." (11,586,31-587,1). Die "Mißrathenheit" verweist zunächst wieder auf eine geschwächte physiologische Basis und eine daraus folgende Schwächung der Kräfte und des Willens, so daß diese Menschen nicht mehr die Kraft haben, sich auf sich selbst zu stellen, "sich selbst Ziele zu setzen", sondern es vielmehr vorziehen, in der "Heerde" Zuflucht zu suchen. Der "Heerdenmensch" hat sich dazu u.a. die Lehre des "Socialismus" "ausgedacht". Sie ist Ausdruck, "Zeichensprache" seiner "Willenslähmung". Nietzsche scheint jedoch im "Socialismus" auch noch einen Rest von Spannung und Willen zum "Kampf auffinden zu können, denn er stellt ihn über jene Lehren, die nur noch die "Ruhe" anstreben. Von daher kommt er schließlich zu einer, wenn auch vorbehaltlichen, positiven Einschätzung der erzieherischen Potentiale des "Socialismus":
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Zur Erhöhung des Menschen
"Immerhin, schon als unruhiger Maulwurf unter dem Boden einer in Dummheit rollenden Gesellschaft wird der Socialismus etwas Nützliches und Heilsames sein können: (a) er verzögert den 'Frieden auf Erden' und die gänzliche Vergutmüthigung des demokratischen Heerdenthieres, (b) er zwingt die Europäer, Geist, nämlich List und Vorsicht übrig zu behalten, den männlichen und kriegerischen Tugenden nicht gänzlich abzuschwören und einen Rest von Geist, von Klarheit, Trockenheit und Kälte des Geistes übrig zu behalten, (c) er schützt Europa einstweilen vor dem ihm drohenden marasmus femininus." (11,587,9-18. Aufteilung des Textes von GS).
Im "Socialismus" findet Nietzsche noch ein Element des Kampfes wieder, der es verhindert, daß der Mensch sich gänzlich dem "Ausruhen" ("Frieden auf Erden") hingibt, wie das seiner Meinung nach die christliche Lehre anstrebt. Die "Vergutmüthigung des demokratischen Menschen" werde dadurch zumindest "verzögert". Das Wort "gutmüthig" verweist auf den Menschen, der zum "Sklaven" wird, indem er die "gut/böse"-Moral vollständig übernimmt (5,208,25ff). Nietzsche sieht hier also im "Socialismus" einen Verbündeten in seinem Kampf gegen diese Moral. Dies wird in der Nietzsche-Forschung weithin übersehen. Auch im weiteren Text wird das kämpferische Moment betont: die "männlichen und kriegerischen Tugenden", zu denen der "Socialismus" den Europäer zwinge. Der "Socialismus" ist also "heilsam" für Europa, da er Europa zum Kampf - gegen den "Socialismus"? - zwingt. Der "Socialismus" wird hier also immerhin als "Gegner" begrüßt. Nietzsche steht also insofern auf der Seite des "Socialismus", als dieser den Agon in Europa in Gang hält. Auch hier kommt wieder die "doppelte Optik" Nietzsches zum Vorschein: der "Socialismus" ist Verbündeter und Gegner Nietzsches in seinem Kampf für die Erhöhung des Europäers. Die drei Lehren werden also von Nietzsche abwägend beurteilt: sie entsprechen zwar nicht der Lehre, der er den Vorzug für eine Erhöhung des Menschen geben will, aber sie können in unterschiedlicher Weise zu dem von ihm ins Auge gefassten Projekt beitragen: die christliche Lehre kann auf längere Sicht dazu beitragen, daß die neu zu gewinnende Synthese an Umfänglichkeit gewinnt. Die "pessimistische Denkweise" befördert das "Absterben" jener, die sich selbst durch diese Denkweise krank und lebensverneinend
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machen. Der "Socialismus" trägt zur Erhaltung des kämpferischen Elements in Europa bei und verhindert damit ein Absinken in das "Ausruhen" und "Gliederstrecken". (5,272,18-25). Obwohl also Nietzsche einerseits überzeugt zu sein scheint, daß an seinem "siegreichen Gedanken" alle anderen Denkweisen zugrunde gehen werden (11, 250,4-8), nimmt er, wie die kurze Erörterung der drei anderen Lehren zeigt, einen gewissen Pluralismus der Lehren durchaus in Kauf. Ja er betrachtet die Vielzahl der Lehren sogar als Bereicherung: sie können zur Bereicherung der anzustrebenden Synthese beitragen; ihr Wettkampf verhindert das Absinken in die "Ruhe", dem für die Erhöhung ungünstigsten Zustand, da in ihm alle Spannung fehlt, die Voraussetzung ist für Erhöhung; ("Kampf ist die "Mutter" der aristokratischen Moral, wie Aphorismus 262 von "Jenseits von Gut und Böse" deutlich macht); sie schaffen Raum für seine Lehre von der "ewigen Wiederkehr". Nietzsche weist in einem Fragment (11,489-90: April/Juni 85: 34/204/) selbst darauf hin, daß er nicht bereit sei, auf eine dieser Lehren "zu verzichten", nicht auf die "lebensfeindlichen", und nicht auf seine "weltbejahendste" Lehre von der "ewigen Wiederkehr". (11,490,13-14). Den "Pessimismus" habe er selbst "in die Tiefe" gedacht, um ihn aus der "halb christlichen, halb deutschen Enge und Einfalt zu erlösen, in der er mir, in Metaphysik Schopenhauers, zuerst entgegentrat" (11,489,19-22). Dadurch habe er erreicht, "daß der Mensch dieser Denkweise durch den höchsten Ausdruck des Pessimismus gewachsen" sei (11,489,22-24). Nietzsche nimmt also für sich in Anspruch, durch seinen Pessimismus der Stärke den Menschen gestärkt zu haben, im Unterschied zu dem oben zitierten Text, wo erwogen wird, den Pessimismus, und zwar den Pessimismus der Schwäche, zur Beschleunigung des "Absterbens" seiner Anhänger einzusetzen. Er habe aber zugleich auch ein "umgekehrtes Ideal" gesucht: "Ich habe insgleichen ein umgkehrtes Ideal gesucht - eine Denkweise, welche die übermüthigste und weltbejahendste aller möglichen Denkweisen ist: ich fand sie im Zuendedenken der mechanistischen Weltbetrachtung·, es gehört wahrlich der allerbeste Humor von der Welt dazu, um eine solche Welt der ewigen Wiederkunft, wie ich sie durch meinen Sohn Zarathustra gelehrt habe - also uns selber im ewigen da capo mitbegriffen - auszuhalten." (11,489,24-490-4).
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Zur Erhöhung des Menschen
Als die "weltvemeinendste aller möglichen Denkweisen" bezeichnet er darm jene, "welche das Werden, Entstehen und Vergehen an sich schon schlecht heißt und welche nur das Unbedingte, Eine, Gewisse, Seiende bejaht" (11,490,5-8).
Damit werden hier, wie auch sonst bei Nietzsche, alle Lehren zurückgewiesen, die eine "wahre Welt" des "Seins" ansetzen, und die die Welt der Erscheinungen, des Werdens und Vergehens, als nur "scheinbare Welt" abwerten.322 Für Nietzsche gibt es nur die(se) eine Welt des Werdens und Vergehens: aber - und nun kommt ein großes "Aber", das für Nietzsches Denken kennzeichnend ist -: er möchte auch auf jene Lehren nicht verzichten, die eben diese Welt des Werdens und Vergehens verneinen. Er ist überzeugt, für sein Vorhaben "entgegengesetzte Mittel" nötig zu haben: "weltverneinende" und "weltbejahende" Lehren: "Man vergebe mir, daß ich selber ganz und gar nicht Willens bin, auf eine dieser beiden Denkweisen zu verzichten - ich müßte denn auf meine Aufgabe verzichten, welche entgegengesetzte Mittel braucht. Es ist, zum Zugmnderichten oder zum Verzögern und Vertiefen von Menschen und Völkern, zeitweilig (unter Umständen für ein paar Jahrtausende), eine pessimistische Denkweise vom höchsten Werthe; und wer im großen Sinne die Ansprüche des Schaffenden erhebt, wird auch die Ansprüche des Vemichters erheben und vernichtende Denkweisen unter Umständen lehren müssen. In diesem Sinne heiße ich das bestehende Christenthum und den Buddhismus, die beiden umfänglichsten Formen jetziger Welt-Verneinung willkommen; und, um entartenden und absterbenden Rassen z.B. den Indem und den Europäern von heute den Todesstreich zu geben, würde ich selber die Erfindung einer noch strengeren, acht nihilistischen Religion oder Metaphysik in Schutz nehmen." (l 1,490,13-28).
Nietzsche braucht also "entgegengesetzte Mittel", will er seine Aufgabe einer Erhöhung des Menschen erreichen. Was ist damit gemeint? Das Wort "entgegengesetzt" bezieht sich im zitierten Text zunächst auf zwei "Denkweisen". Gemeint sind die "pessimistische" Denkweise, womit hier der Pessimismus der Schwäche gemeint ist, und seine eigene Denkweise, der Pessimismus der Stärke, die lebensbejahende dionysische Denkweise. Zu den lebensvemeinenden Denkweisen rechnet er auch, wie wir gerade sahen, die
Dazu vgl. den Text "Wie die wahre Welt zur Fabel wurde": 6, 80-81.
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christliche Lehre und, mit Vorbehalten, den "Socialismus". Zwar stehen nun auch diese drei letztgenannten Lehren in einem gewissen Gegensatz zueinander, also die christliche Lehre, der Pessimismus der Schwäche und der "Socialismus", der größere Gegensatz besteht jedoch zwischen den drei Denkweisen, die sich insofern nahe stehen, als sie alle drei lebensvemeinend sind, auf der einen Seite, und Nietzsches lebensbejahender Denkweise des Pessimismus der Stärke, auf der anderen Seite. Der Hauptgegensatz besteht also zwischen lebensverneinenden Denkweisen einerseits und Nietzsches lebensbejahender Denkweise andererseits. Nietzsche braucht nun aber für seine Aufgabe beides: einerseits die Konkurrenz zwischen den lebensverneinenden Denkweisen, und andererseits den Kampf zwischen den lebensverneinenden Denkweisen und seiner lebensbejahenden Denkweise. Denn nur die Spannung, der Kampf, der Agon zwischen allen genannten Denkweisen kann die lebensbejahende Denkweise stärker werden lassen und "umfänglicher" machen. Da ein "Stärkerwerden" nicht denkbar ist ohne Kampf, sind gerade "entgegengesetzte Mittel" für eine Erhöhung des Menschen unentbehrlich. Hier wird auch schon deutlich, daß der angedeutete Kampf nicht die endgültige 'Vernichtung' der 'Gegner' als Ziel haben kann. Vielmehr soll dieser Kampf immer wieder geführt werden, wobei die lebensbejahende Denkweise gestärkt werden soll. Und dazu werden 'Gegner' benötigt, die hierzu einen unverzichtbaren Beitrag leisten müssen. Alle Lehren können und sollen also beitragen zu der "Aufgabe", die Nietzsche sich gestellt hat: zu der Aufgabe der Erhöhung des Menschen in seinem Sinne. Diese Aufgabe verlangt von ihm eine doppelte Rolle: die des "Schaffenden", der zugleich auch ein "Vernichter" ist. Es liegt auf der Hand, daß die von Nietzsche in diesem Text verwendeten Formulierungen ernste und schwierige Fragen aufwerfen: Wie stellt er sich das "Vernichten" vor? Geht es nur darum, daß eben die Anhänger pessimistischer Denkweisen an diesen selbst zugrunde gehen, da sie durch diese lebensmüde werden (wie wir oben gesehen haben)? Also ohne Beihilfe dritter? Oder soll noch zusätzlich nachgeholfen werden? Immerhin denkt Nietzsche offenbar nicht nur an das "Zugrundegehen". Im obigen Text wird als Alternative auch das "Vertiefen" von Völkern erwähnt (11,490,17). Mehrmals weist Nietzsche darauf hin, daß Werte des "christlichen Ideals" in die neue
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Synthese eingefügt werden sollen. Das "Christenthum" habe z.B. zu einer "Erhöhung der Temperatur der Seele bei jenen kälteren und vornehmeren Rassen" beigetragen, was er als sehr "wesentlich" einschätzt (12,564,31-565,1). Geht es in der Tat um die leibliche "Vernichtung" von Menschen, oder nur um die Heilung ihrer "Krankheit"? Wenn wir uns an die von Nietzsche so oft verwendete Arztmetapher erinnern, so könnte Letzteres gemeint sein. Der Arzt "vernichtet" im Kranken nur die Krankheit, nicht die kranke Person selbst. Wir wollen auf diese Fragen noch einmal zurückkommen. Wie steht es nun mit der Aufgabe des "Schaffenden"? Im vorliegenden Zusammenhang geht es dabei wohl um die "Schaffung" eines Menschen, der die Welt als werdende und vergehende bejahen kann. Diesen Menschen will Nietzsche mit seinem "siegreichen Gedanken" (11,250,4-8), mit seiner Lehre von der "ewigen Wiederkehr", also durch Erziehung, gewinnen.323
Lehre von der ewigen Wiederkehr
Wir müssen nun, wenn wir Nietzsches Programm der Erhöhung des Menschen durch Erziehung näher kennen lernen wollen, zunächst auf die Lehre von der "ewigen Wiederkehr" näher eingehen. Worin besteht sie? Welches Ziel erstrebt sie? Sodann ist die Frage der dafür nötigen Opfer noch einmal eingehender zu prüfen. Wie sollen diese Opfer aussehen? Wie will Nietzsche sie rechtfertigen? Könnte Nietzsches Lehre auch ohne 'handgreifliche', durch Menschen veranlaßte und befürwortete Opfer auskommen? Schließlich ist dann auch hier nochmals darauf hinzuweisen, daß Nietzsche auch seiner mit soviel Begeisterung vorgetragenen Lehre einer Erhöhung des Menschen "zuletzt" selbst auch mit einer erheblichen Skepsis gegenübersteht. Schon in der Einleitung dieser Untersuchung haben wir auf diese Selbstzweifel Nietzsches hingewiesen.
323
Auch Marti weist wiederholt auf die Erziehung als zentrales Anliegen Nietzsches hin: Marti 1993, 87, 192-193, 278ff. Daß nur "eine große Idee" die neue Zeit "retten" kann, wird schon von Lange als These formuliert (Marti 1993, 99 sowie 112). Nietzsche dürfte seiner Lehre von der "ewigen Wiederkehr" diese Aufgabe einer "rettenden Idee" zugedacht haben. Dazu auch Marti 1993, 277, der dafür auch auf Löwiths "anthropologische" Interpretation dieses Gedankens verweist (Löwith 1956).
Erhöhung durch Erziehung
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Die Lehre von der "ewigen Wiederkehr", die Nietzsche als seinen "siegreichen Gedanken" und als "großen züchtenden Gedanken" einstuft (11,250,48), wurde ihm im August 1881 in ihrer ganzen Tragweite deutlich, wie er im Zarathustra-Kapitel des "Ecce homo" mitteilt (6,335,4-12). In Aphorismus 341 der im August 1882 erschienenen "Fröhlichen Wissenschaft" wurde dieser Gedanke dann erstmals der Öffentlichkeit bekannt gemacht. Eine weitere Darstellung brachte dann sein "Zarathustra". In den Fragmenten geht Nietzsche dann in den nächsten Jahren wiederholt auf diesen Gedanken ein. Wir können hier nicht alle diese Texte im einzelnen heranziehen. Anhand einer Auswahl von Fragmenten wollen wir uns zunächst mit diesem Gedanken und seinen einzelnen Aspekten etwas näher vertraut machen. Im "Ecce homo" bezeichnet er seinen Gedanken als "höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann" (6,335,6-7). In dem Fragment "Die Wiederkunft des Gleichen. Entwurf." (9,494-6: F/H 81: H/141/) bezeichnet er ihn als "die größte Lehre", die wir uns "einverleiben" können, indem wir sie "lehren": "Das neue Schwergewicht: die ewige Wiederkunft des Gleichen. Unendliche Wichtigkeit unseres Wissen's, Irren's, unserer Gewohnheiten, Lebensweisen für alles Kommende. Was machen wir mit dem Reste unseres Lebens - wir, die wir den größten Theil in der wesentlichsten Unwissenheit verbracht haben? Wir lehren die Lehre - es ist das stärkste Mittel, sie uns selber einzuverleiben. Unsre Art Seligkeit, als Lehrer der grössten Lehre." (9,494,10-18).
Nietzsche teilt sein Leben ein: die Zeit vor der Entdeckung der "Lehre", und der "Rest unseres Lebens", der noch bleibt, diese "Lehre" zu "lehren". Hierin sieht er nun seine Aufgabe. Die "Lehre" richtet sich an den ganzen Menschen: sie kann nur durch "Einverleibung" gewonnen werden. Nicht nur der Geist, der Intellekt - der ganze Mensch, seine Affekte und Instinkte werden angesprochen. Auch Nietzsche als "Lehrer" dieser "Lehre" muß sie sich noch "einverleiben", und das "stärkste Mittel" hierzu besteht darin, diese "Lehre" zu "lehren". Der "Lehrer" lernt als "Lehrender" auch selbst, was diese Lehre für den Menschen in allen ihren Forderungen bedeutet. Die "Lehre" ist noch kein "Besitz", sie ist eine Forderung, eine Aufforderung, ein Appell.
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Zur Erhöhung des Menschen
Im nächsten Fragment geht es um die Frage, ob ein "Gedanke", auch wenn er nicht "bewiesen" werden könne, dennoch eine "Wirkung" haben könne (9, 523-4: F/H 81: H/203/): "Prüfen wir, wie der Gedanke, daß sich etwas wiederholt, bis jetzt gewirkt hat (das Jahr z.B. oder periodische Krankheiten, Wachen und Schlafen usw.). Wenn die Kreis-Wiederholung auch nur eine Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit ist, auch der Gedanke einer Möglichkeit kann uns erschüttern und umgestalten, nicht nur Empfindungen oder bestimmte Erwartungen! Wie hat die Möglichkeit der ewigen Verdammniss gewirkt!"
Nietzsche ist also überzeugt, auch Gedanken, die nur eine "Möglichkeit" für sich haben, können uns "erschüttern und umgestalten", und er verweist dafür auf die "Möglichkeit der ewigen Verdammniss". Sein "Gedanke" soll, auch wenn er nur eine "Möglichkeit" für sich haben sollte, ebenso wie "Empfindungen oder bestimmte Erwartungen", den ganzen Menschen erfassen: ihn "erschütteren und umgestalten". Nur so ist eine "Einverleibung" möglich, um dieses Wort aus dem vorhergehenden Fragment zu gebrauchen. Der "Gedanke" zielt, als Gedanke, auf eine "Umgestaltung" des ganzen Menschen, indem dieser den Gedanken "einverleibt". In einem weiteren Fragment wird noch deutlicher, daß der "Gedanke" auf eine "Umbildung" der "Affekte" der Menschen abzielt (9,526-7: F/H 81: ll/ 220/): "Der mächtigste Gedanke verbraucht viele Kraft, die früher anderen Zielen zu Gebote stand, so wirkt er umbildend, er schafft neue Bewegungsgesetze der Kraft, aber keine neue Kraft. Darin beruht aber die Möglichkeit, die einzelnen Menschen in ihren Affekten neu zu bestimmen und zu ordnen." (9,526,24-527,3). Der "Gedanke" beeinflußt das Spiel der "Kräfte" und damit auch der "Affekte" im Menschen, die durch seinen Einfluß neu "bestimmt und geordnet" werden. Die lebensbejahenden Affekte werden auf Kosten der lebensverneinenden Affekte gestärkt.324 Nur wer sich den "Gedanken" "einverleibt" und an der angedeuteten "Neuordnung" der Affekte teilnimmt, wird auf die Dauer genügend Kraft haben, das Leben zu meistern. Diese Überzeugung spricht Nietzsche in dem folgenden Fragment aus (9,573: F/H 81: H/338/): "Die zukünftige Geschichte: immer mehr wird dieser Gedanke siegen - und die nicht daran Glaubenden müssen ihrer Natur nach endlich aussterben. 324
Dazu Moles 1990, 285 f., wo eine sehr komplexe Erörterung des Gedankens der "ewigen Wiederkehr" versucht wird.
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Nur wer sein Dasein für ewig wiederholungsfahig halt, bleibt übrig: unter solchen aber ist ein Zustand möglich, an den noch kein Utopist gereicht hat!" (9,573,8-13). Wer sich den "Gedanken" nicht "einverleibt", geht daran zugrunde. Von einer "Beihilfe" ist hier nicht die Rede. Obwohl Nietzsche es als seine Aufgabe betrachtet, den "Gedanken" zu "lehren", gibt es auch eine Äußerung, die besagt, der "Gedanke" brauche keine "Beredtsamkeit" (9,614: H 81: 12/216/): "Für diesen Gedanken wollen wir nicht 30 Jahre Gloria mit Trommeln und Pfeifen und 30 Jahre Todtengräberarbeit und dann eine Ewigkeit der Todtenstille, wie bei so vielen berühmten Gedanken. Schlicht und fast trocken, der Gedanke muß nicht die Beredtsamkeit nöthig haben. Merkst du nicht - es wird plötzlich stille, stille, stille um dich -" (9,614,10-17). Nietzsche ist offenbar davon überzeugt, daß der "Gedanke" auch aus sich selbst heraus "wirkt", in dem angedeuteten Sinne. Daß er aus eigener Kraft das Leben der Menschen "umgestaltet", wenn sie ihn annehmen und "aushalten". Dennoch hat er aber nicht darauf verzichtet, als sein "Lehrer" aufzutreten. Dies ändert aber nichts daran: der "Gedanke" hat seine Kraft in sich. Nicht erst der Lehrer verleiht sie ihm. Der Lehrer kann nur als Vorbild wirken, nicht durch "Beredtsamkeit". Im Aphorismus 341 der "Fröhlichen Wissenschaft" hat nun Nietzsche seinen "Gedanken" erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt (August 1881): "Das größte Schwergewicht.- Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine Einsamkeit nachschliche und dir sagte: 'Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Große deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge - und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!' - Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: 'du bist Gott und nie hörte ich Göttlicheres!' Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen: die Frage bei Allem und Jedem 'willst du dies noch einmal und noch unzählige Male?' würde als das größte Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung?-" (3,570,831).
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Wir haben aus den vorhergehenden Texten schon einen Einblick erhalten, welche Vorstellungen sich mit dem hier vorgetragenen "Gedanken" verbinden. Im Aphorismus 341 wird dieser Gedanke umschrieben und in ein Gespräch mit einem "Dämon" eingebettet. Der Mensch in seiner "Einsamkeit" wird aufgefordert, zu dem Gedanken Stellung zu nehmen. Das "Schwergewicht" dieses "Gedankens" könnte ihn "verwandeln" oder gar "zermahnen". Wird er die Kraft haben, sein "Handeln" unter dieses "Schwergewicht" zu stellen: sein Leben "noch ein Mal und noch unzählige Male" zu wollen und zu bejahen? Kann er dem "Leben so gut werden", daß er nichts anderes mehr verlangt als eben dieses Leben in seiner Wiederkehr? Auch seinen "Schmerz" und seine "Seufzer"? Die Frage, die der "Dämon" an den Menschen in seiner "Einsamkeit" richtet, ist zugleich auch eine Aufforderung an diesen Menschen: er möge dieses Leben, "wie du es jetzt lebst und gelebt hast", bejahen. Der "Gedanke", der vielleicht nur eine "Möglichkeit" für sich hat - als beschreibender Gedanke, wie wir oben gesehen haben -, erweist hier deutlich auch seine 'imperative' Natur: er will den Menschen "verwandeln" und "umbilden", indem er die lebensbejahenden Kräfte und Instinkte ermutigen und den Menschen zu einer Bejahung seines Lebens bringen will. In einem weiteren Fragment weist Nietzsche noch einmal darauf hin, worauf es ihm dabei am meisten ankommt (11,443: April/Juni 85: 34/76/): "Die mechanistische Vorstellung, als regulatives Princip der Methode voranzustellen. Nicht als die bewiesenste Weltbetrachtung, sondern als die, welche die größte Strenge und Zucht nöthig macht und am meisten alle Sentimentalität bei Seite wirft. Zugleich eine Probe für das physische und seelische Gedeihen: mißrathene willensschwache Rassen gehen daran zu Grunde, durch Sinnlichkeit oder durch Melancholie oder, wie Inder, durch beides." (11,443,16-23).
Ziel ist also die "größte Strenge und Zucht", die "alle Sentimentalität bei Seite wirft". Dies erinnert uns an die von Nietzsche wiederholt formulierte "oberste Richtschnur", "sich nicht gehen zu lassen", und verweist damit auf aristokratische Werte, wie er sie bei den Griechen und den vornehmen Franzosen des 17. Jahrhunderts glaubte beobachten zu können. Statt in "Sentimentalitäten" sich zu flüchten, womit die oben besprochenen Lehren gemeint sein könnten, soll der Mensch zu dieser Welt, wie sie ist, auch zu ihrem Leid, ja sagen. An diesem Ja lasse sich das "physische und seelische
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Gedeihen" ablesen. Eine "wohlgerathene" physiologische Verfassung und die damit, nach Nietzsches Auffassung, einhergehende lebensbejahende Moral setzen den Menschen zu einem solchen Ja instand. Nötig ist also ein "philosophischer" Arzt, der in diesem Sinne die "Gesundheit" wieder herstellt. Ein Umbau des Menschen durch moderne "Züchtung" ist dazu in keiner Weise erforderlich. Völker, deren Wille schwach geworden ist, die sich also "gehen lassen", indem sie sich der "Sinnlichkeit" oder "Melancholie" hingeben, sind zu einem solchen Ja, zu "Strenge und Zucht", nicht mehr in der Lage und gehen eben "daran zu Grunde". Von einer "Beihilfe" ist auch hier nicht die Rede. Allerdings auch nicht von einem Mitleiden mit diesen Völkern. Sie werden ihrem Schicksal überlassen. Wenn auch dies zur "Strenge und Zucht" von Nietzsches "Gedanke" gehört, so können wir heute diese "Strenge und Zucht" wohl kaum als menschenfreundlich einstufen. Es ist in der Tat ein sehr "strenger" Gedanke, - aber mit "Züchtung" (im modernen Sinn) hat er nichts
zu tun. In einem letzten Fragment gibt Nietzsche eine in vieler Hinsicht zurückhaltendere Fassung seines "Gedankens": (12,455: H 87: 10/37): "Meine neue Fassung des Pessimismus als ein freiwilliges Aufsuchen der furchtbaren und fragwürdigen Seiten des Daseins: womit mir verwandte Erscheinungen der Vergangenheit deutlich wurden, 'Wie viel "Wahrheit" erträgt und wagt ein Geist?' Frage seiner Stärke. Ein solcher Pessimism könnte münden in jene Form eines dionysischen Jasagens zur Welt, wie sie ist: bis zum Wunsche ihrer absoluten Wiederkunft und Ewigkeit: womit ein neues Ideal von Philosophie und Sensibilität gegeben wäre. Die bisher verneinten Seiten des Daseins nicht nur als nothwendig zu begreifen, sondern als wünschenswerth; und nicht nur als wünschenswerih in Hinsicht auf die bisher bejahten Seiten (etwa als deren Complement und Vorbedingungen), sondern um ihrer selber willen, als die mächtigeren, fruchtbareren, wahreren Seiten des Daseins, in denen sich sein Wille deutlicher ausspricht. Die bisher allein bejahten Seiten des Daseins abzuschätzen; das, was hier eigentlich Ja sagt, herauszuziehn (der Instinkt der Leidenden einmal, der Instinkt der Heerde andrerseits und jener dritte Instinkt: der Instinkt der Meisten gegen die Ausnahme). Conception einer höheren Art Wesen als eine 'unmoralische' nach den bisherigen Begriffen: die Ansätze dazu in der Geschichte (die heidnischen Götter, die Ideale der Renaissance)" (12,455,1-27). Dieser Text ist zurückhaltender in seinen Formulierungen. Er trägt den Titel "Mein neuer Weg zum 'Ja'" (12,455,1). Nietzsche spricht also zunächst in seinem eigenen Namen und für seine eigene Person. Er betont, daß es sich um
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ein "freiwilliges" Aufsuchen der "furchtbaren und fragwürdigen Seiten des Daseins" handelt": "freiwillig" werden jene "Seiten des Daseins" in den Blick genommen, die auch Nietzsche als "furchtbar und fragwürdig" einstuft. Es wird kein Zwang auferlegt oder ausgeübt, und es wird nichts beschönigt oder gar verherrlicht. Er betont, daß es um seine "neue Fassung des Pessimismus" geht, und er formuliert sehr vorsichtig, daß dieser "Pessimism" "in jene Form eines dionysischen Jasagens" "münden könnte": er behauptet es also nicht apodiktisch. Er "könnte" darin "münden". Alles hängt davon ab, wie "stark" ein "Geist" ist: "Wie viel 'Wahrheit' erträgt und wagt ein Geist?" Das sei "eine Frage seiner Stärke". Der hier angedeutete "Pessimismus" ist (s)ein "Pessimismus der Stärke". Die "Stärke" kann den Menschen instand setzen, alle Seiten des Daseins ins Auge zu fassen, auch die "furchtbaren und fragwürdigen", und dadurch die "Welt" zu "bejahen", die "Welt, wie sie ist". Zur "Welt, wie sie ist", gehören nach Nietzsches Auffassung auch Werden und Vergehen, Vernichten und Schaffen. Da diese Vorstellungen für Nietzsche mit seinem Bild des Dionysos verbunden sind, wäre eine Bejahung der so gesehenen Welt für ihn ein "dionysisches Jasagen". Dieses "dionysische Jasagen" könnte dann in den "Wunsch ihrer absoluten Wiederkunft und Ewigkeit" münden. Die "Stärke des Geistes" kann so über die "dionysische Bejahung" der "Welt, wie sie ist", in die Lehre von der "ewigen Wiederkehr" münden. Auf diesem Wege könnte, wie Nietzsche formuliert, "ein neues Ideal von Philosophie und Sensibilität" gesetzt werden. Ein "neues Ideal von Philosophie" vielleicht insofern, als der "Pessimismus der Stärke" nicht mehr die Moral als "Circe" heranzieht, um bestimmte Seiten des Daseins, die "furchtbaren und fragwürdigen", auszublenden oder in einer Zweiweltentheorie umzuwerten.325 Die "neue" Philosophie stellt sich der 'ganzen' "Wahrheit", die eben auch die "furchtbaren und fragwürdigen Seiten des Daseins" einbezieht, ohne sie weginterpretieren zu wollen. Und "neu" wäre eine solche "Sensibilität", insofern diese Philosophie der 'ganzen' "Wahrheit" offen und empfänglich ist für die "Welt, wie sie ist". Im zweiten und dritten Abschnitt des Textes werden diese Punkte näher dargelegt. Es gilt nun, die "bisher verneinten Seiten des Daseins" nicht nur als "Complement" des Bejah325
Zur "Circe" als Metapher für die christliche Moral bei Nietzsche vgl. Verweij 1993, 166171.
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baren und "Guten" in Kauf zu nehmen, sondern sie "um ihrer selbst willen" zu bejahen. Sie sind nicht nur die 'negativen' Seiten eines ansonsten 'positiven' Bildes (Daseins), eine solche Scheidung ist unzulässig. Sie alle zusammen sind das Dasein, und vielleicht kommt gerade in den "bisher verneinten Seiten" das Dasein noch "mächtiger, fruchtbarer" und "wahrer" zum Ausdruck. Nietzsche lehnt das partielle Ja- und Neinsagen ab; an seine Stelle setzt er das uneingeschränkte Ja, Das partielle Verneinen und Bejahen will das Dasein nur in Auswahl gelten lassen. Es verdeckt einen Teil der Wahrheit des Daseins. Im dritten Abschnitt macht Nietzsche deutlich, daß dabei die Moral eine maßgebliche Rolle spielt. Sie fungiert als Filter für "Wahrheit". Die "Leidenden", die das Leiden isoliert sehen und als nicht zum Dasein gehörend abwerten, verstellen sich den Blick auf die ganze Wahrheit des Daseins, auf die "Welt, wie sie ist". Ebenso die "Heerdenmenschen", die die "physiologische Hemmung" quasi als zweite Natur angenommen haben und nicht mehr bekämpfen. Sie verschließen sich der ganzen Wahrheit des Daseins, indem sie die Welt nur noch von einem reduzierten, nicht mehr in Frage gestellten Standpunkt aus betrachten. Und die "Meisten", die der Moral des "Mittelmasses" ausschließlich anhängen, können nur noch sich selbst bejahen und ihr partielles Dasein, sie können aber für "Ausnahmen", für "höhere" Formen des Daseins, keine Anerkennung mehr aufbringen. Die Moral, die bisherigen Moralen mit ihrem partiellen Auf- und Abwerten verstellen also den Blick auf die ganze Wahrheit des Daseins, auf die "Welt, wie sie ist". Der neue "Pessimismus der Stärke" unternimmt nun den Versuch, diese verstellende Optik der Moral aus dem Weg zu räumen. Die ganze Wahrheit des Daseins, die "Welt, wie sie ist", kann nur "jenseits" dieser Moral sichtbar werden. Wir kennen diese These auch aus anderen Texten Nietzsches. Im vierten Abschnitt wird nun ein Mensch "concipirt", der zu einem "dionysischen Ja", jenseits der bisherigen Moralen, in der Lage wäre. Nietzsche nennt ihn "eine höhere Art Wesen", "eine 'unmoralische' nach den bisherigen Begriffen". "Unmoralisch" steht hier nicht in Opposition zu "moralisch", denn das würde nur heißen, daß jener Mensch die bisherige Moral zwar anerkennt, aber nicht befolgt. Die "höhere Art Wesen" setzt aber eine andere Moral an die Stelle der bisherigen: die Moral des "dionysischen
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Jasagens" zu allen Seiten des Daseins. Das Ja der bisherigen Moralen war auswählend, partiell, das "dionysische Ja" ist umfassend - auch hier also eine größere Umfänglichkeit. Statt des Wortes "unmoralisch" spricht Nietzsche an anderen Stellen auch weniger mißverständlich von "außermoralisch" und "immoralisch". "Ansätze" zu dieser "höheren Art" glaubt er etwa in der Renaissance finden zu können sowie in den "heidnischen Göttern". Diese Hinweise machen wiederum deutlich, daß Nietzsche hier nicht zuletzt wieder an den griechischen aristokratischen Menschen denken dürfte, an den Menschen vor dem Niedergang der Aristokratie und vor dem Hervortreten der Demokratie. Der "Pessimismus der Stärke", der zu einem "dionysischen Ja" und damit zum "Wunsche" der "absoluten Wiederkunft und Ewigkeit" der Welt erhöhen kann, könnte also auch die "Wiederkehr" einer Welt im Auge haben, die schon einmal bestand: die Wiederkehr einer zweiten griechischen Kultur, in der der "Leib" im Zentrum stand und der "Rest" von selbst "folgte". Verbirgt sich also hinter der Lehre von der "ewigen Wiederkehr" Nietzsches Traum einer neuen Vornehmheit, von Menschen, die "allein stehen können", die "sich nicht gehen lassen", die "sich selbst Ziele setzen können", wie er diesen Menschentyp immer wieder beschreibt? Der Mensch als sein eigener "Gesetzgeber"? Ist der Mensch dazu in der Lage? Welcher Mensch? Nietzsche ist sich dessen wohl bewußt, daß diese Frage nicht ohne weiteres bejaht werden kann. Schon bei der Besprechung seiner "Neuen Rangordnung" haben wir gesehen, daß er für fast alle Typen des "höheren" Menschen dort ein mehr oder weniger starkes "Missrathen" erwartet und befürchtet (11,213,1-21). Man würde Nietzsche nicht gerecht werden, wenn man annimmt, daß er "blauäugig" "Conceptionen" einer "höheren Art Wesen" in die Welt setzt, deren Gefahren und Gefährlichkeit er nicht kennte. Eher scheint es sich so zu verhalten, daß er Gedankenexperimente anstellt, über deren "Frag-Würdigkeit" er sich sehr wohl bewußt ist. Dies spricht er in einem Brief selbst sehr deutlich aus: "Ich habe, mit Willkür, mir jene Typen erfunden, die in ihrer Verwegenheit mir Vergnügen machen, z.B. den 'Immoralisten' - einen bisher unerhörten Typus." (KSB 8,363: Juli 88: an Overbeck).
