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German Pages 283 [284] Year 2018
Johannes Heinrich Individualität, Subjektivität und Selbstsorge bei Nietzsche
Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung
Herausgegeben von Christian J. Emden Helmut Heit Vanessa Lemm Claus Zittel Begründet von Mazzino Montinari, Wolfgang Müller-Lauter, Heinz Wenzel Advisory Board: Günter Abel, R. Lanier Anderson, Keith Ansell-Pearson, Rebecca Bamford, Christian Benne, Jessica Berry, Marco Brusotti, João Constancio, Daniel Conway, Carlo Gentili, Oswaldo Giacoia Junior, Wolfram Groddeck, Anthony Jensen, Scarlett Marton, John Richardson, Martin Saar, Herman Siemens, Andreas Urs Sommer, Werner Stegmaier, Sigridur Thorgeirsdottir, Paul van Tongeren, Aldo Venturelli, Isabelle Wienand, Patrick Wotling
Band 69
Johannes Heinrich
Individualität, Subjektivität und Selbstsorge bei Nietzsche
Eine Analyse im Gespräch mit Foucault
ISBN 978-3-11-060056-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-060331-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-060357-6 ISSN 1862-1260 Library of Congress Control Number: 2018943053 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Danksagung Für die Philosophie des 20. und des 21. Jahrhunderts gehört die Frage nach dem Subjekt zu den hervorgehobenen Problemstellungen. Besonders jüngere und jüngste Forschungen beschäftigen sich hierbei mit der Zurückweisung und der Dekonstruktion neuzeitlicher Subjektivität. Den Denkern Friedrich Nietzsche und Michel Foucault kommt in dieser Kritik eine besondere Rolle zu. Jedoch haben beide, vor allem in ihren Spätwerken, Versuche unternommen, menschliche Identität und Handlungsfähigkeit ins philosophische Denken zurückzuholen. Dieses Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Sommersemester 2015 an der Technischen Universität zu Berlin eingereicht habe. Mein Dank gilt vor allem meinem Doktorvater Prof. Dr. Günter Abel, der den Prozess meiner Dissertation von Anfang an mit wohlwollender Bestätigung begleitet hat. Seine ruhige Art und seine philosophische Expertise haben mir geholfen, die Arbeit in einer für mich hilfreichen Weise zu ordnen. Seine generelle Unterstützung meines Projekts sowie seine inhaltlichen Anregungen und Hilfestellungen haben mich in die Lage versetzt, den zentralen Themen meiner Dissertation nachzugehen, ohne mich hierbei in Details zu verlieren. Hierfür bin ich Herrn Prof. Abel sehr verbunden. Außerdem möchte ich Prof. Dr. Marco Brusotti sowohl für sein Zweitgutachten als auch für seine inspirierenden und hilfreichen Hinweise zur aktuellen Foucault- und Nietzsche-Forschung herzlich danken. Sehr verbunden bin ich darüber hinaus Prof. Dr. Martin Saar, der sich zu Beginn meiner Dissertationsplanung freundlicherweise für mich Zeit genommen hat und der mir zu einigen Kernpunkten meiner Arbeit anregende Ratschläge gegeben hat. Dem de Gruyter Verlag und den Herausgebern Christian Emden, Helmut Heit, Vanessa Lemm und Claus Zittel danke ich herzlich für die Aufnahme der Arbeit. Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich Prof. Dr. Vanessa Lemm für ihre hellsichtigen und detailgenauen Anregungen. Außerdem danke ich Christoph Schirmer sehr herzlich für seine freundliche Betreuung im Verlag. Dem Elsa-Neumann-Stipendium des Landes Berlin bin ich für seine großzügige Unterstützung, ohne die ich meine Arbeit sicher nicht in dieser Schnelle hätte fertig stellen können, sehr dankbar. Ich bin mir des Privilegs, das in einer solchen Unterstützung liegt, sehr bewusst. Zuletzt möchte ich auch meinen Eltern für ihre andauernde Unterstützung danken.
https://doi.org/10.1515/9783110603316-201
Inhalt IX
Siglen
Weitere Abkürzungen Einleitung
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Entstehung und Kritik des neuzeitlichen Subjektbegriffs 7 7 Descartes, Fichte, Kant Dekonstruktion des Subjekts (historisch) 10 Dekonstruktion des Subjekts bei Nietzsche und Foucault
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Begriffliche Untersuchung des souveränen Individuums 36 37 Erinnern und Vergessen Kultur und Natur – Zivilisation und Animalität 44 50 Sittlichkeit der Sitte und souveränes Individuum 54 Zum Begriff der Individualität bei Nietzsche Versprechen-Können und Freiheit des Willens 57
Inhaltliche Vertiefung des Themenkomplexes „souveränes 63 Individuum“ Das souveräne Individuum im Kontext der eigentlichen Philosophen 63 Die eigentlichen Philosophen als performative Zukunftsvision 76 Souveräne Individualität und amor fati 89 Deleuze, Nietzsche und das Konzept der Singularität Freiheit des Willens als Souveränität über die Affekte 99
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Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault 107 Foucaults späte Subjektphilosophie 107 Moralische Subjektkonstitution: Griechische Selbstsorge und römische Selbstkultur 108 115 Askese Der Mut zur Wahrheit – Foucaults Untersuchung der parrhesia 118 ‚Wende zum Subjekt‘ und Begriff des Individuums 129 Selbstsorge und Selbstkonstitution bei Nietzsche und 133 Foucault Mut zur Wahrheit und Umwertung bei Nietzsche und Foucault 136 Wahrheit, Stärke und Gefahr 140 Amor fati, Souveränität und Selbstsorge 150
VIII
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Inhalt
Selbstsorge, Diätetik und die große Gesundheit 161 165 Die Ernährung 177 Die Umgebung Die Erholung 182 188 Die Umkehr zu einem selber 196 Einschub zum Thema ‚Rasse‘ und ‚Zucht‘ Ethische Subjektivierung bei Nietzsche und Foucault 198 Moralkritik und individuelle Ethik bei Nietzsche und Foucault 198 Sollensethik vs. Strebensethik 206 Nietzsches asketischer Priester und Foucaults christliches Pastorat 210 218 Nietzsches Konzept des Gewissens Schlechtes Gewissen und Subjektivität bei Nietzsche und 218 Foucault 224 Der Wille zur Wahrheit und das intellektuelle Gewissen Das Gewissen des souveränen Individuums 229 Exkurs: Einbettung in die Forschungslage 239 239 Individualisierte Arbeit (Boltanski/Chiapello) 241 Das Subjekt der Arbeit (governmentality studies) Das depressive Subjekt im digitalen Zeitalter (Ehrenberg, Han) Macht und Widerstand: gender studies und governmentality studies 250 Depressives Selbst vs. souveränes Individuum 256
Literaturverzeichnis 261 261 Lexikonartikel Weiterführende Literatur Index
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261
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Siglen Friedrich Nietzsche Nietzsche wird im Text ausschließlich nach der Kritischen Studienausgabe (KSA) zitiert. Der Antichrist Ecce homo Die fröhliche Wissenschaft Götzen-Dämmerung Zur Genealogie der Moral Die Geburt der Tragödie Unzeitgemässe Betrachtungen, Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben JGB Jenseits von Gut und Böse KSA Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, 15 Bände, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1999 MA I Menschliches, Allzumenschliches. Erster Band MA II Menschliches, Allzumenschliches. Zweiter Band M Morgenröthe WL Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne Z Also sprach Zarathustra AC EH FW GD GM GT UB II
Michel Foucault GG I
Geschichte der Gouvernementalität I – Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt a. M. 2004. GG II Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II, Frankfurt a. M. 2004. HS Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt a. M. 2004. JF Die Wahrheit und die juristischen Formen, in: Dits et Ecrits – Schriften in vier Bänden, Band II Frankfurt a. M. 2002, S. 669 – 792. MP Die Macht der Psychiatrie, Frankfurt a. M. 2005. MW Der Mut zur Wahrheit – Die Regierung des Selbst und der anderen II, Berlin 2010. OD Die Ordnung der Dinge – Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1974. RS Die Regierung des Selbst und der anderen, Frankfurt a. M. 2009. SW I Der Wille zum Wissen – Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a. M. 1983. SW II Der Gebrauch der Lüste – Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt a. M. 1989. SW III Die Sorge um sich – Sexualität und Wahrheit 3, Frankfurt a. M. 1986. ÜS Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1994. VG In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1999. WG Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a. M. 1973. WW Über den Willen zum Wissen, Frankfurt a. M. 2012. NH Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Hamacher, Werner: Nietzsche aus Frankreich, Berlin/Wien 2003, S. 99 – 125.
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Weitere Abkürzungen
Das Subjekt und die Macht, in: Dreyfuss, Herbert L.; Rabinow, Paul: Michel Foucault – Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1987, S. 243 – 261. Was ist Aufklärung?, in: Honneth, Axel; Erdmann, Eva; Forst, Rainer; Honneth, Axel [Hrsg.]: Ethos der Moderne – Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt a. M./New York 1990, S. 35 – 55. Die Rückkehr der Moral. Ein Interview mit Michel Foucault, in Erdmann, Forst, Honneth, Axel [Hrsg.]: Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt a. M./New York 1990, S. 133 – 146. Der maskierte Philosoph. Gespräch mit Christian Delacampagne, in: Von der Freundschaft als Lebensweise, Berlin 1984. Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori, Frankfurt a. M. 1996. Genealogie der Ethik: Ein Überblick über laufende Arbeiten, in: Dreyfus, Herbert L.; Rabinow, Paul [Hrsg.]: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1987, S. 265 – 295. Wahrheit und Macht. Interview von A. Fontana und P. Pasquino, in: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Macht, Berlin 1978, S. 21 – 55. Nein zum König Sex. Gespräch mit Bernhard-Henry Levy, in: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Macht, Berlin 1978, S. 176 – 199.
Weitere Abkürzungen Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Frankfurt a. M. 1974. KrV Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart 1966. MEW Marx-Engels-Werke, Berlin 1956 – 1990. KpV
Einleitung Thatsächlich sind wir eine Vielheit, welche sich eine Einheit eingebildet hat (Friedrich Nietzsche, NL 1881, KSA 9, 12[35], S. 582).
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, wie in kritischer Auseinandersetzung mit der postmodernen Theorie der ‚Auflösung des Subjekts‘ neue, autonome Weisen der Individualität, der Subjektivität und der Selbstsorge entstehen und beschrieben werden können. Diese Frage wird zunächst vor dem Hintergrund der Analyse von Friedrich Nietzsches Konzept des souveränen Individuums diskutiert. Um dieses Konzept angesichts der bereits existierenden Forschung weiter zu entwickeln, wird neben einer begrifflichen Untersuchung ein detaillierter Vergleich zu Foucaults Analyse der antiken Selbstsorge sowie seiner späten Konzeption von Subjektivität vorgenomme n. Es soll gezeigt werden, was Foucault und Nietzsche unter den Begriffen Individualität, Subjektivität und Souveränität verstehen, inwiefern sich ihre Konzepte verbinden lassen und wie eine souveräne Individualität konstituiert werden kann. Die Ergebnisse dieser Studie sollen am Schluss in aktuelle Diskussionen der Subjektphilos ophie eingeführt werden. Die Arbeit wird hierbei, ausgehend von Diskussionen der jüngeren und jüngsten Forschung, Nietzsches Idee des souveränen Individuums in seiner ganzen Komplexität herausarbeiten, indem diese mit der Philosophie Nietzsches, insbesondere mit dessen Spätphilosophie, in Zusammenha ng gebracht wird. Nietzsches Konzept souveräner Individualität ist, besonders in der englischsprachigen Forschung, Gegenstand lebendiger und vielfältiger Debatten (vgl. Lemm 2008; Acampora 2006; Hatab 2008b, S. 78 ff.; Janaway 2009; Loeb 2005, 2006; Gemes 2009; Ridley 2009; Siemens 2017; Brusotti 2017). Bis jetzt ist der Begriff jedoch weder in einer zusammenhängenden Studie noch unter einer ausführlichen Bezugname auf Foucaults Untersuchung der Selbstsorge erläutert worden. Die Ergebnisse dieser Analyse sollen daraufhin auf Problemstellungen der aktuellen Subjek tphilosophie übertragen werden, indem unter anderem danach gefragt wird, ob die Pluralisierung und die Dezentrierung des Subjekts durch das Konzept einer autonomen Individualität ergänzt werden kann, welches seinerseits bereits durch die genealogisch- historische Kritik nietzscheanischer Prägung hindurchgegangen ist. Ein solches Individualitätskonzept hätte den Vorteil, zwar einerseits die durchaus angebrachte Skepsis gegenüber dem Begriff eines ursächlichen, autonomen Subjekts mit einzubeziehen, andererseits jedoch nicht die Idee der Eigenmächtigkeit des Handelns aufzugeben. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach dem Begriff des Individuums: Inwiefern wird dieser bei Nietzsche in Abgrenzung zur neuzeitlichen, cartesianischen Konzeption von Subjektivität entworfen? Stellt der Begriff für Nietzsche (und auch für Foucault) etwas dar, was dem Begriff des Subjekts unter- und https://doi.org/10.1515/9783110603316-001
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Einleitung
nachgeordnet ist, oder ist das Individuelle vielmehr etwas, das einen gewissen unveränderbaren „identitären Rest“ (Reckwitz 2008, S. 17 f.) darstellt und so bestimmten Weisen der Subjektwerdung widerspenstig gegenüber steht? Der Terminus des Subjekts, und der der Individualität sollen daher in der vorliegenden Arbeit in ihrer Bedeutung für Nietzsche wie für Foucault genauer voneinander differenziert werden. Um die positiven Identitätskonzepte von Nietzsche und Foucault darstellen zu können, werden zunächst im einleitenden Kapitel 1 Nietzsches und Foucaults Subjektkritiken durch eine Abgrenzung zum neuzeitlichen Subjektbegriff (Descartes, Fichte) negativ bestimmt (1.1). Dem neuzeitlichen Subjekt kommen hierbei die Hauptcharakteristika der Ursächlichkeit, der Einheitlichkeit, der Bewusstheit und der Autonomie zu. Daraufhin werden in 1.2 Nietzsche und Foucault in die Philosophiegeschichte der Subjektdekonstruktion eingeordnet, welche exemplarisch am Fall des Marxismus (Marx, Engels, Althusser), des Anarchismus (Stirner) und der Existenzphilosophie (Heidegger, Kierkegaard) nachvollzogen wird. Aufbauend auf dieser historischen Einordnung werden in 1.3 Nietzsches und Foucaults eigene Subjektanalysen vorgestellt. Nietzsche vollzieht seine Kritik am neuzeitlichen Subjektbegriff anhand der Gegenüberstellung von Bewusstsein und Unbewusstsein, einer sprachphilosophischen Kritik am Ich-Begriff, sowie der Zurückweisung des Begriffs der Willensfreiheit. Foucaults Subjekttheorie wird anhand einer von ihm selbst vorgeschlagenen dreifachen Unterteilung analysiert: erstens als eine Konstitution der Subjekte durch Diskurse über Wahnsinn und Vernunft, zweitens als eine Konstitution der Subjekte als Produkt einer überwachenden Disziplinarmacht und schließlich drittens als Konstitution potenziell freier moralischer Subjekte anhand der Darstellung seiner Theorie der Gouvernementalität sowie antiker Modelle der Selbstsorge. Beiden, Foucuault wie Nietzsche, gilt das cartesianische Modell von Subjektivität hierbei als Hauptabgrenzungspunkt. In diesem Zusammenhang wird ‚autonome Subjektivität‘ in letzter Konsequenz als eine unfrei machende Kategorie vorgestellt, welche auf äußerlichen Machtprozessen beruht. Im Folgenden wird daher ein Modell von Individualität untersucht, das auch einen wirklichen und positiven Begriff von Autonomie und Eigenermächtigung enthält. Dies wird in Kapitel 2 zunächst anhand der begrifflichen Untersuchung von Nietzsches souveränem Individuum vollzogen. Termini wie Gewissen, Erinnern, Vergessen oder Sittlichkeit der Sitte, mit denen Nietzsche das souveräne Individuum beschreibt, verweisen auch auf andere Stellen in seinem Werk. Dies ermöglicht es, souveräne Individualität in einem größeren Rahmen zu diskutieren. Ein besonderer Stellenwert kommt hierbei dem Begriffspaar des Erinnerns und des Vergessens zu (2.1), das Nietzsche bereits schon ausführlicher in seiner frühen Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben entwickelt hatte. Das instinktiv-animalische Vergessen wird dort dem bewussten Erinnern vorgezogen. Dem entspricht bei Nietzsche eine Neubewertung der Begriffe von Kultur und Natur (2.2). Zivilisation wird hier in erster Linie negativ bestimmt als Dressur des animalischen Vermögens im Menschen (vgl. NL 1888, KSA 13, 16[10], S. 485 f.). Für jene Zivilisierung
Einleitung
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und ‚Zähmung‘ des Menschen findet Nietzsche in seiner Morgenröthe den Begriff der Sittlichkeit der Sitte (2.3). Sittlichkeit wird hier zum einen als ein unterdrückendes System beschrieben, wird jedoch zum anderen als ontogenetische Vorarbeit für die Konstitution souveräner Individuen bewertet (vgl. GM II 2, KSA 5, S. 293 f.; M 9, KSA 3, S. 21 ff.). Die Frage der Sittlichkeit leitet zu der der Willensfreiheit über. Diese löst Nietzsche (2.4) zunächst anhand der Dekonstruktion des einheitlichen Modells vom Individuum auf (vgl. Steinmann 2000, S. 148; Hatab 2008b, S. 78 f.; MA I 57, KSA 2, S. 76). Das Individuum, wie Nietzsche es verstanden haben möchte, wird als dynamische Kombination einer Kräfte-Vielheit beschrieben (vgl. NL 1881, KSA 9, 11[182], S. 511). In diesem Sinne analysiert Nietzsche auch den Begriff der Willensfreiheit, indem er ihn mit seinem scheinbaren Gegensatz, der Notwendigkeit, verbindet (2.5). Die inhaltlichen Zusammenhänge, die bezüglich der Begriffe des Erinnerns, des Vergessens, der Sittlichkeit der Sitte sowie der Willensfreiheit erarbeitet worden sind, werden in Kapitel 3 in die Debatten der Nietzscheforschung zum Themenkomplex des souveränen Individuums eingebracht. Darüber hinaus wird das souveräne Individuum mit anderen wichtigen philosophischen Programmen (Wille zur Macht, amor fati, eigentliche Philosophen) in Verbindung gesetzt, auf welche sich Nietzsche positiv bezieht. Durch einen intertextuellen Vergleich wird in 3.1 festgestellt, dass Nietzsches Idee des souveränen Individuums artverwandt mit jenem Typus ist, welchen er die eigentlichen Philosophen oder die zukünftigen Philosophen nennt, dass souveräne Individualität somit ein philosophisches Ideal darstellt (vgl. GM II 2, KSA 5, S. 193 f.; GM III 10, KSA 5, S. 360 f.; JGB 203, KSA 5, S. 126 ff.). An diesen Themenkomplex anschließend wird in 3.2 unter Zuhilfenahme der Theorien Whites (1997) und Derridas (2000) deutlich, dass Nietzsche sich selbst als einen eigentlichen Philosophen beschreibt, welcher im Leser seiner Schriften wiederum performativ eine souveräne Form von Individualität verwirklichen möchte. In Teilen der Nietzscheforschung wurden Nietzsches Konzepte des amor fati sowie des souveränen Individuums als sich widersprechende Konzepte dargestellt (Acampora 2006, S. 155). Unter Bezugnahme sowohl auf eher klassische Forschungsliteratur (Nehamas 1991; Magnus 1978) zum Themenkomplex der ewigen Wiederkehr als auch in Auseinandersetzung mit jüngerer Nietzscheforschung (Loeb 2006; Owen 2002; May 2009) gelingt es jedoch in 3.3, den amor fati als Attitüde des souveränen Individuums zu bestimmen: Die Konstitution des souveränen Individuums vollzieht sich über die Bejahung der Unausweichlichkeit des individuellen Schicksals, welches in einem historischen Prozess geformt worden ist (vgl. May 2009, S. 97 f., 104). In 3.4 wird eine Analyse über Nietzsche, Deleuze und den Begriff der Singularität beigefügt. In diesem Teil wird die deleuzesche Interpretation von Nietzsches Philosophie nachvollzogen, um zu verdeutlichen, dass Nietzsches Lehre vom autonomen Individuum nicht dem Willen-zur-Macht-Geschehen und dem Werdenscharakter der Welt widerspricht, sondern vielmehr selbst durch Pluralität, Dynamik und Werden bestimmt wird.
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Einleitung
Auf Deleuzes Thesen aufbauend beschäftigt sich der letzte Abschnitt des Kapitels 3 (3.5) mit Nietzsches Affektlehre und deren Zusammenhang mit seiner Vorstellung von souveräner Individualität. Autonom ist das Individuum für Nietzsche in dem Sinn, dass es die Rang- und Reihenfolge seiner Triebe, welche sowohl sein Handeln als auch seine Selbstwahrnehmung bestimmen, selbst beeinflussen kann (vgl. Abel 1998, S. 100; JGB, S. 6, KSA 5, S. 19 ff.). Ein solches autonomes Individualisiertsein, welches Nietzsche mit einem ‚Aus- und Einhängen der Affekte‘ beschreibt, wird wiederum auf asketische Selbstpraktiken zurückgeführt, die mit Michel Foucaults Untersuchung antiker Selbstsorge in Zusammenhang gebracht werden (vgl. RS; MW; HS; SW II, SW III; EH, Klug, 2 – 4; KSA 9, S. 476; GM III 12, KSA 5, S. 363 ff.). In Kapitel 4 werden daher die Thematik der Selbstsorge sowie ihr Einfluss auf Nietzsches Idee des souveränen Individuums im Detail besprochen. Dabei wird über die Untersuchung von Nietzsches Ecce homo die praktisch-alltägliche Konstitution des souveränen Individuums dargestellt, analysiert und mit Foucaults Spätphilosophie in Zusammenhang gebracht. Begonnen wird hier mit der Darstellung von Foucaults später Subjektphilosophie (4.1). Diese wird anhand der Untersuchung antiker Selbstsorge dargestellt. Neben der Untersuchung der griechischen Schule der Selbstsorge (SW II) wird auch die römischstoische Variante (SW III) diskutiert (Kapitel 4.1.1– 4.1.2). Die letzten Arbeiten Foucaults fokussieren hier besonders den Punkt des kynischen Mutes zur Wahrheit, der parrhesia (4.1.3). Hierbei ist für Foucault ein Wahrheitsverständnis entscheidend, bei welchem Wahrheit in der Übereinstimmung der als wahr erkannten Sätze mit den persönlichen Lebensvollzügen liegt (vgl. HS, S. 589). Ausgehend von Foucaults Feststellung, dass es sich bei Nietzsches Wahrheitsphilosophie um eine Variation des antiken Motivs der parrhesia handelt, wird in 4.2.1 und 4.2.2 das nietzscheanische Theorem vom Pessimismus der Stärke (vgl. GT Versuch 1, KSA 1, S. 12 f.; RS, S. 94) durch das Raster des kynischen Mutes zur Wahrheit interpretiert. So wird das Konzept souveräner Individualität nicht nur mit dem des Pessimismus der Stärke, sondern auch mit dem des amor fati in Verbindung gesetzt (4.2.3). Um die praktisch-leiblichen Voraussetzungen einer solchen souveränen Individualität zu bestimmen, wird in 4.3 die foucaultsche Untersuchung antiker Selbstsorge als methodische Schablone verwendet, um Nietzsches diätetisch-philosophische Vorschriften zu untersuchen, welche er im Ecce homo vorschlägt. Dabei werden exemplarisch die Aspekte der Ernährung (4.3.1), der Umgebung (4.3.2) sowie der Erholung (4.3.3) erläutert. Die hiermit zusammenhängenden asketischen Enthaltsamkeitsübungen, welche das Individuum an sich selbst vollzieht, werden als moderne Variation antiker Praktiken der Selbstsorge interpretiert. Subjektivität wird in diesen Zusammenhängen von Nietzsche wie von Foucault als etwas gedeutet, das das Individuum in einem kreativ-schöpferischen Akt an sich selbst vollzieht. Subjektivität ist also immer ein Modus der Individualität. Im Abschnitt 4.4 werden Nietzsches und Foucaults Konzepte einer individuellen Ethik beschrieben und von der christlichen Moral abgegrenzt. Die Ethik ist bei beiden eng mit der Frage verbunden, ob sich Individuen auf autonome oder auf unfreie Weise
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als Subjekte konstituieren (vgl. SW II, S. 40). Die positiven Ethikkonzepte von Nietzsche und Foucault werden im Rückgriff auf Krämer (1992) und Steinmann (2000) als Strebensethik ausgemacht (4.4.2). Der Anfangspunkt und der Garant für eine funktionierende ethische Struktur ist hierbei eine gelingende individuelle Lebensweise (vgl. Krämer 1992, S. 10; Steinmann 2000, S. 61). Dem Typus der Strebensethik wird eine vor allem auf christlichen Idealen fußende Sollensethik gegenübergestellt, deren Kardinaltugend der Gehorsam ist (vgl. NL 1883, KSA 10, 7[1], S. 235 f.). Der Repräsentant jener Sollensethik ist bei Nietzsche der asketische Priester. Interprertiert wird diese Denkfigur unter Zuhilfenahme von Foucaults wirkungsträchtiger These der Pastoralmacht (4.4.3). Diese Machtform drückt sich zudem in der Figur des ‚schlechten Gewissens‘ aus. Bei Nietzsche geht im schlechten Gewissen die pastorale Führung des Priesters in eine subtilere Selbstführung über (vgl. GM II 16, KSA 5, S. 321 ff.; GM III 11, KSA 5, S. 361 ff.). Jedoch bietet das Gewissen auch die Möglichkeit einer vom Einzelnen ausgehenden autonomen Selbstgestaltung, da im Gewissen die allgemeinen Normen und Werte auf das Individuum zurückgeführt werden (Stegmaier 1994, S. 131 f.). Im Punkt 4.5 wird daher der Figur des schlechten Gewissens die des intellektuellen Gewissens sowie die eines souveränen Gewissens gegenübergestellt. Das schlechte Gewissen (4.5.1) wird hierbei über einen Rückgriff auf Foucaults These der disziplinierenden Gefängnispraxis als Art und Weise interpretiert, Individuen auf unfreie Art zu subjektivieren (vgl. ÜS, S. 93, 94, 116). Das intellektuelle Gewissen hingegen (4.5.2) ermöglicht bei Nietzsche das Erscheinen eines souveränen Gewissens (vgl. FW 335, KSA 3, S. 560 ff.; Stegmaier 1994, S. 131 f.). Das Gewissen ist für Nietzsches Idee des souveränen Individuums diejenige Instanz, in der die anderen Kriterien souveräner Individualität (Verantwortlichkeit,Willensfreiheit u. a.) zusammenlaufen (vgl. GM II 2, KSA 5, S. 293 f.). In 4.5.3 wird Nietzsches positiver Begriff vom Gewissen dargestellt. Hierunter ist ein zur Herrschaft gelangter Instinkt zu verstehen, welcher durch das Individuum bewusst über asketische Praktiken gestärkt worden ist. Als zentrales Moment dieses Gewissens wird der amor fati bestimmt. In Kapitel 5 werden schließlich die Ergebnisse der Arbeit auf aktuelle Debatten der Subjekttheorie bezogen. Hierbei stehen die governmentality studies im Mittelpunkt. Nach einer skizzenhaften Darstellung der einflussreichen Studie Der neue Geist des Kapitalismus von Boltanski und Chiapello (5.1) wird im Folgenden auf die subjektphilosophischen Thesen der governmentality studies eingegangen (5.2). Dies wird vor allem anhand der Theorieansätze von Rose (Rose 1989), du Gay (du Gay 1996) und Bröckling (Bröckling 2007) beschrieben. Hierauf aufbauend werden in 5.3 die These der governmentality studies, wonach sich Subjektivität und Selbstverwirklichung gegenwärtig vor allem über die eigene Arbeit vollziehen, auf die Felder der Psychiatrie (Ehrenberg 2004) und der Digitalisierung (Han 2013, Manovic 2001, Reckwitz 2006) übertragen, um ein übergreifendes Ideal zur Individualisierung darzustellen. ‚Autonome Subjektivität‘ wird als die Konsequenz bestimmter Diskurse der Macht begriffen und die ‚Autonomie‘ hat den versteckten Sinn, eine größere ökonomische Ausbeutung der Individuen zu garantieren.
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In den Abschnitten 5.4 und 5.5 wird schließlich diese Behauptung einerseits mit den Theorien der gender studies, andererseits mit den Individualitätskonzepten von Nietzsche und Foucault konfrontiert. Hierbei wird Ehrenbergs These vom erschöpften Selbst Nietzsches Idee vom ‚Aus- und Einhängen‘ der Affekte gegenübergestellt. Abschließend wird die Ansicht vertreten, dass Autonomie im Handeln nur darüber hergestellt werden kann, indem das cartesianische Modell vom ‚autonomen Subjekt‘ aufgelöst wird zugunsten der Einbeziehung gerade des Notwendigen (Triebe, Kraft, Affekte) im Handeln.
1 Entstehung und Kritik des neuzeitlichen Subjektbegriffs Um das Identitätskonzept von Nietzsche und Foucault in den Blick zu bekommen, soll zunächst dasjenige Subjektivitätsmodell vorgestellt werden, von welchem sich beide Philosophen am deutlichsten distanzieren. Als Abgrenzungsfläche für Nietzsche und Foucault werden daher die Subjektphilosophien Descartes, Fichtes und – mit Abstrichen – Kants vorgestellt, da in diesen drei Denkmodellen das Subjek t in erster Linie als ein ursächliches, seiner selbst bewusstes, reflexives Ich begriffen und die äußere Welt diesem denkenden Ich gegenübergestellt wird (vgl. Zima 2000, S. 97 f.). In diesem Sinne lassen sich jene drei Theorien als Kern des neuzeitlichen Subjektivitätskonzepts begreifen (vgl. Riedel 1989, S. 61– 68, 89 – 106; Bürger 2001, S. 43 ff.).
1.1 Descartes, Fichte, Kant Die nietzscheanische Abgrenzung zum traditionellen Subjektbegriff wird vor allem anhand der Kritik am cartesianischen Modell vollzogen, in welchem das Subjekt als erkenntnistheoretisch gesicherte und autonome Instanz vorgestellt wird, die sich erkennend auf eine von ihm unterschiedene Welt bezieht (vgl. Biard 1990, S. 475; Zima 2007, S. 94 ff.). Descartes gilt als Begründer der modernen oder neuzeitlichen Subjektphilosophie. Seit Descartes und der von ihm angestoßenen Denkrichtungen des subjektiven Idealismus sowie des Rationalismus – und dies sind die Traditionen, die sowohl von Foucault als auch von Nietzsche in erster Linie angegriffen werden – wird das Subjekt primär als das sich selbst bewusste Ich verstanden, dem die Welt als vorzustellendes und zu erkennendes Objekt gegenübersteht (vgl. Biard 1990, S. 475). Descartes unterscheidet zwischen denkender Substanz (Ich) und ausgedehnter Substanz (Welt). Das ‚Ich‘ wird hierbei als erste und einzige Gewissheit vorgestellt, die allein den Zweifeln über die Welt und den Urteilen standhält. Das Subjekt wird als denkendes Ich bestimmt, d. h. das Denken ist das Wesen des Ichs. Die Welt erscheint in diesem Zusammenha ng als Objekt, als vom Bewusstsein des Ichs repräsentierte Sache (vgl. Biard 1990, S. 475; Stolzenberg 1998, S. 379 f.; Zima 2000, S. 97 f.; Reckwitz 2008, S. 11; Bürger 2001, S. 46 f.). Dem Subjekt als denkendem Ich kommt insofern die Eigenschaft der ‚Ursächlichkeit‘ hinsichtlich der Erkenntnis der Dinge in der Welt zu (vgl. Descartes 1993 [1641], S. 25 ff.). Beschränkt wird diese Ursächlichkeit im Denken nur durch die göttliche Instanz, welche wiederum die Voraussetzung bildet für unser Erkennen und Wissen-Können (vgl. Zima 2000, S. 95). Für Fichte rückt das Subjek t – noch stärker als bei Descartes – ins Zentrum der Betrachtung, indem es zum weltsetzenden Ich wird. Das Ich setzt laut Fichte das Nicht-Ich als seinen Gegensatz und zugleich seine Bedingung zum Handeln und zur Erkenntnis seiner selbst (vgl. Biard 1990, S. 476, Ulfig 1997, S. 401; Fichte 1972 [1845/ https://doi.org/10.1515/9783110603316-002
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1 Entstehung und Kritik des neuzeitlichen Subjektbegriffs
1846], S. 53 f., 61 f.). Über die Beziehung zu einem im Bewusstsein liegenden Objekt reflektiert das Ich über sich selbst und seine Rolle in der Konstitution dieses Objekts (vgl. Dreisholtkamp 1998, S. 384; Riedel 1989, S. 98). Das Subjekt ist demnach in extremer Weise konstituierendes Fundament: „Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses blossen Setzens durch sich selbst; (…) Es ist zugleich das Handelnde, und das Product der Handlung (…) Handlung und That sind Eins und dasselbe; und daher ist das: Ich bin Ausdruck einer Thathandlung“ (Fichte 1997 [1794/1795], S. 16). Das Subjekt als Zugrundeliegendes schließt also zugleich die Unabhängigkeit des Objekts aus. Das Subjekt als geistiges Ich wird somit omnipotent: Es wird zu seinem eigenen Urheber und zugleich zum Konstrukteur der Wirklichkeit (vgl. Zima 2000, S. 103, 104). Vor allem beim frühen Fichte ist somit das Subjekt noch stärker als bei Descartes zum Grundprinzip der Philosophie erhoben, indem in ihm sowohl Selbst- als auch Welterkenntnis synthetisiert werden (vgl. Dreisholtkamp 1998, S. 384). Ein empirischer Realismus, wie er etwa noch bei Kant zu finden ist, wird in Fichtes subjektivem Idealismus aufgehoben. Auch das empirische Ich wird im geistigen Ich synthetisiert (vgl. Biard 2000, S. 103). Kants kopernikanische Wende stellt eine säkularisierte Unterordnung der Welt (als Objekt) unter die Sphäre des Subjekts dar (vgl. Zima 2000, S. 98, 100). Denn bei Kant wird das empirische Subjekt dualistisch vom transzendentalen Subjekt unterschieden. Das Subjekt existiert also einerseits als sinnlich-empirisches Wesen in der Erscheinungswelt, andererseits als vernünftiges, transzendentales Subjekt. Dieses wird bestimmt als die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis (vgl. Biard 1990, S. 475 f.). Wir erkennen demnach die Dinge in der empirischen Welt nur in den Kategorien Raum und Zeit als apriorische Anschauungsformen, die auf das Subjekt bezogen sind (vgl. KrV B 53; Kible 1998, S. 381). Auch bei Kant gilt somit das Subjekt als Ausgangspunkt des Erkennens und der Philosophie überhaupt. Das transzendentale Ich wird als ‚Substanz‘ vorgestellt, von der alle Sinnesvorstellungen und alle Erkenntnis der empirischen Welt ausgehen (vgl. Kible 1998 S. 381; Ulfig 1997, S. 402 f.; KrV, B 410 f.).¹ Für Kant ist das Subjekt also einerseits in einem noch umfassenderen Sinne ursächlich und einheitlich als bei Descartes. Andererseits jedoch setzt mit Kant eine bestimmte Form der epistemischen Kritik an einem Begriff vom Subjekt ein, welcher dieses als sich selbst bewusste, ursächliche Substanz verstanden haben möchte. Das Subjekt als denkendes Ich hat Kant zufolge keine substantielle oder metaphysische Qualität (vgl. Bowie 2003, S. 17 f.; Wendel 2001, S. 62). In diesem Sinne wird dem Subjekt zwar grundsätzlich die Möglichkeit zugesprochen, sich selbst zu erkennen, diese Erkenntnis vollzieht sich jedoch nur phänomenologisch, bezieht sich also nicht auf das ‚Subjekt an sich‘. Der menschliche
Bei Kant werden jedoch noch diese Dinge der Erscheinung von den ‚Dingen an sich selbst‘ unterschieden und somit ein empirischer Realismus gewahrt, welchen er mit seinem transzendentalen Idealismus ergänzt (vgl. Biard 1990, S. 476; Zima 2000, S. 98).
1.1 Descartes, Fichte, Kant
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Verstand kann auch auf sich selbst nur in den Anschauungsformen Raum und Zeit zugreifen und darüber hinaus keine Aussage über die Beschaffenheit des eigenen Subjekt-Seins machen (vgl. Bowie 2003, S. 17 ff.; Quitterer 2001, S. 262 f.; vgl.: KrV B 155, 404 ff.). So muss man Kant einerseits als Mitgestalter des neuzeitlichen Subjektbegriffs interpretieren, ihn aber andererseits als einer seiner ersten Kritiker ins Feld führen. Denn das Subjekt, welches von Kant als Ausgangspunkt von Erfahrung und Selbsterfahrung vorgestellt wird, ist erkenntnistheoretisch eher praktisch-pragmatisch als Funktion des Denkens bestimmt. Das Ich ist für Kant eine „gänzlich leere Vorstellung“ (KrV B 404), die eher identitätsstiftenden Charakter hat und im „regulativen Gebrauch“ (KrV B 672) entsteht und der keine Faktizität zukommt. Das Bewusstsein ist nur ein das Denken notwendig begleitender Vorgang, der dem Denken nicht substanziell vorangestellt ist (vgl. Riedel 1989, S. 92, 97; KrV B 404 ff.). Trotzdem spricht Kant dem Bewusstsein auch einen nicht-empirischen Charakter zu. Er führt die generelle Vorstellung von Einheiten auf eine Syntheseleistung des Ichs zurück, welche die Mannigfaltigkeit der Eindrücke in Kategorien zusammenfassen. Dies entspricht durchaus der Ansicht des frühen Nietzsche, wonach Wahrnehmungsprozesse auf aktive und kreative Leistungen des Ichs zurückzuführen sind (vgl. Bowie 2003, S. 20; WL). Das ‚Ich‘ selbst wiederum ist jedoch bei Kant a priori der Wahrnehmung vorangestellt: „The synthetic unity of the I is not guaranteed by our empirical perception because it is self-caused“ (Bowie 2003, S. 22). Somit geht die empirische Syntheseleistung auf eine Grundlage zurück, die vor jeder empirischen Wahrnehmung liegt. Der bei Kant noch a priori gedachte Ichbegriff wird bei Nietzsche einer Dymanisierung unterzogen, die wiederum auf leibliche Willen-zur-Macht-Prozesse zurückgeht (vgl. Bowie 2003, S. 303; NL 1887, KSA 12, 10[19](152), S. 465). Allgemein lässt sich jedoch sagen: Nietzsches Subjektkritik, welche den Begriff vom ursächlichen ‚Ich‘ dekonstruiert und depotenziert, steht, zumindest was den epistemologischen Aspekt betrifft, in kritischer Tradition zu der Philosophie Kants (vgl. JGB 17, KSA 5, S. 30 f.; Bowie 2003, S. 303).² Das Subjekt ist bei Kant aber nicht bloß als Erkenntnissubjekt zu begreifen, sondern es konstituiert sich auch praktisch. Praktisch ist das Subjekt autonom, insofern es einerseits unabhängig von empirischen Gesetzen, d. h. rein vernünftig existiert (negative Freiheit), und andererseits insofern es unter einem selbstgewählten moralischen Gesetz (positive Freiheit) lebt, d. h. es seinen Willen der universellen Gesetzgebung des kategorischen Imperativs unterstellt (vgl. Biard 1990, S. 476; Zima 2000, S. 101; KpVA 72– 87). Das Subjekt konstituiert sich in diesem Sinne – jenseits der erkenntnistheoretischen Zweifel – auf praktische Weise selbst, indem es die eigene Person aus der sittlichen Gesetzgebung heraus ableitet, wodurch die rein phäno-
Das Verhältnis von Kant und Nietzsches Erkenntnisphilosophie wird in Kapitel 1.3 etwas genauer erläutert.
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1 Entstehung und Kritik des neuzeitlichen Subjektbegriffs
menologischen Aspekte des Ich-Seins transzendiert werden (vgl. Riedel 1989, S. 94 ff., S. 97). Ein Subjekt, dessen Autonomie sich aus dem Befolgen allgemeingültiger Gesetze ableitet, ist, soviel sei schon hier gesagt, mit Nietzsches Ideal eines souveränen Individuums schwer vereinbar.³ Während also Nietzsches Zurückweisung des Subjektbegriffs erkenntnistheoretisch noch an Kants kritische Theorie anknüpft, lassen sich seine Auffassungen von autonomer Individualität nicht mehr mit kantischen Kategorien denken. Dem Modell einer auf Descartes und Fichte aufbauenden Subjektivität kommen also die Hauptcharakteristika der ‚Ursächlichkeit‘, der ‚Einheitlichkeit‘, der ‚Bewusstheit‘ und der ‚Autonomie‘ zu. Kant hält zwar begrifflich an diesen Termini fest, jedoch findet sich bei ihm bereits eine inhaltliche Differenzierung und Depotenzierung des Subjektbegriffs.
1.2 Dekonstruktion des Subjekts (historisch) Bei Kant wird demzufolge bei aller epistemologischen Skepsis gegenüber dem Gedanken vom ursächlichen Ich der Begriff vom Subjekt als Substanz zumindest begriffspragmatisch sowie praktisch als regulative Idee gerettet. Stärkere Zweifel an einem ursächlichen und autonomen Status des Subjekts sowie an der Vorstellung vom Subjekt als feststehende und gegebene Einheit regen sich sowohl in der Lebens- und Existenzphilosophie als auch in der revolutionären Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts. Hier wird nicht mehr versucht, den Terminus vom einheitlichen und stiftenden Subjekt begrifflich aufrechtzuerhalten. Vielmehr wird das Subjekt, auch in einem praktisch-ethischen Sinne, als dynamisch und werdend gedacht. Im nun Folgenden werden einige besonders prägende Theorien der Subjektdekonstruktion skizziert und auf Nietzsche und Foucault hin gedeutet. Was die Lebensphilosophie betrifft, ist vor allem Kierkegaard zu nennen, der – besonders in Abgrenzung zum deutschen Idealismus – die Existenz des Einzelnen in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Für Kierkegaard ist das Ethische der Einspruch und Widerspruch gegen eine rein objektive Vorstellung der Dinge (vgl. Dreisholtkamp 1998, S. 392, Kierkegaard 1982 [1846], S. 108, 123). Das Subjekt muss nicht als etwas bereits Gegebenes, sondern vielmehr als etwas Werdendes begriffen werden und gerade in dieser ethischen Selbstwerdung liegt für Kierkegaard die Aufgabe (vgl. Kierkegaard 1982 [1846], S. 104– 108, 118 – 123). Denn ethisches Handeln und eine
Vgl. Beck, L. W. 1995, S. 121 ff., S. 158 – 168 sowie Bowie 2003, S. 23 f. für eine genauere Darstellung von Kants praktischer Begründung der Freiheit sowie seiner Theorie des moralischen Gesetzes.Vgl. zur Kritik Nietzsches an Kants Auffassungen von Autonomie und Moral sowie zur Gegenüberstellung von Nietzsches souveränem Individuum und Kants kategorischem Imperativ: Ridley 2009, S. 192 ff.; FW 335, KSA 3, S. 562. Vgl. für eine detailliertere Untersuchung dieser Themenkomplexe: Kapitel 2,5, 3.1 sowie 4.5.3 der vorliegenden Arbeit.
1.2 Dekonstruktion des Subjekts (historisch)
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Selbstverbesserung wird erst dadurch möglich, dass das Subjekt nicht als etwas empirisch Gegebenes begriffen wird, sondern dadurch, dass es dem Werden unterworfen ist und somit die Möglichkeit der Veränderung in sich trägt. Ethisches Handeln wird also nicht mehr, wie bei Kant, von feststehenden Gesetzen aus betrieben, sondern das Subjekt konstituiert und transformiert sich umgekehrt erst über den Einspruch des Ethischen. Ein solchermaßen real existierendes und werdendes Subjekt wird von Kierkegaard auch als Selbst beschrieben. Das Selbst ist in einem stetigen Verhältnis zu sich, es ist nichts ontologisch Gegebenes, sondern etwas, was vom Subjekt erst hervorgebracht, im Sinne einer Selbstwerdung erst vollbracht werden muss. Das menschliche Selbst ist durch Gott gesetzt, d. h. es verwirklicht sich nur in einem Sprung ins religiöse Stadium, denn „alle Religiösität liegt in der Subjektivität, in der Innerlichkeit, darin, daß man zu sich selbst kommt“ (Kierkegaard 1962 [1850], S. 108– 109; vgl. Zima 2000, S. 129 ff.; Kierkegaard 1982 [1846], S. 190; Schrader 1995, S. 300). Was die Philosophen Kierkegaard und Nietzsche miteinander verbindet, ist sowohl die Zurückweisung des Begriffs vom traditionellen, objektiv gegebenen Subjekt als auch die damit einhergehende normative Forderung nach einer Selbstwerdung im Sinne einer Loslösung aus übernommenen und überkommenen moralischen, alltäglichen und philosophischen Denk- und Verhaltensmustern. Dieser Strang der Lebensphilosophie ersetzt also, pointiert gesprochen, den Begriff des Subjekts durch den des Selbst. Jedoch radikalisiert Nietzsche die Kritik am traditionellen Subjektbegriff noch weiter als Kierkegaard: Während bei diesem das Selbst noch stärker Züge des Subjekts trägt (Selbstbewusstsein, Ichheit, Reflexion), so wird der Begriff eines einheitlichen Subjekts oder Ichs bei Nietzsche dekonstruiert zugunsten eines übergeordneten Begriffs des Leibes, bei dem „die Seele (…) nur ein Wort“ ist „für ein Etwas am Leibe“ (Z I Verächtern, KSA 4, S. 39; vgl. Schrader 1995, S. 301). Vernunft, Reflexion und Bewusstheit sind für Nietzsche nur untergeordnete Funktionen der großen Vernunft des Leibes und spielen somit in seiner Vision des souveränen Individuums nicht mehr die hervorgehobene Rolle, die sie noch in der neuzeitlichen Tradition gespielt haben. Die Kritik am Subjektbegriff sowie die appellative Forderung nach einer Selbstwerdung setzen sich in der Existenzphilosophie Heideggers fort.Vor allem in Sein und Zeit kommt es zu einer massiven Kritik am klassischen Subjektivitätskonzept. Dem Begriff des Subjekts setzt Heidegger den des Daseins entgegen. Das Dasein ist in seinem Verhalten und in seinem Erkennen immer schon in einem vorgängigen Verhältnis zur Welt, welches Heidegger als ‚in-der-Welt-sein‘ charakterisiert. Der Mensch steht der Welt also nicht in einem Subjekt-Objekt-Verhältnis gegenüber, sondern sein Bezug zur Welt ist von Anfang an durchdrungen von einer vorgängigen und vor-rationalen Verstrickung in die Welt (vgl. Heidegger 2006 [1927], S. 52– 63, 114– 126, 142– 148; Schrader 1995, S. 301; Biard 1990, S. 481). Was nun den Prozess der Selbstwerdung betrifft, so unterscheidet Heidegger zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit. Im Seinsmodus des Man verfällt das Dasein in durchschnittliche und alltägliche Denk-, Verhaltens-, und Kommunikati-
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1 Entstehung und Kritik des neuzeitlichen Subjektbegriffs
onsmuster (vgl. Heidegger 2006 [1927], S. 126 – 130, 175 – 184,; Schrader 1995, S. 301). Die Uneigentlichkeit des Man kann bei Heidegger über die Grundbefindlichkeit der Angst eingesehen und durchbrochen werden. Ähnlich wie bei Kierkegaard wird dem Dasein bei Heidegger durch die Angst die Möglichkeit zur Eigentlich-Werdung offenbar. Durch das Herausgerissen-Werden aus dem Seinsmodus des Man eröffnet sich für den Menschen die Freiheit als Möglichkeit (vgl. Heidegger 2006 [1927], S. 184– 190). Aus erkenntnistheoretischer Sicht ist hiermit auch eine grundlegende Offenheit gegenüber der Wirklichkeit angesprochen, dahingehend, dass die Welt nicht mehr bloß als Objekt eines erkennenden Subjekts zu verstehen ist, sondern dass das Dasein vielmehr ‚offen‘ in der Welt steht, in welche es bereits unhintergehbar mit eingebunden ist. Bei Heidegger wie bei Nietzsche wird das neuzeitliche, sich-selbst-bewusste Subjekt abgelöst durch ein vor-rationales, leiblich bestimmtes und unhintergehbar mit der Welt verbundenes Selbst, an das die Forderung gestellt wird, aus alltäglichen Denk- und Verhaltensmustern auszubrechen. Was nun die politische bzw. die revolutionäre Kritik am neuzeitlichen Subjektbegriff angeht, so ist zunächst Max Stirner zu nennen. Stirner dekonstruiert – hierin Kierkegaard verwandt – das Subjekt in erster Linie anhand einer Kritik am deutschen Idealismus (vgl. Zima 2000, S. 124 ff.). Vor allem das omnipotente und welterzeugende Subjekt Fichtes gilt ihm als Abgrenzungspunkt: „Wenn Fichte sagt: ‚Das Ich ist Alles‘, so scheint dies mit meinen Aufstellungen vollkommen zu harmonisieren. Allein nicht das Ich ist Alles, sondern das Ich zerstört alles, und nur das sich selbst auflösende Ich, das nie seiende Ich, das – endliche Ich ist das wirkliche Ich. Fichte spricht vom ‚absoluten Ich‘, Ich aber spreche von Mir, dem vergänglichen Ich“ (Stirner 1991 [1845], S. 199). Auch Nietzsche ersetzt den Begriff vom unvergänglichen Ich durch den der „sterbliche(n) Seele“ (vgl. JGB 12, KSA 5, 26 f.). Bereits vor Nietzsche spricht also Stirner von der Vergänglichkeit des Subjekts und damit sowohl von seinem Werden als auch von seiner Gewordenheit. Nietzsche und Stirner verbindet die genealogische Kritik sowohl am traditionellen Subjekt als auch am Wahrheitsbegriff. Denn Stirner wie Nietzsche führen die herrschenden Wahrheiten auf Machtprozesse zurück, sehen sowohl in der ‚Wahrheit‘ als auch im ‚Subjekt‘ eine sprachlich hergestellte Konstruktion. Wie Nietzsche, der Wahrheit als „bewegliches Heer von Metaphern“ (WL, KSA 1, S. 880) definierte, sind auch für Stirner Wahrheiten nur „Phrasen, Redensarten, Worte“ (Stirner 1991 [1845], S. 390) und diese Phrasen und Worte sind wiederum konstitutiv für das Subjekt als eine mit sich selbst identische Einheit. Jedoch betont Stirner auch die Unzulänglichkeit dieser sprachlichen Konstruktionen: „Man sagt von Gott: ‚Namen nennen dich nicht‘. Das gilt von Mir: kein Begriff drückt mich aus, nichts, was man als mein Wesen angibt, erschöpft Mich: es sind nur Namen“ (Stirner 1991 [1845], S. 412; vgl. 1991 [1845], S. 390 f.; Zima 2000, S. 126; JGB 12, KSA 5, S. 26 f.; WL, KSA 1, S. 880 ff.). Das, was die eigentliche Identität des Menschen ausmacht, ist also weder auf Vernunft und Reflexion reduzierbar noch durch sprachliche Zeichen allein einholbar.
1.2 Dekonstruktion des Subjekts (historisch)
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Auch bei Marx findet eine (zum Teil auf Stirner basierende) Abgrenzung zur Subjektphilosophie des deutschen Idealismus statt. Geschichte ist für Marx mehr als „die eingebildete Aktion eingebildeter Subjekte“ (MEW 3, S. 27; vgl. Dreisholtkamp 1998, S. 393). Die Welt wird somit nicht zum Produkt eines im Zentrum stehenden Subjekts erklärt. Vielmehr wird eine dialektische und materialistische Beziehung zwischen Subjekt und Objekt angenommen, d. h. Subjekt und Objekt stehen sich nicht einfach beziehungslos gegenüber, sondern sind zugleich in einem einheitlichen und in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander (vgl. Biard 1990, S. 476 f.). Die historisch-materialistisch-genealogische These von Marx vermutet hinter der vermeintlich rational-subjektiv bestimmten Subjekt-Objekt-Struktur die eigentlich umgekehrt verlaufende Bewegung des „gesellschaftlichen Seins, das (das) Bewußtsein (der Menschen) bestimmt“ (MEW 13, S. 9). Marx erläutert dies durch folgende Überlegung: Den Menschen bleibt verschleiert, dass sie eigentlich die Subjekte, d. h. die Träger der Geschichte und einer möglichen gesellschaftlichen Veränderung sind, weil sie in einen Verschleierungsmechanismus eingebunden sind (vgl. Lutz-Bachmann 1988, S. 133, S. 170; Meißner 2010, S. 200). Dieser ergibt sich daraus, dass dem Menschen auf der ökonomischen Ebene das Produkt seiner Arbeit als unabhängig von ihm existierendes Objekt gespiegelt wird, also der produktive Anteil der Arbeitnehmer an der Wertgebung einer Ware verschleiert wird (vgl. Lutz-Bachmann 1988, S. 166; Horster 1979, S. 133). Dem Arbeitnehmer entgeht auf diese Weise, dass der Wert einer Ware durch seine Arbeitskraft bestimmt wird, und nicht objektiv, d. h. naturgegeben ist.⁴ Dass der Gewordenheitscharakter des Wertes der Waren dem Menschen verschleiert bleibt, impliziert, dass dieser Wert ihm wie ein fertiges, von seiner Arbeit unabhängiges Objekt gegenüber steht (vgl. Meißner 2010, S. 207). Der Entwicklung des modernen Kapitalismus und der damit einhergehenden Fetischisierung der Waren entspricht philosophiegeschichtlich das neuzeitliche Subjekt, welches sich rational auf eine natürlich feststehende Welt als auf sein Objekt bezieht (vgl. Horster 1979, S. 144). Das neuzeitliche, rationalistische Subjekt der Erkenntnis wird also von Marx historisch-genealogisch auf die ökonomische Ebene zurückgeführt. Das Subjekt der bürgerlichen Aufklärung, so die Stoßrichtung der Marxschen Kritik, wird zwar abstrakt als autonom gedacht, jedoch verbirgt sich hinter dieser Auffassung vom Subjekt eine Unterwerfungstechnik, die die Menschen beherrscht und lenkt, indem sie ihnen die gesellschaftlichen Verhältnisse als von ihnen unabhängig und unveränderlich darstellt (vgl. Meißner 2010, S. 232).⁵
Grundlage dieser Argumentation ist die Marxsche Annahme, dass menschliche Arbeit in der kapitalistischen Produktion einer doppelten Bestimmung unterliegt: zum einen bringt sie konkret materielle Gebrauchsgüter hervor, zum anderen jedoch produziert sie diese Güter auch als Ware und bestimmt somit auch den Wert dieser Ware. Menschliche Arbeit ist somit zugleich ein konkreter und ein abstrakter Akt (vgl. Meißner 2010, S. 208). Demzufolge lässt sich sagen, dass einerseits „die objektiven Strukturen der kapitalistischen Produktionsweise in konstitutivem Zusammenhang mit einer spezifischen Handlungsautonomie selbst-
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1 Entstehung und Kritik des neuzeitlichen Subjektbegriffs
Das autonome, neuzeitliche Subjekt wird somit auf Machtprozesse zurückgeführt, die der Bildung des Subjekts logisch vorausgehen und dieses in letzter Konsequenz unterwerfen. Spuren einer solchen generellen Betrachtungsweise finden sich, wie noch genauer zu sehen sein wird, sowohl in der Subjektkritik Nietzsches wie auch in der Foucaults wieder (vgl. GD Irrthümer 7, KSA 6, S. 95 f.; ÜS, S. 42). Während Nietzsche jedoch, wie erläutert, im Ganzen stärker in der Lebens- und Existenzphilosophie verankert ist, ist der eindeutige Anknüpfungspunkt für Foucaults Subjekt- und Machtphilosophie die Theorie des marxistischen Philosophen Louis Althusser. Im Anschluss an die marxistische Ideologiekritik entwickelt Louis Althusser das Konzept einer auf staatlicher Ideologie aufbauenden Subjektivierung, welches neben dem Marxismus vor allem den strukturalistischen und psychoanalytischen Einfluss Lacans und Freuds in sich aufnimmt (vgl. Althusser 1977; Scharmacher 2004, S. 60 ff.; Reckwitz 2008, S. 14, 92; Biard 1990, S. 478; Zima 200, S. 17– 21). Zentral für diesen Theorieansatz ist der Begriff der Interpellation. Hiermit beschreibt Althusser den Prozess der performativen Hervorbringung von Subjektivität innerhalb eines ökonomischen und kulturellen Kontextes. Mit dem Begriff der Interpellation bezeichnet er eine Anrufung, welche aus Individuen Subjekte macht. Auch Michel Foucault beschreibt die Aufgabe seiner Philosophie mit ganz ähnlichen Worten. Foucault möchte „die verschiedenen Formen analysieren, durch die das Individuum dazu gelangt, sich selbst als Subjekt zu konstituieren“ (RS, S. 18).⁶ Den Prozess der Anrufung verdeutlicht Althusser durch ein einfaches Beispiel: der Anrufung eines Polizisten, welcher ruft: ‚He, sie da!‘ (vgl. Scharmacher 2004, S. 52 f.; Althusser 1977, S. 142). Hier wird performativ das erzeugt, wovon man spricht: Der sich auf diesen Ruf Umwendende erkennt also nach Althusser gerade damit seine Subjektivierung an. Diese Anrufung der Individuen als Subjekte wird von Althusser mit dem Funktionieren der Ideologie in eins gesetzt (vgl. Scharmacher 2004, S. 53). Die ideologische Subjektwerdung erklärt Althusser folgendermaßen: Die Unterwerfung des Subjekts wird gerade darüber gewährleistet, dass man diese als ‚frei‘ anruft. Die Unterwerfung – und dies ist das Originelle der Subjekttheorie Althussers – findet also freiwillig statt, d. h. die Subjekte arbeiten auch selbst aktiv an ihrer Un-
bewusster Subjekte stehen“ (Meißner 2010, S. 233). Andererseits werden diese Umstände, die Ursache ihrer Subjektivierung sind, von den Einzelnen als unveränderbar empfunden: „Eine Pointe seiner [der Marxschen, Anmerkung des Verf. – J. H.] Argumentation besteht darin, eine für die kapitalistische Produktionsweise spezifische Versachlichung und Verselbstständigung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu konstatieren, die dazu führt, dass die Subjekte gesellschaftliche Verhältnisse als Wesenseigenschaften von Dingen und Menschen wahrnehmen und ‚Gesellschaft‘ ihnen dann wiederum als notwendige Folge dieser Natur von Dingen und Menschen erscheint“ (Meißner 2010, S. 200). Die genaue Differenzierung der Begriffe Individuum und Subjekt wird erst später herausgearbeitet, jedoch lässt sich schon allein aus dieser Formulierung Foucaults herauslesen, dass das Individuum bei ihm etwas (logisch) Ursprünglicheres ist, als das Subjekt – bzw. dass Subjektivität einen Modi der Individualität darstellt.
1.2 Dekonstruktion des Subjekts (historisch)
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terwerfung mit: „Ja, die Subjekte ‚funktionieren ganz von alleine‘ (…): das Individuum wird als (freies) Subjekt angerufen, damit es sich freiwillig den Anordnungen des SUBJEKTS unterwirft“ (Althusser 1977, S. 148; vgl. Althusser 1977, S. 147 f.; Scharmacher 2004, S. 54 ff.).⁷ In der Anrufung des Individuums als (freies) Subjekt gelingt es, beim Einzelnen ein Gefühl der Freiheit hervorzurufen und ihn hierdurch zugleich in ein allgemeines Raster von Subjektivität ein- und unterzuordnen. Althusser stellt in diesem Zusammenhang, hierin Foucault vorwegnehmend, die ambivalente sprachliche Bedeutung des Begriffs Subjekt heraus, in welcher Subjektivität nicht nur als Autonomes, sondern zugleich auch als Unterworfenes betrachtet wird: „Die geläufige Bedeutung dieses Wortes ist 1) eine freie Subjektivität: ein Zentrum der Initiative, das Urheber und Verantwortlicher seiner Handlungen ist; 2) ein unterworfenes Wesen, das einer höheren Autorität untergeordnet ist und daher keine andere Freiheit hat, als die der freiwilligen Anerkennung seiner Unterwerfung“ (Althusser 1977, S. 148; vgl. SM, S. 264 f.). Für Louis Althusser hat die Subjektivierung – ganz orthodox marxistisch gedacht – den verborgenen Sinn, die Reproduktion der Produktionsverhältnisse, genauer: die Reproduktion der Arbeitskraft, also der ‚menschlichen Produktionskräfte‘ zu garantieren (vgl. Scharmacher 2004, S. 69; Althusser 1977, S. 109 ff.). Denn die Reproduktion der Arbeitskraft erfordert für Althusser„nicht nur die Reproduktion ihrer Qualifikationen, (…) sondern auch gleichzeitig eine Reproduktion ihrer Unterwerfung unter die Regeln der etablierten Ordnung, d. h. für die Arbeiter die Reproduktion ihrer Unterwerfung unter die herrschende Ideologie und für die Träger der Ausbeutung und Unterdrückung eine Reproduktion der Fähigkeit, gut mit der herrschenden Ideologie umzugehen“ (Althusser 1977, S. 112). Staatliche Institutionen wie die Kirche, die Armee aber vor allem die Schule lehren die Ideologie und somit die Unterwerfung der Subjekte unter die bestehende Ordnung. Ideologie ist demzufolge laut Althusser eine „gelebte gesellschaftliche Praxis“ (Scharmacher 2004, S. 69), in welcher Individuen zu Subjekten werden, indem sie also dem Eindruck erliegen, sie wären autonom handelnde und einheitliche Personen. Hierbei handelt es sich jedoch, wie Althusser unter Bezugnahme auf Lacan feststellt, um eine Verkennung seiner selbst: „Das Subjekt (…) kann sich nur deswegen als autonom und einheitlich erfahren, weil es sich verkennt“ (Scharmacher 2004, S. 67). Diese Verkennung seiner selbst liegt Lacan zufolge begründet in der imaginären frühkindlichen Identifizierung des Kindes mit dem eigenen Spiegelbild (vgl. Scharmacher 2004, S. 61– 69, insbesondere S. 62). In einer Verbindung von Psychoanalyse und marxistischer Ideologiekritik stellt Althusser fest, dass sich die Individuen in kapitalistischen Gesellschaften notwendig
Nicht nur für Foucault, sondern auch für die governmentality studies wird – wie noch zu sehen sein wird – dieses aktive Mitgestalten an der eigenen, scheinbar freien Subjektivierung zum zentralen Baustein einer Theorie des Subjekts.