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"Mit Willkür", also "freiwillig" - wir erinnern uns an das "freiwillige Aufsuchen" im vorigen Fragment. Zu seinem "Vergnügen" hat Nietzsche sich den "Immoralisten" ausgedacht - also nicht unbedingt als todernst zu befolgendes Rezept für die praktische Umsetzung! Könnte das nicht auch heißen, daß auch Nietzsche den "Immoralisten" als ein (sein) "Ideal" versteht, das bei den Versuchen der Verwirklichung eher "missrathen", als "gerathen" müsse? Vielleicht soll nur eine Richtung auf ein "Ideal" (Ziel) angegeben werden, dessen Erreichung sehr unsicher und vielleicht nicht einmal wünschenswert ist? Die Lehre von der "ewigen Wiederkehr" wäre dann letzlich eine "Lehre", die mehr Fragen aufwirft, als sie lehrend beantwortet. In der Nietzsche-Forschung hat die Lehre von der "ewigen Wiederkehr des Gleichen" zu langanhaltenden Diskussionen geführt, die in der neuen, gründlichen Darstellung durch Moles referiert werden.326 Umstritten war und ist noch vor allem die Frage, inwiefern Nietzsches Lehre naturwissenschaftlich seriös zu nehmen und haltbar sei, während der existentiell-imperative Charakter der Lehre ausnahmslos anerkannt wird. Moles unternimmt einen breitangelegten Versuch, die Lehre in Nietzsches Naturphilosophie und ihre Kräftelehre einzubauen. Für ihn erweist sich der imperative Charakter der Lehre als konsequente Fortführung von Nietzsches Naturphilosophie.327 Moles sieht zwischen den beiden Aspekten von Nietzsches Lehre keinen Widerspruch. Magnus sieht hier hingegen wohl einen Widerspruch und möchte nur den imperativen Aspekt der Lehre gelten lassen.328 Da der imperative Charakter der Lehre nicht umstritten ist, braucht hier auf die angedeutete Diskussion nicht näher eingegangen zu werden. Moles faßt den imperativen Gehalt von Nietzsches Lehre in der Formel "live as you must want to live again" zusammen. Dieser Imperativ kennzeichne einen Menschen, der auf dem Weg zur "self-acceptance" sei.329 "Selbstbejahung" bedeutet aber auch, so können wir hinzufügen, Bejahung der "Welt, wie sie ist", Bejahung des Daseins in allen seinen Seiten, also, um Nietzsches Formulierung zu zitieren, "dionysisches Jasagen" zum Leben. (12, 326 327 328 329
Moles 1990. Moles 1990, 289-304. Vgl. Magnus 1973, 1978 sowie 1979. Moles 1990, 324. Ähnlich auch Marti 1993, 277: der Mensch soll "in jedem Augenblick so leben, daß er ihn immer wieder zurückwollen könnte".
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455,7-8). Wie bereits angedeutet, ist damit ein Umfänglicherwerden des Menschen verbunden: der Mensch hat nun seinen Blick für alle Seiten des Daseins geöffnet, für die ganze Wahrheit des Daseins. Insofern könnte von einer Erhöhung des Menschen durch die Lehre von der "ewigen Wiederkehr" gesprochen werden. Es geht dabei, wie wir gesehen haben, nicht nur um eine "Einsicht", sondern auch um eine "Einverleibung", das heißt um eine Umgestaltung der Affekte des Menschen. Die zu erstrebende "Wahrheit" muß in den "Kopf und in den "Leib" aufgenommen werden. Einsicht des "Kopfes" geht mit der Umwandlung des "Leibes" Hand in Hand. Die "Wahrheit" wird "gesehen" und "gefühlt". Sie meint eine "Einsicht" und eine "Haltung": der ganze Mensch hat an ihr teil. Wenn der Mensch diese "Wahrheit" erreicht, dann befreit er sich damit auch vom Ressentiment: denn wer "dionysisch jasagen" kann, der kann nicht mehr hassen. Das angedeutete Ziel ist schwer zu erreichen. Auch für Nietzsche selbst war es kein selbstverständlicher Besitz, wie wir schon aus einer Briefstelle gesehen haben, in der er bekennt, seine Ressentiments gegen die Deutschen nur schwer im Zaum halten zu können. Das "dionysische Jasagen", das den Menschen erhöhen kann, indem es ihn umfänglicher macht und über das Ressentiment erhebt, bleibt als Aufgabe gestellt, die nie vollkommen eingelöst werden kann.
Opfer Wir müssen nun noch einmal näher der Frage nachgehen, was Nietzsche gemeint haben könnte, wenn er im Kontext des skizzierten Erziehungsprogramms gelegentlich von "Opfer", "vernichten", "zugrunde gehen" u.a. spricht. Vielleicht kann eine nähere Interpretation einzelner dieser Formulierungen hier mehr Klarheit bringen. Dann dürfte es auch eher möglich sein, aus unserer heutigen Sicht begründeter zu Nietzsches Erziehungsprogramm Stellung zu nehmen und genauer zu bestimmen, inwiefern heute noch Billigung möglich ist, oder auch Vorbehalte angemeldet werden müssen. Damit könnte dann auch noch deutlicher werden, daß die vorliegende Untersuchung keine Apologetik Nietzsches im Auge hat, sondern nur bemüht ist, einerseits nach Auffassung dieser Untersuchung unberechtigte und zum Teil
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auf sprachlichen Mißverständnissen beruhende Vorwürfe an Nietzsches Adresse zurückzuweisen, daß sie aber auch nichts beschönigen will, was unseren heutigen sozialen und humanitären Vorstellungen nicht genügt. Daß mit Nietzsches "Partei des Lebens" eher sein Konzept des "philosophischen Arztes", der Erkrankungen heilen will statt 'neue' Menschen biologisch züchten zu wollen, angesprochen sein dürfte, wurde schon erörtert. Die ganze Untersuchung hat gezeigt, daß die für ein biologisches Züchtungsprogramm notwendigen Prämissen (moderner Rassebegriff, Superiorität einer "Rasse") bei Nietzsche nicht nachzuweisen sind. Der "philosophische Arzt" will das "physiologische Hemmungsgefuhl" beheben, nicht aber die daran Leidenden selbst "vernichten". Es ist also unangebracht, Nietzsches "Partei des Lebens" mit einem "Vemichtungskonzept" gleichzusetzen, wie dies Nolte tut.330 Mit solchen Kurzschlüssen wird eine genauere Erörterung der mit Nietzsches Erziehungsprogramm sicherlich auch gegebenen Problematik nicht gefördert. Die Besprechung der von Nietzsche kritisierten "Denkweisen" (christliche Religion, Pessimismus der Schwäche, "Socialismus") hat des weiteren gezeigt, wie es zu verstehen sein könnte, wenn Nietzsche sagt, daß an seinem "siegreichen Gedanken", der Lehre von der "ewigen Wiederkehr", "zuletzt jede andere Denkweise zu Grunde geht" (11,250,4-5). Wir haben gesehen, daß dieses "zu Grunde gehen" nicht zuletzt auch bedeutet, daß Elemente der kritisierten "Denkweisen" bewahrt bleiben und in die neu zu erarbeitende Synthese eines erhöhten Menschen eingehen sollen. Die "Aufhebung" ("Vernichtung") der bisherigen "Lehren" ist auch eine "Aufhebung" im Sinne der "Bewahrung" und "Umwandlung" dieser "Lehren". Die bisherigen "Denkweisen" sollen nicht ungeschehen gemacht werden, sondern weitergeführt und in eine umfänglichere Synthese eingebaut werden. Ziel ist eine Gesamt-Optik der "Welt, wie sie ist", nicht hingegen das Eintauschen einer Teil-Optik gegen eine andere. Auch die Lehre von der "ewigen Wiederkehr" will nicht Menschen "vernichten", sondern sie durch einen "Gedanken" "erschüttern und umgestalten"
Nolte 1990, 190 f.
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(9,523,31). Die "Affekte" sollen neu geordnet werden (9,527,3). Das Ressentiment soll aus der Welt geschafft werden: nicht der "Mensch des Ressentiment", sondern der "Mensch des Ressentiment". Diese Forderung braucht nicht einmal als gegen Christen gerichtet verstanden zu werden, denn die ersten Christen, die christlich gewordenen "kleinen Leute der Diaspora", waren nach Nietzsches Auffassung frei von dieser "Rancune". Diese macht nach seiner Auffassung keinen notwendigen Teil der christlichen Lehre aus. Das wurde vorn schon erörtert. Betrachten wir noch einige weitere Texte, bevor wir eine genauere Bestimmung von Nietzsches "Opfer"-Forderung versuchen. In dem Fragment (11,69: F 84: 25/211) wird fünfmal die Forderung einer "Vernichtung" erhoben. Worum geht es dabei? "Es bedarf einer Lehre, stark genug, um züchtend zu wirken: stärkend für die Starken, lähmend und zerbrechend für die Weltmüden. (1) Die Vernichtung der verfallenden Rassen. Verfall Europa's. (2) Die Vernichtung der Sclavenhaften Werthschätzungen. (3) Die Herrschaft über die Erde, als Mittel zur Erzeugung eines höheren Typus. (4) Die Vernichtung der Tartüfferie, welche 'Moral' heißt. (Das Christenthum als eine hysterische Art von Ehrlichkeit hierin Augustin Bunyan) (5) Die Vernichtung des suffrage universel: d.h. des Systems, vermöge dessen die niedrigsten Naturen sich als Gesetz den höheren vorschreiben. (6) Die Vernichtung der Mittelmässigkeit und ihrer Geltung. (Die Einseitigen, Einzelne - Völker, z.B. Engländer. Dühring. Fülle der Natur zu erstreben durch Paarung von Gegensätzen: Rassen-Mischungen dazu.) (7) Der neue Muth - keine a priorischen Wahrheiten (solche suchten die an Glauben Gewöhnten!) sondern freie Unterordnung unter einen herrschenden Gedanken, der seine Zeit hat z.B. Zeit als Eigenschaft des Raums usw. (11,69,7-27).
Bei der "Lehre", die hier gefordert wird, handelt es sich sicherlich um Nietzsches Lehre von der "ewigen Wiederkehr", die wir schon kennengelernt haben. Sie soll die "Starken" "stärken" und die "Weltmüden" "lahmen und zerbrechen". Nietzsche nimmt es hier in Kauf, ja befürwortet es sogar, daß diejenigen zugrunde gehen, die diese Lehre nicht "aushalten" können. Aber, wie wir gesehen haben, hofft er auch, daß diese Lehre die Menschen, wohl auch die "Schwachen", "erschüttern" und dadurch "umgestalten" könne. Die Lehre soll in erster Linie "erziehen", die Menschen umgestalten. Es bleibt aber
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offen, bringt Bei dürfte
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ob alle Menschen dieser Erziehung gewachsen sind. Der weitere Text nähere Einzelheiten dieses Erziehungsprograrnms. der "Vernichtung der verfallenden Rassen", dem "Verfall Europa's" (1) in erster Linie an das Auftreten des "Heerdenmenschen" gedacht sein,
im weiteren auch an die Deutschen, die in Nietzsches Bewertung der Völker Europas am schlechtesten abschneiden. Im "Heerdenmenschen" ist wiederum das Ressentiment und die Willensschwäche zu bekämpfen ("vernichten"), bei den Deutschen ihr "Nationalitätenwahn" und ihre "Deutschthümelei". Es ist kein Zufall, daß später (6) auch der Antisemit Dühring genannt wird. Wir erinnern uns, daß sich auch Nietzsches "große Politik" gegen Bismarck und die Hohenzollern richtet. "Die Vernichtung der verfallenden Rassen" meint also ein politisches Programm, das sich zum einen gegen Übel der Zeit richtet wie Nationalismus, Antisemitismus und Imperialismus, zum ändern gegen den schwach und unselbständig gewordenen "Heerdenmenschen", der seine Zuflucht in der Demokratie sucht. Nietzsche diagnostiziert und benennt hier sehr deutlich die Gefahren, die dem modernen Europa drohen: Nationalismus, Antisemitismus und Imperialismus, und die, wie wir heute wissen, zu den schrecklichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt haben. Sein angedeutetes politisches Programm wächst aus der Sorge um Europa und will dieser drohenden Entwicklung, und das heißt Fehlentwicklung, Einhalt gebieten. Der Gang der Geschichte hat gezeigt, daß Nietzsche hier eine durchaus zutreffende Diagnose gestellt hatte, die aber in ihrer großen Bedeutung leider nicht angemessen erkannt und befolgt wurde. "Die Vernichtung der Sclavenhaten Wertschätzungen" (2) schließt an das Gesagte an. Hier werden nicht mehr Personengruppen angesprochen, sondern die Moralwerte des "Mittelmaßes", auf die Nietzsche auch später noch einmal näher eingeht (6). An ihre Stelle möchte Nietzsche die aristokratisch orientierten Werte des "Allein-stehens", "Sich-selbst-Ziele-setzen-könnens" usw. setzen. Die dritte Forderung wirft schwierige Fragen auf. Da Nietzsche Nationalismus und Imperialismus ausdrücklich ablehnt, kann hier nicht einfach an eine quasi macchiavellistisch zu deutende, machtorientierte "Weltherrschaft" gedacht sein. Eher an eine Art "Völkerbund", in dem alle Völker kommunizieren und an einer neuen, alle Gegensätze umfassenden Gemeinschaft der Völker,
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mit dem Ziel einer umfänglichsten Synthese, zusammenwirken.331 Wir haben schon erörtert, wie Nietzsche sich eine solche zu erstrebende Synthese vorstellt: als "coordinirte Summe" möglichst vieler "Elemente". Diese Völkergemeinschaft wäre dann der geeignete Weg "zur Erzeugung eines höheren Typus". Der "höhere Typus" des Menschen wird also "erzeugt" durch "Erhöhung" des Menschen im angedeuteten Sinne. Die "Erzeugung" ist kein biologischer, sondern ein kommunikativer und synthetisierender Prozeß. Der "höhere Typus" bildet sich durch Anreicherung und Umfänglicherwerden des Menschen, indem dieser seine "Tastorgane11 über die ganze Welt der Völker ausbreitet. Der dann geforderte Kampf gegen die "Moral" ist uns bereits hinlänglich bekannt (4). Inwiefern "Moral" von Nietzsche als "Tartüfferie" verstanden wird, wird in einem direkt folgenden Fragment erläutert (11,69-70: F 84: 25/2137): "Die Tartüfferie (unter allen herrschenden Schichten) in Europa (oder die Moral unter dem Eindruck des Christenthums)" (11,69,29-30). Damit scheint Nietzsche vor allem den Vorwurf fehlender oder geheuchelter Ehrlichkeit jener Personen gegen sich selbst zu meinen. Es heißt weiter in dem gleichen Fragment: "Die Hysterie in Europa (Müssiggang, geringe Nahrung, wenig Bewegung - bricht in religiösem Wahnsinn aus wie bei den Indem. Mangel an geschlechtlicher Befriedigung.) Vortheil, daß sich die religiosi nicht fortpflanzen." (11,70,1-4). Einen ähnlichen Vorwurf erhebt Nietzsche in Forderung (4) gegen Augustinus: "das Christenthum als eine hysterische Art von Ehrlichkeit". Gemeint sind wohl dessen "Confessiones". Nietzsche betrachtet es als unvornehm, öffentlich seine Schwächen zur Schau zu stellen. Diese Auffassung vertrat etwa auch George Sand in ihrer Autobiographie. Die "hysterische" "Art von Ehrlichkeit" würde Nietzsche wohl als eine Form des "Sich-gehen-lassens" einstufen, die vielleicht einem 'demokratischen' Menschen ansteht, nicht aber einem 'vornehmen'.
331
Die leicht mißverständlichen Formulierungsn Nietzsches von einer "Herrschaft über die Erde" oder auch "Erdregierung" werden bei Marti (1993) eingehender erörtert. Vgl. dazu die Hinweise oben in Anm. 181. Daraus geht hervor, daß Nietzsche in der Tat nicht an eine machtpolitische Dimension dieser Formulierungen denkt.
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Das allgemeine Wahlrecht (5) lehnt Nietzsche natürlich ab, da es seiner Auffassung nach das "Mittelmaass" als allein gültigen Maßstab etablieren würde. Dies wird in der nächsten Forderung bekräftigt (6). Dort werden auch "einseitig" begabte Völker kritisiert. Nietzsche nennt hier die Engländer, denen er an anderer Stelle z.B. "Utilitarismus" und "Puritanismus" vorhält. Auch "Einzelne" werden kritisiert, wie z.B. Dühring, dessen Antisemitismus Nietzsche immer wieder verurteilt.332 Statt der "Einseitigkeit" zu huldigen sei die "Fülle der Natur" zu "erstreben" und diese könne durch "Paarung von Gegensätzen" erreicht werden, z.B. durch "Rassen-Mischungen". Wieder die Forderung der Kommunikation zwischen den Völkern bis hin zur "Vermischung11 der Völker und ihrer "Gegensätze", damit die von Nietzsche geforderte neue Synthese des Menschen erreicht werden kann, die den Menschen umfänglicher, ganzer machen und so erhöhen soll. Nicht Reduktion von Vielheit in "Einseitigkeit", sondern Bewahrung der Vielheit und der Gegensätze in einer neuen Einheit ist das Ziel. Die genannten Forderungen (1-6) können nur verwirklicht werden, wenn der Mensch einen "neuen Muth" aufbringt (7), womit hier wohl die Bereitschaft gemeint ist, die Herausforderung seiner Lehre der "ewigen Wiederkehr" anzunehmen. Diese verlangt aber, wie wir gesehen haben, daß der Mensch seine Optik auf alle Seiten des Daseins, der Welt öffnet, auch auf die bisher "verneinten Seiten des Daseins" (12,455,12). Eine solche Hinwendung zur "ganzen Wahrheit" der Welt fordert eine Absage an bisherige "a priorische Wahrheiten (solche suchten die an Glauben Gewöhnten!)." (7). Es gibt nach Nietzsches Auffassung keine derartigen Wahrheiten. Auch die Kategorien der Vernunft verdanken, wie wir vom gesehen haben, ihre Geltung nur ihrer "Nützlichkeit". Der Mensch muß den "Muth" haben, sich von solchen "Feststellungen" (in Nietzsches Verständnis) frei zu machen. Er muß anerkennen, daß Erkenntnis 'historisch' ist, also an eine Zeit, an ihre Zeit gebunden bleibt. In diesem Sinn fordert Nietzsche die "freie Unterordnung unter einem(n) herrschenden Gedanken, der seine Zeit hat...". (7). Damit könnte Nietzsche zweierlei andeuten wollen: zum einen, daß die Lehre der "ewigen Wiederkehr" jetzt "ihre Zeit hat", also jetzt als der "herrschende Gedanke" zu gelten habe, 332
Zu Nietzsches Kritik an Dühring vgl. KSA-Kommentar 568-569. Ferner Marti 1993, 172 sowie das Namensregister.
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was zum zweiten aber auch besagen könnte, daß auch diese Lehre nur eine zeitlich befristete Geltung hat, also nicht auf unbegrenzte Zeit Geltung beanspruchen könne. Damit wäre auch die Lehre von der "ewigen Wiederkehr" in den Fluß der Zeit eingebettet, in den Gang eines Erkenntnisprozesses, der Erkenntnis immer nur als vorläufige und veränderliche "auf Zeit" "feststellen" kann und immer wieder verändern wird. Auch für die Lehre von der "ewigen Wiederkehr" beansprucht Nietzsche demnach keine "a priori"-Gültigkeit. Wenn wir uns nun auf einen Aspekt dieser Lehre, ihren erzieherischen Imperativ, beschränken, würde das bedeuten, daß sie nur so lang gelten soll, wie ihr erzieherischer Auftrag reicht, also bis zu dem Zeitpunkt, wo sie ihre von Nietzsche zugedachte Aufgabe erfüllt hat. Wie dem auch sei - viele Fragen bleiben offen -, deutlich scheint doch zu sein, daß Nietzsche hier selbst auch diese Lehre nur als "Hypothese" betrachtet haben will, als "Hypothese", die seiner Auffassung nach jetzt "an der Zeit" ist, und von der er sich eine erzieherische Wirkung verspricht. Betrachten wir nun noch einmal das Fragment als ganzes, so ergibt sich, daß es darin zum einen um den Kampf gegen "Einseitigkeit", Nationalismus, Antisemitismus geht, zum ändern um Schritte, die die neue "Synthese" vorbereiten sollen, die eine Erhöhung des Menschen bringen soll. Als "Mittel", das zur Erreichung dieser Ziele nun "an der Zeit" sei, verweist Nietzsche - unter Vorbehalten - auf seine Lehre von der "ewigen Wiederkehr". Von einer "Vernichtung" von Menschen kann kaum die Rede sein. Es geht um deren "Erschütterung" und "Umwandlung" durch die erzieherische Wirkung eines "Gedankens". Der "Sieg" dieser Lehre scheint nicht zuletzt auch darin zu bestehen, daß sie "untergeht", wenn sie ihre Aufgabe erfüllt hat, beziehungsweise daß sie - neben Elementen anderer Lehren - in die neue Synthese, die alle Gegensätze aufnehmen soll, eingeht. Der Text weist 'pragmatisch' (sprechhandlungstheoretisch) gesehen, eine gewisse Gegensätzlichkeit des Sprechens auf: einerseits die konzise und prägnante Formulierung der Forderungen (1-6), auf der anderen Seite die hypothetisierende Beschreibung der dazu erforderlichen Lehre. Die Direktheit der Forderungen wird durch die 'Relativierung' der Lehre wieder zum Teil zurückgenommen. Der Ansturm der Forderungen geht in eine reflexive Haltung über. Klar und deutlich scheinen die Forderungen, aber der Weg dahin
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kann auch nur ein vorläufiger sein. Spricht zunächst der "Agitator", so meldet sich am Schluß wieder der Philosoph zu Wort. Die Suche wird weitergehen. Im vorhergehenden Text wurde das Wort "Vernichtung" von Nietzsche metaphorisch verwendet. Die "Tartüfferie", die "sclavenhaften Werthschätzungen", das "suffrage universel", die "Mittelmässigkeit" und die "Einseitigkeit" sollen "vernichtet", d.h. wohl "bekämpft" werden. Auch in dem einen Fall, in dem Personengruppen genannt wurden, ging es um die Bekämpfung bestimmter Eigenschaften, wie z.B. Nationalismus, Antisemitismus. Wenn Nietzsche nun in anderen Texten von "aussterben" und "absterben" spricht, dann können wir auch dort z.T. eine metaphorische, z.T. aber auch eine 'wörtliche', das heißt erne nicht-metaphorische Verwendung dieser Ausdrücke feststellen. In dem folgenden Fragment bezeichnet sich Nietzsche als "Deutscher einer aussterbenden Art" (11,255,1-4: S/H 84: 26/3957): "Es scheint, ich bin etwas von einem Deutschen einer aussterbenden Art. Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen - habe ich einmal gesagt: aber das will man mir heute nicht zugeben. Goethe hätte mir vielleicht Recht gegeben."
Nietzsche spielt hier zunächst auf die "Vermischten Meinungen und Sprüche" an (323: KSA 2,511-12). Dort heißt es: "Die Wendung zum Undeutschen ist... immer das Kennzeichen der Tüchtigen unseres Volkes gewesen." (2,512,13-15).
Nietzsche fordert also ein Hinausgehen über das eigene Volk: eine "Entdeut§ehlfflg". Die Zahl derer, die das anstrebe, "sterbe aus", wird also kleiner. Die Deutschen sind also immer weniger bereit, sich übernational und international zu orientieren. Ebendies wirft Nietzsche ihnen immer wieder vor, wie wir schon sahen. Der anschließend erfolgende Hinweis auf Goethe rückt das Fragment in eine völlig neue Beleuchtung. Nietzsche spielt an auf Goethes "Stirb und werde", eine Zeile in dem Gedicht "Vollendung", das Goethe auch im "Westöstlichen Divan" 1819 (Weimarer Ausgabe 6,28) abdrucken ließ. Das "(Aus) Sterben" erscheint hier als eine Voraussetzung, als ein Übergang zu einem neuen "Werden". In Nietzsches Zusammenhang ergibt sich dann: als "Deutscher (aus) sterben" ist der Weg, um wirklich "gut deutsch" zu werden. Der Deutsche soll in seinen "deutschen" Eigenschaften - die Nietzsche nicht besonders schätzt - "aussterben", erst dann wird er zu einem "guten" Deutschen in Nietzsches Sinn. Der Deutsche soll sich "umwandeln", z.B. die an den
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Hohenzollern so sehr gerügten Eigenschaften ablegen. "Aussterben" meint also hier nicht den physischen Untergang, sondern "Umwandlung", "Transformation" des Wesens der Menschen. Das "Aussterben" bzw. "Sterben", verstanden als "Umwandlung" des Menschen, wird hier als Weg zur Erhöhung des Menschen deutlich. Wenn Nietzsche als Aufgabe der Lehre von der "ewigen Wiederkehr" das "Erschüttern und Umwandeln" des Menschen angibt, dann scheint damit etwas ganz Ähnliches intendiert zu sein. Damit wird deutlich, daß das "(Aus)sterben" in der Formel "Stirb und werde" und vielleicht auch das dionysische "vernichten" in der Formel "vernichten und schaffen" nicht per se wörtlich verstanden zu werden braucht. Es kann auch in dem angedeuteten Sinn einer Wesens-Umwandlung verstanden werden. "Vernichten" als Umwandeln zur Schaffung eines neuen Menschen. Nicht selten verwendet Nietzsche dafür auch das Bild des Bildhauers, der mit seinem "Hammer" aus dem Stein das von ihm gewünschte Bild herausarbeitet. Der "Lehrer" entpuppt sich als "Bildhauer", der nicht Menschen physisch vernichten will, sondern ihr Wesen umschaffen will. Dies dürfte zumindest eine legitime Lesart für den dionysisch "vernichtenden und schaffenden" Lehrer sein. Interpretationen, wie die Noltes, die diese - zumindest in dem obigen Beleg klar zu Tage tretende - Lesart völlig vernachlässigen, dürften zu kurz greifen, wenn auch - dies ist nicht zu bestreiten - Nietzsches Wortwahl solche 'handgreiflichen' und einseitigen Interpretationen gelegentlich zu begünstigen scheint. Nietzsche hat sich mit seiner agitatorischen Wortwahl selbst keinen guten Dienst erwiesen, da diese Wortwahl einseitigen Interpretationen Tür und Tor öffnet, wie die Nietzsche-Rezeption im Sozialdarwinismus zeigen sollte. Es ließen sich noch weitere Texte anführen, in denen sich die Frage stellt, inwiefern es sich dort bei dem "Absterben", von dem die Rede ist, nur um einen metaphorisch zu verstehenden Vorgang oder um ein reales Sterben handelt, sowie die Frage, ob der Lehrer selbst auch "Täter" oder SterbehilfeLeistender oder nur "herzloser" Zuschauer ist. Diese Fragen stellen sich etwa bei dem folgenden Fragment, das hier exemplarisch angeführt werden soll (11,547: Mai/Juli 85: 35/827): "Eine pessimistische Denkweise... katin unter Umständen gerade dem Philosophen unentbehrlich sein: als ein mächtiger Druck und Hammer, mit dem er entartende und absterbende Rassen zerbricht und aus dem Wege schafft, für eine neue
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Ordnung des Lebens Bahn zu machen oder um dem, was entartet und absterben will, das Verlangen zum Ende einzugeben." (11,547,1-7).
Kann dieser Text noch mit der eben angedeuteten Lesart des dionysisch "vernichtenden" und "schaffenden" Bildhauers verstanden werden? Mit der "pessimistischen Denkweise" könnte die Lehre von der "ewigen Wiederkehr" gemeint sein, die Nietzsche selbst einmal unter diesem Stichwort einfuhrt (12, 455,1 fff.). Gemeint ist dabei sein "Pessimismus der Stärke". Handelt es sich auch hier nur um "harte" Erziehungsmaßnahmen, um dem "was absterben will, das Verlangen zum Ende einzugeben?" Wird auch hier primär auf "Umwandlung" abgezielt, oder wird auch das physische Ende mit in Kauf genommen? Die Frage läßt sich wohl kaum sicher beantworten. Aber gerade darin liegt dann auch die Problematik eines solchen Textes: daß er das physische Untergehen zumindest nicht ausschließt. Sollte dies der Fall sein, dann stellt sich zumindest die Frage, ob es einem solchen Lehrer nicht an "Menschlichkeit" fehlt, um ein heute sehr strapaziertes, vielleicht 'altmodisches' Wort zu gebrauchen. Sollte Nietzsches Projekt einer Erhöhung des Menschen nur zu diesem Preis zu verwirklichen sein, dann dürfte dieser Preis, zumindest nach unserer heutigen Einschätzung, zu hoch sein. Wie gesagt, die Frage läßt sich wohl nicht sicher beantworten. Auch die vorher erwähnte Lesart des in metaphorischem Sinn "vernichtenden" und "schaffenden" Lehrers hat sehr viel für sich. Können wir uns vorstellen, daß ein Nietzsche, der ein "Herz" hat für ein von seinem Kutscher geprügeltes Pferd - wie es eine Turiner Anekdote berichtet- 333 kein "Herz" für die durch seine Lehre mit dem "zu Grunde gehen"-Bedrohten haben sollte? Geht es also doch nur um sehr "harte" Erziehungsmaßnahmen, die die Menschen bis an jenen Rand der Erschöpfung bringen sollen, wo sie bereit werden zu der von Nietzsche bezweckten "Umwandlung"? Also zu einem "Stirb und werde" in Goethes Sinn? Wir wollen diese Frage hier offen lassen. Vielleicht sollten wir uns noch einmal daran erinnern, daß Nietzsche bei seinem "neuen Weg zum 'Ja'" das Moment der "Freiwilligkeit" sehr stark betont: 333
Zu dieser Anekdote vgl. Verrecchia 1986, 260-261.
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"Meine neue Fassung des Pessimismus als ein j^e/wi//iges[(Hervorhebung GS] Aufsuchen der furchtbaren und fragwürdigen Seiten des Daseins..." (12,455,1-3).
Der Mensch kann also selbst entscheiden, ob er sich diesem "Pessimismus" aussetzen will! Es ist eine "Frage seiner Stärke". (12,455,6): "Wie viel 'Wahrheit' erträgt und wagt ein Geist?" (12,455,5-6). Ist er diesem "Pessimismus" gewachsen, dann "könnte" dies "münden" in jene Form eines dionysischen Jasagens zur Welt, wie sie ist..." (12,455,7-8). Halten wir uns an diese Darstellung, dann ist es der einzelne Mensch selbst, der sich in "freiwilliger" Entscheidung dem Druck und Zwang einer "Lehre" aussetzt, die ihn "vernichten" kann, die aber gerade dadurch sein neues "Werden" bewerkstelligt. Der Lehrer bürdet dem "Schüler" alle Verantwortung auf: der Einzelne stellt sich selbst auf die Probe. Auch für ein eventuelles Scheitern ist er selbst verantwortlich. Nietzsches Lehre erweist sich in dieser Interpretation als Weg zur "Selbstüberwindung", und diese kann der Lehrer dem "Schüler" zwar "vorleben", aber er kann sie ihm nicht abnehmen. Der Einzelne kann diesen Weg nur selbst zu gehen versuchen und er trägt dann selbst die Verantwortung für sein Gelingen.
Eugenik?
Wenn auch die Lehre von der "ewigen Wiederkehr" im Mittelpunkt von Nietzsches Erziehungsprojekt stehen dürfte, so werden gelegentlich doch auch noch andere "Mittel" zur Erhöhung des Menschen genannt, deren Stellenwert nun noch etwas näher zu bestimmen ist. Nietzsches "philosophischer Arzt" macht sich etwa Gedanken über "Alkoholmißbrauch", über Geschlechtskrankheiten und stellt sich die Frage, ob und wie die "Fortpflanzung" in bessere Bahnen geleitet werden könne. Angesichts dieser Sachverhalte stellt sich die Frage, inwiefern damit "eugenische" Maßnahmen angesprochen sein könnten. Wie sah die Eugenik im 19. Jahrhundert aus? Welche Maßnahmen wurden in Erwägung gezogen? Welche Ziele wurden verfolgt? Wie ist Nietzsche hier einzuordnen? Gemäß Weindling, der die Entwicklung der medizinischen Disziplinen im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa eingehend untersucht hat, entstand die Eugenik nicht im Umkreis der arischen Ideologie oder des
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Antisemitismus. Ihre Anfänge sind vielmehr auf den Gebieten der "public health, social policy and of the bio-medical sciences" zu suchen.334 Erst das "Nazi-take over" brachte eine Verschiebung ihrer Zielsetzungen, so daß jetzt auch einzelne "Rassen", wie die Juden, Zigeuner und Slawen, sowie einzelne sociale "Problemgruppen", wie etwa die "feeble minded", besondere Aufmerksamkeit erhielten. Noch kurz vor diesem tiefgreifenden Einschnitt wurde ein Sterilisationsgesetz beschlossen (1932), das von "a wide range of Catholic, Jewisch and socialist eugenics" gebilligt wurde.335 Bis zum Eingreifen der Nazis ging es der Eugenik um Maßnahmen, mit denen die Gesundheit der Menschen im allgemeinen verbessert und gehoben werden sollte. Wir heben zunächst einige Punkte heraus, die die Arbeitsfelder der Eugenik veranschaulichen können. Wie sich zeigen wird, tauchen die Namen der wichtigeren, bei Weindling genannten Forscher auch in Nietzsches Fragmenten
auf. Die Eugenik bemühte sich z.B. um die genauere Erforschung des Gehirns (so E. Hitzig), da man überzeugt war, auf dieser Grundlage Geisteskrankheiten heilen zu können. E. Hitzig wurde Direktor des "mental hospital" Burghölzli in Zürich, das eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der Eugenik spielen sollte.336 Zum Programm der Eugenik gehörten auch Anti-Alkoholkampagnen, da man der Auffassung war, daß Alkohol die Vererbung störe und zu physischen Mißbildungen führe.337 Auch der Genuß von Tabak wurde aus diesen Gründen abgelehnt. Ploetz vertrat die Auffassung, daß "the recognition and cultivation of good variations" der einzige Weg sei, die Menschheit (humanity) zu verbessern. Bis zum Jahre 1892 hatte er zu diesem Zweck die Genealogien von 1430 Personen gesammelt. Er wollte damit ein gesteigertes Bewußtsein dafür schaffen, "of how sexual selection could be the basis of humanic improvement".338 1873 erschien Galtons Schrift über "stirpiculture", wofür er 1883 erstmals den Ausdruck "eugenics" verwendete. 334 335 336 337 338
Weindling 1989, 9-10. Weindling 1989, 9. Weindling 1989, 45. Weindling 1989, 71: "physical degeneration". Weindling 1989, 76.
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Während etwa Marx durch soziale und politische Maßnahmen das Los der Menschen verbessern wollte, oder soziale Utopisten (wie Bellamy, der Galton bewunderte) in Kolonien eine bessere Menschheit schaffen wollten, waren die Eugeniker überzeugt, dieses Ziel durch Verbesserung der Umwelt, auch der Arbeitsumwelt, und durch "human intervention" erreichen zu können. Auf diesem Wege glaubten sie die durch die moderne industrielle Arbeitswelt für die Entwicklung der Menschheit drohenden Gefahren abwenden zu können. Allen gemeinsam war die Sorge um das Wohl der Menschen im ganzen. Nur vereinzelt wurden gegen dieses Programm Vorbehalte angemeldet, so von Gudden in Zürich, der zu bedenken gab: "therapy only causes the weak to survive".339 Im Anschluß an Galton vertraten auch Philosophen wie Th. Ribot die Auffassung, daß Krankheiten durch Vererbung weitergegeben werden. Der Vererbung und der Fortpflanzung war also besondere Aufmerksamkeit zu widmen.340 Ibsens Theaterstück "Gespenster" warf die Frage der Sterilisation nachdrücklich auf. Man sah in ihr auch eine Therapie gegen Geisteskrankheiten, Kriminalität und Hysterie.341 Der Psychologe J.B. Haycraft sah im Tuberkulose-Bazillus "the friend of the race", "in that it eliminated the unfit".342 Hier wird der ambivalente Charakter der Eugenik bereits in Ansätzen greifbar. Als Neisser 1895 Prostituierte mit Gonokokus-Viren impfte und deren Erkrankung verursachte, führte dies zu Protesten und zu einer Diskussion über die Frage, inwiefern im Dienste der Wissenschaft Opfer vertretbar seien. Man kam zu dem Ergebnis, "that a certain amount of sacrifice was justified to maintain the forward march of science".343 Im Jahre 1923 forderte Lenz eine Kontrolle der Fortpflanzung durch Sterilisation und "marriage certificates". Euthanasie wurde ausdrücklich abgelehnt, da sie irrelevant sei für eine eugenische Kontrolle der Fortpflanzung.344
339 340 341 342 343 344
Weindling 1989, 85. Weindling 1989, 85. Weindling 1989, 101. Weindling 1989, 168. Weindling 1989, 169. Weindling 1989, 398.
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Weindling hebt am Ende seiner gründlichen Untersuchung ausdrücklich hervor, daß bis in die zwanziger Jahre die "medical and welfare-oriented eugenics", die "rassenhygienische" Maßnahmen ausdrücklich ablehnt, getrennt gehalten werden muß von "nationalist ideologies of racial purity". Erst mit der Wirtschaftskrise (ab 1929) und der Machtergreifung der Nazis tritt hier eine Verschiebung der Grenzen ein.345 Nietzsche war, wie die Nennung der Namen Hitzig, Galton und Ribot in seinen Fragmenten und Briefen zeigt, mit den Bemühungen der Eugeniker vertraut. Th. Ribot erwähnt Nietzsche 1877 zweimal als Herausgeber der Zeitschrift "Revue philosophique", die er als "ausgezeichnet" einstuft (KSB 5,266 und 268). Wie weit er Arbeiten Ribots selbst gelesen hat, ist daraus nicht zu entnehmen. Von E. Hitzig nennt Nietzsche in einem Fragment von 1882 dessen Abhandlung "Untersuchung über das Gehirn Berlin 1874", die er daher wohl für eine nähere Lektüre vorgesehen hatte (KSA 10,33,17). Galton wird 1888 zweimal in den Briefen erwähnt, beide Male im Zusammenhang mit physiologischen Überlegungen. Von dem "Engländer Galton" habe er gelernt: "Man holt nicht nach in physiologicis, jeder schlechte Tag zählt..." Vorher schreibt Nietzsche: "Die Lebenskraft ist nicht mehr intakt. Die Einbusse von 10 Jahren zum Mindesten ist nicht mehr gut zu machen: während dem habe ich immer vom 'Capital' gelebt und nichts, nichts erworben. Aber das macht arm..." Dann folgt der Hinweis auf Galton. Und weiter heißt es: "Ich kann, unter begünstigenden Verhältnissen, mit äußerster Vorsicht und Klugheit ein labiles Gleichgewicht erreichen; fehlen diese begünstigenden Verhältnisse, so hilft mir alle Vorsicht und Klugheit nichts. Der erste Fall war Turin; der zweite ist, leider dies Mal, Sils." (KSB 8,347,21-31).
Interessant ist, daß Nietzsche hier Galton ganz allgemein als Bestätigung für seine Auffassung von der "Lebens-Kraft" versteht. Deren "Capital" ist begrenzt. Nur unter "begünstigenden Verhältnissen", wie in Turin, kann ein "labiles Gleichgewicht" zwischen "Ausgaben" und "Einnahmen" erreicht werden. Ist dies nicht der Fall, dann nimmt die "Lebens-Kraft" ab: "jeder schlechte Tag zählt". In der zweiten Stelle geht Nietzsche auf Galtons Vererbungstheorie ein ("the hereditary genius"):
Weindling 1989, 462. Zur "Rassenhygiene" vgl. Zmarzlik 1963.
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"Der hereditäre Verbrecher decadent, selbst Idiot - kein Zweifel! Aber die Geschichte der Verbrecher-Familien, für die der Engländer Galton ('the hereditary genius') das grösste Material gesammelt hat, führt immer auf einen zu starken Menschen für ein gewisses sociales niveau zurück. Der letzte große Pariser Criminalfall Prado gab den klassischen Typus: Prado war seinen Richtern, seinen Advokaten selbst durch Selbstbeherrschung, esprit und Übermuth überlegen; trotzdem hatte ihn der Druck der Anklage physiologisch schon so heruntergebracht, daß einige Zeugen ihn erst nach alten Porträts wiedererkannten." (KSB 8,508,1020).
Hier werden Vorbehalte an Galtons Theorie angemeldet: nicht nur die Vererbung von Krankheit und Schwäche fuhrt zu Kriminalität, auch die Vererbung von "Stärke" kann dazu fuhren, wenn dabei ein Mensch entsteht, der "zu stark für ein gewisses sociales niveau" ist. Dies glaubt Nietzsche aus Galtons Material selbst ablesen zu können. Nicht eigentlich die Vererbung ist in diesem Fall für die Kriminalität verantwortlich zu machen, sondern die Diskrepanz zwischen der "Stärke" eines Menschen und dem "socialen niveau", in dem er sich einrichten muß. "Verbrecher" entstehen also nicht nur durch "Vererbung", auch ein "gewisses sociales niveau" kann einen "starken" Menschen zum "Verbrecher" machen oder werden lassen. Die jeweils herrschende Moral ist hier also nicht zu vernachlässigen.346 Die kurzen Ausführungen zeigen, daß Nietzsche die eugenische Forschung offenbar ab 1877 mit Interesse verfolgt hat, teils zustimmend, teils aber auch mit kritischen Vorbehalten. Wie sehen nun seine eigenen Vorschläge aus? Zunächst einmal wird er nicht müde, auf die Gefahren des Alkohols und der Syphilis hinzuweisen. In einem Fragment aus dem Jahre 1881 weist er nachdrücklich auf die Gefahren hin, die der Menschheit (im Text: "Rasse") durch den "regelmässigen" Genuß von Alkohol und Kaffee seiner Meinung nach drohen: "Die größten Einwirkungen übersehen [hat hier die Bedeutung: "überblicken", "abschätzen können"] wir nicht: wir können immer noch die Rasse ["die menschliche Rasse", die "Menschen"] zu Grunde richten, denn wir messen die Wirkungen nach Individuen, höchstens nach Jahrhunderten. Ob z.B. der Kaffe oder der Alkohol nicht Gifte sind, die in der regelmässigen Weise eingenommen, wie es geschieht, in 2000 Jahren die Menschheit vernichtet haben?" (9,458,18-23: F/H 81: H/45/). 346
Näheres zum Fall Prado, den Nietzsche aus dem "Journal des Debats" (November 1888) kennenlernte, bei Marti 1993, 257.
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Wie schädlich ist die Wirkung von Alkohol und Kaffee - auf lange Sicht? Diese Frage stellt sich Nietzsche hier, und er ist von deren Schädlichkeit wohl überzeugt, wie es auch die Eugeniker seiner Zeit waren. Nietzsche macht sich hier Sorgen um die ganze Menschheit, nicht nur um die "Starken"! Als "Arzt" hat er das physiologische Wohl aller im Auge. Sechs Jahre später kommt er in der "Genealogie der Moral" (1887) wieder auf diesen Punkt zurück. Und er nimmt hier auch eine Einstufung vor: neben dem "asketischen Ideal" habe nichts so "zerstörerisch" auf die "Gesundheit" der Europäer gewirkt wie eben der Alkohol (5,392,18-23). Und dieser verheerende Einfluß sei von den Germanen ausgegangen: "Ich wüsste kaum noch etwas Anderes geltend zu machen, was dermaassen zerstörerisch der Gesundheit... namentlich der Europäer zugesetzt hat als dies Ideal... Höchstens, daß seinem Einfluss noch der spezifisch germanische Einfluss gleichzusetzen wäre: ich meine die Alkohol-Vergiftung Europa's, welche streng mit dem politischen und Rassen-Übergewicht der Germanen bisher Schritt gehalten hat (wo sie ihr Blut einimpften, impften sie auch ihr Laster ein)." (5,392,18-28). Schon Tacitus hatte die Alkoholfreude der Germanen betont, und in diesem "Laster" sind die Deutschen die traurigen Nachkommen der Germanen. Es könnte befremdend wirken, daß Nietzsche hier den Alkohol und das asketische Ideal auf einer gleichen Ebene behandelt. Ein solches Vorgehen wird für Nietzsche aber zulässig aufgrund seiner physiologischen Betrachtungsweise. Der Alkohol und das asketische Ideal sind insofern vergleichbar, als sie beide die Willenskräfte des Menschen beeinträchtigen, also den Willen, die Welt, "wie sie ist", zu bejahen, statt unter Zuhilfenahme von Narkotica dieser Realität entfliehen zu wollen. Für das asketische Ideal gilt das Letztere nach Nietzsches Auffassung insofern, als dieses dazu neigt, der Welt, "wie sie ist", eine 'bessere', 'wahrere' Welt, die frei ist von den Unzulänglichkeiten und Leiden der realen Welt, entgegenzusetzen. In ihrer 'negativen' physiologischen Wirkung auf den Menschen sind also der Alkohol und das asketische Ideal, nach Nietzsches Auffassung, durchaus vergleichbar. An gleicher Stelle wird dann auch die "Syphilis" genannt: "Zudritt in der Reihe wäre die Syphilis zu nennen, - magno sed proxima intervallo." (5,392,28-29). Auch an anderen Stellen erwähnt er noch die Syphilis. Wenn Nietzsche dem Alkohol und Geschlechtskrankheiten eine so große Bedeutung für die Er-
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krankung der Menschen seiner Zeit beimißt, dann gibt er damit die gleiche Diagnose wie der Eugeniker seiner Zeit. Und auch die Schriftsteller haben sich dieser Diagnose angeschlossen, so Ibsen ("Gespenster") und wenige Jahre später auch Zola in seinen "Rougon-Macquart"-Romanen, die 1891-93 erschienen sind. Nietzsche findet sich hier in der Gesellschaft der französischen Naturalisten, deren Werke er jedoch ablehnt. Nach Weindling wollte Zola darstellen, daß und wie Alkoholismus und Geisteskrankheiten zu Verbrechen, Prostitution und Verrohung der Sitten fuhren. Zola stützte sich hierbei auf medizinische Studien über die Vererblichkeit von Krankheiten.347 Die geschilderte Diagnose legte den Gedanken nahe, die Ausbreitung der angedeuteten Krankheiten durch Kontrolle der Fortpflanzung einzuschränken. Dieser Gedanke wird auch von Nietzsche ab 1880 mehrmals vorgebracht. In einem Fragment aus dem Jahre 1880 (9,189-190: S 80: 5/38/) legt Nietzsche dar, die "Rasse" (die "Menschheit") leide an wahlloser Fortpflanzung, indem die Menschen in erster Linie der "Befriedigung des Triebes" nachgingen (9,189,9-10). Für die "Befriedigung des Triebes" sei aber besser die "Prostitution" geeignet (9,189,27). Ehen sollte nicht mehr so "leichtfertig" geschlossen werden (9,189,23). Man solle nur heiraten "zum Zwecke höherer Entwicklung" und um "Früchte eines solchen Menschenthums zu hinterlassen" (9,189,19-21). Der Mann brauche das "Weib" nicht, um zum "vollen Menschen" zu werden (9,189,17-18). Bei der "Prostitution" handle es sich auch nicht um ein "Opfer", denn: "die Huren sind ehrlich und thun, was ihnen lieb ist und ruiniren nicht den Mann durch das 'Band der Ehe'..." (9,189,27-190,2).
Dieser (peinliche) Text spricht für sich. Er läßt keine "Sorge" um das Schicksal aller Menschen erkennen. Dem "Zwecke höherer Entwicklung" werden hier die Frauen und insbesondere die Prostituierten untergeordnet. Auch für das "Volk" der "großen Städte" hat Nietzsche kaum etwas übrig: "Geht durch die großen Städte und fragt euch, ob dies Volk sich fortpflanzen soll! Mögen sie zu ihren Huren gehen!-" (9,189,25-26).
347
Weindling 1989, 87.
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In einem weiteren Fragment wird die Frage der Fortpflanzung offenbar mit der Lehre von der "ewigen Wiederkehr" in Verbindung gebracht (9,683: S 82: 21/3/): "Die Menschen zur letzten Consequenz treiben und die mit der Verneinung des Werthes zwingen, auf Fortpflanzung zu verzichten" (9,683,14-16).
Die Lehre von der "ewigen Wiederkehr" treibt, so könnte man sagen, "die Menschen zur letzten Consequenz", nämlich zum "Stirb und werde". Das Fragment scheint nun andeuten zu wollen, daß jene, die dazu nicht bereit oder fähig sind, auf "Fortpflanzung verzichten" sollen? Der "Zwang", den Nietzsche hier fordert, steht jedoch im Widerspruch zu der an anderer Stelle geäußerten Auffassung, daß die Herausforderung des "Pessimismus der Stärke" nur freiwillig angenommen werden könne und dürfe (12,455,2-3: "ein freiwilliges Aufsuchen der furchtbaren... Seiten des Daseins"). Vielleicht kann uns ein Bück auf die Chronologie aus diesem Dilemma heraushelfen. Das Fragment, in dem der eventuelle Verzicht auf Fortpflanzung gefordert wird, stammt aus dem Jahre 1882; das Fragment, in dem die Freiwilligkeit des Eingehens der Prüfung der Lehre von der "ewigen Wiederkehr" hervorgehoben wird, aus dem Jahre 1887. Nietzsche hätte demnach die Rigorosität seiner Forderung abgemildert: die Frage der Fortpflanzungswürdigkeit wird nicht mehr davon abhängig gemacht. Ob ein Mensch die "Lehre" auf sich nimmt und wie er sie besteht, ist ganz allein seine Sache. Der Mensch trägt allein das selbstgewählte Risiko, das Wagnis, sich selbst zu "vernichten" und (dadurch) sich selbst neu zu "schaffen". Für das Moment der Freiwilligkeit und der eigenen Wahl plädiert Nietzsche auch, wenn es darum geht, den Zeitpunkt des eigenen Todes zu bestimmen. In der "Götzen-Dämmerung" (Streifzüge 36) fordert er: "Auf eine stolze Art zu sterben, wenn es nicht mehr möglich ist, auf eine stolze Art zu leben. Der Tod aus freien Stücken gewählt, der Tod zur rechten Zeit, mit Helle und Freudigkeit, inmitten von Kindern und Zeugen vollzogen: so dass ein wirkliches Abschiednehmen noch möglich ist, wo Der noch da ist, der sich verabschiedet, insgleichen ein wirkliches Abschätzen des Erreichten und Gewollten, eine Summirungdes Lebens..." (6,134,27-135,2).
Nietzsche schneidet hier eine sehr kontroverse Frage an, die auch heute gerade auch nach den diesbezüglichen Verbrechen der Nazizeit - nichts von ihrer Brisanz verloren hat. Wir können uns hier nicht auf diese schwierige
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Diskussion einlassen. Aber trotz aller Bedenken haben wir heute - mit Recht, wie ich glaube - Verständnis dafür, wenn ein lange und aussichtslos Erkrankter sich heute für diesen Weg entscheidet. Und das Sterben, wie Nietzsche es hier beschreibt, ist - glaube ich - auch ein würdiges Sterben. Alles hängt sehr von dem Umständen ab: dem inneren Frieden des Kranken, der Zustimmung und Teilnahme seiner Verwandten, der freien Entscheidung, ohne jeden Zwang, und in gegenseitiger Wertschätzung. In diesen Punkten läßt aber der Text Nietzsches doch gewisse Zweifel aufkommen. Zwar betont Nietzsche, wie wir gesehen haben, die Freiwilligkeit der Entscheidung, zugleich aber gibt er zu Beginn des Textes zu verstehen, daß der Tod eines solchen Kranken der Gesellschaft nicht ungelegen komme, und daß der Arzt dies dem Kranken gegenüber zum Ausdruck bringen solle. Der Beginn des Textes lautet: "Moral für Ärzte.- Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig [hier vielleicht noch "unpassend", also ohne 'moralischen' Nebenton], noch länger zu leben. Das Fortvegetiren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn vom Leben, das Recht zum Leben verloren gegangen ist, sollte bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehen. Die Ärzte wiederum hätten die Vermittler dieser Verachtung zu sein,- nicht Recepte, sondern jeden Tag eine neue Dosis Ekel vor ihrem Patienten..." (6,134,1412). Es soll also doch Druck ausgeübt werden: der Arzt soll die "Verachtung" der Gesellschaft an den Kranken weitergeben, der endlos "fortvegetiren" will. In einer solchen Situation bleibt wohl kaum noch Raum für einen Tod "aus freien Stücken". An solche Textpassagen mögen wohl Sozialdarwinisten wie Schallmayer angeknüpft haben, bei dem sich die These findet, die Kranken seien "eine Last für den Staat".348 Im weiteren Verlauf des Textes ist Nietzsche jedoch bestrebt, wieder eine 'höhere', das heißt nicht von solchen Wertungen ausgehende Argumentation seines Vorschlags zu gewinnen. Es gelte hier, "allen Feigheiten des Vorurtheils zum Trotz, vor Allem die richtige, das heißt physiologische Würdigung des sogenannten natürlichen Todes herzustellen: der zuletzt auch nur ein 'unnatürlicher', ein Selbstmord ist. Man geht nie durch Jemand Anderes zu Grunde, als durch sich selbst. Nur ist es der Tod unter den 348
Weindling 1989, 86. Zu Schallmayer vgl. auch Conrad-Martius 1955.
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verächtlichsten Bedingungen, ein unfreier Tod, ein Tod zur unrechten Zeit, ein Feiglings-Tod. Man sollte aus Liebe zum Leben -, den Tod anders wollen, frei, bewußt, ohne Zufall, ohne Überfall..." (6,135,8-16).
Hier geht es Nietzsche wieder um die wirkliche Würde des Todes und Sterbens, jenseits der bedenklichen Bemerkungen des Textanfangs. Nicht jeder aber wird die Kraft haben, so "frei" und "bewußt" zu sterben. Dies wirft Nietzsche dann insbesondere den "Herrn Pessimisten" vor, die zwar das "Leben veraeinen", aber dessen ungeachtet weiterleben. (6,135,1630). Der Text weist, wie wir sehen, eine gewisse Ambivalenz auf: einerseits will er die Würde des Todes wieder "herstellen": das Sterben in "freier, bewußter" Entscheidung, "ohne Zufall, ohne Überfall", das ein würdiges Abschiednehmen erlaubt. Zum anderen machen sich aber am Textbeginn andere Tendenzen bemerkbar: daß der baldige Tod eines Kranken für die Gesellschaft wünschenswert sei. Dieser Textanfang beeinträchtigt die im weiteren Textverlauf so sehr unterstrichene Freiwilligkeit der Wahl des Sterbezeitpunktes. Wenn wir Nietzsche hier zugute halten wollen, daß es ihm vor allem auf die Freiwilligkeit und Würde des Sterbens ankam, so sind wir doch bestürzt, mit welcher Kälte (bis "Verachtung") die "Gesellschaft" dem Sterben des Kranken gegenüber steht. Ist auch das Sterben in freier Entscheidung und Würde nur ein "Kalkül", dem jede menschliche Teilnahme abgeht? Nietzsches "stolze Art zu leben" und "stolze Art zu sterben" läßt in ihrer "Größe" offenbar keinen Platz für menschliche Wärme übrig. Wie wir wissen, sollten Zeiten kommen, die vor allem an diese "Kälte" anknüpfen und die von Nietzsche so stark betonte Freiwilligkeit dagegen geringschätzen sollten. Im übrigen macht Nietzsche aber auch ganz unbedenkliche Vorschläge, so wenn er in dem Fragment "die grosse Politik", das wir schon kennen, die "Physiologie zur Herrin über alle anderen Fragen machen" will (13,638,9-10). Man habe seit "zwei Jahrtausenden die Menschheit mit physiologischem Widersinn behandelt" (13,638,1-2), also zu wenig getan, um die physiologische Verfassung des Menschen wieder zu gesunden. Nietzsche hatte in der "Genealogie der Moral" diese Fragen ausführlicher behandelt. In dem Fragment "Die große Politik" fordert er daher, nun "alle nächstwichtigen Fragen" "mit Strenge, mit Ernst, mit Rechtschaffenheit" zu behandeln, und er
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zählt dann die folgenden Punkte auf: "Ernährung, Kleidung, Kost, Gesundheit, Fortpflanzung" (13,638,5-8). Mit diesen Stichworten verweist Nietzsche, wenn wir von der "Fortpflanzung" absehen (über die schon gesprochen wurde), auf Bestrebungen, die um die Jahrhundertwende zu dem sozialreformerischen Programm einer "Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform" führen sollten.349 Bei "Ernährung" und "Kost" ist wieder an die Alkoholfrage zu denken, aber auch an Fragen der Diät, die auch Nietzsche schon sehr ernst nahm.350 Hinzu kam später die "Reformbewegung", der es vor allem um die Bereitstellung möglichst naturbelassener Lebensmittel ging.351 Die Bemühungen um eine Reform der Kleidung (Material, Luftdurchlässigkeit usw.) setzten zu Beginn der 80-er Jahre ein und fanden rasch in ganz Europa Verbreitung, auch in der Schweiz.352 Nietzsche dürfte daher mit ihnen vertraut gewesen sein. Zu Fragen der Gesundheit hat Nietzsche sich ein Leben lang Gedanken gemacht. Er informierte sich eingehend über die unterschiedlichen Heilmethoden.353 Hierher gehören auch Sport und Tanz,354 und es ist sicher kein Zufall, daß Tänzerinnen wie Isidora Duncan sich für das tänzerische Körpergefühl in Nietzsches Philosophie begeisterten.355 Insgesamt läßt sich zu Nietzsches gesundheitspolitischen Vorschlägen wohl feststellen, daß sie noch im Rahmen jener Eugenik verbleiben, der es um die Beförderung der Gesundheit des Menschen überhaupt ging. Eine Bevorzugung von "Rassen" im modernen Sinn ist nicht zu bemerken. Eine solche Einschätzung findet sich auch bei Taylor.356 Die Kontrolle der Fortpflanzung durch Sterilisation wurde noch im Jahre 1932 von katholischen, jüdischen und sozialistischen Wissenschaftlern befürwortet.357 Bei der Frage des freiwillig
349 350 351 352 353 354 355 356 357
Dazu Krabbe 1974. Dazu eingehender Volz 1990, 119 f. Vgl. Krabbe 1974, 112 f. Vgl. Krabbe 1974, 108 f. Vgl. Volz 1990, 174 f. Krabbe 1974, 108. Dazu Aschheim 1992, 27, 61 und 165. Taylor 1990, 73. Vgl. Weindling 1989, 9. Darauf wurde schon hingewiesen.
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zu wählenden Sterbens läßt sich jedoch eine gewisse Kälte Nietzsches angesichts des Kranken nicht übersehen. Nietzsche scheint aber selbst unter diesem Mangel gelitten zu haben. In einem Brief spricht er von einem "Ekel", der ihm das Leben "sehr erschwere": "Denn ich bin in Bezug auf Menschen und Sachen... von einer unangenehmen und beinahe nervösen Geneigtheit zum Ekel: was das Leben mir sehr erschwert." (KSB 8,155: 1887: an Köselitz).
Die Eugenik dürfte wohl auch deshalb für Nietzsche von Interesse gewesen sein, weil sie Wege zu zeigen schien, die physiologische Verfassung des Menschen zu gesunden, was das erklärte Ziel seines "philosophischen Arztes" war: und zwar, ohne die Gesellschaft grundlegend ändern zu müssen. Es ging ihm darum, das Los der Menschen zu verbessern, ohne dafür jedoch eine soziale Umwälzung ä la Marx in Kauf nehmen zu müssen. Das aus dieser Sicht als 'konservativ' zu wertende Programm der Eugenik wäre dann als seine Alternative zu dem die Gesellschaft umwälzenden revolutionären Programm der Sozialisten und Marxanhänger zu betrachten. Der Arzt sollte an der "rechten Stelle" ansetzen, an der physiologischen Basis, und dies glaubte Nietzsche wohl ohne soziale Umwälzung bewerkstelligen zu können.
Nietzsches "doppelte Optik": Erhöhung mit Vorbehalten Die Erörterungen zur Frage der "Erhöhung" des Menschen haben ergeben, daß Nietzsche in zahlreichen Texten eine "Erhöhung" des "heutigen" Menschen, der durch die Entwicklungen der neueren Zeit "verkleinert" worden sei, in Erwägung zieht und fordert. Nietzsche glaubt in der neueren Zeit Beispiele solcher "Erhöhung" beobachten zu können, jene "Tantalusse des Willens" sowie die "Ausnahmemenschen", die ohne Anstöße von 'außen' in einer neuen "Synthese" jene Umfänglichkeit zu erreichen wußten, die der heute umfänglicher gewordenen Welt angemessen ist. Ergänzend zu diesem Weg der "Selbsterhöhung" sucht er ein Erziehungsprogramm zu entwerfen, das einen zweiten Weg zur "Erhöhung" des Menschen aufzeigen soll. Konzepte wie die Darwins, die der biologischen Komponente eine Bedeutung für die "Erhöhung" des Menschen zuerkennen wollen, werden hingegen als für sein Programm der "Erhöhung" des Menschen nicht relevant zurückgewiesen. Die gelegentlichen Verweise auf Darwin dienen in erster Linie einer besseren Profilierung seines eigenen Programms. Darwinistische Konzepte wie "Höherentwicklung" und "Selektion" werden von Nietzsche, wie wir sahen, in für ihn spezifischer Weise umgedeutet und umgewertet. Nietzsches Verweise auf Darwin stellen demnach nicht eine Darwin-Rezeption im Sinne einer Darwin-Übernahme dar. Eher erhält Darwins Lehre von Nietzsche die Rolle eines Antagonisten zuerteilt, mit dem Nietzsche in einen Agon eintritt, der der Präzisierung und Stärkung des eigenen, nicht-darwinistischen Programms einer Erhöhung des Menschen dienen soll. Nietzsche glaubt sein Programm der "Erhöhung" des Menschen wohl in erster Linie durch eine "Lehre" erreichen zu können, die den Menschen "erschüttern und umwandeln" können soll, die den Menschen in seinem Denken und in seinen "Affekten" dergestalt "vernichten" und wieder neu "schaffen" kann, daß er zu einem "dionysischen Jasagen" zu der "Welt, wie sie ist" in der Lage sein wird.
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Dieses "Jasagen" beinhaltet das von Nietzsche geforderte Umfänglicherwerden des Menschen, der nun auch zu den bisher "verneinten Seiten des Daseins" ja sagen kann. Nietzsches Lehre stellt die bisherigen "Denkweisen" zwar in Frage, aber auch diese können, wie die genaueren Einzelanalysen gezeigt haben, zu der neuen Umfanglichkeit des Menschen beitragen. Nietzsche begreift sie als notwendige Zwischenstufen, ohne die der Mensch nicht das werden kann, was er werden soll. Ziel ist der "weiseste Mensch", der eine möglichst große Vielfalt an "Gegensätzen" in einer neuen Synthese zusammenbringt, ohne diese Gegensätze in ihrer Vielfalt zu reduzieren. Er hat ein "Tastorgan für alle Arten Mensch".358
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Der in der vorliegenden Untersuchung gewählte Blickwinkel zeigt einen Weg der Völker und Menschen auf, der von einer anfänglichen Einbettung derselben in bestimmte Umgebungen (gemäß Nietzsches Rasse-Konzept) hinfuhrt zu einer "Loslösung" aus diesen "Feststellungen": hin zu dem herausgearbeiteten Bild des "europäischen Menschen" der Zukunft, der "nomadisch", "übernational", "international", umfassend, "ganz" und "weise" sein wird. Dieser erhöhte Typ des Menschen kann sicherlich mit dem von Müller-Lauter (1971) beschriebenen Typ des "synthetischen Übermenschen" in Verbindung gebracht werden. Zu dem zweiten Typ des erhöhten Menschen, den Müller-Lauter, vom Konzept des Willens zur Macht ausgehend, als "herrschenden Übermenschen" beschreibt (Müller-Lauter 1971, 187), gibt es in der vorliegenden Untersuchung keine Entsprechung. Auf das Problem, das sich damit stellt, kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Erlaubt seien dennoch einige Bemerkungen zum Verhältnis der beiden genannten Typen des erhöhten Menschen. Zentral dürfte die Frage des Macht-bzw. Herrschaftanspruchs sein. Dazu wurde im Vorhergehenden, wie ich glaube, wiederholt deutlich, daß für Nietzsches Konzept der Erhöhung des Menschen der Aspekt der Macht, verstanden als Herrschaft über andere, kaum eine Rolle spielt, sondern vielmehr wiederholt eher zurückgewiesen wird: so wenn er den "Nationalitätenwahnsinn" und Imperialismus der Hohenzollern zurückweist und ihrer "großen Politik" ausdrücklich eine eigene "große Politik" entgegenstellt, die den "Krieg" (gegen Menschen, Völker, Stände etc.) ablehnt. "Macht" spielt nur als "Macht über sich selbst" eine Rolle: der "weise" Mensch hat Macht über sich selbst. Er kann "gerecht" sein, da er sich ein "Tastorgan für alle Arten Mensch" erworben hat. Wenn er diese "Macht" als Gesetzgeber einsetzt, kann er Gesetze schaffen, die "gerecht" sind. Seine "Macht" äußert sich nicht als "Herrschaft über andere", sondern, dank seiner Umfanglichkeit, als "Gerechtigkeit" gegenüber den anderen. So könnte vielleicht der "weise" erhöhte Mensch noch über dem Typus des "herrschenden Übermenschen" angesiedelt werden. Der "weise" Mensch bewahrt als "ganzer" Mensch die Vielheit in der komplexen Einheit, er kann dank Umfänglichkeit "gerecht" sein, er erstrebt eine umfassende "Erdregierung", die "commandirende Elemente" abschafft (KSA 12,462,31-463,1) Er ist "nomadisch", "überund international". Nietzsches aus- und nachdrückliche Absagen an Nationalismus, Imperialismus, Antisemitismus, "Rassismus" verweisen alle auf den Typ des "weisen", "synthetischen" Menschen, nicht auf den des "herrschenden Menschen", denn dieser bleibt allzu leicht in den genannten Einseitigkeiten und Begrenzungen befangen. Nur der "weise" Mensch, der (um eine moderne Vokabel zu verwenden) auch ein "interkultureller" Mensch ist, kann die von Nietzsche geforderte und erstrebte "eine" Welt schaffen, die "eins" wird,
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Nietzsches Lehre richtet sich nicht nur an die "Einsicht" des Menschen, sie appelliert an den ganzen Menschen, auch an die "Affekte", auch an seine "physiologische" Verfassung. Daher ist der Lehrer auch "Arzt", und als solcher macht er dann auch Vorschläge, die von der Diät über die Kleidung bis zur Fortpflanzung reichen. Aber auch dabei geht es nicht um "Züchtung" (im modernen Sinn), sondern um Maßnahmen der Gesundheitsfürsorge, wie sie im Rahmen der damaligen Eugenik allgemein erwogen wurden. In politischer Hinsicht verspricht sich Nietzsche von seinem Erziehungsprogramm eine Beseitigung des "kurzen Blicks", der perspektivischen Beschränktheit der heutigen Europäer durch Nationalismus und Antisemitismus: "Jede Erhöhung des Lebens steigert die Mittheilungs-Kraft, insgleichen die Verständniss-Kraft des Menschen." (13,297,10-11: F 88: 14/199/).