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verkennen, insofern ihre Anrufung als freie Subjekte ihre Unterwerfung verschleiert, welche darin besteht, freiwillig im kapitalistischen Produktionsprozess zu funktionieren und die zugeteilte Rolle anzunehmen (vgl. Scharmacher 2004, S. 56). Ideologie ist somit für Althusser „die Vorstellung des imaginären Verhältnisses der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen“ (Scharmacher 2004, S. 69). Die Subjektivierung ist also der ideologische Überbau für das Funktionieren der Reproduktion der menschlichen Produktivkräfte in einer kapitalistischen Gesellschaft.⁸ Die Frage, die an diese Thesen Althussers anknüpft, bringt Andreas Reckwitz folgendermaßen auf den Punkt: „Welche Codes, Körperroutinen und Wunschstrukturen muss sich der Einzelne in einem jeweiligen historisch-kulturellen Kontext einverleiben, um zum zurechenbaren, vor sich selber und anderen anerkannten ‚Subjekt‘ zu werden“ (Reckwitz 2008, S. 14)? In der Beantwortung dieser Frage lassen sich die Subjektkritiken Michel Foucaults und Friedrich Nietzsches anführen. Zunächst lässt sich sehr grob sagen, dass beide – hierin Althusser verwandt – in der Arbeit staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen den Versuch erkennen, das Individuum zu zivilisieren, zu disziplinieren und zu unterwerfen. Für Nietzsche und Foucault stellt die Disziplinierung des Menschen den Beginn seiner Subjektwerdung dar (vgl. GM II 3 – 24, KSA 5, S. 294– 336; ÜS). Foucaults Subjekttheorie ist auch als Versuch zu lesen, Althussers Überlegungen darüber, wie Individuen über staatliche Institution zu Subjekten gemacht werden, explizit zu machen. Nietzsche kann hierfür wiederum als wichtiger Wegbereiter betrachtet werden. Im nun Folgenden sollen also die theoretischen und praktischen Grundlagen der Subjektkritik Nietzsches und Foucaults untersucht und darauf aufbauend ein erster Ausblick auf deren positives Verständnis von Individualität und Subjektivität geworfen werden.
1.3 Dekonstruktion des Subjekts bei Nietzsche und Foucault Die Abgrenzung vom neuzeitlichen Subjektbegriff wird anhand der in Zusammenhang mit Descartes und Fichte dargestellten Kriteria der Einheitlichkeit, der Ursächlichkeit, der Bewusstheit und der Autonomie vollzogen.
Wie noch zu sehen sein wird, haben sowohl Foucaults Theorien der Subjektwerdung als auch die aktuellen Analysen der governmentality studies nachhaltig von dieser Theorie profitiert. Allerdings werden dort – im Gegensatz zum marxistischen Philosophen Althusser – auch die positiven Potenziale betont, die im neoliberalen Kapitalismus verborgen liegen. Da es für Foucault kein Außerhalb der Macht gibt, liegt auch eine Loslösung von aufgezwungenen Subjektformen nicht in einer Befreiung des Individuums von angeblichen äußeren repressiven Kräften, wie es der Marxismus suggeriert und einfordert, sondern in einem sorgenden Umgang mit sich selbst (vgl. MP, S. 92).
1.3 Dekonstruktion des Subjekts bei Nietzsche und Foucault
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Für Nietzsche ist der Glaube an ein ursächliches, unteilbares und einheitlich konzipiertes Subjekt (‚Ich‘) als Ursprung unserer Taten und Gedanken eine Fälschung, insofern es eine „Fälschung des Thatbestands ist, zu sagen: das Subjekt ‚ich‘ ist die Bedingung des Prädikats ‚denke‘“ (JGB 17, KSA 5, S. 31). Er führt den Glauben an tätige Subjekte, die sich erkennend auf eine äußere Welt beziehen, auf die Regeln der indogermanischen Grammatik mit ihren Formen Subjekt, Prädikat und Objekt zurück: Man schliesst hier nach der alten grammatischen Gewohnheit ‚Denken ist eine Thätigkeit, zu jeder Thätigkeit gehört Einer, der thätig ist, folglich –‘. Ungefähr nach dem gleichen Schema suchte die ältere Atomistik zu der ‚Kraft‘, die wirkt, noch jenes Klümpchen Materie, worin sie sitzt (JGB 17, KSA 5, S. 31).
Bei Descartes ist das Denken Prädikat des Ichs, bei Nietzsche wird diese Beziehung umgekehrt (vgl. Zima 2000, S. 137). Nietzsches dekonstruktive Subjektkritik ist also als eine Art Anti-Descartes zu verstehen. Hierzu Günter Abel: „‚Denken‘ ist Bedingung, ‚Ich‘ ist bedingt. Das Ich ist nicht das Denkende, vielmehr wird es gedacht. Das Ich ist ‚erst eine Synthese, welche durch das Denken selbst gemacht wird‘“ (Abel 1998, S. 146). Die Depotenzierung des Ichs, welche in Kants kritischem Projekt seinen Ausgang nimmt, wird also an dieser Stelle von Nietzsche aufgenommen und weitergeführt. Kant spricht davon, dass das Bewusstsein ein das Denken zwar notwendig begleitender, aber nicht bedingender Vorgang ist (vgl. Riedel 1989, S. 92, S. 97; KrV B 404 ff.). Nietzsche radikalisiert diese Ansicht, indem er das ‚Ich‘ als das Ergebnis von Denkprozessen begreift, an dem wiederum ein denkendes Subjekt nicht notwendigerweise beteiligt sein muss: ein Gedanke ist nicht an ein ‚Ich‘ geknüpft, sondern er „kommt, wenn ‚er‘ will“ (JGB 17, KSA 5, S. 31). Die religiöse Idee der Unsterblichkeit der Seele, die Nietzsche zufolge auch in zeitgenössischen Subjektphilosophien weiterlebt, soll durch die Vorstellung einer „sterbliche(n)“ (JGB 12, KSA 5, S. 27), d. h. werdenden und veränderbaren Seele ersetzt werden. Wie Stirner weist er somit die These des subjektiven Idealismus zurück, wonach das Subjekt allumfassend, welterzeugend und seiend ist. Dass Nietzsche zudem das Konstrukt des einheitlichen Subjekts immer wieder mit der „Atomistik“ (JGB 12, 17, KSA 5, S. 26 f., 30 f.) vergleicht, zeigt auch, dass er ebenfalls den traditionellen Begriff vom Individuum zurückweist. Denn mit dem Begriff Atom spielt Nietzsche vor allem auf das Atommodell Demokrits und die Seelenlehre Platons an. Die Tradition, von der sich Nietzsche hier absetzt, sieht also in der Seele bzw. im Individuum etwas Unteilbares und Einheitliches, welches den Kern menschlichen Denkens und Handelns ausmacht. Unter diesem Stichwort muss auch die Monadenlehre Leibnitz’ genannt werden, nach welcher das Individuum – in Analogie zum Atom – als unteilbare und in sich geschlossene monadische Einheit gedacht wird (vgl. Kaulbach 1976, S. 299 f.). Nietzsche wendet sich deutlich gegen eine solche Beschreibung von Individualität: „Der Einzelne, das ‚Individuum‘, wie Volk und Philosoph das bisher verstand, ist
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ja ein Irrthum: er ist nichts für sich, kein Atom [Hervorhebung durch den Verf. – J. H.] (…) nichts bloss Vererbtes von Ehedem“ (GD Streifzüge 33, KSA 6, S. 132). Für ihn ist das Individuum demnach nicht etwas, das unabhängig von der Welt in sich selber eingekapselt existiert. Nietzsches Vision vom souveränen Individuum muss dementsprechend von einer solchen atomistischen Vorstellung von Individualität abgegrenzt werden. Das Charakteristikum der Ursächlichkeit, welches dem neuzeitlichen Subjekt von Rationalismus und Idealismus – in Bezug auf die Erkenntnis der Außenwelt sowie in Bezug auf Willensakte in der Welt – unterstellt wird, wird von Nietzsche noch auf einer ursprünglicheren Ebene zurückgewiesen. Er sieht jene Idee vom Subjekt als Ursache unserer Taten und Gedanken als Folge der Idee vom ‚Willen als Ursache‘: Von den drei ‚inneren Thatsachen‘, mit denen sich die Ursächlichkeit zu verbürgen schien, ist die erste und überzeugendste die vom Willen als Ursache; die Conzeption eines Bewusstseins (Geistes) als Ursache und später noch die des Ich (des ‚Subjekts‘) als Ursache sind bloss nachgeboren (GD Irrthümer 3, KSA 6, S. 90).
Für Nietzsche ist also die Konstruktion vom Subjekt untrennbar mit der von der Willensfreiheit verbunden. Anders ausgedrückt: Dass das Ich als Ursache eines Gedankens interpretiert wird, hat seine Vorgeschichte in der Interpretation der empirischen Welt als Welt von Kausalitäten, von Ursache und Wirkung, und diese Interpretation geht wiederum darauf zurück, dass der Einfluss des Willens auf die äußere Welt „als gegeben feststand, als Empirie“ (GD Irrthümer 3, KSA 6, S. 90). So kann Nietzsche sagen: „Die älteste und längste Psychologie war hier am Werk, sie hat gar nichts Anderes gethan: alles Geschehen war ihr ein Thun, alles Thun Folge eines Willens, die Welt wurde ihr eine Vielheit von Thätern, ein Thäter (ein ‚Subjekt‘) schob sich allem Geschehen unter“ (GD Irrthümer 3, KSA 6, S. 91).⁹ Nietzsche dekonstruiert dementsprechend jene „Seelen-Atomistik“ (JGB 12, KSA 5, S. 31) auch hinsichtlich des Willensbegriffs. Er weist die Idee der Willensfreiheit zurück zugunsten seiner Lehre vom Willen zur Macht, verstanden als Pluralität miteinander konkurrierender Kraftquanta sowie der damit verbundenen Auflösung des Konzeptes eines einheitlichen und freien Willens (vgl. GM II 12, KSA 5, S. 313 ff.; Abel 1998, S. 84 f.; Müller-Lauter 1999, S. 71 ff.; Stegmaier 1994, S. 70 ff., 83 ff., 208). Kants
Auch diesen Punkt betreffend radikalisiert Nietzsche Kants Kritik. Bei aller Skepsis gegenüber dem traditionellen ‚Ich‘-Begriff wird bei Kant das nicht empirische Ich dem Wahrnehmen a priori vorangestellt (Bowie 2003, S. 22). Der Wille, der unseren Handlungen zugrunde liegt, wird von Kant zudem als für die empirische Wahrnehmung nicht erreichbar beschrieben. Für Nietzsche hingegen ist die Vorstellung vom nicht-empirischen und ursächlichen Willen eine Idee, die er deutlich zurückweist und sie gar als Grundirrtum bezeichnet, von dem sich andere Irrtümer ableiten (vgl. Bowie 2013, S. 18; GD Irrthümer 3, KSA 6, S. 90 f.).
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Depotenzierung des Subjekbegriffs wird also von Nietzsche radikalisiert und einer Pluralisierung, Naturalisierung und Verleiblichung zugeführt.¹⁰ In diesem Sinne ersetzt Nietzsche auch den Subjektbegriff durch den der „Subjekts-Vielheit“, verstanden als „Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte“ (JGB 12, KSA 5, S. 27). Nietzsche dekonstruiert die Vorstellung vom autonomen Willen als Prädikat eines einheitlichen Subjekts in JGB 19. Dort unternimmt er den Versuch, ein Geschehen darzustellen, das ohne den Begriff der Ursächlichkeit oder den eines Täter-Subjekts auskommt. Nietzsches eigener Willensdefinition liegt die Idee der Vielheit der Personen innerhalb einer Person zugrunde: „Bei allem Wollen handelt es sich schlechterdings um Befehlen und Gehorchen, auf der Grundlage, wie gesagt, eines Gesellschaftsbaus vieler ‚Seelen‘“ (JGB 19, KSA 5, S. 33). Das, was konventionell unter Willensfreiheit vorgestellt wird, interpretiert Nietzsche als Interaktion dieser verschiedenen ‚Seelen‘ untereinander: „Ein Mensch, der will–, befiehlt einem Etwas in sich, das gehorcht oder von dem er glaubt, dass es gehorcht“ (JGB 19, KSA 5, S. 32). Anders ausgedrückt: Die Einheit der Person wird zurückgewiesen als nur scheinbare Einheit, hinter der die diversen Willen-zur-Macht-Quanta um Vorherrschaft kämpfen (vgl. Abel 1998, S. 84 f.). Der Willensakt selbst, welcher in der philosophischen Tradition, von der Nietzsche sich abgrenzt, als einheitlicher Akt eines vernünftigen Subjekts verstanden wird, wird von Nietzsche in seine Einzelteile zerlegt: „Wollen scheint mir vor Allem etwas Complicirtes, Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist“ (JGB 19, KSA 5, S. 32). Neben jenen Zuständen des Befehlens und Gehorchens bestimmt Nietzsche das Fühlen als Eigenschaft des Willensaktes; Fühlen als ein Streben von etwas weg und zu etwas hin. Begleitet wird dieses Streben durch automatisierte und unbewusst verlaufende Bewegungsabläufe des Körpers, die das Ziel dieses Strebens umzusetzen versuchen. Darüber hinaus ist laut Nietzsche jeder Willensakt untrennbar begleitet von einem bestimmten Gedanken, welcher für die Zeit des Willensaktes vorübergehend die Herrschaft über die ‚Person‘ erlangt hat.
Aus Kants Sicht geht die generelle Vorstellung von Einheiten wahrnehmungsphilosophisch auf eine Syntheseleistung des Ichs zurück, welche die ungeordneten Eindrücke in Kategorien zusammenfasst. Der frühe Nietzsche übernimmt diese generelle Sichteweise durchaus in seine Erkenntniskritik, indem er Wahrnehmungsprozesse als aktive, künstlerische Methapernbildung bezeichnet (vgl. Bowie 2003, S. 20; WL). Nietzsches Kritik am Substanzbegriff geht jedoch noch weiter: denn auch der Glaube an eine Einheit des wahrnehmenden ‚Ichs‘ ist für ihn eine Syntheseleistung, welche wiederum auf vielfältige und einander widerstreitende, organische Kräfte (Willen-zur-Macht) zurück geht (vgl. Bowie 2003, S. 303; NL 1887, KSA 12, 10[19](152), S. 465). Die kantsche Skepsis gegenüber einem substantiell gedachten Ichbegriff radikalisiert sich also bei Nietzsche zu einer Abschaffung des Begriffs vom ‚Ich‘, indem dieser naturalisiert und in eine vorgängige leibliche Vielheit zurückübersetzt wird (vgl. NL 1888, KSA 13 14[79], S. 257 ff.). Ein wirklicher Bruch mit der Epistemologie Kants ist jedoch hierbei nicht auszumachen. Somit kann die Naturalisierung und Dynamisierung der Erkenntnistheorie Kants (‚Kant on wheels‘) im Ganzen als kritische Fortsetzung der kantschen Kritik gelesen werden.
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Die Freiheit des Willens schließlich leitet Nietzsche diesen Überlegungen folgend als Lustzustand des Willens zur Macht ab. Das heißt: Das Gefühl der Willensfreiheit ist ein anderer Begriff für die Empfindung, die sich einstellt, wenn sich ein Affekt gegen andere Affekte durchsetzt und dieser Prozess als Fähigkeit eines einheitlichen Willens interpretiert wird, sich gegen innere und äußere Widerstände durchzusetzen: „‚Freiheit des Willens‘ – das ist das Wort für jenen vielfachen Lust-Zustand des Wollenden, der befiehlt und sich zugleich mit dem Ausführenden als Eins setzt, – der als solcher den Triumph über Widerstände mit geniesst, aber bei sich urtheilt, sein Wille selbst sei es, der eigentlich die Widerstände überwinde“ (JGB 19, KSA 5, S. 33). Das Subjekt des Rationalismus und des deutschen Idealismus, welches als denkende, in erster Linie durch die Vernunft bestimmte Einheit definiert ist, wird dementsprechend von Nietzsche zurückgewiesen zugunsten des Konzepts einer leiblichen, auch triebhaften und unbewussten Vielheit, in der die menschliche Vernunft nur noch eine untergeordnete Rolle spielt: „unser Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen“ (JGB 19, KSA 5, S. 33; vgl. Z I Verächtern, KSA 4, S. 39). Wenn sich Nietzsche in GM II 2 also positiv auf den Begriff des Individuums bezieht, so kann dies nach dem hier Gesagten nur bedeuten, dass sein Begriff von Individualität den Begriff der Vielheit (und somit auch den der Leiblichkeit, der Affekte und des Unbewussten) miteinbezieht. Die ‚Bewusstheit‘, die bei Descartes und Fichte gerade als das Konstante und Unvergängliche der menschlichen Existenz vorgestellt wird, wird bei Nietzsche einer genealogischen Kritik unterzogen: Nietzsche erklärt die Herkunft des menschlichen Bewusstseins aus der ur- und frühgeschichtlichen Notwendigkeit, sich in Momenten der Gefahr in Zeichen und Gebärden mitteilen zu müssen. Erst später hat sich aus diesem Mitteilungsbedürfnis eine verfeinerte spezifisch menschliche Fähigkeit herausentwickelt (vgl. FW 354, KSA 3, S. 590 ff.). In der „Hauptsache“ bleibt das Bewusstsein jedoch „überflüssig“ (FW 354, KSA 3, S. 590), womit es von Nietzsche auf eine bloße Funktion im Überlebensprozess, auf einen Teil in der „grosse[n] Vernunft“ (Z I Verächtern, KSA 4, S. 39) des Leibes reduziert wird. Diese Überlegung hat auch Konsequenzen für das Konzept des souveränen Individuums: Nietzsche sieht im Denken, in der Bewusstheit und in der Sprache Ausdrücke des Uneigentlichen, d. h. des Gleichmachens von Nicht-Gleichem, der Vereinfachung, kurz: der „Heerden-Nützlichkeit“ (FW 354, KSA 3, S. 592). Da das Bewusstsein ehemals dazu diente, eine verständigende Brücke zwischen den Menschen zu errichten, so können auch Sprache und Zeichen immer nur etwas Allgemeines, Über-Individuelles vermitteln: „Unsre Handlungen sind im Grunde allesammt auf eine unvergleichliche Weise persönlich, einzig, unbegrenzt-individuell, es ist kein Zweifel; aber sobald wir sie in’s Bewusstsein übersetzen, scheinen sie es nicht mehr“ (FW 354, KSA 3, S. 592 f.). Nietzsche fährt fort, dass „Alles, was bewusst wird, ebendamit flach, dünn, relativ-dumm, generell, Zeichen, Herden-Merkzeichen wird“ (FW 354, KSA 3, S. 593). Neben einer erkenntnistheoretischen Kritik am metaphysischen Bewusstseinsbegriff klingt bei Nietzsche auch eine normative Komponente mit. Die Sprache und
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das Bewusstsein dringen auch praktisch in unser Leben ein, indem sie es verkleinern und verallgemeinern; das Bewusstsein bringt eine „verallgemeinerte, eine vergemeinerte Welt“ (FW 354, KSA 3, S. 593) mit sich.¹¹ Somit kann im Umkehrschluss bereits jetzt gesagt werden, dass das Entstehen des souveränen Individuums zur Voraussetzung hat, dass die Bewusstheit am Menschen zurückgedrängt wird, d. h. dass das Individuelle, die Vielheit und der Leib eine stärkere Würdigung auch in der Theorie erfahren (vgl. Z I Verächtern, KSA 4, S. 39; JGB 211, KSA 5, S. 144 f.). Nietzsches Kritik am neuzeitlich-cartesianischen Subjektmodell ist also auch eine praktische motivierte Kritik an einem Modell vom Menschen, das in erster Linie auf Vernunft und Bewusstsein beruht. Die Idee eines bewusst handelnden und entscheidenden Subjekts wird von Nietzsche auch zugunsten einer gesteigerten Bedeutung des Unbewussten depotenziert: „Denn nochmals gesagt: der Mensch, wie jedes lebende Geschöpf, denkt immerfort, aber weiss es nicht; das bewusst werdende Denken ist nur der kleinste Theil davon, sagen wir: der oberflächlichste, der schlechteste Theil“ (FW, S. 354, KSA 3, S. 592). Mit Nietzsches Kritik am Bewusstsein als den Menschen verkleinernde Kraft geht also nicht nur eine theoretische, sondern auch eine normative Aufwertung des Unbewussten einher: Nicht nur macht es den größten Teil unserer denkenden Tätigkeit
Günter Abel (Abel 2015) vertieft diese Überlegungen Nietzsches zur Sprache und zur Rolle des Leibes und verbindet sie mit Debatten aus der Philosophie des Geistes (Nagel, Pierce, Putnam, Quine u. a.). Mit Blick auf jenen Aphorismus FW 354 weist Abel darauf hin, dass sich Bewusstsein und Repräsentation immer in und über Sprache und in Zeichen vollziehen (vgl. Abel 2015, S. 47). Abel verknüpft zudem die sprachphilosophischen Gedanken über das Bewusstsein aus FW, 354 mit Nietzsches Philosophie des Leibes. Hierbei verbindet er diese Fragestellungen mit Positionen innerhalb der zeitgenössischen philosophy of mind: während der monistische Materialismus die Meinung vertritt, mentale Zustände seien identisch mit materiellen Prozessen, so vertritt der mentale Monismus im Gegenteil die Auffassung, dass mentale Zustände nicht auf physikalische Zustände reduziert werden können (vgl. Abel 2015, S. 38 f.). Demgegenüber verlangt Abel nach einem nicht-dualistischen Standpunkt und findet hierfür in Nietzsche einen Ansprechpartner. Denn in Nietzsches Philosophie stellt das Organische die ständige Vorbereitungsstufe für das Mentale/das Bewusstsein dar. In diesem Sinne ist man auf der einen Ebene ein Individuum mit geistigen Eigenschaften und auf der leiblichorganischen Ebene die Vielheit miteinander konkurrierender Kräfte (vgl. Abel 2015, S. 40). Die Regeln der Sprache und des Bewusstseins haben sich zum einen aufgrund der leiblichen Prozessualität und zum anderen pragmatisch, nämlich aufgrund der Notwendigkeit zur Kommunikation untereinander gebildet. Deshalb tragen die Zeichen grundsätzlich den Charakter der Interpretation, denn sie wurden in Hinsicht auf andere Menschen gebildet. Die Eigenschaften der Zeichen, so betont Abel im Rückgriff auf Putnam, bilden sich also in dieser Bezugname und kommen den Zeichen keinesfalls a priori zu (vgl. Abel 2015, S. 53 ff.; Putnam 1981). Eine solche auf pragmatischen und leiblichen Grundlagen fußende nietzscheanische Philosophie des Geistes, der Bewusstheit und der Zeichen führt Abel einer möglichen Verschmelzung mit der philosophy of mind zu: „This view can serve as a guide for a semiotically oriented and interpretativepragmatic philosophy of mind, language, and nature which transcends the dichotomy between materialism/physicalism and mentalism“ (Abel 2015, S. 54).
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aus, auch ist es dem Bewusstsein in Hinblick auf Individualität, Feinheit und Erkenntnisvermögen vorzuziehen (vgl. GD Vernunft 2, KSA 6, S. 75; Anderson 2005, S. 191; Schlimgen 1998, S. 188). Zudem ist das Unbewusste Motor der Mehrzahl unserer Handlungen und sogar unserer komplexeren Denkakte: „[D]as meiste bewusste Denken eines Philosophen ist durch seine Instinkte geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen“ (JGB 3, KSA 5, S. 17; vgl. NL 1885, KSA 11, 34[49], S. 435 f.). Für Nietzsche bedeutet die Verkennung des Unbewussten also nicht nur eine Verkennung der feineren und individuelleren Regungen in uns, sondern auch auch eine Verkennung des größten Teils unserer ‚wahren‘ psychischen Struktur. Das Konzept eines neuzeitlichen autonomen Subjekts wiederum erscheint Nietzsche, neben seinen erkenntnistheoretischen Einwänden (vgl. JGB 19, KSA 5, S. 32 f.), als Folge einer Ressentiment-Moral: „Die Menschen wurden ‚frei‘ gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu können, – um schuldig werden zu können“ (GD Irrthümer 7, KSA 6, S. 95). Die Idee des ‚freien Willens‘ entstand demzufolge unter der Ressentiment-Moral der Priesterklasse und hat den verborgenen Sinn, den Menschen Schuld für seine Handlungen empfinden zu lassen und ihn somit einem moralischreligiösen System zu unterwerfen. Die Idee eines stiftenden und autonomen Subjekts ist daher für Nietzsche in erster Linie kein philosophischer Gedanke, sondern hat ihre Ursache in den Bestrebungen, den Menschen für seine Handlungen Verantwortlichkeit fühlen zu lassen. Verantwortlichkeit soll der Mensch aber nicht im Sinne einer gelebten Souveränität empfinden (vgl. GM II 2, KSA 5, S. 293 f.), sondern nur, um dem System von Moral und Schuld zu gehorchen: „[F]olglich musste jede Handlung als gewollt, der Ursprung jeder Handlung im Bewusstsein liegend gedacht werden“ (GD Irrthümer 7, KSA 6, S. 95). Diese Analyse einer auf Unterwerfung fußenden Autonomie erinnert sowohl an Althussers These von der freiwilligen Unterwerfung des Individuums als Subjekt der Ideologie als auch an Foucaults Feststellung, dass der autonom gedachte Mensch „Resultat einer Unterwerfung [ist], die viel tiefer ist als er“ (ÜS, S. 42; vgl. Althusser 1977, S. 148). Auch die Marxsche These von der Konstitution des ‚rational-autonomen‘ Subjekts, welche dem Menschen die äußere Welt als von ihm unabhängig und somit unveränderbar spiegelt, klingt hier an (vgl. Kapitel 1.2 dieser Arbeit). Gemeinsam ist der Subjektkritik dieser vier Philosophen, dass sich ‚unterhalb‘ der Konstitution der Individuen als autonome Subjekte eine Unterwerfungsstruktur verbirgt, die dem Individuum selbst verschlossen bleibt. Nietzsche weist daher auch nur einen ganz bestimmten Begriff von Willensfreiheit und von Verantwortlichkeit zurück, wenn er schreibt: „Dass Niemand mehr verantwortlich gemacht wird, (…) dass die Welt weder als Sensorium, noch als ‚Geist‘ eine Einheit ist, dies erst ist die grosse Befreiung“ (GD Irrthümer 8, KSA 6, S. 96 f.).
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Ursächlichkeit und Autonomie im Handeln werden also dekonstruiert, weil sich dahinter eine viel größere Unfreiheit und Unterwerfung verbirgt.¹² In der Genealogie der Moral zeigt Nietzsche noch einen anderen und ursprünglicheren Zusammenhang zwischen Subjektwerdung und Unterwerfung: Er stellt dort die folgenschwere, zivilisationskritische These auf, dass sich moderne Subjektivität durch die „Verinnerlichung des Menschen“ (GM II 16, KSA 5, S. 322) konstituiert, welche Resultat einer nach innen gewendeten Aggression ist (vgl. Stegmaier 1994, S. 155 ff.; Butler 2001, S. 63 – 81). Erst durch eine Aggressionshemmung entsteht Nietzsche zufolge das, was man heute ‚moderner Mensch‘ oder ‚autonomes Subjekt‘ nennt. Reflexivität, Vernunft und Moral sind für Nietzsche gleichermaßen Folgen dieser Verinnerlichung, d. h. eines Aktes der Autoaggression. ‚Subjektivität‘, ‚Seele‘, ‚Willensfreiheit‘ und ‚Eigenermächtigung‘ haben ihre Entstehungsgeschichte in jener „Erkrankung“ (GM II 16, KSA 5, S. 322) des Menschen, werden also paradoxerweise als Resultate der Unfreiheit und einer lebensverneinenden Gehemmtheit vorgestellt.¹³ In den Aphorismen GM II 16 – 18 stellt Nietzsche die Kehrseite des souveränen Individuums dar. Der Mensch erscheint hier als das ‚Herdentier‘, als der berechenbare und ‚befriedete Mensch‘, welcher den ursprünglich gegen andere gerichteten, formgebenden und grausamen „Instinkt der Freiheit“ (GM II 18, KSA 5, S. 326) nun gegen sich selber richtet: „Die Abenteuer fanden nun in ihnen selbst statt; um den Preis, für andere berechenbar zu werden, wurden sie für sich selbst unberechenbar“ (Stegmaier 1994, S. 156). Der nun nicht mehr seine Umwelt, sondern sich selbst „vergewaltigende“ (GM II 18, KSA 5, S. 326) Mensch macht sich jedoch nicht nur selber leiden, sondern er formt sich, anstelle der Natur, auch nach dem Schema der sich-selbst-verleugnenden asketischen Moral. Die künstlerisch-kreative Erschaffung des Subjekts ist somit Folge einer lebensverneinenden und masochistischen Moral, die über den Menschen herrscht, insofern das „aktivische ‚schlechte Gewissen‘ (…) als der eigentliche Mutterschooss idealer und imaginativer Ereignisse“ (GM II 18, KSA 5, S. 326) zu verstehen ist. Die positive Wendung von diesem System der Strafe, des schlechten Gewissens und der Selbstmarterung deutet Nietzsche gegen Ende des Aphorismus GM II 16 an: „Fügen wir sofort hinzu, dass andrerseits mit der Thatsache einer gegen sich selbst gekehrten (…) Thierseele auf Erden etwas so Neues, Tiefes, Unerhörtes, Rätselhaftes, Widerspruchsvolles und Zukunftsvolles gegeben war, dass der Aspekt der Erde sich damit wesentlich veränderte“. Die asketisch-zivilisatorische Moral birgt somit auch die Möglichkeit einer Höherentwicklung des Menschen. Somit wird das schlechte Gewissen zwar als Krankheit dargestellt, aber als „eine Krankheit, wie die Schwangerschaft eine Krankheit ist“ (GM II 19, KSA 5, S. 327). Jedoch erfahren die Begriffe der Willensfreiheit und der Verantwortlichkeit im Zuge der Idee vom souveränen Individuum eine Umdeutung, wie im weiteren Verlauf der Arbeit zu sehen sein wird. Auch hierin besteht, wie später genauer gezeigt werden wird, eine große Übereinstimmung zu Foucaults These von Subjektivierung als Folge von Disziplinierung (vgl. ÜS; MP).
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Die Idee des souveränen Individuums als Folge und Synthese der animalischen Natur des Menschen einerseits und seiner sittlich-zivilisatorischen Dressur andererseits wird in Kapitel 2 Gegenstand der Betrachtung sein. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass bei Nietzsche die Kritik am autonomen Subjekt nicht bloß ein Beitrag zu erkenntnistheoretischen Debatten ist, sondern auch die Zurückweisung der Praxis asketischer Moral und zivilisatorischer Dressur darstellt. Foucaults Kritik des Subjektbegriffs ist stärker historisch als erkenntnistheoretisch geprägt, hat aber die gleiche Stoßrichtung, nämlich die genealogische Kritik des Subjekts als autonomes, sich-seiner-selbst-bewusstes, ursächliches und einheitliches ‚Subjekt der Erkenntnis‘: „Es wäre interessant, wenn man einmal zu klären versuchte, wie sich im Laufe der Geschichte ein Subjekt konstituiert, das nicht ein für alle Mal gegeben ist, das nicht den Kern bildet, von dem aus die Wahrheit Einzug in die Geschichte hält, sondern ein Subjekt, das sich innerhalb der Geschichte konstituiert“ (JF, S. 672).¹⁴ Dass für seine Auffassung vom Subjekt als Produkt der Geschichte vor allem Nietzsche Pate stand, macht Foucault in seinem Aufsatz Nietzsche, die Genealogie, die Historie deutlich, in welchem er dessen Genealogie affirmativ für seine kritische Vorgehensweise in Beschlag nimmt: „Ausdrücke wie Entstehung oder Herkunft bezeichnen den eigentümlichen Gegenstand der Genealogie besser als Ursprung (…). Die Analyse der Herkunft macht es möglich, das Ich aufzulösen (…). Die Erforschung der Herkunft schafft keine sichere Grundlage; sie erschüttert, was man für unerschütterlich hielt“ (NH, S. 103, 104). Für den späten Foucault ist eine ‚Hinwendung zum Subjekt‘ entscheidend, d. h. er interpretiert und re-interpretiert seine Schriften auf den Begriff des Subjekts hin. Für Foucault ist das zentrale Thema seines Schaffens folgendes: „Meine Absicht war es, (…) eine Geschichte der verschiedenen Verfahren zu entwerfen, durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden“ (SM, S. 243). Er unterteilt sein bisheriges Werk daraufhin in drei Unterpunkte im Sinne dreier historisch-genealogischer Ontologien unserer selbst (vgl. RS, S. 39; SM, S. 243; WA, S. 51 f.; Ruoff 2007, S. 196 ff.; Kögler 2004, S. 149;): 1) Die Ontologie unserer selbst als Erkenntnissubjekte (Objektivierung des sprechenden Subjekts in der Grammatik, Objektivierung des produktiven Subjekts in der Analyse der Ökonomie); Werke: Die Ordnung der Dinge, Wahnsinn und Gesellschaft, Die Geburt der Klinik 2) Die Ontologie unserer selbst in unseren Beziehungen zu einem Machtfeld (Disziplinierungs- Isolierungs- und Teilungspraktiken: Aufteilung in Normale und Verrückte, Kriminelle und Anständige, in Gesunde und Kranke, biopolitischer
Foucault wird ausschließlich nach der deutschen Übersetzung zitiert. Bis auf die Aufsätze und Interviews orientiert sich die Zitation hierbei an der Werkausgabe des Suhrkamp Verlags.
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Zugriff auf den Einzelnen als Gattungswesen); Werke Die Macht der Psychiatrie, Überwachen und Strafen, In Verteidigung der Gesellschaft, Der Wille zum Wissen 3) Die Ontologie unserer selbst in unseren Beziehungen zur Moral (Wie hat der Mensch gelernt, sich als Subjekt der Sexualität zu erkennen? Wie konstituiert sich der Mensch als ethisch handelndes Subjekt?); Werke: Die Geburt der Biopolitik, Der Gebrauch der Lüste, Die Sorge um sich, Hermeneutik des Subjekts, Die Regierung des Selbst und der anderen, Der Mut zur Wahrheit 1) Foucaults frühe Schrift Die Ordnung der Dinge ist der Versuch, in einer kritischhistorischen Analyse der Biologie, der Ökonomie, der Human- und der Sprachwissenschaften nachzuzeichnen, wie der Mensch als Wissens- bzw. Erkenntnissubjekt und als ökonomisches Subjekt konstituiert worden ist. Foucaults Interesse richtet sich in dieser frühen Werkphase auf die Art und Weise, wie Wissenschaften eine bestimmte Form der Subjektivität hervorbringen (vgl. SM, S. 243, OD, S. 14 f., 132, 390, 451, 462). Foucault geht von der grundlegenden These aus, dass sich Subjektivität über die Verbindung von Subjekt- und Wissensdiskursen formt (vgl. Ruoff 2007, S. 197). Er setzt sich hierbei immer wieder vom cartesianischen Subjektmodell ab. Die Vorstellung eines empirisch gegebenen und ahistorischen Subjekts wird zurückgewiesen zugunsten der Analyse der diskursiven Praktiken, die dieses Subjekt hervorgebracht haben. In der Geschichte treten immer wieder verschiedene und veränderbare Formen von Subjektivitäten auf, was es für Foucault unmöglich macht, überhaupt noch von einem autonomen Erkenntnissubjekt zu sprechen. In diesem Sinne kritisiert Foucault, hierin Nietzsche verwandt, die Idee des ursächlichen und vernünftigen Subjekts: „Wenn es aber einen Weg gibt, den ich ablehne, dann ist es der, (…) der dem beobachtenden Subjekt absolute Priorität einräumt, der einem Handeln eine grundlegende Rolle zuschreibt (…) kurz, der zu einem transzendentalen Bewußtsein führt“ (OD, S. 14 f.; vgl. Ruoff 2007, S. 197). In Wahnsinn und Gesellschaft analysiert Foucault die Konstitution des vernünftigen Subjekts über eine Unterscheidung zwischen ‚Wahnsinnigen‘ und ‚Vernünftigen‘ (vgl. Ruoff 2007, S. 198; Kögler 2004, S. 10 ff.; WG, S. 12, 176 f., 550 f.). Das rationale cartesianische Subjekt sowie das Subjekt der französischen Aufklärung haben sich nur über eine Abgrenzung vom Wahnsinnigen bzw. eine Ausgrenzung des Wahnsinns aus dem wissenschaftlichen Diskurs konstituieren können: „Der Irre ist der andere im Verhältnis zu den anderen: der andere – im Sinne der Ausnahme – unter den anderen – im Sinne der Allgemeinheit“ (WG, S. 176; vgl. Kögler 2004, S. 10). Nicht nur wird hierbei der Vernünftige in Abgrenzung zum ‚Irren‘ definiert, sondern auch der Wahnsinnige sieht und konstituiert sich selbst durch die Augen des Diskurses der Vernunft (WG, S. 177). 2) In Überwachen und Strafen und in der Vorlesungsreihe Die Macht der Psychiatrie stellt Michel Foucault das Subjekt in den Kontext seines Modells von der Disziplinarmacht (vgl. Ruoff 2007, S. 198). Foucault beschreibt Weisen der Subjektwerdung anhand von disziplinierenden, strafenden und isolierenden Techniken der Gefängnisse und Spitale im 19. Jahrhundert. Das Subjekt wird hier als Effekt und
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Produkt von Machtbeziehungen bzw. Machtprozessen und Wissensdispositiven vorgestellt, die in Institutionen wie dem Gefängnis, der Psychiatrie, der Schule oder dem Militär vollzogen werden (vgl. ÜS, S. 39, 42, 126, 248; SM, S. 249, MP, S. 93; Ruoff 2007, S. 140). In Überwachen und Strafen beschreibt Foucault den Zugriff der Macht auf den Körper, welcher über bestimmte Disziplinen stattfindet, die über die Strukturierung des Körperverhaltens eine spezifische Form von Individualisierung erzeugen (vgl. Kögler 2004, S. 83 ff.; Ruoff 2007, S. 200 f.; ÜS, S. 39, 42 f., 126, 157 f., 190, 208, 248). Die dauerhafte und lückenlose Überwachung, Beurteilung und Bestrafung des Verhaltens der Delinquenten in den Gefängnissen oder der Schüler durch das Lehrpersonal lässt eine bestimmte Subjektform entstehen, bei der die Überwachung der Subjekte schließlich in eine Selbstüberwachung umschlägt (vgl. Kögler 2004, S. 85). Die verstärkte Kontrolle und die hieraus entstehende Selbstkontrolle haben die maximale Nutzbarmachung menschlicher Ressourcen zum Ziel (vgl. Ruoff 2007, S. 148). Somit ist die humanistische Idee einer freieren und humaneren Gefängnispraxis sowie der damit verbundenen moralischen Idee eines autonomen Subjekts illusionär: Über die Verzahnung von Machtwirklichkeit und Wissensgegenstand hat man verschiedene Begriffe (…) konstruiert: Psyche, Subjektivität, Persönlichkeit, Bewußtsein, Gewissen usw., (…) man hat darauf die moralischen Ansprüche des Humanismus gegründet. Doch täusche man sich nicht: (…) Der Mensch, von dem man spricht und zu dessen Befreiung man einlädt, ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Die ‚Seele‘ wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den Körper ausübt (ÜS, S. 42).
Wie bei Nietzsche wird also auch bei Foucault das vermeintlich autonome Subjekt als Produkt einer Unterwerfungspraxis vorgestellt (vgl. GM II 16, KSA 5, S. 321 ff.; GD Irrthümer 7, KSA 6, S. 95 f.). Subjektivität ist für Foucault das immaterielle Element, durch das der individuelle Körper beherrscht wird. Das Individuum ist somit im Umkehrschluss etwas, das über den Begriff des Subjekts hinausführt. Für Foucault ist das Subjekt (die Seele) das Moment, welches zu der rein körperlichen Dressur des Menschen hinzukommt, um ihn als Individuum besser kontrollieren zu können (vgl. ÜS, S. 28). Das Individuum ist somit auch als ein leibliches Wesen beschrieben, und die Subjektivierung des Individuums hat die Funktion, den Zugriff auf den Körper des Individuums zu vervollkommnen, indem eine ‚innere Welt‘ konstruiert wird: „Die Seele: Gefängnis des Körpers“ (ÜS, S. 42). Der Delinquent, der zuvor besonders über Folter und körperliche Bestrafung diszipliniert und individualisiert worden ist, wird nun über die Konstruktion ‚innerlich-kognitiver‘ Vorgänge (Gewissen, Bewusstsein) interpretiert, verurteilt und somit subjektiviert. Diese Überlegungen Foucaults sind als genauere Ausformulierungen der These Althussers zu verstehen, nach welcher staatliche Institutionen Ausführungsorgane der Ideologie sind, welche aus Individuen unterworfene Subjekte machen (vgl. Althusser 1977).
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Im Gegensatz zu Althusser verzichtet Foucault jedoch auf den Begriff der Ideologie, da dieser eine ‚wahre Form‘ der Gesellschaft oder des Menschseins implizieren würde, die vom Zugriff der Macht befreit ist (vgl. WM, S. 34; NK, S. 188). In diesem Sinne beschreibt Foucault in Die Macht der Psychiatrie den Fehlglauben an eine solche freie, von den Fesseln der Macht gelöste Form der Individualität folgendermaßen: „Das disziplinarische Individuum ist ein entfremdetes, unterjochtes Individuum, es ist ein Individuum, das nicht authentisch ist; zieht es ab oder vielmehr: stellt die Fülle seiner Rechte wieder her, und ihr werdet als eine originäre, lebendige und widerstandsfähige Form ein Individuum finden, das das rechtsphilosophische Individuum ist“ (MP, S. 93 f.). Dieser ‚wirkliche‘ oder ‚wahre‘ Mensch, der Foucault zufolge in den rechtsphilosophischen Diskursen der Humanwissenschaften im 19. und 20 Jahrhundert als Gegenentwurf zu dem unterworfenen und unterdrückten Individuum vorgeschlagen wird, entpuppt sich bei genauem Hinsehen vielmehr als von Anfang an diszipliniertes Individuum, d. h. als Produkt isolierender Überwachungs- und Kontrolltechniken (vgl. Ruoff 2007, S. 140). Diese Erkenntnis zu unterschlagen, bedeutet laut Foucault, die Wirkungsweisen der Macht zu unterschlagen bzw. sie nur ungenügend zu analysieren. Untersucht Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft die Ausgrenzung des ‚Irren‘ als ‚Anderen‘ noch primär anhand der Analyse vernunftbetonter Diskurse, so wird diese Betrachtungsweise nun ergänzt durch die Untersuchung von Praktiken der Bestrafung, der Ausgrenzung und der Isolierung. Das Individuum in den Irrenanstalten des 19. Jahrhunderts wird analysiert als Effekt der dauernden Überwachung, der Aufteilung in ‚normal‘ und ‚anormal‘ sowie der sogenannten somatischen Singularität. Mit diesem Begriff beschreibt Foucault die Diskurse und Überwachungstechniken, die um den Körper herum installiert werden und auf eine bestimmte Individualität hin entworfen und auf sie bezogen werden, ja, diese spezifische körperliche Individualität somit erst erzeugen (vgl. MP, S. 90). Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es paradox bzw. unmöglich ist, das Individuum gegen solche Formen der Subjektivierung und der Einflussnahme durch die Macht zu verteidigen: „Tatsächlich ist das Individuum von vornherein durch die Tatsache dieser Mechanismen normales Subjekt, psychologisch normales Subjekt und infolgedessen implizieren die Entsubjektivierung, die Entnormalisierung, die Entpsychologisierung notwendigerweise die Zerstörung des Individuums als solches“ (MP, S. 92). Das Individuum kann also nicht ent-subjektiviert werden, weil die Subjektformen unhintergehbar ins Individuum eingeschrieben sind. In seiner Schrift Der Wille zum Wissen sowie in der Vorlesungsreihe In Verteidigung der Gesellschaft entwirft Foucault zudem das Konzept der Bio-Macht, welche den Machttyp der Disziplinarmacht ergänzt. Beide, Disziplinar- und Biomacht, richten sich grundsätzlich positiv auf das Leben, beiden geht es um die Steigerung der Potenziale des Individuums zugunsten einer besseren Nutzbarmachung in kapitalistischen Arbeitsprozessen (vgl. SW I, S. 168). Foucault zeichnet eine historische Linie dreier einander überlappender Machttypen: die Souveränitätsmacht, die Disziplinarmacht sowie die Bio-Macht.
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Die deutlich pyramidisch-vertikal organisierte Machtform der Souveränitätsmacht ist durch die klare Autorität des Herrschers (Monarch) gegenüber seinen Untertanen geprägt. Die Herrschaft des Souveräns ist dadurch ausgezeichnet, dass er generell über seine Untertanen verfügen kann. Dies gipfelt in dem Recht, über Leben und Tod der Untertanen zu entscheiden (vgl. Lemke, T. 1997, S. 135 f.; Kögler 2004, S. 93; Muhle 2013, S. 21 ff.). Rechtsphilosophische Diskurse im 17. Jahrhundert kritisieren das souveräne Recht zu töten und ermöglichen laut Foucault somit das Erscheinen jener disziplinierenden Macht, die ihre Maßnahmen auf den individuellen Körper richtet (vgl. Lemke, T. 1997, S. 133 f.). Aus dieser Machtform heraus konstituiert sich im 18. Jahrhundert wiederum die Bio-Macht, welche die Disziplinierung nicht ersetzt, sondern sie weiterentwickelt: Im Machttyp der Bio-Macht wird die Disziplinierung der Einzelkörper nicht abgeschafft, sondern sie wird vielmehr in die breitere Regierung der Bevölkerung integriert (vgl. Lemke, T. 1997, S. 136 f.; VG, S. 285). Jenes souveräne Recht ‚sterben zu machen und leben zu lassen‘ wird von Fouault im Machttyp der Bio-Macht hingegen umgekehrt: in der biopolitischen Regulierung geht es nun darum, ‚leben zu machen und sterben zu lassen‘ (vgl. VG, S. 291). Die BioMacht erlaubt somit einen weitaus positiveren und direkteren Zugriff auf das Leben, welcher sich zudem nicht mehr in vertikalen Befehlen ausdrückt: „Die Machtmechanismen entsprechen nicht mehr einer offensichtlichen Unterdrückung, sondern gehorchen positiven Imperativen: Die unterworfenen Subjekte sollen nicht mehr ausgebeutet, sondern gefördert werden, ihre Kräfte sollen nicht geschwächt, sondern gestärkt und organisiert werden“ (Muhle 2013, S. 25; vgl. Lemke, T. 1997, S. 135). Foucault spricht in diesem Zusammenhang von einer „Bio-Politik der Bevölkerung“ (SW I, S. 166). Hiermit sind Diskurse und Einflussnahmen rund um die Felder der Geburtenrate, der Sterblichkeit, der Gesundheit sowie der Lebensdauer gemeint (vgl. SW I, S. 167). Die Bio-Politik zielt also auf Erhaltung, Stärkung und Verlängerung des Lebens ab.¹⁵ An dieser Stelle sei zudem erwähnt, dass Foucault das Recht der Souveränitätsmacht auf Tötung zum einen normativ als barbarisches „Fest der Martern“ (ÜS, S. 44) ablehnt und zurückweist (vgl. ÜS, S. 93, 113).¹⁶ Zum anderen lehnt Foucault den Begriff
Foucault stellt sich die Frage, wie es im Zeitalter der Bio-Macht, welche auf Lebenserhaltung ausgerichtet ist, möglich ist, das Töten und sogar das Massenmorden zu legitimieren und stößt hierbei auf den Rassismus. Der Rassimus ermöglicht es, das biologische Kontinuum, auf das sich die BioMacht richtet, in ‚höhere‘ und ‚niedere‘ Rassen aufzuteilen. Der Rassimus erlaubt dementsprechend auch, das alte, souveräne Recht zu töten wieder zu re-implimentieren, indem die Tötung einer bestimmten Gruppe als notwendig dargestellt wird, um das Überleben der Gattung selbst zu sichern: „Die Tötungsfunktion des Staates kann, sobald der Staat nach dem Modus der Bio-Macht funktioniert, nicht anders gesichert werden als durch Rassimus“ (VG, S. 303; vgl. Lemke 2007, S. 112 ff.; Kögler 2004, S. 95; Muhle 2013, S. 35). Auch die Wiederkehr der Souveränitätsmacht im Rassismus und im modernen Massenmord zeigt, dass diese Machtform möglicherweise diejenige ist, von der sich Foucault am stärksten abgrenzt (vgl. VG, S. 300 ff.).
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der Souveränität auch aus einem, wenn man so will, epistemologischen Grund ab: er möchte den Begriff der Macht zunehmend anhand „post-souveräner Machtmechanismen“ (Muhle 2013, S. 254) untersuchen. Die Auffassung von Macht, die Foucault vertritt, um den Begriff der Bio-Macht zu erläutern, ist dem souveränen Machtbegriff diametral entgegengestellt, denn die Funktionsweise der Macht ist Foucault zufolge de-zentral, plural und anti-hierarchisch organisiert.¹⁷ Der Begriff der Souveränitätsmacht wird von Foucault also nicht bloß normativ, sondern auch aus philosophischen Gründen zurückgewiesen. Der Kritik eines Machtmodells, welches Macht lediglich als „Mächtigkeit einiger Mächtiger“ (SW I, S. 114) begreifen will, entspricht somit bei Foucault die Kritik an der Vorstellung eines in sich geschlossenen, ‚autonomen Subjekts‘, das eigenmächtig und unabhängig von äußerlichen Beziehungen handelt. Die Hoffnung auf ein souveränes Individuum wird jedoch von Foucault trotzdem nicht aufgegeben, sondern vielmehr in dem historischen Rückgang innerhalb seines Spätwerks mit den antiken Praktiken der Selbstsorge in Verbindung gebracht (vgl. SW II, S. 43). Foucaults Bezugnahme auf die Antike sowie auf die Möglichkeit eines souveränen Selbstbezugs leiten sich aus dessen Analyse des Begriffs der Gouvernementalität ab. 3) In den späten 1970er Jahren entwickelt Foucault in den Vorlesungsreihen Geschichte der Gouvernementalität I und II den Begriff der Bio-Politik zu dem Terminus der Gouvernementalität weiter (vgl. Muhle 2013, S. 250 ff.; Lemm 2015, S. 59; Lemke, T. 1997, S. 144 ff.; GG II, S. 43). Anhand der Untersuchung liberaler und neoliberaler Regierungstechniken will Foucault einen „weiteren Begriff von Biopolitik“ (Muhle 2013, S. 254) erreichen, indem der Liberalismus „als allgemeine[r] Rahmen der Biopolitik“ (GG II, S. 43) untersucht werden soll (vgl. Lemm 2015, S. 59). Allgemein lässt sich sagen, dass Focault den ‚Zugriff auf das Leben‘, den er der Bio-Politik attestierte, im Begriff der Gouvernementalität ausdifferenziert: „Die Gouvernementalität bezieht sich auf das Leben durch die Vermittlung sozialer, ökonomischer, geografischer, urbanistischer oder anderer externer Phänomene“ (Muhle 2013, S. 254). Die biopolitische ‚Regierung der Bevölkerung‘ wird im Raster der Gouvernementalität durch die Regierung des Einzelnen ergänzt und komplettiert. Der Begriff der Gouvernementalität beschreibt eine Praxis des Regierens, welche nicht mehr an einen einzelnen Souverän als Handlungssubjekt geknüpft ist, sondern vielmehr Technologien einsetzt, die in alle sozialen Bereiche eindringen (vgl. Opitz 2004, S. 19 ff.). Hiermit verbunden ist eine Regierungsform, welche das Individuum nicht mehr autoritär unterdrückt, sondern vielmehr versucht, es mittels politischökonomischer Diskurse und Praktiken als ‚autonomes Subjekt‘ in produktive Bahnen zu lenken (vgl. GG II, Nachwort Michel Sennelart, S. 483).
Vgl. hierzu ein sehr sprechendes Zitat Foucaults: „Die Macht ist nicht etwas, das man erwirbt, wegnimmt, teilt, was man bewahrt oder verliert; die Macht ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht“ (SW I, S. 115; vgl. SW, I, S. 113 ff.).
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Für unseren Zusammenhang, d. h. für die Darstellung der Kritik der Subjektivität bei Foucault, bedeutet dies: Foucault entwickelt die wirkungsmächtige These von der Gouvernementalität, um den Neoliberalismus als ein Bündel von Diskursen und Praktiken vorzustellen, in welchen das Individuum in erster Linie zu einem ökonomischen Subjekt wird, das seine Fähigkeiten und Ressourcen als Humankapital dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellt (vgl. Reckwitz 2008, S. 130 f.). Foucault bedient sich hierfür des Begriffs des Homo oeconomicus: „Der Homo oeconomicus ist ein Unternehmer, und zwar ein Unternehmer seiner selbst (…), der für sich selbst sein eigenes Kapital ist, sein eigener Produzent, seine eigene Einkommensquelle“ (GG II, S. 314).¹⁸ Der späte Foucault prägt für die Analyse der Gouvernementalität die Figur der Führung von Führungen. Regieren bedeutet für Foucault nicht bloß ein Regiert-Werden, sondern immer auch ein Sich-selbst-Regieren. Das heißt: Die Möglichkeit auf andere Individuen Macht auszuüben, setzt wiederum die Freiheit des Einzelnen voraus, da es sich sonst um reine Gewaltherrschaft handeln würde. Foucault fasst dies pointiert so zusammen: Sie [die Macht – J. H.] ist ein Ensemble von Handlungen in Hinsicht auf mögliche Handlungen; sie operiert auf dem Möglichkeitsfeld, in das sich das Verhalten der handelnden Subjekte eingeschrieben hat (…) stets handelt es sich um eine Weise des Einwirkens auf ein oder mehrere Subjekte, und dies, sofern sie handeln oder zum Handeln fähig sind (SM, S. 255).
Einerseits wird hierbei die Idee des freien und zum Widerstand fähigen Subjekts etabliert, andererseits jedoch ist eben dieses Subjekt eingebunden in eine Machtform, die gerade davon lebt und am meisten Kapital daraus schlägt, dass die Individuen als freie Subjekte angesprochen werden. In diesem Sinne wird die Freiheit von der Macht hervorgerufen, wird durch sie produziert und provoziert (vgl. Lemke/Krasmann/ Bröckling 2000, S. 14). Foucault bringt diese Definition von Regierung auf den Punkt: „Regieren heißt in diesem Sinne, das Feld eventuellen Handelns der anderen zu strukturieren“ (SM, S. 255). Die Macht ‚benötigt‘ zudem die freien Subjekte, damit diese zum Träger der Macht werden können, denn Macht ist für Foucault etwas, dass sich immer in und über Subjekte vollzieht (vgl. SM, S. 256). Der Machttyp der Gouvernementalität ist demnach genauso an potenziell freie Subjekte gebunden, wie diese sich umgekehrt nur in jenem Machttypen konstituieren können, welcher die Struktur des Handlungsfeldes, in dem sie agieren, bestimmt. Somit können die Subjekte nicht dauerhaft aus den Strukturen
Die Begriffe des „Humankapital[s]“ (GG II, S. 316), des „homo oeconomicus“ (GG II, S. 314) sowie der „Ressourcen“ (GG II, S. 316) verdeutlichen die biopolitische Komponente der Gouvernementalität: im Liberalismus vollzieht sich ein Diskurs der Naturalisierung des freien Marktes sowie der Individuen, die sich in diesem Markt bewegen (vgl. Lemm 2015, S. 59; GG II, S. 33, 316). So schlussfolgert Foucault bezüglich dieses Diskurses: „Es gibt eine Natur, die den Gegenständen des Regierungshandelns eigen ist“ (GG II, S. 33).
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der Macht, welche sie umgeben, ausbrechen: „Das Machtverhältnis und das Aufbegehren der Freiheit sind also nicht zu trennen“ (SM, S. 256). Innerhalb der Regierungsform des Gouvernement unterscheidet Foucault noch einmal zwischen den Freiheitskonzepten Liberalismus und Neoliberalismus. Freiheit wird im Neoliberalismus, im Gegensatz zum historischen Liberalismus, nicht mehr als vom Naturrecht gegebenes Faktum verstanden, sondern das Regieren wird von nun an legitimiert durch eine „künstlich arrangierte Freiheit“ (Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, S. 15) im Sinne des unternehmerischen Verhaltens der Individuen auf dem freien Markt. Die Arbeit hat demnach nicht mehr den Charakter des zur Bedürfnisbefriedigung notwendigen Übels, sondern wird selbst zur Subjektform, d. h. in der Arbeit vollziehen sich auch private Befriedigung und Selbstverwirklichung (vgl. Lemke/Krasmann/ Bröckling 2000, S. 15; Dean 2006, S. 113 ff.; Rose, 1989, S. 117 f.; GG II, S. 112– 148). Diese Modifizierung stellt eine Ökonomisierung des Regierens der Individuen dar, d. h. es handelt sich letztlich um eine umfassendere Lenkung menschlichen Verhaltens. In diesem Sinne ist die Ideologie des Neoliberalismus als Lösung für das Dilemma der Gouvernementalität zu bezeichnen, welches darin besteht, einerseits die Einzelnen möglichst umfassend regieren und leiten zu wollen und hierbei andererseits die Individuen als ‚freie Subjekte‘ anzurufen. Das bedeutet, dass der Neoliberalismus als spezifische „Machtstrategie“ (SM, S. 259) der Gouvernementalität zu verstehen ist. Durch diese Strategie werden Machtverhältnisse in Herrschaftsverhältnisse überführt, d. h. dass es zu einer „Fixierung von Machtverhältnissen“ (SM, S. 260) kommt, welche es erlauben, „in ziemlich konstanter Weise und mit ausreichender Gewißheit die Führung der anderen“ (SM, S. 260) zu ermöglichen. Der Neoliberalismus, welcher die Freiheit und die Selbstverwirklichung der Individuen in ökonomische Bahnen lenkt, ist somit zu verstehen als die Strategie der Macht, welche darin besteht, die in der gouvernen Regierungsweise potenziell schlummernden Widerstandspotenziale der Subjekte zu bündeln und einer Herrschaftsweise zuzuführen und unterzuordnen. Diese neoliberale Stärkung der Eigenständigkeit und der Selbstverwirklichung hat für die Subjektform des Einzelnen weitreichende Konsequenzen: Das Subjekt begreift sich nun in einem noch umfassenderen Sinne als homo oeconomicus, d. h. es versteht und behandelt auch sein Privatleben als Humankapital, und private Beziehungen (Familie, Liebesbeziehungen) werden unter den Gesichtspunkten der Nutzbarmachung und der persönlichen Weiterentwicklung betrachtet (vgl. GG II, S. 316 ff.). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der Regierungsform der Gouvernementalität zum einen eine Einbindung der Individuen in die ökonomische Rationalität gewährleistet ist. Zum anderen jedoch entsteht erst innerhalb dieses Machttyps die Möglichkeit der „Selbstregulierung“ (Muhle 2013, S. 254). Die Gouvernementalität spielt also hinsichtlich einer möglichen Eigenermächtigung in jedem Fall eine ambivalente, zumindest aber eine vorbereitende Rolle. Auf der Ebene der Bio-Macht zeigt sich bei Foucault eine ähnliche Ambivalenz in Bezug auf den Begriff der Sexualität, welchen er in seiner Reihe Sexualität und
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Wahrheit ausbreitet. In Der Wille zum Wissen (SW I) hatte Foucault die Sexualität noch als Faktor biopolitischer Machtausübung analysiert.¹⁹ Die Sexualität wird zum Schema für eine angebliche Selbsterkenntnis des Menschen, hinter der sich jedoch eine Regulierung des Einzelnen und seiner Selbstwahrnehmung verbirgt (vgl. SW I, S. 188). ‚Hinter‘ dem Sexualitätsdispositiv, in dem sich ein ‚Wille zum Wissen‘ über die Sexualität der Einzelnen ausdrückt, steht somit eine Bio-Politik, welche auf biologische Faktoren wie Fortpflanzung, Geburtenrate und Lebensdauer zugreift (vgl. Kögler 2004, S. 97). In Der Gebrauch der Lüste (SW II) und Die Sorge um sich (SW III) entfaltet Foucault einen anderen Zugang zum Körper und zur Sexualität der Individuen. Die Logik der Bio-Macht ist hiermit nicht gänzlich durchbrochen, jedoch wird der schöpferische und produktive Aspekt, welcher der Bio-Macht innewohnt, nutzbar gemacht zugunsten einer autonomen Selbstgestaltung, welche Foucault unter den Paradigmen der ‚Herrschaft über sich‘ und der ‚Ästhetik der Existenz‘ beschreibt (vgl. Muhle 2013, S. 265 ff.; SW II; SW III). Durch asketische Praktiken der Selbstsorge kann somit auf den eigenen Körper eingewirkt werden, um ein autonomes Verhältnis zu den eigenen Lüsten und Leidenschaften zu entwickeln und sich auf diese Weise auf autonome Weise als Subjekt seiner Handlungen zu etablieren.²⁰ Auch wenn der Begriff der Bio-Politik von Foucault fast ausschließlich kritisch verwendet wird, so ließe sich doch im Anschluss an diese Überlegungen von einem positiven Begriff von Bio-Politik sprechen, welchen Foucault in SW I und SW II ausbuchstabiert.²¹ Sowohl Bio-Macht als auch Gouvernementalität bergen in sich somit sowohl die Möglichkeit der Regulierung der Individuen, wie auch – zumindest potenziell – die ihrer Befreiung. In seinem späten und für die Situierung seines Gesamtwerks zentralen Aufsatz Das Subjekt und die Macht spricht Foucault von „Kämpfen“ (SM, S. 246), die gerade nicht primär den „Angriff auf diese oder jene Machtinstitutionen“ (SM, S. 246) zum Ziel haben, sondern Angriffe auf die „Form der Macht“ selbst, d. h. den Prozess, der „das Individuum in Kategorien einteilt, ihm seine Individualität aufprägt, es an seine Identität fesselt“ (SM, S. 246). Die Kämpfe richten sich also „gegen all das, was das Individuum an es selber fesselt und dadurch anderen unterwirft (Kämpfe gegen Subjektivierung, gegen Formen von Subjektivität und Unterwerfung)“ (SM, S. 247).
In der Sexualität treffen sich die disziplinierenden Maßnahmen, welche sich auf den Einzelkörper richten mit den biopolitischen Diskursen und Praktiken, welche die Bevölkerungsregulierung zum Ziel haben (vgl. SW I, S. 173 ff.). Die drei Bände über Sexualität und Wahrheit sind somit als Kontinuum zu lesen und bauen aufeinander auf. Maria Muhle fasst diesen Sachverhalt pointiert so zusammen: „Damit wären jedoch Ästhetik der Existenz und Biopolitik zwei Seiten derselben Medaille, d. h. eines Lebensbegriffs, dessen innere Dynamik von der Biopolitik aufgefangen und von der Ästhetik der Existenz auf die ethische Lebensführung bezogen wird“ (Muhle 2013, S. 265). Lemm spricht in diesem Sinne – und im Anschluss an Eposito (Eposito 2008) – von „affirmative biopolitics“ (Lemm 2015, S. 61).
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Hier ist also eine Vision von Individualität angesprochen, die eine andere, autonomere Art der Subjektivierung und der Selbstwerdung in Aussicht stellt und unfreie Arten der Subjektivierung zurückweist. Somit wird auch die Möglichkeit eröffnet, eine andere, freiere Form von Individualität zu etablieren, ohne damit „die Zerstörung des Individuums als solches“ (MP, S. 92) zu betreiben. Vielmehr wird an dieser Stelle zwischen jener Individualisierung (als Effekt der Macht) und Individualität (als potenziell freie Selbstgestaltung) unterschieden. Wie nun vollzieht sich bei Foucault dieser Prozess der Konstruktion von neuen Formen der Subjektivität und der Individualität? In seinem Spätwerk entwirft Foucault eine auf den Arbeiten Pierre Hadots (Hadot 1991) aufbauende Untersuchung der antiken und spätrömischen Selbstsorgepraktiken, welche sowohl den diskursiven als auch den disziplinierenden Formen der Subjektivierung historisch vorangehen und somit bis zu einem gewissen Grade eine Entkopplung von diesen unfreien Arten der Selbstkonstitution ermöglichen. Voraussetzung für eine solche autonome Selbstwerdung ist die praktische, im realen Leben verlaufende Konstitution seiner selbst als moralisches Subjekt. Zu diesem Zweck untersucht Foucault die Techniken der antiken sexuellen Selbstkontrolle, welche zu einer solchen Konstitution im Sinne einer Ethik des Selbst beitragen sollen (vgl. Kögler 2004, S. 153 ff.; Schmid 1991, S. 69; Ruoff 2007, S. 141, 187 ff.; Deleuze 1987, S. 131 ff.; Detel 1998, S. 76 ff.; Kolf-van Melis 2003, S. 154– 179; Wolfers 2009, S. 208 – 229; HS, S. 313; RS, S. 18; MW, S. 21 ff.; SW II, S. 39 ff.). Ausgangspunkt der Analyse dieser dritten Form menschlicher Subjektwerdung ist für Foucault eine „Verschiebung“ (RS, S. 18) in der Analyse menschlicher Subjektivität: „Und hier bestand die Verschiebung darin, daß es mir schien, man müsse die verschiedenen Formen analysieren, durch die das Individuum dazu gelangt, sich selbst als Subjekt zu konstituieren, anstatt sich auf eine Theorie des Subjekts zu beziehen“ (RS, S. 18). Anstatt also von einer fertigen und festen Vorstellung von Subjektivität auszugehen, sollen die verschiedenen Arten der Konstitution der Subjekte als dynamische und vergängliche Abfolge in der Zeit betrachtet werden (vgl. Ruoff 2007, S. 197). Der Vorgang, in dem Individuen zu Subjekten werden, hat sowohl eine aktive als auch eine passive Komponente: er ist sowohl Effekt einer Machtform (vgl. SM, S. 246) als auch Prozess einer aktiven Selbstgestaltung (vgl. RS, S. 18). Foucault analysiert, im Sinne Althussers, den Doppelcharakter des Subjekts: „Das Wort Subjekt hat einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemanden unterworfen sein und durch Bewußtsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein“ (SM, S. 246 f.).²² Auch Nietzsches Lehre vom souveränen Individuum umfasst, wie noch genauer zu sehen sein wird, einen solchen Doppelcharakter. Auch die souveräne Individualität ist sowohl Folge einer zivilisatorischen Unterwerfung und Dressur (Sittlichkeit der Sitte) als auch Ergebnis einer aktiven Selbstbestimmung (eigentliche Philosophen). Die Konstitution des souveränen Individuums vollzieht sich also sowohl aktiv als auch passiv (vgl. zum Begriffspaar aktiv-passiv bei Nietzsche: Deleuze 1985, S. 45 – 81).
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Man kann demnach bis hierhin sagen: Subjektivität ist für Foucault eine spezifische Form des Individuums, d. h. Subjektivität ist ein Modus der Individualität. Individualität geht also logisch, nicht chronologisch der Subjektivität voraus. Subjektivität ist bei Foucault dementsprechend etwas, das sich am Individuum vollzieht. Also bleibt im Umkehrschluss ein „individuelle[r] ‚Rest‘ jenseits des Subjekts“ (Reckwitz 2009, S. 18). Mit Andreas Reckwitz lässt sich demnach eine Widerstandsfähigkeit des Individuums konstatieren: „Andererseits kann der Begriff des Individuums eine Instanz bezeichnen, die sich gegenüber einer inkorporierten kulturellen Subjektform durch eine bestimmte (…) Widerstandsfähigkeit auszeichnet, gewissermaßen ein Ensemble von Idiosynkrasien, die von der Subjektform hervorgerufen werden und sich ihrer zugleich nicht fügen“ (Reckwitz 2008, S. 18). Eine genauere Untersuchung des foucaultschen Konzepts der Selbstsorge sowie dessen Bezug zur antiken Lebensphilosophie, zum Stoizismus sowie zum Kynismus werden in Kapitel 4 dieser Arbeit vorgenommen, in welchem es u. a. um einen philologischen Vergleich zu Nietzsches Werk Ecce homo gehen wird. Hier wird zu sehen sein, wie sich die autonomen Formen von Individualität bei Nietzsche und Foucault konstituieren. Foucault wie Nietzsche bieten vor dem Hintergrund des bis hierher Gesagten zwei Konzepte von Individualität an: Nietzsche trennt die Vorstellung eines isolierten, ‚atomaren Individuums‘, in welcher die Gewordenheit und Konstruiertheit jeglicher Substanzialität verkannt wird (vgl. GD Streifzüge 33, KSA 6, S. 132), von seinem eigenen Konzept einer souveränen Individualität, welches den Gedanken der Vielheit, des Inder-Welt-Seins, des Willens-zur-Macht sowie der Leiblichkeit und des Unbewussten miteinbezieht. Foucault hat mit dem Individuum sowohl das disziplinierte Individuum (vgl. MP, S. 92 ff.) als auch ein Individuum im Sinne einer freien Selbstwerdung und Selbstgestaltung (SM, S. 246 f.) im Blick. Das Individuum wird hierbei grundsätzlich als etwas dem Subjekt logisch Vorgängiges betrachtet, d. h. das Individuum umfasst auch Charakteristika (wie die Leiblichkeit), die über die Subjektivität hinausreichen. Indem das Individuum in einem historischen Prozess gewisse Subjektformen herausbildet, erhält es somit auch bestimmte Charakteristika wie die der Reflexivität, der Autonomie oder der Einheitlichkeit. Mit dieser Sichtweise wird jedoch umgekehrt nicht die empirische Gegebenheit eines Individuums mit einem festen Wesenskern postuliert. Eine solche Vorstellung vom Individuum bleibt sowohl bei Nietzsche wie auch bei Foucault eine auf Machtprozessen aufbauende Konstruktion. Vielmehr wird bei beiden auch das Individuum als etwas beschrieben, das dem Werden und der stetigen Veränderung unterworfen ist. Das Subjektive ist wiederum etwas, was dem Individuellen notwendig zukommt und freie und unfreie Ausformungen haben kann. Die vorliegende Arbeit wird, nachdem Nietzsches und Foucaults Subjektkritik sowie deren Kritik am traditionellen Modell vom Individuum dargestellt worden sind, im weiteren Verlauf vor allem deren eigene, positive Begriffe von Individualität her-
1.3 Dekonstruktion des Subjekts bei Nietzsche und Foucault
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ausarbeiten. Hierbei soll Nietzsches Begriff des souveränen Individuums im Mittelpunkt stehen, da sich in ihm nicht nur sein Konzept der Person, sondern auch andere wichtige Konzepte der nietzscheanischen Spätphilosophie sowie der Philosophiegeschichte im Allgemeinen in gebündelter Form darstellen lassen (Gewissen, Verantwortlichkeit, Moral, Ethik, Willensfreiheit). Foucaults Untersuchungen der griechischen und römischen Selbstsorge werden in erster Linie zur Erläuterung beitragen, wie man Nietzsches Ecce homo in einem produktiven Sinne als praktische Anleitung zur Konstitution souveräner Individualität interpretieren kann. Die Methode der Genealogie ist hierbei für Foucault sowie für Nietzsche die entscheidende Schnittstelle zwischen der historischen Analyse unserer eigenen Subjektwerdung einerseits, und der Möglichkeit der zukünftigen Transformation unser Selbst andererseits. Wie nach einer solchen Loslösung dann die neue Identität des Menschen aussehen soll, lassen Foucault und Nietzsche scheinbar offen bzw. verbinden dies mit einem kreativ-schöpferischen Akt: „Wir müssen uns das, was wir sein könnten, ausdenken und aufbauen“ (SM, S. 250). Nietzsche sagt in ähnlicher Weise: „[W]ir aber wollen die Dichter unseres Lebens sein.“ (FW 299, KSA 3, S. 538) oder: „Wir aber wollen Die werden, die wir sind, – (…) die Sich-selber-Schaffenden“ (FW 335, KSA 3, S. 563). Es geht also beiden, Foucault und Nietzsche, darum, in der genealogisch-rückschauenden Methode ein anderes Seinkönnen zu ermöglichen: „Und diese Kritik wird (…) in der Kontingenz, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, die Möglichkeit auffinden, nicht länger das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken“ (WA, S. 49). Dass dies keine bloßen esoterischen oder leeren Formeln sind, sondern dass sich hinter diesen Losungen handfeste Theorien sowie konkrete und alltägliche Praktiken der Selbstwerdung verbergen, wird im Laufe der Arbeit genauer ausgeführt werden, indem vor allem Nietzsches Konzept der kreativen Selbstschöpfung mit dem der eigentlichen Philosophen (vgl. JGB 203, 211, KSA 5, S. 126 ff., 144 f.) in Verbindung gebracht wird und hierüber eine Konkretisierung erfährt. In den drei folgenden Kapiteln wird in diesem Sinne versucht werden, anhand Nietzsches Idee des souveränen Individuums sowie Foucaults Analyse antiker Selbstsorgepraktiken eine Form von Individualität herauszuarbeiten, die den Kriterien der Eigenermächtigung und der Autonomie im Handeln genauso gerecht wird, wie der Kritik an dem cartesianischen Modell von Subjektivität und Willensfreiheit. Die Ergebnisse dieser Untersuchung praktisch-philosophischer Selbstsorge und Selbstverwirklichung sollen daraufhin auf Debatten der zeitgenössischen Subjektphilosophie angewendet werden. Bevor der Vergleich zwischen Nietzsches und Foucaults Individualitätskonzepten begonnen werden kann, gilt es zunächst, mittels einer genauen begrifflichen Analyse Nietzsches Idee des souveränen Individuums in den Kontext seiner Philosophie zu stellen. Hierfür werden die wichtigsten Begriffe, mit denen er das souveräne Individuum beschreibt, mit anderen Textstellen aus seinen Schriften in Verbindung gesetzt.
2 Begriffliche Untersuchung des souveränen Individuums Für die Analyse des Begriffs des souveränen Individuums sind zunächst und vor allem die Aphorismen 1 und 2 aus dem zweiten Abschnitt der Genealogie der Moral von Bedeutung. Hier stellt Nietzsche sein Konzept des souveränen Individuums erstmals und einmalig vor. Die Begriffe der Willensfreiheit und der Autonomie werden dort mit dem Begriff der Souveränität zum Teil synonym gesetzt. Willensfreiheit bzw. Souveränität wird hier vor allem als „Herrschaft über sich“ und „über die Umstände“ (GM II 2, KSA 5, S. 294) vorgestellt, d. h. Nietzsche rückt den Begriff der Willensfreiheit offenbar in die Nähe seines Machtbegriffs. Die vorliegende Arbeit wird diesen Verknüpfungen von Autonomie, Macht und Souveränität nachgehen und den hieraus gewonnenen Begriff von Autonomie von dem der Tradition abgrenzen. Weitere zentrale Begriffe, die Nietzsche zur Charakterisierung der Idee souveräner Individualität dienen, sind die des Erinnerns, des Vergessens sowie der Sittlichkeit der Sitte (vgl. GM II 2, KSA 5, S. 293 f.). In der Forschung wurde wiederholt betont, dass Nietzsche den Begriff des souveränen Individuums in seinem gesamten veröffentlicht en Werk nur ein einziges Mal erwähnt und diesem Gedanken somit innerhalb seiner Philosophie keine übergeordnete Stellung zuzusprechen ist (vgl. Acampora 2006, S. 153; Hatab 2008b, S. 76). Dem ist entgegenzuhalten, dass Nietzsche, wenn er über Individualität spricht, an diversen Stellen seines Werkes Begriffe verwendet, die seiner Beschreibung des souveränen Individuums in Inhalt und Form sehr nahe kommen (vgl. M 433, KSA 3, S. 266; NL 1880, KSA 9, 6[158], S. 237). Außerdem lassen die Begriffe, die Nietzsche zur Charakterisierung des souveränen Individuums verwendet , Verbindungen zu anderen philosophischen Schwerpunkten seines Werkes zu. Die Problematik der Konzeption des souveränen Individuums muss also demzufolge weitaus breiter diskutiert werden als nur in Bezug auf die Textstelle in GM II 1– 2. Ein Beispiel für eine solche Verbindung der Begriffe ist Nietzsches expliziter Verweis auf seine früheren Schriften Morgenröthe und Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Besonders die Termin i der Sittlichkeit der Sitte, des Vergessens und des Erinnerns werden von Nietzsche dort ausführlicher behandelt. Nietzsche spricht im Zusammenhang mit dem souveränen Individuum davon, dass die Aufgabe der Menschheit darin bestünde „ein Thier heranzüchten, das versprechen darf“ (GM II 2, KSA 5, S. 293). Den Begriff des Versprechens entwickelt Nietzsche vor dem Hintergrund einer Kombination der Begriffe des Erinnerns und des Vergessens (vgl. UB II 1, KSA 1, S. 248 f., GM II 1, KSA 5, S. 291 ff.). Das Vergessen hat Nietzsche in seiner frühen Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben als Eigenschaft des bewusstlosen Tieres dargestellt (vgl. UB II 1, KSA 1, S. 248 f.). Das Erinnern wiederum wird mit der zivilisatorischen Leistung der „Zähmung“ des Menschen in Verbindung gebracht (vgl. GM II 1, 3, KSA 5, S. 291– 297). https://doi.org/10.1515/9783110603316-003
2.1 Erinnern und Vergessen
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Diese Gegenüberstellung von Natur (Vergessen, Amoral, Animalität) und Kultur (Erinnern, Strafen, Dressur, schlechtes Gewissen) soll, wie zu sehen sein wird, im „versprechenden Tier“ dialektisch aufgehoben werden. Das Versprechen-Können des souveränen Individuums ist demnach als eine höherstufige Mischform aus Vergessen und Gedächtnis, aus Kultur und Natur zu verstehen (vgl. GM II 1, KSA 5, S. 291 f.; Lemm 2008, S. 735 ff.; Lemm 2009, S. 95). Das Konzept des souveränen Individuums kann also nur in seiner ganzen Breite erfasst werden, wenn es mit den Begriffen der Autonomie, der Willensfreiheit, der Kultur und der Natur, des Erinnerns und des Vergessens in Zusammenhang gebracht wird, d. h. wenn diese Termini spezifisch auf den Begriff des souveränen Individuums hin untersucht werden. Da dies bisher kaum, und wenn doch, nur in Ansätzen geschehen ist, verspricht eine solche systematische Untersuchung ein weitaus schärferes Bild vom souveränen Individuum, als es bisher gezeichnet wurde. Umgekehrt ist durch diese noch neue Herangehensweise auch ein erkenntnistheoretischer Mehrwert für Begriffe wie die der Willensfreiheit und des Gedächtnisses bei Nietzsche zu erwarten. Die intertextuellen Vergleiche sollen nach der philologischen Methode des Auffindens von Anspielungsuniversen vollzogen werden, wie sie Christian Benne vorgestellt hat: „Nietzsche fordert (…) Einblick in ein von ihm gestaltetes Anspielungsuniversum, das den Leser auf eine Ebene mit dem Autor heben soll“ (Benne 2005, S. 196). Das Verstehen und Interpretieren von Nietzsches Schriften und Texten setzt somit die Kenntnis auch seiner anderen Schriften voraus, in welchen diese Begriffe wiederkehren: „Nietzsche verlangt nach einem (…) Leser, der alle seine Schriften berücksichtigt und sich von einer, wenn auch fiktiven intentio auctoris leiten lässt“ (Benne 2005, S. 196). In diesem Sinne sollen die von Nietzsche gestreuten sprachlichen Verweise (Wiederholung bestimmter identischer oder synonymer Begrifflichkeiten) in seinen unterschiedlichen Werken aufgefunden und hinsichtlich des souveränen Individuums interpretiert werden. Diese Vorgehensweise wird zunächst anhand der Begriffe des Erinnerns und des Vergessens vollzogen.
2.1 Erinnern und Vergessen Für Nietzsche ist das Versprechen-Können sowohl Ergebnis der zivilisatorischen „Dressur“ des Menschen (Erinnern) als auch das der ursprünglich-aktiven Kraft des Vergessens. In seiner frühen Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben erarbeitet Nietzsche erstmals eine genauere begriffliche Unterscheidung zwischen Erinnern und Vergessen. Das Vergessen wird mit dem rein instinktiv handelnden Tier assoziiert, während das Erinnern dem menschlichen Bewusstsein zugesprochen wird (vgl. UB II 1, KSA 1, S. 249). In der Genealogie der Moral wird das Erinnern darüber hinaus als Ergebnis der zivilisatorischen Zähmung des Menschen dargestellt (vgl. GM II 2 – 24, KSA 5, S. 293 – 336). Das Erinnern wird hier in erster Linie verstanden als
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2 Begriffliche Untersuchung des souveränen Individuums
Erinnern und Befolgen von bestimmten sittlich-moralischen Regeln, die das Zusammenleben in der Gesellschaft ermöglichen sollen. Dies schließt auch mit ein, dass aggressive Triebe im Menschen zurückgehalten und nach innen gewendet werden (vgl. GM II 16, KSA 5, S. 321 ff.). Das Vergessen ist für Nietzsche in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung das Vermögen, unhistorisch zu leben, d. h. zumindest vorübergehend die „Last des Vergangenen“ (UB II 1, KSA 1, S. 249) abzuschütteln, mit der der Mensch ständig konfrontiert ist. Das Vergessen wirkt in diesem Sinne handlungsermöglichend, d. h. es führt zu einer zeitweiligen Welt- und Selbstvergessenheit, welche die Voraussetzung für jegliches aktives Tun in der Welt ist (vgl. UB II 1, KSA 1, S. 250; Steinmann 2000, S. 46 f.). In der späten Schrift Zur Genealogie der Moral kommt Nietzsche zu einer Definition des Vergessens, die dezidiert an jene aus seinem frühen Werk anschließt: Vergesslichkeit ist (…) ein aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen, dem es zuzuschreiben ist, dass was (…) von uns erlebt (…) wird, uns im Zustande der Verdauung (…) ebenso wenig in’s Bewusstsein tritt, als der ganze (…) Prozess, mit dem sich unsre leibliche Ernährung (…) abspielt (GM II 1, KSA 5, S. 291).
Nietzsche entwickelt hier also den Topos der unbewussten Filterung unserer Wahrnehmungsströme, die uns vor einer ‚Reizüberflutung‘ schützen soll.¹ Das Vergessen ist ein menschlicher „Hemmungsapparat“ (GM II 1, KSA 5, S. 292), ein Ordnungsprinzip, welches dem Menschen ermöglicht, dem heraklitischen Werdensstrom feste Strukturen entgegenzusetzen, um so ein Handeln in der Welt zu ermöglichen (vgl. Körnig 1999, S. 116 f.). Die Gesundheit des Einzelnen und der Kultur hängt für Nietzsche nun von dem Vermögen ab, sich des Erinnerns und des Vergessens zum jeweils richtigen Zeitpunkt zu bedienen (vgl. UB II 1, KSA 1, S. 252). Es geht ihm demnach weder um ein bloßes Aufgehen im Vergessen, also um ein rückwärtsgewandtes ‚Zurück zur Natur‘, noch um ein rein historisches, rein reflektierendes Dasein, in welchem „das Lebendige zu Schaden kommt“ (UB II 1, KSA 1, S. 250). Auch wenn Nietzsche die Balance zwischen diesen beiden Vermögen als Notwendigkeit für ein glückliches oder geglücktes Leben beschreibt, so hält er dennoch fest, dass das Vergessen hierbei die wichtigere und urspünglichere der beiden Fähigkeiten ist. Er fasst dies pointiert so zusammen: „Die Historie, sofern sie im Dienste des Lebens steht, steht im Dienste einer unhistorischen Macht“ (UB II 1, KSA 1, S. 257). Dieses „Unhistorische“ versteht Nietzsche als die Möglichkeit und Kraft zum Vergessen, die einen dazu ermächtigt, sich von dem reinen Wiederkäuen des Vergangenen zu lösen sowie „den Blick von dem Werden ab(zu)lenken“ (UB II 10, KSA 1, S. 330). In diesem Sinne formuliert er folgendes „Gleichniss“ (UB II 10, KSA 1, S. 333)
Man kann demzufolge sagen, dass das Vergessen nicht bloß handlungsermöglichend wirkt, sondern auch zu den Grundbedingungen des Lebens überhaupt gehört (vgl. UB II 1, KSA 1, S. 250; Körnig 1999, S. 70; FW 344, KSA 3, S. 574 ff.).
2.1 Erinnern und Vergessen
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für den Menschen: „(E)r muss das Chaos in sich organisieren, dadurch dass er sich auf seine ächten Bedürfnisse zurückbesinnt“ (UB II 10, KSA 1, S. 333). Nietzsche macht deutlich, dass er sich mit dieser Forderung auch auf das griechische Konzept der Selbstsorge sowie die sokratische Formel Selbsterkenntnis beruft. Durch Selbsterkenntnis soll es gelingen, den eigenen Bedürfnissen eine Struktur zu verleihen, und dies kann nur funktionieren, indem man bestimmte Dinge ausklammert, d. h. sie vergisst (vgl. UB II 1, KSA 1, S. 249; UB II 10, KSA 1, S. 333 f.).² Auch in der Genealogie der Moral geht es Nietzsche um ein synthetisches Mit- und Nebeneinander von Gedächtnis und Vergesslichkeit. Er macht zudem deutlich, dass er das Vergessen deshalb als positives Vermögen ansieht, weil „damit wieder Platz wird für Neues, vor Allem für die vornehmeren Funktionen (…), für Regieren, Voraussehn, Vorausbestimmen“ (GM II 1, KSA 5, S. 291). Das aktive Vergessen ist für Nietzsche deshalb handlungsermöglichend, weil es auf die Wahrnehmung strukturierend wirkt. Die Vergesslichkeit ist für Nietzsche gleichsam die „Thürwärterin (…) der seelischen Ordnung“ (GM II 1, KSA 5, S. 291, 292) und des Bewusstseins (vgl. auch Körnig 1999, S. 116 f.). Dieses kognitive Ordnungsprinzip bildet somit auch die Voraussetzung für die Organisation und die Hierarchisierung des Seelenlebens; Seelenleben hierbei verstanden im Sinne von Nietzsches Credo der „Seele als Subjekts-Vielheit“ (JGB 12, KSA 5, S. 27) und der „Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte“ (JGB 12, KSA 5, S. 27). Die Ordnung der Wahrnehmung durch die aktive Kraft des Vergessens und das Vermögen des Erinnerns haben noch eine andere wichtige Komponente: die Zeitlichkeit. Durch das Erinnern wird nicht Vergangenes lediglich wiederholt und im Bewusstsein widergespiegelt, vielmehr ermöglicht das Erinnern erst die positive Bezugnahme auf die Zukunft. Es bietet dem Menschen erst die Gelegenheit „wie es ein Versprechender tut, für sich als Zukunft gutsagen zu können“ (GM II 1, KSA 5, S. 292; vgl. Lemm 2008, S. 735; Lemm 2009, S. 95). Hinsichtlich des Vergessens wiederum spricht Nietzsche vom „Nutzen der (…) aktiven Vergesslichkeit“, die darin besteht, dass es „keine Gegenwart geben könnte ohne Vergesslichkeit“ (GM II 1, KSA 5, S. 291, 292). Für Nietzsche ist das Vergangene auch immer in der Gegenwart präsent. Erst durch die spezifisch menschliche Fähigkeit, das Vergangene gegenwärtig werden zu lassen, eröffnet sich auch die Möglichkeit, das Zukünftige in den Blick zu bekommen (vgl. Körnig 1999, S. 71 f.; Gerhardt 1985, S. 154 f.). In der Sprache des frühen Nietzsche: Die Historie, welche „im Dienste des Lebens steht“ (UB II 1, KSA 1, S. 257), hat die Funktion, eine Erhöhung des Menschen herbeizuführen, welche seinerseits über das bloß Historische hinausgeht (vgl. UB II 10, KSA 1, S. 332 ff.). Die historischen Menschen betrachten die Vergangenheit demnach nicht aus einem bloßen Selbstzweck heraus:
Vor allem in Kapitel 4 dieser Arbeit soll dieser Zug des Vergessens mit Nietzsches Beschreibungen der asketischen Praktiken im Ecce homo sowie mit Foucaults Interpretation der antiken Selbsterkenntnis und der hellenistischen Umkehr zu sich selbst in Verbindung gesetzt werden (vgl. EH klug 9, KSA 6, S. 298 ff.; SW III, S. 78 ff.; MW, S. 21 ff.). Hieri wird u. a. offenbar werden, dass der späte Nietzsche eine kritischere Position zu der sokratischen Selbstsorge (im Sinne einer Bedürfniskontrolle) einnimmt, als dies der junge Nietzsche tut.
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2 Begriffliche Untersuchung des souveränen Individuums
„[D]er Blick in die Vergangenheit drängt sie zur Zukunft hin (…). Diese historischen Menschen (…) schauen nur deshalb rückwärts, um an der Betrachtung des bisherigen Prozesses die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft heftiger begehren zu lernen“ (UB II 1, KSA 1, S. 255). Die Formen von Zeitlichkeit und Erinnern, die Nietzsche in den Fokus rückt, unterscheiden sich jedoch von der Vorstellung der reinen Historiker, die er so vehement kritisiert: „[A]ber in einem Uebermasse von Historie hört der Mensch wieder auf, und ohne jene Hülle des Unhistorischen würde er nie angefangen haben und anzufangen wagen“ (UB II 1, KSA 1, S. 253).³ Die Form des Gedächtnisses, welche Nietzsche voranbringen möchte, ist die eines, wie Vanessa Lemm es im Anschluss an Michel Foucault formuliert, Gegengedächtnisses (vgl. NH; Lemm 2008, S. 735; Lemm 2009, S. 94 ff.). Diese Form des höherstufigen Erinnerns soll auch die instinktive Kraft des Vergessens mit einbeziehen, anstatt sich im Gegensatz zu ihr zu entwickeln (vgl. Lemm 2008 S. 735; UB II 1, KSA 1, S. 250 ff.). Aus dem Gegengedächtnis kann sich so auch eine Gegengeschichte bilden, welche die rückwärts gerichtete, bloß antiquarische Form der Geschichtsschreibung in eine lebendige Geschichtsschreibung transformiert: An involvement of memory with forgetfulness gives rise to a form of history that turns what is dead (the past) into something that is alive (the future). Nietzsche calls his new conception of history ‚counterhistorical‘ because it reserves the flow of time (Lemm 2009, S. 95).⁴
Jenes höherstufige Erinnern bildet für Nietzsche zudem die Voraussetzung des Versprechen-Könnens des souveränen Individuums. Mit dieser Fähigkeit zum Versprechen meint Nietzsche ein „Gedächtniss des Willens (…) „keineswegs bloss ein passivisches Nicht-wieder-los-werden-können des einmal eingeritzten Eindrucks“, sondern vielmehr „ein aktives Nicht-wieder-los-werden-wollen, ein Fort- und Fortwollen des ein Mal Gewollten“ (GM II 1, KSA 5, S. 292). Dieses Zitat unterstreicht noch einmal, dass
Vgl. Roos (Roos 1984) für eine weitere Differenzierung der Begriffe ‚Historisch‘und ‚Unhistorisch‘ bei Nietzsche: „Nietzsche [stellt] dem Historischen das Unhistorische gegenüber, das sich bald darauf in Unhistorisches und Überhistorisches spaltet, während die Historie selbst sich in eine klassische und eine antiquarische Art gliedert. Die antiquarische lebensfeindliche Art entspricht dem ‚Wahrheitsbedürfnis‘, während das ‚Lebensbedürfnis‘ auch der klassischen verlangt, die ‚das Vergangene mit Kunst und künstlerischer Verklärungskraft‘ behandelt (…). Das unhistorische Vergessen ist dann der zur Erholung notwendige Schlaf, während das Überhistorische schon nicht mehr der gemeinen Menschheit gehört, sondern einer auserwählten Schar von Weisen vorbehalten ist“ (Roos 1984, S. 32). Das hiermit verbundene Konzept von Geschichte richtet sich gegen die metaphysischen Voraussetzungen der traditionellen Historie wie die Idee des Ursprungs, des erkennenden und stiftenden Subjekts oder der objektiven Erkenntnis der Historie. Hierdurch sollen, statt am Vergangenen haften zu bleiben, Möglichkeiten einer neuen und anderen Zukunft und eine andere Form von Identität eröffnet werden. Hierzu Foucault: „Es geht darum, die Historie zu einem Gegengedächtnis zu machen und darin eine ganz andere Form von Zeit zur Entfaltung zu bringen“ (NH, S. 117).
2.1 Erinnern und Vergessen
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Nietzsches Ideal des Gedächtnisses nicht in abstrakter Vergangenheitsschau verharrt, sondern auch dazu beiträgt, einen Willensakt auf die Zukunft hin zu etablieren.⁵ Die auf dem Erinnern aufbauende Fähigkeit des souveränen Individuums, sich und seinen Willen auf die Zukunft zu richten, ist erst durch das Versprechen-Können praktisch gegeben. Die Zeitlichkeit des souveränen Daseins, in welchem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu seiner höherstufigen Einheit zusammenfließen, ergibt sich durch den Vorgang des Versprechens: Indem ich verspreche, versichere ich aus einer gegenwärtigen Absicht heraus eine zukünftige Tat, und um diese Tat in der Zukunft auch ausführen zu können, muss ich wiederum mein Handeln an das Gedächtnis meines dann bereits vergangenen Versprechens binden (vgl. Hatab 2008b, S. 73). Souveränes Handeln nach Nietzsche ist Handeln in der Gegenwart (Vergessen) auf die Zukunft hin (Versprechen), welches sich in der Vergegenwärtigung des Vergangenen (Erinnern) vollzieht. Jedoch bezieht sich das souveräne Individuum nicht einfach nur auf die Zukunft (wie es jeder Mensch tut), sondern konstituiert sich selbst als höherstufiges Wesen in die Zukunft hinein. Voraussetzung hierfür ist das Berechenbarmachen des Menschen durch den historischen und vorhistorischen Prozess der Sittlichkeit der Sitte. Das übersittliche souveräne Individuum ist also eine Konsequenz aus der Sitte selbst. Das souveräne Individuum, das Nietzsche an das Ende dieses Prozesses stellt, kann also als Produkt einer Selbstüberwindung der Moral begriffen werden. Nietzsche schreibt: „Alle grossen Dinge gehen durch sich selbst zu Grunde, (…) so will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der notwendigen ‚Selbstüberwindung‘ im Wesen des Lebens“ (GM III 27, KSA 5,S. 410).⁶ Dass das souveräne Individuum seine Autonomie vor allem in einem versprechenden Sich-in-Beziehung-Setzen zur Zukunft erhält (vgl. GM II 24, KSA 5, S. 335 ff.), darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass individuelle Souveränität etwas ist, das sich gegenwärtig vollzieht. Das Erscheinen des souveränen Individuums ist kein in die Zukunft gestelltes Ereignis, dessen Eintreten erhofft und ersehnt wird, wie es manche Textstelle Nietzsches suggerieren mag (vgl. GM II 2, KSA 5, S. 294), sondern kann sich praktisch nur in der Gegenwart vollziehen. Die Selbstüberwindung aus der Vergangenheit (Sittlichkeit der Sitte) heraus offenbart die Möglichkeit der souveränen Selbstgestaltung in der Gegenwart, welche sich auf eine andere Zukunft hin entwirft:
Ob jene Formulierung vom „Fort-und-fort-Wollen“ (GM II 1, KSA 5, S. 292) auf Nietzsches Lehre der amor fati anspielt, wird in Kapitel 3.3 der Arbeit diskutiert werden, wenn es darum geht, die Erkenntnisse der bisherigen Untersuchung in Fragen und Problemstellungen aus der Nietzscheforschung einzubringen. Dass eine solche Verbindung vorliegt, suggeriert zumindest das folgende Zitat: „Meine Formel für die Grösse am Menschen ist amor fati: dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht“ (EH klug 10, KSA 6, S. 297). Das Gesetz der Selbstüberwindung wiederum führt Nietzsche zurück auf sein Konzept vom Willen zur Macht, welches er als Grundprinzip des Lebens ausmacht (vgl. Z II Selbst-Ueberwindung, KSA 4, S. ff.).
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2 Begriffliche Untersuchung des souveränen Individuums
„Die Zukunft ist nichts anderes als die Gegenwart, indem sie die in dieser liegenden, unerfüllten Möglichkeiten realisiert“ (vgl. Steinmann 2009, S. 102). Wie das Versprechen-Können ist also auch die Selbstüberwindung ein Akt, der sich zwar auf die Zukunft bezieht, sich aber immer gegenwärtig vollzieht. Die Begriffe des Erinnerns und des Vergessens tauchen auch in anderen späten Schriften Nietzsches wieder auf: Im Ecce homo kehrt jene Formulierung vom „Nichtmehr-los-kommen-Können“ zurück. Nietzsche spricht dort davon, dass man im Zustand der Krankheit und der Schwäche „von Nichts loszukommen“ (EH weise 6, KSA 6, S. 272) weiß: „die Erlebnisse treffen zu tief, die Erinnerung ist eine eiternde Wunde“ (EH, weise 6, KSA 6, S. 272). Hiermit meint Nietzsche offenbar jenes „passivisches Nicht-wieder-los-werden-können“ (GM II 1, KSA 5, S. 292) der Eindrücke. Dieses reine Erinnern schreibt Nietzsche dem Menschen des Ressentiments zu (vgl. EH weise 6, S. 272 f.). Diesem gelingt es nicht, die Überflutung durch die Reize richtig zu verarbeiten bzw. in einer für sich selbst produktiven Weise zu filtern und nutzbar zu machen. Im Gegensatz zu diesem décadent beschreibt Nietzsche im Ecce homo auch den „wohlgerathne(n) Mensch(en)“ (EH weise 2, KSA 6, S. 267). Dieser wiederum „weiss zu vergessen“ (EH weise 2, KSA 6, S. 267), d. h. alles, was ihn umgibt (Bücher, Menschen, Landschaften, Ideen), wird von ihm so ausgewählt, dass es seinem Wohlempfinden und seiner Entwicklung guttut (vgl. EH weise 2, KSA 6, S. 266 f.). Dies entspricht ganz offensichtlich dem „Werthmaass“, welches Nietzsche dem souveränen Menschen in GM II 2 zuschreibt: „[V]on sich aus nach den Andern hinblickend, ehrt oder verachtet er“ (GM II 2, KSA 5, S. 294). Dieses Wertmessen und Vergessen spielt sich für Nietzsche auch auf einer unbewusst-instinktiven und leiblichen und nicht auf einer rein bewussten Ebene ab. Aus diesem Verweis auf den Ecce homo wird eines deutlich: Nietzsche beschreibt das souveräne Individuum keineswegs nur in GM II 2, wie es einige Forscher verstehen möchten (vgl. Acampora 2006, S. 153; Hatab 2008b, S. 76). Vielmehr zeigt er im Ecce homo die andere Seite der Konstitution souveräner Individualität: Wird in der Genealogie der Moral das souveräne Individuum noch als Produkt eines kulturhistorischen Prozesses (Sittlichkeit der Sitte) beschrieben, so werden im Ecce homo die individuellen und praktischen Voraussetzungen für eine souveräne Selbstkonstitution aufgezeigt.⁷ Nietzsche grenzt jenen ‚wohlgeratenen Menschen‘, der zu vergessen weiß, vom Menschen des Ressentiments ab. Im 10. Aphorismus der ersten Sektion der Genealogie der Moral lobt Nietzsche die „unbewussten Instinkte“ des „vornehmen Menschen“ (GM I 10, KSA 5, S. 273). Hiermit hat er jene unbewussten Filterungsprozesse der aktiven Kraft des Vergessens im Blick (vgl. Hatab 2008b, S. 70 f.).
In Kapitel 4 der vorliegenden Arbeit werden sowohl die verschiedenen Weisen dieser Selbstkonstitution als auch die Verbindungslinien zu Michel Foucaults Analyse der griechischen und römischen Selbstsorgepraktiken genau untersucht werden.
2.1 Erinnern und Vergessen
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Der Gegentyp zu diesem souveränen Individuum ist der Mensch des Ressentiments. Es ist der Mensch der christlichen ‚Sklavenmoral‘, der nicht vergessen kann. In GM I 10 unterscheidet Nietzsche zwischen zwei Arten der Nächsten- und der Feindesliebe. Der christliche Ressentiment-Mensch kann nichts vergessen, weil er mit nichts fertig wird, nichts ‚verdauen‘, nichts zu seinen Gunsten filtern kann. Ihm bleibt aus diesem Grunde nur die Vergebung als Form der Menschenliebe (vgl. GM I 10, KSA 5, S. 2702 ff.; Hatab 2008b, S. 69 f.). Dieser Mensch bleibt also aufgrund seiner Unfähigkeit zu vergessen in seinem Ressentiment gefangen. Er kann die schlechten Taten, die gegen ihn verübt wurden, nicht vergessen und muss sie daher vergeben. Der ‚vornehme Mensch‘ hingegen vermag durch seinen Zuschuss an Kraft und Gesundheit die von ihm und gegen ihn verrichteten bösen Taten zu vergessen (vgl. GM I 10, KSA 5, S. 273 f.). Die Unterscheidung zwischen dem vornehmen Menschen und dem Menschen des Ressentiments verläuft also auch anhand der Frage nach der Moral. Ist die Moral des christlichen Menschen durch die Sittlichkeit der Sitte und den Zwang zum Gehorchen geprägt, so filtert der vornehme Mensch die schlechten Taten und Erlebnisse aus seinem Bewusstsein heraus, um seine Kraft und seine Gesundheit aufrecht zu erhalten. Während der ‚wohlgeratene Mensch‘ seine Feinde respektieren lernt, konstruiert der Mensch des Ressentiments seinen Feind als Gegensatz zu sich selbst: als bösen Menschen (vgl. GM I 10, KSA 5, S. 270 ff.). Anhand dieser Überlegungen ist deutlich geworden, dass bei Nietzsche der Begriff des souveränen Individuums breiter gespannt ist als bloß in GM II 2; ja, nicht einmal auf seine späten Schriften reduzierbar ist. Weder der frühe noch der späte Nietzsche möchte die Begriffe des Erinnerns und des Vergessens gegeneinander ausspielen, sondern es geht ihm vielmehr um eine höherstufige Form des Erinnerns, die das Vergessen in sich aufnimmt (vgl. Lemm 2008, S. 735). Auch wenn das Vergessen als das ursprünglichere dieser beiden Vermögen bezeichnet wird, so ist jedoch keine abschließende Hierarchie zwischen Erinnern und Vergessen auszumachen (vgl. Lemm 2009, S. 91). Das Zusammenspiel dieser beiden Elemente ermöglicht also die Konstitution eines Individuums, welches dem lebensfeindlichen reinen Erinnern (vgl. UB II 1, KSA 1, S. 249 ff.) das Vermögen des Versprechens zur Seite stellt. Ein Erinnern, das das Moment des Animalischen, welches das Vermögen des Vergessens in sich trägt, miteinbezieht, transzendiert somit das ‚menschlich-allzumenschliche‘ Erinnern, das sich nur am Vergangenen aufhält in eine höhere Form menschlichen Erinnerns und Existierens: Nietzsche calls for a (…) memory that (…) does not understand itself as the opposite of animal forgetfulness. Rather, it recognizes in the forgetfulness of the animal a carrier of higher, more virtues, more generus forms of live to come (Lemm 2008, S. 735; vgl. Lemm 2009, S. 93).
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2 Begriffliche Untersuchung des souveränen Individuums
Das animalische Vergessen wirkt somit zum einen handlungsermöglichend, zum anderen werden hierdurch auch Möglichkeiten der Neugestaltung menschlicher Identität eröffnet (vgl. Lemm 2009, S. 94).⁸ Das hiermit verbundene Ideal von Individualität hat gerade nicht mehr jenes interessen- und zeitlose ‚Subjekt der Erkenntnis‘ der abendländischen Tradition zum Vorbild, sondern ein Individuum, welches sein „Für und Wider (…) aus- und einzuhängen“ (GM III 12, KSA 5, S. 264) kann, das also, je nach Anlass, dazu in der Lage ist, durch das „Gegenvermögen“ (GM II 1, KSA 5, S. 292) des Gedächtnisses die Vergesslichkeit ‘auszuhängen‘ oder umgekehrt (vgl. UB II 1, KSA 1, S. 252; EH klug 9, KSA 6, S. 294). Diese dialektische Vorgehensweise hatte Nietzsche schon in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung zum Ziel erklärt: „[D]ass man eben so gut zur rechten Zeit zu vergessen weiss, als man sich zur rechten Zeit erinnert“ (UB II 1, KSA 1, S. 252). Das souveräne Individuum kann also bis hierhin als ein sich zeitlich vollziehendes, autonomes Dasein bestimmt werden, in welchem die Kräfte des Erinnerns und des Vergessens in einem produktiven Sinn zum Tragen kommen (vgl. Lemm 2008, S. 735 f.).
2.2 Kultur und Natur – Zivilisation und Animalität Den Begriff, den Nietzsche dem des Vergessens zur Seite stellt, ist der des Tieres bzw. der des Animalischen (vgl. UB II 1, KSA 1, S. 248 f.; Lemm 2008, S. 735 f.). Das Animalische wird für gewöhnlich dem Begriff der Natur, Termini wie Erinnern, Bewusstsein und Zivilisation hingegen eher dem der Kultur zugerechnet. Beim späten Nietzsche findet sich eine interessante Umdeutung dieser Zusammenhänge: So wird Kultur nicht mehr generell mit Zivilisation verbunden, sondern die beiden Begriffe bilden Gegensätze: „Die Höhepunkte der Cultur und der Civilisation liegen auseinander: man soll sich über den abgründlichen Antagonismus von Cultur und Civilisation nicht irre führen lassen (…). Civilisation will etwas Anderes als Cultur will: vielleicht etwas Umgekehrtes…“ (NL 1888, KSA 13, 16[10], S. 485 f.). Zivilisation wird zunehmend mit jenem Akt der normalisierenden Individualisierung und Dressur der animalischen Natur des Menschen, der „Thierzähmung (‚Civilisation‘ –)“ (NL 1888, KSA 13, 16[10], S. 486), verbunden. Kultur hingegen liegt gerade in der Befreiung von dieser Zivilisierung und Zähmung und einer Wiederentdeckung des Individuellen, der Animalität sowie der Kreativität im Menschen (vgl. Lemm 2008, S. 732). Für Nietzsche ist das Vergessen nicht bloß die Voraussetzung für alltägliches Handeln, sondern das Vergessen konstituiert ebenso höherstufige kreative und geistige Tätigkeiten. Kreativität wird erst
Vgl. hierzu Lemm: „Forgetfulness opens time to what is outside of time. It produces illusions of eternity, which the human animal nedds so as to keep on creating forms of life that transcend the flow of becoming and appear to be of eternal value and worth“ (Lemm 2009, S. 94).
2.2 Kultur und Natur – Zivilisation und Animalität
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durch das Vergessen möglich, da ein reines, lückenloses Erinnern den Punkt der kreativ-aktiven Neugestaltung unterbindet, der jeglicher philosophischen oder künstlerischen Tätigkeit notwendig zukommt. Und die künstlerische Tätigkeit wiederum hat die instinktiv-animalische Ebene als grundlegendes Moment: „In Nietzsche’s conception of culture, animal forgetfulness constitutes the link between animality and creativity“ (Lemm 2008, S. 735).⁹ Das Vergessen stellt somit die Verbindung zwischen Animalität und einer Kultur dar, wie Nietzsche sie verstanden haben möchte. Vergessen ist der Faktor, welcher die wahre Kultur von der reinen Zivilisation und von der hiermit verbundenen Form der Subjektivierung unterscheidet. Durch das Vergessen werden die animalischen Kräfte freigesetzt, die wahres kreatives Handeln ermöglichen. Das Verknüpfen von Erinnern und Vergessen dient somit auch der Selbsterkenntnis des Menschen als human animal: Nietzsche confronts the human being’s memory with animal forgetfullness in order to stimulate a new awareness and self-awareness within the human being that will lead it, first, to affirm itself as animal (…) and second, to see in its memory a creative life force (Lemm 2009, S. 87).¹⁰
Die Kultur bzw. die Kulturgeschichte wird also gewissermaßen zweigeteilt: zum einen im Sinne des Prozesses der Zivilisation und Zivilisierung, d. h. in der Etablierung einer ‚zweiten Natur‘ des Menschen, welche ihn als moralisch höherwertig zu seiner ‚ersten‘, animalischen Natur begreifen möchte (vgl. Lemm 2008, S. 733). Zum anderen wird Kultur nun verstanden als weiterentwickelte, höherstufige, animalische Menschlichkeit (vgl. Lemm 2008, S. 732). Die Wiederentdeckung der Natur und des Tierischen im Menschen gilt dem Ziel einer Selbstverwirklichung im Sinne einer Synthese von Natur und Kultur (vgl. Schank 2004, S. 153). Für Nietzsche stellt der Mensch keinen Gegensatz zum Tier dar, sondern vielmehr eine bestimmte Art von Tier. Selbst der moderne Mensch trägt somit noch Spuren der Animalität in sich (vgl. Weinstein 2004, S. 303, 304). Hebt man die absolute anthropologische Trennung zwischen Mensch und Tier auf, so bedarf es auch einer Reformation der Begriffe der Humanität oder der Menschlichkeit (vgl. FW 115, KSA 3, S. 474). Der Mensch hat sich Nietzsche zufolge bisher in eine falsche Rang- und Reihenfolge zum Tierischen und zum Natürlichen gesetzt. Anstatt sich also primär als vernünftiges
Dies geht auf eine generellere Überlegung Nietzsches zurück, wonach jegliches Wahrnehmen und Denken künstlerischen Charakter hat und somit alle menschlichen Denkmodelle Produkte eines aktivschaffenden Triebes sind, welcher jeglichen epistemologischen Reflektion zugrunde liegt (vgl. Lemm 2009, S. 99; GT Versuch 2, KSA 1, S. 13 f.). Dass das Vermögen des Erinnerns zu einem kreativen Vermögen umdefiniert wird, hat seinen Hintergrund darin, dass Nietzsche das Ideal einer artistischen Geschichtsschreibung vorschwebt, welche dem grundsätzlichen Gedanken Rechnung trägt, wonach Geschichtsschreibung immer ein produktives Erschaffen und Neu-Erschaffen der Vergangenheit mit sich bringt (vgl. Lemm 2009, S. 99 f.; HL).
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2 Begriffliche Untersuchung des souveränen Individuums
Erkenntnissubjekt zu begreifen, fordert Nietzsche eine Aufnahme animalischer Anteile in das Menschsein und das Verständnis vom Menschen. Und das, was Fortschritt oder Humanisierung genannt wird, ist für Nietzsche eine ‚Verkleinerung des Menschen‘, die unter der Herrschaft des vom Ressentiment bestimmten asketischen Priesters stattfindet: „Die Zähmung eines Thieres seine ‚Besserung‘ nennen ist in unsren Ohren beinahe ein Scherz (…). Sie [die Bestie, Anmerkung des Verf. – J. H.] wird geschwächt, sie wird (…) zur krankhaften Bestie. – Nicht anders steht es mit dem gezähmten Menschen, den der Priester ‚verbessert‘ hat“ (GD Verbesserer 2, KSA 3, S. 99). Unter der Formel von der ‚Verbesserung‘ des Menschen hat sich also Nietzsche zufolge nur eine subtilere Art der Machtausübung und der Grausamkeit etabliert.¹¹ Der Prozess der Zivilisierung und der Menschwerdung ist daher am Ende sogar noch grausamer als alles, was jene ‚Raubtiere‘ je hätten tun können, denn deren Grausamkeit ist für Nietzsche zumindest spontan und unüberlegt, während die ‚Zivilisierung‘ den Raubtier-Menschen in einem viel tieferen Sinne leiden lässt: „[A]lle Mittel, wodurch bisher die Menschheit moralisch gemacht werden sollte, waren von Grund aus unmoralisch“ (GD Verbesserer 5, KSA 6, S. 102; vgl. Ham 2004, S. 199). Also ist die Grausamkeit mit dem ‚Prozess der Zivilisation‘ auch nicht aus dem Menschen verschwunden, sondern hat sich nur gemäß den asketisch-christlichen Idealen sublimiert: „Fast alles, was wir ‚höhere Cultur‘ nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit – (…) jenes ‚wilde Thier‘ ist gar nicht abgetödtet worden, es lebt, es blüht, es hat sich nur – vergöttlicht“ (JGB 229, KSA 5, S. 166). Indem der Mensch für seine Handlungen verantwortlich und somit schuldig gesprochen wird, kann der asketische Priester indirekt seine Grausamkeit gegenüber seinen ‚Schafen‘ ausüben und der ‚Schuldige‘ selbst kann seine Triebe, Aggressionen und Grausamkeiten gegen sich selber wenden (vgl. GD Verbesserer 2, KSA 6, S. 99; GM III 15, KSA 5, S. 372 ff.). Mit der eingeforderten Wiederentdeckung des Animalischen im Menschen im Sinne einer ‚besseren Natur‘, wird auch das Vergessen und somit das VersprechenKönnen im Menschen aktiviert. Nietzsche drückt dies – wie bereits zitiert – so aus: „Ein Thier heranzüchten, das versprechen darf – ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat?“ (GM II 1, KSA 5, S. 291).¹²
In ganz ähnlicher Weise beschreibt Foucault die Wirkungsweise der Macht in den nur scheinbar menschlicheren humanistischen Diskursen über das Strafsystem des 19. Jahrhunderts (vgl. ÜS, S. 27, 42 u. a.). Nietzsche nennt diese Aufgabe paradox, weil die Fähigkeit zum Versprechen bis zu einem gewissen Grade gegen jene Kraft des reinen Vergessens installiert werden muss, die doch für das Leben und Überleben unverzichtbar ist (vgl. Lemm 2004, S. 230 f.; UB II 1, KSA 1, S. 249 f.). Nicht nur das Erinnern, sondern auch das Versprechen wird also bis zu einem gewissen Grad gegen die Grundvoraussetzungen des Lebens etabliert (vgl. FW 344, KSA 3, S. 547 ff.). Die Aufgabe ist zudem paradox, weil sich in ihr eine autonome Individualität entfalten soll, die gerade auf dem Zwang der Zivilisierung und der Sittlichkeit der Sitte aufbaut (vgl. Körnig 1999, S. 116).
2.2 Kultur und Natur – Zivilisation und Animalität
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Nietzsche nimmt hier eine quasi-evolutionstheoretische Perspektive ein, d. h. er sieht die Möglichkeit, ein versprechendes Tier heranzuzüchten, offenbar als eine Höher- und Weiterentwicklung an.¹³ Er formuliert diese Aufgabe in Jenseits von Gut und Böse auch in die andere Richtung: „Den Menschen (…) zurückübersetzen in die Natur (…) das mag eine seltsame (…) Aufgabe sein, aber es ist eine Aufgabe“ (JGB 230, KSA 5, S. 169). Hiermit ist also der zweite Schritt hin zu einer höheren Kultur beschrieben. Zunächst hat der Mensch durch den zivilisatorischen Prozess der Sittlichkeit der Sitte in einem basalen Sinne versprechen gelernt, er ist damit aber auch kalkulierbar, unfrei und zahm geworden. Die zweite Bewegung besteht nun für Nietzsche darin, den Menschen wieder ins Animalische zurückzuübersetzen. Dies bedeutet kein rückwärtsgewandtes ‚Zurück zur Natur‘. Vielmehr ist hiermit eine Korrektur des Selbstbildes des Menschen angesprochen, die dahin geht, den Menschen nicht mehr als ein hauptsächlich rational bestimmtes Wesen zu beschreiben, sondern seine Identität wieder ‚flüssig‘ zu machen, d. h. der Tatsache gerecht zu werden, dass sein Wesen im Werden begriffen ist und somit auch der Möglichkeit der Veränderung offen steht. Die moralisch-religiösen Irrtümer, die in die Interpretation des Menschen eingegangen sind, sollen wieder rückgängig gemacht werden. In diesem Sinne sagt Nietzsche: „Der Irrthum hat aus Thieren Menschen gemacht; sollte die Wahrheit im Stande sein, aus dem Menschen wieder ein Thier zu machen?“ (MA I, 519, KSA 2, S. 324; vgl. Lemm 2004, S. 221; Lemm 2008, S. 733). Nietzsche sieht die Gefahr der heutigen Kultur darin, zu sehr im Historischen, zu sehr im Erinnern und im „Wiederkäuen“ (UB II 1, KSA 1, S. 250; vgl. Lemm 2008, S. 735) zu verharren. Um die Zivilisation, verstanden als bloße Dressur, hinter sich zu lassen, formuliert Nietzsche ironisch ein Verständnis von Kultur, von welchem er sich absetzen möchte: „[D]ass es eben der Sinn aller Cultur sei, aus dem Raubthiere ‚Mensch‘ ein zahmes und zivilisiertes Thier, ein Hausthier heranzuzüchten“ (GM, I, 11, KSA 5, S. 276). Hiermit spielt Nietzsche auf die Textstelle aus GM, II, 1 an, in der er von der Aufgabe spricht ein „Thier“ heranzuzüchten, „das versprechen darf“. Nietzsche stellt also nicht nur der uneigentlichen Kultur eine Eigentliche gegenüber, sondern er entwirft hiermit auch einen Antagonismus von Kultur und Zivilisation. Man muss im Anschluss an die Unterscheidung von Haustier und Tier auch zwei verschiedene Begriffe des Versprechen-Könnens einführen: Zum einen heißt Versprechen-Lernen für Nietzsche jene Zivilisierung des rein instinktiv-vergessenden Raubtieres. In diesem Sinne ist Versprechen-Können gleichzusetzen mit beherrschbar
Im Gegensatz zu Darwin ist für Nietzsche der zeitgenössische Mensch jedoch nicht die höchste Stufe der evolutionären Entwicklung, sondern ein Übergang zum Übermenschen. In Nietzsches Vision vom ‚höheren Typ Mensch‘ vollzieht sich vielmehr eine dynamische Mischform und Synthese aus Mensch und Tier (vgl. Schank 2004, S. 144; Ham 2004, S. 195; Z I Tugend 2, KSA 4, S. 100 f.). Dieser Entwicklung liegt außerdem nicht das Kriterium der Anpassung und des Überlebens zugrunde, sondern sie gehorcht dem Credo der Konstitution einer höheren kulturellen Identität, an welcher der Mensch (nicht wie bei Darwin) auch selbst aktiv und bewusst mitgestalten kann.
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2 Begriffliche Untersuchung des souveränen Individuums
machen und mit gefügig machen. In einem zweiten, höherstufigen Sinne jedoch bedeutet Versprechen-Können eine Form von Souveränität und Verantwortlichkeit, welche sowohl das Erinnern als auch das Vergessen und die Animalität in sich aufzunehmen weiß (vgl. GM II 2) und welche in der Lage ist, einen Willensakt über längere Zeitintervalle hinweg „Fort-und Fortwollen“ (GM II 1, KSA 5, S. 292) zu wollen. Es lassen sich aufbauend auf dem bis hierhin Gesagten drei Stufen auf dem Weg zur wahren Kultur nach Nietzsche ausmachen: Erstens der natürlich-animalische Zustand des Raubtier-Menschen, zweitens die Zähmung dieses Raubtieres zum zivilisierten Menschen und drittens schließlich das Wieder-Aufnehmen des Animalischen in einem höheren Prinzip der Humanität und der Kultur. Mit jedem ‚Zurückübersetzen in die Natur‘ ist also kein ‚Zurück zur Natur‘ gemeint, sondern eine Animalität, welche aufbauend auf der zivilisatorischen Dressur des Menschen diese schließlich überwindet und zu einer menschlich-übermenschlichen Animalität synthetisiert: „(C)ivilization names the perspective of error that make humans out of animals; culture names the perspective of truth that makes overhuman animals out of humans“ (Lemm 2004, S. 221).¹⁴ Jedoch setzt, wie Nietzsche erneut betont, auch jener Akt der Autoaggression und der „Verinnerlichung“ (GM II 16, KSA 5, S. 322), jene Dressur des ‚Tier-Menschen‘ zum ‚Haustier-Menschen‘, bereits Akte der Grausamkeit und der Bestialität voraus. Jeder Staat, jedes schlechte Gewissen, jede moralische Auslegung beginnt für Nietzsche mit einer Herde „Raubthiere“ (GM II 17, KSA 5, S. 324), welche den Menschen gewaltsam einen Gesellschaftsvertrag aufdrängen, d. h. den Menschen zivilisieren, ihm einige grundsätzliche Regeln des Zusammenlebens aufzwängen. Nietzsche bezeichnet diesen Akt als künstlerisch, da dieses Schaffen von Regeln als ein grundsätzliches „Formenschaffen, Formen-aufdrücken“ (GM II 17, KSA 5, S. 326) verstanden wird. Hiermit ist also erneut das angesprochen, was Nietzsche mit Willen zur Macht bezeichnet, nämlich ein „Überwältigen, Herrwerden (…), ein Zurechtmachen (….), der principielle Vorrang (…), den die spontanen, angreifenden, übergreifenden, neu-auslegenden, neu-richtenden und gestaltenden Kräfte haben“ (GM II 12, KSA 5, S. 314, 316). Der Antagonismus zwischen Natur und Zivilisation wird demnach von Nietzsche genauso aufgelöst wie der zwischen Kultur und Natur: „(W)hat is generally considered ‘wild’ is far more civilized than we initially might have thought, and what is generally considered to be ‘civilized’ is wilder than we are usually inclined to allow“ (Conway 2004, S. 168). Jenes gewalttätig-künstlerische Zurechtmachen und Interpretieren ist also unhintergehbar in jede Zivilisation und jede moralische Auffassung vom Menschen eingebrannt: „As it turns out, in fact, beastliness involves killing and cultivating, (…) Wie Foucault sieht also auch Nietzsche die Befreiung des animalischen Lebens im Menschen nicht als eine Befreiung der von äußeren Mächten repressiv unterdrückten ‚wahren Natur im Menschen‘ an. Vielmehr liegt die Befreiung gerade in der Abkehr von dem Glauben, der Mensch hätte eine feste Identität, zum Beispiel im Sinne eines rationalen und einheitlichen Subjekts (vgl. Lemm 2008, S. 733; vgl. zu Foucault MP, S. 91 ff.).
2.2 Kultur und Natur – Zivilisation und Animalität
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destroying and creating“ (Conway 2004, S. 168). Die auf diesem Gewaltakt fußende Zivilisierung und Verinnerlichung des Menschen, welche durch den Typus des asketischen Priesters geleitet wird, bedient sich derselben formgebenden Aktivität, wie die der gewalttätigen Raubtiere: Im Grunde ist es ja dieselbe aktive Kraft, die in jenen Gewalt-Künstlern und Organisatoren grossartiger am Werke ist und Staaten baut, welche hier, innerlich, kleiner, kleinlicher, in der Richtung nach rückwärts (…) sich das schlechte Gewissen schafft und negative Ideale baut, eben jener Instinkt der Freiheit (in meiner Sprache geredet: der Wille zur Macht): nur dass der Stoff, an dem sich die formbildende und vergewaltigende Natur dieser Kraft auslässt, hier eben der Mensch selbst, sein ganzes thierisches altes Selbst ist – und nicht (…) die andren Menschen (GM, II, 18, KSA 5, S. 325, 326; vgl. Conway 2004, S. 172).
Die im ‚tierischen Selbst‘ noch nach außen gerichteten grausamen Affekte und Triebe werden beim zivilisierten Menschen nach innen gewendet, was nicht bloß eine andere Interpretation der Welt, sondern erstmals auch eine Selbstinterpretation zur Folge hat. Das Individuum konstituiert sich hierbei nicht bloß als Subjekt, sondern es interpretiert sich, unter der Vorherrschaft des asketischen Priesters, auch selbst als Schuldigen für sein Leiden: „‚Ich leide: daran muss irgend Jemand schuld sein‘ – also denkt jedes krankhafte Schaf. Aber sein Hirt, der asketische Priester, sagt zu ihm: ‚(…) du selbst bist dieser Irgend Wer (….)‘ (…). [D]amit ist (…) die Richtung des Ressentiment – verändert“ (GM III 15, KSA 5, S. 375). In dieser Selbstinterpretation des Individuums als Subjekt wird dessen animalische Vergangenheit gerade als Abgrenzungsfläche benutzt. Zivilisation und Zivilisierung bringen also ein Ressentiment gegen das Animalische und somit gegen die eigenen Grundlagen mit sich. Gesellschaft etabliert sich demzufolge gerade in Abgrenzung zu einzelnen Raubtier-Individuen und macht somit „gemein“ (JGB 284, KSA 5, S. 232), d. h. verkleinert und verallgemeinert den Menschen (vgl. Lemm 2004, S. 223, 229). Die Bewegung, die Nietzsche beschreibt, ist demnach folgende: Die Herrschaft der asketischen Priester entwickelt sich aus den Strukturen heraus, welche die Raubtiere hinterlassen haben. Zugleich zeigt Nietzsche die Möglichkeit des Entstehens einer höheren Art Mensch gerade aus jenen lebensverneinenden asketischen Idealen heraus. In GM III 10 schreibt er: „[D]er asketische Priester hat bis auf die neueste Zeit die widrige und düstere Raupenform abgegeben (…)[.] Ist das bunte und gefährliche Flügeltier, jener ‚Geist‘, den die Raupe in sich barg, wirklich (…) in’s Licht hinausgelassen worden?“ Die Konstitution des souveränen Individuums aus seinem Gegensatz heraus (der Gemeinschaft, der asketischen Ideale, der Dressur) vollzieht sich also nach dem – dem Willen zur Macht innewohnenden – Gesetz der Selbstüberwindung: „Just as the law of life decreed the destruction of the beasts of prey through an act of self-overcoming, so, presumably, it demands a similar act of self-overcoming on the part the ascetic priest“ (Conway 2004, S. 173). Wie dieser letzte Akt der Selbstüberwindung vorzustellen ist, wird im Folgenden untersucht.