Und damit kann der Weg frei werden zu dem von Nietzsche immer wieder geforderten vereinten Europa, das von Nietzsche offenbar als eine Gemeinschaft der Völker verstanden wird, in der die Vielfalt der Gegensätze in eine sich gegenseitig befruchtende Kommunikation treten kann. An der Vorbereitung dieser "neuen Synthesis" arbeiten schon jetzt "alle tieferen und umfänglicheren Menschen dieses Jahrhunderts" (5,201,29-202,1). Das Programm der "Erhöhung" des Menschen als ein "Umianglicherwerden" des Menschen zielt demnach auf Erhöhung der "Mittheilungs-Kraft" und der "Verständniss-Kraft" und hat ein vereintes Europa als kulturellkommunikativen, also als "interkulturellen" Raum im Auge. Es geht nicht um Akkumulation von politischer Macht, sondern um eine Erweiterung des kulturellen Lebensraumes durch "Erhöhung" des Menschen, oder auch: um "Erhöhung" des Menschen zum Zwecke der Erweiterung seines kulturellen Lebensraumes.359 Und Nietzsches Blick bleibt nicht auf Europa zentriert: von den Asiaten können wir "Beschaulichkeit" lernen als Gegengewicht zur hektischen Aktivität der Amerikaner (8, 306,17-25). Nietzsches Erziehungsprogramm kann daher auch für uns heute in vieler Hinsicht anregend sein, wenn wir auch bei den
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ohne ihre Vielheit aufgeben zu müssen. Auch Wotling (1995, 346) übt eine ähnliche Kritik an Müller-Lauters zwei Typen des Übermenschen und möchte als einzigen Typ des Übermenschen nur den Menschen der "Selbstüberwindung" gelten lassen. Dazu schon Visser 1933.
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Maßnahmen einige Bedenken anmelden müssen. In seiner Gesamttendenz bietet Nietzsches Programm, auch wenn es nicht demokratisch ist, keine Ansatzpunkte für eine "nationalistische" - oder noch schlimmere - Interpretationen.360 Sollte nun Manches, was im Kontext mit Nietzsches Lehre von der "ewigen Wiederkehr" gesagt wurde, mehr oder weniger "dogmatisch" geklungen haben, so ist es vielleicht angebracht, hier noch einmal auf die schon öfter erwähnte "doppelte Optik" Nietzsches hinzuweisen: es gibt im späten Nachlaß ein langes Fragment, auf das in der Einleitung schon verwiesen wurde, in dem Nietzsche das Ziel einer "Steigerung des Typus" Mensch selbst wieder in Frage stellt zugunsten einer "Erhaltung der Art" auf der Grundlage der alten "Werthe". Zu dieser Infragestellung kommt er nicht zuletzt aufgrund der "Erfahrungen der Geschichte", die gezeigt hätten, daß die "starken Rassen" sich selbst immer wieder "decimiren": "Besinnung.- Es ist unsinnig, vorauszusetzen, daß dieser ganze Sieg der Werthe antibiologisch sei: man muß suchen, ihn zu erklären axis einem Interesse des Lebens die Aufrechterhaltung des Typus 'Mensch' selbst durch diese Methodik der Ü&erherrschaft der Schwachen und Schlechtweggekommen : im anderen Falle existirte der Mensch nicht mehr? Problem —" (13,369: F 88: 14/182/).
Nietzsche führt vorher aus, daß die "ganze verlebte Welt des Ideals" (gemeint ist das christliche Ideal) heute wieder "eine begabte Fürsprecherschaft" gewinne (13, 368,20-21). Und er ist bereit, dies zu akzeptieren: der "Sieg" dieser "Werthe" sei offenbar doch nicht "antibiologisch", da diese Werte offenbar einem "Interesse des Lebens" dienten: der "Selbsterhaltung des Typus 'Mensch'". Dadurch werde zwar keine "Steigerung des Typus" erreicht. Eine solche erscheint ihm nun aber auch "verhängnissvoll", da die "starken Rassen"
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So jetzt auch Kreis 1995, Münster 1995 sowie Santaniello 1994. Santaniello weist in detaillierten Analysen nach, daß der entscheidende Anknüpfungspunkt für eine Vereinnahmung Nietzsches durch die Nazis, der Antisemitismus, bei Nietzsche nicht nachzuweisen ist. Vielmehr wurden gelegentliche mißverständliche Äußerungen Nietzsches aus seiner Wagner-Zeit durch eine intensive Propaganda der Schwester und des Bayreuther Kreises zu dem Bild des "Antisemiten" Nietzsche hochstilisiert. Die Nazis sind einem Mythos aufgesessen. Nur dank diesem Mythos konnte Nietzsche vereinnahmt werden. Nietzsches Kritik an der christlichen Religion und an der modernen Demokratie spielten demgegenüber bei dieser Vereinnahmung keine sonderliche Rolle.
408
Nietzsches "doppelte Optik"
ihrerseits allzu sehr zu einer Selbstdezimierung neigen, wie die Geschichte lehre: "Die Steigerung des Typus verhängnissvoll für die Erhaltung der Art! warum? die Erfahrungen der Geschichte: die starken Rassen dezimiren sich gegenseitig: Krieg, Machtbegierde, Abenteuer; ihre Existenz ist kostspielig, kurz, sie reiben sich untereinander auf die starken Affekte: die Vergeudung - es wird Kraft nicht mehr kapitalisirt... die geistige Störung, durch die übertriebene Spannung - es treten Perioden tiefer Abspannung und Schlaffheit ein alle großen Zeiten werden bezahlt die Starken sind hinterdrein schwächer, willenloser, absurder als die durchschnittlich-Schwachen Es sind verschwenderische Rassen.- (13,369,25-370-6).
Nietzsches Bilanz lautet also: auf längere Sicht sind die
"Starken"
"schwächer als die durchschnittlich-Schwachen"! Zwar habe die "Dauer an sich" ja "keinen Werth": "man möchte wohl eine kürzere, aber auch werthreicAere Existenz der Gattung [es geht also um den Menschen insgesamt: GS] vorziehen." (13,370,7-9).
Aber Nietzsche hält es doch für möglich, daß auch durch die "lange" Existenz der Schwachen auf lange Sicht ein "reicherer Werthertrag erzielt" werden könne, als durch die "kürzere" Existenz der Starken: "Es bliebe übrig, zu beweisen, daß selbst so ein reicherer Werthertrag erzielt werden würde, als im Falle der kürzeren Existenz." (13,370,10-11).
Woraus dann für Nietzsche die (vorläufige?) These folgt: "d.h. der Mensch als Aufsummirung von Kraft gewinnt ein viel höheres Quantum von Herrschaft über die Dinge, wenn es so geht, wie es geht... Wir stehen vor einem Problem der Ökonomie —" (13,370,12-15).
Die Frage ist für Nietzsche also noch nicht endgültig beantwortet. Aber er hält es immerhin für möglich, daß das "Problem der Ökonomie" der "Kräfte" eine Lösung zugunsten der "Schwachen" und ihrer "langen Dauer" der Existenz finden könnte. Sind damit Nietzsches Vorschläge zur "Erhöhung" des Menschen vollständig ad acta gelegt? Wir glauben, daß dies nicht der Fall ist. Aber nun läßt sich, unter Einbeziehung des genannten Fragments, vielleicht noch genauer bestimmen, worauf es diese "Erhöhung" abgesehen haben könnte.
Erhöhung mit Vorbehalten
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Das Fragment zieht vor allem den Wert der "starken Rassen" für die Gesamtentwicklung der Menschen in Zweifel, die sich durch "Krieg, Machtbegierde, Abenteuer" "gegenseitig" "dezimirt" hätten (13,369,29-30). Damit könnte die "Eroberer- und Herren-Rasse" gemeint sein, von der in der "Genealogie der Moral" die Rede ist (5,263,20 und 5,264,7-8). Ihre "Existenz" hält Nietzsche nun für zu "kostspielig" (13,369,30). Das Fragment beinhaltet also in erster Linie eine Absage an diese "starken Rassen", die als "Eroberer" "stark" waren. Nietzsches Programm der "Erhöhung" des Menschen kann demnach nicht mehr die Wiedergewinnung solcher "starker Rassen" im Auge haben. Und in der Tat ist davon auch nicht die Rede, sondern vielmehr von einem "Umfänglicherwerden" des Menschen und von der Gewinnung einer neuen "Ganzheit" des Menschen, anstelle der heutigen "Bruchstückhaftigkeit", sowie von der Gewinnung einer neuen "Synthese", die die Vielfalt der heutigen kulturellen Einflüsse und Denkweisen umfassen soll. Zwar ist auch dafür eine gewisse "Stärke" erforderlich, aber diese "Stärke" ist von anderer Art als die der "starken Rassen". Die "Stärke" des erhöhten, umfänglich gewordenen Menschen besteht in der seelischen und physiologischen Kraft, ein Höchstmaß von "Wahrheit" "aushalten" zu können (12,455,5-6). Die auf diesem Wege zu gewinnende "Mittheilungs- und Verständniss-Kraft" macht "Eroberungs"-Kriege, wie sie die "starken Rassen' führten, in Zukunft überflüssig. Die "Stärke" und Kraft des erhöhten Menschen ist nach innen gerichtet, die Spannungen der im umfänglicher gewordenen Menschen versammelten Gegensätze werden in der Seele dieses Menschen ausgehalten. Der Mensch der neuen "Synthese", die auch die alten "Werthe" bewahrt, kann als "Eroberer" "schwach" sein, da er als "Selbstüberwinder" "stark" ist. Der an "Mittheilungs- und Verständniss-Kraft" "stark" gewordene Mensch ist auf eine spezifisch machtorientierte "Stärke" nicht mehr angewiesen. Dies macht deutlich, daß Nietzsches Erziehungsprogramm nicht gerichtet ist auf eine Wiedergewinnung "starker Rassen" qua "Eroberer-Rassen", wie wir sie aus der Geschichte kennen, da die "Erfahrungen der Geschichte" eben deren "Schwäche" gezeigt haben (13,369,28 ff).
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Nietzsches "doppelte Optik"
Die Juden als ein Volk, das noch "an sich selbst glaubt", das frei ist von Ressentiments, dürften für Nietzsche ein Beispiel für jene "Stärke" gewesen sein, die nicht auf Machterwerb gerichtet ist (11,568,6-11). Nicht einmal "in ihrem Vaterlande" sind sie jemals "eine herrschende Kaste gewesen" (11,568, 12-13). Auf diese Art der "Stärke" ist Nietzsches Erziehungsprogramm ausgerichtet: "Stärke" des Menschen über sich selbst, nicht über andere. —
Ausblick "Bewahren" und "Sich öffiien": von der "alten" zu einer neuen Vornehmheit Fragen und Thesen
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Ausblick Zwei rote Fäden
Bei der Durchführung dieser Untersuchung traten allmählich immer stärker zwei Sachverhalte in den Vordergrund: Nietzsches oft wiederholte Forderung "sich nicht gehen zu lassen" sowie sein Programm einer "Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst", das nicht zuletzt auch in seiner eigenen Methode der "doppelten Optik" seinen Ausdruck findet. Dieser Befund hat sich dem Verfasser von selbst aufgedrängt, er hat ihn nicht 'gesucht'. Der Befund beschreibt eine doppelte Bewegung: ein "Bewahren wollen" und ein "Sich öffnen", die für Nietzsches gesamtes philosophisches Projekt kennzeichnend sein dürfte. Bewahrt werden soll "Vornehmheit", die aber nach dem (von Nietzsche selbst begrüßten und geforderten) "Umfänglicherwerden" des heutigen Europäers nur noch in gewandelter Form möglich sein kann. Nietzsche läßt aber keinen Zweifel daran, daß "Vornehmheit" in einer solchen 'zeitgemäßen' Form wiedergewonnen werden soll. Wir wollen die zwei angedeuteten Bewegungen des "Bewahrens" und "Sich öffhens" abschließend noch etwas näher skizzieren und auf einige Probleme hinweisen, die sich in diesem Zusammenhang stellen.
"Pathos der Distanz": Streben nach Bewahrung
Das "Pathos der Distanz" kennzeichnet den "vornehmen" Menschen, wie Nietzsche ihn beschreibt. Daran gekoppelt ist die Forderung einer Rangordnung der Menschen und Moralen. Die aristokratische Ebene des "vornehmen" Menschen soll oberhalb oder auch neben einer mittleren Rangebene, auf die sich die demokratisch gewordenen Menschen heute weitgehend geeinigt haben, erhalten bleiben. Mit dieser Forderung will Nietzsche das Bewußtsein und den Entfaltungsraum für eine neuerliche Erhöhung des Menschen offenhalten, wie sie im Vorhergehenden angedeutet wurde. Das Ziel einer solchen Erhöhung könnte die Gewinnung einer neuen, den heutigen Forderungen angepassten "Vornehmheit" sein. Als "oberste Richtschnur" der "alten" Vornehmen - der Griechen und der Franzosen des 17. Jahrhunderts - nennt Nietzsche wiederholt die Maxime "sich
Pathos der Distanz: Streben nach Bewahrung
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nicht gehen zu lassen" (z.B. GD, Streifzüge 47: KSA 6, 148-149), die wir daher vielleicht als deutlichsten Ausdruck ihres "Pathos der Distanz" interpretieren dürfen, denn durch diese Richtschnur kann und soll "Höhe" und damit auch "Distanz" geschaffen und bewahrt werden. Diese "Richtschnur", die in die gleiche Richtung zeigt wie der Pessimismus der Stärke der Lehre von der "ewigen Wiederkehr", soll nun nach Nietzsches Dafürhalten auch für den heutigen Menschen ihre Gültigkeit behalten bzw. wiedergewinnen.
"Sich nicht gehen lassen"
Die Maxime "sich nicht gehen zu lassen" verlangt vom Menschen "Arbeit" an sich selbst: "Man muss dem guten Geschmacke große Opfer gebracht haben... man muss in ihm ein Princip der Wahl, für Gesellschaft, Ort, Kleidung, Geschlechtsbefriedigung gehabt haben, man muss Schönheit dem Vortheil, der Gewohnheit, der Meinung, der Trägheit vorgezogen haben. Oberste Richtschnur: man muss sich auch vor sich selber nicht 'gehen lassen'." (6,148,30149,8). Auf diesem Wege wird "Schönheit" (6,148,27) und Vornehmheit erreicht. So war es in Griechenland und in Frankreich und Ahnliches erhofft sich Nietzsche auch für die moderne Zeit. Und die von Nietzsche gemeinte "Schönheit" besteht, wie wir vorn gesehen haben, in einem "starken Herzen", im "Glauben an sich selbst" und in einem Jasagen zur "Welt, wie sie ist". Im Laufe der Untersuchung ist uns diese Maxime immer wieder begegnet. Den Deutschen wird etwa ein Mangel an "Maass im griechischen Sinne" vorgeworfen, ebenso den Schriftstellern der französischen Romantik. An den "kleinen Leuten der Diaspora" wird das "Stillehalten der Seele" gelobt, das keine "Rancune" aufkommen lasse. Das "Bequemhaben-wollen", die Entspannung des Bogens ebnet hingegen den Weg zur Demokratie. Auch in der "halbbarbarischen" Musik Beethovens kann ein gewisses "sich gehen lassen" angemerkt werden. Die Offenheit und "Biederkeit" der Deutschen versteht Nietzsche ebenfalls als ein "sich gehen lassen". Die "Selbstbeherrschung" der "Starken" in der griechischen Polis sowie die vornehme Kultur eines Corneille, Montaigne und Napoleon verdanken sich demgegenüber dem "sich nicht gehen lassen". Auch Nietzsche selbst ist bemüht, sich angesichts gelegentlicher
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Ausblick
Anwandlungen von Ressentiment nicht "gehen zu lassen". Die genannte "Richtschnur" gilt also nicht nur für die vornehmen Zeitalter der Vergangenheit, sie soll auch für die heutige Zeit gelten, und mit ihr soll Vornehmheit bewahrt werden. Im Aphorismus 260 von "Jenseits von Gut und Böse" legt Nietzsche nochmals dar, wie er dies verstanden haben möchte: "Der vornehme Mensch ehrt in sich den Mächtigen, auch Den, welcher Macht über sich selbst hat, der zu reden und zu schweigen versteht, der mit Lust Strenge und Härte gegen sich übt und Ehrerbietung vor allem Strengen und Harten hat." (5,210,2-6). "Macht über sich selbst" ist demnach das Kennzeichen und Ziel des "vornehmen Menschen" sowie Achtung vor dem Anderen, der ebenfalls "Macht über sich selbst" hat, dank "Strenge und Härte gegen sich" selbst. Die Aristokratie ist die Staatsform, in der diese "allein stehen könnenden" Menschen sich, nicht zuletzt aus taktischen Gründen der Selbstbehauptung nach außen, zusammen schließen. Das Ressentiment hat bei diesen Menschen, die sich nicht gehen lassen, keine Chance. Anders der "matt" und schwach werdende Mensch: ihm fehlt die Kraft und der Wille zur "Selbstbeherrschung", er läßt sich gehen, läßt den Ressentimentinstinkten freien Lauf, sucht Zuflucht in der "Heerde", in der Demokratie. (11,475,29 ff.).
Aristokratie statt Demokratie? Die Wahl der Staatsform scheint demnach vom Menschentyp abzuhängen: "vornehme Menschen", die allein stehen können und wollen, sehen in einer Aristokratie die Möglichkeit eines Zusammenschlusses (wenn auch unter Vorbehalten); der "matt" gewordene Mensch, der die Kraft zur "Selbstbeherrschung" verloren hat, flüchtet sich in die Demokratie, in der er und seinesgleichen auf einer mittleren Ebene der Moral und der Werte den Ton angeben können. Hier wird deutlich, daß Nietzsche, wenn er für die Erhaltung oder Wiedergewinnung des "vornehmen" Menschen plädiert, zugleich auch wohl für eine Wiedererrichtung einer Aristokratie eintreten dürfte. Gegenüber der Demokratie hätte die Aristokratie in Nietzsches Augen den Vorzug, daß hier
Pathos der Distanz: Streben nach Bewahrung
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die Werte der "Vornehmheit" den ihnen gebührenden führenden Platz einnehmen würden und daß so die von Nietzsche postulierte Rangordnung der Werte erhalten bliebe. Da sich Nietzsches Programm der Erhöhung des Menschen grundsätzlich an alle Menschen richtet, könnte auch sein aristokratischer Staat als "offene Gesellschaft" gesehen werden: die von Nietzsche erstrebte Erhöhung des Menschen ist nicht an die "Herkunft" gebunden. "Arbeit" an sich selbst ist der Weg zu dieser Erhöhung. Nietzsche selbst will als "philosophischer Arzt" bei dieser "Arbeit" behilflich sein. Die Überzeugung, daß jede Erhöhung des Menschen letztlich nur mithilfe größerer sozialer Umwälzungen verwirklicht werden könne, lehnt Nietzsche ab. Nur auf der Grundlage des Bewahrens aristokratischer Werte kann seiner Auffassung nach eine neuerliche Erhöhung des Menschen erreicht werden.
Mehrere Moralen?
Nietzsches Projekt einer neuerlichen Erhöhung des Menschen, das sich mit der demokratischen Moral des "Mittelmaasses" nicht abfinden und statt dessen das Ideal der Vornehmheit in einer neuen 'zeitgemäßen' Form bewahren bzw. wieder errichten will, wirft die schwierige Frage auf, in welcher Richtung heute eine Lösung des Problems der Moral gesucht werden könne. Daß der Moral des "Mittelmaasses" heute nicht allein das Feld überlassen werden dürfe, ist für ihn eino ausgemachte Sache, denn dadurch würde der Weg zu einer neuen Erhöhung des Menschen und zu einer neuen Vornehmheit abgeschnitten. Ebenso klar ist für ihn aber auch, daß die aristokratische Moral der "alten" Vornehmheit heute, etwa nach der Entstehung des "historischen Sinnes" und dem Hervortreten des Individuums, nicht mehr genügend "umfänglich" ist, um heute noch Geltung beanspruchen zu können. Eine Lösung dieses Problems der Moral, wie es sich heute stellt, scheint Nietzsche in zwei Richtungen zu suchen. Zum einen gibt es Texte, in denen Nietzsche offenbar eine Art Koexistenz mehrerer Moralen zu befürworten scheint. In dem Fragment vom Herbst 1887 "Wie auch die 'Herren' Christen werden können"1 (KSA 12,568-9: 10/188/), wird zunächst davon ausgegangen, daß die "Herrschenden (seien es Einzelne oder Stände)" und die "Heerde" zwar
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Ausblick
unterschiedliche Moralen haben, daß aber eine ganze Anzahl von "Eigenschaften", die zunächst der "Heerde" angehören, wie "z.B. Gehorsam, Gegenseitigkeit, Rücksicht, Massigkeit, Mitleid" (12,568,21-22), auch von den "Herrschenden" gebilligt und akzeptiert werden. Der Unterschied liegt nur darin, daß die "Heerde" diese Werte aus "unmittelbarem Egoism" vertritt, die "Herrschenden" sie jedoch aus "mittelbarem Egoism" billigen (12,569,1-5). Beiden, der "Heerde" und den "Herrschenden" leisten diese Werte den gleichen Dienst: sie dienen der jeweiligen Selbsterhaltung. Nietzsche geht aber noch einen Schritt weiter. Das "Christenthum" ist nicht nur als Herrschaftsinstrument für die "Herrschenden" von Belang, es stellt für sie zugleich auch eine Herausforderung dar, die sie gern annehmen: denn die "Verführungskraft des christlichen Ideals [wirkt] vielleicht am stärksten auf solche Naturen, welche die Gefahr, das Abenteuer und das Gegensätzliche lieben, welche alles lieben, wobei sie sich riskiren" (12,569,13-17).
Wenn also die "Herrschenden" diese Herausforderung aufgreifen, können sie dabei "ein non plus ultra von Machtgeföhr erreichen, was auch hier als Macht über sich selbst verstanden werden kann (12,569,17-18). Und Nietzsche verweist als Beispiel auf die "heilige Theresa": "das Christenthum erscheint da als eine Form der Willens-Ausschweifung, der Willensstärke..." (12,569,18-21). Insofern also "können 'Herren' auch Christen" werden, indem sie nämlich das "Christenthum" von einer "Heerdenreligion" in eine Religion der "Willensstärke" uminterpretieren. Während nun in diesem Fragment die "Heerde" nur einer Moral, der des "Christenthums" anhängt, bemühen sich die "Herrschenden" zwei Moralen zu umfassen, die aristokratische und die christliche, wobei sie die letztere durch eine lebensbejahende Interpretation mit der aristokratischen Moral zu vereinen versuchen. Eine ähnliche Annäherung der beiden genannten Moralen wird auch in einem Fragment vom Frühjahr 1888 erwogen (13,231-3: 14/29/), auf das wir hier nur ergänzend verweisen wollen. Es ist also keineswegs so, daß Nietzsche nur die Ausschließlichkeit (Exklusion) der beiden Moralen vor Augen hätte. Auf der Grundlage von "Willensstärke" - dies ist allerdings Nietzsches Vorbedingung - können ihre gegensätzlichen Werte in einen fruchtbaren Dialog gebracht werden. Dies leitet über zu Nietzsches zweitem Weg zur Lösung des Moralproblems, also zu jenen Texten, in denen eine Art Synthese der Moralen in Erwägung
"Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst"
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gezogen wird, eine Synthese, die "Ingredienzen aus allen Moralen" umfassen könnte (9,23, 14-15). Diese Texte wurden vorn schon erörtert. Es würde zu weit fuhren, auf diese Probleme hier weiter eingehen zu wollen.361 Es dürfte jedoch deutlich geworden sein, daß Nietzsche keineswegs für die heutige Zeit einseitig die Vorherrschaft der sogenannten "HerrenMoral" verkünden möchte. Schon in "Jenseits von Gut und Böse", wo dieses sehr mißverständliche Schlagwort zum ersten Mal auftaucht, hebt Nietzsche hervor, daß "in allen höheren und gemischteren Culturen auch Versuche der Vermittlung beider Moralen zum Vorschein kommen", also der "Herren- und Sklaven-Moral" (5,208,25-8). Die vorhergehenden kurzen Erörterungen haben gezeigt, daß nach Nietzsches Auffassung gerade in diesen "Vermittlungen" die weitere Lösung des heutigen Problems der Moral gesucht werden muß. Die "alte" Vornehmheit und ihre aristokratische Moral ("Herren-Moral") können heute nur noch in einer umgewandelten Form zur Bildung einer neuen Moral beitragen, diese aber keineswegs allein ausmachen. Auch in dieser Frage wurde allzu oft ein sehr vereinfachtes Nietzsche-Bild propagiert, das sich aus seinen Texten nicht belegen läßt.
"Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst"
Dem "Pathos der Distanz", das auf Bewahren gerichtet ist, tritt bei Nietzsche die "Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst" an die Seite, die Bereitschaft und der Wille, den Blick zu öffnen für die heutige Zeit und für eine umfänglichere Einschätzung ihrer Phänomene. Letzteres stellt eine Art Gegenbewegung zum "Pathos der Distanz" dar, das zwar nicht aufgegeben, jedoch auf eine umfänglichere Grundlage gestellt werden soll.
Dazu ausführlich Van Tongeren 1989, 213 f.
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Ausblick Erhöhung des Menschen
Schon in Nietzsches Projekt für eine neuerliche Erhöhung des Menschen nimmt das Umfänglicherwerden einen zentralen Platz ein. Wie die vorhergehenden Erörterungen gezeigt haben, geht es dabei um folgende Sachverhalte: um ein Jasagen auch zu den bisher "verneinten Seiten des Daseins", und damit um eine Gewinnung von mehr "Wahrheit" und um eine Erweiterung der Perspektiven; um ein umfänglicheres Kennenlernen und Würdigen der Vielfalt des Lebens und der Menschen (der Mensch soll ein "Tastorgan für alle Arten Mensch" erwerben); um eine Erweiterung der "Mittheilungs-Fähigkeit" und "Verständniss-Kraft". Und Nietzsche stellt dem so erhöhten Menschen die auch seiner Auffassung nach schwierige Aufgabe, diese Gewinne an Umfänglichkeit in einer neuen "Synthese" zu einer neuen "Ganzheit" zu vereinigen, ohne die Vielfalt aller genannten Phänomene zu beeinträchtigen. Gelingt dies, so gewinnt der Mensch dadurch ein Mehr an "Wahrheit" und Gerechtigkeit, sowie ein Mehr an "Macht", an "Macht" über sich selbst. Die "alte" Vornehmheit könnte auf diesem Weg in einer neuen, gewandelten und umfänglicher gewordenen Vornehmheit 'aufgehoben' und bewahrt werden.
Zunehmende Komplexität
Beim Umfänglicherwerden des Menschen handelt es sich nicht nur um eine Forderung, die Nietzsche an andere richtet. Auch in seinen eigenen Analysen läßt sich, wie ich glaube, eine zunehmende Komplexität erkennen. Dies dürfte insbesondere zu beobachten sein in seinen Analysen zu den Fragen des Übergangs von der Aristokratie zur Demokratie und der Heraufkunft des in seiner Willenskraft geschwächten und bruchstückhaften heutigen Menschentyps. Hierbei lassen sich, je nach der Bedeutung, die man der Textpassage GM 1,5 zukommen lassen will, in etwa drei Etappen zunehmender Komplexität aufzeigen: während im Aphorismus 262 von "Jenseits von Gut und Böse" das
"Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst"
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Moment des Kampfes und sein späteres Zurücktreten sowie die Änderung der Lebensbedingungen als entscheidend für Entstehung und Niedergang der Aristokratie und die Herauskunft der Demokratie genannt werden, erfolgt in Text 1,5 der "Genealogie der Moral" insofern eine Konkretisierung und Verbreiterung der Analyse, als nun der Kampf historisch genauer festgemacht wird an bestimmten Völkergruppen (den "vorarischen" und
"arischen"
"Völkern" - oder "Rassen"?), wobei aber schon das Moment der Erkrankung zumindest nebenbei auch erwähnt wird. Die komplexeste Stufe der Analyse wird jedoch kurz darauf in der gleichen Schrift erreicht (GM 111,12-21), indem sehr ausführlich die physiologische Erkrankung in den Mittelpunkt gestellt und die weitere VerschHmmerung dieser Erkrankung durch den asketischen Priester herausgearbeitet wird, wobei "Rassen" nur noch im Sinne von Nietzsches "Rasse-Konzept", d.h. als "Völker", Teilfaktoren bei der Entstehung der physiologischen Erkrankung des Menschen darstellen. Die politische und kulturelle Entwicklung Europas erscheint als Ausdruck der physiologischen und seelischen Entwicklung von Menschentypen, die sich losgelöst von spezifischen ethnischen Größen vollzieht und auf deren Verlauf einerseits der asketische Priester größten Einfluß hat, den jedoch auf der anderen Seite der "philosophische Arzt" einzudämmen und auch rückgängig zu machen sucht.
Doppelte Optik
Wie sehr Nietzsche selbst um ein umfängliches und komplexes Sehen und Einschätzen der Phänomene bemüht ist, machen die zahlreichen Stellen deutlich, wo wir ihn selbst bei der Praktizierung dieser Methode in seinen Texten beobachten konnten. Daß Nietzsche eine Lehre des Perspektivismus und der Vielheit der Optiken explizit vorgetragen hat, ist hinlänglich bekannt. Entscheidend und reizvoll ist aber, daß und wie häufig er selbst dieser Forderung nachkommt, ohne daß diese dabei expressis verbis genannt wird. Sie ist ihm offenbar in Fleisch und Blut übergegangen. Wir wollen hier noch einmal auf einige wichtige Punkte hinweisen: Der "historische Sinn" bringt zwar die "alte" Vornehmheit ins Wanken, aber er ist
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Ausblick
ein notwendiger Schritt für die Bildung einer neuen, umfänglicheren Vornehmheit. Die christliche Religion hat zwar zur Schwächung des europäischen Menschen beigetragen, aber sie hat zugleich eine Bereicherung der europäischen Seele gebracht, auf die hinfort nicht mehr verzichtet werden kann. Die physiologische Erkrankung hat den Menschen zwar "schwächer", aber auch "interessanter" gemacht, das heisst zahlreiche neue Entfaltungsmöglichkeiten freigesetzt (GM II, 22: KSA 5,333,2-7). Der "Socialismus" gilt Nietzsche einerseits als eine Lehre, die das Leben verneint, da er aber noch einen kämpferischen Willen hat, sieht er ihn zugleich als einen Verbündeten in seinem Kampf gegen die Moral des "Ausruhens" und des "Friedens" der Seele, die den Agon nicht mehr auf sich nehmen will. Die doppelte Optik fuhrt ihn schließlich so weit, daß er sogar Auffassungen, die er gelegentlich vehement vertritt, wieder weitgehendst in Frage stellt: so wenn er sich fragt, ob nicht die "Missrathenen" die "höchsten in der Anlage" sind, oder wenn er erwägt, ob nicht doch die "Schwachen" auf lange Sicht die "Starken" sind. Es wäre sicher verfehlt, in solchen Selbst-In-Frage-Stellungen nichts weiter sehen zu wollen, als einen Philosophen, der sich selbst widerspricht und daher letzten Endes nicht wisse, was er will. Adäquater dürfte es sein, hier ein Denken zu sehen, das mit zunehmender Komplexität der Einsicht stets wieder bereit ist, eigene bis dahin vertretene Hypothesen aufs Neue zur Diskussion zu stellen: also ein Denken, das sehr wohl Standpunkte formuliert, diese aber nicht absolut zu setzen bereit ist. Es ist also nicht so, daß Standpunkte fehlen, Standpunkte sind sehr wohl vorhanden, aber sie bleiben offen. Umfänglichkeit, nicht Einseitigkeit ist Nietzsches philosophisches und erzieherisches Ziel. Was Nietzsche im politischen Leben nie sein wollte, ist er sehr wohl als Philosoph: "pluralistisch" in dem Sinne, daß er unentwegt das Für und Wider von Argumenten abwägt, um auf diesem Wege zu "Entscheidungen" kommen zu können, wobei jedoch - das ist das Entscheidende - immer nur die Qualität, nie die Quantität der Argumente den Ausschlag geben kann. Im "Ecce homo" heißt es, daß der Satz "Der moralische Mensch steht der intelligiblen Welt nicht näher als der physische denn es giebt keine intelligible Welt..." "vielleicht einmal, in irgend welcher Zukunft - 1890! - als die Axt dienen kann, welche dem 'metaphysischen Be-
"Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst"
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dürfhiss' [eine Formulierung Schopenhauers: GS] der Menschheit an die Wurzel gelegt wird..." (6,328,14-21).
Und dazu bemerkt Nietzsche dann: "- ob mehr zum Segen oder zum Fluche der Menschheit, wer vermöchte das zu sagen? Aber jedenfalls als ein Satz der erheblichsten Folgen, fruchtbar und furchtbar zugleich und mit jenem Doppelblick in die Welt sehend, welchen alle großen Erkenntnisse haben..." (6,328,21-25).
"Grosse Politik"
Daß Nietzsches Projekt der Erhöhung und des Umfänglicherwerdens des Menschen neben einer bewahrenden Komponente zugleich in höchstem Maße auf Öffnung aus ist, läßt sich an seinem Programm einer "großen Politik" ablesen. Während die "große Politik" der Hohenzollern, die er wiederholt angreift, in nationalistischem und imperialistischen Machtstreben und -denken befangen bleibt, zielt seine "große Politik", die ausdrücklich Nationalismus und Antisemitismus ablehnt, auf "internationale Werthe", die die Schaffung eines vereinten Europas ermöglichen sollen und vielleicht sogar darüber hinaus einer Verständigung der Völker der Erde dienen sollen. Das Umfänglicherwerden des Menschen, der ein "Tastorgan für alle Arten Mensch" erwerben soll, erstrebt auch eine Erhöhung der "Mittheilungs- und Verständniss-Kraft", wie Nietzsche das einmal formuliert. Da damit eine Völker- und Kulturen-überschreitende Verständigung gemeint ist, kann von einer starken "interkulturellen" Komponente von Nietzsches Erziehungsprogramm, das zugleich ein politisches Programm ist, gesprochen werden. Das Medium, durch das das politische und kulturelle Feld erweitert werden soll, ist bei Nietzsche Kommunikation, nicht "Macht" wie bei den Hohenzollern. Von einer Erhöhung von "Macht" kann bei Nietzsche nur in dem Sinn gesprochen werden, als ein Mehr an interkultureller Verständigung ein Mehr an "Gerechtigkeit" gegenüber sich selbst und den anderen und damit ein Mehr an "Macht über sich selbst" mit sich bringt. Der vornehme Mensch, auch der neue Vornehme, ist und bleibt bei Nietzsche jener Mensch, der auch - wenn nötig - "allein stehen kann" - denn das unterscheidet ihn gerade vom "Heerdenmenschen" -: und ein solcher Mensch braucht in erster Linie Macht über sich selbst, nicht
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Ausblick
Macht über andere, die abhängig macht und das "Allein stehen" unmöglich macht. Die "große Politik" Nietzsches wird von Menschen, die in diesem Sinne "stark" sind, getragen, die "große Politik" der Hohenzollern hingegen von Menschen, die diese "Stärke" noch nicht gewonnen haben.