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2 Begriffliche Untersuchung des souveränen Individuums
Für Nietzsche fußt die Entwicklung einer höheren Kultur einerseits notwendig auf Grausamkeit, Überwältigen und Unterdrückung: „Freilich: man darf sich über die Entstehungsgeschichte einer aristokratischen Gesellschaft (also der Voraussetzung jener Erhöhung des Typus ‚Mensch‘ –) keinen humanitären Täuschungen hingeben“ (JGB 257, KSA 5, S. 205). Andererseits jedoch ist jene höhere Kultur (und somit die Entstehung souveräner Individuen) abhängig von der Etablierung einer bestimmten Form von Zivilisierung, die von Nietzsche Sittlichkeit der Sitte genannt wird.
2.3 Sittlichkeit der Sitte und souveränes Individuum Für Nietzsche konstituiert sich das souveräne Individuum auf zweifache Weise: zum einen über die Umwertung der Werte, welche die eigentlichen Philosophen vollziehen (vgl. JGB 203, 211, KSA 5, S. 126 ff., 144 f.), und zum anderen durch die „vorhistorische“ (GM II 2, KSA 5, S. 293) Zivilisierung und das Berechenbar-Machen des Menschen (Sittlichkeit der Sitte). Während die Aktivität der eigentlichen Philosophen radikal individualistisch gedacht ist, arbeitet die Sittlichkeit der Sitte an der Unterordnung des Einzelnen unter die Gemeinschaft. Das souveräne Individuum wird also sowohl ontogenetisch und aktiv als auch phylogenetisch und passiv konstituiert (vgl. Schumann 2011, S. 181; Stegmaier 1994, S. 136). In der Sprache Althussers und Foucaults gesprochen: Das Individuum konstituiert sich als Subjekt sowohl auf autonome Weise als auch über Diskurse und Praktiken der Unterwerfung. In der Beschreibung des souveränen Individuums verweist Nietzsche auf den Begriff der Sittlichkeit der Sitte, welchen er erstmals in seiner früheren Schrift Morgenröthe verwendet. Dort hat er den Prozess der Sittlichkeit der Sitte als den Beginn der menschlichen Zivilisation beschrieben (vgl. M 9, 16, KSA 3, S. 9, 29). In GM II 2 wird die Sittlichkeit der Sitte als Arbeit am ‚menschlichen Tier‘ bezeichnet, die dieses berechenbar, gleichförmig und friedlich gemacht hat. Diese zivilisatorische Dressur des Menschen hat aber zugleich darin „ihre grosse Rechtfertigung“ (GM II 2, KSA 5, S. 293), dass sie zuletzt das souveräne Individuum mit hervorzubringen hilft. Die Sittlichkeit der Sitte ist für Nietzsche die Bedingung der Möglichkeit des souveränen Individuums, welches die Fähigkeit zum Versprechen hat. Damit Versprechen-Können möglich wird, ist zunächst das ‚Heranzüchten‘ des Erinnerungsvermögens notwendig: „Was setzt das (…) alles voraus! Wie muss der Mensch, um dermassen über die Zukunft voraus zu verfügen, erst gelernt haben (…) causal zu denken, das Ferne wie gegenwärtig sehn und vorwegnehmen (…), überhaupt rechnen, berechnen können“ (GM II 1, KSA 5, S. 292). Aus diesem Zitat geht hervor, dass Nietzsche unter Zivilisierung offenbar nicht bloß eine aggressionshemmende und autoaggressive Wirkung versteht, sondern dass auch kognitive Fähigkeiten (wie kausales und abstraktes Denken) Folge des Prozesses der Sittlichkeit der Sitte sind. Denn Nietzsche interpretiert den zivilisatorischen Prozess als konstitutiv für das Subjekt und das Bewusstsein. Das, was Nietzsche unter moderner Subjektivität versteht, ist dementsprechend durch kognitives Vermögen charakterisiert.
2.3 Sittlichkeit der Sitte und souveränes Individuum
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Somit kann im Umkehrschluss das souveräne Individuum, welches u. a. auch auf den zivilisatorischen Prozessen des Berechenbar-Machens und der Subjektivierung aufbaut, als bewusstes Wesen gedeutet werden, allerdings als ein solches, das sich auch seine animalischen Instinkte nutzbar zu machen weiß. Die „blonde Bestie“ oder das „Rudel blonder Raubthiere“ (GM II 17, KSA 5, S. 324), welches Nietzsche immer wieder bemüht, um auch die grausame Seite der Zivilisierung des Menschen zu betonen, ist also lediglich als eine Voraussetzung des souveränen Individuums zu verstehen und kann keineswegs mit ihm identifiziert werden. Denn Nietzsche betont, dass die vornehmeren Menschen lediglich auf einer vorhistorischen Stufe als Bestien und Raubtiere verstanden werden können (vgl. JGB 257, KSA 5, S. 205 f.). Souveränität setzt somit voraus, dass die Menschen bereits durch und durch subjektiviert sind, d. h. dass sie die sozialen Normen soweit verinnerlicht haben, dass sie in ihrem Denken und Handeln bereits zu Trägern dieser Sozialisation geworden sind (vgl. Owen 2007, S. 101). Die Metapher von der „reifste[n] Frucht“ (GM II 2, KSA 5, S. 293) steht hierbei für den Gedanken der Selbstüberwindung. Die reifste Frucht am Baume der Sittlichkeit der Sitte untergräbt somit gerade das, worauf sie aufbaut, nämlich den Gehorsam gegenüber der Sittlichkeit. So wie die christliche Moral durch den durch sie gezüchteten Glauben an die Wahrheit an sich selbst zugrunde geht (vgl.: GM III 27, KSA 5, S. 408 ff.), so entwertet sich die Moral (als Sittlichkeit) selbst, indem sie eine übersittliche Autonomie als ihre eigenste Konsequenz hervorbringt (vgl. Acampora 2006, S. 154). Die ursprünglich gegen Individualität gerichteten Werte der Sittlichkeit und des Gehorsams erzeugen also ironischerweise am Ende gerade eine höhere und reifere Form der Individualität.¹⁵ In der Morgenröthe hat Nietzsche den Begriff der Sittlichkeit der Sitte genauer untersucht und ihn mit einer individuellen Denk- und Handlungsweise kontrastiert. Er definiert Sittlichkeit als „Gehorsam gegen Sitten“ (M 9, KSA 3, S. 22). Hieran anschließend wird (wie auch in GM II 2) der „freie“ und individuelle Mensch als „unsittlich“ (M 9, KSA 3, S. 22) beschrieben, d. h. Autonomie wird von Nietzsche als Fähigkeit verstanden, den Sitten nicht aus Sittlichkeit (d. h. aus Gehorsam) zu folgen, sondern aus anderen Beweggründen, wie z. B. dem des „individuellen Nutzens“ (M 9, KSA 3. S.22). Es geht hierbei jedoch nicht um bloßes egoistisches Handeln, sondern darum, dass Handlungen nicht mehr aus einem lebensfernen und abstrakten Altruismus heraus vollzogen und gerechtfertigt werden sollen (vgl. Steinmann, S. 153 f.). Der kollektivistischen Moral der Sittlichkeit der Sitte wird also eine individuelle Ethik¹⁶ gegenübergestellt. Ähnlich wie durch das Bewusstsein, so wird also auch
Ganz im Sinne der Metapher der „reifsten Frucht“ hat Nietzsche den eigentlichen Philosophen auch als „Flügelthier“ der „Raupenform“ (GM III 10, KSA 5, S. 361) des asketischen Priesters bezeichnet. Bereits der frühe Nietzsche spricht von einer „Individual-Ethik“ (NL 1870 – 1871, KSA 7, 8[115], S. 266) und stellt diese ebenfalls in Kontrast zu kollektivistischen bzw. christlichen Auffassungen von Moral (vgl. auch NL 1870 – 1871, KSA 7, 8[81], S. 252).
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2 Begriffliche Untersuchung des souveränen Individuums
durch die Moral das Nicht-Individuelle, Gemein-Machende hervorgebracht und bestärkt (vgl. Schumann 2011, S. 158, 160). Unfreie Handlungen nämlich versteht Nietzsche als Gehorsam gegen eine höhere Autorität, welcher lediglich aus Furcht vor Strafe gefolgt wird. Ziel dieses sittlichen Handelns ist letztlich nur die Erhaltung der Sitte selbst (vgl. M 16, KSA 3, S. 29). Ein solches Handeln führt dazu, das Individuelle zu ignorieren und zu unterdrücken und lediglich den allgemeinen Nutzen von Vorschriften im Blick zu haben. In diesem Sinne schreibt Nietzsche: „Der Ursprung der Sitte geht auf zwei Gedanken zurück: ‚[D]ie Gemeinde ist mehr werth als der Einzelne‘ und ‚der dauernde Vortheil ist dem flüchtigen vorzuziehen‘“ (MA II 89, KSA 2, S. 412). Die Forderung, den individuellen Nutzen einer Handlung zu berücksichtigen, heißt für Nietzsche, der Tatsache gerecht zu werden, dass jegliches Handeln und Urteilen auf einer tieferen Ebene ohnehin auf Perspektivität, Irrtum und Nützlichkeitskriterien aufgebaut ist (vgl. Steinmann 200, S. 153 f.; FW 344, KSA, 3, S. 574 ff.). Der Dualismus von Egoismus und Altruismus wird aufgelöst, da auch das vermeintlich selbstlose sittliche Handeln zumindest mittelbar auf den „Vorthei[l] des Einzelnen“ (MA II 89, KSA 2, S. 412) zielt. Die Frage des Egoismus und des Eigennutzes führt Nietzsche wiederum zu der Frage nach dem Subjekt. Für ihn ist der landläufige Begriff vom Egoismus lediglich ein „Schein-Egoismus“ (M 105, KSA 3, S. 92). Laut Nietzsche ist der Begriff vom Menschen als einheitliches Subjekt seiner Handlungen ein „Phantom“ (M 105, KSA 3, S. 92), d. h. Produkt der den Einzelnen umgebenden Praktiken und Diskurse. Der Egoismus ist also gar kein wirklicher, geht er doch auf eine von außen konstruierte Persönlichkeitsstruktur zurück. Dies führt demzufolge auch nur zu „halbpersönlichen Meinungen und (…) Werthschätzungen“ (M 105, KSA 3, S. 93). Für Nietzsche sind wir also soweit von unseren eigentlichen Bedürfnissen entfernt, dass auch die Wertschätzungen, auf denen unser Handeln (vor allem unser moralisches Handeln) aufbaut, von uns entfremdet sind. Wir lernen demnach, unsere Handlungen auf Meinungen aufzubauen, die wir wiederum nicht weiter rechtfertigen können und von denen wir uns innerlich entfernt haben, beruhen sie doch auf von außen konstruierten und fiktiven Vorstellungen von Subjektivität und vom Menschsein (vgl. M 104, 105, KSA 3, S. 92 f.). Das souveräne Individuum, welches von Nietzsche auch als das „autonome übersittliche Individuum“ (GM II 2, KSA 5, S. 293) beschrieben wird, ist also unsittlich nicht in dem Sinne, dass es alle Sitten des Sozialisationsprozesses hinter sich lässt, sondern in dem Sinne, dass es einen wirklichen Egoismus entwirft, also die Grundlagen moralischen Handelns an sich und seine Bedürfnisse rückzubinden weiß: Ich leugne nicht (…), dass viele Handlungen, welche unsittlich heissen, zu vermeiden und zu bekämpfen sind; ebenfalls, dass viele, die sittlich heissen, zu thun und zu fördern sind, – aber ich meine: das Eine wie das Andere aus anderen Gründen, als bisher. Wir haben umzulernen, – um endlich (….): umzufühlen (M 103, KSA 3, S. 91, 92).
2.3 Sittlichkeit der Sitte und souveränes Individuum
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Jenes Umlernen bezieht sich auf Nietzsches Forderung der Umwertung der Werte, welche er den eigentlichen Philosophen zuschreibt (vgl. JGB 203, KSA 5, S. 126 f.). Das Umfühlen ergibt sich als Folge aus diesem Umwertungsprozess: Wenn die neuen und lebensnäheren Werte vom Einzelnen schließlich verinnerlicht wurden, so empfindet er zuletzt diese Werte als wären sie natürlich gegeben. Hieraus folgt erstens, dass das souveräne Individuum nicht übersittlich im Sinne von unmoralisch agiert, sondern, dass es einen anderen, dass heißt individuellen Zugang zu den Sitten und Werten der Gemeinschaft hat, weil es diese Sitten aus Eigennutz bejaht, und nicht aus einem Gehorsam gegen Sitten, von deren Begründungszusammenhängen es entfremdet ist (vgl. M 104, KSA 3, S. 92). Zweitens folgt daraus, dass das rationalistische cartesianische Subjekt der Erkenntnis abgelöst wird von einem souveränen Individuum, welches gerade nicht von einem „Gewinn von Rationalität“, sondern von einem „Impuls zum Egoismus“ (Steinmann 2000, S. 154) geleitet und definiert wird. Somit ist der erkenntnistheoretische Angriff auf den „Schein-Egoismus“ (M 105, KSA 3, S. 92) bzw. die „Scheinexistenz des Einzel-Subjekts“ auch ein praktisches „Attentat auf die Grundvoraussetzung der christlichen Lehre“ (JGB 54, KSA 5, S. 73). Denn insofern die Idee vom autonomen Subjekt auf die grammatikalischen Formen der indogermanischen Sprachen zurückgeführt und somit dekonstruiert wird, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass die christliche Idee der Seele und die hiermit verbundenen Begriffe der Verantwortung und der Schuld zurückgewiesen werden. Die nietzscheanische Vorstellung von Individualität ist somit gekennzeichnet durch die Idee der „Subjekts-Vielheit“ (JGB 12, KSA 5, S. 27) sowie des intuitiven, wahrhaft egoistischen und instinktiven ethischen Handelns. Das souveräne Individuum wird also für Nietzsche zunächst negativ definiert, indem geleugnet wird, „dass die sittlichen Urtheile auf Wahrheiten beruhen“ (M 103, KSA 3, S. 91). Auch die vermeintlich überindividuell und überzeitlich gültigen sittlichen Urteile beruhen erstens auf einem bloß subtiler funktionierenden Egoismus und zweitens auf der jeglichem Geschehen innewohnenden Perspektivität. Positiv führt Nietzsche in diesem Zusammenhang die Selbstsorgepraktiken der griechischen Philosophie an, die das Moment der Selbstbeherrschung, das jeder Moral innewohnt, nicht aus dem Altruismus der Sittlichkeit der Sitte heraus vollziehen, und somit die asketische Enthaltsamkeit „dem Individuum als seinen eigensten Vortheil, als seinen persönlichsten Schlüssel zum Glück an’s Herz legen“ (M 9, KSA 3, S. 23). Dieser Ansatz ist für Nietzsche lebensnaher und ehrlicher, verdeckt er doch nicht mehr das Streben nach Eigennutz und Lust, welches sich in jedem Handeln, auch im jedem moralischen Handeln, wiederfindet.¹⁷ Der Vergleich zu Foucaults Interpretation der sokratischen und nachsokratischen Selbstsorgepraktiken wird in Kapitel 4 dieser Arbeit besprochen. In diesem Zusammenhang wird zudem erneut und etwas detaillierter auf den Themenkomplex der Moral, der Sittlichkeit und der Ethik bei Nietzsche eingegangen. Erweitert wird die Problematik durch einen Vergleich zu Foucaults Analyse der antiken Praktiken der Selbstbeherrschung sowie des Konzepts der Ethik des Selbst.
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2 Begriffliche Untersuchung des souveränen Individuums
Bevor nun auf die für das Thema der Ethik sowie für den Gegenstand der vorliegenden Arbeit immens wichtige Frage nach der Freiheit des Willens eingegangen wird, wird zunächst untersucht, wie Nietzsche denjenigen Begriff definiert, der für ihn untrennbar mit seinem positiven Begriff der Willensfreiheit verbunden ist: nämlich den der (souveränen) Individualität.
2.4 Zum Begriff der Individualität bei Nietzsche Nietzsche grenzt seinen positiven Begriff von Individualität deutlich von dem der rationalen, einheitlichen und autonomen Subjektivität ab (vgl. Steinmann 2000, S. 148). Auch ist er nur in einem eingeschränkten Maße ein Individualist zu nennen (vgl. Hatab 2008b, S. 78). Er entwickelt seinen Begriff von Individualität vielmehr in Abgrenzung zu einem substantialistischen Verständnis von Identität: Statt vom Individuum spricht er daher auch vom „dividuum“ (MA I 57, KSA 2, S. 76), um deutlich zu machen, dass er nicht an den ‚atomaren‘ Individualitätsbegriff anknüpfen möchte (vgl. Hatab 2008b, S. 78 f.). Diese Auffassung von Individualität wird von Nietzsche wiederholt als „Irrthum“ (GD Irrthümer, 3, 7, KSA 6, S. 90, 95) bezeichnet. Die Einwände gegen den traditionellen Begriff vom Individuum sind bei Nietzsche in erster Linie erkenntnistheoretischer Natur. Das Individuum stellt keine bereits gegebene Entität dar, sondern ist vielmehr Folge einer vorübergehenden Zentrierung von Kraft, d. h. einer Zentrierung vom dynamischen Willen-zur-Macht-Geschehen in eine Einheit (vgl. Steinmann 2000, S. 148). Nietzsche nimmt die Idee des Werdens in seine Vorstellung einer solchen Individualität mit auf: „Der Begriff ‚Individuum‘ ist falsch. Diese Wesen sind isolirt gar nicht vorhanden: das centrale Schwergewicht ist etwas Wandelbares; das fortwährende Erzeugen von Zellen (…) giebt einen fortwährenden Wandel der Zahl dieser Wesen“ (NL 1885, KSA 11, 34[123], S. 462).¹⁸ Für Nietzsche ist die Rede vom Individuum streng genommen Ausdruck der Unfähigkeit, das werdende Geschehen adäquat wiederzugeben: „Der Begriff ‚Individuum‘ ‚Person‘ enthält eine große Erleichterung (….). Thatsächlich stecken dort Vorurtheile: wir haben leider keine Worte, um das wirklich Vorhandene, nämlich die Intensitäts-grade auf dem Weg zum Individuum, zur ‚Person‘ zu bezeichnen“ (NL 1885, KSA 11, 40[8], S. 631). In diesem Zitat steckt zum einen ein pragmatisch-praktisches
Die Idee der beständig neu erzeugten und sich erzeugenden Kraftquanta („Zellen“) führt Nietzsche sowohl zur Vorstellung der Vergänglichkeit von Individuen als auch zum Konzept der Vielheit innerhalb einer Person: „Ich habe einmal den Ausdruck ‚viele sterbliche Seelen‘ gebraucht: ebenso wie Jeder das Zeug zu vielen personae hat“ (NL 1885, KSA 11, 40[8], S. 631 f.). Der Begriff personae spielt hierbei auf die griechische Bedeutung des Begriffs der Person (Maske) an. Person-Sein bedeutet für Nietzsche in diesem Sinne, eine Maske zu tragen, d. h. Individualität ist notwendig etwas künstlerisch Erschaffenes, etwas, dem stets etwas Rollenhaftes beikommt.
2.4 Zum Begriff der Individualität bei Nietzsche
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Argument, wonach der Mensch sich vereinfachenden Formeln wie Individuum, Einheit oder Objekt bedient, um sich in der Welt zu orientieren. Zum anderen spielt Nietzsches Ausdruck, dass wir „keine Worte“ haben, um das dynamische Willen-zur-Macht-Geschehen auszudrücken, auf seine Kritik an der indogermanischen Grammatik an. Diese trägt, indem sie die Welt über die grammatikalischen Formen Subjekt-Prädikat-Objekt sprachlich vermittelt, dazu bei, die Wirklichkeit in metaphysischen Begriffen wie Substanz, Subjekt oder Individuum zu denken (vgl. NL 1885, KSA 11, 35[35], S. 526; JGB, 17, KSA 5, S. 31). Nietzsche unterscheidet zwischen jener gewöhnlichen, irrtümlichen Individualität der eingebildeten Einheit und einer Individualität, die erst erworben werden muss, indem sie im Akt des Lebens gewollt wird: „(W)olle ein Selbst, so wirst du ein Selbst“ (MA II 366, KSA 2, S. 524; vgl. NL 1881, KSA 9, 11[7], S. 442 f.; Steinmann 2000, S. 152 f.; White 1997, S. 20). Diese höhere Form der Einheit ist etwas, das vom Einzelnen selbst erst aus einer Vielheit heraus geschaffen werden muss. Nietzsche nennt Goethe als Beispiel für eine gelungene Form einer solchen personalen Selbstgestaltung: „Was er wollte, war Totalität (…); er disciplinirte sich zur Ganzheit, er schuf sich…“ (GD Streifzüge 49, KSA 6, S. 151). Diese bewusste künstlerische Selbsterschaffung des Individuums geschieht jedoch nicht als causa sui, nicht als isolierter heroischer Akt, sondern vollzieht sich aus den vorgefundenen Traditionen heraus: „Er [Goethe, Anmerkung des Verfassers – J. H.] nahm die Historie, die Naturwissenschaft, die Antike, insgleichen Spinoza zur Hülfe,vor Allem die praktische Thätigkeit (…), er löste sich nicht vom Leben ab, er stellte sich hinein“ (GD Streifzüge 49, KSA 6, S. 151; vgl. Steinmann 2000, S. 188). Dass Nietzsche Goethe exemplarisch als Beispiel für den Typus des souveränen Individuums vorstellt, verdeutlicht das Wort vom „freigewordne[n] Geist“ (GD Streifzüge 49, KSA 6, S. 152), mit welchem er Goethe charakterisiert, und das auf jenen „Freigewordne[n]“ (GM II 2, KSA 5, S. 293) verweist, als welchen Nietzsche das souveräne Individuum beschreibt. Dieser Freigeist, dieses souveräne Individuum „steht mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im Glauben, dass nur das Einzelne verwerflich ist, dass im Ganzen sich alles erlöst und bejaht“ (GD Streifzüge 49, KSA 6, S. 152). Das souveräne Individuum ist somit zur Schicksalsliebe, zum amor fati fähig. Der Gedanke einer Individualität, verstanden als für sich selbst stehende monadische Einheit, wird in dieser emphatischen Schicksalsbejahung zurückgewiesen. Nietzsche unterscheidet demzufolge zwischen der Individualität als bloß eingebildeter Einheit und einer wahren, positiven, sich selbst verwirklichenden Individualität, die den Gedanken der Vielheit in sich aufnimmt: [D]as Individuum selber ist ein Irrthum (…). Ich unterscheide aber: die eingebildeten Individuen und die wahren ‘Lebens-systeme‘, deren jeder von uns eins ist (…). (…) Schrittweise lernen, das vermeintliche Individuum abzuwerfen! (…) Über ‚mich‘ und ‚dich‘ hinaus! Kosmisch empfinden (NL 1881, KSA 9, 11[7], S. 443).
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2 Begriffliche Untersuchung des souveränen Individuums
Souveräne Individualität besteht demnach darin, nach unseren wahren „Lebenssysteme(n)“ zu leben, wie zwar jeder von uns immer schon eines ist, gemäß dem zu leben jedoch nur einigen Wenigen vorbehalten ist. Das kosmische Denken und Empfinden spiegelt sich in jenem „mitten im All“-Stehen Goethes wider. Es ist mit dem Gedanken des amor fati zu identifizieren. Dies bedeutet hinsichtlich des Begriffs des Individuums: Das souveräne Individuum konstituiert sich als Einheit und als Einzelnes paradoxerweise gerade über den Glauben daran, dass das Einzelne erst im Ganzen gerechtfertigt und „bejaht“ (GD Streifzüge 49, KSA 6, S. 152) wird. Der positive nietzscheanische Begriff des Individuums ist also paradox zu nennen, weil er gerade seine Gegensätze (Ganzheit, Vielheit) in sich aufnimmt: „Das Individuum als Vielheit“ (NL 1883, KSA 10, 7[273], S. 324). Bereits im Aphorismus über Goethe deutet Nietzsche an, dass vor allem die „praktische Thätigkeit“ (GD Streifzüge 49, KSA 6, S. 151) zu der Konstituierung freier Individualität beiträgt. Dass Nietzsche, ganz ähnlich wie der späte Foucault, die griechischen Selbstsorgepraktiken als Vorbild für die Etablierung souveräner Individuen ansah, macht folgendes Nachlasszitat deutlich: „Die Entstehung vieler freier Individuen bei den Griechen: Ehe nicht der Wollust wegen. Übung und Ausbildung der Kunst des coi[tus] (…). Die einfache Lebensweise (…). Die Religion keine Moralpredigerin, also Sitten freilassend“ (NL 1881, KSA 9, 11[97], S. 476). Dieses aus der Entstehungszeit der Morgenröthe stammende Zitat macht deutlich, dass Nietzsche den Gegensatz zum in der Morgenröthe beschriebenen Moral-Individuum der Sittlichkeit der Sitte im antiken Individuum sieht. Wie auch bei Foucault beschrieben, konstituiert sich dieses Individuum über asketische Übungen und sexuelle Selbstbeherrschung. Jedoch werden diese Praktiken nicht wie im Christentum aus purem Gehorsam gegenüber der Sitte vollzogen, sondern freiwillig, d. h. Askese und Selbstbeherrschung sind lediglich Angebote, welche ausgeübt werden dürfen und die dem höheren Zweck der Etablierung einer autonomen Individualität dienen (vgl. bei Foucault SW II, S. 38 ff.). Die souveräne Individualität, welche sich von der gewöhnlichen Form von Individualität abhebt, konstituiert sich für Nietzsche demnach in einem Verhältnis zu sich selbst, welches immer auch das Verhältnis zum Anderen (kosmisches Empfinden) mit einschließt. Dies meint jedoch kein intersubjektives, anerkennendes Verstehen des Anderen als Person, sondern die Tatsache, dass das Individuum notwendig Teil des Ganzen ist und sich somit nicht in Opposition und Unabhängigkeit gegenüber der Welt konstituiert. Souveräne Individualität hat also eine bejahende Offenheit gegenüber dem dionysischen Geschehen zur Voraussetzung, in welchem es gar keine festen Punkte und ‚Subjekte‘ mehr geben kann: „Das Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen (…) das nannte ich dionysisch (…) die ewige Lust des Werdens selbst zu sein“ (GD Alten 5, KSA 6, S. 160). Ein detaillierterer Vergleich zwischen Nietzsches und Foucaults Konzeptionen individueller Souveränität und antiker Selbstsorge wird in Kapitel 4 dieser Arbeit vorgenommen.
2.5 Versprechen-Können und Freiheit des Willens
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Bis hierhin ist deutlich geworden, dass Nietzsches Begriff vom souveränen Individuum weit über jene Textstelle in GM II 2 hinausweist und sich unter verschiedenen Synonymen wie ‚freie Individuen‘ oder ‚freie Geister‘ wiederfindet (vgl. Schumann 2011, S. 93 ff.). Wird der Begriff eines isolierten und einheitlichen Individuums, welches sich als ‚Subjekt der Erkenntnis‘ rational auf eine empirisch vor ihm liegende Welt bezieht, dekonstruiert, so hat dies auch Konsequenzen für den Begriff der Willensfreiheit, ist dieser doch traditionell an ein eben solches vernünftiges und autonomes Subjekt gebunden.
2.5 Versprechen-Können und Freiheit des Willens Es findet sich in Nietzsches Spätwerk ein scheinbarer Widerspruch zwischen seinem Konzept des souveränen Individuums, welches er als „Herr des freien Willens“ (GM II 2, KSA 5, S. 292) bezeichnet und dem er das „Privilegium der Verantwortlichkeit“ zuschreibt einerseits, und seiner Leugnung von Willensfreiheit und Verantwortlichkeit andererseits: „Dass Niemand mehr verantwortlich gemacht wird (…), dies erst ist die grosse Befreiung“ (GD Irrthümer 8, KSA 6, S. 96 f.). Obwohl Nietzsche die Idee der Willensfreiheit „in jenem metaphysischen Superlativ-Verstande“ (JGB 21, KSA 5, S. 35) ablehnt, so weist er gleichermaßen das deterministische Modell des ‚unfreien Willens‘ zurück: Der unfreie Wille ist für Nietzsche bloße „Mythologie“ (JGB 21, KSA 5, S. 36), die auf einen „Missbrauch von Ursache und Wirkung hinausläuft“ (JGB 21, KSA 5, S. 35; vgl. Acampora 2006, S. 151 f.). Begriffe wie Kausalität, Ursache und Wirkung sind für Nietzsche „conventionell[e] Fiktionen“ (JGB 21, KSA 5, S. 36), die nicht in der Wirklichkeit vorgefunden werden können, sondern rein funktionalen Charakter haben. Den naturwissenschaftlichen Begriff von Notwendigkeit lehnt er daher ab: „Im ‚An-sich‘ gibt es nichts von ‚Causal-Verbänden‘, von ‚Notwendigkeit‘, von ‚psychologischer Unfreiheit‘, da folgt nicht ‚die Wirkung auf die Ursache‘, da regiert kein ‚Gesetz‘“ (JGB 21, KSA 5, S. 36). Und dennoch gebraucht Nietzsche in einem zeitnah veröffentlichten Text gerade jene Begriffe, um seine Vorstellung vom Geschehen auszudrücken: „Der Einzelne ist ein Stück Fatum, von Vorne und von Hinten, ein Gesetz mehr, eine Nothwendigkeit mehr (…). Zu ihm zu sagen ‚ändere dich‘ heisst verlangen, dass Alles sich ändert“ (GD Moral 6, KSA 6, S. 87). Der Begriff von Notwendigkeit, den Nietzsche gebraucht, ist also nicht kausaldeterministisch zu verstehen, d. h. der Einzelne unterliegt für ihn keinen äußeren Zwängen, sondern er ist vielmehr Teil des Ganzen, von dem er sich nie lösen, und von dem er deshalb auch nicht äußerlich beeinflusst und bestimmt werden kann, würde dies doch voraussetzen, dass er unabhängig von diesem Ganzen existiert (vgl. Steinmann 200, S. 149). Aus diesem Grund erteilt Nietzsche auch dem traditionell moralphilosophischen Begriff der Verantwortlichkeit eine Absage: „(E)s giebt Nichts, was unser Sein richten, messen, vergleichen, verurhteilen könnte, denn das hiesse das
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2 Begriffliche Untersuchung des souveränen Individuums
Ganze richten, messen, vergleichen, verurhteilen…Aber es giebt nichts ausser dem Ganzen!“ (GD Irrthümer 8, KSA 6, S. 96). Trotzdem spricht Nietzsche von dieser Einsicht in die Unfreiheit paradoxerweise als von einer „Befreiung“ (GD Irrthümer 8, KSA 6, S. 97). Den Begriff der Freiheit, den Nietzsche aus jenen Überlegungen ableitet, ist also nicht durch seinen Gegensatz, der Notwendigkeit, bestimmt, sondern ist gar nicht mehr von der Notwendigkeit zu trennen (vgl. Emundts 1997, S. 98). Niemand anderes als man selbst sein zu können, ist also unter dem Gesichtspunkt der Selbstannahme sowie der Akzeptanz der Notwendigkeit allen Geschehens als Freiheit zu begreifen: „Er wird durch sich selber frei und ist doch aus eben diesem Grund an sich gebunden“ (Steinmann 2000, S. 149). Der Gegensatz zwischen Freiheit und Notwendigkeit wird also aufgegeben zugunsten eines neuen Gegensatzes zwischen Bejahung und Verneinung: „Wir Anderen, wir Immoralisten, haben umgekehrt unser Herz weit gemacht für alle Art Verstehn, Begreifen, Gutheissen. Wir verneinen nicht leicht, wir suchen unsre Ehre darin, Bejahende zu sein“ (GD Moral 6, KSA 6, S. 87). In diesem Sinne kann Freiheit für Nietzsche also nicht mehr bedeuten, zwischen verschiedenen Optionen zu wählen, sondern vielmehr das Ganze zu bejahen oder zu verneinen.¹⁹ Bezüglich des souveränen Individuums lässt sich noch eine zweite Bedeutung von Freiheit in Nietzsches Spätphilosophie herausarbeiten. Nietzsche spricht von einem „Gedächtniss des Willens: so dass zwischen das ursprüngliche ‚ich will‘ (…) und die eigentliche Entladung des Willens, seinem Akt, unbedenklich [Hervorhebung durch den Verf. – J. H.] eine Welt von (…) Dingen, Umständen, selbst Willensakte dazwischengelegt werden darf, ohne dass diese lange Kette des Willens springt“ (GM II 1, KSA 5, S. 292). Hier eröffnet Nietzsche neben der fatalistischen noch eine handlungsbezogene Ebene der Freiheitsbeschreibung. Freiheit wird in diesem Zusammenhang verstanden als spezifische Fähigkeit, ein Vorhaben auch über längere Zeitintervalle und über andere Willensakte hinweg zur Ausführung zu bringen.²⁰ Nietzsches Freiheitsbegriff bezieht sich offenbar nicht auf eine spezifische Handlung, sondern Freiheit bemisst sich vielmehr danach, wie lange man fähig ist, an einem einmal Gewollten festzuhalten. Freiheit entsteht für ihn dementsprechend nicht in einer Wahl zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten, sondern im kontinuierlichen Weiter-Wollen des notwendig Gewollten. Es geht also, soviel kann schon bis hierhin festgehalten werden, nicht um das Was, sondern das Wie des Wollens.
In den Kapiteln 3.2 und 3.3 dieser Arbeit wird erneut auf den Themenkomplex von Freiheit, Verantwortlichkeit und Notwendigkeit eingegangen. Dort wird insbesondere Nietzsches Lehre der ewigen Wiederkehr und der des amor fati untersucht. Wie bereits weiter oben angeführt (vgl.: Kapitel 2.1 und 2.5 dieser Arbeit), ist für Nietzsche hierfür der Begriff des Versprechens elementar. Nicht nur das Vergessen, sondern auch dessen „Gegenvermögen“ (GM II 1, KSA 5, S. 292), das Gedächtnis, welches Voraussetzung für jedes Versprechen ist, wirkt also handlungsermöglichend hinsichtlich einer Autonomie im Tun.
2.5 Versprechen-Können und Freiheit des Willens
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Die Formulierung „unbedenklich“, die im obigen Zitat von mir hervorgehoben wurde, verweist auf eine zentrale Formulierung aus Nietzsches spätem Nachlass: Der große synthetische Mensch fehlt: in dem die verschiedenen Kräfte zu Einem Ziele unbedenklich [Hervorhebung durch den Verf. – J. H.] in’s Joch gespannt sind. Was wir haben, ist der vielfache Mensch, das interessanteste Chaos, das es vielleicht bisher gegeben hat (NL 1887, KSA 12, 9[119] (78), S. 404).
Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass die Übereinstimmungen der beiden Texte nicht bloß in der Formulierung liegen. Nietzsche beschreibt hier den modernen, zeitgenössischen Menschen als einen, dem es nicht gelingt, die Vielheit seiner Antriebe und Ansichten in einem großen Ganzen zu integrieren. Dem wird der synthetische Mensch gegenübergestellt, welcher die verschiedenen Kräfte und Ziele zugunsten eines höheren Ziels „in’s Joch“ spannt, d. h. der die Vielheit der sich widerstrebenden Kräfte in sich hierarchisiert, indem er sie einem größeren Zwecke unterwirft (vgl. Gemes 2007, S 10). Willensfreiheit kann also an dieser Stelle definiert werden als Vermögen, seine Antriebe und Wünsche einem Ganzen unter- und nachzuordnen. Derjenige, der versprechen kann, kann garantieren, in der Verfolgung des großen Zieles nicht vom Weg abzukommen, d. h. kein anderer, untergeordneter Trieb wird ihn davon abbringen, sein Versprechen einzuhalten (vgl. Gemes 2007, S. 12). Nietzsches Begriff von Willensfreiheit ist also eng an den des Versprechens gekoppelt und dieser wiederum ist mit dem souveränen Individuum assoziiert. Nietzsche verwendet den Ausdruck vom „dominirenden Instinkt“ (GM II 2, KSA 5, S. 294), um den Begriff von Willensfreiheit und Verantwortlichkeit, welcher dem souveränen Individuum zukommt, näher zu erläutern. Innerhalb der ‚Subjekts-Vielheit‘ kommt also der stärkste bzw. der wertvollste Instinkt zur Herrschaft, um das Versprechen einzulösen. Der moderne Mensch hingegen ist nicht dazu fähig, seine innere Vielheit in eine Ganzheit zu synthetisieren und lässt sich somit ständig durch einen seiner vielen Antriebe von seinem Ziel abbringen. Für die Frage nach der Einheit bzw.Vielheit des souveränen Individuums bedeutet dies: Die von Nietzsche vollzogene Kritik an der Idee der ‚Unsterblichkeit der Seele‘, am ‚Ich‘ und der ‚Einheit der Person‘ (vgl. JGB 12, KSA 5, S. 26 f.) muss nicht wieder aufgehoben werden, um ein neues Konzept von Willensfreiheit zu etablieren. Denn Willensfreiheit setzt nun nicht mehr ein gegebenes, einheitliches, autonomes und ursächliches Subjekt voraus. Vielmehr muss die Freiheit erst erworben werden. Sie ist für Nietzsche ein Privileg, dem nur wenige und besondere Individuen innewerden können, d. h. souveräne Individualität konstituiert sich erst in dem Prozess der Hierarchisierung der Triebe. In einer solchen Hierarchie der Antriebe wird ein dominierender Instinkt stark genug, um Herr über die anderen Instinkte, Triebe und Antriebe, Wünsche und Ideen
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2 Begriffliche Untersuchung des souveränen Individuums
zu werden. Alle anderen Bedürfnisse werden also in diesem einen dominierenden Instinkt sublimiert (vgl. Gemes 2007, S. 13). Die Diagnose von der „Seele als Subjekts-Vielheit“ und der „Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte“ (JGB 12, KSA 5, S. 27) wird nicht zurückgenommen, sondern lediglich ergänzt durch die Möglichkeit der Etablierung einer „seelischen Ordnung“ (GM II 1, KSA 5, S. 292) und der Hierarchisierung, die laut Nietzsche typisch ist für ein funktionierendes Gemeinwesen. Vor diesem Hintergrund erscheint auch jene bereits zitierte Passage aus JGB 19 in einem anderem Licht: „‚Freiheit des Willens‘ – das ist das Wort für jenen vielfachen Lust-Zustand des Wollens, der befiehlt und sich zugleich mit dem Ausführenden als eins setzt“. Die traditionelle Idee von Willensfreiheit verfällt also der Illusion, den Handelnden mit dem zur Herrschaft gelangten Instinkt zu identifizieren und hieraus eine Einheit der Person abzuleiten. Nietzsche hingegen proklamiert ein Nebeneinander miteinander konkurrierender Machtquanta (Kräfte, Triebe, Instinkte). Und Souveränität bestünde demnach darin, den vorübergehend dominierenden Instinkt anzuerkennen, aber gleichzeitig die Vielheit der ‚Unterpersonen‘ innerhalb einer ‚Person‘ zu akzeptieren. Willensfreiheit wiederum ist somit nicht mehr an die Idee des cartesianischen Subjekts gebunden (vgl. JGB 17, KSA 5, S. 30 f.). Der wirklich willensstarke Mensch hat nach Nietzsche nicht mehr die Illusion nötig, selbst alleiniger Herrscher über sein Handeln zu sein, sondern er ist stark und souverän genug, den metaphysischen Glauben an das einheitliche Subjekt sowie den an eine objektive Wahrheit hinter sich zu lassen und den Gedanken der inneren Vielheit und der inneren Kämpfe anzuerkennen und sogar zu bejahen: „Wo ein Mensch zu der Grundüberzeugung kommt, dass ihm befohlen werden muss, wird er ‚gläubig‘; umgekehrt wäre eine Lust und Kraft der Selbstbestimmung, eine Freiheit des Willens denkbar, bei der ein Geist jedem Glauben, jedem Wunsch nach Gewissheit den Abschied giebt, geübt, wie er ist, auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können und selbst an Abgründen noch zu tanzen. Ein solcher Geist wäre der freie Geist par excellence“ (FW 347, KSA 3, S. 583). In diesem Sinne bemisst Nietzsche die Größe des Menschen nach seiner Fähigkeit, eben jene Vielfältigkeit zu ertragen und „seine Ganzheit im Vielen zu setzen“. Nietzsche bestimmt auch den Grad der Verantwortlichkeit, zu dem ein Mensch fähig ist, danach, „wie viel und vielerlei Einer tragen und auf sich nehmen“ (JGB 212, KSA 5, S. 146) kann. Das verantwortliche und freie souveräne Individuum wird also dadurch bestimmt, seine innere Vielheit zu ertragen und zu einer höherstufigen Einheit zu synthetisieren. Was schon im Abschnitt über die Individualität gezeigt worden ist, offenbart sich auch bezüglich Nietzsches Begriff der Willensfreiheit: Der Irrtum besteht in der Identifikation metaphysischer, menschlich-allzumenschlicher Begriffe (Subjekt, Individuum, Willensfreiheit, Einheit der Person) mit den tatsächlichen Vorgängen in der Welt. Die Wirklichkeit vielmehr als werdendes, dynamisch-dionysisches Willen-zurMacht-Geschehen aufzufassen und somit auch sich selbst nicht mehr durch jene
2.5 Versprechen-Können und Freiheit des Willens
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metaphysischen Begriffe zu interpretieren und ihnen gemäß zu handeln, dies bedeutet für Nietzsche eigentlich individuell und autonom zu sein. Wie das Individuum immer nur die vorübergehende Zentrierung und Zementierung vielfältiger Kraftquanta sein kann, so ist Freiheit des Willens die vorübergehende Herrschaft eines dominierenden Instinkts über andere Instinkte. Ähnlich wie der Gedanke der Willensfreiheit nicht mehr in Abgrenzung zur Notwendigkeit begriffen wird, so steht auch Nietzsches Vorstellung von der Einheit der Person nicht mehr in einem anachronistischen Verhältnis zur Idee der Vielheit, sondern wird gerade durch die Vielheit definiert und bestimmt. Das Selbst ist für Nietzsche somit ein die Vielheit integrierendes, vorübergehendes Ganzes. Diese höhere Einheit wird geboren aus dem zur Herrschaft gelangten dominierenden Instinkt. Das heißt, Freiheit bemisst sich auch danach, wie groß der Widerstand der anderen Kräfte war, der durch den zur Herrschaft gelangten Instinkt überwunden werden musste (vgl. GD Streifzüge 38, KSA 6, S. 139 f.). Nietzsches positiver Begriff von Einheit und von der Freiheit des Willens ist somit ein nicht-transzendentaler (vgl.: Gemes 2007, S. 13). Freiheit gründet nicht auf der Fähigkeit eines autonomen Subjekts, eine Handlung von sich aus zu beginnen (vgl. bei Kant KrV B 472 ff.).²¹ Sowohl die Idee der Willensfreiheit als auch die der Person, sind für Nietzsche keine Begriffe, die etwas in der Wirklichkeit Vorzufindendes beschreiben, sondern sie bezeichnen vielmehr einen Verdienst, der zu erlangen nur einigen Wenigen vorbehalten ist (vgl. NL 1887, KSA 12, 10[59] (187), S. 492; Gemes 2007, S. 10, 13). Eine Person ist man nicht, sondern man wird sie. Nicht umsonst spricht Nietzsche in jener berühmten Formulierung davon, dass wir die werden sollen, die wir sind (vgl. FW 335, KSA 3, S. 563). Die zu erstrebende ‚Einheit der Person‘ ist in diesem Sinne auch immer etwas Vorübergehendes, das die heraklitische Lehre vom Werden in sich aufnimmt: „So zeigt sich, daß Nietzsche in der Einheit nicht einen Zustand des Seins sieht, der einen früheren Prozeß des Werdens ablöst und ersetzt, sondern eher einen fortdauernden
Vgl. in diesem Zusammenhang Brusotti (Brusotti 2017) zum Begriff der Spontanität bei Nietzsche und bei Kant. Brusotti führt dort aus, dass in Nietzsches Werk zwei einander ausschließende Verwendungen des Begriffs der Spontanität aufzufinden sind: Zum einen verwendet Nietzsche den Begriff bezüglich Kant. Dieses Verständnis von Spontanität weist er als Willensmetaphysik zurück (vgl. Brusotti 2017, S. 223 ff.; NL 1887, KSA 12, 10[57](185), S. 485 ff.; GD Irrthümer 3, KSA 6, S. 90 f.). Zum anderen jedoch findet sich bei Nietzsche auch ein eigener, positiver Begriff der Spontanität, welcher an organische Prozesse gebunden ist und somit – in Angrenzung zu Kant – nicht absolut, sondern graduell zu verstehen ist (vgl. Brusotti 2017, S. 223, 226). Diesem Verständnis nach ist das Gefühl der Freiheit und der Ursächlichkeit, das sich in der Spontanität einstellt, auf die Kraft zurückzuführen, die in diesem Prozess ausgelebt wird (vgl. Brusotti 2017, S. 227; JGB 19, KSA 5, S. 33). Spontanität in diesem Sinne ist bei Nietzsche u. a. mit der Aktivität ‚höherer Typen‘ verbunden, welche, im Gegensatz zum ‚modernen Menschen‘, nicht bloß auf äußere Reize reagieren, sondern auch zu agieren in der Lage sind (vgl. NL 1887, KSA 12, 10[18](151), S. 464). Nietzsches Begriff von Spontanität ist jedoch nicht-metaphysisch, da er nicht auf ein einheitliches und autonomes Subjekt als Träger der Spontanität rekurriert (vgl. Brusotti 2017, S. 223; NL 1887, KSA 12, 10[19](152), S. 465).
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2 Begriffliche Untersuchung des souveränen Individuums
Prozeß der Integration der eigenen Charakterzüge, Gewohnheiten und Handlungsmuster“ (Nehamas 1991, S. 236). Souveräne Individualität bestimmt sich bis hierhin als Fähigkeit, die widerstrebenden Kräfte des Erinnerns und des Vergessens zu dem höherstufigen Vermögen des Versprechens zu synthetisieren. Hiermit korrespondiert Nietzsches Forderung, sowohl die Ergebnisse der zivilisatorischen Dressur als auch die animalischen Kräfte und Antriebe den Umständen entsprechend ‚aus- und einzuhängen‘. Dieses Versprechen-Können bedeutet, etwas Gewolltes auch über andere Willensakte hinfort weiter zu wollen. Im Anschluss hieran bestimmt sich Autonomie nicht mehr als freie Wahl zwischen verschiedenen Handlungsoptionen, sondern als Willensstärke, d. h. als Vermögen, seinen Willen gegen äußere wie innere Widerstände durchzusetzen. Die Einheit der Person, die in der Tradition noch die Voraussetzung für die Willensfreiheit bildet, wird bei Nietzsche ersetzt durch seine Lehre von der Vielheit der Kräfte und Bestrebungen, welche sich innerhalb einer ‚Person‘ vollziehen. Eine personale Ganzheit ist in diesem Sinne nur noch als eine vorübergehende Konstruktion vorstellbar, in welcher eine solche Vielheit in souveräner Weise hierarchisiert wird. In Kapitel 3 der Arbeit werden die Begriffe des Erinnerns, des Vergessens, der Sittlichkeit der Sitte und der Willensfreiheit, welche vorangehend in Bezug auf das souveräne Individuum interpretiert worden sind, eine inhaltliche Vertiefung erfahren, indem sie mit anderen Konzepten aus Nietzsches Oeuvre in Zusammenhang gebracht werden.
3 Inhaltliche Vertiefung des Themenkomplexes „souveränes Individuum“ Die Erkenntnisse, welche in Kapitel 2 hinsichtlich des Begriffs vom souveränen Individuum gewonnen werden konnten, sollen nun mit anderen zentralen Denkfiguren in Nietzsches Werk (amor fati, eigentliche Philosophen, Wille zur Macht) kontextualisiert werden. In diesem Zusammenhang werden zudem die Debatten, die in der Nietzscheforschung über den Begriff des souveränen Individuums geführt werden, kritisch beleuchtet. Nietzscheforscher haben sich bereits vereinzelt mit der Frage beschäftigt, wie sich das Konzept des souveränen Individuums zusammensetzt und welches Verständnis von Freiheit mit diesem Begriff zusammenhängt. Wie konstituiert sich nun das souveräne Individuum bzw. durch wen und durch welche Akte wird es vorbereitet?
3.1 Das souveräne Individuum im Kontext der eigentlichen Philosophen Zum einen nennt Nietzsche den zivilisatorischen Prozess der Sittlichkeit der Sitte, an deren Ende er das Erscheinen des souveränen Individuums situiert (vgl. GM II 2, KSA 5, S. 293). Zum anderen fordert und erhofft er die Ankunft anderer, zukünftiger, eigentlicher Philosophen, welche über die Umwertung der Werte das Erscheinen des souveränen Individuums auch aktiv vorbereiten, aktiv lehren sollen (vgl. JBG 203, KSA 5, S. 126 f.; GM II 1– 24, KSA 5, S. 291– 336). Die vorliegende Arbeit wird die Begriffe des souveränen Individuums und des eigentlichen Philosophen in Verbindung bringen, d. h.: Es soll danach gefragt werden, ob diese Begriffe sich voneinander differenzieren, aufeinander aufbauen, oder ob sie vielmehr identisch sind (Z I Tugend 2, KSA 4, S. 100 f.; vgl. Ibáñez-Noé 1998, S. 77). In der Nietzscheforschung regen sich Einwände dagegen, dass man den Begriff des souveränen Individuums mit anderen nietzscheanischen Konzepten verbindet. Acampora (2006) führt in Anlehnung an Hatab (1995) aus, dass die Begriffe der Verantwortlichkeit, der Individualität, der Selbstkontrolle und der Willensfreiheit, die Nietzsche vorbringt, um das souveräne Individuum zu beschreiben, in Wahrheit Begriffe sind, die sich gegen Grundzüge der nietzscheanischen Philosophie richten. Für Hatab sind diese Begriffe vielmehr solche, die aus einer rationalen Tradition stammen und somit nicht dazu dienen können, Nietzsches eigene Vorstellung von Leben und Philosophie zu untermauern (vgl. Acampora 2006, S. 150 ff., Hatab 1995, S. 37 ff., Hatab 2008b, S. 76 ff.). So kann für Hatab zum Beispiel das Vermögen der „Herrschaft über die Umstände“ (GM II 2, KSA 5, S. 294), welches Nietzsche dem souveränen Individuum zuspricht, nicht in Einklang gebracht werden mit dessen Lehre des amor fati, da es hier https://doi.org/10.1515/9783110603316-004
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3 Inhaltliche Vertiefung des Themenkomplexes „souveränes Individuum“
Hatab zufolge gerade um den Verlust von Autonomie im Handeln geht (vgl. Acampora 2006, S. 152; Hatab 1995; Hatab 2008b, S. 77). Acampora fasst zusammen, dass Nietzsches Ausführungen zum souveränen Individuum keinewegs den Schluss zulassen, dass es sich hierbei um sein eigenes Ideal handelt: „Simply put, there is not enough textual evidence to support the general and often repeated claim that the sovereign individual of GM II: 2 is Nietzsches’s ideal type“ (Acampora 2006, S. 153). In Kapitel 2 der Arbeit konnte bereits festgestellt werden, dass Nietzsche durchaus eigene, positiv gewendete Begriffe von Autonomie und Individualität entwickelt hat, welche er von denen der Tradition abgrenzt. In diesem Kapitel soll nun u. a. nachgewiesen werden, dass auch das Konzept des amor fati keineswegs in Widerspruch zu Nietzsches Vorstellung von „Verantwortlichkeit“ und „Herrschaft über die Umstände“ (GM II 2, KSA 5, S. 294) gerät, sondern, dass dieses vielmehr ein zentrales Moment der nietzscheanischen Konzeption souveräner Individualität darstellt. In den folgenden Ausführungen wird nun zunächst über einen intertextuellen Vergleich der Nachweis gebracht werden, dass Nietzsches Vision individueller Souveränität sehr wohl den Typus darstellt, welchen Nietzsche anstrebt. Denn es finden sich in seinem Werk viele Textstellen, in welchen Nietzsche das Heraufziehen der sogenannten eigentlichen Philosophen thematisiert. Diese Textstellen machen zudem deutlich, dass Nietzsche das Konzept der eigentlichen Philosophen emphatisch bejaht und herbeiführen möchte (vgl. JGB 203, KSA 5, S. 127). Wenn sich nun also nachweisen ließe, dass Nietzsches Utopie der neuen oder eigentlichen Philosophen eine starke Affinität zu der Idee des souveränen Individuums aufweist, so ließe sich auch Acamporas und Hatabs These zurückweisen, wonach das souveräne Individuum nicht mit anderen wichtigen Konzepten aus der Philosophie Nietzsches verbunden werden kann. Es soll also der Frage nachgegangen werden, ob Nietzsches Ideal souveräner Individualität ein philosophisches Ideal ist. Es gibt durchaus Textstellen in Nietzsches Schriften, die eine gewisse Stufenfolge von den eigentlichen Philosophen zum souveränen Individuum nahelegen. So beschreibt Nietzsche etwa in JGB 203 die Aufgabe der neuen Philosophen, eine „Züchtung vorzubereiten“, die es dem Menschen ermöglicht, sich autonom in der Welt zu bewegen. Hierfür ist eine „Umwerthung der Werthe“ (JGB 203, KSA 5, S. 126) nötig, die letztlich dazu führen soll, einen Menschen zu erschaffen, welcher zum Gefühl der „Verantwortlichkeit“ fähig ist und zum Herrscher über andere werden soll. Ein solcher Mensch entspricht dem, was Nietzsche an anderer Stelle als das souveräne Individuum beschreibt (vgl. GM II 2, KSA 5, S. 293 f.). Hier scheint also das souveräne Individuum eher Folge der Arbeit der eigentlichen Philosophen zu sein. Dass jedoch zwischen dem souveränen Individuum und eben jenen eigentlichen oder zukünftigen Philosophen eine Wesensverwandtschaft herrscht, macht der Aphorismus 10 aus dem dritten Abschnitt der Genealogie der Moral deutlich. Er stellt hier den Philosophen, wie er ihn verstehen möchte, als jemanden vor, der aus der jahrtausendealten Knechtung des Menschen durch die asketisch-religiösen Systeme heraustritt:
3.1 Das souveräne Individuum im Kontext der eigentlichen Philosophen
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Ist das bunte und gefährliche Flügelthier, jener ‚Geist‘, den die Raupe in sich barg, (….) zuletzt doch noch entkuttet und in’s Licht hinausgelassen worden? Ist heute schon genug Stolz, Wagnis, (…) Wille zur Verantwortlichkeit, Freiheit des Willens vorhanden, dass wirklich nunmehr auf Erden ‚der Philosoph‘ – möglich ist?
Der wahre oder eigentliche Philosoph entsteht also erst aus der Knechtung des Menschen durch lebens- und weltverneinende asketische Ideale. In diesem Zusammenhang fällt vor allem die Ähnlichkeit der Metaphern zu Nietzsches Beschreibung des souveränen Individuums in GM II 2 auf. Auch das souveräne Individuum konstituiert sich für Nietzsche aus einer Geschichte der Knechtung und Dressur heraus (Sittlichkeit der Sitte). Das souveräne Individuum wird dort als „reifste Frucht“ an dem „Baum“ der Sittlichkeit der Sitte vorgestellt. Den Philosophen aus GM II 10 beschreibt Nietzsche als „Flügelthier“, den die „Raupe“ des asketischen Ideals in sich birgt. Außerdem werden die Begriffe der Verantwortlichkeit sowie der Freiheit des Willens, mit denen Nietzsche in dieser Textstelle den Philosophen charakterisiert, von ihm auch verwendet, um das souveräne Individuum zu beschreiben. Dass Nietzsche an dieser Stelle nicht irgendwelche Philosophen meint, sondern die eigentlichen oder neuen Philosophen, zeigt wiederum der Aphorismus 203 aus Jenseits von Gut und Böse, in welchem er die neuen Philosophen mit dem Ideal der „Verantwortlichkeit“ (JGB 203, KSA 5, S. 127) in Verbindung setzt. Es geht ihm hier also um das, was er auch vom souveränen Individuum sowie vom „Philosoph“ aus GM III 10 erwartet. Auch in JGB 61 stellt Nietzsche den Philosophen als „Mensch der umfänglichsten Verantwortlichkeit“ vor, „der das Gewissen für die Gesammt-Entwicklung des Menschen hat“. Gewissen und Verantwortlichkeit sind für Nietzsche ebenso Begriffe, mit denen er das souveräne Individuum umschreibt (vgl. GM II 2, KSA 5, S. 293 f.). Souveräne Individualität sowie eigentliche Philosophie werden demzufolge beide als erst zu erwartende Ereignisse beschrieben, sie entstehen beide aus ihnen widersprechenden Prinzipien, entwickeln sich aber auch über diese hinaus. Es gilt also festzuhalten, dass Nietzsches Konzept des souveränen Individuums ein philosophisches Ideal ist, da es starke inhaltliche und rhetorische Parallelen zu der Utopie der eigentlichen Philosophen aufweist. Hierfür ist es nicht nötig, die beiden Konzepte komplett miteinander zu identifizieren. Jedoch genügen diese starken Affinitäten, um zu zeigen, dass der Begriff des souveränen Individuums bei Nietzsche weit über die Textstelle in GM II 2 hinausreicht und sehr wohl mit anderen zentralen Begriffen seines Werkes in Verbindung gesetzt werden kann. Was genau zeichnet nun diese eigentlichen Philosophen aus? Nietzsche unterscheidet zwischen den philosophischen Arbeitern und den eigentlichen Philosophen. Während erstere „irgend einen grossen Thatbestand von Werthschätzungen – das heisst ehemaliger Werthsetzungen, Wertschöpfungen, welche herrschend geworden sind und eine Zeitlang ‚Wahrheiten‘ genannt werden – fest[stellen] und in Formeln (…) drängen“, so sind die eigentlichen Philosophen „Befehlende und Gesetzgeber: sie
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3 Inhaltliche Vertiefung des Themenkomplexes „souveränes Individuum“
sagen ‚so soll es sein!‘, sie bestimmen erst das Wohin? und Wozu? des Menschen (…) Ihr ‚Erkennen‘ ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist – Wille zur Macht“ (JGB 211, KSA 5, S. 144, 145). Die eigentlichen Philosophen schaffen also neue Werte und motivieren ihr wissenschaftliches Arbeiten nicht mehr aus dem letztlich lebensverneinenden Prinzip des Willens zur Wahrheit heraus (vgl. GM III 24, KSA 5, S. 398 ff.). Das Kriterium ihrer ‚Wahrheiten‘ ist die Lebenstauglichkeit, der Begriff einer objektiven Erkenntnis wird verabschiedet. Während sich also die philosophischen Arbeiter an dem ‚abarbeiten‘, was im Sinne des Gehorchens gegenüber der Sittlichkeit der Sitte verlangt wird, so treten diese eigentlichen Philosophen – wie das souveräne Individuum – als Befehlender und Herrscher über alle „willenskürzeren“ (GM II 2, KSA 5, S. 294) Menschen auf. Im Aphorismus 335 aus der Fröhlichen Wissenschaft beschreibt Nietzsche eine genealogische Kritik an den herrschenden Werten und konkretisiert somit die Arbeit der eigentlichen Philosophen: „Dein Urtheil ‚so ist es recht‘ hat eine Vorgeschichte in deinen Trieben, Neigungen, Abneigungen, Erfahrungen und Nicht-Erfahrungen; ‚wie ist es da entstanden?‘ musst du fragen, und hinterher noch: ‚was treibt mich eigentlich, ihm Gehör zu schenken?‘“. Dem Hinterfragen der herrschend gewordenen Werte folgt die Forderung nach der „Reinigung“ (FW, 335, KSA 3, S. 563) der Wertschätzungen und nach der Schöpfung eigener „Gütertafeln“ (FW 335, KSA 3, S. 563). Indem man dies vollzieht, wird man Nietzsche zufolge der, der man ist: „Wir aber wollen Die werden, die wir sind, – die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden!“ (FW 335, KSA 3, S. 563). Die eigentlichen Philosophen, die neue Werte aufbauen sollen, indem sie die alten Werte über eine Umwertung entwerten, werden also durch diesen Akt der UmWertung zu Sich-selbst-Gesetzgebenden. Und hiermit ist letztlich der Prozess der Selbstwerdung umschrieben. Souveräne Individualität bedeutet demnach, der zu werden, der man ist: „[S]elf-appropriation and the revaluation of values, are simply the different moments of a single project“ (White 1997, S. 153). Insofern der Prozess der Umwertung der Werte auch ein gesellschaftlicher Prozess ist, folgt hieraus, dass für Nietzsche immer eine Wechselbeziehung zwischen individueller Selbstentfaltung und Selbstaneignung auf der einen sowie gesellschaftlichkulturellem Umbruch auf der anderen Seite besteht, wobei die souveräne Selbstaneignung stets konstitutiv und ursprünglicher ist (vgl. White 1997, S. 160).¹ Der neue Philosoph erscheint auf den ersten Blick als ein Vorbereiter des souveränen Individuums (vgl. Z I Tugend 2, KSA 4, S. 100 f.; JGB 203, KSA 5, S. 126 ff.). Es konnte jedoch herausgearbeitet werden, dass der eigentliche Philosoph mit dem souveränen Individuum so viele Eigenschaften teilt, dass von einer Wesensver Auf das Verhältnis von souveräner Selbstbestimmung und gesamtgesellschaftlicher Veränderung wird in Kapitel 4.2.1 noch genauer eingegangen. Dort wird die Verbindung zwischen der persönlichen und der gesellschaftspolitischen Dimension der Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault im Mittelpunkt stehen.
3.1 Das souveräne Individuum im Kontext der eigentlichen Philosophen
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wandtschaft zu sprechen ist. Das „Privilegium der Verantwortlichkeit“ (GM II 2, KSA 5, S. 294) des souveränen Individuums kommt also auch jenen Philosophen zu. So muss der Gedanke einer konstitutionellen Stufenfolge von der eigentlichen Philosophie hin zu der souveränen Individualität korrigiert werden (vgl. Ibáñez-Noé 1998, S. 77), da es zu viele Gemeinsamkeiten in diesen beiden Konzepten gibt. Wenn das souveräne Individuum auch ein philosophisches Konzept darstellt, dann vollzieht sich der Prozess der Umwertung der Werte an ihm selbst, d. h. er ist auch selbst das Ergebnis dieser Umwertung oder dieser ‚Zucht‘. Die eigentlichen Philosophen, die als „Befehlende und Gesetzgeber“ (JGB 211, KSA 5, S. 145) vorgestellt werden, sind also eigentlich „Sich-selber-Gesetzgebend(e)“ (FW 335, KSA 3, S. 563). Letztlich geht es demnach nicht nur um eine ‚Zucht‘, sondern auch um eine „Selbstzucht“ (EH klug 9, KSA 6, S. 294). Die eigentlichen Philosophen sind diejenigen, die neue Wertschätzungen schaffen, d. h.: Die gegenwärtig herrschenden Ideale sollen auf ihre Herkunft hin hinterfragt und letztlich zugunsten neuer, stärkerer Werte zurückgewiesen werden. Die eigentlichen Philosophen leben also, in der Terminologie Kants gesprochen, unter einem selbstgewählten Gesetz und vollziehen so ihre Souveränität und Autonomie (vgl. KpV A 59).² Wenn nun das Konzept der eigentlichen Philosophen so starke Parallelen zu dem des souveränen Individuums aufweist, so hat dies weitreichende Folgen für die vorliegende Untersuchung: Erstens heißt dies, dass man, spricht man von nun an vom souveränen Individuum, auch Nietzsches Vision von Philosophie miteinzubeziehen hat. Zweitens werden die Konzepte und Fragestellungen, welche, wie im Folgenden zu sehen sein wird, mit der Utopie der eigentlichen Philosophen zusammenhängen (Performanz, amor fati, Umwertung der Werte), in die Arbeit aufgenommen und mit dem souveränen Individuum in Verbindung gesetzt. Zunächst soll der Frage nachgegangen werden, ob sich Nietzsche selbst als ein souveränes Individuum bzw. als einen eigentlichen Philosophen beschreibt. Hierfür spielt das Thema der Performanz in seinen Texten eine wichtige Rolle. Vor allem der Ecce homo ist in dieser Hinsicht zu befragen, da dort die Aufgabe der zukünftigen
Jedoch sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass Nietzsches Vorstellung der Selbstgesetzgebung des souveränen Individuums nicht eins zu eins in die kantsche Terminologie zu übersetzen ist. Dagegen ist einzuwenden, dass bei Nietzsche souveräne Individualität auch in deutlicher Abgrenzung zu Kants Moralphilosophie gedacht wird. Während bei Kant Autonomie über die Moral bestimmt wird, spricht Nietzsche hingegen vom „autonome[n] übersittlichen[n]Individuum“ (GM II 2, KSA 5, S. 293) und macht deutlich, dass sich für ihn Autonomie und Sittlichkeit ausschließen (vgl. Ridley 2009, S. 192– 194; GM II 2, KSA 5, S. 293). Nietzsches Auffassung von Autonomie erstreckt sich nicht, wie bei Kant, auf die Befolgung allgemeiner Gesetze. Vielmehr kann sich die souveräne Individualität nicht mehr im Modus des ‚Du sollst‘ vollziehen. Zudem ist das souveräne Individuum so nachhaltig einzigartig, dass es sein Handeln nicht mehr an allgemeinen Prinzipien ausrichten kann. Die Ansicht, dass die eigene Maxime auch für Andere Wirksamkeit haben könnte, basiert laut Nietzsche auf mangelnder Selbsterkenntnis (vgl. Ridley 2009, S. 193; FW, 335, KSA 3, S. 562).
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3 Inhaltliche Vertiefung des Themenkomplexes „souveränes Individuum“
Philosophen am stärksten auf seine Selbstauffassung als Philosoph zurückgeführt wird (vgl. EH, M 2, KSA 6, S. 330; JGB 203, KSA 5, S. 126 ff.). Das hiermit zusammenhängende Problem der Zukünftigkeit, welches bereits in Kapitel 2.1 angerissen wurde, wird in diesem Zusammenhang genauer bearbeitet werden.
3.2 Die eigentlichen Philosophen als performative Zukunftsvision Laut Richard J. White sieht sich Nietzsche selbst als einen „posthum geboren[en]“ (EH Bücher 1, KSA 6, S. 298), zukünftigen oder eigentlichen Philosophen, welcher performativ, also indem er in seinen Schriften darüber schreibt, versucht, eine Umwertung der Werte zu provozieren und somit die Ankunft des souveränen Individuums einzuleiten: Thus, in his call for a revaluation of values, and in his sustained confrontation with nihilism, the performative aspects of his work, by which I mean the effort to provoke the individual reader, is finally taken up into the world-historical task of directing the future as a whole (…) In this respect, Nietzsche’s philosophical activity in the Genealogy corresponds exactly to the model of ‘the philosopher of the future,’ which he describes in Beyond Good and Evil (White 1997, S. 149, 146).
Das souveräne Individuum wird bei White in diesem Zusammenhang zu einer rhetorischen Figur, die von Nietzsche gebraucht wird, um den Menschen die Möglichkeit einer anderen Zukunft zu eröffnen und uns (als seine Leser) zum Handeln anzuregen (vgl. White 1997; S. 146, 149; Acampora 2006, S. 157). Es ist evident, dass Nietzsche sich im Ecce homo selbst als einen neuen oder zukünftigen Philosophen vorstellt. Es genügt schon der kurze Vergleich zweier Textstellen, um dies zu verdeutlichen: In JGB 203 schildert Nietzsche die Aufgabe der „neuen Philosophen“ in der „Umwerthung der Werthe“ und somit in der Vorbereitung des zur „Verantwortlichkeit“ (JGB 203, KSA, S. 126, 127) fähigen souveränen Individuums. In EH weise 1 beschreibt Nietzsche seine Selbstauffassung als Philosoph mit ganz ähnlichen Worten: „Ich habe es jetzt in der Hand, ich habe die Hand dafür, Perspektiven umzustellen: erster Grund, weshalb für mich allein vielleicht eine ‚Umwertung der Werte‘ überhaupt möglich ist“.³ White ist also in seiner Feststellung, dass sich Nietzsche selbst als Beispiel eines zukünftigen Philosophen inszeniert, zuzustimmen. Jedoch ist seine These vom souveränen Individuum als bloßer Denkfigur zu modifizieren. Für White dient die Idee des souveränen Individuums dazu, den Leser von Nietzsches Texten die Möglichkeiten einer anderen Zukunft vor Augen zu führen (vgl.White 1997, S. 146, 149). Das souveräne Individuum wird dergestalt eher zu einer utopischen Figur. Dem ist entgegenzuhalten,
Wenn Nietzsche sich selbst als einen zukünftigen Philosophen ausgibt, so liefert dies auch eine Erklärung für seine oft wiederholte Rede von sich als einem ‚zu früh Geborenen‘ oder ‚Unzeitgemäßen‘: „Ich selber bin noch nicht an der Zeit, Einige werden posthum geboren“ (EH Bücher 1, KSA 6, S. 298).
3.2 Die eigentlichen Philosophen als performative Zukunftsvision
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dass Nietzsche im Ecce homo Techniken der Selbstwerdung beschreibt, welche souveräne Individualität auch in der Praxis und in der Gegenwart möglich werden lassen. Hierzu Andreas Urs Sommer: EH soll demonstrieren, wie ein Leben mit N’s Denken sich konkret gestaltet und wie notwendig für jedes Individuum der Vollzug einer eigenen Umwertung der Werte ist, um damit zu einem emphatisch positiven, einem ‚dionysischen‘ Selbst- und Weltverhältnis zu gelangen (Sommer 2013, S. 346).
Wie in dem intertextuellen Vergleich gezeigt worden ist, ist das Konzept des souveränen Individuums zudem wesensverwandt mit dem der eigentlichen Philosophen und ist somit laut Nietzsche die Umwertung zumindest in ihm und durch ihn schon einmal (in einer posthumen Vorwegnahme) vollzogen worden (vgl. EH weise 1, KSA 6, S. 266). Wie ist in diesem Zusammenhang das Futur oder der Konjunktiv, in dem Nietzsche zumeist vom souveränen Individuum bzw. von den neuen Philosophen spricht, zu verstehen? Können solche Individuen nicht auch in der Gegenwart erscheinen, bzw. sind sie nicht schon erschienen? Bei genauem Hinsehen bleibt Nietzsche ambivalent, wenn es um die Frage geht, ob die eigentlichen Philosophen ein rein zukünftiges Projekt sind: „Giebt es heute solche Philosophen? Gab es schon solche Philosophen? Muss es nicht solche Philosophen geben?“ (JGB 211, KSA 5, S. 145). Die Problematik der Zukünftigkeit lässt sich vor allem anhand einer Analyse der Performanz in Nietzsches Ecce homo deutlicher machen. Obschon Nietzsches Texte generell eine starke Selbstbezüglichkeit aufweisen und der Leser oft direkt angesprochen wird (vgl. FW 335, 299, KSA 3, S. 560 ff., 538), so trifft dies für den Ecce homo in besonderem Maße zu, vollzieht Nietzsche doch in diesem Werk eine Metaphilosophie seiner Philosophie und gibt direkte Anweisungen, wie sein Werk zu verstehen ist und wie es nicht zu verstehen ist: „Ecce homo ist deshalb ein zentrales Werk in Nietzsches Oeuvre, weil es als Anleitung zur Lektüre dieses Ouevres gemeint ist“ (Benne 2005, S. 198). Es ist unumstritten, dass Nietzsches Schriften stark performativ aufgeladen sind und den Leser, zum Teil auch den zukünftigen Leser – d. h. den Leser nach dem Tod Nietzsches – ansprechen und animieren sollen (vgl. Behler 1988, S. 106 ff.; Derrida 2000, S. 35 f., 78; Nehamas 1991, S. 251). Jedoch muss das Konzept von Zukunft, das Nietzsche hierbei im Blick hatte, etwas genauer bearbeitet werden, als White dies tut. Jacques Derrida weist auf das Vorwort aus dem Ecce homo hin, in welchem Nietzsche schreibt: „Das Missverhältniss aber zwischen der Grösse meiner Aufgabe und der Kleinheit meiner Zeitgenossen ist darin zum Ausdruck gekommen, dass man mich weder gehört, noch auch nur gesehn hat. Ich lebe auf meinen eignen Credit hin, es ist vielleicht bloss ein Vorurtheil, dass ich lebe?“ (EH Vorwort 1, KSA 6, S. 257). Da das Ende des Vorworts mit „Friedrich Nietzsche“ unterschrieben ist, zeigt sich für Derrida in der Rede vom „Kredit“ ein Vertrag, den Nietzsche bisher nur mit sich abgeschlossen hat, weil er in der Gegenwart noch niemanden gefunden hat, der sein Projekt verstanden, wahrgenommen oder gar eingelöst hätte (vgl. Derrida 2000, S. 26 ff.,
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S. 33, Behler 1988, S. 130). Somit lebt Nietzsche bisher noch auf „eignen Credit“ (EH Vorwort 1, KSA 6, S. 257) hin, d. h. der Vertrag ist bisher nur einseitig (durch die Unterschrift Nietzsches) geschlossen und kann erst durch zukünftige Generationen, zum Beispiel durch uns als Leser Nietzsches, eingelöst werden (vgl. Langer 2005, S. 116). In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn Nietzsche schreibt, dass es vielleicht ein Vorurteil sei, dass er lebe. Denn lebendig wird das Werk Nietzsches erst durch den Leser, der es versteht. Einen solchen Leser kennt Nietzsche offenbar noch nicht, sodass er die Hoffnung auf sein Erscheinen in die Zukunft verlegt. So erklärt Derrida den Satz vom „Vorurteil“ folgendermaßen: „Daß das ‚ich lebe‘ von einem Namensvertrag verbürgt wird, dessen Fälligwerden den Tod dessen voraussetzt, der in der Gegenwart ‚ich lebe‘ sagt“ (Derrida 2000, S. 29). Für die Person und den Philosophen Nietzsche bedeutet dies, dass er sich im Ecce homo selbst als einen Autor erschafft, der erst in der Zukunft zu dem wird, der er ist. Hierzu Friedrich Kittler: „‚Ecce homo‘ programmiert also die Selbstproduktion eines Autors in genau dem futuristischen Sinn“ (Kittler 2000, S. 78). In einer solchen futuristischen Selbstwerdung inszeniert sich Nietzsche zum einen als einen Autor und Philosophen, den es aufzufinden und zu entdecken gilt und erschafft sich zum anderen zugleich in einem kreativen Akt selbst als Autor seiner Bücher (vgl. Nehamas 1991, S. 251).⁴ Wie ist jedoch jene Zukünftigkeit, in welche sich Nietzsche hineinprojiziert, zu verstehen? Nietzsche meint offenbar, er, d. h. sein Werk, kann sich erst in der Zukunft verwirklichen. Aber dies heißt zumindest für uns, als seine potenziell ‚wahren‘ Leser, dass sich die Erfüllung seiner Lehre, also das Entstehen und das Erzeugen souveräner Individuen, in der Gegenwart vollzieht, insofern es souveräne Individuen sind, die seine Texte in seinem Sinne verstehen. Anders formuliert: Nietzsche möchte uns mit seinen Texten provozieren, in der Gegenwart zu souveränen Individuen zu werden,
Nietzsche liefert auch eine genaue Beschreibung des idealen Lesens und Verstehens seiner Bücher: „Jede Gebrechlichkeit der Seele schliesst aus davon (…) selbst jede Dyspepsie [Hervorhebung durch den Verf. – J. H.] (…).Wenn ich mir das Bild eines vollkommnen Lesers ausdenke, so wird immer ein Unthier [Hervorhebung durch den Verf. – J. H.] von Mut und Neugierde daraus“ (EH Bücher 3, KSA 6, S. 302 f.). Nach der Methodik des Aufsuchens von Anspielungsuniversen (vgl. Benne 2005, S. 196) können deutliche Verbindungen zu Nietzsches Idee des souveränen Individuums gezogen werden. Denn der Begriff der Dyspepsie findet sich auch in GM II 1: hier benutzt ihn Nietzsche, um den Menschen zu beschreiben, dessen „Hemmungsapparat beschädigt“ (GM II 1, KSA 5, S. 292) ist und welchem es deshalb nicht gelingt, zu vergessen und von seinen Eindrücken loszukommen (vgl. Kapitel 2.1 dieser Arbeit). Das Gegenideal zu einer solchen Art Mensch ist für Nietzsche ein Mensch, der versprechen kann, d. h. umgekehrt: Nietzsche wünscht sich den Leser, der zum Vergessen und zum Versprechen fähig ist, also einen solchen, der fähig ist, Reize, Erlebnisse und auch Leseerfahrungen in einer souveränen Weise nach für ihn gesunden und zuträglichen Kriterien zu filtern. Hierzu Nietzsche: „Er ist immer in seiner Gesellschaft, ob er mit Büchern [Hervorhebung durch den Verf. – J. H.], Menschen oder Landschaften verkehrt: er ehrt, indem er wählt“ (EH weise 2, KSA 6, S. 267). Nietzsches idealer Leser ist also der, den er mit seinen Texten zugleich auch erzeugen möchte: das souveräne Individuum. Hierauf deutet auch die Formulierung vom „Unthier“ (EH Bücher 3, KSA 6, S. 303) hin, welche auf das „Thier (…) das versprechen darf“ (GM II 1, KSA 5, S. 291) verweist.
3.2 Die eigentlichen Philosophen als performative Zukunftsvision
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indem er immer wieder nach Lesern fragt, die die Kriterien souveräner Individualität, wie die des Vergessens und des Versprechen-Könnens, mitbringen.⁵ Was für uns oder noch kommende Generationen die Gegenwart ist, musste Nietzsche zu seinen Lebzeiten als Zukunft erscheinen, sah er doch solche Leser nicht unter seinen Zeitgenossen. Die Zukünftigkeit, welche Nietzsche dem souveränen Individuum wie den eigentlichen Philosophen beilegt, muss demnach stark relativiert werden. Die Idee der Zukunft als etwas, das noch nicht eingetreten ist, löst Nietzsche noch in einem viel umfassenderen Sinne auf: nämlich in der Figur der ewigen Wiederkehr (vgl. Derrida 2000, S. 30 ff.). Dies belegt folgende Textstelle aus dem Ecce homo, welche von Nietzsche zwischen dem Vorwort und dem ersten Teil platziert wurde: „[I]ch sah rückwärts, ich sah hinaus, ich sah nie so viel und so gute Dinge auf einmal. (…) Wie sollte ich nicht meinem ganzen Leben dankbar sein? – Und so erzähle ich mir mein Leben“. Die Denkfigur, welche Nietzsche hier beschreibt, ist die des amor fati, d. h. die der Bejahung der Idee der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Die Bejahung zeigt sich an dieser Stelle in der Dankbarkeit gegenüber allem Vergangenen und Zukünftigen. Er ist also allem Guten und Schlechten, das ihm widerfahren ist, dankbar, da es ihm zu dem gemacht hat, der er heute ist. In der Rede vom ‚Rückwärts-undHinausschauen‘ drückt sich aus, dass er dieses Vergangene auch in alle Ewigkeit, d. h. auch in der Zukunft, wieder haben möchte: „Meine Formel für die Grösse am Menschen ist amor fati: dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht“ (EH klug 10, KSA 6, S. 297). Derrida weist zu Recht darauf hin, dass sich dieser Textabschnitt direkt nach der Unterschrift Nietzsches unter das Vorwort und vor dem Beginn der eigentlichen Autobiographie findet. Der Unterzeichner des Vorwortes ist also der Philosoph Nietzsche, welcher seine zukünftigen Leser direkt anspricht („Hört mich!“), und versucht, sich performativ in ihnen zu verwirklichen. Es ist der Nietzsche, der noch nicht weiß, ob er überhaupt lebendig, d. h. schon verstanden und gehört worden ist. Dieser Gedanke wird, nachdem die Unterschrift unter ihn geleistet worden ist, ergänzt und erweitert durch die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, welche die eigentliche Unterschrift und Besiegelung unter das Vorwort setzt (vgl. Derrida 2000, S. 32). Der zum Teil zweifelnde und verzweifelte Ton aus dem ersten Abschnitt des Vorworts („Verwechselt mich vor allem nicht!“/„es ist vielleicht bloß ein Vorurteil, dass ich lebe“) verschwindet zugunsten der Bejahung der Wiederkehr von Vergangenheit und Zukunft. Der Autor Nietzsche besiegelt und unterschreibt, indem er dieses Exergon schreibt, also auch noch einmal sein Leben und dessen Wiederkehr. Später im Text macht Nietzsche deutlich, dass es ihm auch darum geht, jenen Gedanken der ewigen Wiederkehr performativ im Leser zu erzeugen: „Meine Aufgabe, einen Augenblick höchster Selbstbesinnung der Menschheit vorzubereiten, einen grossen Mittag, wo sie
Sicher gilt dies nur für besondere, ausgewählte Leser und nicht für die breite Masse, was schon in Nietzsches Rede von den „schmächtigen Windhunde[n] (…), welche versprechen, ohne es zu dürfen“ (GM II 2, KSA 5, S. 294) mitschwingt.
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zurückschaut und hinausschaut, wo sie aus der Herrschaft des Zufalls (…) heraustritt und die Frage des warum?, des wozu? zum ersten Male als Ganzes stellt“ (EH M 2, KSA 6, S. 330; vgl. Brusotti 1997, S. 485). Die Rede vom ‚Zurück-und-Hinausschauen‘ verdeutlicht, dass es Nietzsche hier um die Etablierung der Lehre der ewigen Wiederkehr geht. Nietzsche möchte den Leser dazu bringen, sich die Frage zu stellen, ob er, angesichts der ewigen Wiederkehr aller Dinge, zu seinem bisherigen Leben und Schaffen ja sagen kann. Der Gedanke des amor fati gilt sowohl für jede Tat, die man tut, als auch hinsichtlich der Bewertung seines gesamten Lebens. Hierzu Marco Brusotti: „Jede einzelne Handlung mit aller Kraft wollen und zugleich seinen ganzen Lebensweg überschauen – beides ist nun im Gedanken der ewigen Wiederkunft enthalten“ (Brusotti 1997, S. 488 f.; vgl. FW 341, KSA 3, S. 570 f.). Nietzsche tut dies auf sich selbst und sein Leben bezogen in jenem Exergon des Ecce homo. Auch dort verwendet er das Bild vom ‚Rückwärts-und-Hinausschauen‘, um den Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen zu veranschaulichen. In dem Exergon bejaht und besiegelt Nietzsche sein Schicksal angesichts der philosophischen Werke, die er geschaffen hat. Aber er möchte den Gedanken des amor fati nicht nur auf sich und sein eigenes Leben anwenden, sondern auch als philosophisches Programm durchsetzen (vgl. Derrida 2000, S. 33). Jenes ‚Rückwärts-und-Hinausschauen‘ erhält in diesem Sinne eine umfassendere Bedeutung: Nicht bloß der Einzelne soll sein Leben überschauen, sondern die ganze Menschheit soll auf ihre Geschichte zurückschauen und sich fragen, ob sie diese in alle Ewigkeit wieder haben möchte. Dieses Programm ist identisch mit dem der neuen Philosophen, deren Aufgabe er in Jenseits von Gut und Böse beinahe wortgleich formuliert wie folgendes Zitat aus Ecce homo zeigt: Dem Menschen die Zukunft des Menschen als seinen Willen (…) zu lehren und grosse (…) Gesammt-Versuche [Hervorhebung durch der Verf. – J. H.] von Zucht und Züchtung vorzubereiten [Hervorhebung durch den Verf. – J. H.], um damit jener (…) Herrschaft (…) des Zufalls, die bisher ‚Geschichte‘ hiess, ein Ende zu machen (JGB 203, KSA 5, S. 126).
Hier zeigt sich noch einmal, dass Nietzsche sich im Ecce homo selbst als einen zukünftigen oder neuen Philosophen vorstellt, der es sich zur Aufgabe macht, die Geschichte der Menschheit in eine andere Richtung zu lenken. Er sieht es sowohl als seine als auch als die Aufgabe der eigentlichen Philosophen an, die Menschheit vom „Zufall“ zu befreien, indem man neue „Gesammt-Versuche“ (JGB 203, KSA 5, S. 126) im Menschen vorbereitet. Hier kommt zudem erneut der Gedanke der Zeitlichkeit ins Spiel. Die Befreiung der Menschheit wird zwar vorgeblich an ein zukünftiges Ereignis geknüpft, da ja jener Gesamt-Versuch von den Philosophen noch vorbereitet und gelehrt werden muss. Jedoch wird diese Zukünftigkeit angesichts der Lehre des amor fati neu bewertet, da die Zukunft jetzt schließlich nicht mehr den Charakter des reinen Neuen trägt, sondern vielmehr als etwas bewertet wird, das im ewigen Kreislauf der Dinge schon
3.2 Die eigentlichen Philosophen als performative Zukunftsvision
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einmal eingetreten ist, und somit auch nicht dem Zugriff des souveränen Individuums verschlossen bleibt (vgl. Steinmann 2009, S. 101 f.). Der Gedanke der ewigen Wiederkehr, d. h. der Gedanke, dass man, will man zu einem Ereignis ja sagen, notwendig auch zu allen Dingen in Vergangenheit und Zukunft ja sagen muss, bricht in die Geschichte der Menschheit ein und befreit sie so von der „Herrschaft des Zufalls“ (EH M 2, KSA 6, S. 330). Denn dieser Gedanke lässt uns jedes Ereignis nicht mehr isoliert und somit als zufällig betrachten, sondern es eben auf das Ganze hin denken und interpretieren.⁶ Die ewige Wiederkehr kann dem Dasein somit auch in einem welthistorischen Sinne einen neuen Zweck geben und so möglicherweise eine Überwindung des nihilistischen Willens zum Nichts vollziehen (vgl. GM III 28, KSA 5, S. 411 f.).⁷ An diesem Punkt gelingt es nun, das souveräne Individuum als Subjekt dieser Neugestaltung der Menschheit zu bestimmen: Denn erstens ist gezeigt worden, dass für Nietzsche das Ideal der eigentlichen Philosophen starke Überschneidungen mit dem des souveränen Individuums aufweist und dass das Programm dieser eigentlichen Philosophen vor allem mit der Verbreitung des Gedankens des amor fati verbunden ist. Zweitens wurde dem souveränen Individuum von Nietzsche angesichts seiner Fähigkeit zum Versprechen ein „Gedächtniss des Willens“ zugesprochen, kraft dessen ein „Fort- und Fortwollen des ein Mal Gewollten“ (GM II 2, KSA 5, S. 292) erreicht wird. Dies kann vor dem Hintergrund des hier Gesagten folgendermaßen interpretiert werden: Das Charakteristikum des Willens des souveränen Individuums liegt in seiner Fähigkeit, sich und sein Leben wieder und wieder („Fort- und Fort“) haben zu wollen, also im amor fati. Das Versprechen-Können ist in diesem Sinne untrennbar mit der Fähigkeit zur Schicksalsliebe verbunden.⁸ Das souveräne Individuum zeichnet sich also dadurch aus, dass es ja zu sich und seinem Schicksal sagen kann und sich beständig neu in einem ‚Rückwärts-und-Hinaussehen‘ entwirft. Souveräne Individualität konstituiert sich also im Spannungsfeld von Selbstbestimmung und ohnmächtiger Akzeptanz von Notwendigkeiten: „Die Bejahung der eigenen Person sowie die Bejahung des eigenen Schicksals führen zu einer Bejahung der eigenen Person als Schicksal“ (Langer 2005, S. 112). Daniela Langer weist in diesem Zusammenhang auf die Schwierigkeiten hin, die mit einer solchen Konstitution der ‚Ichheit‘ im ewig wiederkehrenden, chaotischen und zufälligen
Nietzsche interpretiert im Ecce homo auch sein persönliches Schicksal unter der Perspektive des Ganzen sowie der Schicksalsbejahung, indem er zunächst äußerliche und zufällige Ereignisse, die ihm zugestoßen sind, als „notwendige Bedingung seiner Einzigartigkeit und seiner individuellen Befähigung“ (Langer 2005, S. 103; vgl. Langer 2005, S. 102– 110) deutet. Dass dies jedoch nicht notwendig eintreffen muss, sondern dass die Menschheit auch am Nihilismus zugrunde gehen kann, zeigt Nietzsches Negativvision vom „letzten Menschen“ (vgl. Z I Vorrede 5, KSA 4, S. 19). Wie genau diese Technik des Versprechen-Könnens praktisch im Individuum konstituiert wird, wird in Kapitel 4 dieser Arbeit untersucht werden.
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3 Inhaltliche Vertiefung des Themenkomplexes „souveränes Individuum“
Werdensstrom verbunden sind, indem sie zu bedenken gibt, dass Nietzsche eine solche Selbstwerdung „in den Kontext einer Selbstvergewisserung stellt, die sich nur durch einen Akt der bedingungslosen Annahme von Gegebenheiten ergibt, die das Ich keineswegs im Griff hat, sondern denen es im Gegenteil ausgesetzt ist“ (Langer 2005, S. 112). Die hier vorgelegte These von der Vereinbarkeit von Schicksalsbejahung und souveräner Individualität muss dementsprechend mit einem Fragezeichen versehen werden: Denn es steht noch aus, zu zeigen, inwiefern der Gedanke der ewigen Wiederkehr und die Eingebundenheit des Menschen in die Notwendigkeit des Ganzen nicht in Widerspruch gerät zu Nietzsches Konzept des souveränen Individuums, welchem eine Verantwortlichkeit im Handeln unterstellt wird. Nietzsche hat die Idee einer Verantwortlichkeit im Handeln an anderer Stelle geleugnet: „Man ist nothwendig, man ist ein Stück Verhängniss, man gehört zum Ganzen, man ist im Ganzen (…) – Dass Niemand mehr verantwortlich gemacht wird (…) dies erst ist die grosse Befreiung“ (GD Irrthümer 8, KSA 6, S. 96, 97).⁹ Darüber hinaus darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Begriffe des Gedächtnisses des Willens und des Versprechens bei Nietzsche auf ein konkretes Handeln in der Welt bezogen werden. So wird jenes „Fort-und Fortwollen des ein Mal Gewollten“ (GM II 1, KSA 5, S. 292) als etwas beschrieben, das sich in einem Akt entlädt. Spontan fällt es schwer, sich den amor fati als einen Willensakt vorzustellen, welcher schließlich zu einer „Entladung“ (GM II 1, KSA 5, S. 292) führt, ist mit der Schicksalsliebe doch eine umfassende philosophische Lehre angesprochen. Das Kapitel 3.3 wird sich mit der Frage auseinandersetzen, inwiefern der amor fati mit einem konkreten und autonomen Handeln in der Welt zusammen gedacht werden kann. Bevor dies geschieht, soll noch einmal genauer auf den Zusammenhang von dem Programm der Umwertung der Werte und dem Konzept des amor fati eingegangen werden. Nietzsche stellt sich im Ecce homo selbst als einen posthumen Vorgänger der von ihm erhofften und beschriebenen Souveränität vor: „Ecce homo is a text that illuminates the project of sovereignty through the example of Nietzsches’s own life“ (White 1997, S. 153). Der Text soll im Leser potenziell auch eine solche Souveränität auslösen: „The very text and performance of Ecce homo is itself a representation of Nietzsche’s model of sovereignty“ (White 1997, S. 168). Es geht Nietzsche jedoch nicht nur um reine Selbstverwirklichung, sondern auch um die Veränderung der Menschheit im Ganzen. Dies berührt auch das Programm der Umwertung der Werte. Denn wie gezeigt wurde, hat Nietzsche seinen persönlich vollzogenen amor fati (vgl. EH Motto, KSA 6, S. 263) auch zum Ziel seiner Philosophie gemacht (vgl. EH M 2, KSA 6, S. 330 ff.). Der Ausdruck von der „höchsten Selbstbesinnung der Menschheit“ (EH M 2, KSA 6, S. 330), welchen Nietzsche hierfür verwendet, taucht identisch auch an anderer Stelle auf: „Umwerthung aller Werthe: das
Siehe hierzu auch Kapitel 2.5 der vorliegenden Arbeit über Nietzsches Begriff der Willensfreiheit.
3.2 Die eigentlichen Philosophen als performative Zukunftsvision
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ist meine Formel für einen Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit, der in mir Fleisch und Blut geworden ist“ (EH Schicksal 1, KSA 6, S. 365). Nietzsche gibt hier dem Ausdruck von der „Selbstbesinnung“ eine historischgesellschaftliche Dimension, indem er ihn mit seinem Programm der Umwertung in Verbindung setzt. Hieran wird zum einen erneut deutlich, dass für Nietzsche gesellschaftliche Erneuerung und Selbstermächtigung zwei Seiten derselben Medaille sind (vgl. White 1997, S. 171). Zum anderen zeigt sich, dass die individuelle Ebene bei Nietzsche vorgängig und konstitutiv für gesamtgesellschaftliche Veränderungen und Umwertungen ist. Denn Nietzsche schreibt, dass in ihm diese Umwertung zum ersten Mal vollzogen worden ist. Zuvor hatte er gezeigt, dass er für eine solche Umwertung als erster und bisher einziger in Frage kommt, weil er, mittels seiner Fähigkeit zum Vergessen, Auswählen und Filtern, in der Lage ist, „Perspektiven umzustellen“ (EH weise 1, KSA 6, S. 266; vgl. EH weise 2, KSA 6, S. 266 f.). Zudem wird an obigem Zitat aus EH Schicksal 1 deutlich, dass Nietzsche mit dem Programm der Umwertung der Werte im Sinn hatte, den Gedanken der ewigen Wiederkehr und den des amor fati in den Köpfen der Menschen zu etablieren. Schließlich wurde gezeigt, dass Nietzsche mit jener „Selbstbesinnung“ (EH Schicksal 1, KSA 6, S. 365) eine Schicksalsbejahung, d. h. ein bejahendes ‚Vor-und-Zurückschauen‘ meinte. Es gilt also festzuhalten, dass Umwertung für Nietzsche keine generelle Entwertung jeglicher moralischer Werte oder eine Apologie vollkommen unmoralischen Verhaltens bedeutet, sondern dass hiermit in erster Linie ein anderes Verhältnis zum Geschehen in der Welt gemeint ist, welches den Menschen dazu bringen soll, autonomer zu handeln. Umwertung bedeutet also in erster Linie eine bejahende Umwertung, ein Umschaffen allen Geschehens (vgl. Z II Erlösung, KSA 4, S. 179 f.). Jenes „grösste Schwergewicht“ (FW 341, KSA 3, S. 570) soll also für Nietzsche zu einem das Handeln bestimmenden Gedanken werden, welcher sich, in Anlehnung an Kants kategorischen Imperativ, in etwa so formulieren ließe: Handle so, dass deine Taten vor der Frage, ob du alles in Ewigkeit wiederhaben möchtest, Bestand haben können (vgl. Heidemann 1971, S. 444). Die vorangegangene Argumentation hat ergeben, dass man, entgegen der Annahmen Hatabs und Acamporas, das souveräne Individuum mit Nietzsches Lehre des amor fati, den zukünftigen Philosophen und anderen zentralen Aspekten nietzscheanischer Philosophie in Verbindung bringen kann (vgl. Acampora 2008, S. 152 f.; Hatab 2008b, S. 75 ff.). Gezeigt werden muss noch, inwiefern Nietzsches Konzepte der Schicksalsbejahung und der Notwendigkeit mit der Setzung eines autonomen Handelns in Einklang zu bringen sind. Den Analysen Whites hinsichtlich der Performativität von Nietzsches Texten sowie dem Zusammenhang von souveräner Selbstwerdung und Umwertung der Werte ist zugestimmt worden. Jedoch wurden diese ergänzt durch die Analysen Derridas hinsichtlich des Stellenwertes der Performanz in Nietzsches Ecce homo. In diesem Zusammenhang wurde zudem deutlich, dass die Zukünftigkeit, in welche Nietzsche das Erscheinen des souveränen Individuums setzt, keineswegs so zu verstehen ist, dass solche Individuen lediglich abstrakte Utopien sind, an denen es sich zu orientieren gilt.
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3 Inhaltliche Vertiefung des Themenkomplexes „souveränes Individuum“
Vielmehr zeigte sich, dass Nietzsche solche Individuen auch konkret und praktisch herbeiführen möchte und zumindest in sich selbst schon posthum verwirklicht sieht. So bewertet er seine eigenen Schriften bereits als eine Umwertung, als ein Zeugnis für eine eigentliche Philosophie, welche nur noch durch seine Leser ‚zum Leben erweckt‘ werden muss. Darüber hinaus bringt Nietzsche mit seiner Lehre des amor fati ein Konzept von Zeit und Zukünftigkeit ins Spiel, in dem alle Dinge, die geschehen werden, schon einmal geschehen sind. Insofern also die Vorstellung vom souveränen Individuum auch unter Voraussetzung der Interpretation der Welt als ewige Wiederkehr des Gleichen gedacht wird, so sind solche Individuen bereits aufgetaucht und werden wieder auftauchen. Es bleibt danach zu fragen, wie sich dieses souveräne Individuum auch konkret und in praktischer Hinsicht konstituiert, wie man also der wird, der man ist, und welche konkreten Techniken Nietzsche vorschlägt, um diesen Prozess der Selbstwerdung in Gang zu bringen. Diese Fragen sind Ausgangspunkt und Motivation für die Untersuchung von Nietzsches Autobiographie Ecce homo sowie den Vergleich von Foucaults Begriff der Selbstsorge mit den praktischen Alltagstechniken, welche Nietzsche im Ecce homo vorstellt. Dieser Vergleich wird in Kapitel 4 der vorliegenden Arbeit vollzogen. Das souveräne Individuum kann bis hierhin definiert werden als ein sich zeitlich verwirklichendes, zu sich und dem Schicksal ja-sagendes, Perspektiven umstellendes, sich-selbst-gesetzgebendes Dasein. Was den Gedanken des amor fati betrifft, so rückt nun zunächst die Frage in den Mittelpunkt, inwiefern Nietzsches Lehre der Schicksalsliebe mit seinen Ausführungen zur Willensfreiheit und zur Autonomie im Handeln in Konflikt gerät. Insofern dieser mögliche Widerspruch entkräftet und das Konzept der Willensfreiheit bei Nietzsche gerettet werden kann, soll weiterführend darauf abgehoben werden, ob hiermit nicht doch wieder ein Konzept von Subjektivität stark gemacht wird, welches in sich geschlossen ist und sich auf eine autonome und souveräne Weise auf die vor ihm liegende Welt bezieht.
3.3 Souveräne Individualität und amor fati In der Forschung ist wiederholt der Versuch unternommen worden, die Konzepte der Subjektivität und der Freiheit innerhalb der Philosophie Nietzsches durch eine dialektische Vermittlung zu retten. Hierbei wurde u. a. Nietzsches Figur des amor fati die Möglichkeit der Vermittlung zwischen einem neuen Subjektbegriff einerseits und der Aufhebung der Subjektivität in einem dionysischen Interpretationsgeschehen andererseits zugesprochen (vgl. u. a. Schulz 1992, S. 217 f.). Kann demnach durch ein paradoxes Ja-Sagen zum ohnehin Unvermeidlichen eine neue Form von Autonomie gefunden werden, die sich mit Nietzsches Idee der individuellen Souveränität vereinbaren ließe, und kann auf diese Weise sogar der Begriff
3.3 Souveräne Individualität und amor fati
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der Subjektivität in Bezug auf Nietzsches Werk gerettet werden (vgl. Vattimo, 1985 S. 38 ff.; Deleuze 1992, S. 165; Acampora 2006, S. 152, 155 f.)? Haben Loeb und Owen mit ihrer These recht, wonach Nietzsches Konzept der Souveränität die Haltung des amor fati, also der Schicksalsbejahung, widerspiegelt (vgl. Owen 2002, S. 118; Loeb 2005, S. 165 ff.)? Wenn ja, so würde auch Nietzsches Idee des souveränen Individuums, welchem „Herrschaft über die Umstände“ und „Verantwortlichkeit“ (GM II 2, KSA 5, S. 294) attestiert wird, nicht mehr in Widerspruch zu seiner Zurückweisung der Willensfreiheit geraten.¹⁰ „Herrschaft über die Umstände“ wäre dann zu verstehen als eine ja-sagende Souveränität zum gesamten Geschehen, nicht als Herrschaft einer autonomen Person über bestimmte Situationen. Bedeutet Souveränität bei Nietzsche demnach die Re-Etablierung einer eigenmächtigen, autonom handelnden Person, die aktiv in das Geschehen der Welt eingreift? Oder besteht sie vielmehr darin, ein ohnehin nicht veränderbares, notwendiges und zweckfreies Geschehen, in dem man sich selber nicht mehr als Subjekt begreift, zu bejahen und so eine paradoxe Form von Autonomie zu entwickeln? Um die vorangegangenen Fragen zu beantworten, werden die bereits in den Kapiteln 2.5 und 3.2 dieser Arbeit angerissenen Themen der Notwendigkeit und der Willensfreiheit einer genaueren Analyse unterzogen. Inwiefern sind die von Nietzsche in GM II 2 postulierten Werte von dem Gedächtnis des Willens und der Willensfreiheit mit seiner Lehre des amor fati verknüpft? Ist Nietzsches Rede vom „Fort-und-fortWollen“ (GM II 1, KSA 5, S. 292) tatsächlich Ausdruck der Bejahung der ewigen Wiederkehr, oder ist hiermit lediglich das Festhalten an einer einmal gewollten Handlung angesprochen? Für Owen ist amor fati die Haltung des souveränen Individuums gegenüber der Welt, d. h. die emphatische Bejahung des prozesshaften und nicht teleologischen Geschehens in der Welt (vgl. Owen 2002, S. 118). Acampora hält dem entgegen, dass Nietzsches Vorstellung von Verantwortlichkeit und Versprechen-Können gerade eine Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft, Zufall und Notwendigkeit sowie ein kausales Denken mit sich bringt, und dass somit das souveräne Individuum nur schwer mit den Ideen der Dynamik, der Prozesshaftigkeit und der nichtkausalen Notwendigkeit zusammen zu denken ist, welche für Nietzsches Lehre der ewigen Wiederkehr so unverzichtbar sind (vgl. Acampora 2006, S. 155; GM II 1, KSA 5, S. 292). Und tatsächlich ist Nietzsches Vorstellung vom Erinnern und Versprechen verbunden mit kausalem Denken, welches auf den Prozess des Berechenbar-Machens durch die Sittlichkeit der Sitte zurückgeht (vgl. Kapitel 2.3 dieser Arbeit; GM II 1, 2, KSA 5, S. 291– 294). Das Problem besteht demnach darin, ob – und wenn ja, wie – man den Gedanken der notwendigen ewigen Wiederkehr des Gleichen mit der Idee eines autonomen, auf
Denn an anderer Stelle spricht Nietzsche, wie schon erwähnt, von der „Unschuld des Werdens“ (GD Irrthümer 8, KSA 6, S. 97), in welchem der Einzelne gerade nicht mehr für seine Taten verantwortlich gemacht werden kann (vgl. Acampora 2006, S. 155 f.).
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die Zukunft gerichteten Handelns in der Gegenwart verknüpfen kann (vgl. GD Irrthümer 8, KSA 6, S. 96 f.; GM II 1, KSA 5, S. 292). Hierzu bedarf es nun einer genaueren Untersuchung von Nietzsches Lehre der ewigen Wiederkehr. Es kann hierbei nicht darum gehen, das gesamte Konzept des amor fati sowie das der ewigen Wiederkunft und die damit verbundenen erkenntnistheoretischen Fragen zu besprechen. Stattdessen wird der Schwerpunkt der Untersuchung auf ein Handeln gelegt werden, welches unter der Idee der ewigen Wiederkehr des Gleichen steht. In der Forschung zu Nietzsches Lehre der ewigen Wiederkehr finden sich sowohl Interpretationen, welche den Versuch unternehmen, diese Lehre in einem quasi-naturwissenschaftlichen Verfahren als wahre kosmologische Lehre zu deuten, als auch solche, die die Idee des amor fati als eine Haltung gegenüber der Welt ansehen, welche nicht auf die epistemologische Wahrheit des Gedankens der ewigen Wiederkehr zurückgeht (vgl. Risse 2009, S. 226; Magnus 1978; S. 113, Clark 1990, S. 245 – 287; Nehamas 1991, S. 183 – 219; Owen 2009). Ohne im Detail auf diese Debatten eingehen zu können, soll an dieser Stelle die letztere Position stark gemacht werden. Hierbei wird, besonders ausgehend von Nehamas (1991) und Magnus (1978), die ewige Wiederkehr als ein existentieller Imperativ gedeutet, welcher denjenigen, der von diesem Gedanken erfasst wird, dazu zwingt, sich bejahend oder verneinend gegenüber dem Weltgeschehen zu verhalten. Magnus und Nehamas Analysen eignen sich gut dazu, die Fragestellungen hinsichtlich des Komplexes der ewigen Wiederkehr zu ordnen. Die Erkenntnisse dieser beiden richtungsweisenden Werke sollen hierbei an jüngere und jüngste Debatten der Nietzscheforschung zum Thema souveräne Individualität und amor fati angebunden werden. Nehamas und Magnus machen deutlich, dass Nietzsche seine Lehre der ewigen Wiederkunft – zumindest in den veröffentlichten Passagen seines Werkes – keineswegs notwendig als wissenschaftlich beweisbare Lehre vorstellt, an die er objektive Gültigkeit knüpft. Für Nehamas ist die ewige Wiederkehr „keine Theorie über die Welt, sondern eine Auffassung vom Selbst“ (Nehamas 1991, S. 194). Der Gedanke der ewigen Wiederkehr allein ist genug, um den von Nietzsche erwünschten Effekt, nämlich Verzweiflung oder Bejahung, auszulösen. Er benötigt hierfür nicht die Wahrheit der ewigen Wiederkehr als kosmologische Lehre (vgl. Nehamas 1991, S. 190, 191). Magnus zeigt darüber hinaus, dass Nietzsche den Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen in einer hierfür zentralen Textstelle (FW 341) in hypothetischer Form vorstellt: Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon (…) nachschliche und dir sagte: ‚Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen (…). Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und Jedem ‚willst du diess noch einmal und noch unzählige Male?‘ würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! (FW 341, KSA 3, S. 570)
Nietzsches stellt hier also die ewige Wiederkunft des Gleichen in der Möglichkeitsform dar. Dies entspricht Magnus Interpretation von der Lehre der ewigen Wiederkunft als
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regulative Idee. Nietzsche entwickelt Magnus zufolge die ewige Wiederkehr als deskriptive Hypothese, in welcher eher die psychologischen Folgen für den, der über sie nachdenkt, von Bedeutung sind (vgl. Magnus 1978, S. 113, 142). Jedoch differenziert Magnus dieses Bild noch weiter. Er unterscheidet drei Formen der Interpretation der ewigen Wiederkehr: erstens die kosmologische Interpretation, wonach die Lehre der ewigen Wiederkunft wahr ist, zweitens die normative Interpretation, nach der Nietzsche uns dazu anregen möchte, zu handeln, als ob die ewige Wiederkehr wahr ist, und drittens schließlich die von Magnus selbst vertretene Interpretation der ewigen Wiederkehr als existenzieller Imperativ. Die wirkliche oder bloß angenommene Wahrheit der ewigen Wiederkehr hat hierbei keinen übergeordneten, sondern lediglich heuristischen Charakter (vgl. Magnus 1978, S. 140 ff.). Es handelt sich demnach um eine praktische Doktrin, die das Gegenteil der Perspektive der décadence darstellen soll: „Recurrence (…) is a (…) conceptual representation of a particular attitude toward life“ (Magnus 1978, S. 142). Dies kommt der bereits erwähnten These Owens entgegen, wonach amor fati die Attitüde des souveränen Individuums gegenüber dem Leben ist (vgl. Owen 2002, S. 118). Für Magnus ist die ewige Wiederkehr „the being-in-the-world of Übermenschen“ (Magnus 1978, S. 142). Jedoch bleibt Magnus zufolge auch bei dieser Interpretation immer noch ein Widerspruch, nämlich, wie man sich, bei Annahme und Akzeptanz der notwendig wiederkehrenden Ereignisse in der Welt, noch frei dazu entscheiden kann, dieser Lehre zu folgen (vgl. Magnus 1978, S. 141, 150). Um diese magnussche Paradoxie aufzulösen, kommt dem Abschnitt „Von der Erlösung“ aus Nietzsches Zarathustra eine übergeordnete Bedeutung zu. Zunächst stellt Nietzsche hier die Lehre des amor fati als Akt eines interpretierenden Willens dar: „Alles ‚Es war‘ ist ein Bruchstück, ein Räthsel, ein grauser Zufall – Bis der schaffende Wille dazu sagt: ‚aber so wollte ich es!‘ – Bis der schaffende Wille dazu sagt: ‚Aber so will ich es! So werde ich’s wollen!“ (Z II Erlösung, KSA 4, S. 181). Das ewige Wiederkehren des Gleichen ist also kein Naturgesetz, nichts empirisch Erkennbares, sondern der schöpferische Akt eines Willens, d. h. die Interpretation der Welt unter der normativen Doktrin der Bejahung aller Ereignisse in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Auch die Lehre der ewigen Wiederkehr ist somit eine Interpretation im Sinne des notwendig künstlerischen und perspektivischen Erfindens und Zurecht-Machens der Welt (vgl. GT Versuch 2, KSA 1, S. 13 f.; Abel 1998, S. 447 ff.). Die ewige Wiederkehr ist also keine Lehre über die Welt, sondern eine Anleitung zu einem souveränen Umgang mit den Ereignissen in der Welt. Zudem zeigt sich in jener bereits zitierten Textstelle aus dem Zarathustra Nietzsches Auffassung von Freiheit bzw. Befreiung des Willens: „Wollen befreit: aber wie heisst Das, was auch den Befreier noch in Ketten schlägt? ‚Es war‘: also heisst des Willens Zähneknirschen und einsamste Trübsal. (…) Nicht zurück kann der Wille wollen; dass er die Zeit nicht brechen kann (…) – das ist des Willens einsamste Trübsal“ (Z II Erlösung, KSA 4, S. 179 f.). Die Erlösung und somit Befreiung des Willens findet über jene Umdeutung des ‚Es-War‘ in ein ‚So-wollte-ich-Es‘ statt. Loeb (2005) führt diese Umdeutung auf den Terminus des souveränen Individuums zurück, indem
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er die Begriffe des Erinnerns, des Vergessens und des Versprechens mit dem des amor fati verbindet: Memory is what teaches the human animal that it cannot will backwords. In order to liberate itself, therefore, the human animal must employ this same memory to recover the past so deeply and so completely that it is led to forget the past in a new and übermenschlich sense – that is to let go of the past, and (…) to recognize that the ‘it was’ is not immovible after all (Loeb 2005, S. 166).
Hiermit meint Loeb, dass der souveräne Mensch eine zweite, höherstufige Form des Erinnerns entwickelt, aus welcher heraus er fähig wird, rückwärts zu wollen. Indem das souveräne Individuum die Vergangenheit nicht nur akzeptiert, sondern sie auch bejaht („so wollte ich es!“), transzendiert es auf diese Weise die Vergangenheit in etwas ewig Wiederkehrendes und somit in etwas, das auch künftig wieder eintritt. Das Erinnern wird dementsprechend auf eine höhere Stufe gehoben, indem es über die kausale Kette hinaus das Vergangene als etwas begreifen lernt, was nicht sinnlos und kein „grauser Zufall“ (Z II Erlösung, KSA 4, S. 179) ist und dem Menschen demzufolge nicht bloß zustößt. Vielmehr wird unter der Prämisse der ewigen Wiederkehr des Gleichen jedes Ereignis der Vergangenheit als etwas gedeutet, das mit allen anderen Ereignissen aus Vergangenheit und Zukunft verwoben ist, es wird also auf das Ganze hin interpretiert und bejaht. Das vergangene Ereignis ist nicht etwas, wovon der Geist passivisch ‚nicht-wieder-los-kommt‘, sondern etwas, das er „Fort- und Fortwollen“ (GM II 1, KSA 5, S. 292) will. Dieses höherstufige Erinnern ermöglicht demzufolge ein höherstufiges Vergessen, denn die Vergangenheit wird nun nicht mehr als Fessel, als vom Willen nicht mehr veränderbares Fatum empfunden (vgl. Z II Erlösung, KSA 4, S. 179 ff.). Vielmehr wirkt diese Art des Erinnerns handlungsermöglichend, d. h.: Die zurückliegenden Ereignisse können vergessen werden, sie sind keine „eiternde Wunde“ (EH weise 6, KSA 6, S. 272) mehr, das Erinnern ist kein „passivisches Nicht-wieder-loswerden-Können des einmal eingeritzten Eindrucks“ (GM II 1, KSA 5, S. 292) mehr, sondern das Erinnerte soll auch in Zukunft bejaht werden. Das souveräne Individuum kann somit versprechen, dass es sich und sein „Geschick“ (GM II 2, KSA 5, S. 294) auch in Zukunft wollen wird, da alles, was kommt, bereits geschehen ist, und weil man, bejaht man einen Aspekt seines Lebens, auch das gesamte Schicksal bejahen muss, ist das eine doch ohne das andere nicht denkbar. Dem souveränen Individuum gelingt es auf diese Weise, Macht über die Zeit, also „Macht über sich und das Geschick“ (GM II 2, KSA 5, S. 294) zu haben, der Wille ist nicht mehr „Gefangener“ (Z II Erlösung, KSA 4, S. 179) des Vergangenen, sondern er wird kraft dieser Transformation Herrscher über das „Es war“ (Z II Erlösung, KSA 4, S. 179). Denn das Vergangene kann nicht mehr quälen, da es bereits unzählige Male geschehen ist und unter der Prämisse der ewigen Wiederkehr in die Gesamtheit allen Geschehens eingeordnet wird. Demzufolge kann auch das Zukünftige nicht mehr erschrecken, da es bereits gewesen ist und sein Wiederkehren herbeigesehnt wird (vgl. Loeb 2005, S. 167, 170).
3.3 Souveräne Individualität und amor fati
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Acamporas Einwurf (vgl. Acampora 2006, S. 155), wonach die ewige Wiederkehr deshalb nicht mit dem souveränen Individuum zusammen gedacht werden kann, weil diesem die Fähigkeit des Versprechens zukommt und diese Fähigkeit wiederum kausales Denken und die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft voraussetzt, kann den vorangegangenen Überlegungen zufolge zurückgewiesen werden. Denn das kausale Denken und die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft, welche dem menschlichen Tier noch über den Prozess der Sittlichkeit der Sitte anerzogen worden sind, werden in der Lehre von der ewigen Wiederkehr transzendiert. Das souveräne Individuum, das versprechen kann, soll sich ja laut Nietzsche gerade aus der Sittlichkeit der Sitte heraus und hinaus zu etwas Höherem und Übermenschlichen entwickeln.¹¹ Nietzsche spricht zwar immer noch von Vergangenheit und Zukunft, jedoch wird die Unterscheidung von beidem in der Idee der ewigen Wiederkehr des Gleichen zugleich aufgehoben, da ja das, was geschehen ist, wiederkommen wird und schon unendliche Male wiedergekehrt ist. Das souveräne Individuum gelangt, gerade weil es berechenbar geworden ist und kausal denken gelernt hat, dazu, „wie es ein Versprechender thut, für sich als Zukunft gutsagen zu können“ (GM II 1, KSA 5, S. 292), da es die Welt so interpretiert, dass alles, was bereits geschehen ist, in der Zukunft wiederkehren wird und es gelernt hat, dieses Geschehen zu bejahen, weil alle Dinge und Ereignisse miteinander zusammenhängen und man einen Teil nur bejahen kann, wenn man das Ganze bejaht (vgl. GD Irrthümer 8, KSA 6, S. 96). Indem das Individuum die Welt als ewige Wiederkehr deutet und bejaht, wird es zum souveränen Individuum, da es nun versprechen kann, das Geschehen auch in Zukunft zu bejahen und zu wollen. Es ist somit dazu fähig, sich autonom in der Welt zu bewegen und souverän auf die Dinge zu reagieren, welche ihm zustoßen, und die zu kontrollieren ihm nicht möglich sind. Das Prinzip des amor fati haftet also gleichsam allen Handlungen an. Pointiert lässt sich sagen, dass Freiheit nach Nietzsche Freiheit-von (der Vergangenheit) und Freiheit-für (die Zukunft) ist. Denn die Gebundenheit an die Vergangenheit wird aufgelöst, indem diese als immerwiederkehrend vorgestellt wird. Auf diesem Wege kann die Zukunft bejaht werden, da sie dem Willen des Individuums untergeordnet wird. Die Freiheit des Willens des souveränen Individuums bemisst sich gerade nach der Fähigkeit, die Wiederkehr des Gleichen zu bejahen: A self expresses ‘freedom of the will’ – that is, mastery over itself and thus over the circumstances – is able to will its own necessity in this way, to recreate the whole history out of which it arises as ‘thus I will it’. This is precisely the‘trusting fatalism’ that Nietzsche attributes to Goethe (…) his paragon of a free individual (…). To affirm our fate (…) means willing necessity not only backwards
Für diese Synthese verwendet Nietzsche die Metapher der „reifste[n]Frucht“ (GM II 2, KSA 5, S. 293), welche übrigens in ganz ähnlicher Form auch von Zarathustra, dem Lehrer der ewigen Wiederkehr, verwendet wird: „Die Feigen fallen von den Bäumen, und sie sind gut und süss (…). Ein Nordwind bin ich reifen Feigen“ (Z II Inseln, KSA 4, S. 109).
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but also forwards (…). And one wills forward by ‘promosing oneself’ (GM II 2) in respect of the values with which this historical determination endows one (May 2009, S. 97 f., 104).
Die Individualisierung des souveränen Menschen verläuft demnach über die Einwilligung in die Notwendigkeit des historisch geformten individuellen Schicksals. Kann man sich jedoch in diesem bejahenden Verhalten zur Welt auch frei bewegen, Entscheidungen treffen und diese Welt, die notwendig wiederkommen wird, verändern? Wie steht es nun mit dem von Magnus formulierten Paradox (vgl. Magnus 1978, S. 141, 150), wonach man sich – gemäß der ewigen Wiederkehr verstanden als existenzieller Imperativ – dazu angeraten sieht, sein vorgegebenes Schicksal zu bejahen? Kann man in der Welt der Notwendigkeit, der Prozessualität, der Wiederkehr des Gleichen auch neue Handlungen etablieren? Wie steht es um die Rede vom „Fortund-fort-Wollen des einmal Gewollten“ (GM II 1, KSA 5, S. 292), dem „Gedächtniss des Willens“ (GM II 1, KSA 5, S. 292), der Fähigkeit, sich nicht davon abhalten zu lassen, den Willen in der Zukunft zu entladen? Ist hiermit nicht auch ein konkretes Handeln in der Welt gemeint? Besteht Freiheit für Nietzsche also auch als Handlungsfreiheit? Diese Frage ist mit Ja zu beantworten, denn die Einsicht, dass der Wille immer ein „Schaffender“ (Z II Erlösung, KSA 4, S. 179) ist, zeigt auch, dass wir unsere Vergangenheit immer in einem künstlerisch-kreativen und notwendig perspektivischen Sinne erschaffen und formen: „And the recognition that we are the authors of our past is to bring the individual the simultaneous awereness of his responsibility for the present and future“ (Magnus 1978, S. 150). Mit Nehamas lässt sich dieser Gedanke etwas grundlegender verfolgen: Da wir selbst die Autoren unserer Vergangenheit sind, so ist nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft und unsere Gegenwart von uns selbst abhängig. Unsere Selbstrezeption bestimmt demnach unser Selbst: „Die Geschehnisse der Vergangenheit sind notwendig durch und in der Erzählung festgehalten, und verschiedene Erzählungen können ganz verschiedene Ereignisse erzeugen. (…) Wie ich mich selbst heute sehe, beeinflußt ganz entscheidend das Wesen meines früheren Selbst“ (Nehamas 1991, S. 206). Die Idee der ewigen Wiederkehr und die des amor fati bauen auf der grundlegenden philosophischen These auf, dass alle Dinge nur über andere Dinge existieren, dass auch ‚Subjekte‘ nur über Wechselwirkungen mit anderen ‚Subjekten‘ bestehen (vgl. Nehamas 1991, S. 200). Allem kommt somit eine Relationalität zu. ‚Feste‘ Personen, verstanden als Substanzialität, können somit für Nietzsche gar nicht existieren, vielmehr sind diese stets nur vorübergehende, im Wandel und Werden begriffene Konstruktionen.¹² Alle Ereignisse der Vergangenheit sind zudem gleichermaßen bedeutend für unser heutiges Sein und haben einen gleichgroßen Einfluss auf unsere Persönlichkeit. Nietzsche lässt seinen Zarathustra dementsprechend sagen: „Sagtet ihr jemals Ja zu
Vgl. hierzu Kapitel 2.4 der vorliegenden Arbeit.
3.3 Souveräne Individualität und amor fati
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einer Lust? Oh, meine Freunde, so sagtet ihr Ja auch zu allem Wehe. Alle Dinge sind verkettet, verfädelt, verliebt“ (Z IV Nachtwandler-Lied 10, KSA 4, S. 402). Für den Begriff des Subjekts bedeutet dies, dass es keine Ereignisse gibt, welche für die Entwicklung des Einzelnen wichtiger sind als andere, dass also der Einzelne nicht durch einige bestimmte Eigenschaften, welche Reaktionen auf bestimmte Ereignisse darstellen, definiert wird.Vielmehr verbirgt sich hinter dem Begriff des festen, in sich geschlossenen Subjekts die Vielheit der zufälligen Ereignisse, die einem zugestoßen sind: „Thatsächlich sind wir eine Vielheit, welche sich eine Einheit eingebildet hat“ (NL 1881, KSA 9, 12[35], S. 582). Jene Ereignisse wiederum können nur unter der Prämisse des amor fati zu einer vorübergehenden Ganzheit der Person synthetisiert werden (vgl. Nehamas 1991, S. 200). Nietzsche drückt dies unter Berücksichtigung seiner Lehre vom Willen zur Macht sowie seiner Interpretationsphilosophie so aus: „In Wahrheit ist Interpretation ein Mittel selbst, um Herr über etwas zu werden“ (NL 1885 – 1886, KSA 12, 2[148], S. 140). Hatab hat zu bedenken gegeben, dass Nietzsches Rede von der Herrschaft über sich und die Umstände (vgl. GM II 2, KSA 5, S. 294), welche dem souveränen Individuum attestiert wird, mit der Lehre des amor fati in Widerspruch gerät, da diese gerade den Verlust von Autonomie und Kontrolle über das Geschehen bedeutet (vgl. Hatab 2008b, S. 77). Vor dem Hintergrund des hier Gesagten kann deutlich gemacht werden, dass Nietzsche unter dieser Herrschaft keineswegs eine Herrschaft über konkrete Umstände, Situationen oder Menschen versteht, sondern vielmehr die Interpretation der Welt unter Gesichtspunkten, die eine Herrschaft über sich und sein Schicksal erlauben, indem dieses zwar als unvermeintlich erkannt, aber dennoch bejaht wird. Die Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen ist also, obschon sie das gesamte Geschehen der Welt umfasst, nicht als eine statische oder metaphysische Lehre misszuverstehen, sondern vielmehr hat sie das dynamische und interpretierende Willen-zur-Macht-Geschehen bereits als Prämisse: „Die Welt ist nur in und als Interpretation, und der Weltprozeß ist die Konkatenation der vielen Willen-zur-Macht-undInterpretations-Prozesse, um deren Verlaufsform interner Notwendigkeit und damit um deren geschehens-logisches Wie es in dem Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen geht“ (Abel 1998, S. 448). Der Gedanke der ewigen Wiederkehr lässt also Dynamik und Veränderung zu. Somit ist der Gedanke der Bejahung und des amor fati auch nicht ein abzuschließender Prozess, sondern erfordert, wie Alexander Nehamas sagt, „die beständige Reinterpretation dessen, was in gewissem Sinne bereits vorhanden ist, da das ganze Selbst implizit in jeder Handlung steckt“ (Nehamas 1991, S. 217). Da die Vergangenheit kein fertiger Prozess ist, sondern mit jedem Augenblick ein Stück Vergangenheit hinzu kommt, das es zu interpretieren gilt, so ist auch unser Selbst, oder das Bild, das wir von uns haben, nie abgeschlossen oder fertig. Hierzu nochmals Nehamas:
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3 Inhaltliche Vertiefung des Themenkomplexes „souveränes Individuum“
Nietzsche scheint zu meinen, daß ein perfektes Leben führen heißt, in Erfahrung zu bringen, was das Selbst ist, das bereits vorhanden ist, und dieser Erkenntnis gemäß zu leben. Aber dieser Erkenntnis gemäß zu leben, schließt unausweichlich neue Handlungen [Hervorhebung durch den Verf. – J. H.] ein, die in das, was bereits geschehen ist, integriert werden müssen (Nehamas 1991, S. 217).