Lachen der Distanz
Man kann Nietzsche nicht ganz den Vorwurf ersparen, daß er nicht selten ein irreführendes Vokabular benützt hat, so etwa die Wörter "Rasse", "entarten", "Selektion" "Ferment", "züchten" und auch "verjüdeln". Der heutige flüchtige Leser gerät dadurch allzu leicht auf eine falsche Spur. Die Analysen haben gezeigt, daß Nietzsches eigene Auffassungen sich deutlich von den damals und heute "üblichen" Bedeutungen dieser Wörter absetzen, daß er also diese Wörter gegen den Strich, sozusagen kontrafaktisch verwendet. Für "Rasse" gibt er, was oft übersehen wurde, eine explizite eigene Definition, die hervorhebt, daß es dabei um "Völker" geht, die historisch geworden sind und sich immer wieder ändern können. Das darwinistische Wort "Selektion" dreht er für seine Zwecke um: er spricht von der "Auswahl" von Büchern, Freunden und Klimata, die das Gelingen des Menschen ermöglichen sollen. Die antisemitisch vorbelasteten Wörter "Ferment" und "verjüdeln" wertet er ausdrücklich in seinem Sinne um: er unterläuft die Sprache seiner Kontrahenten. Das 'böse' Wort "entarten" erscheint in seinen Texten und Briefen in einer ganzen Reihe unernster Zusammenhänge, über die man eigentlich nur lachen kann - und vielleicht auch lachen soll: Im "Ecce homo" lästert er über die "deutsche Küche": "Aber die deutsche Küche überhaupt - was hat sie nicht Alles auf dem Gewissen! Die Suppe vor der Mahlzeit (noch in Venetianischen Kochbüchern des 16. Jahrhunderts alia tedesca genannt); die ausgekochten Fleische, die fett und mehlig gemachten Gemüse; die Entartung der Mehlspeise zum Briefbeschwerer!...." (6, 279,32-280,2).
In einem Brief an Köselitz (Sept. 1887) spricht er von seinen Vorbereitungen zu einer Reise nach Venedig und er bedauert, daß der ihm zur Verfügung stehende Hut nicht mehr in bestem Zustand ist:
Von der alten zu einer neuen Vornehmheit
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"Ich sehe meinen betrübten und entarteten Hut vor mir, dabei fallt mir ein, daß ich noch voriges Jahr bei meinem Besuch Ihrer hübschen Höhle einen alten Hut von mir wiederfand, den einzigen, den ich bisher gern getragen habe (er war von Ihnen ausgewählt) Er schien mir noch restaurationsfahig (zu waschen, eventuell zu färben); gesetzt, daß er noch existirt, dürfte ich Ihre Leute bitten, denselben zu einem Hutmacher zu tragen?..." (KSB 8,148).
Der "Einsiedler" von Sils-Maria hat also Probleme, seine Kleidungsstücke vor dem "Entarten" zu bewahren. Und ähnlich verhält es sich auch mit seinem Schlafrock, den Köselitz wieder für ihn instand setzen ließ, wofür sich Nietzsche wännstens bedankt: "Lieber Freund, großes Vergnügen über den neuherausgegebenen, verbesserten und vermehrten Schlafrock! Nein, was Sie mich beschämen! Ich vermisste nämlich dies Kleidungsstück täglich, bei den winterlichen Stimmungen dieses Herbstes, welche mein Nord-Garten- und Parterre-Zimmer noch unterstreicht. Trotzdem wagte ich nicht, mir ihn kommen zu lassen, weil ich mich seines entarteten Zustandes erinnerte, der diesem Nizza noch mehr widerspricht als vielleicht Ihrem 'philosophischen' Venedig; ich bin auch noch nicht bescheiden genug dazu, meinen Stolz im ZurSchautragen meiner Lumpen zu suchen. Ecco!... Und nun plötzlich so verschönert und achtbar geworden in seinem Zimmer zu sitzen - welche Überraschung!" (Nov. 1887: KSB 8,183). Die "Entartung" des Schlafrocks kann wieder behoben werden. Der Philosoph kann wieder "achtbar" in seinem Zimmer sitzen: auch wenn man allein, nur mit sich, ist, darf man sich nicht "gehen lassen"!
Von der "alten" zu einer neuen Vornehmheit
Die beiden angedeuteten Bewegungen des Bewahrens und Sich-öffhens haben die Gewinnung einer neuen Vornehmheit zum Ziel. Der Mensch soll "umfänglicher" werden, aber die aristokratischen Werte des "sich-nicht-gehen-lassens" und "allein-stehen-könnens" sollen nicht aufgegeben werden. Sie sollen oberhalb der Werte des "Mittelmaasses" ihre Gültigkeit behalten. Eine solche "Rangordnung" der Werte soll den Entfaltungsraum für die Erhöhung des Menschen offenhalten. Eine aristokratische Tendenz bleibt also bewahrt, auch wenn das Konzept der Vornehmheit eine zeitgemäßere Gestaltung erhalten soll. Georg Brandes hat das richtig gesehen, wenn er in seinem ersten Brief an Nietzsche von
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Ausblick
dessen "aristokratischem Radikalismus" spricht, von Nietzsches "tiefem Unwillen gegen demokratische Mittelmässigkeit" (26. Nov. 1887: KGB 111,6,1201). In seinem Antwortbrief billigt Nietzsche diese Formulierung ausdrücklich: "Der Ausdruck 'aristokratischer Radikalismus", dessen Sie sich bedienen, ist sehr gut. Das ist, mit Verlaub gesagt, das gescheuteste Wort, das ich bisher über mich gelesen habe." (KSB 8,206: 2. Dez. 87: an Brandes).
In einem Brief an Köselitz kommt er nochmals auf den Brief von Brandes zurück: er habe einen Brief "von Dr. Georg Brandes [erhalten] (der geistreichste Däne, den es jetzt giebt d.h. Jude). Letzterer ist Willens, sich mit mir gründlich zu befassen: er ist erstaunt von dem 'ursprünglichen Geiste', der aus meinen Schriften spreche und gebraucht, zu deren Charakteristik, den Ausdruck 'aristokratischer Radikalismus'. Das ist gut gesagt und empfunden. Ah, diese Juden." (KSB 8, 213: 20. Dez. 1887).
Hier wird auch deutlich, daß das Wort "Radikalismus" auf die "Ursprünglichkeit" von Nietzsches Schriften verweisen soll, wie Brandes diese empfindet. Nietzsches aristokratische Tendenz kann sich natürlich nicht damit anfreunden, alle Werte auf der mittleren Ebene des "Mittelmaasses" anzusiedeln, und insofern ist sie antidemokratisch. Gelegentlich stößt er darüber selbst einen mehr oder weniger scherzhaften Seufzer aus. In einem Brief an Resa von Schirnhofer heißt es dazu mit einer gewissen Selbstironie: "Einstweilen habe ich die treffliche Frau Röder-Wiederhold im Hause; sie erträgt und duldet 'engelhaft' meinen entsetzlichen 'Antidemocratismus' - denn ich diktire ihr täglich ein paar Stunden meine Gedanken über die lieben Europäer von heute und - Morgen; - aber zuletzt, fürchte ich, fährt sie mir doch noch 'aus der Haut' und fort von Sils-Maria, getauft wie sie ist, mit dem Blute von 1848.-" (KSB 7,5859: Juni 1885).
Nietzsche möchte also eine Rangordnung der Werte beibehalten, und dies verschließt ihm den Weg zur Demokratie. Die Geschichte hat nun aber gezeigt, daß die weitere Entwicklung der europäischen Völker zu Demokratien und Nationalstaaten nicht nur einen Abbau von Schranken gebracht hat, wenn man etwa die Abschaffung einer Rangordnung der Werte so verstehen wollte, sondern daß sie zugleich neue Schranken mit sich gebracht hat: die Entstehung des Nationalismus und die Verstärkung des Antisemitismus. Und gerade diese neuen Schranken haben zu den schlimmsten Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts geführt.
Von der alten zu einer neuen Vornehmheit
425
Nietzsche hat nun zwar den Schritt zur Demokratie und zum Nationalstaat nicht mitgemacht, - das wird ihm gelegentlich zum Vorwurf gemacht-, aber er hat schon frühzeitig und nachdrücklich vor den Gefahren der neuen Schranken, dem Nationalismus und Antisemitismus gewarnt: das sollte man ihm zugute halten. Nietzsches Forderung "internationaler" Werte und interkultureller "Mittheilungs- und Verständniss"-Fähigkeit hätte die Völker Europas vor diesen Katastrophen bewahren können. Und dies gilt vor allem für die Deutschen, deren Nationalismus und Antisemitismus Nietzsche immer wieder und unermüdlich aufs Schärfste verurteilt hat.362
362
Volkov (1990, 13-36) hat die Frage der Kontinuität des Antisemitismus in Deutschland von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Nationalsozialismus untersucht. Sie sieht diese vor allem darin, dass der zunächst von politischen Parteien explizit propagierte Antisemitismus nach dem Zurücktreten dieser Parteien zum zentralen Bestandteil eines 'kulturellen Codes', einer 'deutschen Ideologie', gemacht wurde, in dem die Strömungen der Zeit wie Nationalismus, Sozialkritik, Hass auf das Manchestertum sowie antiemanzipatorisches Gedankengut verbunden wurden. Als 'kultureller Code' konnte der Antisemitismus dann in nahezu allen Gesellschaftskreisen Verbreitung finden. Die massgeblichen Schöpfer dieses Codes, wie Class, Man und Glagau, sind heute leider z.T. 'völlig vergessen', wie Volkov zu recht anmerkt (S.20). Der Antisemitismus als 'kultureller Code' konnte von den Nazis aufgegriffen werden, wurde jedoch zu einem Programm der 'Gewalt, des Terrors und der Vernichtung' uminterpretiert (S.35), was aber von 'Millionen von Deutschen' nicht bemerkt wurde. Sie glaubten immer noch, 'es mit einem vertrauten Bündel von Auffassungen und Einstellungen zu tun zu haben' (S.36). Vieles spricht dafür, dass schon Nietzsche der Antisemitismus in diesem Sinne als 'kultureller Code', in dem sich Nationalismus, Deutschtümelei, Germanenkult, Imperialismus, Rassismus, Hass auf das Manchestertum etc. verbanden, bewusst geworden war. Mit dem Antisemitismus zusammen verurteilt er immer auch Nationalismus, Imperialismus, Deutschtümelei, Rassismus etc. Auch ein Teil der von Volkov genannten zentralen Protagonisten dieses 'kulturellen Codes', wie Treitschke, Dühring, Lagarde, wird von Nietzsche an den Pranger gestellt, so wie weitere Vertreter wie Fritsch und Stöcker. Nietzsches Vorbehalte gegenüber der modernen Demokratie konnten aber -gegen seinen Willen - als Bestandteil des genannten Codes missverstanden werden. Solche differenzierteren Stellungnahmen wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr gebührend zur Kenntnis genommen (Volkov S.34). Das Kaiserreich war in zwei 'Kulturen' zerfallen, deren Kluft zudem in der Weimarer Republik immer breiter wurde (S.35).
Anhang Nietzsche und Gobineau Die Frage des Einflusses von Gobineaus "Essai sur Finegalite des races humaines" (1854) wird in der Forschung unterschiedlich eingeschätzt. Seilliere (1905, S.III) möchte Nietzsche "im gewissen Sinne als einen Fortsetzer der gobinistischen Lehre" betrachten, wobei ihm aber, wie sich noch zeigen wird, schwerwiegende Fehlinterpretationen unterlaufen. Römer, in deren im übrigen gründlicher Untersuchung nicht ein einziger Nietzschetext herangezogen wird, behauptet dennoch, Nietzsche habe "alles" von Gobineau.363 Young vertritt die These, Gobineaus "geistige Auferstehung" sei in Deutschland über zwei Wege erfolgt: ab 1877 über Nietzsche und ab 1880 über Wagner und die "Bayreuther Blätter".364 Schwab (1950) hingegen betont Nietzsches Distanzierung von Wagner und Gobineau und Elisabeths Mann B. Förster. Nietzsche habe den Antisemitismus Wagners unter anderem scharf gerügt "en pretendant que le vrai manuscript de "Ma vie" (de Wagner) commenfait par cet aveu, ensuite sacrifie... 'je suis le fils de Louis GeyerV (Dazu: KSA 6,41,2436).365 Ottmann weist darauf hin, daß Nietzsches "rassistisches Vokabular" ein Mißverstehen seiner Texte ermöglicht habe.366 Und dazu trug auch nicht zuletzt bei, daß bisher das Wort "Rasse" bei Nietzsche fast immer unbesehen mit dem heutigen Wort "Rasse" gleichgesetzt wird, obwohl Nietzsche - wie wir gesehen haben - ein eigenes Konzept von "Rasse" selbst explizit angibt (11,136,13-27), das sein Konzept klar von dem modernen absetzt. Die Nachrichten über Nietzsches Gobineau-Lektüre und -Kenntnis sind unsicher und spärlich. Dies spricht dafür, daß Gobineaus Werk keinen so großen Einfluß auf ihn gehabt haben kann wie etwa Schopenhauer und Lange,
363 364 365 366
Römer 1989, 33. Young 1968, 225. Schwab 1950, 459. Ottmann 1987, 248.
Nietzsche und Gobineau
427
über deren Studium er wiederholt und begeistert berichtet. Die ausführlichsten Mitteilungen finden sich in Elisabeths Nietzsche-Biographie "Das Leben Friedrich Nietzsches" (1895-97), die aber, wie sich zeigen wird, mit Vorsicht zu behandeln sind. Elisabeth geht an drei Stellen auf das Verhältnis ihres Bruders zu Gobineau ein. Zu dem Bruch des Jahres 1878 bemerkt sie, Wagner und Nietzsche hätten sich wohl danach "zunächst befreit gefühlt", aber auch vereinsamt.367 Beide hätten aber vergeblich nach einem "Ersatz" gesucht: "Auch mein Bruder hat gesucht, aber jedenfalls in seiner Vereinsamung noch weniger gefunden als Richard Wagner, denn in dessen Nähe lebten beständig einige ausgezeichnete Menschen. Schließlich meinte mein Bruder, daß ihm Wagner sogar noch die Wenigen wegnähme, auf welche er wirken könnte - in Hinsicht auf Graf Gobineau eine sehr richtige Bemerkung. Dieser hätte viel besser zu den Anschauungen Nietzsches's als zu denen des späteren Wagner gepasst."368
Interessant ist hier, daß Elisabeth der Meinung ist, Nietzsche habe auf Gobineau einwirken können, nicht umgekehrt. Ihre darauf folgende Einschätzung ist wohl kaum zutreffend, denn gerade Wagner war ab 1880 ein begeisterter Gobineau-Leser,369 und in Bayreuth wurde die Zeitschrift zur Verbreitung seiner Ideen in Deutschland ("Bayreuther Blätter") gegründet.370 In der zweiten Stelle unternimmt es Elisabeth, das Verhältnis ihres Bruders zu Gobineau etwas näher zu beschreiben: "Die geistige Beziehung meines Bruders zu Gobineau ist sehr flüchtiger Natur gewesen: er hörte zuerst im Herbst 1877 durch Malwida von Meysenbug von ihm; (ich habe auch einmal in jener Zeit angefangen ein Buch von ihm vorzulesen, ohne daß mein Bruder besonderes Interesse dafür gezeigt hätte). Er fieng erst an sich lebhaft für ihn zu interessiren, als ihm erzählt wurde, mit welcher energischen Aufrichtigkeit sich Gobineau gegen den Parsifal ausgesprochen habe, und zwar auch gegen Richard Wagner selbst. Er hat dann späterhin sehr bedauert, daß er diesen ausgezeichneten Menschen, der so ganz für seine Anschauungsweise geeignet gewesen wäre, nicht persönlich kennen gelernt hat. Ich glaube, daß er selbst nur wenig von ihm gelesen hat und nur französisch, dazu mit jenem Vorurtheil, das in Frankreich gegen den Stil und das Französisch Gobineau's noch
367 568 m no
Förster-Nietzsche 1895-1897, , 869. Förster-Nietzsche ebenda. Dazu Young 1968,271. Zu den "Bayreuther Blättern" hat jetzt Kein 1996 eine gründliche Monographie vorgelegt, in der sie auch eingehend die Bedeutung Gobineaus für den "rassischen Antisemitismus" der "Bayreuther Blätter" untersucht (139 ff). Aus ihren Analysen geht hervor, daß in dieser Zeitschrift mehr als 60 Beiträge über Gobineau veröffentlicht worden sind. Sie gibt eine Liste dieser Aufsätze (Kein 1996, 403-405).
428
Anhang
heute herrscht. Aber über den Menschen Gobineau habe ich ihn im Herbst 1885 mit den wärmsten Ausdrücken reden hören."371
Elisabeth macht hier im einzelnen folgende Mitteilungen: 1. die "geistige Beziehung" war "sehr flüchtiger Natur" 2. erste Kenntnis "Herbst 1877" durch Malwida 3. zur gleichen Zeit liest Elisabeth ihrem Bruder ein Buch von Gobineau vor, ohne ein "besonderes Interesse" Nietzsches zu finden 4. Nietzsche zeigte erst "lebhaftes" Interesse anläßlich Gobineau's Kritik an Parsifal und Wagner 5. Nietzsches angebliches Bedauern, Gobineau nicht persönlich kennengelernt zu haben, "der so ganz für seine Anschauungsweise geeignet gewesen wäre" (ist dies die Auffassung Elisabeths? Vgl. erste Stelle oben) 6. Elisabeth "glaubt", daß Nietzsche "nur wenig" von Gobineau gelesen hat 7. Im "Herbst 1885" habe sie Nietzsche mit den "wärmsten Ausdrücken" über den "Menschen Gobineau" reden hören. Das würde dann besagen, daß Nietzsche sich vor allem für den "Menschen Gobineau" erwärmt hat, dessen Werke aber nicht näher studiert hat. Die erste Kenntnisnahme wird ins Jahr 1877 verlegt, lebhafteres Interesse erst ab der Kontroverse Gobineau/Wagner/Parsifal, also ab 1882, dem Jahr der Vollendung des Parsifal, vermeldet. Im "Herbst 1885" soll Nietzsche "wärmstens" über den "Menschen Gobineau" gesprochen haben, also nicht unbedingt über dessen Werke. In einer dritten Stelle führt Elisabeth in ihrer Nietzsche-Biographie einen Brief an, den ihr Bruder ihr "Anfang Oktober 1888" geschrieben habe: "... Ich bin also wieder in meiner guten Stadt Turin, diese Stadt, welche auch Gobineau so sehr geliebt hat -wahrscheinlich gleicht sie uns beiden. Auch mir thut die vornehme und etwas stolze Art dieser alten Turiner sehr wohl..."372
Dieser Brief dürfte eine Fälschung sein, denn er läßt sich in der kritischen Gesamtausgabe der Briefe Nietzsches (KSB) nicht nachweisen. Der einzige Brief Nietzsches aus Turin an seine Schwester, der belegt ist, stammt von
371 372
Förster-Nietzsche 1895-1897, , 886. Förster-Nietzsche 1895-1897, , 889.
Nietzsche und Gobineau
429
"Mitte November" 1888 (KSB 8,473-74), in dem von Gobineau aber nicht die Rede ist. Hier ist die Forschung, die auch diesem Brief keine geringe Bedeutung beimaß,373 einer Fälschung Elisabeths aufgesessen. Elisabeth war offensichtlich bemüht, ihrem Bruder eine nähere Beziehung zu Gobineau anzudichten, auch wenn sie selbst zugeben muß, daß dieser die Werke Gobineau's wohl kaum näher gekannt haben dürfte. Prüfen wir nun Elisabeths Angaben mit den jetzt zur Verfügung stehenden Mitteln der Nietzsche-Forschung, dann sind noch weitere Korrekturen des von ihr gezeichneten Bildes erforderlich. In Nietzsches philosophischen Texten und in seinen Briefen (KSB) wird Gobineau nur einmal, in einem Brief vom Dezember 1888 (dazu gleich), erwähnt. In Nietzsches Bibliothek ist kein Werk Gobineaus nachzuweisen. Die erste Bekanntschaft mit Ideen und dem Namen Gobineaus könnte schon im Januar 1866 stattgefunden haben, denn Nietzsche wünscht sich zu Weihnachten 1865 Schopenhauers "Parerga und Paralipomena" als Geschenk (KSB 2,101), in denen dieser Gobineau erwähnt: "Gobineau (des races humaines) hat den Menschen Tanimal mediant par excellence' genannt, welches die Leute ihm übelnahmen, weil sie sich getroffen fühlten: er hat aber recht, denn der Mensch ist das einzige Tier, welches anderen Schmerzen verursacht, ohne weiteren Zweck als eben diesen.374
Darauf ist noch zurückzukommen. Was Malwida betrifft, finden sich bei Kretzer375 genauere Angaben als bei Elisabeth. Kretzer erfuhr brieflich von Malwida, daß sie Gobineau persönlich und seine Werke in Rom durch Vermittlung der Caroline von Sayn-Wittgenstein kennenlernte. Diese habe ihr Gobineau's "Rassebuch" geliehen. An den Zeitpunkt könne sie sich nicht mehr genau erinnern, aber es sei "jedenfalls erst nach 1878" gewesen, also mindestens ein Jahr später, als Elisabeth ansetzt.376 Da Nietzsche den Namen Gobineaus aber vermutlich schon kannte, brauchte er ihn nicht von Malwida kennen zu lernen. Ob und inwieweit Malwida Nietzsche darüberhinaus für Gobineau interessieren konnte, ist damit aber noch nicht gesagt.
373 374 375 376
So etwa Young 1968, 270. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, Kapitel Ethik. Kretzer 1902. Kretzer 1902, 45.
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Wagner lernte Gobineau zwar schon 1876 persönlich kennen, aber erst nach der zweiten Begegnung mit ihm, im Jahre 1880, begann er sich ernsthaft für Gobineau's Schriften zu interessieren,377 also erst nach Nietzsches Bruch mit Wagner. Wagner kann also Nietzsche auch nicht mit seiner Gobineau-Begeistenmg angesteckt haben. Daß Gobineaus Vorbehalte gegenüber dem "Parsifal", der erstmals 1882 aufgeführt wurde, Nietzsches Interesse für Gobineau verstärkt haben könnte, ist denkbar, läßt sich aber nicht belegen, wenn wir von Elisabeths Hinweis absehen. Genaueres über Gobineaus Vorbehalte erfahren wir bei Lange:378 "... c'est ce christianisme latent qui se degage de ses demieres oeuvres; c'est cette tendance a l'ascetisme qui de l'auteur de la 'Walkyrie' fera celui de 'Parsifal'. L'ascetisme de 'Parsifal' et les tendances des lors marquees de Wagner a une espece de socialisme chretien ne furent pas sans irriter raristocratisme de Gobineau et sans faire poindre sous les fleurs dont les deux amis se couvraient Tun l'autre les germes d'un dissentiment."
Lange hält es sogar für möglich, daß die Beziehungen der beiden sich in Zukunft erheblich verschlechtert haben würden, wenn nicht der Tod dazwischen gekommen wäre.379 Denn Gobineau mißfiel neben Wagners "ascetisme" auch dessen Hang zu seinen "origines plebeiennes", den Lange in einer Anekdote belegt.380 Nietzsche vermerkt beim Empfang des ihm von Wagner zugesandten Parsifal-Textes: "Unglaublich! Wagner war fromm geworden..." (6,327,25).
Lange gibt ein Stichwort, das ein gesteigertes Interesse Nietzsches für Gobineau verständlich machen könnte: der "Aristokratismus" Gobineaus. Ob und wann Nietzsche von Gobineaus Wagner-Vorbehalten erfahren haben könnte, läßt sich - soweit ich sehe - nicht nachweisen. Die offizielle Bayreuther Gobineau-Propaganda dürfte diesen wunden Punkt eher verschleiert haben. Aus Elisabeths Darstellung in ihrer Nietzsche-Biographie, daß sie ihren Bruder "im Herbst 1885 mit den wärmsten Ausdrücken" "über den Mensch Gobineau" habe "reden hören",381 glaubt Seiliiere die Vermutung ableiten zu
377 178 379 380 381
Young 1968, 271. Lange 1924, 252. Lange 1924, 252. Dazu Lange 1924, 252, Anm. 1. Förster-Nietzsche 1895-1897, , 886.
Nietzsche und Gobineau
43 \
können, "daß er (Nietzsche) Gobineaus Schriften vor 1885 häufig benutzt hat".382 Dieser Schluß ist unzulässig, denn zum einen ist es fraglich, ob Elisabeths Darstellung zutreffend ist (es lassen sich keine Belege dafür beibringen), und zweitens könnte Nietzsche Gobineaus "Aristokratismus" gelobt haben, ohne dessen Schriften näher studiert zu haben. Wieder ein Beispiel dafür, wie sehr die Forschung dazu neigte, aus Elisabeths unbewiesenen Behauptungen weitreichende Schlußfolgerungen zu ziehen. So bleibt als einzige Erwähnung des Namens Gobineau durch Nietzsche der Brief vom 10. Dezember 1888. Dieser Brief nimmt Bezug auf eine Vorankündigung der Schrift "Der Fall Wagner", die Köselitz geschrieben hatte. Die Besprechung von Köselitz erschien im zweiten Novemberheft des "Kunstwart" 1888 unter dem Titel "Nietzsche-Wagner".383 Krummel bemerkt dazu: "Hier spricht der erste Jünger Nietzsches, der in ihm weder den Wagnerianer, noch den Schopenhauerianer sieht, noch freut er sich vordergründig über Abfall oder Angriffe. Nietzsche ist ihm eine 'Kultur für sich, antiromantisch, antichristlich, antirevolutionär, antidemokratisch, kurz vornehm'".384
Avenarius, der Herausgeber des "Kunstwart" übte seinerseits eine vorsichtige Kritik an Nietzsches Schrift: "Zugestehend, daß Nietzsche 'einer der geistvollsten und tiefsten Denker unserer Zeit' sei, bleibt diese Schrift ihm eine unerfreuliche, Nietzsche komme ihm hierin vor wie ein 'espritreicher Feuilletonist', der mit großen Gedanken spiele. Doch dürfe es keinem länger einfallen, diesen Nietzsche vornehm zu belächeln oder überlegen abzutun."385
Auf diese Vorgänge (Köselitz' Besprechung und die Vorbehalte des Avenarius, des Herausgebers des "Kunstwart") nimmt Nietzsche in seinem Brief vom 10. Dezember 1888 an Köselitz Bezug, wenn er schreibt: "- Aber das ist ja herrlich, was Sie geschrieben haben, lieber Freund! Das ist ja der berühmte 'Anfang' von dem man sagt, daß er schwer ist... Es ist nicht nur Alles richtig, es ist auch ausgezeichnet gesagt, - die Erinnerung an Graf Gobineau und überhaupt der Accent auf das Französische ist ein Meistergriff. - Der Redakteur hat, für einen Verwandten Wagners, seine Sache nicht schlecht gemacht. Wundervoll ist es, daß 'mit großen Gedanken spielen' ihm als Einwand gilt, - 'nur
382 383 384 385
Seiliiere 1905, 278. Krummel 1974, 73. Krummel ebenda. So Krummel über die Kritik des Avenarius an Nietzsches Schrift. (Krummel 1974, 73). Zu Avenarius vgl. im Namensregister.
432
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als Feuilletonist, aber überaus espritreich', in Frankreich lachte man sich todt über eine solche Ablehnung.- " (KSB 8,516).
Nietzsche ist also sehr zufrieden mit Köselitz' Text zum "Fall Wagner". Dieser Text ist heute nur in einem kurzen Auszug bei Love zugänglich.386 Nach Love's Einschätzung hat Köselitz eine Art "apologia" geschrieben.387 Nietzsche hebt insbesondere hervor: Köselitz' "Erinnerung" (Hinweis) an "Graf Gobineau", und "überhaupt der Accent auf das Französische". Der "Accent auf das Französische" ist Nietzsche also noch wichtiger als der Hinweis auf "Graf Gobineau", der hier nur als Unterpunkt des "Französischen" erscheint. Als Vertreter des "Französischen", die vorbildlich für die Deutschen, auch Wagner, seien, behandelt Nietzsche im "Fall Wagner" ausführlich Bizet (6,13 f.) und Merimee (6,15 f). "Graf Gobineau" dürfte in diesem Zusammenhang vor allem als Vorbild für französische "Vornehmheit" zu verstehen sein, zumal Köselitz' (gemäß Krummeis Kurzreferat) Besprechung offenbar darauf abzielt, Nietzsches Denken ("Kultur") als "vornehm" zu erweisen. Die Nennung des Namens Gobineau greift also nur die vorhergehende Nennung dieses Namens durch Köselitz auf, und es bleibt offen, ob Nietzsche diesen Namen ohne einen solchen vorausgehenden Anlaß verwendet hätte. Da Gobineau zu dieser Zeit längst durch die Bayreuther Wagnerianer in Besitz genommen war, mag es Köselitz gereizt haben, darauf hinzuweisen, daß auch Nietzsche auf ihn Anspruch machen könnte: dank der "Vornehmheit" seiner "Kultur". Ob Köselitz darüberhinausgehend weitere Gemeinsamkeiten zwischen Nietzsche und Gobineau andeuten wollte, bleibt ebenfalls offen. Durch die kritischen Bemerkungen des Herausgebers fühlt Nietzsche sich eher geehrt, denn in Frankreich hätte man ihn gerade wegen dieser Eigenschaften gelobt. Auch hier bekennt sich Nietzsche wieder ganz zu "französischen" Maßstäben. Als Ergebnis der kritischen Analyse der Hinweise bei Elisabeth und in der Gobineau-Forschung (Seiliiere, Young) läßt sich festhalten: es gibt keine Belege für eine eigene Gobineau-Lektüre durch Nietzsche (auch in Nietzsches Bibliothek fand sich kein Werk Gobineaus)
386 387
Love 1981, 193. Love ebenda.
Nietzsche und Gobineau
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hätte eine Lektüre Gobineaus durch Nietzsche für ihn eine größere Bedeutung gehabt, wie etwa die Schopenhauers oder Langes, dann hätte dies sicherlich einen schriftlichen Niederschlag gefunden es gibt keinen Beleg dafür, daß Malwida Nietzsche in Sachen Gobineau beeinflußt hat Nietzsche könnte Gobineau's Namen schon im Januar 1866 bei seiner Lektüre von Schopenhauers "Parerga und Paralipomena" kennengelernt haben; vielleicht blieb seine Kenntnis Gobineau's auf eine solche aus zweiter Hand beschränkt; dazu boten die "Bayreuther Blätter" genügend Gelegenheit.388 die einzige Nennung des Namens Gobineau bei Nietzsche wurde durch Köselitz' Schrift zum "Fall Wagner" hervorgerufen, in der dieser Gobineau nennt die Beziehung Nietzsches zu Gobineau scheint sich auf eine gewisse Schätzung der "Vornehmheit" der Person des "Grafen Gobineau" zu beschränken, wozu auch dessen Vorbehalte gegenüber Wagners später religiöser Entwicklung im "Parsifal" beigetragen haben dürften da Gobineau durch die Bayreuther Vereinnahmung in
ein
antisemitisches Fahrwasser geraten war (ob mit oder ohne Recht), war er für Nietzsche unannehmbar geworden an Elisabeths Darstellung scheint so viel richtig zu sein, daß Nietzsche sich mehr für die Person als für die Werke Gobineaus interessierte die ältere, durchwegs für Wagner eingenommene Forschung, war bemüht, in Anlehnung an die Wagnerianer, einen "Mythos NietzscheGobineau" zu schaffen: dieser "Mythos" ist nicht länger aufrecht zu erhalten. Die Forschung hat sich bemüht, Gobineau-Einflüsse auf Nietzsche in einzelnen Schriften nachzuweisen. Für "Menschliches, Allzumenschliches" fiel die Suche negativ aus. Aus der "Morgenröthe" fand der Aphorismus 272 ("Die Reinigung der Rasse") die Aufmerksamkeit der Gobineau-Sucher. Wie wir schon vom gesehen haben, geht es Nietzsche hier um zwei Thesen: es gibt
388
Dazu schon die Hinweise in Anm. 370.
434
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"wahrscheinlich keine reinen, sondern nur rein gewordene Rassen" (3,213,1819), und zweitens: der Prozeß der "Reinwerdung" ist zu verstehen als der Weg zu der von Nietzsche für Europa erstrebten "neuen Synthese", die möglichst viele "Gegensätze" bewahrt und "coordinirt". Als Beispiel einer in diesem Sinne "reingewordenen Rasse" verwies Nietzsche dort auf die "Cultur" der Griechen. (3,214,4-11). Daß hierin ein grundlegender Unterschied zu Gobineau bestehe, wird auch von Young zugestanden.389 Spieß möchte jedoch in Nietzsches Formulierung, daß "gekreuzte Rassen" "Disharmonien der Gewohnheiten und Werthbegriffe" aufweisen (3,213,23-24), eine Parallele zu Vorstellungen Gobineaus sehen.390 Dies dürfte jedoch unangebracht sein. Während Gobineaus "Disharmonien" biologisch durch Mischung von "Rassen" (im modernen Sinn) entstehen, haben die von Nietzsche angedeuteten "Disharmonien" soziale und kulturelle Hintergründe: sie treten bei der "Mischung" von "Völkern" auf, wenn diese sich zu schnell vollzieht, und sie werden bei Nietzsche in der "neuen Synthese" aufgelöst, nicht "biologisch" durch Rückgängigmachung der "Mischung". Während bei Gobineau jede "Mischung" grundsätzlich einen Niedergang bedeutet, ist "Mischung" bei Nietzsche der "Quell großer Cultur". Beim "Zarathustra" werden von mehreren Forschern Einflüsse für möglich gehalten. Seilliere hält es für möglich, daß die "Schilderung" des "letzten Menschen" (4,19-21) vom Schluß von Gobineaus "Essai" beeinflußt sei, wo dieser "mit dem Versiegen des letzten arischen Blutes ein Zeitalter der Einförmigkeit anbrechen" sehe,391 "in dem allein die Mittelmäßigkeit herrscht", wie Young es formuliert.392 Rey möchte Zarathustras Rede "Von den Mitleidigen" mit Gobineau in Zusammenhang bringen (4,113).393 Young sieht im Übergang von Teil III zu IV des "Zarathustra" Übereinstimmungen mit Gobineaus "Amadis", ohne dies aber näher zu spezifizieren.394 Aus Rey's Besprechung des "Amadis" ist zu entnehmen, daß Gobineau in diesem Werk die These von der "Seelenlosigkeit der Masse" in den Mittelpunkt stellt: "la
389 390 391 392 393
394
Young 1968, 272. Spieß 1925, 6. Seilliere 1905, 278. Young 168, 120, mit Hinweis auf Gobineau's "Essai" 1933, , 560-561. Rey 1981, 266. Young 1968, 271.