Indem das Individuum neue Handlungen vollzieht, erhält es sich die Handlungsfreiheit innerhalb der ewigen Wiederkehr des Gleichen.¹³ Derjenige, der unter dem Gedanken der ewigen Wiederkehr handelt, handelt anders als andere, die dies nicht tun, d. h. er erzählt sich sein Leben anders als andere und versteht und konstruiert sich somit auch anders als Individuum. Es besteht demzufolge kein Widerspruch zwischen den Gedanken der ewigen Wiederkehr und dem, dass gerade dieser Gedanke mein Leben verändert, oder wie Paul Loeb es sehr pointiert ausdrückt: „‘Fated’ change (…) is still change“ (Loeb 2006, S. 179). Auf die Idee des souveränen Individuums sowie dessen Handlungsfähigkeit bezogen hat dies nun weitreichende Konsequenzen: Souveräne Individualität bedeutet durchaus die Re-Etablierung einer Person, die in das Geschehen der Welt eingreift und neue Handlungen vollzieht. Gleichzeitig ist der inhaltliche Kern dieses souveränen Handelns die Akzeptanz aller Ereignisse, die diese handelnde Person zu dem gemacht hat, was sie heute (im Moment dieses Handelns) ist. Der amor fati ist demnach das Prinzip des Willens des souveränen Individuums, das heißt, das, was vom Individuum gewollt wird, wird von nun an auch „[f]ort- und [f]ort“ (GM II 1, KSA 5, S. 292) gewollt. Amor fati ist, in der Terminologie von Bernd Magnus gesprochen, die Attitüde des souveränen Individuums (vgl. Magnus 1978, S. 142). Das souveräne Individuum kann versprechen, das Erlebte wieder (und immer wieder) erleben zu wollen, es ist also verantwortlich für seine Vergangenheit („so wollte ich es!“). Hiermit ist selbstverständlich nicht gemeint, dass der amor fati der einzige Gegenstand des Willens des souveränen Individuums ist. Vielmehr bildet sie die Voraussetzung jeglichen Handelns des souveränen Individuums und verändert somit seinen Zugang zur Welt und zum Handeln. Amor fati ist nicht das alleinige Objekt des Wollens, sonder das Wie des Wollens des souveränen Individuums. Auf diese Weise gelingt es auch, die Problematik hinsichtlich der Vereinbarkeit von amor fati und Handlungsbezogenheit aufzulösen (vgl. Kapitel 3.3 dieser Arbeit). Das „Fort- und Fortwollen des ein Mal Gewollten“ (GM II 1, KSA 5, S. 292), welches sich
Diese Einsicht kann noch ergänzt werden durch ein logisches Argument, welches die Handlungsfreiheit mit dem Gedanken der ewigen Wiederkehr verbinden kann, ohne in Paradoxien zu verfallen: Die Tatsache, dass wir als Person ewig wiederkehren und auch schon ewig wiedergekommen sind, schließt streng genommen eine Freiheit im Handeln gar nicht aus. Nietzsches Gedanke der Ganzheit und der gegenseitigen Bezogenheit interpretierender Machtzentren aufeinander negiert nicht zugleich Handlungsmöglichkeiten innerhalb dieser Struktur. Hierzu Bernhard Reginster: „In other words, the fact that all the possible lifes I could live have already been lived, indefinitly many times, does not determine which of these possible lifes I will actually live. Indeed, the doctrince of eternal recurrance may well allow that it remains up to me which life I live“ (Reginster 2006, S. 208).
3.3 Souveräne Individualität und amor fati
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in einem Akt entlädt, ist also durchaus konkret handlungsbezogen zu verstehen, ohne dass dadurch die Lehre der ewigen Wiederkehr mit Nietzsches Beschreibungen des souveränen Individuums in Widerspruch geraten muss. Der amor fati ist also nicht das, was vom souveränen Individuum gewollt wird, sondern die Ausführung eines Willensaktes kann nun versprochen werden, eben weil das Individuum nun alle Handlungen und Ereignisse der Vergangenheit auch für die Zukunft wieder haben will, weil die Schicksalsbejahung also zum Wesen des Willens, zum Wie des Willens geworden ist. Der amor fati ist das neue „Schwergewicht“ (FW 341, KSA 3, S. 570) auf dem Handeln des Individuums, d. h. er begleitet und bestimmt jedes Handeln. Der Lehre der ewigen Wiederkehr und die damit verbundene praktische Doktrin des amor fati führt also dazu, dass es dem Individuum möglich ist, Willensakte auch dann noch zu wollen, wenn andere Willensbestrebungen „dazwischengelegt“ (GM II 1, KSA5, S. 292) werden, ohne sich von diesen davon abbringen zu lassen, das ursprünglich Gewollte auszuführen. Denn dass die vergangenen Ereignisse immer wieder herbeigewünscht werden, bedeutet umgekehrt auch, dass zukünftige Ereignisse „[f]ort- und [f]ort“ (GM II 1, KSA 5, S. 292) gewollt werden. Indem der Wille des Menschen über die Schicksalsliebe von der Fessel des Vergangenen befreit wird, ist er nunmehr in der Lage, sein Handeln auf die Zukunft zu richten. Wie im Abschnitt über die eigentlichen Philosophen gezeigt wurde, versteht Nietzsche das souveräne Individuum als Vollbringer der Aufgabe, die zu werden, die wir sind (vgl. FW 335, KSA 3, S. 563). Bezüglich der Selbstwerdung des souveränen Individuums gilt es somit festzuhalten: Der Wille zur Selbstgestaltung geht einher mit der Annahme des unveränderbaren Schicksals. Zu werden, was man ist, bedeutet also die Akzeptanz dessen, was wir sind und notwendig sein müssen: „[O]ne becomes what one is and thus cultivating one’s character goes hand in hand with Nietzsche’s conception of fatalism“ (Solomon 2006, S. 427). Nietzsche kombiniert demnach seinen Fatalismus mit einem kreativen Akt, welcher in der Bejahung dieses Fatums, also in der Lehre des amor fati, besteht. Amor fati wird von Nietzsche als ein kreatives Umschaffen, d. h. als ein Uminterpretieren der Vergangenheit beschrieben (vgl.: Z II Erlösung, KSA 4, S. 179). In Jenseits von Gut und Böse konkretisiert Nietzsche den Zusammenhang von Notwendigkeit und Kreativität in seiner Beschreibung des künstlerischen Typus: Die Künstler mögen hier schon eine feinere Witterung haben: sie, die nur zu gut wissen, dass gerade dann, wo sie (…) Alles nothwendig machen, ihr Gefühl von Freiheit, Feinheit, Vollmacht, von schöpferischem Setzen (…) auf seine Höhe kommt, – kurz, dass Nothwendigkeit und ‚Freiheit des Willens‘ dann bei ihnen Eins sind (JGB 213, KSA 5, S. 148; vgl. Hatab 2005, S. 135).
In diesem Zitat wird deutlich, dass für Nietzsche die Begriffe der Freiheit und des schöpferischen Setzens in eine Reihe zu stellen sind und so bis zu einem gewissen Grad Synonyme darstellen. Dieses schöpferische Setzen ist in den Prozess der Notwendigkeit eingebunden, was Nietzsche wiederum dazu veranlasst, die Freiheit zuletzt mit der Notwendigkeit in eines zu setzen.
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3 Inhaltliche Vertiefung des Themenkomplexes „souveränes Individuum“
Der in dieser Passage beschriebene Künstlertyp schafft somit keine neue Kausalkette, genauso wenig, wie er als ein ‚ursächliches Subjekt‘ beschrieben werden kann: „The immediacy of neccesity as an emergence not explicable in causal or teleological terms allows Nietzsche to connect it with the inexlicable and uncontrollable character of creative experience“ (Hatab 2005, S. 134). Nietzsches Freiheitsbegriff ergibt sich somit, gemäß des „Erlösungs“-Abschnitts im Zarathustra, gerade aus der Notwendigkeitslehre der ewigen Wiederkehr, die vom autonomen, souveränen Individuum ‚schöpferisch gesetzt‘ und zugleich vollzogen wird. Freiheit besteht also für Nietzsche umgangssprachlich gesprochen darin, sich nicht von der Notwendigkeit allen Geschehens ‚unterkriegen‘ zu lassen und eben nicht darin, aus einem festen und autonomen Wesenskern heraus Handlungen in der Welt zu vollziehen: „Von dem neuen menschlich-übermenschlichen Welt-und-Selbst-Verständnis gilt, daß es aufgrund vor allem des vollständigen Ineinanders von Faktizität und Interpretativität weder substantialistisch noch naturalistisch, aber auch nicht subjektivistisch verstanden werden kann“ (Abel 1998, S. 452). Für die Übereinstimmung und Überschneidung von Nietzsches Lehre vom freien Willen und seiner Vorstellung von Kreativität lassen sich noch andere Belege finden. Für Nietzsche ist ‚Freiheit des Willens‘ nur ein anderes Wort für die Überwältigung eines der Instinkte in uns durch einen anderen.¹⁴ In der Götzen-Dämmerung bemisst Nietzsche den Grad der Freiheit, zu dem ein Mensch fähig ist, nach der Kraft der Widerstände, die er zu überwinden hatte (vgl. GD Streifzüge 38, KSA 6, S. 140). In ganz ähnlicher Weise beschreibt er den kreativen Akt: „Eine neue Schöpfung zumal, etwa das neue Reich, hat Feinde nöthiger als Freunde: im Gegensatz erst fühlt es sich nothwendig, im Gegensatz wird es erst nothwendig…Nicht anders verhalten wir uns gegen den ‚inneren Feind‘“ (GD Moral 3, KSA 6, S. 84; vgl. Hatab 2005, S. 133). Kreative Akte sind somit für Nietzsche freie Willensakte. Und Freiheit entsteht in der Interpretation (amor fati), mit welcher es gelingt, Herrscher über das an sich nicht veränderbare Schicksal zu werden. Freiheit, Mächtigkeit („Vollmacht“) und Kreativität („schöpferisches Setzen“) gehen also bei Nietzsche zusammen. Kreativität ist demzufolge einerseits das Charakteristikum des notwendigen und notwendig perspektivischen und künstlerisch-interpretierenden Geschehens selbst. Andererseits greift der kreative Akt auch verändernd in die Wirklichkeit ein, indem er die Erzählung von uns selbst und der Wirklichkeit neu interpretiert (vgl. Abel 1998, S. 173 f.; Nehamas 1991, S. 206, 217). Die ewige Wiederkehr ist also, formal gesehen, eine Interpretation wie jede andere auch, jedoch ist sie eine, die näher an dem anti-teleologischen und prozessualen Interpretationsgeschehen ist, als welches Nietzsche die Wirklichkeit beschreibt. In der Terminologie Günter Abels gesprochen, lässt sich dies so ausdrücken:
Vgl. hierzu die Kapitel 1.3 und 2.5 dieser Arbeit.
3.3 Souveräne Individualität und amor fati
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Die ewige Wiederkehr ist nicht die Welt selbst, aber die dynamische Prozesshaftigkeit der interpretierenden Willen-zur-Macht-Quanta kommt in der nicht-kausalen Notwendigkeit, welche in der Lehre der ewigen Wiederkehr beschrieben ist, besser zum Ausdruck als in einer Lehre, die die Welt substantialistisch beschreiben möchte (vgl. Abel 1998, S. 448). Die Interpretation der Lehre der ewigen Wiederkehr korrespondiert also besser mit Nietzsches Gesamt-Interpretation der Welt als dynamisches, werdendes, phänomenales, anti-teleologisches und nicht-substanzielles Interpretationsgeschehen, als dies ein Essentialismus tun würde. Der inhaltliche Kern der Lehre der ewigen Wiederkehr, also der Gedanke, dass sich alle Dinge in der Welt notwendig und ewig wiederholen, bleibt jedoch hypothetisch und dient daher der ‚Züchtung‘ des Selbst und nicht der Beschreibung der Wirklichkeit. Diese Lehre wird demnach von Nietzsche in letzter Konsequenz bevorzugt, weil sich ihr Inhalt besser mit seiner Deutung der Welt überschneidet, nicht weil ihr Inhalt das Wesen der Wirklichkeit ‚wie sie in Wahrheit ist‘ beschreiben würde. Der amor fati bejaht alles Geschehen in der Welt, weil alles Gute, das einem widerfährt, auch durch die negativen Erfahrungen, die man gemacht hat, möglich wird. Dieser Gedanke korrespondiert mit Nietzsches grundsätzlicher These von der gegenseitigen Bezogenheit, in welcher sich jegliche Dinge konstituieren. Die Lehre der ewigen Wiederkehr und des amor fati wird von Nietzsche also nicht im luftleeren Raum entworfen, sondern ist die Konsequenz aus seiner Lehre der grundlegenden Relationalität, die allen Dingen zukommt. Der Gedanke der ewigen Wiederkehr kann also nur ‚selektiv‘ wirken, weil er der von Nietzsche konzipierten Wirklichkeit näher kommt als andere Weltkonzeptionen und somit den Grundvoraussetzungen des Lebens (Lüge, Schein, Werden, Perspektivität) gerechter wird als andere. Der Gedanke passt somit besser zur Wirklichkeit, deshalb muss er aber nicht ‚wahrer‘ sein als andere, sondern dient als Gedanke nur besser zur ‚Züchtung‘ des Einzelnen. Der epistemische Wahrheitsgehalt des Gedankens spielt hierbei keine Rolle. Der amor fati ist das selbstgewählte Gesetz, unter das das souveräne Individuum sich und sein Handeln stellt. Zugleich erschafft das Individuum mit der Lehre von der ewigen Wiederkehr eine neue Weltinterpretation – und Sinngebung –, welche nicht nur den Einzelnen, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes betrifft. Dass es das souveräne Individuum ist, welches die ewige Wiederkehr lehren soll und sich durch diesen Gedanken in einer autonomen Souveränität selbst konstituiert, macht der Vergleich zweier Textpassagen deutlich. In dem Abschnitt „Von der Erlösung“ aus Also sprach Zarathustra entwickelt Nietzsche die oben beschriebene Umdeutung des ‚es war‘ in ein bejahendes ‚so wollte ich es!‘. Der Begriff der Erlösung taucht in GM II 24 wieder auf, also in jener Abhandlung aus der Genealogie der Moral, zu deren Beginn Nietzsche das Ideal des souveränen Individuums vorstellt. Nietzsche spricht dort vom „erlösende(n)Mensch[en]“, dessen Ankunft von ihm herbeigesehnt wird. Jener Mensch, jener „schöpferische Geist“, bringt „die Erlösung dieser Wirklichkeit“ und macht den „Willen wieder frei“ (GM II 24, KSA 5, S. 336).
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3 Inhaltliche Vertiefung des Themenkomplexes „souveränes Individuum“
Die angeführten Zitate korrelieren mit dem Gedanken Zarathustras, wonach der Wille wieder befreit wird, indem er schöpferisch tätig wird und das Vergangene ‚umschafft‘ in ein ‚so wollte ich es!‘ (vgl.: Z II Erlösung, KSA 4, S. 179). Somit ist das souveräne Individuum, welches Nietzsche mit Vokabeln wie „[d]ieser Freigewordne“ oder „dieser Herr des freien Willens“ oder „[d]er ‚freie‘ Mensch“ (GM II 2, KSA 5, S. 294) umschreibt, zugleich Lehrer und Vollender der ewigen Wiederkehr des Gleichen (im Sinne des notwendigen Interpretationsgeschehens) und der damit einhergehenden Attitüde des amor fati. Das souveräne Individuum ist also Dichter seines Lebens, indem es in einem perspektivisch-prozessual-kreativen Akt die Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen in das Interpretationsgeschehen einbringt und so „die Erlösung der Wirklichkeit“ (GM II 24, KSA 5, S. 336) und das Frei-Werden des Einzelnen auf eine von ihm gestaltete Zukunft ermöglicht: „[A]ls Dichter (…) und Erlöser (…) lehrte ich sie an der Zukunft schaffen, und Alles, das war –, schaffend zu erlösen“ (Z III Tafeln 3, KSA 4, S. 248 f.). Die These der Vereinbarkeit von amor fati und souveräner Individualität wurde von Acampora (2006) und Hatab (2008) mit zwei Haupteinwänden konfrontiert: Zum einen mit dem Einwand, die Begriffe der Kausalität und der Verantwortlichkeit, durch die das souveräne Individuum geprägt ist, würden nicht mit der prozesshaften Notwendigkeit, die in der Lehre der ewigen Wiederkehr beschrieben ist, in Einklang zu bringen sein. Zum anderen wurde angemerkt, dass die Figur der Herrschaft über sich und die der Handlungsfähigkeit in Widerspruch zur Lehre des amor fati gerät, da hier gerade die Einwilligung in den unveränderbaren Charakter des Schicksals von übergeordneter Bedeutung ist (vgl. Acampora 2006, S. 155, Hatab 2008b, S. 77 ff.). Beide Einwände konnten zurückgewiesen werden. Der erste, indem herausgearbeitet wurde, dass die Lehre der ewigen Wiederkehr die Dichotomie von Vergangenheit und Zukunft in letzter Instanz zugunsten einer zirkelhaft gedachten Zeitkonzeption aufhebt, in welcher die Bejahung der Vergangenheit zugleich die Bejahung der Zukunft bedeutet (ewige Wiederkehr des Gleichen). Sprachpragmatisch hält Nietzsche zwar an einer Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft fest, jedoch ist das souveräne Individuum zuletzt auch dadurch charakterisiert, dass es dem nicht-kausalen, chaotischen und notwendigen Werdenssttrom standhält, um dessen „geschehens-logisches Wie es in dem Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen geht“ (Abel 1998, S. 448). Ebenfalls widerlegt wurde der Einwand, dass die Begriffe der Selbstkontrolle und der Willensfreiheit, mit welchen Nietzsche das souveräne Individuum ausstattet, in Widerstreit geraten zur Unveränderbarkeit allen Geschehens, wie es in der Lehre des amor fati erkannt und anerkannt werden soll. Denn Freiheit wird bei Nietzsche gerade unter der Voraussetzung der Idee der Notwendigkeit gedacht, d. h. Befreiung findet über die Bejahung aller vergangenen Ereignisse statt. Jedoch ist hiermit kein resignativer Fatalismus angesprochen, sondern ein schöpferischer Akt des Willens, welcher aktiv in das Geschehen der Welt eingreift, indem er dieses emphatisch bejaht und in seiner Wiederkehr herbeisehnt.
3.4 Deleuze, Nietzsche und das Konzept der Singularität
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Zudem konnte auch die Idee der Handlungsfreiheit innerhalb der Lehre des amor fati aufrecht erhalten werden, da die notwendige Wiederkehr des Gleichen keinesfalls als ein statischer und in sich geschlossener Vorgang zu beschreiben ist, sondern vielmehr als ein Prozess, in welchen der Einzelne immer auch konkret eingreift, indem er neue Ereignisse in den Prozess der Selbst- und Weltinterpretation integriert. Amor fati ist das Prinzip des souveränen Individuums, mit welchem dieses die Welt und sich selbst interpretiert und unter dessen Prämisse es denkt, fühlt und handelt.
3.4 Deleuze, Nietzsche und das Konzept der Singularität Im vorherigen Abschnitt wurde die Lehre der ewigen Wiederkehr als selektierender Gedanke vorgestellt, welcher die, die ihn denken, entweder in Verzweiflung stürzt, oder aber Bejahung hervorruft (FW 341, KSA 3, S. 570; Magnus 1978, S. 113, 142). Freiheit wurde in diesem Zusammenhang als Vermögen des Willens bestimmt, die Vergangenheit zu bejahen und somit den Willen von der Kette zu befreien, nicht rückwärts wollen zu können (vgl. Z II Erlösung, KSA 4, S. 179 f.). Die Unterscheidung zwischen frei und unfrei verläuft also für Nietzsche an der Schwelle von Verneinung und Bejahung. Der Terminologie von Bejahung oder Verneinung soll an dieser Stelle mit einer Reflexion über Nietzsche und Deleuze eine stärkere begriffliche Schärfe verliehen werden. Indem die Begriffe der aktiven und der reaktiven Kräfte ins Zentrum der Betrachtung gerückt werden, wird dem Zusammenhang von amor fati und souveräner Individualität eine weiterführende philosophische Grundierung gegeben. Verneinung und Bejahung werden interpretiert als aufsteigende bzw. sich auflösende Kräfte innerhalb einer Person. Hierdurch wird auch das Gegensatzpaar von Einheit und Vielheit einer tiefergehenden Analyse unterzogen.¹⁵ Das Kapitel verspricht demzufolge neben einer Erhellung der nietzscheanischen Freiheitsposition auch eine Spezifizierung seiner Vorstellung von Individualität. In einem Nachlassfragment bringt Nietzsche die reaktiven Kräfte mit dem ‚modernen Menschen‘ in Verbindung (vgl. N1887, KSA 12, 10[18] (151), S. 464). Modernität wird von ihm an dieser Stelle als ein mannigfaltiges In- und Nebeneinander von Reizen, Meinungen und Anschauungen verstanden. Der Mensch, der in dieser Modernität lebt, kann die Eindrücke um ihn herum nicht in einer tiefergehenden Weise verdauen, d. h. verarbeiten: „Schwächung der Verdauungs-Kraft resultiert daraus (…):
Vgl. die Begriffe aktiv und reaktiv bei Nietzsche: GM II 11. Hier wird der reaktive Mensch mit dem ‚schlechten Gewissen‘ und dem Ressentiment, der aktive hingegen mit dem ‚guten Gewissen‘ und der Wohlgeratenheit identifiziert.
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3 Inhaltliche Vertiefung des Themenkomplexes „souveränes Individuum“
der Mensch verlernt zu agiren; er reagiert nur noch auf Erregungen von außen her“ (NL 1887, KSA 12, 10[18] (151), S. 464). Umgekehrt macht Nietzsche an anderer Stelle deutlich, dass mit dem aktiven Typus der starke, schaffende, handlungsfähige Mensch gemeint ist, der in der Lage ist, zu vergessen. Die Begriffe der aktiven sowie der reaktiven Kraft können also durchaus mit den Termini des Erinnerns und des Vergessens und somit mit dem des souveränen Individuums in Zusammenhang gebracht werden. Es wurde bereits auf Nietzsches Unterscheidung zwischen dem „passivische[n] Nicht-wieder-los-werden-können“ und dem „aktive[n] Nicht-wieder-los-werden-wollen“ (GM II 1, KSA 5, S. 292) hingewiesen. Das Begriffspaar ‚aktiv/passiv‘ macht daher eine Untersuchung der Analyse der aktiven und der reaktiven Kräfte sinnvoll, welche unter den Nietzsche-Interpreten vor allem Gilles Deleuze in besonderer Weise ausgearbeitet hat (vgl. Deleuze 1985, S. 45 – 81; Zechner 2003, S. 139 ff.). Hiermit kann dementsprechend eine tiefergehende Analyse der Begriffe des Erinnerns und des Vergessens gewonnen werden, indem diese mit grundlegenden Termini aus Nietzsches Werk (Wille, Kraft) in Zusammenhang gebracht werden. Aktive Kräfte nennt Deleuze (im Anschluss an Nietzsches Terminologie des Willen-zur-Macht und des Willens zum Nichts) die Kräfte, die „bis ans Ende ihrer Konsequenzen geh[en]“ (Deleuze 1985, S. 73). Reaktive Kräfte sind diejenigen Kräfte, die die aktive Kraft von dem trennen, was sie vermag und sie so selbst reaktiv macht (vgl. Deleuze 1985, S. 64, 73 f.). Diese Überlegung geht auf die weiterführende Deleuzesche Interpretation von Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht zurück, in welcher Macht nicht mehr an ein autonom handelndes Subjekt oder einen bestimmten Repräsentanten gebunden ist, sondern als Mächtigkeit und als Drang verstanden wird, durch welchen bestimmte Kräfte über andere Kräfte siegen oder die konkurrierenden Kraftquanta sich gegenseitig bestärken und zu vorübergehenden Einheiten werden: „Der Wille zur Macht (…) ist Prinzip der Synthesis der Kräfte“ (Deleuze 1985, S. 56; vgl. Ott 2005, S. 55; Rölli 2003, S. 282 f.; Hayden 1998 S. 50). Der Wille zur Macht kommt also als Prinzip noch „zur Kraft hinzu“ (Deleuze 1985, S. 57), ist also nicht von ihr trennbar, aber auch nicht identisch mit ihr: „Diese ‚Willen‘ werden als genetische und differentielle Prinzipien der Kraft gefaßt, die die unaufhörlichen Veränderungs- und Interpretationsprozesse der singulären Kraftkonstellationen erklärt“ (Rölli 2012, S. 283). Deleuze drückt dies pointiert folgendermaßen aus: „Die Kraft kann, während der Wille zur Macht will“ (Deleuze 1985, S. 57). Deleuze unterscheidet daraufhin zwei Formen des Willens zur Macht: die bejahende und die verneinende. Hierin drücken sich die aktiven oder reaktiven Kräfte aus (vgl. Deleuze 1985, S. 60). Die reaktiven Kräfte können sich zwar vereinigen, bilden aber zusammengenommen keine höherwertige Synthese, vielmehr wirken sie generell auflösend und depotenzierend auf die aktiven Kräfte: „in jedem Fall wird er [Nietzsche – Anmerkung des Verf. – J. H.] zeigen, daß die reaktiven Kräfte nicht siegen, indem sie eine höhere Kraft bilden, sondern indem sie die aktive Kraft ‚abtrennen‘“ (Deleuze
3.4 Deleuze, Nietzsche und das Konzept der Singularität
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1985, S. 64; vgl. Ott 2005, S. 55; Zechner 2003, S. 139). Die reaktiven Kräfte verhindern also höherstufige Entitäten, in deren Folge auch weitergehende Denk- und Verhaltensweisen entstehen können (vgl. Ott 2005, S. 55; Rölli 2012, S. 283). Den mannigfaltigen Willen-zur-Macht-Quanta kommt hierbei prinzipiell die Möglichkeit zu, zu affizieren, oder selbst affiziert zu werden. In dem relationalen Geschehen der mannigfaltigen ‚Willen-zur-Macht‘ haben jedoch die aktiven Kräften das Vermögen über andere Kräfte zu herrschen, indem sie über diese siegen, d. h. sie dazu zu bringen, zu gehorchen, während die reaktiven Kräfte die aktiven Kräfte von dem trennen müssen, was sie können, um sich deren Kraft selbst nutzbar zu machen (vgl. Deleuze 1985, S. 70 f.; Rölli 2003, S. 283). Diese Ausführungen lassen sich anwenden auf Nietzsches Unterscheidung zwischen dem modernen Menschen, welcher nicht in der Lage ist, die Vielheit seiner Triebe und Antriebe zu etwas Höherem zu synthetisieren, und dem synthetischen Menschen, der seine manigfaltigen Triebe, Motive und Ziele einem höheren Ziel unterordnet. In Hinblick auf das Versprechen-Können des souveränen Individuums wurde bereits in Kapitel 2 festgestellt: Derjenige, der versprechen kann, wird sich nicht über andere Affekte von seinem Ziel abbringen lassen (vgl. Kapitel 2.5 dieser Arbeit; vgl. NL 1887, KSA 12. 9[119](78), S. 403 f.; Gemes 2007, S. 10, 12). Diese Gedankengänge müssen jedoch vor dem Hintergrund von Nietzsches radikaler Kritik am Substanz- und Subjektbergriff verstanden werden. Da Nietzsche ja gerade nicht mehr einen souveränen Täter hinter dem Tun vorstellt, sondern die Begriffe der Handlung, der Person und der Willensfreiheit auflöst zugunsten der Idee der Vielheit und der miteinander konkurrierenden Kraftquanta (vgl. JGB 19, KSA 5, S. 31 ff.), so muss man auch den Begriff des souveränen Individuums zurückübersetzen in Nietzsches Lehre der Kräfte und der ‚Willen zur Macht‘. Mit anderen Worten: Wenn Nietzsche von Souveränität, Autonomie im Handeln, und Versprechen-Können spricht, so ist dies nicht wörtlich zu verstehen, sondern jenes „Fort- und Fortwollen des ein Mal Gewollten“ (GM II 1, KSA 5, S. 292) ist, im Sinne von Deleuze, als eine aktive Kraft zu interpretieren, welche „bis ans Ende ihrer Reichweite zu gehen versucht“ (Zechner 2003, S. 139; vgl. Deleuze 1985, S. 73), und welche nicht durch eine reaktive Kraft affiziert und auf diese Weise selbst reaktiv wird. Deleuzes Analyse vom Zusammenspiel der nietzscheanischen Kraftquanta erhellt auch seine Kritik am Begriff der Willensfreiheit: Nietzsche hat die Vorstellung von der Freiheit des Willens und die dazugehörige Idee vom autonomen Subjekt zunächst dekonstruiert zugunsten der Idee der Vielheit konkurrierender Abtriebe: „‚Freiheit des Willens‘ – das ist das Wort für jenen vielfachen Lust-Zustand des Wollenden, der befiehlt und sich zugleich mit dem Ausführenden als Eins setzt“ (JGB 19, KSA 5, S. 33). In der Götzen-Dämmerung hat er diese Formulierung ins Positive gekehrt: Freiheit bemisst sich dort danach, wie groß der Widerstand der anderen Macht-Quanta war, der durch den zur Herrschaft gelangten Instinkt überwunden werden musste (vgl. GD Streifzüge 38, KSA 6, S. 139 f.).
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3 Inhaltliche Vertiefung des Themenkomplexes „souveränes Individuum“
Im Sinne der deleuzeschen Analyse von Nietzsches Macht- und Kraftbegriff lässt sich der Begriff des einheitlichen Subjekts und der Willensfreiheit neu- bzw. umformulieren: Freiheit im positiven Sinne entsteht für Nietzsche demnach, wenn sich die aktiven Kräfte gegen die reaktiven Kräfte durchsetzen und sich zu einer vorübergehenden größeren aktiven Kraft zusammenschließen: „Die Affektionen einer Kraft sind aktiv in dem Maße, wie die Kraft sich das aneignet, was ihr widersteht, in dem Maße, wie sie unterlegene Kräfte dazu bringt, zu gehorchen. Umgekehrt werden die Affektionen erlitten, oder vielmehr zum Wirken gebracht, wenn die Kraft von überlegenen Kräften, denen sie gehorcht, affiziert wird“ (Deleuze 1985, S. 70). Die Vorstellung von der autonom handelnden und einheitlichen Person, die über Widerstände in sich triumphiert, wird verschoben zugunsten der Theorie miteinander in Konflikt stehender Kräfte, bei denen die aktiven die reaktiven, passiven Kräfte affizieren und somit zum Unterliegen bringen. Auf diese Weise wird eine vorübergehende Einheit der aktiven Kräfte konstituiert, welche in der Lage ist, schaffend auf die Welt Einfluss zu nehmen. Der Wille ist für Nietzsche frei, wenn dies geschieht, und die Freiheit bemisst sich nach der Kraft, die notwendig war, um die widerstrebenden reaktiven Kräfte zu unterdrücken, welche nach Auflösung der aktiven Kraft und somit nach Auflösung des Willensaktes streben. Das Prinzip der reaktiven Kräfte ist das des Ressentiments: Es wurde bereits gezeigt (vgl. Kapitel 2.5), dass Nietzsche den krankhaften Menschen des Ressentiments, welcher seine Antriebe nicht zu einem höheren Ganzen synthetisieren kann, vom höheren Menschen unterscheidet, der hierzu in der Lage ist. Für ersteren bedeutet das ‚Nicht-wieder-los-Kommen‘ eine Schwäche, d. h. er ist nicht in der Lage, einen einmal erinnerten Eindruck zu vergessen, kann also seine Eindrücke nicht in einem Maße filtern, das für sein Weiterkommen und seine Weiterentwicklung nützlich und förderlich wäre (vgl. EH weise 2, 6, KSA 6, S. 267, S. 272 f.). Übersetzt in die Deutung Deleuze bedeutet dies: Beim Menschen des Ressentiments, beim „décadent“ (EH weise 2, KSA 6, S. 266), siegen die reaktiven Kräfte, es findet keine Vereinigung zu einer größeren aktiven Kraft statt, d. h. der Mensch des Ressentiments lässt sich von seinen Vorsätzen abbringen, bei ihm zerfließen die Willensakte in vielfache Richtungen, ohne einem übergeordneten Ziel zu folgen.¹⁶ Mit anderen Worten: dieser Mensch vermag es nicht, zu versprechen. Beim „wohlgerathne(n) Mensch“ (EH weise 2, KSA 6, S. 267) hingegen gelingt eine solche vorübergehende, höherstufige Synthesis im Sinne einer Konzentrierung und Vereinigung vieler Kräfte zu einer aktiven, größeren Kraft (vgl. Deleuze 1985, S. 64). Mit dem Begriff der Rangfolge ist bei Nietzsche eine solche mögliche Vorherrschaft der aktiven über die reaktiven Kräfte angesprochen (vgl. Deleuze 1985, S. 67; JGB 263, KSA 5, S. 217 f.).
Wenn, wie im Christentum bzw. im asketischen Ideal, ein solcher Zusammenschluss der reaktiven Kräfte gelingt, dann wendet sich eine solche Bündelung von Kräften letztlich gegen das Leben (vgl. Deleuze 1985, S. 68).
3.4 Deleuze, Nietzsche und das Konzept der Singularität
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Jedoch hat der Begriff der Rangfolge bei Deleuze eine doppelte Bedeutung. Man kann nicht die ‚Starken‘ und ‚Schwachen‘ danach unterscheiden, welche Form der Kräfte sich gegen die andere durchsetzt. Schließlich haben laut Nietzsche in der bisherigen Menschheitsgeschichte vor allem die reaktiven Kräfte gegen die aktiven den Sieg davon getragen (vgl. Deleuze 1985, S. 68; Z I Vorrede 10, KSA 4, S. 127 f.). Die schwachen und verneinenden Kräfte können genauso die starken Kräfte affizieren wie umgekehrt. Auch die reaktiven Kräfte können sich zu einer größeren Kraft zusammenschließen (wie im System des asketischen Ideals), jedoch streben diese selbstverneinenden Kräfte letztlich der Auflösung durch Selbstaufhebung entgegen (vgl. GM III 24, 27, KSA 5, S. 398 ff, 411 f.). Das Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen aktiven und reaktiven Kräften ist also nicht das Durchsetzungsvermögen. Vielmehr trennen die reaktiven Kräfte die aktiven Kräfte von dem, was sie können, d. h. die reaktive Kraft wirkt letztlich lebensverneinend und richtet sich gegen sich selbst. Denn die Paradoxie der reaktiven Kräfte besteht darin, dass sie zwar dieselbe Quelle haben wie die aktiven, sich jedoch am Ende gegen die Kraft, von der sie abhängen, richten. Deutlich macht Nietzsche diese Paradoxie anhand der Untersuchung des asketischen Ideals, welches für ihn der Hauptausdruck jenes – sich gegen das Leben richtenden – Willens zum Nichts ist. Der Wille zum Nichts gibt zwar dem Dasein einen Sinn, untergräbt aber, indem er das Nichts will, gerade die Grundvoraussetzungen des Lebens und somit auch sich selbst als Willen: „Denn ein asketisches Leben ist ein Selbstwiderspruch: (…) hier wird ein Versuch gemacht, die Kraft zu gebrauchen, um die Quellen der Kraft zu verstopfen“ (GM III 11, KSA 5, S. 363; Deleuze 1985, S. 68). Der verneinende Wille zur Macht (Wille zum Nichts) und die reaktiven Kräfte haben sich zwar gegen die bejahenden Kräfte durchgesetzt, jedoch wenden sich die überlegenen Kräfte am Ende gegen sich selbst, da sie von ihrem Potenzial abgetrennt sind (vgl. Deleuze 1985, S. 68). Man kann also von souveräner Individualität sprechen, insofern es gelingt, eine höherstufige Einheit der Person aktiv herbeizuführen und insofern diese Einheit ein Zusammenspiel von Kräften darstellt, welche bejahend und aktiv bis zum Ende dessen gehen, was sie können. Nietzsche unterscheidet dementsprechend zwischen der Individualität, welche jede notwendig verlaufende Zentrierung verschiedener Kraftquanta natürlicherweise mit sich bringt und der Art von Individualität, welche erst erworben und in einem schöpferischen Akt herbeigeführt werden muss: „[W]olle ein selbst, so wirst du ein selbst“ (MA II 366, KSA 2, S. 524). Beide Formen von Individualität stellen ein vorübergehendes ‚Fest-machen‘ von Kraftqunta dar. Jedoch ist die ‚gewöhnliche‘ Individualität nach überkommenen traditionellen Mustern gebildet und sieht sich selbst als Einheit, während die aktive Kraft laut Deleuze eine Kraft ist, „die ihre Differenz bejaht, die aus ihrer Differenz ein Objekt der Lust und Bejahung macht“ (Deleuze 1985, S. 68 f.). Eine aus aktiven Kräften gebildete Individualität hat somit auch eine größere Nähe zum eigentlichen, dynamischen, werdenden Willen-zur-Macht-Geschehen und kann sich demzufolge auch bejahend zur Wirklichkeit verhalten, d. h. es gelingt ihr, die Wirklichkeit zu beherrschen,
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3 Inhaltliche Vertiefung des Themenkomplexes „souveränes Individuum“
ohne die Grundbedingungen der Wirklichkeit (Vielheit, Werden, Dynamik, Chaos) zu verneinen. Die aktiven Kräfte sind für Deleuze ihrem Wesen nach gerade durch die Vielheit bestimmt. Der aktive Wille zur Macht ist dem verneinenden gerade deshalb überlegen, weil er seine Hauptcharakteristika (Überwältigung, Bis-ans-Ende-Gehen, Vielheit) offen auslebt und somit nicht, wie die reaktiven Kräfte, gegen die Grundvoraussetzungen des Lebens verstößt und „die Quellen der Kraft (…) verstopf[t]“ (GM III 11, KSA 5, S. 363; vgl. Deleuze 1985, S. 68 f.). Für Deleuze ist der ‚höhere Mensch‘ eine Folge des Zusammenspiels aktiver Kräfte, die in eine Hierarchie gebracht werden: „Der aktive Typus bezeichnet nicht nur aktive Kräfte, sondern ein nach Rangfolge organisiertes Ganzes, in dem die aktiven Kräfte über die reaktiven siegen“ (Deleuze 1985, S. 94). Dieses Ganze ist aber nur unter Einbeziehung der Vielheit und Dynamik der Kräfte denkbar. Dementsprechend ist auch der Wille, welcher diese Kräfte lenkt, ein vielfältiger Wille: „Seine [der Wille zur Macht, Anmerkung des Verf. – J. H.] Einheit ist die des Vielen und schreibt sich nur dem Vielen zu. Der Monismus des Willens zur Macht ist nicht zu trennen von einer vielfältigen Typologie“ (Deleuze 1985, S. 94). Gilles Deleuze hat eine eigene Begrifflichkeit für diesen dynamisch-vielfältigen, bejahenden und aktiven Willen zur Macht gefunden, der sich in der Konstitution einer höheren Person manifestiert: die Rede ist vom Begriff der Singularität. Deleuze begreift in Anschluss an Nietzsche (vgl. NL 1885, KSA 11, 34[123], S. 461; GD Streifzüge 41, KSA 6, S. 143) Individualität als etwas Sekundäres, als Ergebnis einer vorübergehenden Zentrierung von „präindividuellen Singularitäten“ (Deleuze 1992, S. 256; vgl. Deleuze 1993, S. 221). Deleuze spricht von der „nietzscheanische[n] Entdeckung des Individuums als zufälligem Zustand“, in welchem immer schon eine „Verdichtung von Singularitäten“ (Deleuze 1993, S. 222) stattgefunden hat. Für Nietzsche ist „das centrale Schwergewicht“ immer „etwas Wandelbares“, dem das „fortwährende Erzeugen von Zellen“ (NL 1885, KSA 11, 34[123], S. 462) notwendig vorangeht. Der Prozess der Individualisierung besteht also Nietzsche zufolge in einer vorübergehenden Vereinigung von vormals isolierten Kraftquanta. Diesen Prozess konkretisiert Deleuze mit Hilfe des Begriffs der Singularität. Er definiert Singularität nicht als eine mit sich selbst identische Einheit. Vielmehr wird sie durch die Differenz, die Vielheit, die aktiven Kräfte und durch das Werden bestimmt (vgl. Deleuze 1992, S. 97, 165, 345; Deleuze 1993, S. 222). Jene präindividuellen Singularitäten werden – in Anlehnung an Heidegger – als „Welt des MAN“ (Deleuze 1992, S. 345) beschrieben. Jedoch ist hiermit nicht, wie bei Heidegger, eine uneigentliche Verfallenheit an die alltägliche Welt gemeint, sondern eine Weise des unpersönlichen und vor-individuellen Existierens (vgl. Ott 2005, S. 68). Nietzsches berühmte Forderung, den Menschen wieder in die Natur zurückzuübersetzen (vgl. JGB 230, KSA 5, S. 169), bekommt vor diesem Hintergrund eine weiterführende Bedeutung. Hiermit ist nun nicht mehr bloß eine Wiederentdeckung der Animalität im Menschen angesprochen, sondern auch jene von Deleuze beschriebene „Gegen-Verwirklichung“ (Deleuze 1993, S. 222), d. h. die Rück-Übersetzung der an-
3.4 Deleuze, Nietzsche und das Konzept der Singularität
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geblich einheitlichen und selbstbestimmten Individuen in die vorgängigen a-personalen Kräfteprozesse, die sich auf diese Weise an den Individualitäten ablesen lassen: „Jedes Individuum wäre wie ein Spiegel für die Verdichtung von Singularitäten“ (Deleuze 1993, S. 222). Damit diese Rück-Übersetzung möglich werden kann, müssen zunächst die scheinbar festen Individualitäten aufgelöst werden. Deleuze spricht von der „Wiederaufnahme von präindividuellen Singularitäten, die zunächst (…) die Auflösung aller vorgängigen Identitäten bedingt“ (Deleuze 1992, S. 256). Nietzsches genealogische Kritik am Subjekt- und Substanzbegriff hat also den Sinn, zuletzt die „ungebunden[e] Energie“ (Deleuze 1992, S. 140) der Willen-zurMacht-Quanta freizusetzen, welche sich in den angeblich festen und selbstbezüglichen Personen ausdrückt und diesen vorangeht (vgl. Deleuze 1992, S. 140 f., 222). Die nietzscheanische Genealogie verfolgt also letztlich die Etablierung eines neuartigen Diskurses der Welt- und Selbstwahrnehmung: „Und das Subjekt dieses Diskurses – doch es gibt kein Subjekt mehr – ist nicht der Mensch (…) [e]s ist diese anonyme und nomadische Singularität, die (…) die Menschen (…) unabhängig von der Materie ihrer Individuation und von den Formen ihrer Personalität durchquert“ (Deleuze 1993, S. 141; vgl. Ott 2005, S. 73).¹⁷ ¹⁸ Aus diesen „frei flurierenden“ aktiven Machtquanta soll sich nun wiederum eine neue Form der Ganzheit herausbilden, welche die Vielheit und Wechselhaftigkeit der Willen-zur-Macht bewusst in sich aufnimmt und sogar zu ihrem Hauptkriterium
Die Einheit der Person wird laut Deleuze im Phantasma aufgelöst. Anhand seiner Analyse von Carolls Alice im Wunderland und hinter den Spiegeln entwickelt er das Theorem von der Gleichzeitigkeit des Werdens, welches in zwei zeitliche Richtungen verläuft, was zu dem Paradox der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart führt: „Es gehört (…) zum Wesen des Werdens, in beide Richtungen gleichzeitig zu verlaufen, zu streben: Alice wächst nicht, ohne zu schrumpfen, und umgekehrt“ (Deleuze 1993, S. 15; vgl. Deleuze 1992, S. 113; Ott 2005, S. 72 f.; Rülli 2012, S. 74). Gerade diese Umkehrung der Sinn- und Zeitzusammenhänge führt zu der Auflösung fest geglaubter Ordnungen und der Freilassung ungebundener Energie: „Im Phantasma kommt die Bewegung zum Vorschein, durch die sich das Ich der Oberfläche öffnet und die (…) unpersönlichen und präindividuellen Singularitäten freiläßt, die es gefangen hielt“ (Deleuze 1993, S. 263). Der Begriff der „nomadische[n] Singularität“ wird von Rosi Braidotti (Braidotti 1994) aufgenommen. Sie entwirft, auf Deleuze Gedanken zu Nietzsche aufbauend, die Idee einer „nomadic vision of subjectivity“ (Braidotti 1994, S. 101). Zum einen wird hiermit Nietzsches Subjektkritik in eine reformierte Theorie einer dynamischen, differenten und verkörperten Subjektivität überführt, in welcher die Vielheit ‚mutibler Identitäten‘ zum Ausdruck kommt (vgl. Lemm 2015, S. 61; Braidotti 2006, S. 201). Zum andern gelingt Braidotti über den Terminus der nomadic subjectivity eine Reformulierung der Geschlechtertheorie unter Bezugname auf Deleuze Ausführungen zu Nietzsche: „This emphasis on processes, dynamic interaction, and fluid boundaries is a materialist, high-tech brand of vitalism, which makes Deleuze’s thought highly relevant to the analysis oft he late industrialist patriarchal culture we inhabit“ (Braidotti 1994, S. 111). Braidottis materialistische Theorie weiblicher Subjektivität erhält also eine theoretische Unterfütterung über Deleuze’ Theorie der nomadischen Singularität. Denn für Braidotti besteht der Vorteil einer auch materialistisch orientierten Theorie von Subjektivität darin, dass neben den smbolisch-diskursiven auch die praktisch-körperlichen Momente in der Konstitution weiblicher Identität eingefangen und letztlich einer Veränderung zugeführt werden können (vgl. Braidotti 1994, S. 238).
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3 Inhaltliche Vertiefung des Themenkomplexes „souveränes Individuum“
macht (vgl. NL 1883, KSA 10, 7[273], S. 324). Ja, gerade die Vielheit und die Differenz unterscheidet die souveräne Individualität von der ‚normalen‘, weil die reaktiven Kräfte immer nach Auflösung der Differenz der Quanta streben und deren Potenziale somit schwächen oder aufheben, während im höheren Typus die aktiven Kräfte ihre Potenziale voll ausspielen können. In diesem Zusammenhang sei noch einmal an das Zitat von Deleuze erinnert: „Der aktive Typus bezeichnet nicht nur aktive Kräfte, sondern ein nach Rangfolge organisiertes Ganzes, in dem die aktiven Kräfte über die reaktiven siegen und diese zum Wirken gebracht“ (Deleuze 1985, S. 94; vgl. auch S. 29, 49) werden. Die Unterscheidung zwischen synthetischen und modernen Menschen muss also nochmals differenziert werden: Auch der reaktive Typ des décadent ist in der Lage, Synthesen herzustellen und die frei flurierenden Kräfte zu einem größeren Kraftfeld zu integrieren (vgl. Deleuze 1985, S. 67 f.). Ja, der Wille zur Macht, als Grundprinzip des Lebens, erzeugt seinem Wesen nach solche Synthesen: „Der Wille zur Macht (…) ist das Prinzip der Synthesis der Kräfte“ (Deleuze 1985, S. 56). Und schließlich ist für Nietzsche auch der Wille zum Nichts ein Wille, d. h.: ein Wille zur Macht (vgl. GM III 28, KSA 5, S. 411 f.). Die Unterscheidung zwischen ‚synthetischen‘ und ‚modernen‘ Menschen, zwischen bejahenden und verneinenden Willen zur Macht verläuft also anders: nämlich in der Weise, wie die Synthesen geartet sind. Die reaktiven Kräfte gehen, auch wenn sie vorübergehend lebenserhaltend wirken können, aufgrund ihres lebensverneinenden Kerns, notwendig der Auflösung entgegen. Eine Art einer solchen Auflösung ist die des Gleichmachens von Ungleichem, der Subsummierung der Vielheit unter eine Einheit (vgl. Deleuze 1985, S. 49). Denn das Viele und die Differenz ist nicht zu trennen vom Werden, das für Nietzsche das Grundprinzip allen Daseins ist. Das Gleiche und das Indifferente zu bejahen, heißt also, den Charakter der Wirklichkeit zu verneinen. Umgekehrt bedeutet dies, das Viele zu bejahen, die Akzeptanz des Werdens und somit die Bejahung des Schicksals (vgl. Deleuze 1985, S. 29 f.). Auf den Terminus des Individuums bezogen verläuft also die Unterscheidung zwischen ‚normaler‘ und souveräner Individualität über die Begriffe der Einheit und der Vielheit. Je mehr Vielheit in einer ‚Person‘ zugelassen wird, desto größer ist die Syntheseleistung, desto stärker und bejahender also deren Wille zur Macht. Je mehr Gegendruck die anderen Kraftquanta erzeugen, desto größer die Freiheit desjenigen, der diesem Druck standzuhalten vermag: „Wonach misst sich die Freiheit (…)? Nach dem Widerstand, der überwunden werden muss, nach der Mühe, die es kostet, oben zu bleiben“ (GD Streifzüge 38, KSA 6, S. 140). Freiheit ist also für Nietzsche nichts Gegebenes, keine rationale Entscheidung zwischen Möglichkeiten, sondern etwas, das gegen großen Widerstand errungen werden muss: „[W]ie ich das Wort Freiheit verstehe: als Etwas, das man hat und nicht hat, das man will, das man erobert“ (GD Streifzüge 38, KSA 6, S. 140).
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Für diese Selbstdisziplinierung ist jedoch nicht nur die Bejahung der Vielheit entscheidend, sondern umgekehrt auch die Erziehung zur Ganzheit. Nietzsche betont nur einige Seiten später, was genau ihn an dem Typus des modernen Menschen stört: [I]ch definirte das Moderne bereits als den physiologischen Selbst-Widerspruch (…). Heute müsste man das Individuum erst möglich machen, indem man dasselbe beschneidet; möglich, das heisst ganz…Das Umgekehrte geschieht: der Anspruch auf Unabhängigkeit, auf freie Entwicklung, auf laisser aller wird gerade von Denen am hitzigsten gemacht, für die kein Zügel zu streng wäre… (GD Streifzüge 41, KSA 6, S. 143).
Der moderne Begriff von Freiheit führt demnach für Nietzsche zu einer Zerstreuung der Instinkte, da jedem Instinkt sofort nachgegangen wird, bevor der eine merklich geschwächt und der andere dominierend werden kann. Eine Überbetonung der Vielheit ohne einen herrschenden Instinkt führt demzufolge genauso in die Auflösung und in den Selbstwiderspruch wie die asketischen Ideale und der Wille zum Nichts (vgl. GM III 11, KSA 5, S. 361 ff.). Freiheit ohne Organisation leitet also ein ReaktivWerden der Kräfte ein. Das souveräne Individuum konstituiert sich also über eine Dialektik von Ganzheit und Vielheit, von Organisation und Chaos. Wenn also ein aktiver „dominirender Instinkt“ (GM II 2, KSA 5, S. 294) über andere herrschend geworden ist, kann das Individuum versprechen, auf dem Weg zu seinem Ziel nicht von den anderen, untergeordneten Kräften abgelenkt zu werden. Der Wille kann somit dem zustreben, was er kann und was sein Wesen ausmacht. In diesem Prozess der Hierarchisierung von Kräften wird nicht nur ein autonomes, bejahendes Handeln in der Welt möglich, sondern auch ein Individuum konstituiert, welches die Art seines Charakters über die Ordnung seiner Kräfte und Antriebe selbst bestimmt: „(W)olle ein selbst, so wirst du ein selbst“ (MA II 366, KSA 2, S. 524). Erreicht werden soll also eine auf De-Subjektivierungsprozessen aufbauende (Re‐) Konstruktion einer dynamischen, hierarchisch organisierten Identität. Mit dem Begriff des souveränen Individuums ist ein solcher Konstitutionsprozess bezeichnet. Nietzsche unterscheidet, wie gesehen, zwischen der Individualität als einer bloß gedachten und eingebildeten Einheit und einer souveränen Individualität, welche die Idee der Vielheit in sich aufzunehmen versteht: „[D]as Individuum selber ist ein Irrthum (…) Ich unterscheide aber: die eingebildeten Individuen und die wahren ‚Lebenssysteme‘, deren jeder von uns eins ist (…). (…) Schrittweise lernen, das vermeintliche Individuum abzuwerfen! (…) Über ‚mich‘ und ‚dich‘ hinaus! Kosmisch empfinden“ (NL 1881, KSA 9 11[7], S. 443). In dieser Textstelle drückt sich sowohl die Bewegung von der ursprünglicheren Vielheit der Kraftquanta hin zur vorgeblichen Einheit der Individuen aus als auch die Forderung nach der Rück-Führung dieser angeblichen Individuen in die „wahren Lebens-systeme“, in welchen die Willen-zur-Macht-Quanta noch frei und ungebunden zum Ausdruck kommen. Wie besprochen (vgl. Kapitel 2.4 dieser Arbeit), drückt sich in der Forderung, kosmisch zu empfinden, Nietzsches Gedanke des amor fati aus. Im kosmischen
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3 Inhaltliche Vertiefung des Themenkomplexes „souveränes Individuum“
Empfinden lösen sich die Dualismen von ‚Subjekt/Objekt‘ genauso auf wie die zwischen ‚Ich‘ und ‚Du‘. Die Dinge werden nicht mehr isoliert voneinander betrachtet, sondern erfahren durch eine Auflösung im Ganzen eine neue Bedeutung und können auf diese Weise bejaht werden. Schicksalsbejahung und Subjektdekonstruktion stehen also bei Nietzsche in einer nicht aufzulösenden Wechselbeziehung, denn indem die ewige Wiederkehr des Gleichen bejaht wird, wird auch die Notwendigkeit allen Geschehens, also die Tatsache bejaht, dass alle Dinge unauflöslich miteinander verwoben sind. So wird durch die Lehre der ewigen Wiederkunft auch der Bezogenheitscharakter aller ‚Subjekte‘ sichtbar, d. h. es wird deutlich, dass ‚Subjekte‘ nur im wechselseitigen Spiel der dynamischen Willen-zur-Macht-Prozesse entstehen, dass also jede vermeintliche Einheit auf einer vorgängigen, dynamischen Vielheit beruht. Bejaht man also das Ganze, so bejaht man auch notwendig die Vielheit, d. h. jedes einzelne Ereignis in der Welt (vgl. Deleuze 1985, S. 29 f.).¹⁹ Somit verläuft das Programm der Rückführung vermeintlich ganzheitlicher Individualitäten in die vorgängige Ereignis-Vielheit über die Idee der ewigen Wiederkehr. Jenseits erkenntnistheoretischer Überlegungen über die Wiederkunft als kosmologische Doktrin (vgl. Deleuze 1985, S. 53 ff.) hat der Gedanke der ewigen Wiederkehr aus Deleuzes Sicht vor allem einen praktischen Sinn, nämlich die ‚Selektion‘ zwischen bejahenden und verneinenden Willen (Willen zum Leben – Willen zum Nichts), zwischen aktiven und reaktiven Kräften (vgl. Deleuze 1985, S. 60, 76). Der Gedanke der ewigen Wiederkehr hat letztlich den Zweck, das Aktiv-Werden der Kräfte hervorzubringen (vgl. Deleuze 1985, S. 78). Indem der Wille zum Nichts und die mit ihm zusammenhängenden asketischen Ideale (vgl. GM III) mit dem Gedanken der ewigen Wiederkehr konfrontiert werden, werden die reaktiven Kräfte geschwächt, zerfällt ihr Bündnis, welches bisher die Interpretationshoheit über die menschliche Geschichte innehatte (vgl. Deleuze 1985, S. 77, 79; GM III 28, KSA 5, S. 411 f.). Der nihilistische Prozess der Selbstauflösung wäre hierdurch freigesetzt. Denn der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen schließt eine jenseitige oder zumindest anders geartete Welt, auf die der Wille zum Nichts aufbaut und vertraut, aus. Dergestalt kommt nun der weltverneinende Charakter des Willens zum Nichts vollends zum Ausdruck (vgl. Deleuze 1985, S. 77 ff.; Hayden 1998, S. 55). Nur die
Deleuze macht deutlich, dass durch den Gedanken der ewigen Wiederkehr keine neue Metaphysik Einzug ins Denken Nietzsches erhält, dass also mit ihm weder ein substanzielles Subjekt noch eine Welt der festen Identitäten und Objekte behauptet wird: „Die ewige Wiederkunft bezieht sich auf eine Welt von Differenzen, die sich wechselseitig implizieren, auf eine komplizierte, identitätslose, im eigentlichen Sinn chaotische Welt“ (Deleuze 1992, S. 84 ff.). Die ewige Wiederkehr des Gleichen impliziert also nicht die Wiederkehr mit sich selbst identischer Dinge oder Subjekte, sondern die Wiederkunft ist das, was zurückkehrt, das in ihr Wiederkehrende bleibt hingegen das Nicht-Identische, Differente und Werdende (vgl. Deleuze 1985, S. 53, 79; Deleuze 1992, S. 371; Hayden 1998, S. 54).
3.5 Freiheit des Willens als Souveränität über die Affekte
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Bejahung der eigenen Existenz und des gesamten diesseitigen Daseins (amor fati) ist die adäquate und einzig mögliche bejahende Antwort auf den Gedanken, dass alles, so wie es ist, notwendig wiederkehrt. Der selektive Charakter des Gedankens der ewigen Wiederkehr ist also so zu verstehen, dass durch ihn die reaktiven Kräfte geschwächt und ihre Verbindungen untereinander (im Willen zum Nichts und im asketischen Ideal) aufgelöst und die aktiven, bejahenden Kräfte hervorgebracht und gestärkt werden. Indem durch die Bejahung der ewigen Wiederkehr aktiv danach gestrebt wird, die reaktiven Kräfte zu unterbinden, wird auch eine neue Art des Wollens und somit auch eine neue Form der individuellen Existenz etabliert, da diejenigen Anteile der Person gestärkt und kultiviert werden, die zur Bejahung der ewigen Wiederkehr fähig sind (vgl. Deleuze 1985, S. 79; Hayden 1998, S. 55). Nietzsches Rede vom „Schwergewicht“ (FW 341, KSA 3, S. 570), welches die ewige Wiederkehr auf das Handeln legt, wird durch diese Ausführungen konkretisiert, d. h. der philosophische Zusammenhang zwischen der ewigen Wiederkehr (als selektiver Gedanke) und souveräner Individualität (als Aktiv-Werden der Kräfte) wurde klar zum Ausdruck gebracht. Deutlich wird anhand dieser Ausführungen zudem, dass Nietzsche den Gedanken der ‚Züchtung‘ und der ‚Selektion‘ keinesfalls sozialdarwinistisch versteht, da nicht Menschen voneinander selektiert werden sollen, sondern die aktiven oder reaktiven Kräfte in ihnen. Der Gedanke der ewigen Wiederkehr ist somit das Prinzip souveräner Individualität, d. h. es ist der Gedanke, welcher das Gegenideal zum lebensverneinenden asketischen Ideal darstellt und die aktiven von den reaktiven Kräften selektiert. Im folgenden Abschnitt wird untersucht, nach welchen Prinzipien eine solche Selektion und Hierarchisierung der Kräfte stattfindet.
3.5 Freiheit des Willens als Souveränität über die Affekte In JGB 12 spricht Nietzsche von der „Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte“, was suggeriert, dass es sich bei dem, was von der Tradition ‚Subjekt‘ genannt wird, in Wirklichkeit um eine hierarchisch zusammengestellte Vielheit der Triebe und Affekte handelt. Die Art und Weise, wie unser ‚Ich‘ strukturiert ist, hängt davon ab „in welcher Rangordnung die innersten Triebe (…) zu einander gestellt sind“ (JGB 6, KSA 5, S. 20), bzw. das, was wir ‚Ich‘ nennen, ist letztlich Produkt der Beziehung dieser Triebe zueinander (vgl. Janaway 2009, S. 55). Laut Nietzsche haben unsere Triebe immer eine Richtung von etwas weg und zu etwas hin. Sie sind daher nicht zu trennen von dem Gefühl der Lust oder der Unlust einer Sache gegenüber, d. h. dem Streben, etwas Unangenehmes zu vermeiden oder etwas Vorteilhaftes zu erreichen (vgl. MA I 32, KSA 2, S. 51 f.; Janaway 2009 S. 55). Der Willensakt ist nicht zu trennen von diesem Spiel des ‚Von-etwas-hin-zu-etwas Weg‘, von diesem ‚Für und Wider der Affekte‘ (vgl. JGB 19, KSA 5, S. 32 f.). Lust und Unlust
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wiederum werden von Nietzsche an die Zu- oder Abnahme von Macht gekoppelt (vgl. NL 1888, KSA 13, 14[101], S. 278 f.). Lust ist demnach der Begleitzustand, der sich bei einem Zuwachs von Macht einstellt bzw. der sich einstellt, wenn Widerstände, in Form von anderen Affekten, überwunden werden (vgl. Abel 1998, S. 96 ff.).²⁰ Die erhoffte Lust bzw. die befürchtete Unlust sind demnach die Hauptkriterien jeglichen menschlichen Handelns: „‚Freiheit des Willens‘ – das ist das Wort für jenen vielfachen Lust-Zustand des Wollenden, der befiehlt und sich zugleich mit dem Ausführenden als Eins setzt“ (JGB 19, KSA 5, S. 33). Nicht nur unser Handeln und Wollen, sondern auch die Art und Weise, wie sich unser ‚Ich‘ zusammensetzt, geht demzufolge auf dieses basale ‚Für und Wider‘ unserer Affekte zurück. Es lässt sich daraus folgern, dass Subjektivität auf pragmatische Weise konstituiert wird. In leichter Abwandlung des Nietzsche-Zitats hieße dies: Das ‚Ich‘ – das ist das Wort für jenen Lustzustand, welcher sich einstellt, wenn wir uns mit dem Ausführenden in eins setzen (vgl. JGB 6, KSA 5, 19 f.). Somit ist nun die Erklärung dafür gefunden, warum wir für Nietzsche auf so nachhaltige Weise individuell und einzig sind (vgl. FW 354, KSA 3, S. 592 f.). Wir bilden unser ‚Ich‘ aufgrund der Stellung unserer Triebe zueinander sowie der damit einhergehenden positiven oder negativen Gefühle. Diese Rang- und Reihenfolge baut auf so vielen Trieben auf, und das Streben dieser Triebe hat so viele Motive und Ursachen und geht in so viele Richtungen, dass es unmöglich wäre, so etwas wie ein festes, identisches, allgemeingültiges ‚Ich‘ zu postulieren (vgl. MA, I, 32, KSA 2, S. 51 f.; Abel 1998, S. 96 ff.). Jede Person, also jede Anhäufung und Zentrierung von Kraft, ist daher auf unhintergehbare Weise individuell. Diese Überlegungen lassen sich auch auf den nietzscheanischen Freiheitsbegriff übertragen. Für Nietzsche bemisst sich die Freiheit an der Größe der Widerstände, die es zu überwinden galt. Die Widerstände, d. h. die zu überwindenden Triebe, sind bei jedem Menschen verschieden, beruht doch das ‚Ich‘ auf der individuellen „Rangordnung der innersten Triebe seiner Natur zu einander“ (JGB 6, KSA 5, S. 20). Das, was es zu überwinden gilt, ist daher nicht zu verallgemeinern, ist von Person zu Person und sogar von Fall zu Fall verschieden. Somit ist auch der Begriff der Willensstärke nicht mehr verallgemeinerbar und die Willensstärke einer Person nicht mit der einer anderen Person vergleichbar oder an ihr messbar. Die Stärksten sind also für Nietzsche nicht diejenigen, die anderen Kraft ihrer Macht Gewalt antun: „Welche werden sich als die Stärksten (…) erweisen? Die Mäßigsten, die, welche keine extremen Glaubenssätze nöthig haben“ (NL 1886 – 1887, KSA 12, 5[71] 15, S. 217). Stärke bedeutet also gerade, den anderen nicht seine Glaubenssätze aufzuzwingen, d. h. nicht der Illusion zu verfallen, man könnte den Begriff der Willensstärke, oder den des Willens oder gar den des Individuums verallgemeinern und auf andere An dieser Stelle lässt sich erneut die deleuzesche Unterscheidung von Wille und Kraft anbringen: „Die Kraft kann, während der Wille zur Macht will“ (Deleuze 1985, S. 57). Die Potenz, die in der Kraft liegt, bekommt durch den Willen seine Richtung, die darin besteht, über andere Kräfte siegreich sein zu wollen.
3.5 Freiheit des Willens als Souveränität über die Affekte
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übertragen. Es ist demnach ein Gegensatz von Macht und Herrschaft im Denken Nietzsches festzustellen, insofern Macht in erster Linie Macht über sich selber und nicht Herrschaft über andere bedeutet, und die Stärksten wiederum diejenigen sind, „die ihrer Macht sicher sind“ (NL 1886 – 1887, KSA 12, 5[71] 15, S. 217). Freiheit ist bei Nietzsche zudem kein über-personeller Begriff, sondern ist unhintergehbar an das Individuum gekoppelt. Freiheit wird demnach rückbezogen auf das Individuum und auf das, was es voraussetzt, nämlich die Lehre der Triebe und Affekte.²¹ Nietzsches Lehre der Affekte hat auch Einfluss auf seine Erkenntnistheorie: Auf der Grundlage leiblich-wertender Zustände interpretieren die Affekte die Welt: „Wer legt aus? – Unsere Affekte.“ (NL 1885 – 1886, KSA 12, 2[190], S. 161; vgl. Janaway 2009, S. 56). Nietzsche nennt diesen Prozess „Werthschätzen“ (NL 1885 – 1886, KSA 12, 2[190], S. 161). Jegliches Erkennen baut demzufolge auf Auslegung auf, niemals auf einem Fest-Stellen vermeintlicher Tatsachen: „Unsre Bedürfnisse sind es, die die Welt ausgelegen: unsere Triebe und deren Für und Wider“ (NL 1886 – 1887, KSA 12, 7[60], S. 315). Es gibt demzufolge kein interpretierendes Subjekt hinter der Interpretation, vielmehr unterliegt auch die Auslegung unseres Selbst als handelndes und einheitliches Wesen dem Wertschätzen der Affekte-Vielheit: „‚Es ist alles subjektiv‘ sagt ihr: aber schon das ist Auslegung, das ‚Subjekt‘ ist nichts Gegebenes, sondern Hinzu-Erdichtetes“ (NL 1886 – 1887, KSA 12, 7[60], S. 315). Auch in diesem Sinne ist das Subjekt ein „Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte“ (JGB 12, KSA 5, S. 27): Denn nicht nur besteht die vermeintlich autonome Person in Wirklichkeit aus affektbesetzten Einzelteilen, sondern diese Teile sind es auch, die das Subjekt interpretieren. Es muss also von einem Ineinander von Interpretation und leiblich-affektiver Existenz gesprochen werden: „Man darf nicht fragen: ‚wer interpretiert denn?‘ sondern das Interpretiren selbst, als eine Form des Willens zur Macht, hat Dasein (aber nicht als ‚Sein‘, sondern als ein Prozeß, ein Werden) als ein Affekt“ (NL 1885 – 1886, KSA 12, 2[151], S. 140). Das deleuzesche-nietzscheanische Programm der Rück-Übersetzung des Menschen in die prä-individuellen Singularitäten und der Freisetzung der ursprünglichen Energie (vgl. Kapitel 3.4 dieser Arbeit) führt über die Triebe und Affekte. Dementsprechend werden Affekte negativ oder wenden sich gegen sich selbst, wenn die Kraft, welche in einem Trieb steckt, nicht an ihr Ziel gelangt, bzw. nicht bis zum Ende dessen geht, was sie vermag. Erinnern wir uns an den neunten Aphorismus der Mörgenröthe: Nietzsche hat dort den freien Menschen dem der Sittlichkeit der Sitte gehorchenden Menschen gegen Die Begriffe Trieb und Affekt tauchen bei Nietzsche zum Teil synonym auf. Legt man wert auf eine terminologische Unterscheidung, so kann man mit Janaway sagen, dass die Affekte das positive oder negative Gefühl sind, welches sich einstellt, wenn ein nach Lust und Unlust strukturierter Trieb sich durchsetzt oder nicht (vgl. Janaway 2009, S. 55). Eine solche Differenzierung ist jedoch für den hier bearbeiteten Zusammenhang nicht von übergeordneter Bedeutung.
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3 Inhaltliche Vertiefung des Themenkomplexes „souveränes Individuum“
übergestellt. Während der sittliche Mensch den moralischen Geboten nur aufgrund seines Glaubens in die Autorität der Tradition gehorcht, folgt der freie Mensch den Geboten aus eigenen, individuellen Motiven heraus, wie etwa dem des Nutzens. Die (moralischen) Handlungen werden also wieder auf ihr eigentliches Herkommen zurück-überführt: nämlich dem ‚Für und Wider‘ der Affekte und die auf ihnen aufbauenden (moralischen) Wertschätzungen. Hierin liegt auch der Grund, warum Nietzsche immer wieder die herrschende Moral angreift: sie entfernt und entfremdet den Menschen von seinem wahren Herkommen, nämlich den (notwendig individuellen) multiplen Trieben und Bedürfnissen in uns, welche uns erst dazu bringen, uns in eine bestimmte Richtung zu bewegen. Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang davon, dass wir über die Gründe für unser moralisches Handeln „umzufühlen“ (M 103, KSA 3, S. 92) hätten. Die Schnittstelle besteht demnach für ihn nicht im Handeln selber, sondern in den Motiven zum Handeln. Denn die Idee der freien Handlung wird dekonstruiert, indem deren Voraussetzung, nämlich das Konzept des autonom handelnden Subjekts dekonstruiert wird (vgl. JGB 19, KSA 5, S. 31 ff.). Für Nietzsche ist darüber hinaus der Willensakt nur das Endprodukt einer Kraft, die ihrer Auflösung entgegenstrebt: Wille? Das eigentliche Geschehen alles Fühlens und Erkennens ist eine Explosion von Kraft: unter gewissen Bedingungen (äußerste Intensität, so daß ein Lustgefühl von Kraft und Freiheit dabei entsteht) nennen wir dieses Geschehn ‚Wollen‘ (NL 1884, KSA 11, 25[185], S. 64; vgl. Abel 1998, S. 99 f.).
Der Begriff des einheitlichen Subjekts wird hier aufgelöst zugunsten des deleuzeschen Konzepts der (aktiven) Kräfte, die bis ans Ende gehen. Nur in der Interpretation unseres selbst als einheitliches Wesen erscheinen wir als autonomes und rationales Subjekt. Unser Handeln ist also deshalb notwendig, weil es durch unsere Triebe determiniert ist. Unsere Triebe stellen zunächst nur eine Kraft dar, welche zur Ausführung kommen möchte, die also gerade nicht durch ein vorgängiges, rationales Subjekt ihre Richtung erhält, sondern vielmehr in einem viel basaleren Sinne danach strebt, über andere Willen-zur-Macht-Quanta zu herrschen. Um zu einem autonomen Handeln fähig zu sein, muss man Nietzsche zufolge demnach früher ansetzen, nämlich bei unseren Trieben und Affekten, die sowohl unserem Handeln (vgl. NL 1884, KSA 11, 25[185], S. 64) als auch der Interpretation unseres selbst (vgl. JGB 6, KSA 5, S. 20) vorangehen. Die Existenz und Richtung der Triebe ist hierbei notwendig und irreversibel, ihre Reihenfolge ist es nicht. In GM III 12 spricht Nietzsche von einem „Vermögen, sein Für und Wider in der Gewalt zu haben und aus- und einzuhängen“, um sich „gerade die Verschiedenheit der Perspektiven und der Affekt-Interpretationen (…) nutzbar zu machen“ (GM III 12, KSA 5, S. 364). Sein ‚Für und Wider‘ in der Gewalt zu haben, bedeutet also, vor dem Hintergrund des oben Gesagten, sowohl auf die Lust- und Unlustgefühle, also dem Streben von etwas weg und zu etwas hin (vgl. MA I 32, KSA 2, S. 51 f.; JGB 19, KSA 5,
3.5 Freiheit des Willens als Souveränität über die Affekte
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S. 32), als auch auf die Interpretation unserer selbst (vgl. NL 1885 – 1886, KSA 12, 2 [190], S. 161; NL 1886 – 1887, KSA 12, 7[60], S. 315) und die Struktur unserer Persönlichkeit (vgl. JGB 6, 12, KSA 5, S. 20, 27) Einfluss zu haben (vgl. Janaway 2009, S. 55 f.). Souveräne Individualität meint demzufolge, seine Triebe zu lenken und somit seine Affekte in der Gewalt zu haben, bzw. das souveräne Individuum konstituiert sich über den Prozess dieser Einflussnahme. Einfluss auf seine Affekte zu haben, bedeutet, möglichst viele Affekte in sich sprechen zu lassen und sie „aus- und einzuhängen“ (GM III 12, KSA 5, S. 364), d. h.: Die Triebe und Gefühle selbst können in ihrer Grundstruktur nicht verändert werden, jedoch kann bestimmt werden, in welcher Rang- und Reihenfolge sie auftreten. Man kann demnach das Wohin des Wollens bestimmen, indem man sein ‚Für und Wider‘ beeinflusst, hat aber auf die Ausführung der Handlung selbst, d. h. auf die Explosion von Kraft, keinen Zugriff. Wenn Nietzsche also im Zusammenhang mit dem souveränen Individuum vom „Fort- und Fortwollen des ein Mal Gewollten“ (GM II 1, KSA 5, S. 292) spricht, „so dass zwischen das ursprüngliche ‚ich will‘ ‚ich werde tun‘ und die eigentliche Entladung des Willens, seinen Akt“ auch andere Willensakte „dazwischengelegt werden“ können „ohne dass diese lange Kette des Willens springt“, so hat er hiermit nicht die Rückkehr zu einem autonomen und in sich geschlossenen Subjekt im Sinn. Vielmehr meint er hiermit jenes ‚Aus- und Einhängen‘ der Affekte. Insofern nämlich die Affekte zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder ‚eingehangen‘ werden können, ist es auch möglich, andere Willensakte zwischen den Akt und die „Entladung“ (GM II 1, KSA 5, S. 292) zu legen. Mit der Rede vom Versprechen-Können ist also gerade dieses wechselseitige Spiel der Affekte gemeint. Der Begriff der Entladung zeigt, dass Nietzsche mit dem Willensakt jene „Explosion (NL 1884, KSA 11, 25[185], S. 64) im Blick hat, die notwendige Folge einer Anhäufung von Kraft ist. Die Kontrolle seiner Triebe und Affekte bildet also die Voraussetzung des ‚Versprechen-Könnens‘ des souveränen Individuums. Autonom ist das souveräne Individuum also deshalb, weil es nun die Rangfolge dieser Triebe, dessen Produkt es ist, selbst bestimmt, d. h. souverän über seine Konstitution mitentscheidet: „Dies zeigt auch, wie sehr bei Nietzsche Freiheit, höchstes Mächtigsein und vollständiges Individuiertsein zusammengedacht werden“ (Abel 1998, S, 100). Wie genau vollzieht sich nun eine solche freie Selbstkonstitution? Vor dem Hintergrund des Kapitels über Gilles Deleuze (vgl. Kapitel 3.4 dieser Arbeit) lässt sich bereits eine vorläufige Antwort skizzieren: Erkenntnistheoretisch wird die autonome Selbstkonstitution über eine RückÜbersetzung des ‚atomaren Individuums‘ in die prä-indivduellen Singularitäten vorbereitet. Hierdurch wird der ursprünglichere Zustand des „zu Etwas oder von Etwas weg“ (MA I 32, KSA 2, S. 52) wieder freigelegt. Der Einschnitt vom fremdbestimmten zum selbstbestimmten Individuum verläuft also über die Konzepte der Einheit und der Vielheit. Die Vielheit der Affekte, Triebe und Antriebe ersetzt hierbei den einheitlichen Willensakt und die Idee des mit sich identischen Subjekts.
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3 Inhaltliche Vertiefung des Themenkomplexes „souveränes Individuum“
Erst durch das Wieder-Erkennen der ursprünglicheren Vielheit der Affekte in uns kann auch Einfluss auf diese und somit indirekt auch auf unser Handeln genommen werden. In der Moral des Gehorchens hingegen wird ein Handeln nur vollzogen, indem es von der Autorität übernommen wird. In die eigentlichen Ursachen unserer Handlungen hat ein solches unfreies, weil abhängiges, Denken und Handeln keinen Einblick: „Meine Behauptung: daß man die moralischen Werthschätzungen selbst einer Kritik unterziehn muß. Daß man dem moralischen Gefühls-Impuls mit der Frage: warum? Halt gebieten muß“ (NL 1885 – 1886, KSA 12, 2[191], S. 161). Praktisch hingegen wird das freie Individuum über die an der griechischen Selbstsorge orientierten Techniken der Diät und der Askese konstituiert: Denn wenn man seine Handlungen als Akt nicht verändern kann und Autonomie nur über eine Veränderung der Rangfolge der Triebe und Affekte umgesetzt werden kann, so kann es für Nietzsche nur darum gehen, seine Bedürfnisse zu verändern, um Einfluss auf die nach Lust und Unlust strukturierten Triebe und somit auf unser Handeln zu erlangen: „Die Entstehung vieler freier Individuen bei den Griechen: Ehe nicht der Wollust wegen. Übung und Ausbildung der Kunst des coi[tus] (…). Die einfache Lebensweise“ (NL 1881, KSA 9, 11[97], S. 476). Die Einübung in die Askese dient also der Einflussnahme auf die Triebe und Affekte und so der Bildung des Individuums. Somit führt z. B. die Einübung der Selbstbeherrschung im Koitus dazu, weniger Bedürfnisse in diese Richtung entstehen zu lassen und somit den Geschlechtstrieb in eine Hierarchisierung der Triebe und Kräfte ein- und unterzuordnen. So spricht Nietzsche im Zusammenhang seiner Analyse asketischer Ideale von der Keuschheit, welche der (eigentliche) Philosoph nötig hat, um sein Werk zu vollenden. Der Geschlechtstrieb wird in der Hierarchisierung der Triebe dem „dominirende[n] Instinkt“ (GM III 8, KSA 5, S. 355) untergeordnet²²: „[D]ie grössere Kraft verbraucht dann die kleinere“ (GM III 8, KSA 5, S. 355). Der Geschlechtstrieb wird dergestalt sublimiert, um den kreativen Akt der Erschaffung eines Werkes zu ermöglichen und zu unterstützen: „[D]ass somit die Sinnlichkeit beim Eintritt des ästhetischen Zustands nicht aufgehoben ist, (…), sondern sich nur transfigurirt und nicht als Geschlechtsreiz mehr in’s Bewusstsein tritt“ (GM III 8, KSA 5, S. 356; vgl. Gemes 2007, S. 13).
Dass Nietzsche auch hier vom „dominirenden Instinkt“ spricht, zeigt, dass er, spricht er in dieser Textstelle von den asketischen, eigentlichen Philosophen, auch das souveräne Individuum im Blick hat, in dessen Beschreibung er ebenfalls von einem „dominirenden Instinkt“ (GM II 2, KSA 5, S. 294) spricht. Dieser wird im Zusammenhang mit dem souveränen Individuum als „Bewusstsein“ der „Macht über sich“, zuletzt als „sein Gewissen“ (GM II 2, KSA 5, S. 294) bezeichnet. Das Gewissen, also die Instanz für (moralisches) Handeln, ist bei Nietzsche demnach übersetzt in den Instinkt, der dauerhaft, aber in letzter Instanz immer vorübergehend, zur Herrschaft gelangt ist. In Kapitel 4.5 der vorliegenden Arbeit wird genauer auf den Zusammenhang und den Gegensatz zwischen Gewissen, schlechtem Gewissen und intellektuellem Gewissen bei Nietzsche eingegangen (vgl. u. a. GM II 3 – 18, KSA 5, S. 294– 325), indem er mit den Vorstellungen des späten Foucault zum Themen Souveränität, Subjektivität und moralische Selbstkonstitution zusammengeführt wird (vgl. SW II, S. 39 ff.).
3.5 Freiheit des Willens als Souveränität über die Affekte
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Die Hierarchisierung der Triebe verfährt also nach dem Prinzip, einen dominierenden Instinkt zur Herrschaft kommen zu lassen, welcher die relative und vorübergehende Einheit der Person garantiert und somit die Affekt-Vielheit zu einem „höheren Zweck“ (MA I Vorrede 6, KSA 2, S. 20) zusammenführt (vgl. Janaway 2009, S. 58). Durch Askese kann es gelingen, die eigenen Bedürfnisse aus- und einzuhängen. Hierdurch können bestimmte Triebe und Affekte innerhalb einer Person privilegiert oder vernachlässigt werden.²³ Auf diese Art wird demzufolge auch möglich, die Affekte in eine Reihenfolge zu bringen, und der ‚nobelste Instinkt‘ kann zur Herrschaft geführt werden. An diesen Punkt knüpft auch die Frage an, welches Subjekt Nietzsche genau ansprechen möchte, wenn er fordert: „Du solltest Gewalt über dein Für und Wider bekommen“ (MA I Vorrede 6, KSA 2, S. 20). Ist hiermit nicht auch zumindest prinzipiell ein einheitliches und bewusstes Subjekt gemeint? Braucht es nicht bereits ein bewusstes Ich, damit man sich von seinen Trieben distanzieren und differenzieren kann, damit also die Arbeit an der souveränen Individualität überhaupt erst beginnen kann? Und ist ein solches Distanzieren und Differenzieren nicht nötig, um Gewalt über seine Affekte zu erlangen? Nietzsche sagt: „Seine Affekte, sein Für und Wider willkürlich haben und nicht haben, sich auf sie herablassen, für Stunden; sich auf sie setzen wie auf Pferde, oft wie auf Esel: – man muss nämlich ihre Dummheit so gut wie ihr Feuer zu nützen wissen“ (JGB 284, KSA 5, S. 231). Es geht zwar nicht darum, seine Triebe und Affekte zu unterdrücken, zu verändern oder zu kontrollieren, aber doch darum, im übertragenen Sinne gesprochen, auf ihnen zu reiten, d. h. sich ihre Kraft und Ungebundenheit nutzbar zu machen, ohne ihnen dabei zu verfallen. Man ist also in der Lage, seine Affekte auch „nicht [z]u haben“ (JGB 284, KSA 5, S. 231). Verweilt man in der Metaphorik des Reitens, welche von Nietzsche selber vorgeschlagen wird, so geht es zwar nicht um Kontrolle, aber doch bis zu einem gewissen Grade um eine Bändigung des Affekts. Denn um auf einem Pferd reiten zu können, muss dieses zumindest vorübergehend stillhalten. Man muss demnach dazu fähig sein, seinen Affekt zumindest soweit zu disziplinieren, dass er nützen und „eingespannt“ werden kann.²⁴
Diese Art der Askese ist jedoch deutlich von den lebensverneinenden asketischen Idealen zu unterscheiden (vgl. GM III 8, 24– 27, KSA 5, S. 351– 411). Die Metapher vom ‚Einspannen‘ oder ‚Zügeln‘ der Affekte verweist wiederum auf das bereits erwähnte Zitat Nietzsches, in dem vom „synthetische[n] Mensch[en]“, die Rede ist, in welchem „die verschiedenen Kräfte zu Einem Ziele unbedenklich ins Joch gespannt sind“ (NL 1887, KSA 12, 9[119] (78), S. 404). Auch hier kommt das Bild vom Einspannen der eigenen Kräfte zugunsten eines höheren Zustands zum Tragen. Im selben Nachlassfragment spricht Nietzsche vom Irrtum Schopenhauers, welcher für Nietzsche darin besteht, das „Loskommen vom Affekt“ zu predigen. Nietzsche hingegen möchte gerade das „Recht auf den großen Affekt“ durchsetzen, welcher über andere, kleinere Affekte herrscht.
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3 Inhaltliche Vertiefung des Themenkomplexes „souveränes Individuum“
Jedoch stellt sich in diesem Zusammenhang wieder die Frage danach, wer denn dieses Beherrschen und Disziplinieren der Affekte vollziehen soll und wie diese Disziplinierung genau vollzogen wird. Die Frage des wie wird in Kapitel 4 der vorliegenden Arbeit genauer erläutert, in welchem über die Untersuchung des Ecce homo die praktisch-alltägliche Konstitution des souveränen Individuums dargestellt und analysiert wird. Die Techniken der asketischen Selbstsorge ermöglichen eine Einflussnahme auf die Struktur der eigenen Bedürfnisse, was wiederum den Einstiegspunkt für die Kontrolle über das ‚Für und Wider‘ bietet, durch welche eine selbstbestimmte Individualisierung möglich wird. Auf diesem Weg kann auch erhellt werden, wer das Subjekt dieser freien Selbstgestaltung ist, ob die souveräne Selbstkonstitution also von einem schon ‚fertigen‘ Subjekt ausgeführt wird, oder ob sie durch de-personale Kräfteprozesse und Gewichtsverschiebungen vonstattengeht. Nach den bisherigen Untersuchungen wird souveräne Individualität als das Vermögen bestimmt, schaffend-kreativ die Vergangenheit umzudeuten und zu bejahen, also zum amor fati fähig zu sein. Voraussetzung zu einem solchen souveränen Umgang mit seinem Schicksal ist die Fähigkeit, sein ‚Für und Wider‘ in der Gewalt zu haben, also eine Kontrolle über die eigenen Affekte auszuüben. Diese Kontrolle stellt sich als eine Hierarchisierung der Affekte dar, welche im Rückgriff auf Deleuze als Vermögen bestimmt wurde, die Vielheit der aktiven Kräfte zu einem höherstufigen Ganzen zu synthetisieren.
4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault Um das Prinzip der Selbstsorge im Schaffen Nietzsches ausfindig zu machen und sie mit Foucaults Analyse antiker Selbstsorgepraktiken in Zusammenhang zu bringen, ist es unumgänglich, zunächst Foucaults späte Subjektphilosophie zu erläutern und sie in den Kontext seines Gesamtwerkes zu stellen.
4.1 Foucaults späte Subjektphilosophie Michel Foucault beschäftigt sich in seinen frühen Werken vor allem mit unfreien Arten der Subjektivierung, die über herrschaftliche Diskurse und Praktiken vollzogen werden: der Subjektivierung über Diskurse und Wissensdispositive, der Subjektivierung über disziplinarische Machtintervention sowie der Subjektivierung über das Dispositiv der Sexualität (vgl. OD; MP; ÜS; SW I; Ruoff 2007, S. 196 ff.; Kögler 2004, S. 149; Reckwitz 2008, S. 23 f.). In seinem Spätwerk distanziert sich Foucault von gewissen Interpretationen seiner früheren Werke, indem er sagt: „daß die Präsentation solcher Untersuchungen als Versuch, das Wissen auf die Macht zu reduzieren, um innerhalb von Strukturen, in denen das Subjekt keinen Platz hat, aus dem Wissen die Maske der Macht zu machen, nur eine reine und schlichte Karikatur sein kann“ (MW, S. 23). Er weist also an dieser Stelle Deutungen zurück, welche seine früheren Betrachtungen darauf reduzieren möchten, Subjektivität ausschließlich als Folge und Produkt der Macht zu interpretieren und das Subjekt lediglich als Spielball anonymer und dezentraler Machtverhältnisse darzustellen (vgl. Fink-Eitel 1989, S. 101).¹ Stattdessen schlägt er vor, sein Werk als eine Art Stufenfolge zu deuten. Es geht ihm demnach darum, nacheinander verschiedene Weisen der Subjektkonstitution vorzustellen: Im Gegensatz dazu geht es um die Analyse komplexer Beziehungen zwischen drei unterschiedlichen Elementen (…), deren Beziehungen für einander konstitutiv sind. Diese drei Beziehungen sind: die Gestalten des Wissens, (…) die Beziehungen der Macht, (…) und schließlich die Modi der Konstitution des Subjekts aufgrund der Selbstpraktiken (MW, S. 23 f.; vgl. WA, S. 51).
Foucault unterteilt sein bisheriges Werk also in drei verschiedene Hauptstränge, in denen unterschiedliche Perspektiven durchleuchtet werden, wie sich Individuen als Subjekte konstituieren:
Man könnte diese Ausführungen auch so interpretieren, dass Foucault hier einen macht- und subjektphilosophischen turn gegenüber seinen frühen Werken vollzieht. https://doi.org/10.1515/9783110603316-005
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
Erstens die diskursanalytische Betrachtungsweise, in welcher die Gestalten des Wissens und diejenigen Diskurstypen untersucht werden, die dazu beitragen, das Subjekt als neuzeitliches und rationales Subjekt zu konstituieren (vgl. OD, S. 14, WG, S. 12, AW). Zweitens die machtanalytische Betrachtungsweise, in der das Subjekt darüber hinaus als Produkt von praktischen Disziplinierungstechniken (Individualisierung durch Disziplinierung, Isolierung und Strukturierung) sowie Eingriffen der Bio-Politik vorgestellt wird (vgl. MP, S. 39 f.; ÜS, S. 42; SW I; VG). Und drittens schließlich die Perspektiven der Selbstregulierung und der Selbstpraktiken, in welchen das Individuum sich selbst als handelndes Subjekt seines Moral- und Sexualverhaltens konstituiert (vgl. RS, S. 39 f.; MW, S. 25 f.; HD, S. 16; SW II, S. 40 ff.; Kögler 2004, S. 153 ff.; Schmid 1991, S. 69, Ruoff 2007, S. 141, 187 ff.; Deleuze 1987, S. 131 ff.; Detel 1998, S. 76 ff.; Kolf-van Melis 2003). Diese letzte Art der Subjektivierung analysiert Foucault sowohl anhand der Wahrheitsdiskurse der Bio-Macht sowie des Pastorats als auch affirmativ anhand der griechischen und hellenistischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Selbstsorge und der parrhesia (vgl. MW; RS; SW II; SW III).
4.1.1 Moralische Subjektkonstitution: Griechische Selbstsorge und römische Selbstkultur Den Rückgang auf die griechische und auf die römische Philosophie vollzieht Foucault, um einen historischen Ausgangspunkt für eine Subjektkonstitution zu erlangen, welche nicht von den modernen Arten der Subjektivierung (Pastorat, Wissensdispositive, Disziplinierung, Bio-Macht) beeinflusst ist. Denn die antike Selbstsorge wird laut Foucault durch die christliche Kultur vereinnahmt und transformiert und auf diese Weise ihres tendenziell freiheitlichen Charakters beraubt (vgl. GE, S. 282 ff.; Wolfers 2009, S. 214 ff.; Ruoff 2007, S. 141, 199 f.). Es geht also darum, in einem Rückgriff auf die Antike, diese modernen Formen der Subjektivierung zu unterwandern. Foucault unterscheidet zudem seinen Begriff vom Subjekt deutlich von der cartesianischen Tradition, d. h. die subjektive Erfahrung stellt für ihn nicht mehr eine an Vernunft und Universalität gekoppelte Kategorie dar, sondern ist vielmehr dem Wandel unterworfen und abhängig von der historischen Disposition, in welcher sie auftritt: „Die Bezeichnung ‚freies‘ Subjekt darf allerdings nicht zu der falschen Annahme verleiten, dass hier ein ultimativer Akt der Befreiung stattfinden könnte und in diesem Sinne die ‚wirkliche‘ Natur des Menschen wiederhergestellt würde. Allen Subjektkonzeptionen ist gemeinsam, dass sie lediglich Variablen in der Geschichte darstellen. Es gibt also weder ‚das‘ Subjekt, noch ‚den‘ Menschen“ (Ruoff 2007, S. 200; vgl. Macherey 1991, S. 182 f.; SW II, S. 39 ff.). Moralische Subjektivität konstituiert sich laut Foucault in der klassisch-griechischen Epoche (u. a. bei Platon, Sokrates, Aristoteles, Xenophon) zudem niemals so-
4.1 Foucaults späte Subjektphilosophie
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lipsistisch, sondern immer In-der-Welt und in Auseinandersetzung mit der Welt. Das Individuum stellt sich selbst als moralisches Subjekt her, indem es in Kontakt tritt zu den sozialen Regeln sowie den Werten und Normen einer Gesellschaft: Gewiß enthält jede moralische Handlung ein Verhältnis zu dem Wirklichen, in dem sie sich abspielt, und ein Verhältnis zu dem Code, auf den sie sich bezieht; aber sie impliziert auch ein bestimmtes Verhältnis zu sich; dieses ist nicht einfach ‚Selbstbewußtsein‘, sondern Konstitution seiner selber als ‚Moralsubjekt‘ (SW II, S. 39 f.).
Die hier vorgeführte Form moralischer Subjektivität ist also nicht mit cartesianischer Subjektivität zu verwechseln, es wird also kein wesenhafter Kern angenommen, von dem aus sich ein fertiges Subjekt zur Welt verhält.Vielmehr stellt sich das Individuum als Subjekt seiner moralischen Handlungen erst selber her, indem es sich mit der Welt, die es vorfindet, in Verbindung setzt. Entscheidend ist hierbei für Foucault, zumindest was die griechische Antike betrifft, das Verhältnis zu den moralischen ‚Codes‘. Es geht, will man sich als autonomes Subjekt seines moralischen Handelns verhalten, in erster Linie nicht darum, neue moralische Werte und Normen zu erschaffen, sondern darum, sich in eine bestimmte Stellung zu den bestehenden moralischen Normen zu bringen. Dieses Verhältnis zu den moralischen Codes wiederum ist festgelegt durch das Verhältnis, das man zu sich selbst einnimmt. Moralisches Handeln ist dementsprechend bestimmt durch die Praktiken der Selbstsorge und der hiermit verbunden Asketik. Foucault drückt diese Zusammenhänge folgendermaßen aus: Es gibt keine einzelne moralische Handlung, die sich nicht auf die Einheit einer moralischen Lebensführung bezieht; keine moralische Lebensführung, die nicht die Konstitution als Moralsubjekt erfordert; und keine Konstitution des Moralsubjekts ohne ‚Subjektivierungsweisen‘ und ohne ‚Asketik‘ und ‚Selbstpraktiken‘, die sie stützen (SW II, S. 40).
Für Foucault besteht also ein grundsätzlicher und wechselseitiger Zusammenhang zwischen Subjektivierung und moralischen Phänomenen. Einerseits vollzieht sich die autonome Subjektivierung nur über ein Sich-in-Beziehung-Setzen zu den Werten und Normen der Umwelt. Andererseits kann erst durch die Konstitution meiner selbst als Herr meines sittlich-moralischen Handelns eine wirkliche Verbindung hergestellt werden zwischen meinem moralischen Handeln und den Werten und Normen, auf die ich mich dabei beziehe (vgl. Kögler 2004, S. 154). Nur indem ich mich selbst praktisch und im alltäglichen Leben als Subjekt meiner Handlungen konstituiere, kann der Zusammenhang zwischen den Normen und meinem eigenen Handeln erst begriffen werden. Die Form, die dieses moralische Selbstverhältnis einnimmt, divergiert und ist bestimmt durch den historischen, sozialen und politischen Kontext, in dem es sich vollzieht, und von den gesellschaftlichen Regeln, um die herum sich das Moralsubjekt konstituiert:
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
„Die moralische Handlung ist nicht zu trennen von diesen Formen der Einwirkung auf sich selber, die von einer Moral zu anderen nicht weniger unterschiedlich sind als das System der Werte, Regeln und Verbote“ (SW II, S. 40). Nicht nur konstituiert sich also das Subjekt dynamisch und in einem historischen Rahmen, sondern auch die vorgefundenen Werte und Normen, auf die sich das moralische Subjekt richtet, sind laut Foucault relativ und in einem geschichtlichen Prozess gebildet.² Nicht der konkrete Inhalt der Moral, nicht die konkreten Vorschriften selbst sollen demzufolge thematisiert werden; vielmehr geht es um die Form, in welcher man sich als moralisches Subjekt auf moralische Vorschriften bezieht. Durch diese Methodik gelingt es Foucault, eine Verbindung von antiker und moderner moralischer Selbstsorge herzustellen, ohne dass die beiden Arten der Moral hierbei identisch oder gar ähnlich sein müssten (vgl. RM, S. 138). Die asketischen Selbstpraktiken, auf die sich Foucault affirmativ beruft und welche die Konstitution des Moralsubjekts bestimmen, sind Techniken, in denen das Individuum auf sich selbst einwirkt und auf diese Weise eine Art von Subjektivität erzeugt, die diejenigen Subjektivierungsmodi, welche sich im christlichen Pastorat bildeten und sich in modernen Disziplinar- und Überwachungstechniken fortsetzten, hinter sich läßt (vgl. Reckwitz 2008. S. 38; Macherey 1991, S. 188; Kögler 2004, S. 156 f.; Detel 1998, S. 77; Ruoff 2007, S. 197, 201). Die asketischen Techniken der Selbstsorge entsprechen daher keiner christlichen Weltflucht. Es geht also weniger darum, bestimmte Regeln und Verzichtsleistungen zu etablieren, als vielmehr darum, eine souveräne Herrschaft über sich selbst zu ermöglichen. Thema ist demzufolge keine Subjektivierung durch eine Unterwerfung unter eine pastorale Autorität, sondern die asketische Beherrschung seiner selbst, die im klassisch-griechischen Diskurs in der Figur des ‚Kampfes mit sich selbst‘ vollzogen wird (vgl. Kögler 2004, S. 156 f.; SW II, S. 41 f., 121 f.; SW I, S. 185; HS, S. 591). Die Untersuchung einer solchen Souveränität über sich selbst wird von Foucault vor allem anhand der Analyse antiker Sexualität vollzogen.³
Foucault gibt somit zum einen dem Subjekt seine Geschichtlichkeit zurück und stellt zum anderen sein moralisches Handeln in den Kontext eines deskriptiven Werterelativismus (vgl. SW II, S. 40 f.; Machery 1991, S. 183; zum Thema Werterelativismus vgl. Herskovits 2003, S. 39 f.). An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass sich der Begriff der Souveränität, auf den sich Foucault affirmativ beruft, von dem Begriff der Souveränitätsmacht abzugrenzen ist, welchen Foucault in Überwachen und Strafen und in In Verteidigung der Gesellschaft entwirft (vgl. ÜS, S. 113 ff; VG, 282 ff.). Die positive Bezugnahme auf den antiken und spätantiken Begriff der Souveränität ist tatsächlich im Sinne des Tops der ‚Herrschaft über sich‘ bzw. den des ‚Sich-in-Besitz-Nehmens‘ zu verstehen (vgl. SW II, S. 43; MW, S. 326, 242, 349 ff.). Demgegenüber kritisiert Foucault anhand des Begriffs der Souveränitätsmacht eine verfügende, eine ‚abschöpfende‘ Macht, in welcher der Herrscher seinem Untertan Güter und Produkte, im schlimmsten Fall sogar das Leben entziehen kann (vgl. Lemke, T. 1997, S. 135; Muhle 2013, S. 21 ff.; Kögler 2004, S. 93). Im späteren Auftauchen des Machttyps der Bio-Macht garantiert der Rassismus die Funktion des Tötens innerhalb einer Gesellschaft, welche sich auf Erhaltung und Steigerung des Le-
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Dies hat seinen Grund vor allem in der Intimität und der Privatheit, welche zunächst mit der Sexualität zusammenhängen. Für Foucault gibt das Sexuelle daher das beste Beispiel dafür ab, wie wir uns als Einzelne selbst als Subjekte unseres Handelns konstituieren. Zudem ist die Sexualität für Foucault von hervorgehobenem Interesse, weil es sich hierbei um den Bereich handelt, welcher von der regierenden Macht am schwierigsten einzusehen und zu beeinflussen ist (vgl. RS, S. 262). In Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit I) vollzieht Foucault eine Kritik am Freudomarxismus. Der Fokus wird hierbei auf die Frage gelegt, wie wir uns auf eine unfreie Art subjektivieren, indem wir unsere Sexualität durchleuchten und dechiffrieren, um hierdurch die Wahrheit über uns selbst zu erfahren. Diese Untersuchung widmet sich vor allem dem Thema des Zugriffs der Macht auf die eigentlich privaten sexuellen Gedanken, Phantasien und Handlungen der Individuen und der Subjektivierung, die hiermit zusammenhängt. Unter dem Vorwand der vermeintlichen Befreiung vom sexuellen Tabu werden die geheimen Wünsche des Einzelnen ans Licht gebracht. Dieses Bündel aus Diskursen und Praktiken, die sich um die Sexualität gebildet haben und dazu beitragen, das Individuum auf eine fremdbestimmte und ferngesteuerte Art an seine Identität zu binden, nennt er Sexualdispositiv. Durch diese Regulierung der Sexualität des Einzelnen wird auch eine breitere, biopolitische Regulierung ganzer Bevölkerungsgruppen ermöglicht (vgl. Detel 1998, S. 77; SM, S. 243; HS, S. 315; SW I, S. 185, 188). In den folgenden beiden Schriften zu ‚Sexualität und Wahrheit‘ entscheidet sich Foucault für eine andere Betrachtungsweise der Sexualität. Statt jenem Sexualdispositiv sind in Foucaults Spätwerk nun die griechischen und römischen Sexualvorschriften Gegenstand der Betrachtung. Sexualität wird hier nicht, wie im Christentum, als etwas grundsätzlich Verwerfliches betrachtet, jedoch bedarf der sexuelle Akt einer maßvollen Kontrolle, da er ansonsten dazu neigt, exzessiv zu werden (vgl. Saar 2007, S. 258, vgl. SW II, S. 85 ff.). Foucault widmet sich auch deshalb so ausführlich dem Studium antiker und spätantiker Sexualität, da sich aus seiner Sicht um den Bereich des Sexuellen in der Antike die umfänglichsten moralischen Vorschriften herausgebildet haben und somit die Sexualität als exemplarischer Fall einer Ethik der Selbstkontrolle und der moralischen Selbstkonstitution untersucht werden kann (vgl. Saar 2007, S. 257 f.). Auch das Zusammenspiel von Wahrheit und Subjektivität ist hierbei ein anderes als in der Untersuchung christlicher und moderner Sexualitätsdiskurse (vgl. SW I):
bens verlegt hat (vgl. SW, I, S. 178; VG, S. 300 ff.; Lemke, T. 2007, S. 113). Das souveräne Recht zu töten, innerhalb der Bio-Macht eigentlich abgeschafft, wird somit durch den Rassismus wieder eingeführt. Sowohl diese moderne, als auch die frühere, mittelalterliche Version der Souveränität wird von Foucault durchweg kritisch gesehen und ist deshalb streng von seinem eigenen Begriff von Souveränität zu trennen.
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Wahrheit wird hier nicht mehr bestimmt als das Instrument, mit dessen Hilfe ich mich selbst erkenne und somit an eine bestimmte Form der Identität gebunden werde. Auch ist Wahrheit nun losgelöst von dem Feld der analytischen Philosophie, in welchem es um wahre Erkenntnis der Welt geht, und in der Erkenntnis generell etwas ist, das einem bereits fertigen Subjekt zukommt (vgl. RS, S. 39 f.). Wahrheit wird nun nicht mehr nach epistemischer Plausibilität bewertet, sondern danach, inwiefern ich als Träger ihrer Erkenntnis auch nach ihr lebe. Subjektivität vollzieht sich also erst, indem man die Wahrheit, die man lehrt, auch lebt. Eine Erkenntnis ist demnach nur dann wahr, wenn sich nach ihr leben lässt, wenn sich also eine Ganzheit von Erkenntnis und subjektiver Lebensweise herstellen lässt: In welchem Maße (…) bin ich tatsächlich fähig, als Subjekt der Handlung und als Subjekt der Wahrheit identisch zu sein. Mit anderen Worten: In welchem Maße sind die Wahrheiten, die ich erkannt habe und deren Kenntnis ich mich versichere, (…) in welchem Maße sind diese Wahrheiten tatsächlich Formen des Handelns, Regeln und Grundsätze, die meinem Verhalten an einem Tag, mein ganzes Leben lang zugrunde liegen (HS, S. 589)?
In Sexualität und Wahrheit II untersucht Foucault die Techniken der antiken Sexualkontrolle. Die Kontrolle und Disziplinierung seiner selbst in Hinblick auf das eigene Sexualverhalten hat nicht nur die Etablierung einer Ästhetisierung der eigenen Existenz im Blick, sondern darüber hinaus den weiterführenden Sinn, sich selbst auch zur Kontrolle der anderen, also zur politischen Herrschaft, zu qualifizieren (vgl. Detel 1998, S. 151; SW II, S. 218). Es geht demnach nicht bloß um eine egoistisch-individualistische Konstruktion seiner selbst als autonomes Subjekt, sondern um „die souveräne Realisierung seiner selbst im öffentlichen Leben“ (Kögler 2004, S. 157). Foucault definiert die Ästhetik der Existenz demnach als eine maßhaltende Ethik der Subjektivierung, welche einerseits in der Betrachtung der anderen den „Glanz einer Schönheit“ (SW II, S. 118) bewahren kann, sich aber andererseits in die Ordnung eines höheren Ganzen einfügt (vgl. Kögler 2004, S. 157): Ästhetik der Existenz. Darunter ist eine Lebensweise zu verstehen, deren moralischer Wert nicht auf ihrer Übereinstimmung mit einem Verhaltenscode und auch nicht auf einer Regierungsarbeit beruht, sondern auf gewissen (…) Prinzipien im Gebrauch der Lüste, auf ihrer Aufteilung, Begrenzung und Hierarchisierung. Durch (…) das Verhältnis zum Wahren, von dem es sich bestimmen läßt, fügt sich so ein Leben in die Erhaltung oder die Reproduktion einer ontologischen Ordnung ein (SW II, S. 118).
Die Ästhetik der Existenz ist also eine Form der Subjektivierung, die sich zwar innerhalb der Macht und der Ordnung, die die Individuen begrenzen, vollzieht, die sich jedoch nicht im bloßen Befolgen von Regeln bzw. ethischen Gesetzen erstreckt. Das Subjekt konstituiert sich im Verhältnis zum Wahren, d. h. es unterstellt sein Handeln den Erkenntnissen, welche es über sich gewonnen hat. Dem Einzelnen gelingt es so, sich selbst innerhalb der bestehenden Ordnung in einer autonomen Weise zu konstituieren.
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Es werden daher diejenigen Stränge im Feld der Macht aufgezeigt und genutzt, welche es dem Individuum ermöglichen, sich in einer selbstständigeren Weise als Subjekt zu konstituieren (vgl. Macherey 1991, S. 188). Die Etablierung einer solchen Lebensweise vollzieht sich über asketische Praktiken der sexuellen Selbstkontrolle. Das Individuum wirkt mittels dieser Techniken auf sich ein, um sich als Subjekt seiner moralischen Handlungen zu konstituieren (vgl. SW II, S. 121; SW II, S. 40; Reckwitz 2008, S. 38, Saar 2007, S. 257 f.). Während sich die Konstitution des Subjekts im klassisch-griechischen Diskurs der Selbstsorge (4. und 5. Jahrhundert v.Chr.) noch in einem Sich-in-Beziehung-Setzen zu einem moralischen Code entstand, so geschieht die Selbstkonstitution in der hellenistisch-römischen Epoche (1. und 2. Jahrhundert v.Chr. und 1. bis 3. Jahrhunderte n.Chr.) in Foucaults Lesart in größerer Autonomie von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und den vorgegebenen Normen und Werten (vgl. Kögler 2004, S. 157 ff.; Saar 2007, S. 259 ff.). Das politisch-gesellschaftliche Moment der antiken Kultur der Selbstsorge tritt hierbei zugunsten einer „Intensivierung des Selbstbezugs“ zurück (SW III, S. 57). In dieser Kultur des Selbst, welche Foucault vor allem in Auseinandersetzung mit dem Stoizismus (Seneca, Marc Aurel, Epiktet) herausarbeitet, steht die Vervollkommnung und Gestaltung seiner selbst als souveräne Person im Mittelpunkt (vgl. Saar 2007, S. 259 f.). Trotzdem gerät die Ebene der Allgemeinheit und der Gesellschaft nicht aus dem Blick und die römisch-hellenistische Kultur seiner selbst endet laut Foucault nicht im bloßen Individualismus. Vielmehr verschiebt sich der Ansatzpunkt für den Bezug zur Gesellschaft. Etwas zugespitzt formuliert, handelt es sich hierbei um eine umgekehrte Bewegung: Konstituiert sich der Einzelne bei den Griechen noch, indem er sich zu allgemeinen Werten und Normen in Beziehung setzt, so entsteht der Zusammenhang zur Allgemeinheit bei den Römern erst durch eine stärkere „Autonomisierung des Subjekts“ (Kögler 2004, S. 158). Denn erst durch die Loslösung aus sozialen Normen kann ein wirklich reziproker Austausch zwischen den Individuen hergestellt werden. Foucault spricht davon, dass die hellenistisch-römische Selbstsorge „nicht eine Übung in Einsamkeit“ darstellt, „sondern eine wahrhaft gesellschaftliche Praxis“ (SW III, S. 71). Er konkretisiert diesen Gedanken, indem er ausführt, dass die „Hinwendung auf sich selbst“ (SW III, S. 73) auch in Zusammenhang mit der Hilfe steht, die man den anderen angedeihen lässt und welche im stoischen Selbstsorgediskurs eine Pflicht darstellt. Foucault fährt fort: „Doch kommt es auch vor, daß das Spiel zwischen der Sorge um sich und der Hilfe des anderen eingreift in bereits bestehende Beziehungen, denen es eine neue Tönung und eine größere Wärme verleiht. Die Sorge um sich (…) erscheint somit als eine Intensivierung der gesellschaftlichen Beziehungen“ (SW III, S. 73 f.; vgl. Kögler 2004, S. 158). Foucault hat in der Auseinandersetzung mit der hellenistisch-römischen Selbstsorgepraxis also auch eine Transformation der Gesellschaft im Sinn. Hiermit ist nicht nur eine Stabilisierung, sondern auch einer Verbesserung gesellschaftlicher Beziehungen angesprochen.
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Für ihn tragen die spätantiken Selbstsorgepraktiken dementsprechend einerseits dazu bei, einen weniger hierarchischen Raum zwischen den Individuen zu etablieren, andererseits jedoch ergeben sich auch Probleme für den Diskurs der Selbstsorge, welche aus der verstärkten Selbstständigkeit des Einzelnen hervorgehen: Aufgrund der generell stärkeren Reziprozität sozialer Beziehungen erfährt auch der Punkt der Selbstkontrolle in der römischen Selbstkultur eine Umdeutung. Innerhalb des griechischen Selbstsorgediskurses war die Regierung seiner selbst untrennbar mit der Regierung des Mannes verknüpft, der als Familienoberhaupt über das Hauswesen und die Ehefrau regiert. In der römisch-hellenistischen Epoche wird diese einseitige Überlegenheit bis zu einem gewissen Grad aufgebrochen, da die häuslichen und ehelichen Beziehungen hier eine stärkere Wechselseitigkeit aufweisen. Somit muss der einzelne Mann, als Träger der Selbstsorge, „eine gewisse Aufspaltung zwischen der Macht über sich selber und der Macht über die anderen zulassen“ (SW III, S. 129; vgl. SW II, S. 204. 210, 232; Saar 2007, S. 261).⁴ In diesem Zusammenhang entwickelt der Diskurs über die Selbstbeherrschung, besonders im Stoizismus Senecas und Epiktets, die Figur der Umkehr zu einem selber, die, in der Lesart Foucaults, eine Reaktion auf jene veränderten sozialen Verhältnisse darstellt (vgl. SW III, S. 93). Die Umkehr besteht in einer veränderten Sichtweise auf sich selbst: Es geht darum, sich bei jeder Tätigkeit, die man vollzieht, bewusst zu machen, dass das Ziel jeden Denkens und Handelns letztlich in der Beziehung seiner selbst zu sich liegt (vgl. SW III, S. 89). Es soll also über Praktiken des Verzichts dazu beigetragen werden, die Seele des Einzelnen nicht von Äußerlichkeiten abzulenken und so in größtmöglicher Unabhängigkeit von der äußeren Welt existieren zu lassen (vgl. SW III, S. 81, S. 89). Die Umkehr zu sich (als Form des Selbstbezugs) folgt laut Foucault „noch der Ethik der Selbstbeherrschung“ (SW III, S. 90), jedoch nicht mehr, wie in der griechischen Antike, in der Figur des Sieges über Leidenschaften oder der Herrschaft über sich. Da die anderen Formen der Herrschaft (Haus, Ehe) in ihrer Struktur verändert worden sind, so ist auch die Herrschaft über sich problematisch geworden. Das Subjekt muss sich daher auch „in anderen Praktiken als denen der Herrschaft vergewissern“ (Saar 2007, S. 261). Das Verhältnis zu sich wird daher nicht mehr in den Kategorien der Herrschaft, sondern in denen des Besitzes gedacht: „[M]an ‚gehört sich‘, man ist ‚sein eigen‘“ (SW III, S. 90). Man zieht sich über die Askese also so weit von der Welt und den durch sie hervorgerufenen Bedürfnissen zurück, dass man über sich nun eine durch keine äußeren Begebenheiten begrenzte Macht ausübt. Dies soll zuletzt dazu führen, sich auch vom Streben nach Erfolg und Sorgen der Zukunft abzuwenden, sodass es einem am Ende dieses Prozesses gelingt, sich selbst wie ein Objekt zu genießen, da man „doch allen menschlichen Zufällen entrückt und der Herrschaft des Daran wird zudem deutlich, dass sich Foucault keinesfalls kritiklos auf die antike Sexualethik bezieht, sondern an ihr durchaus patriarchalische Strukturen erkennt und kritisiert. Affirmativ bezieht er sich lediglich auf die Weise der Selbstkonstitution, die sein eigenes Leben als Kunstwerk begreift, das es zu gestalten, d. h. mit Hilfe von Selbstpraktiken zu transformieren gilt (vgl. GE, S. 268 ff.).
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Schicksals entzogen, gesichert vor Mangel, vor Furcht, vor Krankheitsfällen“ (SW III, S. 90) existieren kann. Es geht demnach nicht mehr darum, Teile von sich als Gegner zu begreifen, die es zu bekämpfen gilt (Kontrolle der Leidenschaften), sondern sich komplett von gewissen Bedürfnissen, die durch die Außenwelt erzeugt werden, abzuschotten. Dieser umfassende Rückzug von der äußerlichen Welt hat seine Ursache jedoch in einem verlorengegangenen Bezug zur Welt und ihren Normen. Die Radikalisierung des Selbstbezugs und die hiermit verbundene Loslösung von gesellschaftlichen Codes beruht nicht auf einem ‚Rückzug ins Private‘, sondern resultiert vielmehr aus der Problematik, die vorgefundenen sozialen Beziehungen nicht immer mit der Sorge um sich in Einklang bringen zu können: Individualistischer Rückzug, welcher die Aufwertung des Privatlebens begleitet? Eher muß man wohl an eine Krise des Subjekts oder richtiger der Subjektivierung denken: an eine Schwierigkeit in der Art und Weise, wie das Individuum sich als moralisches Subjekt seiner Verhaltensweisen konstituieren kann, und an Anstrengungen, um in der Wendung auf sich das zu finden, was es ihm erlaubt, sich Regeln zu unterwerfen und seiner Existenz Ziele zu geben (SW III, S. 129).
Das Individuum unterwirft sich also deshalb besonders strengen asketischen Regeln, weil sich die Werte, Normen und Regeln der Gesellschaft nicht mehr mit der Art und Weise vereinbaren lassen, sich selbst als Subjekt zu konstituieren. Die Umkehr zu einem selber ersetzt also das Regelsystem der Gesellschaft, nach deren Modell man sich nicht mehr als Subjekt transformieren und kontrollieren kann. Dem entspricht also notwendig eine Subjektivierung, welche im größeren Abstand zur Gesellschaft verläuft und somit auch stärkere Momente der Opposition in sich birgt.
4.1.2 Askese Askese, wie Foucault sie versteht, „befähigt das Subjekt zur beständigen Veränderung seiner selbst“ (Schmid 1991, S. 263). Die asketischen Techniken des hellenistisch-römischen Selbstsorgediskurses sollen in einer Abkehr von der Welt dazu beitragen, Souveränität über sich selbst zu erlangen. Die Askese der griechischen Philosophie der Selbstbeherrschung fokussiert sich darauf, die aufkommende Leidenschaften nach dem Prinzip der Mäßigung zu besiegen (vgl. SW II, S. 67 ff., 81). Konkrete Beispiele für solche Techniken sind u. a.: ‒ das Erlernen des rechten Schreibens, das Führen von Tagebüchern, die dazu dienen, die Ereignisse eines Tages zu rekonstruieren, in ihrem Wert zu bemessen und die geglückten von den mißlungenen Taten zu unterscheiden (vgl. GE, S. 285 f.; Rieger 1997, S. 63; Kögler 2004, S. 159) ‒ die Meditation über Gelesenes und Vernommenes, die dazu beitragen soll, Lehrsätze und Wahrheiten, die einem bereits bekannt sind, zu überdenken und zu
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vertiefen, was die Funktion hat, sich nicht von Ereignissen der äußeren Welt provozieren zu lassen (vgl. SW III, S. 71) die Gespräche und Briefwechsel mit Freunden und Lehrern, die Ratschläge sowohl dem Empfänger als auch dem Lehrer selbst ins Gedächtnis rufen (vgl. SW III, S. 71) die Zurückhaltung in Speise und Trank bei Vorführung von reich bedeckten Tafeln sowie die Selbstkontrolle der Begierde beim Anblick attraktiver potenzieller Sexualpartner, die beide dazu dienen sollen, die natürlichen von den künstlich hervorgerufenen Begierden zu unterscheiden (vgl. SW II, S. 75 ff.; Kögler 2004, S. 159).⁵
Das Ziel der griechischen und der römischen Askesetechniken liegt für Foucault in der „Herstellung eines erfüllten und unabhängigen Selbstbezug[es]“ (HS, S. 401). Und dieses Ziel wird – so Foucault im Anlehnung an Plutarch und Marc Aurel – erreicht über die Etablierung einer Struktur (paraskeue), welche die Umsetzung der wahren Reden in Handlungsmaximen gewährleistet, also jene Ganzheit von Erkenntnis und persönlicher Lebensweise sichern soll (vgl. HS, S. 589). Wahre Reden sind eingeübte Sätze, die sowohl das Wahre sagen als auch das, was zu tun ist. Sie führen daher auch zu Handlungen. Sind diese Sätze kraft asketischer Techniken (wie z. B. das ständige Wiederholen dieser Sätze) unhintergehbar ins Handlungsmuster des Subjekts eingeschrieben, spricht man von paraskeue (vgl. HS, S. 397, 401). Hiermit ist gerade kein Handeln aus freiem Willen gemeint. Vielmehr spricht Foucault davon, dass jene das Handeln leitenden Sätze (logoi) „dazu führen, daß derjenige, der sie besitzt, wie aus eigenem Antrieb handelt: als ob diese logoi, die allmählich mit seiner Vernunft, seiner Freiheit und seinem Willen verschmelzen, selbst sprächen, für ihn sprächen“ (HS, S. 397). Es geht also nicht um die freie Wahl, welche ein autonomes Subjekt aus sich selbst heraus vollzieht, sondern um das Errichten einer Handlungsstruktur, die aus einer inneren Notwendigkeit und Folgerichtigkeit vollzogen wird, welche sich für den Einzelnen als freie Wahl anfühlt.⁶ Askesis nun wird von Foucault definiert als Gesamtheit der Vorgänge und Techniken, die eine solche paraskeue hervorbringen sollen (vgl. HS, S. 401). Die Sätze, die das Handeln des Individuums leiten, sollen deshalb unmittelbar mit dem Willen des Individuums verschmelzen, weil der logos, um „Steuermann“ (HS, S. 399) im Haushalt des Individuums zu sein, stets „zur Hand sein“ (HS, S. 399) muss. Dies kann am ehesten gewährleistet werden, indem diese logoi soweit automatisiert werden, dass sie nicht mehr vom Willen des Einzelnen zu trennen sind.
Eine detailliertere Untersuchung dieser Techniken der Selbstsorge wird in den Kapiteln 4.2– 4.5 vollzogen werden, in denen es auch darum geht, welche Rolle solche Selbstpraktiken für die Konstitution von Nietzsches souveränem Individuum spielen können. Hier kommen nun unwillkürlich Nietzsches Ausführungen zur Willensfreiheit in den Sinn, in denen er ausführt, dass sich Willensakte lediglich als freie Willensakte von Subjekten anfühlen, sich hinter ihnen jedoch eine anders geartete Struktur verbirgt (vgl.: JGB 19, KSA 5, S. 33).
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Mit jenem „unabhängigen Selbstbezu(g)“ (HS, S. 400), auf den sich Foucault in einem Rückgriff auf antike Texte der Selbstsorge beruft, ist also keine Rückkehr zum Begriff des autonomen Subjekts gemeint. Was für eine Vorstellung von (auf asketischen Praktiken fußender) Subjektivität Foucault stattdessen im Sinn hat, drückt Martin Saar sehr pointiert aus: „Subjektivität ‚erzeugt‘ dieser Komplex aus Haltungen und Handlungen in genau dem Sinn, dass er eine Form von praktischer Reflexivität organisiert, ein auf Dauer und Gewöhnung gestelltes Muster von Denk- und Handlungsweisen“ (Saar 2007. S. 256 f., vgl. Hauskeller 2000, S. 18). Da diese Subjektivität im konstanten Einüben von Lehrsätzen und Handlungen entsteht, ist sie praxiologisch zu nennen (vgl. Saar 2007, S. 257). Was diese Form des praxiologischen Selbstbezugs von früheren Formen der Subjektivierung (Pastorat, Wissensdiskurse, Disziplinierung) unterscheidet, ist die Tatsache, dass er vom Individuum selbst ausgeht und somit eine gewisse Eigentätigkeit mit einschließt (vgl. Saar 2007, S. 257; Paulus 2001, S. 18 f.). In diesem Sinne sagt Foucault: „Folglich kann die askesis definiert werden als die Gesamtheit, die (…) Abfolge der Verfahren, mittels deren das Individuum diese paraskeue ausbilden, endgültig fixieren, periodisch aktivieren und, falls nötig, verstärken kann“ (HS, S. 401). Somit setzt der Freiheitsbegriff, welchen Foucault aus der Spätantike destilliert, nicht bei den Handlungen selber an. Diese sind von der paraskeue vorbestimmt. Autonomie beginnt für Foucault früher, nämlich in der asketischen Kontrolle seiner selbst und den daraus entstehenden Denk- und Handlungsmustern. Wie bei Nietzsche sind auch in Foucaults Philosophie freie Handlungen nur Illusionen, die auf vorgängigen, diese Handlungen determinierenden Diskursen, Kräften und Praktiken beruhen. Jedoch bleibt ein Einfluss auf die eigenen Handlungen möglich, indem durch asketische Techniken bestimmte Denk- und Handlungsweisen, wie Nietzsche sagt „aus- und ein[gehängt]“ (GM III 12, KSA 5, S. 364), oder wie es Foucault formuliert „periodisch aktiviert“ und „verstärkt“ (HS, S. 401) werden können. In einer solchen Vorstellung von Freiheit kann „nicht mehr zwischen der Autonomie des Subjekts oder dessen Determiniertheit polarisiert werden“ (Paulus 2001, S. 19). Der Zugriffspunkt auf die Subjektivierung, das konnte bis hierhin gezeigt werden, liegt für Nietzsche wie für Foucault in der Einflussnahme auf die eigenen Bedürfnisse, die wiederum durch die Einübung bestimmter asketischer Techniken vollzogen wird. Die Art von souveräner Subjektivität, die hierbei erreicht werden soll, hat ein unhintergehbares Verhältnis zur Wahrheit: „Die Seinsweise, der man sich schließlich durch diese Selbstbeherrschung nähert, wurde als eine aktive Freiheit charakterisiert, die auf einem strukturellen (…) Verhältnis zur Wahrheit beruht“ (SW II, S. 121, vgl. HS, S. 389). Ergebnis der bewussten Steuerung der eigenen Bedürfnisstruktur ist also letztlich eine Form der Existenz, in welcher die Lehrsätze, an denen ich mich bilde, auch die Handlungen, welche ich vollziehe, bestimmen. Freiheit, Wahrheit und Subjektivierung liegen also für Foucault dahingehend zusammen, als dass sich über die autonome, asketische Strukturierung meiner Per-
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sönlichkeitsstruktur auch eine Selbstbestimmung im Handeln herstellen lässt, welche sich in einer Übereinstimmung der gewählten Lehrsätze mit dem Verhalten in der Welt ausdrückt.