Nietzsche und Gobineau
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masse" n'a "point d'äme".395 Es ist nicht nötig, auf diese Punkte näher einzugehen, sie machen aber deutlich, wie sehr sich die ältere Forschung bei ihrer Einfluß-Suche bemüht hat. In "Jenseits von Gut und Böse" erscheint das Wort "Rasse" häufiger als in früheren Schriften Nietzsches, und so war man überzeugt, hier deutlichere Einflüsse Gobineaus feststellen zu können. Des weiteren verwies man auf Virchow,396 ohne zu beachten, daß gerade Virchow völlig andere Auffassungen vertritt als Gobineau, und so eigentlich ein Gegenargument gegen den angeblichen Gobineau-Einfluß darstellen mußte. Auffällig ist bei den hier vorgebrachten "Belegen", daß das Wort "Rasse" bei Nietzsche unbesehen mit Gobineau und dem modernen Rassebegriff gleichgesetzt wird. Young behauptet sogar, daß Nietzsche seinen Rassebegriff "an keiner Stelle seines Werkes genau definiert" habe,397 was falsch ist, denn diese Stelle findet sich in KSA 11,136,3-28, umfasst also 25 Zeilen und Nietzsche macht hier nachdrücklich deutlich, daß für sein Rassekonzept "Umgebung" und "Lebensbedingungen" der Völker entscheidend sind. Wir haben in dieser Untersuchung laufend auf diese Bestimmung des Konzepts "Rasse" durch Nietzsche Bezug genommen. In Aphorismus 20 stellt Nietzsche einen Zusammenhang zwischen den "physiologischen Werthurtheilen und Rasse-Bedingungen" von Völkern und der in ihrer Sprache enthaltenen "Philosophie der Grammatik" her. (5,34-35). Wir haben oben gezeigt, daß dieser Bezug über Nietzsches "Rassekonzept" vermittelt ist, wonach die "Existenzbedingungen" eines Volkes sich in einem Begriff von "Wahrheit" niederschlagen, der eine Existenzsicherung dieses Volkes ermöglicht. Nicht die "Rasse" ä la Gobineau, wie Young anzunehmen scheint,398 prägt die "Philosophie der Grammatik", sondern es sind bei Nietzsche die "Existenzbedingungen", die 'bestimmen', was einem Volk, das unter diesen Bedingungen leben muß, als "nützlich" und damit als "wahr" gilt.
395
396 397 398
Rey 1981, 259. So Young 1968, 273. Young 1968, 283. Young 1968, 277.
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Anhang
In Aphorismus 48 wird dargelegt, daß der "Katholicismus" besser zu den "lateinischen Rassen" passe, die protestantische Religion besser zu den "Nordländern". Auch diesen Gedanken möchte Young aus Gobineau ableiten.399 Wir haben oben schon darauf hingewiesen, daß auch Schopenhauer in seinen "Parerga" eine ähnliche Vorstellung vorträgt. Und hier wird sogar zur Stützung dieser Behauptung auf "klimatische Gründe" verwiesen.400 Dies verträgt sich sehr gut mit Nietzsches "Rasse-Konzept", und es spricht nichts dagegen, daß Nietzsche diese Vorstellung aus Schopenhauer übernommen hat, aus den "Parerga", die er sich schon im Dezember 1865 zu Weihnachten wünschte. Dies wäre wieder ein Beleg dafür, daß Nietzsche Vorstellungen Gobineaus aus zweiter Hand bezogen haben dürfte, wobei anzumerken ist, daß an dieser Stelle in den "Parerga" der Name Gobineaus nicht erwähnt wird. Demnach kann hier von einer bewußten Gobineau-Anleihe nicht die Rede sein. In Aphorismus 248 unterscheidet Nietzsche zwei "Arten des Genie's: eins, welches vor allem zeugt und zeugen will, und ein anderes, welches sich gem befruchten lässt und gebiert" (5,191,15-17). Damit wird nicht einer "Rassenungleichheit" das Wort geredet, wie Young anzunehmen scheint.401 Denn bei Nietzsche sind beide gleichwertig: die Griechen und die Franzosen, die Nietzsche sehr hoch schätzt, gehören nämlich zu den "genialen Völkern", "denen das Weibsproblem der Schwangerschaft und die geheime Aufgabe des Gestaltens, Ausreifens, Vollendens zugefallen ist..." (5,191,18-20).
Wenn in Aphorismus 257 die "Entstehungsgeschichte der aristokratischen Gesellschaft" mit der "Erhöhung des Typus 'Mensch'" in Verbindung gebracht wird (5,205,21-23), so handelt es sich dabei um einen so zentralen Gedanken Nietzsches, daß dafür in keiner Weise Gobineau bemüht zu werden braucht, wie Young offenbar annimmt.402 Nietzsche ist sicher ohne Hilfe Dritter auf diesen Gedanken gekommen. Allenfalls kann man hier eine gewisse Parallele sehen, die beide Denker, trotz ansonsten in vieler Hinsicht unterschiedlicher Vorstellungen, verbinden konnte. 399 400 401 402
Young ebenda. Parerga , 352. Young 1968, 273. Young ebenda.
Nietzsche und Gobineau
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In Aphorismus 208 wird die "europäische Krankheit" der "Willenslähmung11 (5,139,3) damit in Zusammenhang gebracht, daß "in zu plötzlicher Weise lang von einander abgetrennte Rassen oder Stände (sich) kreuzen" (5,138,14-15). Rey möchte darin eine grundsätzliche Ablehnung von Vermischung bei Nietzsche herauslesen.403 Davon kann aber nicht die Rede sein. "Mischung" von Völkern und Ständen ist notwendige Zwischenstufe für die Herausbildung des "europäischen Menschen", wie Nietzsche ihn sich vorstellt, und zur Entstehung des "einen Europa" (5,140,6). Nur das Tempo dieser Mischung sollte nicht zu groß sein, da bei langsamerem Tempo die anzustrebende "neue Synthese" leichter erreicht werden kann. Das "vornehme" Tempo ist "langsam", die Juden werden wegen ihrer "Langsamkeit" gelobt. Die Mischung ist ohne Vorbehalte zu begrüßen, aber sie sollte sich langsam vollziehen. Die Mischung fuhrt nicht zu "Dekadenz", sondern zu einer neuerlichen Erhöhung des europäischen Menschen. In der "Genealogie der Moral" hat natürlich Kapitel 1,5 (5,262-64) das besondere Interesse der von Gobineau ausgehenden Forschung gefunden, insbesondere die Textpassage 5,263,33 bis 5,264,9, in der vom Niedergang der "arischen Eroberer-Rasse" und der Aristokratie und dem "Oberhand-Bekommen" der "vorarischen Bevölkerung" die Rede ist, was zur Entstehung der "modernen Demokratie" gefuhrt habe. In dieser Stelle scheint sich Nietzsche in der Tat bedenklich Vorstellungen Gobineaus zu nähern, denen zufolge das 'Schicksal' von "Rassen" den Gang der Geschichte bestimme. Die vorn im Kapitel "Gang der Cultur" gegebene ausführliche Interpretation dieser Textpassage hat jedoch gezeigt, daß eine solche Einschätzung dieser GM-Stelle zu kurz greifen würde. Zum einen erfolgt der Abstieg der "Eroberer-Rasse" nicht durch "Rassenmischung" - was für Gobineau kennzeichnend wäre -, sondern durch physiologische Erkrankung, was dann später in der "Genealogie" ausführlich dargelegt wird (GM 111,12-21). Zum zweiten darf nicht übersehen werden, daß Nietzsche die fragliche Textpassage in doppelter Weise "zurücknimmt": er setzt sie in Klammern, und an ihrem Ende setzt er ein Fragezeichen! Die Textpassage erhält dadurch einen
403
Rey 1981, 148.
438
Anhang
stark hypothetischen Charakter, so als wollte er hier diese Auffassung quasi zur Diskussion stellen, -ohne sie selbst unterschreiben zu wollen. So gesehen könnte es sich in der Tat um eine Anspielung auf Gobineau handeln. Drittens darf nicht übersehen werden, daß Nietzsche in der gleichen Schrift, GM 111,1221, eine zweite, seine eigene Interpretation des Niedergangs der Aristokratie gibt, die die Erkrankung des europäischen Menschen in den Mittelpunkt stellt, das "physiologische Hemmungsgefühl", das unabhängig von Völkern in Europa zu beobachten sei, eine Erkrankung, die durch den asketischen Priester noch verschlimmert wurde. Die vom asketischen Priester befürwortete Moral hat in Europa den Weg für die Demokratie bereitet. Young greift also zu kurz, wenn er behauptet, bei Nietzsche führe die "Blutmischung von Herren und Sklaven" zur Entstehung der Demokratie.404 Mit dieser Nietzsche-Lesung werden Vorstellungen Gobineaus unkritisch Nietzsche übergestülpt, bei dem nicht "Rassen" und "Blutmischung", sondern von "Rassen" unabhängige physiologische und moralische Prozesse im Vordergrund stehen. Rey geht sogar so weit, die in "Ecce homo" vorgestellte Lehre von der "ewigen Wiederkehr" für Gobineau reklamieren zu wollen.405 Dazu vergleiche man die Liste möglicher Vorläufer dieser Lehre bei Moles, die bereits in der Antike beginnt. Moles zählt mehr als 50 Namen auf: sollte er Gobineau vergessen haben?406 Wie unsorgfältig Young Nietzsche gelesen hat, erhellt auch daraus, daß er aus den Abschnitten über das Manu-Gesetzbuch ("Götzen-Dämmerung", Die "Verbesserer" der Menschheit: 3 und 4) glaubt herauslesen zu dürfen, Nietzsche habe die "arische Humanität" dieses Gesetzbuches und ihre "Züchtungsvorschriften" als vorbildlich betrachtet.407 Nietzsche stellt dort vielmehr fest, daß der "Begriff 'reines Blut' der Gegensatz eines harmlosen Begriffs ist" (6,101,23-24), und er betont am Ende des Kapitels: "alle Mittel, wodurch bisher die Menschheit moralisch gemacht werden sollte, waren von Grund aus
404 405
406 407
Young 1968, 275. Rey 1981, 202. Vgl. bei Moles 1990, 405, Anm. 7. Young 1968, 277.
Nietzsche und Gobineau
439
unmoralisch" (6,102,21-22). Dies bezieht sich ganz klar auch auf das Gesetzbuch des Manu, so daß die Behauptung Youngs, Nietzsche habe mit seiner Bejahung des Manu-Gesetzbuches "Gobineau's Idee der rassischen Ungleichheit" "zu Ende gedacht", was Gobineau "selbst nicht gewagt habe", jeder Grundlage entbehrt.408 Die Problematik der Gobineau-Forschung bei ihrer Suche nach Einflüssen auf Nietzsche liegt vor allem darin, daß sie sich nicht die Mühe gemacht hat, Nietzsches Texte genau zu lesen, und den Versuch unterlassen hat, die grundlegenden Konzepte genauer zu studieren, an denen sie diese Einflüsse festmachen wollte. So wird z.B. das Wort "Rasse" bei Nietzsche unbesehen mit Gobineaus biologischem Rassenbegriff gleichgesetzt, wobei Young sogar behauptet, Nietzsche habe seinen Rassebegriff "an keiner Stelle seines Werkes genauer definiert"409, was nachweislich falsch ist (cf. KSA 11, 136). Da es bei Nietzsche keine "Rassen" und keine Rassenhierarchie im Sinne Gobineau's gibt, sind auch alle Versuche verfehlt, darauf aufbauende Vorstellungen Gobineaus auf Nietzsche übertragen zu wollen. Zu dem Vorgehen Gobineaus, eine uranfängliche Ungleichheit des Menschen schon in der Bibel verankern zu wollen,410 wobei ihm nicht bewußt geworden sein soll, daß nach der Bibel alle Menschen gleich seien, gibt es bei Nietzsche keine Parallele. Gobineau dürfte sich hierbei vor allem auf das Alte Testament stützen, wo er in der Auserwähltheit des jüdischen Volkes eine 'Ungleichheit' der Völker gesehen haben könnte. Aber diese Ungleichheit kann wohl kaum 'biologisch' interpretiert werden und sie ist für die Juden sogar mit einem positiven Vorzeichen versehen, also seiner eigenen Höherbewertung der 'Arier' geradezu entgegengesetzt. Im Neuen Testament wird diese 'Ungleichheit' nun aber insofern aufgehoben, als nun die christliche Botschaft für alle Menschen und Völker gleichennassen gelten soll und zugänglich ist. Diesem Schritt trägt Gobineau in keiner Weise Rechnung. Auf diese Inkonsequenz weist auch Young nachdrücklich hin.411
408 409 410 411
Young ebenda. Young 1968, 283. Dazu vgl. Young 1968, 130 und 245, sowie Römer 1989, 31. Young 1968, 130.
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Bei Nietzsche werden Völker, nicht "Rassen" im modernen Sinn, durch die "Umgebung" und die "Existenzbedingungen" geprägt, in denen sie lange leben, und sie ändern sich mit der Veränderung dieser Umstände. "Rangunterschiede" sind bei Nietzsche kulturell gewordene, die sich daher ändern können. Wenn bei Gobineau die Mischung seiner biologischen "Rassen" grundsätzlich nur zu negativen Resultaten rühren kann, so ist es bei Nietzsche eher umgekehrt: die Mischung der Völker trägt zur Erhöhung des Menschen bei. So sieht dies auch Ottmann, der feststellt, Nietzsche war "eindeutiger Anti-Gobineauist, wenn er die Rassenkreuzung sogar als 'Quell großer Kultur' pries",412 wobei auch hier zu fragen ist, ob Ottmann sich genügend klar gemacht hat, daß das Wort "Rasse" bei Nietzsche in den allermeisten Fällen "Völker" bezeichnet (neben "Mensch allgemein", "Stand") und nicht "Rasse" im modernen Sinn. Damit dürfte feststehen, daß eine "Rassentheorie" im Sinne Gobineau's bei Nietzsche nicht nachzuweisen ist. Darüberhinaus hat die vorliegende Untersuchung deutlich werden lassen, daß nicht "Rassen" oder "Völker", sondern Menschen und Menschentypen bei Nietzsche im Mittelpunkt stehen. Ihrer Erhöhung durch Erziehung gilt seine ganze Sorge, und es ist nach dem Gesagten völlig unzutreffend, wenn Seiliiere behauptet, "seit Winter 1884" gelte bei Nietzsche das "reine Blut" als "kultureller Wert" und er betrachte "Vermischung" als "zersetzend".413 Vermutlich denkt auch er hier an das Gesetzbuch des Manu und hat die entsprechende Stelle in der "GötzenDämmerung" genau so oberflächlich gelesen wie Young.414 Es ist natürlich keine Frage, daß ein so 'gelesener' und 'interpretierter' Nietzsche den nachfolgenden "Rassekundlem" manches Interessante zu bieten haben schien! Für andere Vorstellungen, die für Nietzsche eine zentrale Bedeutung haben (im Unterschied zu einer "Rassentheorie" ä la Gobineau) - wie etwa die Überzeugung, daß der Mensch ein "animal mechant" sei - braucht hingegen nicht auf Gobineau verwiesen zu werden. Schon bei Hobbes findet sich ein solches Menschenbild, dem Rousseau sein Bild des von Natur "guten Menschen" ent-
412 413 414
Ottmann 1987, 251. Seiliiere 1905, 279. Young 1968, 277.
Nietzsche und Gobineau
gegen zu stellen suchte. Diese Kontroverse war Nietzsche
441
natürlich
415
bekannt. Nietzsche selbst verweist dafür übrigens auch noch auf Merimoe (KSA 2,71,27-29), und einmal bedauert er, daß der Mensch "leider nicht mehr böse genug" sei: "die Gegner Rousseaus, welche sagen: 'der Mensch ist ein Raubthier' haben leider nicht Recht..." (12,421,1-4). Insgesamt bleibt also von den angeblichen Einflüssen Gobineau's auf Nietzsches Werk kaum noch etwas übrig. Gobineau's Rassetheorie findet bei Nietzsche keinen Niederschlag, und der Antisemitismus Gobineau's und der Bayreuther konnte Nietzsche nur abstoßen. Als mögliches Bindegüed zwischen Nietzsche und Gobineau können allenfalls Gobineaus Vorbehalte gegenüber den Entwicklungen des späten Wagner ("Parsifal") und Gobineaus "Vornehmheit" genannt werden. Während aber Gobineau diese Vornehmheit in Europa für immer untergehen sah, wurde Nietzsche nicht müde, das "Ideal" dieser Vornehmheit in gewandelter Form auch für die Zukunft Europas zu fordern und ihm neue Geltung zu verschaffen. Dem Pessimismus Gobineaus, der als Pessimismus der "Schwäche" eingestuft werden kann, setzte Nietzsche seinen Pessimismus der "Stärke" entgegen, der in seiner Lehre von der "ewigen Wiederkehr" als erzieherischer Imperativ formuliert wurde und zur neuerlichen Erhöhung des Menschen den Weg zeigen sollte (12,455,1-27).-
415
Dazu Ansell-Pearson 1991, 54 f. sowie Ottmann 1987, 90 f.
Liste der Belege des Wortes "Rasse" in Nietzsches Texten In dieser Liste werden nur die Belegstellen in der KSA aufgeführt. In der Untersuchung werden auch die Belege in Nietzsches Briefen (KSB) herangezogen. Da die meisten Belege in der Untersuchung selbst mit ihren Kontexten zitiert werden, werden hier nur die Belegstellen selbst genannt. Gelegentlich werden kurze Erläuterungen gegeben, insbesondere auch wenn das Wort "Rasse" in einem von Nietzsche zitierten Textstück eines anderen Autors steht. (Kursive Zahlen in Klammern: Verweis auf Seiten der Untersuchung, wo die Belege genauer besprochen werden.) ÜB I : KSA 1,235,32 (Zitat aus D.F. Strauss) ÜB m : KSA 1,352,11 Fünf Vorreden. Der griechische Staat: KSA 1,767,34 MAM : Aph. 45 : KSA 2,68,8 Aph. 224: KSA 2.188,16 (Veredelung durch Entartung) Aph. 248: KSA 2,206,32 (Zitat Friedrich der Große) Aph. 475: KSA 2,309,12 (48) Aph. 479: KSA 2,313,15 und 27 M : Aph. 70 : KSA 3,68,29 Aph. 272: KSA 3,213,18 und 26 und 31 (keine reinen Rassen) (739) KSA 3,214,7 und 9 und 11 (139, 140, 433) FW : Vorrede zur zweiten Ausgabe: KSA 3,348,29 (232) KSA 3,349,9 Aph. 10 : KSA 3,382,10 Aph. 40 : KSA 3,408,1 Aph. 348: KSA 3,585,2 (die Deutschen: deraisonnable Rasse) (81) Aph. 354: KSA 3,591,6 Aph. 357: KSA 3,597,25 und 31 KSA 3,599,24 Aph. 377: KSA 3,630,16 und 30 und 32 (gegen Rassenhaß)
Liste der Belege des Wortes "Rasse" in Nietzsches Texten
JOB :
Aph. Aph. Aph. Aph. Aph.
20 21 28 48 61
: : : : :
443
KSA 5,35,7 (219, 435) KSA 5,36,25 KSA 5,46,9 (221 f.) KSA 5,69,10 und 14 und 16-17 (57, 94, 436) KSA 5,79,27 KSA 5,80,22 Aph. 62 : KSA 5,82,23 (194f., 337, 340) Aph. 188: KSA 5,110,9 Aph. 189: KSA 5,110,13 Aph. 200: KSA 5,120,24 (334) Aph. 208: KSA 5,138,15 und 27 (48, 131, 248, 251,437) Aph. 224: KSA 5,158,5 (727, 509) Aph. 228: KSA 5,164,17 Aph. 241: KSA 5,180,28 (703) Aph. 242: KSA 5,182,20 (230, 237, 259, 261, 267, 277, 295, 310, 338) Aph. 244: KSA 5,184,19 (94, 99, 239) Aph. 248: KSA 5,191,26 (Judenu. Römer: "zeugende" Völker) (66,144, 242, 436) Aph. 251: KSA 5,193,23-25 (Deutschland braucht die Juden) (49, 78, 85, 238) KSA 5,194,8 (79, 84, 87) Aph. 252: KSA 5,195,7 und 25 (Engländer: keine philosoph. Rasse) (725, 136, 337) Aph. 256: KSA 5,204,1 (48, 95, 132, 330) Aph. 257: KSA 5,206,4 und 7 (241, 306, 329, 436) Aph. 262: KSA 5,216,22 (28, 163, 199, 207, 246, 251, 308, 319, 327, 338, 341) Aph. 264: KSA 5,219,6 (339, 355) GM : Erste Abhandlung: Kapitel 5: KSA 5,263,20 und 26 und 34 (Besiedlung Europas) (29, 46, 57, 54, 56, 200, 270, 409) KSA 5,264,8 (53, 55, 90) Kapitel 9: KSA 5,269,30 (47, 76) Kapitel 10: KSA 5,272,34 (363) KSA 5,273,2 Kapitel 11: KSA 5,275,9 und 16 und 24 (259) KSA 5,277,4 (49, 269, 276, 301)
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Liste der Belege des Wortes "Rasse" in Nietzsches Texten
Kapitel 17: Zweite Abhandlung: Kapitell3: Kapitel 17: Kapitel 20: Dritte Abhandlung: Kapitel 11: Kapitel 17: Kapitel 21:
KSA 5,289,21 (169, 172, 174, 244, 321) KSA 5,318,4 KSA 5,324,22 (242, 269) KSA 5,329,28 KSA 5,362,33 (160, 161, 280) KSA 5,378,14-15 und 19 (die "Krankhaftigkeit" Europas) (151 f., 248, 249) KSA 5,392,20 und 26 (die priesterliche Medikation) (92, 153, 161, 204, 397 f.)
Der Fall Wagner Kapitel 1: KSA 6,13,27 (222f.) Zweite Nachschrift: KSA 6,49,1(223) GD : Die "Verbesserer" der Menschheit: Kapitel 3: KSA 6,100,3, 6 und 8 (63, 345f.) KSA 6,101,19 (64, 319) Kapitel 4: KSA 6,101,31 (Manu-Gesetzbuch abgelehnt) (64, 139) KSA 6,102,4 (319) Kapitel 47: KSA 6,148,28 ("Schönheit kein Zufall") (69, 70, 104, 119, 122, 135, 158, 233, 256, 276) Was ich den Alten verdanke: Kapitel 3: KSA 6,157,28 (71) AC : Kapitel 19: KSA 6,185,14 Kapitel 22: KSA 6,189,14 (132, 157) Kapitel 44: KSA 6,219,10 Kapitel 51: KSA 6,231,29 (188f., 190) EH : Warum ich so weise bin: Kapitel 3: KSA 6,268,2 und 20 (109, 144, 290) Warum ich so klug bin: Kapitel 3: KSA 6,285,26 (135) Kapitel 4: KSA 6,286,19 (145) Kapitel 7: KSA 6,291,1 (PO) Der Fall Wagner: Kapitel 2: KSA 6,358,26 (91) Kapitel 3: KSA 6,361,18 (Psychologie: Maßstab für "Reinlichkeit einer Rasse") (100, 120, 141, 144, 310)
Liste der Belege des Wortes "Rasse" in Nietzsches Texten
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Kapitel 4: KSA 6,362,26 Nietzsche contra Wagner: Intermezzo: KSA 6,420,28 (136) Nachlass KSA 7,84-85 : W 69-70 - F 70 : 3/91/ KSA 7,339: Anf. 71: l O/l/ KSA 7,645: SH 73: 29/47/ (gegen "Race-Deutsche") (98f., 127) KSA 8,15 : März 75: 3/4 (Philologen: "aussterbende Rasse") KSA 8,51 : FS 75: 5/40/ KSA 8,60 : FS 75: S/72/ (72) KSA 8,96 : FS 75: 5/198? (gegen "Rassegriechen") (68, 69) KSA 8,306: S 76: 17/557 (gegen "Rassenvorurteile") (142.215, 333} KSA 8,318: Sept. 76: 18/19/ (für "Verschmelzung") (212f., 228) KSA 8,327: Sept. 76: 18/46/ (69) KSA 8,349: Okt.-Dez. 76: 197797 (143) KSA 8,549: S 78: 30/1537 (59, 224) KSA 9,9 : Anf. 80: 1/47 (146f.) KSA 9,21 : Anf. 80: 1/737 ("Beschränktheit der Rasse") (170f.) KSA 9,43 : F 80: 27627 ("Höhere Rassen wie z.B. die jüdische") (143) KSA 9,59 : F 80: 3/467 (145, 366) KSA 9,75 : F 80: 3/104/ KSA 9,102: F 80: 3/171/ KSA 9,115: S 80: 47677 (337) KSA 9,124: S 80: 4/1007 (757, 206) KSA 9,189: S 80: 5/38/ (398f) KSA 9,254: H 80: 6/214/ ("... der Kampf gegen die Juden ist immer ein Zeichen der schlechteren, neidischeren und feigeren Natur gewesen...") KSA 9,362: Ende 80: 7/216 ("Die Deutschen... es ist die Rasse der Trunkenbolde!") KSA 9,382: Ende 80: 7/306/ ("Wie unfruchtbar ist das deutsche Rasseelement") (83) KSA 9,429: F 80 - F 81: 10/D74/ (141) KSA 9,458: F/H 81: H/45/ (349, 397) KSA 9,546: H 81: H/273/ (49, 144) KSA 9,547: F/H 81: H/276/
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Liste der Belege des Wortes "Rasse" in Nietzsches Texten
KSA 9,577: H 81: 12/107 KSA 9,681: S 82: 21/27 (104, 109, 110, 111, 144, 225) KSA 9,683: S 82: 21/3/ (399) KSA 10,14: Juli/Äug. 82: 1/23/
("... die semitische Rasse gehört zur indoeuropäischen...") (56)
KSA 10,331: S 83: 8/9/ KSA 11,39 :F84:25/106/ KSA 11,44 : F 84: 25/115/ ("Die Deutschen ... Nachzügler...") (44, 103, 200) KSA 11,55 : F 84: 25/160/ (132) KSA 11,69 : F 84: 25/211/ ("Es bedarf einer Lehre, stark genug, um züchtend zu wirken...") (384ff.) KSA 11,74 : F 84: 25/234/ ("In Europa sind die Juden die älteste und reinste Rasse...") (79, 130, 140, 144) KSA 11,77 : F 84: 25/2497 KSA 11,112: F 84: 25/3S2/ (252) KSA11,117:F84:25/405/ KSA11,118:F84:25/407/ KSA 11,120: F 84: 25/413/ KSA 11,136: F 84: 2S/462/ (Nietzsches Rasse-Konzept) (29, 48, 60, 156, 220, 229, 254, 294, 426f.) KSA 11,141: F 84: 25/4S6/ (Die moralischen Urtheile (sollen) sich zurückführen auf die "Gattung" Mensch, nicht, wie bisher, auf "Volk, Rassen") KSA 11,160: S/H 84: 26/427 (772, 174, 215, 301) KSA 11,162: S/H 84: 26/S8/ (134) KSA 11,178: S/H 84: 26/110/ (353) KSA 11,181: S/H 84: 26/119/ (311f., 335) KSA 11,212: S/H 84: 26/243/ ("Die Neue Rangordnung") (49, 58f., 96, 101, 146, 170, 269, 296f., 305, 314, 315)
KSA 11,238: S/H 84: 26/33S/ (wir bedürfen "der Juden unbedingt, um die Herrschaft auf der Erde zu haben") (85, 127) KSA 11,246: S/H 84: 26/362/
Liste der Belege des Wortes "Rasse" in Nietzsches Texten
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KSA 11,250: S/H 84: 26/3767 ("der große züchtende Gedanke") (362f, 372f.) KSA 11,251: S/H 84: 26/379/ (260) KSA 11,254: S/H 84: 26/393/ ("Der historische Sinn... Folge der großen Rassen- und Völkermischungen...") (727, 308) KSA 11,267: S/H 84: 26/436/ (Zitat) KSA 11,273: S/H 84: 26/462/ (49) KSA 11,440: Apr./Juni 85: 34/67/ KSA 11,443: Apr./Juni 85: 34/76 (Die mechanistische Weltbetrachtung macht "die größte Strenge und Zucht nöthig") (65, 376) KSA 11,449: Apr./Juni 85: 34/90/ (363) KSA 11,451: Apr./Juni 85: 34/94/ (49) KSA 11,455: Apr./Juni 85: 34/1047 (92, 97f., 131, 136, 159, 304, 391) KSA 11,456: Apr./Juni 85: 34/109/ (92, 105) KSA 11,457: Apr./Juni 85: 34/111/ (Juden unentbehrlich) (86, 105, 116) KSA 11,469: Apr./Juni 85: 34/146/ (145, 302, 352, 362) KSA 11,475: Apr./Juni 85: 34/163/ (207f, 414) KSA 11,489: Apr./Juni 85: 34/204/ ("entgegengesetzte Mittel" nötig) (65, 369) KSA 11,516: Mai/Juli 85: 3S/22/ (340) KSA 11,523: Mai/Juli 85: 35/34/(Die Engländer: "eine Rasse von ehe maiigen Puritanern") (126, 280) KSA 11,538: Mai/Juli 85: 35/62/ ("Unsere großen Menschen bezeichnen keine Rasse, sondern Einzelne") (293) KSA 11,541: Mai/Juli 85: 3S/72/ KSA 11,541: Mai/Juli 85: 35/74/ KSA 11,547: Mai/Juli 85: 35/S2/ (366, 390) KSA 11,568: Juni/Juli 85: 36/42/ (Juden sind in Preußen herabgedrückt. Aber die "höhere Rasse" der Juden zeige sich im Alten Testament") (79, 305, 410) KSA 11,569: Juni/Juli 85: 36/45/ ("Die Juden, die älteste und reinste Rasse") (Vgl. KSA 11,74) (79, 84, 130, 135, 140, 143) KSA 11,586: Juni/Juli 85: 37/11/ (145, 209, 256f., 302, 367) KSA 11,601: Juni/Juli 85: 38/6/ (722, 273f.)
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Liste der Belege des Wortes "Rasse" in Nietzsches Texten
KSA 11,630: Aug./Sept. 85: 40/57 KSA 11,642: Aug./Sept. 85: 40/26/ (144, 170, 209) KSA 11,702: H 85: 43/31 (Die Deutschen: Vielfalt, ohne "Synthese"': "Ferment-Rasse") (81, 99, 102, 104, 115, 142, 144, 308) KSA 1 1, 707: H 85: 44/87 KSA 12,14 : H 85/F 86: 1/17/ ("Kein Schluß aus Sprachverwandtschaft auf Rassen-Verwandtschaft") (90, 226} KSA 12,39 : H 85/F 86: 1/122/ KSA 12,39 : H 85/F 86: 1/123/ KSA 12,45 : H 85/F 86: 1/153/ ("NB. Gegen Arisch und Semitisch. Wo Rassen gemischt werden, der Quell großer Cultur") (56, 142) KSA 12,50 : H 85/F 86: 1/178/ ("plumpes Geschwätz von arisch—") (56) KSA 12,74 : H 85/F 86: 2/15/ KSA 12,87 : H 85/F 86: 2/57/ KSA 12,147: H 85/F 86: 2/1 657 (775, 176) KSA 12,155: H 85/F 86: 2/179/ (296, 340) KSA 12,179: Anf. 86/F 86: 4/6/ KSA 12,205: S 86/H 87: 5/52/ ("Maxime: mit keinem Menschen umgehen, der an dem verlogenen Rassenschwindel Antheil hat") (279) KSA 12,224: S 86/H 87: 5/947 KSA 12,251: Ende 86/F 87: 7/2/ (162, 175f., 193) KSA 12,294: Ende 86/F 87: 7/9/ KSA 12,306: Ende 86/F 87: 7T33/ (231) KSA 12,310: Ende 86/F 87: 7/47/ ("Kritik der Vaterländerei: wer über sich Werthe fühlt, die er hundert Mal höher nimmt als das Wohl des 'Vaterlandes', der Gesellschaft, der Blutsund Rassenverwandtschaft- Werthe, die jenseits der Vaterländer und Rassen stehen, also internationale Werthe - der würde zum Heuchler, wenn er den 'Patrioten' spielen wollte") (143, 215) KSA 12,412: H 87: 9/1347 (Zitat) KSA 12,424: H 87: 9/1 537 ("Die Starken der Zukunft") (133, 144, 247, 295, 302, 354) KSA 12,431: H 87: 9/163/
Liste der Belege des Wortes "Rasse" in Nietzsches Texten
KSA KSA KSA KSA KSA KSA KSA KSA KSA
KSA KSA KSA KSA KSA
KSA KSA KSA KSA KSA KSA KSA KSA KSA KSA KSA
KSA KSA KSA
12,435: 12,437: 12,478: 12,491: 12,508: 12,508: 12,550: 12,564: 12,568:
H H H H H H H H H
449
87: 9/1707 87: 9/1737 (44. 208) 87: 10/507 87: 10/59/ 87: 10/91/ (75) 87: 10/92/ (161, 189f., 192, 278) 87: 10/159/ (143) 87: 10/181/ (75, 197) 87: 10/188/ ("Die 'Herren-Rassen' verwenden das Christenthum als Herrschaftsinstrument, aber auch als Rahmen für die Steigerung des Willens") (364, 415f.) 12,569: H 87: 10/190/ (775, 184, 188) 13,17 : H 87/März 88: H/31/ (308, 358) 13,63 : Nov. 87/März 88: H/137/ (Zitat) 13,75 : Nov. 87/März 88: H/161/ (Baudelaire-Zitat) 13,112: Nov. 87/März 88: H/287/ (Wellhausen-Zitat) ("In den Begriff der Macht, sei es eines Gottes, sei es eines Menschen, ist immer zugleich die Fähigkeit zu nutzen und die Fähigkeit zu schaden eingerechnet. So bei den Arabern, so bei den Hebräern. So bei allen stark gerathenen Rassen") (78, 135, 182) 13,123: Nov. 87/März 88: H/296/ 13,159: Nov. 87/März 88: H/363/ (134) 13,179: Nov. 87/März 88: H/380/ (75, 168) 13,186: Nov. 87/März 88: H/405/ (Renan-Zitat) 14/22/ (134f, 168, 255) 13,228: F U/25/ (134) 13,229: F 13.231; F U/29/ (256, 301, 350, 364, 416) 13,238: F 14/407 (18, 48, 132) 13,262: F 14/83/ 13,267: F 14/91/ (755, 187f.) 13,282: F 88: 14/105/ (Die "Kategorien der Vernunft" drücken vielleicht "nichts aus als eine bestimmte Rassenund Gattungs-Zweckmässigkeit") (277, 244) 13,291 : F 88: 14/115/ 13,296: F 88: 14/119/ (240, 406) 13,305: F 88: 14/124/
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Liste der Belege des Wortes "Rasse" in Nietzsches Texten
KSA 13,315: F 88: 14/1337 ("Anti-Darwin") (Zurückweisung des Dar winismus in 10 Thesen. Statt dessen: "höhere Typen" als "Glücksfalle der Entwicklung") (13, 37, 205, 333, 348) KSA 13,325: F 88: 14/1427 (245f.) KSA 13,342: F 88: 14/158/ KSA 13,357: F 88: 14/1717 (184, 244) KSA 13,365: F 88: 147182/ ("Warum die Schwachen siegen". Der "höhere Typus" ist zwar "werthreicher". aber von "kürzerer Dauer") (17, 57, 85, 130f., 136, 147, 280, 408) KSA 13,380: F 88: 14/195/ (56, 57, 177f., 183f.) KSA 13,386: F 88: 14/204/ ("Semitischer Geist" nicht nur im Neuen Testament, sondern noch "viel schlimmer" im "arischen Gesetzbuch reinster Rasse, Im Manu") (57) KSA 13,388: F 88: 14/209/ KSA 13,394: F 88: 14/2217 (411) KSA 13,396: F 88: 1472247 KSA 13,398: F 88: 14/226/ KSA 13,412: F 88: 15/13/ (Nietzsche entwirft ein Programm für den Kampf gegen "Erschöpfung" und "decadence", wobei er für sich drei Rollen erwägt: lehren, Arzt und "Verruchter". "Die Rasse ist verdorben - nicht durch Laster, sondern durch ihre Ignoranz". Sie ist verdorben, weil sie die Erschöpfung nicht als Erschöpfung im physiologischen Bereich verstand. Die physiologischen Verwechslungen sind die Ursache alles Übels. Daran hat der asketische Priester großen Anteil) (358) KSA 13,429: F 88: IS/37/ (Fere-Zitat) (160, 162) KSA 13,432: F 88: 15/40/ (Fere-Zitat) KSA 13,456: F 88: 15/80/ ('Erworbene, nicht ererbte Erschöpfung") (73, 100, 122) KSA 13,503: F 88: 16/53/ KSA 13,505: F/S 88: 16/60/ (Jacolliot-Zitat) KSA 13,514: F/S 88: 16/82/ ("die modernen Ideen sind falsch": u.a. "die Rasse") (44)
Liste der Belege des Wortes "Rasse" in Nietzsches Texten
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KSA 13,523: Mai/Juni 88: 17/47 (77, 79, 84, 180f., 304) KSA 13,532: Juli/Äug. 88: 18/3/ (Lob der Juden: "Die Juden sind im unsicheren Europa die stärkste Rasse") (130f, 135, 157) KSA 13,585: Sept./Okt. 88: 22/47 ("Umwerthung des Begriffs 'Jude' durch Paulus") (76f.) KSA 13,587: Sept./Okt. 88: 22/97 (Die Deutschen: "diese Unglücks-Rasse" hat den "Gang der Cultur" gehemmt) (103f.) KSA 13,637: Dec. 88/Anf. 89: 25/17 (Nietzsches "große Politik": "Krieg" "quer durch alle absurden Zufälle von Volk, Stand, Rasse, Beruf, Erziehung, Bildung: ein Krieg wie zwischen Aufgang und Niedergang, zwischen Willen zum Leben und Rachsucht gegen das Leben...") (97, 145, 234f., 358f., 402) KSA 13,639: Dec. 88/Jan. 89: 25/6/ (gegen die preußische "große Politik": gegen "Aufreizung zu Völker- und RassenSelbstsucht") (97) KSA 13,641: Dec. 88/Jan. 89: 25/77 (Nietzsche über sich und die Deut sehen: "Wir sind im Gegensatz, wir sind selbst unberührbar für einander...") (106) KSA 13,642: Dec. 88/Jan. 89: 25/97 KSA 13,643: Dec. 88/Jan. 89: 25/13/ ("Todkrieg dem Hause Hohenzollem") (361) KSA 13,644: Dec. 88/Jan. 89: 25/14/ (Kritik der Hohenzollem: Nationalismus und Kriege. "Und seht euch doch die Deutschen selber an, die (-) niedrigste, stupideste, gemeinste Rasse wohl, die jetzt auf Erden da ist, verhohenzollert bis zum Haß gegen Geist und Freiheit") (96, 144, 361)
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Literaturverzeichnis
Willemsen, Marietta (1996): Kluizenaar zonder God. Friedrich Nietzsche en hei verlangen naar bevrijding en verandering. Amsterdam (Duna). Williams, Elisabeth (1994): The Physical and the Moral: anthropology, psysiology and philosophical medicine in France 1750-1850. Cambridge (Cambridge University Press). Wotling, Patrick (1995): Nietzsche et le probleme de la civilisation. Paris (PUF). Young, E.J. (1968): Gobineau und der Rassismus. Eine Kritik der anthropologischen Geschichtstheorie. Meisenheim am Glan (Verlag Anton Hain). Zmarzlik, H.G. (1963): Der Sozialdarwinismus in Deutschland als geschichtliches Problem. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 11, 1963, 246-273. Zöpfl, Heinrich (1832): Microcosmos.
Namensregister mit Erläuterungen
Zu den heute weniger bekannten Personen werden kurze Erläuterungen gegeben: Lebenszeit, Beruf, Tätigkeiten, ggf. politische Aktivitäten, einschlägige Veröffentlichungen, weiterführende Hinweise. Dabei wird weitgehend auf die im Literaturverzeichnis genannte Literatur verwiesen. Ergänzend wird noch herangezogen: "Die Bürgerlichen Parteien in Deutschland 1830-1945". Handbuch der Geschichte der bürgerlichen Parteien und anderer bürgerlicher Interessenorganisationen vom Vormärz bis zum Jahre 1945. 2 Bde. Hg. von einem Redaktionskollektiv unter der Leitung von Dieter Fricke. Leipzig (VEB Bibliographisches Institut Leipzig). 1968 Abkürzung: BP. Bei den Seitenverweisen (kursiv) auf den vorausgehenden Text der Untersuchung wird mit Stichworten kurz der Kontext angedeutet, in dem der fragliche Name erscheint. Adelung, Johann Christoph (1732-1806): führender Sprachforscher der Aufklärung. Vgl. Römer 39 f., 44 f., 87 f., sowie Poliakov 193. Neuere Darstellung: Margit Strohbach: Johann Chr. Adelung. Ein Beitrag zu seinem germanistischen Schaffen mit einer Bibliographie seines Gesamtwerks. Berlin 1984 (de Gruyter). Adelung nahm nicht teil am Germanenkult, der nach der Entdeckung der "Germania" des Tacitus ausbrach. Vom: 88: Germanen eher negativ bewertet. Ahlwardt, Hermann (1846-1914): Orientalist und antisemitischer Agitator im Umkreis von Theodor Fritsch (BP I, 38-40). Veröffentlichte "Der Verzweiflungskampf
der arischen Völker mit dem Judentum", Berlin 1890. Vgl. auch Puhle 299. Vorn: 85: gegen ein Zusammengehen von Junkern und Juden, das von Nietzsche befürwortet wurde. "Antisemitische Correspondenz": von Theodor Fritsch herausgegebene antisemitische Kampfschrift, in der auch Nietzsche angegriffen wurde (s.u. Fritsch). 1885 von Fritsch gegründet, ab 1888 mit dem Untertitel "Centralorgan der Deutschen Antisemiten". Weitere Einzelheiten bei Puhle 300-301. Vorn: 23: Nietzsche verurteilt in einem Brief (KSB 8,218 vom Dez. 1887) Fritsch und seine "Antisemitische Correspondenz": "ich habe nichts Verächtlicheres gelesen bisher als diese Correspondenz".
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Aristophanes Vom: 221: nicht ins Deutsche übersetzbar. Aristoteles Vorn: 142: Hierarchie der Menschen. Cf. Poliakov 176. Arndt, Ernst Moritz (1769-1860): Dichter und politischer Schriftsteller. 1805 Prof. an der Universität Greifswald. 1812 Privatsekretär des Freiherm vom Stein. Nietzsche scheint in der "GötzenDämmerung" auf Arndt anzuspielen: Sprüche und Pfeile 33 (KSA 6,64): "Wie wenig gehört zum Glücke!... Der Deutsche denkt sich selber Gott liedersingend". Der KSA-Kommentar (14,412) verweist hierfür auf Amdts "Des Deutschen Vaterland" 1813: "Soweit die deutsche Zunge klingt/und Gott im Himmel Lieder singt". Dazu Peter Gast mit Recht: "Ich glaube, daß das 'Gott'... doch ein Dativ und kein Nominativ ist", (an N, 20. Sept. 1888). Vom: 61: Arndt vertrat für die Deutschen die germanische Herkunft (auch Poliakov 197). Von Nietzsche abgelehnt. Ascoli, Graziadio Isaia (1829-1907): italienischer Sprachwissenschaftler, Vertrat die These von der asiatischen Heimat der indoeuropäischen Sprachen. Vgl. Römer 58 und 70. Vom: 56: Nietzsche rechnet, mit Ascoli, die "semitische Rasse zur indoeuropäischen" (KSA 10,14). Avenarius, Ferdinand (l 856-1923): deutscher Schriftsteller und Publizist. Herausgeber des "Kunstwart". Zur
Korrespondenz Nietzsche/ Avenarius vg] KGB und KSB. Vgl. auch unter "Kunst wart". Vorn: 431: zu Avenarius' Kritik am "Fal Wagner", und dazu Krummel I, 73 Nietzsche faßt diese Kritik eher al Kompliment auf. Aventinus, Johannes (1477-1534): Humanisl Verfasste eine 'deutsche' Grammatik, wo bei er 'deutsch' mit 'germanisch' gleich setzte. Für die Herkunft der 'Deutschen kombinierte er die Bibel mit Tacitus (Poliakov 103-104). Vorn: 89: Gleichsetzung 'germanisch', 'deutsch' (Römer 898-89). Von Nietzsch< abgelehnt. Bach, Sebastian Vorn: 98 u. 123: für Nietzsche ein Re präsentant der Reste der "starken Rasse der Deutschen. Bacon, Francis (1561-1626): Vom: 725: für Nietzsche "Angriff auf der philosophischen Geist überhaupt". Bayle, Pierre (1647-1706): französische! Philosoph. Vom: 227: Nietzsche lobt Lessings Bayle· Übersetzung. "Bayreuther Blätter" (1878-1938): literarisches Zentrum der von Bayreuth ausgehenden Kulturbewegung. Trug maßgeblich bei zur Verbreitung von Rassismus, Antisemitismus und Deutschtümelei im Deutschen Kaiserreich, in der Weimarei Republik sowie im Dritten Reich. Enthält zahlreiche Beiträge Wagners sowk Beiträge von und über Gobineau. Dazu
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jetzt eingehend: Kein (1996). Vom: 423: zur Rolle der "Bayreuther Blätter" für die Verbreitung der Rassentheorie Gobineau's. Dazu auch Kein 139140: "Der rassische Antisemitismus ist die in den 'Bayreuther Blätter' am vielfältigsten ausgesprochene Spielart des Antisemitismus. Das fangt an mit der ausführlichen und kontinuierlichen Behandlung, die man in der Zeitschrift Gobineau als dem Begründer der modernen Rassentheorie und anderen Rassentheoretikem angedeihen läßt, und endet mit Überlegungen zur Rassenhygiene und Eugenik im Dritten Reich". In der "Bayreuther Blättern" finden sich mehr als 60 Aufsätze über Gobineau, die bei Kein (403-5) aufgelistet sind. 3eard, George Miller (19. Jh.): amerikanischer Arzt. Führte 1869 den Terminus 'Neurasthenie' ein. (Volz 77). Veröffentlichte: A practival treatise on nervous exhaustion (neurasthenic); its symptoms, nature, sequences, treatment. New York 1880. Dt. Übersetzung 1881. 2. Aufl. Leipzig 1883. Vorn: 250: zur "Willenslähmung" in Europa. Beethoven Vom: 225: Vergleich mit Beethoven "halbbarbarisch".
Chopin:
Bellamy, Edward (1850-98): utopischer Schriftsteller. Vgl. Weindling 76-77. Vorn: 394: Verbesserung des Menschen in Kolonien. Bentham, Jeremy (1748-1832): englischer Philosoph. Vgl. KSA-Register.
Vorn: 126: Kritik Utilitarismus.
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am
englischen
Bemier, Fran9ois (1620-1688): französischer Philosoph. Verwendete erstmals 1684 das Wort "Rasse" in wissenschaftlicher Bedeutung (Young 30). Vgl. auch Poliakov 144 f. Vom: 41: Bedeutungsentwicklung des Wortes "Rasse". Bismarck Vom: 66: unterscheidet zwischen 'männlichen' und 'weiblichen' Völkern: Germanen vs. Kelten/Slaven. (Poliakov 260). Vom: 59 Polen 'weiblich'. Vom: 118: sieht in der französischen Revolution den Sieg der Kelten über das Germanische (Dehn 205). Vom: 361: Kritik Nietzsches an Bismarcks "kurzem Blick" als Staatsmann. Bizet Vorn: 224 u.432: seine Musik als Gegenstück zu Wagners Musik. Blumenbach, Johann Friedrich (1752-1840): Professor der Medizin in Göttingen, Zoologe, Anthropologe. Begründete die moderne Rassenkunde. Wie Kant nahm er nur eine Gattung Mensch an. Verschiedenheiten resultieren aus Klima, Nahrung, Lebensart etc. In der deutschen Übersetzung seines Hauptwerks erschienen nebeneinander die Ausdrücke 'Varietät', 'Stamm' und 'Rasse' (Römer 19 f.). Vgl. auch Lange 2,329; Poliakov 174 f.; Young 109. Vorn: 6 u. 36: Monogenese des Menschen.
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Bodin, Jean (1530-1596): französischer Historiker. Vom: 777:Re-Emigrationsthese(Poliakov 37). Bopp, Franz (1791-1867): deutscher Sprachforscher. Beweist die genetische Verwandtschaft der sog. 'indogermanischen' Sprachen, steht aber diesem Ausdruck selbst mit größter Skepsis gegenüber (Römer 53). Vom: 53: 'indoeuropäisch' statt 'indogermanisch'. Boscovich, Ruggero Giuseppe (1711-1787): italienischer Mathematiker und Physiker. Versuchte Widersprüche in der damaligen Atomlehre durch eine Kräftelehre zu beheben (Lange 2,192 und Dohmen 235240). Vorn: 110: Nietzsche hielt Boscovich für einen Polen und betrachtete ihn als Vorbild. Boulainvilliers, Henri de (1658-1722): fran zösischer Historiker. Vorn: 117: Vorrang der Franken über die Gallier (Poliakov 39-40). Bourget, Paul (1852-1935): französischer Schriftsteller. Formulierte eine Dekadenz-Theorie (Politycld 239). Vom: 157: "romantischer Pessimismus" in Frankreich. Brandes, Georg (1842-1927): dänischer Literatur- und Kulturhistoriker. Schrieb u.a. ein Buch über Polen. Hielt erstmals an einer Universität Vorlesungen über Nietzsches Philosophie (ab 1888 in
Kopenhagen). Briefwechsel Nietzsches mit Brandes ab 1887. In seinem ersten Brief an Nietzsche prägte Brandes die Formel von Nietzsches "aristokratischen· Radikalismus" (Brief vom 26. Nov. 1887: KGB m,6, 120). Vom: 707: Brandes' Polenbuch Vom: 286: Nietzsche in Briefen Brandes: über seine 'Verwandtschaft' Vorn: 424: Nietzsche zu Brandes' Formel vom "aristokratischen Radikalismus". Broca, Paul (1824-1880): Chirurg und Anthropologe. Gründer der Societe und Ecole d'Anthropologie in Paris. Vgl. Poliakov 263. Vom: 6: Gehirnanatomie und Anthropologie. Büchner, Ludwig (1824-1899): materialist! scher Philosoph. Veröffentlichte u.a. "Kraft und Stoff1, 1855. Lange 2, 89-97, und 136-143. Vorn: 44: Umwelt und Klima fuhren zur Herausbildung von "Rassen". Auch Weindling 37. Buckle, Henry Thomas (1821-1862): englischer Historiker und Philosoph. U.a.: "Geschichte der Civilisation in England". Vgl. KSB 8,79. Vertrat die These, der Fortschritt der Kultur und der Sitten beruhe auf der "intellektuellen Entwicklung" (Lange 2, 46), was Lange ablehnt. Vorn: 126: zu dem genannten Werk Buckle's. Nietzsche bezeichnet Buckle als einen seiner "stärksten Antagonisten".
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Buffon, Georges-Louis Leclerc (1707-1788): französischer Naturforscher. Führte die Bezeichnung "race" in die zoologische Klassifikation ein (Young 30). Poliakov 166-170. Vorn: 61: Vertreter der "indischen" Herkunftsthese. Burckhardt, Jakob (1818-1897): Historiker, Basler Kollege und Freund Nietzsches. Vgl.: Alfred v. Martin: Nietzsche und Burckhardt. Zwei geistige Welten im Dialog. München 1947. Vorn: 321: Brief Nietzsches an Burckhardt, zum Problem der "Vergrößerung" des Menschen. Busse, Otto: Briefpartner Nietzsches in Berlin. Vgl. KSB 8, Register. Vorn: 23: von Nietzsche als "Antisemit" eingestuft. Cabanis, Pierre-Jean-Georges (1757-1808): französischer Physiologe. U.a. "Traite du physique et du moral de rhomme", 1802. Lange 2,69-70. Zentrale Thesen: der Leib beherrscht das Moralische/Sittliche. Eigenschaften, die durch mehrere Generationen angewöhnt sind, werden "fest" und so vererbt, wobei das Klima mitbestimmend ist. Befürwortet Mischung der "Rassen". Vgl. Poliakov 222-223. Sowie: L.S. Jacyna: Medical science and moral science: the cultural relations of physiology in Restoration France. In: History of Science 25, 1987, 111-146. Vom: 138: Mischung der Rassen befürwortet. Und: 236: Denken als Stoffwechsel des Gehirns.
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Carlyle, Thomas (1795-1881): schottischer Philosoph und Literarhistoriker. Bewunderte die Germanen und Lagarde (Poliakov 68 und 320). Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Völkern (Poliakov 260). Vorn: 66: Germanen männlich, Lateiner weiblich. Und: 124: Carlyle's "Teutomanie" (Poliakov 68). Cäsar Vorn: 292: Nietzsche: "könnte mein Vater sein". Chamberlain, Houston Stewart (1855-1927): deutsch-englischer Schriftsteller und Kulturphilosoph. Schwiegersohn R.Wagners. Führender Rassist und Antisemit. Hauptwerk: "Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts", München 1899 (sehr viele Auflagen). Briefwechsel mit Kaiser Wilhelm (cf. Kein 203), der Chamberlains "Grundlagen" als Schullektüre einsetzen ließ. Von Hitler bewundert. Antisemitische Parteigründer bezogen von Chamberlain maßgebliche Anregungen (BP l, 774 und 2,394). Mehr als 30 Beiträge in den "Bayreuther Blättern" (Kein 216-217). Vgl. Poliakov 324 f. und 327 f. sowie Weindling, passim. Vorn: 74: Jesus, ein "Arier". 138: Menschen wie Pferde züchten. 273: die Germanen die vorbildlichen Arier. 302: Juden beeinträchtigen die Gesundheit. Chateaubriand Vom: 117: Superiorität der Franken in Frankreich (Poliakov 46).
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Chopin Vom: 225: Nietzsche vergleicht Chopins Musik mit deutscher Musik. : Chopins "vornehme Heiterkeit".
Döllinger, F. (19. Jh.): Vom: 74: Jesus als "blonder Held" (Poliakov 408, Anm. 254). Von Kaiser Wilhelm und Chamberlain aufgegriffen.
Cicero Vom: 70: bewundert die "Schönheit" der Athener.
Donders, Franz Cornelius (1818-1889): niederländischer Mikroskopist und Physiologe. Vorn: 8: Freund Virchows.
Comte Vom: 138: befürwortet Mischung der Völker, da sie zur "Weltharmonie" führe (Poliakov 220-228). Copernicus Vorn: 11 Of.: von Nietzsche als Pole und als Gegner des "Augenscheins" gelobt. Corneille Vom: 123: sein "Artisten-Geschmack11 mit Shakespeare verglichen. : 273: als Vertreter der französischen "vornehmen Cultur" genannt. Cromwell Vorn: 124: die Engländer: das auserwählte Volk (Poliakov 59). Darwin Vom: 13f.: Darwin.
Nietzsches
Stellung
zu
Descartes Vom: 120: als Beispiel für die psychologische "Reinlichkeit" der Franzosen. Diderot Vom: 61: Vertreter der "indischen" These (Poliakov 187). 143: Superiorität der "Weißen" (Poliakov 170).
Dostojewski Vom: 110:: Nietzsche Dostojewski-Lektüre.
über
seine
Dühring, Eugen (1833-1921): Philosoph und Nationalökonom. 1877 wurde er wegen einer Polemik von der Berliner Universität ausgeschlossen. Schreibt 1881 sein grundlegendes antisemitisches Werk: "Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage". Behandelt die "Judenfrage" als Frage der Rasse im modernen Sinn, nicht der Religion, und setzt sich für Internierung und Deportation der Juden ein. Er wurde damit zum geistigen Führer innerhalb der radikalen Richtung der antisemitischen Gruppierungen. Weitere Einzelheiten seiner Lehre bei Puhle 121122 und Seidel. Zu Dührings antisemitischer Sprache vgl. Cobet. Dührings Lehre wurde von Nietzsche an zahlreichen Stellen zurückgewiesen (vgl. KSA-Register und KSB-Register). Auch Santaniello lOOf. Vom: 76: das Wort "verjüdeln" bei Dühring und seine 'Umwertung' bei Nietzsche. 707; Dühring bezeichnet Nietzsche als 'Jude' (Dühring: "Judenfrage", 6. Aufl. S. 93. Dazu auch Poliakov 310 und 405, Anm. 196).- /26V Nietzsche vergleicht Dühring mit Buckle.-
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: 141: gemäß Dühring sind die Juden eine Rasse im modernen Sinn.- 257: Dühring bejaht Pariser Commune. Duncan, Isidora (1878-1927): Tänzerin. Vorn: 402: als Interpretin von Nietzsches Philosophie. Ecker, Alexander (1816-1887): Professor der Anatomie in Freiburg/Br. Mitarbeiter bei Virchows Rassenuntersuchungin Deutschland. Vom: 10: Virchows Rassenforschung (vgl. auch Weindling 49). Epikur Vom: 239: als Beispiel für das "Glück eines Dyspeptikers". Fere, Charles-Samson (1852-1907): Nerven arzt und Internist bei Charcot in Paris. Vorn: 759: Fere-Zitat. (Zu Nietzsche/Fere vgl. KSA-Register). Fichte Vorn: 61: Verfechter der germanischen These.- Und: 74 u. 93: Jesus kein Jude (Poliakov 124). - : 93: alle Völker Europas: Germanen (Poliakov 122-124). Flourens, Pierre (1794-1867): französischer Physiologe und Arzt. Untersuchungen zur Phrenologie. Vgl. Lange 2,337 und 348356. Vorn: 66: Weiße männlich, Schwarze weiblich (Poliakov 225-226). Förstemann, Ernst (19. Jh.): deutscher Sprachforscher. Vgl. Römer 89 f. Vorn: 89: Gleichsetzung von 'germanisch' und 'deutsch'.
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Förster, Bernhard (1843-1889): Lehrer in Berlin, antisemitischer Agitator, Begründer einer deutschen Kolonie in Paraquay. 1880 wegen antisemitischer Agitation aus Schuldienst ausgeschlossen. Hauptinitiator der Berliner Antisemitenpetition von 1880, die Juden von bestimmten Staatsstellungen ausschließen sollte. 1881 vom preußischen Landtag abgelehnt, nicht zuletzt auf Betreiben von Virchow. Gründete 1881 den "Deutschen Volksverein". Heiratet 1885 die Schwester Nietzsches und geht 1886 mit ihr nach Paraquay, um die Kolonie 'NeuGermanien' zu gründen, die in einem Mißerfolg endet (Kein 85. Dort auch weitere Literatur zu Förster). Die Berliner Antisemitenpetition von 1880 enthielt u.a. vier zentrale Forderungen: "I.Verhinderung oder wenigstens Einschränkung der Einwanderung ausländischer Juden; 2.Ausschluß der Juden von allen obrigkeitslichen Stellungen und Beschränkung ihrer Verwendung im Justizdienst und besonders als Einzelrichter; 3.Erhaltung des christlichen Charakters der Volksschulen durch ausschließliche Verwendung christlicher Lehrer, Zulassung jüdischer Lehrer nur in begründeten Ausnahmefällen; 4.Wiederaufnahme der amtlichen Judenstatistik." (nach Kampe 23). Die "Bayereuther Blätter" widmen B. Förster 12 Beiträge (Vgl. Kein 402). Zu Försters Kolonie vgl. Mclntyre (1994). Einzelheiten zu Försters Berliner anti-
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semitischer Agitation in BP 1,37 und 2, 313. Förster war auch Mitglied des Bayreuther Kreises, wo er Elisabeth kennenlernte. Nietzsche bedauert die Ehe seiner Schwester mit Förster und lehnt dessen Antisemitismus ab (vgl. KSB-Register). Vom: 21f.: Nietzsches Kritik an Förster. Frantz, Constantin (1817-1891): Mathematiker und politischer Publizist. 1844048 im Ministerium des preußischen konservativen Kultusministers Eichhorn. Dann politische publizistische Tätigkeit und schließlich Stelle im Auswärtigen Amt. In seinen Schriften und seinen Artikeln für die "Bayreuther Blätter" hebt er das Christentum als einzig wahre Religion hervor und erweist sich eindeutig als Antisemit. (Vgl. Hein 77). Ab 1865 Briefwechsel mit Wagner. Sein Antisemitismus tritt besonders deutlich hervor in den Schriften: Ahasverus oder die Judenfrage, Berlin 1844, sowie: Der Nationalliberalismus und die Judenherrschaft, München 1874. Vom: 74: Jesus kein Jude. Freytag, Gustav (1816-1895): deutscher Schriftsteller. Vom: 97: dreißigjähriger Krieg und Kulturverfall in Deutschland (dazu auch Franz 1961, S. 1).- 705: negative Einschätzung der Polen (vgl. auch Broszat 1963, 90). Friedrich der Zweite (l 194-1250): römischer Kaiser deutscher Nation. Vom: 334: als Beispiel für Toleranz genannt.
Fritsch, Theodor (1852-1933): antisemitischer Schriftsteller. Leiter des Leipziger Hammer-Verlags. Herausgeber eines "Antisemiten-Katechismus", der 1892 in 22. Auflage erscheint (Puhle 298). Femer eines "Handbuchs zur Judenfrage", das 1936 die 40. Auflage erreicht. Gibt ab 1885 die "Antisemitische Corespondenz" heraus (s.d.). Zu dieser Zeitschrift vgl. auch: Josef Müller: Zur Entwicklung des Rassenantisemitismus in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, dargestellt hauptsächlich auf Grundlage der "Antisemitischen Correspondenz", Berlin 1940 (Historische Studien 372). Zu den Beiträgen über Fritsch in den "Bayreuther Blättern" vgl. Hein 403. Fritsch wurde 1922 Mitbegründer der "Deutschvölkischen Freiheitspartei" (BP 1,766) und schloß sich schon 1919 dem "Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund" an (BP 1,775-777. Dazu auch Lohalm 1970). Sein Rassenantisemitismus ging in die NSDAP ein (BP 2,394). Vgl. auch Phelps (1961). Zu Nietzsches Kritik an Theodor Fritsch vgl. KSA-Register. (Nicht zu verwechseln mit Nietzsches Verleger Ernst Wilhelm Fritzsch). Theodor Fritsch griff Nietzsches Philosophie und seine Person mehrmals öffentlich an: 1887 in seiner "Antisemitischen Correspondenz", wo er sich über "Jenseits von Gut und Böse" hermacht und Nietzsche einen "angejüdelten Stuben-Verlehrten" (sie) schimpft (vgl. Krummel 1,65, Nr. 77). 1911: veröffentlichte Fritsch im "Hammer" (3,1911, S. 115) einen Aufsatz
Namensregister mit Erläuterungen mit dem Titel "Nietzsche und die Jugend", in dem er Nietzsche als "Pole" bezeichnet, als "durchaus undeutsche Natur", der mit seinen Schriften die Jugend verführe (vgl. Krummel 2, 463, Nr. 1019 sowie Poliakov 405, Anm. 196). 1915 erscheint im "Hammer" (1. Jan. 1915) unter Pseudonym (hinter dem sich Fritsch verbergen könnte) ein Aufsatz "Nietzsches Machtphilosophie und der Deutschenhaß", in dem Nietzsche abgelehnt und Lagarde als vorbildlich hingestellt wird. Über Nietzsche heißt es hier, er sei ein "Schlachzize-Enkel", "vom semitischen Geist angesteckt", seine "Umwertung aller Werte" hätte einem "Talmud-Schüler" alle Ehre gemacht. (Vgl. Krummel 2,583, Nr. 1278). Vorn: 23: Nietzsches Antwort auf Fritschs Angriff von 1887.- : 107: Nietzsche als Pole und Jude beschimpft.- : 279: Nietzsche wirft Fritsch die "Aufrührung von Rassenfragen" vor, wodurch er die "Ausgleichung des europäischen Menschen" verhindern wolle. Fuchs, Carl (1838-1922): Musiker, Musikschriftsteller, Bekannter Nietzsches. Zum langjährigen Briefwechsel vgl. KSBRegister. Vom: 23: Kritik an Fuchs, der als Organist in einer Synagoge sich über den jüdischen Gottesdienst lustig mache. Galton, Sir Francis (1822-1911): englischer Naturwissenschaftler. Vertrat die These der Erblichkeit von Intelligenz und körperlichen Merkmalen. Erwog die Züchtung einer "Rasse sehr begabter Menschen". Betonte die Relevanz sozialer Faktoren und des Klimas. Die katholische
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Kirche ist für ihn der Grund für die "Entartung des Menschen". Die weniger Begabten pflanzten sich zu stark fort, die Wertvolleren weniger. Wollte deshalb die Fruchtbarkeit steuern. Verwendete in diesem Zusammenhang erstmals den Ausdruck "Eugenik". (Dazu Poliakov 301302). Nietzsche bezieht sich zweimal explizit auf Galton (cf. KSB-Register). Vom: 44: "Rasse" und Klima (Weindling 37). 394: Verbesserung der Menschen durch Steuerung der Fortpflanzung: "stirpiculture", "eugenics". 396: Nietzsche zu Galtons Vererbungstheorie. Gersdorff, Carl von (1844-1904): Freund Nietzsches. Vgl. KSB-Register. Vorn: 284: Brief Nietzsches an Gersdorff über die "Nietzscbische Art". Gobineau, Graf Arthur de (1816-1882): Schriftsteller, Diplomat, Orientalist. Begründer der modernen Rassentheorie. Nimmt von Beginn der Welt drei Rassen an, deren wertvollste die weißen Arier sind. Sie begründeten die Kulturen, ihr Niedergang durch Vermischung zieht den Niedergang der europäischen Kulturen) nach sich. Dieser Niedergang ist nicht aufzuhalten. Literatur: Kein 139 ff., Lange (1924), Ottmann (1987), Poliakov (1979), Rey (1981), Römer (1989), Seilliere (1905), Spieß (1925), Young (1968). In Deutschland vor allem propagiert durch Ludwig Schemann (s.d.), der Gobineau übersetzt und eine Gobineau-Gesellschaft gründet. Schemann gehört zum Bayreuther Kreis. Wagner stützt sich in seinen "Regenerationsschriften" maßgeblich auf Gobineau (Kein 111 ff.).
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In den "Bayreuther Blättern" finden sich von Gobineau 5 Beiträge (Kein 224), über Gobineau 60 Beiträge, darunter 16 von Schemann (Kein 403-405). Vorn: passim.- Gobineaus These: Herkunft der weißen Arier aus Indien (Römer 23).- 426ff.: detaillierte Analysen zur Frage eines angeblichen Einflusses Gobineau's auf Nietzsche.
mit Gottsched, jedoch nicht mit dessen Gattin. Voltaire lehnte eine Einladung ab, da er krank sei, und Frau Gottsched ihrerseits "declared herself to independent to visit Voltaire in his own quarters". So kam ein Zusammentreffen dieser beiden "extraordinary people" nicht zustande. (So O. Aldridge, Voltaire and the Century of Light, 1975, S. 212).
Goncourt, Edmond (1822-1896) und Jules (1830-1870): französische Schriftsteller. Vorn: 250: "la faiblesse de la volonte: maladie du siecle".
Grimm, Jakob (1785-1863): Germanist. Verwendet 'deutsch' für 'germanisch' im Titel seiner "Deutschen Grammatik" 1819-1822. Römer 89. Vom: 89: 'deutsch/germanisch'.
Goropius, Becanus(1518-1575): niederländischer Arzt. Betrachtete das Niederländische (und Deutsche) als Ursprache. (Römer 38, Poliakov 11-112). Vorn: 93: Problem der Ursprache. Goethe Vorn: 37: polygenetische Entstehung des Menschen.- 40: Entstehung des Menschen in Asien.- 300: Zerrissenheit des modernen Menschen.- 389: "Stirb und werde".Gottsched, Frau Professor -: Ehefrau des Johann Christian Gottsched (1700-1766). Vorn: 98 u. 304: als Beispiel für "starkes Weib". Frau Luise Adelgunde, Ehefrau des Leipziger Literaturprofessors und Aufklärers J.C. Gottsched, war eine selbstbewusste Mitarbeiterin ihres Mannes. Sie übersetzte Dramen Voltaires. Sie war eine Gegnerin des Maupertius, der auch Voltaire das Leben schwer gemacht hatte. Bei einem Aufenthalt Voltaires in Leipzig (1753) kam es zwar zu einer Begegnung
Gudden, Bernhard von (1824-1886): liberaler Psychiater, Schüler Virschows. Hegte Zweifel am Wert der Eugenik. (Weindling 85). Vom: 394: "therapy only causes the weak to survive". Guizot, Francois Pierre Guillaume (17871874): französischer Historiker. Betrachtete die französische Revolution als Krieg zweier Völker, der Gallier und Franken. Vgl. Poliakov 47. und Young 60-69. Vom: 118: zur französischen Revolution. Haeckel, Ernst Heinrich (1834-1919): deutscher Naturforscher. Vgl. Lange 2, 234-8, 263-71, 303-306 sowie Poliakov 297 und Mclntyre 38. Vom: 34 u. 37: Frage der Herkunft des Menschen vom Affen. Händel Vorn: 98: als Beispiel für die "Reste der starken Rasse" der Deutschen.- 304: als
Namensregister mit Erläuterungen "Typ des Mannes im Reiche der Kunst". Haycraft, John Berry (1857-1922): englischer Psychologe. Eugeniker. Vorn: 394: der Tuberkulose-Bazillus als "friend of the race because it eliminates the unfit" (Weindling 168). Hegel Vorn: 19: "die Armen ihrem Schicksal überlassen" (cf. Puhle 94). 300: Umfänglichkeit des Menschen. Heine Vorn: 725: Deutsche: "Hornvieh".- 300: Zerrissenheit des modernen Menschen. Helvetius, Claude-Adrien (1715-1771): französischer Philosoph. Vorn: 126: als Vorläufer Benthams. Herder Vorn: 37: Vertreter der Polygenese.-: 45: Umgebung und Klima.- 61: indische Genealogie (Poliakov 189 und 197). Herodot Vermutlich Quelle für die "blauen Augen" in Tacitus "Germania" (Römer 86). Vorn: 86: die blauen Augen der Skythen. Heyse, K.W.L. (1797-1855): hegelianischer Sprachwissenschaftler. Vom: 53: führt Indogermanen und Semiten auf die kaukasische Rasse zurück. (Römer 61). Hitler Vom: 108: Geringschätzung der Polen (Broszat 217-8).
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Hitzig, Eduard (1838-1907): Neurologe und Psychiater. Vom: 393 u. 395: Nietzsche nennt Hitzigs Buch "Untersuchung über das Gehirn", Berlin 1874. Hobbes Vom: 125: Philosophen.
Kritik
an
englischen
Hölderlin Vom: 300: der moderne Mensch als "Schlachtfeld". Hugo, Victor (1802-1885): französischer Schriftsteller der Romantik. Vom: 227: Hugo: ein ' Schauspieler'. 273: als Vertreter der französischen Romantik. Humboldt, Alexander von (1769-1859): deutscher Botaniker und Geologe. Vom: 737: "alle Rassen gleichmäßig zur Freiheit bestimmt" (Poliakov 266).- 742: lehnt die Stützung der Sklaverei auf angebliche Hierarchie der Menschen/ Rassen/Völker ab (Poliakov 176). Hume Vorn: 124: Kritik an den englischen Philosophen. Hütten, Ulrich von (l'488-1523): Humanist. Vorn: 66: Deutsche 'männlich', Romanen 'weiblich' (Poliakov 104). Ibsen Vorn: 394: Ibsens "Ghosts".- : Alkohol, Syphilis und Vererbung.
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Namensregister mit Erläuterungen
Jacolliot, Louis (1837-1890): französischer Religionswissenschaftler. Veröffentlichte 1876: "Les legislateurs religieux: Manou, Moise, Mahommet". Vgl. Etter (1984). Vom: 62ff.: Kritik an Manu's "Gesetzbuch". Jahn, Friedrich Ludwig (1778-1852): deutscher "Turnvater". Vorn: 61: germanische Genealogiethese (Poliakov 197). Jean Paul Vorn: 93: Nietzsche verweist auf Jean Pauls Kritik an Fichtes (s.d. 'Deutschtümelei'. Jean Paul hatte 1810 eine Rezension zu Fichtes "Reden an die deutsche Nation" veröffentlicht (cf. KSAKommentar 369). Jesus Vom: 74: seine jüdische Herkunft bestritten von Wagner, Chamberlain, Frantz und Döllinger (s.d.).- : 74 u. 93: Fichte: Jesus kein Jude.Kant Vom: 9: Abstammung des Menschen vom Affen denkbar (Lange 2, 330).- 34: Geschichte des Menschen beginnt mit dem "Ich-Gedanken" (Lange 2,313).-4J: Wichtigkeit des Klimas für die Differenzierung des Menschen. (Poliakov 172-173).- 61: Herkunft des Menschen aus Tibet (Poliakov 188).Kautsky, Karl (1854-1938): deutscher sozialistischer Theoretiker. Vom: 74: Juden, nicht "Rasse", sondern "kulturelles Produkt" (Laqueur 437).
Keith, Arthur (19. Jh.) Vorn: 125: die Engländer: ein Mischvolk (Poliakov 69). Kessler, Harry Graf (1868-1937) Vorn: 211: vor 1890 war Europa kosmopolitisch, nicht nationalistisch (Grupp 9). Kingsley, Charles (1819-1875): englischer Schriftsteller. Vom: 124 die Germanen waren blond (Poliakov 68). Klaproth, Julius von (19. Jh.): Ethnologe und Sprachwissenschaftler. Vorn: 53: Propagator der Bezeichnung 'indogermanisch' (statt 'indoeuropäisch') (Römer 53 und Schwab 198). Klemm, Gustav (1802-1867): Hofrat und Oberbibliothekar in Dresden. Veröffentlichte 1843 eine "Allgemeine CulturGeschichte der Menschheit" (Römer 20). Vom: 66: Menschheit eingeteilt in einen männlichen, aktiven sowie einen weiblichen, passiven Teil (Poliakov 259-260).68: Herkunft der Griechen: mongolischer Bestandteil weiblich.- 138: betrachtet wie Nietzsche die Mischung der Völker als Weg zur Kultur (Römer 28). Knox, Robert (19. Jh.): englischer Chirurg. Veröffentlichte 1862 "The races of men: A philosophical inquiry into the influence of race over the destinies of nations", London, 2 Bde. (Poliakov 385, A. 50). Vorn: 74: beschreibt die Juden als eigene Rasse und "unfruchtbare Parasiten" (Poliakov 238).
Namensregister mit Erläuterungen Köselitz, Heinrich (1854-1918): Musiker, Freund und Schüler Nietzsches. Arbeitete zeitweise im Weimarer Nietzsche-Archiv. Vgl. Love (1981). Vom: passim.- 431: Köselitz' Besprechung zum "Fall Wagner" (cf. Krummel 1,73 und Love 193). Kotzebue, August Friedrich von (17611819): deutscher Bühnenschriftsteller. Vorn: 92: Kritik an Kotzebues 'Deutschtümelei'. "Kreuzzeitung" Zeitung der preußischen Konservativen, auch in Nietzsches Elternhaus gelesen. Unter dem Redakteur Hermann Wagener (1815-89) noch anti-nationalistisch eingestellt (Puhle 92 und zu Wagener BP 2,473-6) und für eine 'Kreuzung' der Völker, denn darauf beruhe z.B. die Starke des britischen Empire (Beleg bei Puhle 92. Anm. 121: Artikel von H. Wagener aus dem Jahre 1861). Gegen Ende des Jahrhunderts, insbesondere unter dem Redakteur Hans Wendland (dazu BP 2,316), erfolgte eine Kehrtwendung hin zu radikalem Nationalismus und Antisemitismus. Wendland veröffentlichte ab 1896 drei Aufsätze, die gemäß Kampe eine "konsequente Ausformulierung des Weltbildes eines rassistischen Akademikers" darstellen (Kampe 149). Die Titel der Aufsätze lauten: "Ethik des Antisemitismus", "Zur Abwehr" und "Zur Psychologie des Judentums" (Text bei Kampe 292 ff.). Dazu urteilt Kampe: "Der zitierte Aufsatzzyklus von 1896 reiht den Redakteur... in die Reihe der völkischen Intellektuellen ein, die schon zwei Jahrzehnte vor den
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Radikalisierungsschüben von 1918/19 Führerprinzip, Kriegssituation und Genozid an den Juden als Denkfigur miteinander verbanden". (Kampe 149150). In einem Brief an seinen Verleger G.G. Naumann in Leipzig bemerkt Nietzsche betreffs der Zusendung von Zeitungen und Zeitschriften: "Erstens: daß ich Ihnen in Hinsicht auf Zeitungen und Zeitschriften freie Hand gebe (- nur bitte ich, die unanständige "Kreuzzeitung1' wegzulassen)" (Unterstreichung von Nietzsche). (KSB 8,189: Brief vom 9. Nov. 1887). Vom: 20: die "Kreuzzeitung" unter Redakteur H. Wagener befürwortet die Völkermischung (Puhle 92). "Kunstwart" Von Ferdinand Avenarius herausgegebene Zeitschrift. Vgl. unter Avenarius, sowie: Renate Müller-Buck: Heine oder Goethe. Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit der antisemitischen Literaturkritik im "Kunstwart". In: NS 15, 1986, 265-288. Kriegk, Georg Ludwig (1805-1878): Geograph und Historiker. 1848: "Die Volksstämme und ihre Zweige nach den neuesten Ergebnissen der Ethnographie". Frankf./ M. (Römer 65 und 172). (Puhle 114). Vorn: 73: rechnet die Juden zu der "schönen und geistig am höchsten stehenden kaukasischen Rasse". Lagarde, Paul de (1827-1891): Orientalist und politischer Schriftsteller. Im Bayreuther Kreis hochgeschätzt: in den "Bayreuther Blätteren" finden sich 13 Beiträge über Lagarde, darunter 5 von
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Beiträge über Lagarde, darunter 5 von L. Schemann (s.d.) (Kein 407-408). Theodor Fritsch verweist in seinem Aufsatz von 1911, "Nietzsche und die Jugend", ebendiese auf Lagarde (s.u. Fritsch). Lagarde bestritt die Angemessenheit supranationaler Werte für das "deutsche Wesen". Er forderte die Begründung einer neuen, nationalen christlich-germanischen Religion. Deutschland habe eine imperialistische Aufgabe: die Kolonisierung Europas. Vgl. dazu: Fritz Stern: Kulturpessimismus als Gefahr, München 1986, S. 73. Vom: 74: Lagarde (wie Wagner): Jesus kein Jude.- 83: in einem Brief an Fritsch (22. März 1887) spottet Nietzsche über den "ebenso gespreizten als sentimentalen Querkopf, der Paul de Lagarde heißt" (KSB 8, 46).- 211: Ablehnung der Nationalisten Lagarde, Stoecker etc. Lamarck Vorn: 5: Wandel der Formen durch Anpassung (cf. Lange 2, 257 und Weindling 27). Lange, Friedrich August (1828-1875): Philosoph und Publizist. Vgl. Literaturverzeichnis. Vom: 33f.: Entstehung des Menschen. Lapouge, Georges Vacher de (1854-1936): französischer Rassentheoretiker und Verfechter des arischen Mythos. Vgl. Poliakov 276 ff. und Römer 32 ff. sowie Young 209 ff. Vom: 119: rassistische Tendenzen in Frankreich.
La Rochefoucauld Vom: 720: als Beispiel für die von Nietzsche gelobte französische psychologische "Reinlichkeit". Lenz, Fritz (1887-1976): Vertreter der Rassenhygiene in Deutschland. Vgl. Weindling 398, Poliakov 305 f. und Conrad-Martius 190 f. Vorn: 395: fordert 1923 Kontrolle der Fortpflanzung. Lessing Vom: 221: Lessing als Übersetzer Bayle's. Linne, Carl von (1707-1778): schwedischer Naturforscher. Vgl. Lange 2,253 und Poliakov 162. Vorn: 41: "Gattungen" statt "Rassen" (Young 30).- 61: Vertreter der indischen These (Poliakov 186). Lionardo da Vinci Vom: 336: als Beispiel für "Räthselmensch". Lipiner, Siegfried (1856-1911): österreichischer Schriftsteller. Übersetzer von Mickievicz. Von Nietzsche gelesen (KSB 6,494). Vorn: 707: Bekannter Nietzsches. Livingstone, David (1813-1873): englischer Forschungsreisender. Vom: 140: Zitat von Livingstone. Locke Vom: 725: unter den englischen Philosophen, die Nietzsche ablehnt.
Namensregister mit Erläuterungen
Loewenfeld, Ludwig Veröffentlichte: Die moderne Behandlung der Nervenschwäche (Neurasthenie), der Hysterie und verwandter Leiden. Mit bes. Berücksichtigung der Luftkuren, Bäder, Anstaltsbehandlung und der MitchellPlayfairschen Methoden. Wiesbaden 1887. Zu Nietzsches Lektüre dieses Buches vgl. Volz 78 f. Vorn: 250: die europäische Krankheit der "Willensschwäche". Macchiavelli Vorn: 227: zum "tempo seiner Prosa". Manu: sagenhafter indischer Gesetzgeber Vgl. unter Jacolliot. Marx Vorn: 403: Eugenik versus soziale Umwälzung. Maupassant Vom: 723; als Beispiel für die "starke Rasse" in Frankreich nach der Revolution. Maupertius, Pierre Moreau de (1698-1759): französischer Physiker und Mathematiker. Vgl. Poliakov 164 ff. Befürwortete Experimente an lebenden Menschen, insbes. an Verbrechern. Vorn: 143: Nietzsche lehnt derartige Experimente ab. Meiners, Christoph (1745-1810): Biologe. Vgl. eingehend Poliakov 180 ff. Gilt als Vorläufer Gobineau's. Dazu: Jean Boissel: Une source de l'Essai sur l'inegalite: l'oeuvre de Christoph Meiners. In: Etudes Gobiniennes 1970.
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Vorn: 45: Rolle des Klimas für (Römer 27). Merimee Vom: 222: "tempo des Stils" gelobt.- 432: Bizet und Merimee "vorbildlich für die Deutschen". Meyerbeer, Giacomo (1791-1864): deutschfranzösischer Komponist. Als Jude von Wagner angegriffen. Vorn: 37: scherzhafte Anspielung auf Meyerbeers Oper "Die Afrikanerin". Meysenburg, Malvida von (1816-1903): gemeinsame Bekannte Wagners und Nietzsches. Vom: 429: ihre angebliche Rolle bei Nietzsches Gobineau-Kenntnisnahme. Michelet, Jules (1798-1874): französischer Historiker. Vgl. Poliakov 48 ff., Young 74-81. Vorn: 55 u. 118: Germanen für aristokratisches Prinzip, Kelten Gleichheitsprinzip.73: die Juden eine "reine Rasse" (Poliakov 231).- 722: Michelet "lasse sich gehen".735: für Verschmelzung der Völker.- 273: als Vertreter der französischen Romantik. Mickiewicz, Adam (1798-1855): polnischer Freiheitsdichter. Emigration nach Frankreich. Besuche bei Goethe. Sein Epos "Herr Thadeus" von Brandes gelobt. Ins Deutsche übersetzt von Lipiner (s.d.). Vom: 707: das Epos "Herr Thadeus". Milton Vorn: 124: die Engländer sind das "auserwählte Volk" (Poliakov 59).
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Moliere Vorn: 723: sein "Artisten-Geschmack" gelobt. Montaigne Vorn: 123: als Beispiel für "Vornehmheit", die Michelet "fremd" sei.- 273: als Vertreter der vornehmen französischen Kultur. Montesquieu Vorn: 55 u. 117: aas englische Parlament verdanke sich der "Tugend der Germanen" (Poliakov 40). Müller, Adam (1779-1829): Nationalökonom und Staatstheoretiker. Wichtigster Vertreter der politischen Romantik. Gehörte zur 1811 in Berlin gegründeten "Christlichen deutschen Tischgesellschaft", der auch Arnim, Brentano und Kleist angehörten. Veröffentlichte 1809 seine "Elemente der Staatskunst". Vorn: 19: als Befürworter des preußischen Ständestaates (cf. Puhle 100). Müller, Max (1823-1892): Sprachwissenschaftler und Kulturhistoriker. Vgl. Poliakov 217. Vom: 57: propagiert "arisch" als Sprachbezeichnung anstelle von "indogermanisch/indoeuropäisch" (Römer 125). Napoleon Vom: Anm. 190: "großer Freund der Juden" (Richarz 1976, 169).- 108: befreit 1806 Polen von den Preußen.- 257: als Vorkämpfer für ein vereintes Europa jenseits der Nationalstaaten.- 273: als Vertreter der französischen vornehmen Kultur.
Neisser, Albert (1855-1916): Dermatologe in Breslau. Vgl. Weindling 127-8, 160 und 169-170. Vorn: 394: löste durch Experimente Diskussion aus über Vertretbarkeit von Opfern für die Wissenschaft. Overbeck, Franz (1837-1905): Theologe in Basel und langjähriger Freund Nietzsches. Vgl. KSA- und KSB-Register. Vom: passim.- 289: Brief Nietzsches an Overbeck. Pascal Vom: 777: 'biblische' Herkunft der Franzosen (Poliakov 38-39).- 723: ein "Großer" der "vornehmen" französischen Zeit.- 730: Pascal zu "alt/jung" (Poliakov 125-126). Paulus Vom: 75: Paulus' Umwertung des "Begriffs 'Jude'".- 797: Ausbreitung der christlichen Religion. Penka, Karl (1847-1912): Wiener Gymnasialprofessor. Mitbegründer der deutschen Ariertheorie: Arier sind blond, blauäugig, hellhäutig, in Nordeuropa zu finden. Vgl. Poliakov 273274, Römer 23 f., 64-65, 78 f. Vorn: 52: die arischen Klischees. Petronius Vom: 227: nicht ins Deutsche übersetzbar. Platen Vom: 705: seine "Polenlieder" (Broszat 71).
Namensregister mit Erläuterungen Plato Vorn: 72: Platos Ständestaat. Ploetz, Alfred (1860-1940): deutscher Rassenhygieniker. Weindling 64 ff. Vom: 393: Kontrolle der Fortpflanzung zur Verbesserung des Menschen. Poesche, Theodor (19. Jh.): Veröffentlichte 1878: Die Arier. Ein Beitrag zur historischen Anthropologie. Jena.- Ein Exemplar fand sich in Nietzsches Bibliothek. Vgl. Römer 23, 64 f. und Poliakov 273275. Vom: 52: "Asia": "Land der Arier". (Römer 63-64).- 52: polygenistische Herkunftsthese.- 89: die Germanen sind die unvermischten Arier. Pott, August Friedrich (1802-1887): Philologe. Verfaßte eine Streitschrift gegen Gobineau (vgl. Römer 138-140). Vorn: 737: Potts Kritik an Gobineau. Prado: Mörder einer Prostituierten Nietzsche lernte den Fall Prado kennen aus Berichten im "Journal des Döbats" von Nov. 1888. Näheres bei Marti 257. Vom: 396: Problem "starker Mensch" und "sociales milieu". Prichard, James Cowles (erste Hälfte 19. Jh.): englischer Anthropologe. Monogenist auf Bibel-Grundlage. Adam und Eva waren erst schwarz, ihre Nachkommen wurden hell aufgrund Kulturentwicklung und veränderter Lebensweise. Vgl. Poliakov 215 und 227. Auch schon Lange 2,329.
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Vorn: 36: "Arteinheit" des Menschen. Quatrefages de Breau, Jean Louis Armand de (1810-1892): französischer Arzt, Zoologe und Anthropologe. Professor in Toulouse und in Paris. Gab nach dem deutschfranzösischen Krieg von 1870/71 mit einer antipreußischen Streitschrift den Anstoß zu Virchows großer Rassenuntersuchung in Deutschland (vgl. Weindling 48 ff.). Ferner Ackerknecht (passim), Young 27 sowie Poliakov 226 und 268. Vom: 7 u. l Of.: Quatrefages' Streitschrift und ihre Thesen. Racine Vom: 123: Vergleich mit dem "wüsten Genie Shakespeare". Rahel von Vamhagen (1771-1823): deutsche Jüdin. Hatte einen Salon in Berlin. Vom: 122: Junker und Jüdinnen 'vermischen'. Rask, Rasmus Kristian (1787-1832): dänischer Sprachforscher. Vgl. Römer 5052, 88 f. und Coseriu (1979). Vorn: 90: Verhältnis der deutschen zur gotischen Sprache. Raumer, Friedrich von (1701-1873): deutscher Historiker. Vorn: 108: beklagt den Untergang Polens (Broszat 71). Raumer, Rudolf von (19. Jh.): deutscher Sprachforscher. Vom: 55: seine These einer gemeinsamen "arisch-semitischen Urzeit" (Römer 60). Renan, Ernest (1823-1892): französischer Historiker und Philosoph. Zahlreiche
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Namensregister mit Erläuterungen
Bezugnahmen bei Nietzsche: cf. KSARegister. Vorn: 56: Nietzsche verweist für die Zusammengehörigkeit der "semitischen" und "indoeuropäischen Rasse" auf Renan. Dazu auch Santaniello 192.
Saint-Simon (1760-1825): französischer Sozialist. Vorn: 777: die Superiorität der Franken zeige sich in ihrem Sieg über die Gallier. (Poliakov 40).- 138: befürwortet Völkermischung (Poliakov 220 ff.).
Retzius, Anders Adolf (1796-1860): Schwedischer Zoologe, Anatom und Anthropologe. Führte 1842 eine rassische Klassifizierung auf der Grundlage der Dolicho- und Brachycephalie ein. (Langund Kurzschädeligkeit). Propagator der Schädelmessung (Kraniologie). Vgl. Ackerknecht 162-163, 226 und Weindling 50. Vom: 6: Schädelmaß und Intelligenz.
Sand, George (1804-1876): französische Schriftstellerin der Romantik. Vorn: 273: als Vertreterin der französischen Romantik.- 304: und die Kuh-Metapher (cf. Schank 1992).- 357: ihre Autobiographie.
Ribot, Theodule (1839-1916): französischer Psychologe und Philosoph. Unternahm psychologische Studien zu Vererbungsproblemen. Vgl. Weindling 86 und 233. Vom: 394: Vererblichkeit von Krankheiten.- 395: Nietzsche erwähnt eine Veröffentlichung Ribots.
Schallmayer.Friedrich Wilhelm(l 857-1919): Sozialdarwinist. Vgl. Conrad-Martius (1955), Weindling (passim) sowie Young 292 f. Vom: 400: die Kranken sind eine Last für die Gesellschaft (Weindling 86).
Ronsard, Pierre de (1524-1585): französischer Dichter. Vom: 777: Herkunft der Franzosen aus Troja (Poliakov 36). Rotteck, Carl von (19. Jh.): deutscher Historiker. Vom: 108: beklagt das Schicksal Polens (Broszat 71). Saint-Evremond (1615-1703): französischer Schriftsteller. Vorn: 308: hat noch keinen "Sinn" für Homer.
Sand, Karl Ludwig (1795-1820): Student und Mörder Kotzebues. Vom: 92: Mord an Kotzebue.
Schemann, Ludwig (1852-1938): GobineauPropagator. Professor in Freiburg. Übersetzte Gobineau ins Deutsche. Gründete eine Gobineau-Vereinigung. Gehörte zum Bayreuther Kreis. Seine Gobineau-Übersetzung war 1902, in 2. Auflage, in einer preiswerten Ausgabe für 17 Mark erhältlich und wurde gefeiert als "eines der kühnsten und glänzendsten Werke des menschlichen Geistes" (Kampe 150). In den "Bayreuther Blättern" finden sich 48 Beiträge von Schemann (Kein 259-61) sowie 18 Beiträge über Schemann (Kein 411: Aufzählung der Titel). Vgl. auch Weindling 116-123 sowie Poliakov 313.
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Vorn: 138: Schemann als GobineauPropagator. Schlegel, Friedrich (1772-1829): Dichterund Theoretiker der deutschen Romantik. Veröffentlichte 1808: "Über die Sprache und Weisheit der Indier". Gemäß Poliakov (340) der eigentliche Schöpfer des "arischen Mythos". Vgl. Schwab (1950). Vorn: 40: Schlegels "Orient-These".- 52: arisches Urvolk (Römer 63).- 61: indische These (Poliakov 197). Schlözer, Ludwig von (1735-1808): Führte 1781 den Ausdruck "semitische Sprachen" ein. (Römer 60 und Poliakov 191). Vom: 53: das Wort "semitisch". Schmeitzner, Ernst (19. Jh.): zeitweise Verleger Nietzsches, von dem er sich wegen antisemitischer Umtriebe absetzte. Vorn: 22: Nietzsche bezeichnet Schmeitzners Verlag als "Antisemitenloch" (KSB7,117). Schopenhauer Vertreter der indischen These: vgl. Poliakov 189 und 197 sowie Schwab (1950). Vom: 53: lehnt "indogermanisch" ab.- 61: indische These.- 95: Süden/Norden und Katholizismus bzw. Protestantismus.- 428: Schopenhauer erwähnt in seinen "Parerga" die These Gobineau's, daß der Mensch ein "animal mochant" sei.Schütz, Heinrich (1588-1672): deutscher Komponist. Vom: 98: Bach, Händel und Schütz als Reste der "starken Rasse" in Deutschland.
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Shakespeare Vom: 123: sein "wüstes Genie" im Vergleich zu Corneille, Moliere, Racine. Sieves, Abbe de (1748-1836): französischer Staatsmann. Vorn: 117: Rom als Wiege Frankreichs (Poliakov 49).- 775: spricht von "Ständen", nicht von "Rassen" in Frankreich. Spencer Vom: 349: als Vertreter der "SelektionsZweckmässigkeit" kritisiert. Stoecker, Adolf (1835-1909): Theologe und antisemitischer Politiker. Hofprediger in Berlin. Gründet 1878 eine "Christlich Soziale Arbeiterpartei". Als diese eine Niederlage erleidet, führt er den Antisemitismus in sein Parteiprogramm ein. Im Herbst 1879 hält er einen Vortrag "Unsere Forderungen an das moderne Judentum", in dem sein Antisemitismus deutlich wird. Dieser steht fortan im Zentrum seiner politischen Tätigkeit und dient ihm zur Erreichung von Wahlerfolgen, wobei er sich gegen das liberale Judentum in Presse und Kapital ausspricht. Gemäß Kein (136) ist seine Partei die "erste Partei, die Antisemitismus als breitenwirksames Instrument zur Schaffung einer Massenbasis gezielt einsetzt". Zu Bayereuth unterhält Stoecker intensive Beziehungen. In den "Bayreuther Blättern" erscheint ein Nachruf auf Stoecker von Hans von Wolzogen, in dem er Stoecker als einen "tapferen Kämpfer" bezeichnet. In seinen "Erinnerungen an Adolf Stoecker" zieht Wolzogen 1936 eine Linie
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von Stoecker zum Nationalsozialismus. (Näheres bei Kein 137). Gemäß Kampe (45) sah Stoecker "im zügellosen Kapitalismus das Unheil unserer Eupoche, das hauptsächlich vom modernen, säkularisierten Judentum... über das deutsche Volk gebracht worden sei", zugleich mit "einer frivolen Hetzjagd gegen alle christlichen Elemente". Zu Stoeckers politischer Tätigkeit vgl. Einzelnes bei BP 1,245-55 sowie 2,41 f. Vom: passim: als Antisemit bekämpft. Stöcker, Helene (1869-1943): sozialistische Feministin. Verehrte Nietzsche als Symbol für die Befreiung der kreativen Kräfte des Individuums (Weindling 254 ff.). Verband Nietzsches Lehre mit dem Darwinismus zu einem radikalen Feminismus und der Forderung, die Hilfe für unverheiratete Mütter auszubauen. (Weindling 111). Gründete eine "Liga für Mutterschutz und Sexualreform" (Weindling 459). Befürwortete eugenische Maßnahmen zum Zwecke der Hebung der Gesundheit der Menschen (Taylor 73-74). Vgl. auch Aschheim 88-90 sowie BP l, 211 f. und 587-590). Vorn: 403: eugenische Maßnahmen befürwortet.
Tacitus Seine im 16. Jahrhundert wiederentdeckte "Germania" wurde zum Ausgangspunkt für Diskussionen über die 'Germanen' sowie über die Herkunft der Deutschen und anderer europäischer Völker. (Römer 8689 sowie Poliakov, passim). Vom: 88: Bild der Germanen.- 31: Herkunft der Deutschen.-116: Genealogie der
Franzosen.- 398: Alkoholismus Germanen und der Deutschen.
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Taine, Hippolyte (1828-1893): französischer Historiker. Vertreter der naturalistischen Milieutheorie. Sah das "Rassenproblem" in Frankreich primär aus soziologischem Blickwinkel. Vgl. Young 148-163, Poliakov 51,236, 262. Zu Nietzsche/Taine vgl. Politycki 155 ff. und Marti 253 ff. Vorn: 41 u. 45: "Rasse" soziologisch.723: Taine's Milieubegriff.- 157: seine Dekadenztheorie. Thierry, Amedee (1797-1873): französischer Historiker. Vgl. Young 48-53, Poliakov 230. Vom: 45: "Rasse" sozial gesehen: Geschichte als Klassenkampf (Römer 26). Thierry, Augustin(1795-1856): französischer Historiker. Vgl. Young 38-47. Vorn: 45: "Rasse" sozial gesehen.- 775: "Rasse" und Klima bestimmen die "Moral" eines Volkes (Poliakov 46). Toland, John (18. Jh.): britischer Deist. Vom: 725: viele Engländer stammen von Juden ab (Poliakov 61). Treitschke, Heinrich von (1834-1896): deutscher Historiker. Einer der Gründerväter des modernen Antisemitismus. Erregt 1879/80 mit einer Artikelserie in den "Preußischen Jahrbüchern" Aufsehen. In "Ein Wort über unser Judentum" fällt 1879 sein vielzitierter Ausspruch "Die Juden sind unser Unglück". Er löst damit den "Berliner Antisemitismusstreit" aus, in dem der Historiker Theodor Mommsen sein Hauptgegner ist, der sich in "Auch
Namensregister mit Erläuterungen ein Wort über unser Judentum" gegen Treischkes Antisemitismusverwahrt. (Kein 137). Gemäß Kampe (24) war Treitschke in den Jahren um 1880 "die höchste, von antisemitischen Studenten anerkannte Autorität". Kampe betrachtet ihn als ein "Musterbeispiel für die bildungsbürgerliche Hinwendung zum Antisemitismus. Bereits 1870 artikulierte er seine Zeitschrift (die "Preuß. Jahrbücher") in judenfeindlicher Form. Für den privaten Gebrauch antijüdischer Stereotypen vgl. Treitschkes Briefe, hg. Comicelius, Leipzig 1918 ff.: Bd. 2, 419 f, Bd. 3, 243, 278 f, 315, 342, 400, 444, 451 f, 461, 468, 496, 502 f." (Kampe 223). Vom: 91: im "Ecce homo" verspottet Nietzsche Treitschkes Nationalismus und Antisemitismus.- 214: Kritik an Treitschke. Veit, Dorothea (1765-1839): Tochter von Moses Mendelssohn, später mit Friedrich Schlegel verheiratet Gehörte zum Berliner Kreis der Rahel von Vamhagen. Vom: 82: Zusammengehen von Junkern und Jüdinnen. Virchow, Rudolf (1821-1902): deutscher Arzt, Ethnologe, Anthropologe, Archäologe und liberaler Politiker. Vgl. Ackerknecht (1957). Zerstörte in einer breitangelegten Rassenuntersuchung den arischen Mythos in Deutschland, bekämpfte den Nationalismus und Antisemitismus Treitschkes. Vgl. Lange 2,250 und Poliakov 265-289 und Weindling (passim). Einer der Hauptopponenten der im November 1880 von B. Förster u.a. im preußischen Landtag eingebrachten Antisemitismus-Petition (Einzelheiten bei
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Kampe 103). Liste der hier einschlägigen Veröffentlichungen Virchows bei Poliakov 391-392. Vorn: 7ff.: Problem der "germanischen Rasse", "rassische" Einheit Deutschlands abgelehnt. Voltaire Vgl. Poliakov 177-187. Vorn: 61: indische Herkunftsthese.- 221: Voltaire und Lessing.- 308: kein "Zugang" zu Homer.
Wagner, Cosima Vom: 293: ihre "Vornehmheit". Wagner Wagner, sein Bayreuther Kreis und die von ihm herausgegebenen "Bayreuther Blätter" bilden ein zentrales Propagandazentrum des Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie in der Zeit bis 1933 und darüber hinaus. Erklärte Antisemiten und Nationalisten wie Chamberlain, Förster, Schemann, Stoecker stehen in dauernder Verbindung mit Bayreuth. Hitler war schon in seiner Wiener Zeit (1908-1913) ein besessener Verehrer Wagners. Von Bayreuth aus wurde Gobineau in Deutschland verbreitet. Hitler urteilte selbst: "Wer immer den Nationalsozialismus verstehen will, muß erst Wagner kennenlernen", (zit. bei Santaniello 42). Schon vor seiner Bayreuther Zeit veröffentlichte er den programmatischen antisemitischen Aufsatz "Das Judentum in der Musik" (1850 in Franz Brendels "Neuer Zeitschrift für Musik" erschienen). In diesem Aufsatz wird zum einen der
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jüdische Komponist Giacomo Meyerbeer angegriffen, sodann gegen das "jüdische Wesen" polemisiert. Die Emanzipationsbestrebungen der Juden werden scharf verurteilt. Als Wesensmerkmal der Juden wird die Affinität zum Geld bezeichnet. Gerügt werden die abstossende Erscheinung der Juden, die "semitische Aussprechweise", die "Verjudung" der modernen Kunst etc. (vgl. Kein 101-102). In den in den "Bayreuther Blättern" (1878 und 1879) veröffentlichten "Regenerationsschriften" werden die antisemitischen Angriffe fortgesetzt. Unter anderem behauptet Wagner, "das Christenthum sei durch die Juden verdorben worden", und es bleibt ihm mehr als zweifelhaft, "ob Jesus von jüdischem Stamme gewesen sei" (B. Blätter 3, 285) (Kein 106). Des weiteren entwickelt Wagner hier seine Lehre von der "Erlösung durch Vernichtung" (dazu Näheres bei Kein 113 ff.). Zu Wagner auch: Weindling 107, Poliakov 321-324, Kreis (1995) und Santaniello (1994). Vorn: 36: Entstehung des Menschen (Monogenese) (Lange 2, 329).- 74: Jesus kein Jude (dazu auch Kreis 114 f.).- 275: "Das Judentum in der Musik".- 223: Wagners Musik als Beispiel für 'docadence'.- Ebda: Wagner wolle verheimlichen, daß er ein 'Semite' sei.- 288: Nietzsche über sein Verhältnis zu Wagner: "tief verwandt und antagonistisch" zugleich. Weininger, Otto (1880-1904): Wiener Philosoph. Vgl. Poliakov 260. Nach Hitlers Ansicht der einzige Jude, "der es wert war zu leben" ("Tischgespräche", Stuttgart 1963,
S. 152). Vom: 66: Arier männlich, Semiten weiblich.
Wellhausen, Julius (1844-1918): Theologe und Orientalist. Vgl. Poliakov 320. Vom: 77, 183: Nietzsche zitiert Wellhausen wörtlich zum Gottesbegriff der "Araber und alten Hebräer" (vgl. KSA-Komm. 755 zu H/287/.). White, Charles (1728-1809): Vgl. Poliakov 160. Vom: 143: Superiorität der Weißen (Europäer). Young, Thomas (18./19. Jh.): englischer Arzt, Physiker und Linguist. Vgl. Poliakov 196 und Römer 53. Vom: 53: führte 1813 (Römer 53) bzw. 1816 (Poliakov 196) die Bezeichnung "indoeuropäisch" ein. Zimmern, Heien (1846-1934): englische Schriftstellerin, übersetzte Schopenhauer. Bekannte Nietzsches. Vgl. KSB-Register. Vom: 83: Nietzsche lobt ihren "TeufelsMut". Heien Zimmeren besuchte Nietzsche zweimal in Sils Maria (1884 und 1886). Sie schrieb ein Buch über Schopenhauer: A Schopenhauer. His Life and His Philosophy, 1876. Sie übersetzte "Jenseits von Gut und Böse" ins Englische (1906, erschienen 1910). (Vgl. Diethe 99). Zola Vom: 397: Zola's Rougon-MacquartRomane. (Weindling 87).