4.1.3 Der Mut zur Wahrheit – Foucaults Untersuchung der parrhesia Jenem Verhältnis von autonomer Selbstgestaltung und Wahrheit geht Foucault über die Analyse des griechischen Begriffs der parrhesia genauer auf den Grund. Diesen untersucht er anhand einer umfangreichen Interpretation der stoischen und kynischen Philosophie (vor allem in Bezug auf Seneca, Marc Aurel und Epiktet) sowie in Auseinandersetzung mit Sokrates. Der Begriff der parrhesia umfasst bei Foucault ein komplexes Bündel an Praktiken und Begriffen. Er versteht hierunter sowohl die antike Redefreiheit als auch Praktiken der Gewissensleitung sowie Techniken, den anderen zu leiten, um ihm dabei zu helfen, „eine Beziehung zu sich selbst herzustellen“ (RS, S. 65) und so die Wahrheit über sich selbst zu sagen (vgl. MW, S. 20 f.). Die parrhesia reiht sich somit ein in die Praktiken der Selbstsorge, welche für Foucault ebenfalls die Funktion haben, Anleitungen dafür bereit zu stellen, eine Beziehung zu sich zu erreichen, die dazu beiträgt, sich selbst als Subjekt seiner Handlungen zu konstituieren. Foucault weist zudem darauf hin, dass für ihn die parrhesia eine Form, ein Modus der Selbstsorge ist: Die Verpflichtung, die Wahrheit über sich zu sagen, ist für ihn zurückzuführen auf das sokratische Prinzip der Selbsterkenntnis (gnothi seauton), welches wiederum dem Programm der Selbstsorge (epimeleia heautou), des Sich-um-sich-selber-Kümmerns unterliegt (siehe hierzu MW, S. 17). Pointiert lässt sich folgende Reihenfolge innerhalb Foucaults Untersuchung der Idee der Selbstsorge feststellen: erstens die Analyse der Selbstsorge in der klassischgriechischen Antike als Herrschaft über sich selbst und die anderen, zweitens die Analyse der Selbstsorge in der hellenistisch-römischen Kultur im Sinne eines verstärkten Selbstbezugs und eines Rückzugs auf sich, drittens die Analyse der Selbstsorge in ihrer speziellen Form des Wahrsprechens: „Die Sorge um sich wird hier zur Sorge um die Wahrheit“ (Schmid 1991, S. 275). Da die kynische Philosophie nicht mit einem komplexen theoretischen Überbau überfrachtet ist, sondern sich eher in Anekdoten und Lehrsätzen vermittelt, so ist das kynische Verhältnis zur Wahrheit auch nicht von der Lebensweise des Einzelnen zu trennen. Daher eignet sich die kynische parrhesia für Foucault in besonderer Weise, um direkte und unmittelbare Zusammenhänge zwischen Wahrheit und Subjekt, zwischen Philosophie und praktischer Selbstkonstitution darzustellen, in denen auch eine Veränderung der Welt mitgedacht werden kann (vgl. Gros 2010, S. 452; Schmid 1991, S. 275). Foucault unterscheidet zwischen drei historischen Formen des Wahrsprechens: der parrhesia in Form der sokratischen Ironie und des mutigen Wahrsprechens unter Einsatz des eigenen Lebens, der parrhesia in Form des politischen Mutes zur Wahrheit
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und der politischen Beratertätigkeit in der athenischen Demokratie und schließlich die parrhesia des Kynikers als wahr gelebtes Leben im Sinne eines öffentlichen radikalen Lebensstils (vgl. Stiegler 2012, S. 61; Gehring 2012, S. 15). Auf letztere Form des Wahrsprechens konzentriert sich Foucault in besonderer Weise. Begründete sich die Askese in der hellenistisch-römischen Tradition noch darin, einen von Äußerlichkeiten beschützten Rahmen zugunsten eines Sich-selbst-in-Besitz-Nehmens zu errichten, so werden die asketischen Techniken im Kynismus dadurch motiviert, dass „jedes Bedürfnis darauf befragt“ wird, „was wahr an ihm ist“ (Gros 2010, S. 454). Triebe und Bedürfnisse werden also dahingehend bewertet und untersucht, ob sie dazu beitragen, ein wahrhaftiges Verhältnis zu uns selbst zu unterstützen, oder ob sie vielmehr als „Belanglosigkeiten und nutzlos[e] Eitelkeiten erscheinen“ (Gros 2010, S. 454). Foucault drückt dies in Bezug auf das Wahrsprechen bei Epiktet so aus: „Um die Rolle dessen zu spielen, der die Wahrheit sagt und wachrüttelt, muß man frei von jeder Bindung sein“ (MW, S. 225). Foucault betont also die radikale Verbindung von Wahrheit und Lebensart im Kynismus und sieht in der parrhesia den Anstoß, uns selbst rückhaltlos daraufhin zu befragen, ob wir entsprechend unserer Lehrsätze leben. Jedoch belässt es Foucault auch hier nicht bei der Feststellung eines solipsistischen Individualismus, sondern betont vielmehr den notwendigen Zusammenhang zwischen individueller Askese und gesellschaftlicher Veränderung: Das wahre Leben stellt sich (…) als ein anderes Leben dar, das die Forderung nach einer anderen Welt zum Vorschein bringt. Die Askese, durch die der Kyniker sein Leben zur (…) radikalen Entsagung (…) zwingt (…), ist kaum dazu berufen (…), eine innere Ruhe zu garantieren. Der Kyniker zwingt sich zum ‚wahren Leben‘, um die anderen zu provozieren, damit sie verstehen, daß sie sich irren (…), und um (…) die überkommenen Werte zu sprengen (Gros 2010, S. 456).⁷
Gerade im radikalen asketischen Rückzug von der Gesellschaft und ihren Werten entstehen also der gesellschaftliche Bezug und eine mögliche Veränderung der Welt. Der Askese wohnt demnach auch eine politische Subversion inne, zum einen, da sie die anderen zwingt, sich mit den übernommenen und überkommenen Werten auseinanderzusetzen, und zum anderen, indem durch den verzichtenden Selbstbezug auch eine größere persönliche Distanz zu den von außen hervorgerufenen Bedürfnissen und somit auch zu den gesellschaftlichen Institutionen und Herrschaftsweisen aufgebaut werden kann (vgl. Schmid 1991, S. 278). Der kynischen parrhesia kommt also eine deutlich stärkere oppositionelle Haltung zu als noch der athenischen parrhesia. War mit dieser (bei aller potenziellen Freiheit des Subjektes) letztlich immer noch eine bestimmte Form des Regierens und
Hier deutet sich bereits eine Parallele zu Nietzsches Programm der Umwertung der Werte an (vgl. JGB 203, 211, KSA 5, S. 126 f., 145).
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der Leitung der anderen angesprochen, so versucht sich die kynische parrhesia gerade als eine Kritik an der Macht und der Regierungskunst und arbeitet an der Freisetzung autonomer Potenziale in den anderen. Während in der frühantiken Demokratie die parrhesia noch eingebunden ist in ein gouvernementales Regieren, bzw. die gouvernementalité sich erstmals um die parrhesia herum bildet und formt, so wird der kynische Diskurs innerhalb Foucaults Denkens zum Gegenentwurf und möglichen Widerstandsort gegenüber der gouvernementalen Art des Regierens (vgl. Vogelmann 2012, S. 225; RS, S. 208, 222, 249 f., 262, 367, 428). Dementsprechend ist auch im Kynismus potenziell jeder in der Lage, ein wahres, selbstbestimmtes Leben zu führen, während dies in der platonischen Demokratievorstellung letztlich nur ausgewählten Menschen zukommt, die wiederum durch das Wahrsprechen andere ausgesuchte Subjekte dazu anleiten, sich um sich selbst zu kümmern (vgl. Schmid 1991, S. 278; RS, S. 205, 249 ff., S. 382). Bei Platon soll der Philosoph als Berater des Herrschers „einen bestimmten Seinsmodus konstituier(en). Dieser Seinsmodus des philosophischen Subjekts ist es nun, der den Seinsmodus des Subjekts konstituieren soll, das die Macht ausübt“ (RS, S. 371). Der Philosoph, welcher sich über Techniken der asketischen Selbstsorge dazu qualifiziert, mutig und unter Einsatz seines Lebens zum Herrscher zu sprechen, soll also einerseits ein Subjekt erzeugen, welches würdig ist, über andere zu regieren, indem es lernt, sich selbst zu regieren. Andererseits hat diese Form der parrhesia auch die Funkion, ein unterworfenes Subjekt zu konstituieren, welches durch Seelenführung geleitet werden soll: Die parrhesia ist jene wahre Rede, die von jemandem innerhalb des Staates gehalten werden soll, um die Bürger von der Notwendigkeit zu gehorchen zu überzeugen (…), zumindest (…) im individuellen Leben der Bürger und ihrem Seelenleben oder vielmehr im Leben ihres Körpers, d. h. im Leben ihrer Wünsche und Lüste (RS, S. 262).
Insofern stellt diese Art der wahren Rede eine Vorform der Pastoralmacht und der aus ihr entstandenen gouvernementalité dar, unterstützt also eine bestimmte Form des Führens von Individuen, indem diese dazu gebracht werden, sich auf bestimmte Weise als Subjekte zu konstituieren. Im Kynismus hingegen wird der Ansatz der philosophischen Beratung des Königs durch den Grundsatz der Hinterfragung und des Spottes ersetzt. Die „Überkreuzung“ (RS, S. 360) mit der Politik wird abgelöst vom „Modus der Konfrontation“ (RS, S. 360), welchen Foucault u. a. am Beispiel von Diogenes gezielten Respektlosigkeiten gegenüber Alexander erläutert (vgl. RS, S. 360 ff.; RS, S. 259 ff., S. 444). Mit jenem frühantiken Begriff der parrhesia schreibt Foucault also nicht zuletzt eine Genealogie der Gouvernementalität, während er mit dem kynischen Wahrsprechen eine Genealogie der Kritik vorlegt. Mit ersterer Form der parrhesia ist also ein Teil der Regierungstechniken gemeint, während letztere einen oppositionellen Gegenpart zum Regiert-Werden bildet (vgl. Vogelmann 2012, S. 225; MW, S. 51; RS, S. 208). Fou-
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cault beschreibt damit das Wahrsprechen als eine bestimmte Form der sich um sich selbst und auch um andere sorgenden Selbstsorge, kraft derer „das Individuum (…) die Wahrheit über sich selbst sagen und sich als Subjekt konstituieren kann, das die Wahrheit über sich selbst sagt“ (MW, S. 21). Er bricht dabei einen vermeintlichen „parrhesiastischen Solipsismus“ (Waldenfels 2012, S. 75) auf, indem er jenes Zitat (MW, S. 21) bezüglich der gesellschaftlichen Komponente variiert: Für Foucault besteht parrhesia nicht nur darin, die Wahrheit über sich selbst zu sagen, sondern der Parrhesiast hält sich „an die Individuen und Situationen (…), um zu sagen, was sie in Wirklichkeit sind, um den Individuen die Wahrheit über sich selbst zu sagen“ (MW, S. 37). Voraussetzung hierfür wiederum ist, dass das Individuum zuvor gelernt hat, sich um sich selbst zu sorgen, d. h. sich als Subjekt zu konstituieren, das die Wahrheit über sich sagt und gemäß den wahren Sätzen zu leben vermag (vgl. MW, S. 21). Wahrheit wird dabei auch hier nicht epistemologisch verstanden, sondern vielmehr als Kommentar auf die Lebensweise der anderen: „Der Parrhesiast offenbart seinen Gesprächspartnern nicht, was der Fall ist. Er enthüllt ihm oder hilft ihm zu erkennen, was er selbst ist“ (MW, S. 37). Derjenige, der die Wahrheit spricht, fördert damit also auch immer die Selbsterkenntnis seines Gegenübers. Was motiviert Foucault zu einer solch detaillierten Untersuchung griechischer und römischer Selbstsorgepraktiken, die, wie er selbst eingesteht, „etwas schleppend und pedantisch erscheinen mag“ (HS, S. 314)? Die antiken und römischen Selbstpraktiken, die er analysiert, werden vom Christentum über die Moderne bis hin zum gegenwärtigen Machttyp der gouvernementalité transformiert und vereinnahmt. So wird zum Beispiel der Gehorsam im Lehrer-Schüler-Verhältnis im Christentum überbetont und bekommt den Charakter der Überwachung (vgl. Wolfers 2009. S. 215 f.), die Arbeit an sich selber und die Entsagung führen nicht mehr zu einer selbstgewählten Existenz, sondern werden aus Pflichtbewusstsein ausgeführt. Die Askese wird zur Selbstentsagung (vgl. GE, S. 283). Schließlich wird die antike Selbsterkenntnis, welche der Selbstsorge unterstellt ist, transformiert in Wissen des modernen Subjekts über sich selbst, welches den Charakter der Selbstenthüllung und einer Dechiffrierung des eigenen Selbst trägt, also letztlich der Unterwerfung der Subjekte dient (vgl. Ruoff 2007, S. 199; Wolfers 2009, S. 215). In der Disziplinargesellschaft werden die Selbstführungspotenziale der Einzelnen zu einer Führung und (Selbst‐)Überwachung der Individuen genutzt, und in der Biopolitik und der gouvernementalité erfährt die Steuerung der Subjekte schließlich einen gesamtgesellschaftlichen Rahmen (Ruoff 2007, S. 199). Als Grund für die ausschweifenden Analysen der antiken Moral gibt Foucault letztlich die Suche nach dem Ort des politischen Widerstands an: „obwohl es doch eine dringende, grundlegende und politisch unabdingbare Aufgabe wäre, eine Ethik des Selbst zu begründen, wenn es denn wahr ist, daß es keinen anderen, ersten und letzten Punkt des Widerstands gegen die politische Macht gibt als die Beziehung seiner selbst zu sich“ (HS, S. 313).
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Die Beziehung zu sich selbst ist deshalb politisch, weil sich Foucault zufolge die gegenwärtige Machtform des Neoliberalismus in erster Linie auf das Subjekt bezieht und die Form der Subjektivierung hierbei primär über Arbeit und den damit verbundenen diskursiven Forderungen nach ‚Eigenverantwortlichkeit‘ verläuft.⁸ Der Widerstand gegen eine solche Macht hat daher seinen Angriffspunkt in der Sorge um sich selbst sowie in der subjektiven Selbstgestaltung: Subjektivität ist für ihn [Foucault, Anmerkung durch den Verf. – J. H.] stets ein Kampffeld, auf dem der Versuch, man selbst zu werden, ohne auf eine ahistorische Essenz zu rekurrieren, in Konflikt tritt mit den systemischen Anforderungen etwas Besonderes,Verwertbares und Marktförmiges zu sein. Ein derart Eigenes zu werden, ist ein enormer politischer Akt, ja vielleicht ist es der politische Akt überhaupt, da er die Demokratie als politische Assoziation mündiger Menschen konstituiert (Brieler 2008, S. 33).
Um politischen Widerstand leisten zu können, muss man also bis zu einem gewissen Grad gegen sich selber rebellieren, da die Macht, die aus Individuen Subjekte macht, diese Subjekte hierüber auf bestimmte Weise an ihre Identität bindet und gerade diese Identität als selbstgewählt erscheinen lässt (vgl. Saar 2007. S. 278 f.). Das autonome Subjekt bleibt daher notwendig mit der politischen Macht verflochten. Ins Positive gewendet geht es für Foucault also darum, solche Identitäten abzuwerfen und andere Denk- und Verhaltensweisen zu etablieren (WA, S. 49) und somit die Verflechtung des Subjekts mit der Macht so weit wie möglich zu lockern. Die Möglichkeit, anders zu sein, wird von ihm nicht nur als Motiv für die Untersuchung antiker Sexualmoral aufgeführt, sondern auch zum Kern zeitgenössischer Philosophie erklärt: „Aber was ist die Philosophie heute – ich meine die philosophische Aktivität –, wenn nicht kritische Arbeit des Denkens an sich selber? Und wenn sie nicht, statt zu rechtfertigen, was man schon weiß, in der Anstrengung liegt, zu wissen, wie und wie weit es möglich wäre, anders zu denken“ (SW II, S. 15 f.). Gesellschaftliche Veränderung ist somit der Sinn der Philosophie und ihr Wesenskern besteht, ähnlich wie bei der sozialen Kritik, in der Problematisierung von vorgefundenen und scheinbar unverrückbaren Strukturen. Einen Bezugspunkt einer solchen philosophischen Aktivität findet Foucault in einer affirmativen Bezugnahme auf Kants Aufsatz „Was ist Aufklärung“ (vgl. WA; Schäfer 1990, S. 75 f.). Foucault sieht den zentralen Ansatz der Aufklärung in einer „Ontologie der Gegenwart“ (RS, S. 39), also in der Frage nach der Gegenwärtigkeit und der Bedeutung gegenwärtiger Ereignisse. Aufklärung ist für ihn der Prozess, in dem sich die Philosophie auf die Gegenwart bezieht und in dieser Bezugnahme selbst Teil der Gegenwart ist. Philosophie erscheint also selbst in ihrer eigenen diskursiven Gegenwart, die zu untersuchen sie sich zum Ziel gesetzt hat (vgl. RS, S. 28, 31; Schmid 1991, S. 73 f.).
Vgl. hierzu ausführlicher: Kapitel 5.1 und 5.2 dieser Arbeit; vgl. außerdem Rose 1989, S. 102– 118; Rose/Miller 1992; Bröckling 2000, S. 131– 163; Reckwitz 2008, S. 133 f.
4.1 Foucaults späte Subjektphilosophie
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Foucault will uns offensichtlich dazu bringen, mit Bezugnahme auf die Aufklärung, über die kritische Analyse der Gegenwart und der eigenen Gewordenheit hinaus, auch unsere Zukunft mitzubestimmen. Es geht also darum, den gegenwärtigen Moment als Teil eines historischen Prozesses zu begreifen und sich selbst daraufhin zu befragen, inwiefern man Teil dieses Prozesses ist und inwiefern man willens ist, diesen zu verändern: „Und diese Kritik wird (…) in der Kontingenz, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, die Möglichkeit auffinden, nicht länger das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken“ (WA, S. 49). Die „Ontologie der Gegenwart“ ist also identisch mit einer „Ontologie unserer selbst“ (RS, S. 39), denn für Foucault führt die Frage nach der Gegenwart auch zu der Frage nach dem „gegenwärtige[n] Feld möglicher Erlebnisse“ (RS, S. 39), also der Frage nach unserer eigenen Stellung in der Gegenwart und zu der Gegenwart sowie nach den Möglichkeiten, diese umzugestalten. Darüber hinaus verändert die „Ontologie unserer selbst“ auch aktiv uns selbst und die Gesellschaft, in der wir leben. Denn indem sie die Grenzen aufzeigt, die uns im Handeln und Denken qua unserer historischen Subjektiviertheit auferlegt sind, stellt sie auch die Frage nach den Grundlagen dieser Situiertheit, verschiebt also zugleich die Grenzen unseres Denkens und Handelns (vgl. Macherey 1991, S. 191; Schäfer 1990, S. 76; WA, S. 49; Gabriel 2012, S. 37 f.): Sie [die kritische Arbeit – Anmerkung durch den Verf. – J. H.] hat selbsttransformativen Charakter, da sie das, was sie analysiert und kritisiert, im selben Zug reinterpretiert und verändert (…). Die kritische Arbeit an der Geschichte unserer Grenzen und Begrenztheiten ist selber schon aktive Selbstformung und Selbstveränderung (Saar 2007, S. 285).⁹
Foucault stellt den kantschen Aufklärungsgedanken in den Kontext seiner Analyse der parrhesia, genauso, wie er umgekehrt die Parrhesie politisiert und sie in eine gegenwärtige philosophische Aktivität überführen möchte (vgl. RS, S. 53; Gabriel 2012, S. 35 ff.). Markus Gabriel drückt den Zusammenhang von Wahrheit, Subjektwerdung, Aufklärung und Gegenwartsbezug in Foucaults Denken so aus: Die jeweils im Umlauf befindlichen und sich beständig verschiebenden Praktiken der Veridiktion bestimmen, welche Optionen sowohl der Weltdeutung als auch der Einstellung gegenüber Weltdeutungen uns zur Verfügung stehen. In diesem Sinne handelt es sich bei der Untersuchung dieser Praktiken stets um eine Ontologie der Gegenwart, weil die Gegenwart, die historische Gegenwart, darin besteht, wie wir uns auffassen (Gabriel 2012, S. 38).
Hier lässt sich erneut eine Verbindung zu Nietzsche Lehre des amor fati herstellen: Nehamas macht deutlich, dass die Art und Weise, wie ich mich und meine Vergangenheit interpretiere, entscheidend ist auch für meine gegenwärtige Existenz, dass also die Interpretation meines vergangenen Selbst auch mein heutiges Selbst verändert und umgekehrt (vgl. Nehamas 1991, S. 206, 217; vgl. Z II Erlösung, KSA 4, S. 181).
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
Besonders in der Untersuchung der kynischen parrhesia findet Foucault immer wieder Bezugspunkte zur Gegenwart und zur jüngeren Vergangenheit. Er analysiert den Kynismus wiederholt als „moralische Kategorie in der abendländischen Kultur“ (MW, S. 233), möchte ihn also als eine Denkform präsentieren, die weit über den historischen Punkt hinausreicht, in welchem er erschienen ist. Dies ist für ihn die Rechtfertigung dafür, dass er die Zuhörer seiner Vorlesungen „ohne Unterlaß in der antiken Philosophie einsperr[t]“ (MW, S. 230). Neben der Aufklärung ist für Foucault demnach der Kynismus die zweite historische Bewegung, auf die er sich in seiner Subjektphilosophie affirmativ bezieht. Er analysiert also deshalb die antike Subjektphilosophie, weil er hierin eine Denkform findet, die er für fähig hält, auch gegenwärtige Identitäten und Strukturen zu verändern. Für Foucault ist es das zentrale Moment des Kynismus, sich durch asketische Praktiken soweit von der Gesellschaft und ihrem Regelwerk zurückzuziehen, dass das eigene Leben als Zeugnis und als Vorbild für ein wahr gelebtes Leben und zugleich als Provokation gegenüber herrschaftlichen Strukturen erscheint: „Das Leben als unmittelbare, glänzende und wilde Gegenwart der Wahrheit, das kommt im Kynismus zur Manifestation (…). Im und durch sein Leben den Skandal der Wahrheit auszuüben, darin besteht der Kern des Kynismus“ (MW, S. 229). In Bezug auf die Frage nach dem Subjekt, lässt sich diese Aussage folgendermaßen deuten: Foucault sucht unter Berufung auf den Kynismus auch in der Gegenwart danach, „ein Selbstverhältnis zu entwickeln, das den herrschenden Subjektivierungsweisen unmoralisch vorkommen wird“ (Vogelmann 2012, S. 228). Diese „Lebensform im Skandal der Wahrheit“ (MW, S. 241) setzt Foucault nun mit den revolutionären Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts in Verbindung. In diesem Zusammenhang erläutert Foucault genauer, was er unter philosophischer Aktivität oder philosophischem Aktivismus versteht. Er definiert Aktivismus zunächst als „die Art und Weise, wie das Leben als revolutionäre Tätigkeit oder die revolutionäre Tätigkeit als Leben definiert, charakterisiert, organisiert und geregelt wurde“ (MW, S. 242). Aktivismus besteht für ihn zudem darin, einen bestimmten Lebensstil zu kultivieren, in welchem sich die Utopie von einem Leben ausdrücken soll, das ein anderes ist als das jetzige (vgl. MW, S. 373; Vogelmann 2012, S. 224 f.). Dieser Lebensstil wird von Foucault auch „revolutionäre[r] Aktivismus“ genannt, weil er „notwendigerweise einen Bruch mit den Konventionen, Gewohnheiten und Werten der Gesellschaft“ (MW, S. 242) darstellt. Der Aktivismus, der hier angesprochen ist, zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass er durch das Leben bezeugt wird, dass man ihn also mit seinem eigenen Leben beständig bestätigen und untermauern muss.¹⁰ Dieses persönliche Einstehen für ein wahres Leben, das sich in der Kritik der vorgefundenen Werte und in der Vorstellung einer anderen Welt ausdrückt, verdeutlicht Foucault an den konkreten historischen Beispielen des russischen Nihilismus, des amerikanischen Anarchismus und des „linksextremistischen Wahnsinns“ (MW, S. 245) des Terrorismus. Besonders das Beispiel des Terrorismus als
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Dass das im revolutionären Aktivismus geforderte wahre Leben nur ein anderes Leben sein kann, betont Foucault noch einmal im letzten Satz des Manuskripts seiner letzten Vorlesung: „Es gibt keine Einsetzung der Wahrheit ohne eine wesentliche Setzung der Andersheit, die Wahrheit ist nie dasselbe; Wahrheit kann es nur in Form der anderen Welt und des anderen Lebens geben“ (MW, S. 438). Dieses andere Leben wird aber, in Abgrenzung zur Philosophie der Selbstsorge bei Platon, gerade nicht als ein übersinnliches Jenseits beschrieben, sondern als ein „innerweltliche[r] Kampf gegen die Welt“ (MW, S. 438). Dass die zu erstrebende wahre Welt eine andere Welt sein muss, findet seine Begründung darin, dass das vom Kyniker dargestellte wahre Leben dem gewöhnlichen Menschen nur als fremdes Leben erscheinen kann, bricht es doch mit allen Konventionen, Gewohnheiten und überkommenen Werten und überschreitet die Grenzen der normalisierten Subjektwerdung (vgl. Gros 2010, S. 258, S. 459 f.). Im Bestreben danach, „aus sich selbst ein Schauspiel zu machen“ (Gros 2010, S. 458), indem sich im Schauspiel des wahren Lebens des Kynikers eine andere, wahre Welt ankündigt, wird auch eine vermeintliche solipsistische Selbstbezüglichkeit der Selbstsorge aufgelöst – wird hierdurch doch das vorgeführte Leben des Kynikers auch für die Lebensvollzüge der anderen beispielhaft: „Gerade dadurch wird die Sorge um sich zur Sorge um die Welt“ (Gros 2010, S. 458). Der Begriff des Schauspiels ist in diesem Zusammenhang nicht zufällig gewählt, schließlich spricht auch Foucault selbst von der „Dramatik des wahren Diskurses“ (RS, S. 97). In Bezugnahme auf die Theorie der performativen Akte der Sprechakttheorie entwirft Foucault den Gedanken eines sich durch Sprechakte selbst konstituierenden Subjekts des wahren Diskurses: Diese Rückwirkung, die darin besteht, daß das Ereignis der Äußerung die Seinsweise des Subjekts beeinflußt oder daß das Subjekt, indem es das Ereignis der Äußerung hervorbringt, seine Seinsweise als sprechendes Subjekt modifiziert oder bestätigt oder zumindest bestimmt und präzisiert, zeichnet, glaube ich, einen anderen Typ von Diskurstatsachen aus, die sich von denen der Pragmatik völlig unterscheiden (RS, S. 96 f.)
Das sprechende Subjekt konstituiert sich in der Sprechakttheorie auf pragmatischkonventionelle Weise, d. h. die Akte vollziehen sich anonym, entfalten also eine ge-
revolutionäre Lebenspraxis lässt aus heutiger Sicht aufhorchen. Foucault führt das, was man gegenwärtig auch als islamistischen Terrorismus bezeichnen kann, genealogisch-gesellschaftspolitisch auf das europäische Abendland zurück: „Die Wahrheit aufsuchen, die Wahrheit offenbar machen, die Wahrheit explodieren lassen, bis daß man dabei sein Leben verliert oder das Blut der anderen vergießt, das ist etwas, dessen tiefreichende Wurzeln man in der Geschichte des europäischen Denkens findet“ (MW, S. 243 f.). Der sonst eher im Morgenland verortete islamistische Fundamentalismus, so könnte man die überraschende Pointe dieser Argumentation aus heutiger Sicht beschreiben, hat seine geschichtspolitischen Wurzeln im abendländischen Denken (vgl. Vogelmann 2012, S. 225; Waldenfels 2012, S. 80). Zu dem Zusammenhang zwischen Foucault Analyse der Antike und dem tschechischen Dissidententum im Kommunismus siehe: Forti 2014, S. 188, 192 f. Forti argumentiert dort u. a., dass Foucaults Deutung der parrhesia und der Selbstsorge durch Denker des tschechischen Dissidententums wie Jan Patocka oder Vaclav Havel beeinflusst worden ist (vgl. Forti 2014, S. 188).
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
wisse „mechanisierende Wirkung“ (Waldenfels 2012. S. 68), ohne Anschauung dessen, was im Sprechenden vorgeht (vgl. Waldenfels 2012, S. 66 ff.; Austin 1975, Searl 1997; RS, S. 93). Demgegenüber wählt Foucault die umgekehrte Perspektive, welche aufzeigt, wie die sprachliche Äußerung (Wahrsprechen) das Sein des Subjekt rückwirkend verändert: „Es geht bei der parrhesia um die Art und Weise, wie man sich, indem man das Wahre behauptet (…) im Akt dieser Behauptung selbst als derjenige konstituiert, der wahr gesprochen hat“ (RS, S. 97). Das Subjekt wird also durch den Akt des mutigen Wahrsprechens als autonomes Subjekt hervorgebracht bzw. bringt sich selbst aktiv im Wahrsprechen hervor. Während die traditionell performativen Äußerungen das Subjekt an die Situation, in der es sich befindet, binden, so „existiert die parrhesia nur, wenn es eine Freiheit in der Äußerung der Wahrheit gibt, eine Freiheit der Handlung, bei der das Subjekt die Wahrheit sagt, aber auch eine Freiheit des Bündnisses, durch das das sprechende Subjekt sich an das Gesagte und die Äußerung der Wahrheit bindet“ (RS, S. 93). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich im Akt der parrhesia, d. h im Akt des revolutionären kynischen Aktivismus, nicht bloß das Subjekt performativ als autonomes Subjekt der Wahrheit konstituiert, sondern dass auch die andere Welt im Akt des Wahrsprechens performativ im anderen erzeugt wird oder zumindest „eine zu schaffende, zu träumende Welt“ (Gros 2010, S. 460) als Möglichkeit erscheint.¹¹ Was nun versetzt den Kyniker letztlich in die Lage, die Wahrheit zu verkünden? Foucault zeigt, besonders in der Analyse von Texten Senecas und Epiktets, dass der Sinn der asketischen Übungen in der Stoa und im Kynismus letztlich in dem Erlangen einer Souveränität liegt. Eine solche „kynische Souveränität“ (MW, S. 397) zeichnet sich vor allem durch die Annahme des eigenen Schicksals aus. Das Verhältnis, welches das Subjekt kraft asketischer Übungen zu sich selbst erlangen soll, trägt also den Charakter der Schicksals- und der Selbstannahme: „Die kynische Souveränität be-
Dass der Aktivismus auch ein philosophischer Aktivismus ist, macht Foucault unmissverständlich deutlich: „Das philosophische Leben also als Aktivismus“ (MW, S. 378). Er spricht von der philosophischen Berufung (vgl. MW, S. 383) und von der Aufgabe eines „philosophischen Lebens“, das „darin besteht, sich an das Menschengeschlecht zu wenden, um mit ihm, und für es, möglicherweise auch gegen es für die Veränderung der Welt zu kämpfen“ (MW, S. 381). Um zu sehen, ob man für den Beruf des Philosophen/Kynikers geeignet ist, muss man Akte der Prüfungen und Selbstprüfungen vollziehen. Diese bestehen u. a. darin, nichts über sich zu verbergen und möglichst ohne Bedürfnisse zu leben. Nur in der asketischen Übung kann der Kyniker sich selbst erkennen und beurteilen, ob er den Auftrag, Kyniker zu sein, erhalten hat: „Der Kyniker erkennt sich selbst und er ist (…) mit sich allein, um sich selbst durch die Prüfung zu erkennen, der er das kynische Leben in seiner Wahrheit unterzieht, d. h. das unverborgene und unabhängige Leben, das Leben, was die Aufteilung des Guten und des Bösen neu gestaltet und wieder auflöst“ (vgl. MW, S. 384, vgl. außerdem: MW, S. 386). Auch hier lassen sich deutliche Spuren von Nietzsches Denken finden, für welchen die eigentlichen Philosophen in der Lage sind, alte Werte aufzulösen und neue zu schaffen (vgl. JGB 211, KSA 5, S. 145).
4.1 Foucaults späte Subjektphilosophie
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gründet die Möglichkeit eines glückseligen Lebens in einem Selbstverhältnis in Form der Annahme seiner Bestimmung“ (MW, S. 397).¹² Souverän ist das eigene Leben, wenn man sich im größtmöglichen Maße selbst gehört, also über einen verstärkten Selbstbezug – eine asketische Rückkehr zu sich selber – möglichst viele äußere Reize ausschaltet, um auf diese Weise eine maximale Kontrolle über sich herzustellen (vgl. MW, S. 351 ff., SW III, S. 81). Diese „Verfügungsgewalt“ (MW, S. 351) über sich selbst führt dazu, sich selbst als Objekt einer neu gewonnen Souveränität zu genießen. Kynisch-stoische Souveränität wird von Foucault knapp als „Akt der Besitzergreifung seiner durch sich selbst“ (MW, S. 354) bezeichnet. Das Erlangen eines souveränen Zugangs zu sich selbst bietet nach außen hin die Möglichkeit, die Wahrheit zu sprechen.¹³ Die Beziehung zu den anderen ist durch diesen souveränen Selbstbezug verändert und kann etwa die Form einer persönlichen Leitung annehmen. Als Beispiel hierfür führt Foucault das Lehrer-Schüler-Verhältnis von Seneca und Lucilius an.¹⁴ Nur derjenige, der einen souveränen Selbst- und Weltbezug erlangt hat, ist also befähigt, wahrzusprechen und die Wahrheit vorzuleben, bzw. „das wahre Leben als Ausübung der Souveränität gegenüber sich selbst“ ist „zugleich eine Wohltat gegenüber den anderen“ (MW, S. 355). Foucault bezeichnet dieses Darstellen der Wahrheit über das kynisch geführte Leben Veridiktion (vgl. MW, S. 398 f.). Neben der Arbeit an sich selbst (Selbsterkenntnis) ist dem Kyniker auch die Sorge um die anderen aufgegeben. Der Kyniker soll sich jedoch nicht um das konkrete Privatleben einzelner kümmern, sondern vielmehr über das Menschengeschlecht im Ganzen reflektieren, also über seine Reden und sein beispielhaftes Leben „die gesamte Menschheit in Frage“ (MW, S. 404) stellen. Da der Kyniker auch selbst zu dieser Menschheit zählt, ist die Trennung zwischen sich selbst und den anderen aufgehoben: „Die Sorge um die anderen fällt somit genau mit der Sorge um sich selbst zusammen“ (MW, S. 404).¹⁵
Die Parallele zum nietzscheanischen souveränen Individuum, welches sich vor allem über die Lehre des amor fati definiert, liegt auf der Hand und wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch genauer ausgewertet. Boyle (Boyle 2012) unterstreicht diesen Zusammenhang und diese Reihenfolge von Askese, Selbstsorge und Wahrheit, indem er auf ein Zitat Foucaults verweist: „The mere subject (…) ‚does not have right to access to the truth and is not capaple of having access to the truth…for the subject to have right of access to the truth he must be changed, transformed, shifted…’ [.] Put simply, epimelia is the ‘condition of access to the truth’“ (Boyle 2012, S. 145; vgl. HS, S. 27 ff.). Auch kann das Verhältnis zu den andern durch das Verfassen von Schriften geprägt werden, die auf performative Weise Einfluss auf das Leben des Lesers nehmen (vgl. MW, S. 353). Auch die Sphäre der Politik wird von Foucault in diesem Zusammenhang angesprochen. So verweist er etwa auf Platon, bei dem die politische Souveränität immer beeinflusst ist von der philosophischen Souveränität, da der Philosoph die Seele des Königs leiten soll und somit in der gesellschaftlichen Hierarchie letztlich noch über dem König steht. Foucault greift in diesem Zusammenhang
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
Der Zusammenhang von wahrsprechender, subjektivierender Selbstsorge und gesellschaftspolitischen Veränderungen entsteht folglich im Vollzug, ist also ein automatischer Effekt der Parrhesie. Diese Überlegungen zeigen nicht zuletzt auch das Philosophieverständnis Michel Foucaults: Philosophie ist für ihn „jene Form des Denkens, die danach fragt, was dem Subjekt den Zugang zur Wahrheit ermöglicht, jene Form des Denkens also, die Bedingungen und Grenzen des Zugangs des Subjekts zur Wahrheit zu bestimmen versucht“ (HS, S. 32). Sinn der wahren Reden, die der Kyniker vor den anderen hält, ist es, seine Mitmenschen, indem sie durch die wahren Reden provoziert werden, letztlich davon zu überzeugen, dass die überkommenen gesellschaftlichen Werte falsch sind und sie die „Wahrheit anderswo suchen“ (MW, S. 405) sollen. Die über asketische Techniken erreichte Souveränität ist also die Bedingung der Möglichkeit, den anderen die Wahrheit zu offenbaren, d. h. über wahre Reden und das eigene Beispiel eines gelebten Aktivismus die anderen von der Falschheit ihres Lebens und von der Notwendigkeit einer Veränderung der Welt zu überzeugen: „Ich lebe auf andere Weise und durch die Andersheit meines Lebens zeige ich Ihnen, daß das, was sie suchen, anderswo ist, als dort, wo sie es suchen“ (MW, S. 405). Die Wahrheit, die hier angesprochen ist, ist keine epistemologische und liegt weder in einer Übereinstimmung mit der Welt noch soll sie irgendetwas darüber aussagen „was die Welt in ihrer Wahrheit ist“ (MW, S. 407). Vielmehr ist ihr Bezug zur Welt ein praktischer, es geht daher darum, zu zeigen, „daß die Welt ihre Wahrheit nur finden kann (…) um den Preis der Veränderung, einer völligen Änderung, nämlich der völligen Veränderung im Verhältnis, das man zu sich selber hat“ (MW, S. 407).¹⁶ Der praxeologische Wahrheitsbegriff, den Foucault aus dem Kynismus destilliert, impliziert also nicht nur die Transformation der Welt und der Beziehungen, die wir zu den anderen unterhalten, sondern zuallererst die Transformation unserer selbst als Subjekte.¹⁷ Und erst in dieser Beziehung zu sich wird gesellschaftspolitische Veränderung möglich:
u. a. Platons Begriff der Philosophenkönige auf und bezeichnet den Kyniker als wahren König (vgl. MW, S. 355 f.). In den folgenden Abschnitten wird, auch über den Vergleich zu Nietzsche, der Versuch unternommen, das Wohin dieser Veränderung zu bestimmen, also die Wahrheit, von der Foucault spricht, mit Inhalt zu füllen. Simpson (Simpson 2012) unterstreicht diese Lesart, indem er auf die subversiven und transformativen Kräfte der parrhesia hinweist: „parrhesia acts to cast out truths whose reality is seen in the present and whose effects are produced in the future, then parrhesia becomes a critical linkage in the acts of knowledge which are required to produce de-normalized and self-governing individualities“ (Simpson 2012, S. 112). Parrhesia ist somit auch als eine Antwort auf Foucaults frühere Diskurs,– Wahrheits,– und Wissenstheorien zu lesen (vgl. JF, WM, WG). Foucaults frühere Aussage, dass Wahrheiten immer Konstruktionen darstellen, die auf bestimmte Machtprozesse zurückgehen, wird demnach nicht aufgegeben, nur stellt die parrhesia eine mögliche Neu-Konstruktion von Wahrheit dar, welche überkommene Wahrheiten und konventionelle und normalisierende Denkmuster durchbricht:
4.1 Foucaults späte Subjektphilosophie
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„[D]aß das wahre Leben das Leben der Wahrheit ist, das die Wahrheit offenbart, das die Wahrheit in der Beziehung zu sich selbst und den anderen praktiziert, und zwar so, daß dieses Leben der Verifikation die Verwandlung der Menschheit und der Welt zum Ziel hat“ (MW, S. 406).¹⁸
4.1.4 ‚Wende zum Subjekt‘ und Begriff des Individuums In der Forschung ist aufgrund der vorangehend dargestellten Überlegungen von einer „Wiederentdeckung des Subjekts“ (Kögler 2004, S.153), bzw. von einer „Aufwertung des Subjekts“, und somit von einer „Wende“ (Kögler 2004, S. 145) in Foucaults Spätphilosophie gesprochen worden. Kögler (2004) argumentiert, dass Foucaults Beschäftigung mit der Gouvernementalität, der Macht und den Formen des Widerstands quasi zwangsläufig zu einer ‚Wende zum Subjekt‘ führen musste. Denn Foucault unterscheidet vor allem in seinem späten Aufsatz Das Subjekt und die Macht zwischen Macht und bloßer Gewaltausübung bzw. zwischen Macht und Herrschaft. Ist Herrschaft vor allem ein ‚fest‘ gewordenes, von öffentlichen Institutionen sowie ökonomischen und politischen Akteuren getragenes Kräfteverhältnis, so wird Macht deutlich ontologischer und grundlegender verstanden. Die Macht vollzieht sich zwischen den einzelnen Subjekten und zielt auf die Beeinflussung des Handelns des jeweils anderen Subjekts: „Machtausübung besteht im ‚Führen von Führungen‘“ (SM, S. 255; vgl. SW I, S. 117, 133; Kögler 2004, S. 145, 148 ff.). Macht – insofern sie nicht in eine bloße Gewaltherrschaft mündet – setzt demzufolge immer die Aktivität und zumindest die potenzielle Freiheit der Subjekte voraus: „Im Ausüben von Macht geht es ja nicht um ungebrochene Dominanz oder um einhelligen Konsens, sondern um das Lenken, Bestimmen und Beeinflussen von an sich freien und selbst zum Handeln fähigen Individuen“ (Kögler 2004, S. 149). Die Ausdifferenzierung des Machtbegriffs beim späten Foucault bringt also Kögler zufolge notwendig auch ein potenziell freies Subjekt mit sich. Insofern entsteht für ihn in der Auseinandersetzung mit Begriffen wie Selbstpraktiken, Macht, Widerstand und Herrschaft automatisch eine Wende hin zu einem Begriff vom autonomen Subjekt. Auch Hinrich Fink-Eitels Argumentation verläuft in eine ähnliche Richtung. Hier wird noch stärker auf eine angebliche Polarität zwischen Foucaults Spätwerk und
„Foucault (…) works through this (…) problem by admitting that truth is ultimately fictional (…). In this framework, parrhesia would not only be truthful engagement with others, but the constructive telling of fictions to both oneself and others that would produce the effects of truth“ (Simpson 2012, S. 99; vgl. S. 106, 107, 109, 113). Das Aussprechen der Wahrheit führt demnach zu Transformationsprozessen des Selbst und der anderen (vgl. Simpson 2012, S. 110). Mutig sind jene wahren Reden nicht zuletzt deshalb, weil durch das öffentliche Brechen mit den Konventionen nicht bloß das Verhältnis zu den Zuhörern beschädigt werden kann, sondern, wie es Foucault am prominentesten an der parrhesia des Sokrates darstellt, auch die körperliche Unversehrtheit des Parrhesiasten auf dem Spiel steht (vgl. Waldenfels 2012, S. 78 f.).
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seinen früheren Arbeiten hingewiesen: „Offenkundig hat Foucault seinen poststrukturalistischen Versuch aufgegeben, Macht monistisch als allumfassendes Netzwerk einer subjektlos-anonymen Kräftevielfalt zu denken“ (Fink-Eitel 1989, S. 101). Für FinkEitel ist also Foucaults Hinwendung zu den griechischen Selbstpraktiken gleichbedeutend mit einer Entdeckung der Freiheit im Subjekt. Er spricht von einem „radikalen Bruch“ (Fink-Eitel 1989, S. 101) in der Subjektphilosophie Foucaults und unterteilt dessen Werk in unterschiedliche Phasen. Geht es in Foucaults frühen und mittleren Schriften vor allem um die Betrachtung anonymer Diskurs- und Herrschaftspraktiken, so legt dessen Spätwerk den Schwerpunkt auf die „Skizze einer Existenzphilosophie souveräner, individueller Selbstverhältnisse“ (Fink-Eitel 1989, S. 15; vgl. Fink-Eitel 1990, S. 376). Dem hält Saar (2007) richtigerweise entgegen, dass die „relative Autonomie“ (Saar 2007, S. 274), welche die Subjekte in den Selbstpraktiken erfahren, nicht im Sinne einer Wende hin zu einer autonomen Subjektivität im traditionellen Sinne misszuverstehen ist: „Damit wird im Spätwerk keine autonome, freitätige Subjektivität rehabilitiert, aber die Kräfte und Kontexte, aus denen heraus Subjekte praktisch entstehen, werden anders benannt, als es die (…) Machtanalytik zugelassen ha[t]. Die Selbsttechniken und damit die individuelle, subjektivierende Selbststeuerung sind (…) damit unverzichtbarer Teil einer vollständigen Perspektive auf Subjekte“ (Saar 2007, S. 274). Der Theorie eines bereits fertigen und autonomen Subjekts wird die Methode verschiedener Genealogien von Subjektivität entgegengehalten. Die Analyse der griechischen und römischen Selbstsorgepraktiken und die hiermit einhergehende Etablierung einer potenziell autonomen Selbstkonstitution ist also keineswegs gleichbedeutend mit einer „Aufwertung des Subjekts“ (Kögler 2004, S. 145), sondern es handelt sich hierbei lediglich um eine Form der Subjektivierung, welche die Perspektive der Macht (vgl. MP; ÜS) und des Diskurses (vgl. OD; WG) ergänzt und abrundet. Dass es sich dabei um eigenständigere und widerständigere Formen der Subjektivität handelt, hängt also nicht damit zusammen, dass vom späten Foucault die Theorie eines autonomen, cartesianischen Subjekts entworfen wurde, sondern vielmehr damit, dass die antiken Selbstsorgepraktiken „andere Ökonomien des Verhältnisses zwischen Führen und Geführtwerden enthalten“ (Saar 2007, S. 275). Eine solche Subjektivierung ist autonomer, weil sie stärker vom Einzelnen selbst ausgeht als jene Subjektivierungen über Diskurse und Disziplinartechniken. Eine solche stärkere Eigenmächtigkeit in der Konstitution seiner selbst setzt wiederum eine gewisse Unabhängigkeit von der äußeren Welt voraus, die über asketische Techniken bewerkstelligt werden soll. Die Ästhetik der Existenz und die Praktiken des Selbst reihen sich somit in Genealogien der Subjektivität aus Foucaults früheren Werken ein und vervollkommnen die genealogische Perspektive (vgl. Saar 2003, S. 159). Es geht demnach darum, Subjektivität nicht bloß als Spielball äußerer Mächte darzustellen, sondern auch eine freie Selbstgestaltung in die Analyse miteinzubeziehen: „Damit eine historisch wirksame Identität entsteht, müssen vielmehr auch Prozesse der inneren, ‚freien‘ Selbstgestaltung bei den Menschen stattfinden. Genealo-
4.1 Foucaults späte Subjektphilosophie
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gisch kommt es darauf an, diese Geschichte möglichst vollständig, d. h. unter Berücksichtigung möglichst vieler relevanter Aspekte, zu erzählen“ (Geuss 2003, S. 153 f.). Die These vom Bruch oder von der Wende zum Subjekt in Foucaults Spätphilosophie geht also darauf zurück, dass der Freiheitsbegriff des späten Foucault überbetont wird. Relativiert man stattdessen diese Freiheit und ordnet die autonome Selbstkonstitution als eine Art der Subjektkonstitution unter vielen ein, so verschwindet auch der radikale Bruch zwischen Foucaults früher, mittlerer und später Werkphase. Es ist dementsprechend nicht zwischen einer frühen Subjektkritik und einer späten Subjektbejahung in Foucaults Schriften zu unterscheiden, sondern es gilt vielmehr, wie Peter Zima (2007) es ausdrückt, Foucaults Werk als „widersprüchliches Ganzes“ zu lesen, „das in seiner Endphase die subjektive Freiheit des Einzelnen (…) gegen die Manipulierbarkeit der Subjekte in der Machtkonstellation ausspielt“ (Zima 2007, S. 82). In Foucaults früheren Arbeiten geht es also nicht, wie Fink-Eitel es sieht, um den Versuch, Macht generell als subjektlose Maschinerie zu analysieren, sondern vielmehr darum, verschiedene Arten der Subjektkonstruktion und -konstitution aufzuzeigen. Dies wird verbunden mit einer Untersuchung der verschiedenen Arten, diese Subjekte zu führen und zu unterwerfen. Carsten Wolfers (2009) drückt dies pointiert folgendermaßen aus: „Das Subjekt ist längst nicht nur Thema des späten Foucault“ (Wolfers 2009, S. 225). Die späte Hinwendung zu den potenziell freien Subjekten ist keine Umkehrung, sondern eine Fortführung des Themas vom Subjekt: „Die verschiedenen Perioden von Foucaults Denken beinhalten keine Neuanfänge oder Brüche, sondern sind komplementäre Weiterentwicklungen einer feststehenden Grundüberzeugung“ (Müller 2004, S. 39). Die These vom Bruch und von der Wende muss also ersetzt werden durch die der Kontinuität der Subjektphilosophie innerhalb des Werkes Michel Foucaults. Andreas Reckwitz (2008) führt diesen Argumenten noch ein erkenntnistheoretisches Moment hinzu: Individualistisch oder subjektivistisch sind Foucaults späte Überlegungen schon deshalb nicht zu nennen, weil sie nicht auf der Annahme beruhen, dass Selbsterkenntnis und Subjektivität auf einen festen inneren identitären Kern zurückgehen, sondern dass sich Subjektivität vielmehr dynamisch über konkrete Praktiken des Selbst und der Selbstsorge bildet (vgl. Reckwitz 2008, S. 37 f.) Wenn man schließlich Foucaults eigene Aussagen zu diesem Thema betrachtet, kommt man auch hier zu dem Schluss, dass sich das Problem des Subjekts durch sein gesamtes Werk zieht, und nicht bloß am Ende – in Form einer Kehre – gegen seine frühere Machtanalytik ins Feld geführt wird. Foucault schreibt, dass die Essenz seiner Arbeit „während der letzten 20 Jahre (…) nicht die Analyse der Machtphänomene“ gewesen sei, sondern dass es seine „Absicht war (…), eine Geschichte der verschiedenen Verfahren zu entwerfen, durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden (…). Nicht die Macht, sondern das Subjekt ist deshalb das allgemeine Thema meiner Forschung“ (SM, S. 243; vgl. RS, S. 15; MW, S. 15 f.). Subjektivität wird
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
von Foucault zudem als ein Element der Individualität beschrieben.¹⁹ Es gibt also einige Gründe, die dafür sprechen, den Begriff des autonomen Individuums beim späten Foucault deutlicher in den Vordergrund zu rücken, als dies bisher geschehen ist und somit auch dessen Subjektbegriff dem des Individuums unterzuordnen. Zum Verhältnis der Begrifflichkeiten von Subjekt und Individuum ist zu sagen, dass Foucault in einem Interview selbst eingestehen musste, dass in der antiken Philosophie nicht der Begriff vom Subjekt, sondern der vom Individuum bemüht wurde, wenn es um die souveräne Konstitution seiner selbst ging: Ich glaube nicht, daß man eine Erfahrung des Subjekts dort rekonstruieren sollte, wo sie nicht formuliert worden ist (…). Und da kein griechischer Denker je eine Definition des Subjekts gefunden hat, nie danach gesucht hat, würde ich einfach sagen, daß es kein Subjekt gibt (RM, S. 144).
Es ging Foucault folglich nicht darum, einen modernen Begriff von Subjektivität auf die Antike zurückzuübertragen, sondern darum, eine Form der moralischen Selbstkonstitution zu finden, welche sich nicht bloß auf den neuzeitlichen Subjektbegriff stützt: Eine moralische Erfahrung, die wesentlich auf das Subjekt konzentriert ist, scheint mir allerdings heute nicht mehr ausreichend. Und eben dadurch stellen sich uns bestimmte Fragen in den gleichen Begriffen, in denen sie sich in der Antike gestellt hatten. Die Suche nach Existenzstilen, die voneinander so verschieden wie möglich sein sollen, scheint mir einer der Punkte zu sein, durch den in der Vergangenheit einzelne Gruppierungen die gegenwärtige Suche in Gang gesetzt haben (RM, S. 144).
Es sollen also, über den Rückgriff auf die antiken Selbstpraktiken, individuelle Zugänge zu den Regeln und Normen der herrschenden Moral gefunden werden, anstatt ihnen blind zu gehorchen. Es geht Foucault demzufolge darum, eine gewisse Form darzustellen, in welcher sich freie bzw. souveräne Individualität vollziehen kann, anstatt einen festen, inhaltlichen Kern von Individualität ausmachen zu wollen. Dieser Vorgang ist das, was er die „Konstitution seiner selber als ‚Moralsubjekt‘“ nennt, „in der das Individuum den Teil seiner selber umschreibt, der den Gegenstand dieser moralischen Praktik bildet“ (SW II, S. 40). Demgegenüber spricht Foucault an einigen Stellen seines Spätwerkes deutlich vom Individuum als etwas, das es umgekehrt auch von unterwerfenden Subjektivierungen zu befreien gilt (vgl. SM, S. 247). Solche Aussagen ergeben vor dem Hintergrund der Tatsache Sinn, dass es für Foucault die Individuen sind, die sich zu Subjekten machen, dass Subjektivität etwas am Individuum ist, dass also, spricht man vom Subjekt, das Individuum immer mitgedacht werden muss (vgl. MW, S. 21; RS, S. 18). Besonders folgendes Zitat aus SW II macht deutlich, dass das, was Foucault, in Anlehnung an den griechischen Diskurs Vgl. hierzu Kapitel 1.3 der vorliegenden Arbeit.
4.2 Selbstsorge und Selbstkonstitution bei Nietzsche und Foucault
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der Selbstsorge, die Konstitution seiner selbst als Moralsubjekt nennt, letztlich etwas ist, was das Individuum an sich selbst vollzieht: „[S]o gibt es verschiedene Arten, moralisch ‚sich zu führen‘, verschiedene Arten für das Individuum, nicht bloß als Agent, sondern als Moralsubjekt jener Aktion zu operieren“ (SW II, S. 37). Foucault spricht in diesem Zusammenhang von der „Bestimmung der ethischen Substanz (…), das heißt, d[er] Art und Weise, in der das Individuum diesen oder jenen Teil seiner selber als Hauptstoff seines moralischen Verhaltens konstituieren soll“ (SW II, S. 37). Die freie, nicht einfach vorgefundenen Regeln folgende Bestimmung seiner selbst als moralisch handelndes Subjekt verläuft also über eine Selbstkorrektur des Individuums, d. h. über die Betonung bestimmter Handlungen, Gedanken oder Gefühle, die einen schließlich als Moralsubjekt konstituieren (vgl. SW II, S. 42; Schmid 1991, S. 237). Erinnert sei in diesem Zusammenhang noch einmal an die Argumentation von Martin Saar, wonach sich Subjektivität im „konstanten, sich selbst verstärkenden Eingeübtwerden der Einstellungen“ (Saar 2007, S. 257) vollzieht. Kombiniert man diese Feststellung mit der Aussage Foucaults, nach welcher das „Individuum“ über Techniken der Askese eine bestimmte Struktur der Subjektivität in sich „fixieren, periodisch aktivieren und, falls nötig, verstärken kann“ (HS, S. 401), so kommt auch Nietzsches Rede vom ‚Aus- und Einhängen‘ der Affekte in den Sinn, in welchem sich eine freie Individualität konstituieren soll (vgl. GM III 12, KSA 5, S. 364). Somit lässt sich festhalten, dass autonome Subjektivität für Foucault etwas ist, das sich in, an und um das Individuum herum entwickelt, indem dieses bestimmte Selbstpraktiken und Techniken der Askese vollzieht, um in sich bestimmte Handlungen, Affekte und Gedanken zu bestärken und zu fixieren, also ‚fest‘ zu machen. Autonomes Subjekt zu werden, bedeutet dementsprechend für das Individuum, nicht nur bestimmten Codes, Meinungen und Diskursen blind zu gehorchen, sondern selbst zum Akteur, selbst zum Subjekt seiner Handlungen zu werden, indem man sich mit jenen Regeln in Beziehung setzt und somit bestimmte Aspekte in sich ‚aus- und einhängt‘. Der Vergleich mit Nietzsches Typus der souveränen Individualität wird eine Vertiefung der Themenkomplexe Individuum und freie Selbstgestaltung mit sich bringen. Hierbei soll vor allem der Frage nachgegangen werden, wie genau sich eine solche autonome Art der Individualität konstituiert und welches Verhältnis diese Konstitution seiner selbst zu der eigenen, praktischen Lebensweise und der eigenen Biographie hat.
4.2 Selbstsorge und Selbstkonstitution bei Nietzsche und Foucault Die Vergleiche hinsichtlich der Theorien der Selbstkonstitution und der Selbstsorge beim späten Nietzsche und beim späten Foucault bleiben in den meisten Fällen eher assoziativ.
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
In der jüngeren Literatur ist zum einen der Versuch unternommen worden, eine Verbindung der Konzepte der souveränen Individualität bei Nietzsche, der Eigentlichkeit und der Sorge beim frühen Heidegger sowie der Ästhetik der Existenz und der Selbstsorge bei Foucault herzustellen (vgl. Forst 1990, S. 165 ff.; Fink-Eitel 1990, S. 377, 381; Rieger 1997, S. 68 ff.; Schmid 1991, S. 186, 211 f.). Die Parallelen, die zwischen den Werken dieser drei Philosophen hergestellt werden, richten sich insbesondere auf eine Selbstkonstitution, welche den zeitgenössischen Lebensweisen und Arten der Subjektivierung entgegengestellt wird. Es geht demnach um eine Form des Selbstbezugs und der Ich-Konstitution, die sich in einer Verflochtenheit und einer Auseinandersetzung mit der Welt und nicht in einem Subjekt-Objekt-Gegensatz vollzieht (vgl. Rieger 1997, S. 69; Schmid 1991, S. 219; Heidegger 2006 [1927], S. 184 ff., 193; SW II, S. 39 ff.).²⁰ Die souveräne Individualität bei Nietzsche (als Gegenentwurf zur normalen, normierten Subjektivität) sowie die eigentliche Existenz bei Heidegger (im Gegensatz zur Uneigentlichkeit des ‚Man‘) wird bei Schmid, aber vor allem auch bei Rieger, zum „Suchraster“, das „Foucault bei seinem Studium antiker Texte einsetzt“ (Rieger 1997, S. 71). Die ethische Sorge um sich nimmt hierbei die Form einer ästhetischen Gestaltung des eigenen Lebens, einer Ästhetik der Existenz an. Ohne hierbei sehr ins Detail zu gehen, weist Schmid (1991) in seiner FoucaultLektüre auf Gemeinsamkeiten zu Nietzsches Spätphilosophie hin. Besonders bezüglich der asketisch-künstlerischen Selbstgestaltung erläutert Schmid Foucaults Ästhetik der Existenz unter Zuhilfenahme von nietzscheanischen Konzepten (vgl. Schmid 1991, S. 259 ff., S. 264; FW 290, KSA 3, S. 530 f.). Dabei interpretiert er Nietzsches Lehre der ewigen Wiederkehr als Beispiel für ein Prinzip, welches dem individuellen Handeln unterlegt wird, und als Effekt eine Ästhetisierung des Selbst zur Folge hat (vgl. Schmid 1991, S. 385 f.). Schmid deutet darüber hinaus Parallelen im Konzept der eigentlichen Philosophen bei Nietzsche und dem Leben als Skandal der Wahrheit bei Foucault an (vgl. Schmid 1991, S. 278). Martin Saar (2007) schließlich verfolgt einen grundsätzlicheren Vergleich zwischen Nietzsche und Foucault: Er unterstreicht vor allem die Gemeinsamkeiten in der genealogischen Kritik am Subjektbegriff und den daraus folgenden Möglichkeiten einer Transformation des Selbst (vgl. Saar 2007, S. 251, 291). Saar versteht Foucaults Analytik der antiken Selbstpraktiken als eine Konkretisierung des nietzscheanischen
In diesem Zusammenhang wird auch der Begriff der Für-Sorge bei Heidegger auf Foucaults Analytik der Selbstsorge angewendet, wobei Foucaults Untersuchung des Wohlfahrtsstaats als eine fürsorgende Macht vorgestellt wird, welche, im Vokabular Heideggers, für den anderen einspringt und ihm so seine Verantwortlichkeit abnimmt (vgl. Forst 1990, S. 169 f.; Heidegger 2006 [1927], S. 122). Demgegenüber wird der Begriff der Selbstsorge bei Heidegger und Foucault als freiheitsfördernd interpretiert, d. h. die Selbstsorge vollzieht sich notwendig nicht isoliert, sondern auch mit und in der Sorge um den anderen, und die eigentliche Fürsorge ermöglicht dem anderen dementsprechend, sich in einer selbstbestimmten Weise um sich selbst zu sorgen (vgl. Heidegger 2006 [1927], S. 122, 193, 318; MW, S. 352).
4.2 Selbstsorge und Selbstkonstitution bei Nietzsche und Foucault
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Theorems der praxeologischen Subjektkritik und Subjektkonstitution. Denn Saar macht deutlich, dass auch bei Nietzsche besonders praktische, nichtphilosophische Komplexe wie Klima, Diät und Alltagsgewohnheiten herangezogen werden, wenn es um die Konstitution einer Identität geht, die vom Subjekt selbst seinen Ausgang nimmt (vgl. Saar 2007, S. 106, 249). Auch Saar versucht also, nietzscheanische Denkfiguren durch Foucaults Philosophie der Selbstsorge und der Selbstpraktiken hindurch zu lesen. Er nennt als Beispiel Nietzsches Begriff des Versprechens, welcher für die Konstitution des souveränen Individuums wesentlich ist, um das foucaultsche Moment der subjektiven Eigenleistung in der Konstitution von Macht- und Identitätsrelationen zu verdeutlichen (vgl. Saar 2007, S. 341). Er analysiert den Begriff des Versprechens hierbei als eine Art des strukturierenden Selbstbezugs, d. h. im Versprechen vollzieht sich nicht nur eine zeitlich Ordnung der Geschehnisse in der Welt, sondern im Umkehrschluss auch eine Verbindung der zeitlichen Strukturierung mit dem Einzelnen: „Das Versprechen (…) ordnet nicht nur den Weltbezug des Versprechenden, sondern auch sein Verhältnis zu sich selbst. Es verknüpft Elemente in der Zeit sinnvoll und bezieht diese Verknüpfung auf den Willen des Subjekts“ (Saar 2007, S. 61). Saar macht deutlich, dass im Versprechen-Können zwar einerseits die Grundlage zum Befolgen moralischer Regeln liegt, andererseits hierin jedoch ein Moment der Eigenleistung existiert, welches es dem Einzelnen ermöglicht, auch in widerständiger Form auf gesellschaftliche Regeln und Subjektivierungen zu reagieren (vgl. Saar 2007, S. 341). Erkenntnistheoretisch wird diese Fähigkeit zur selbstständigen und selbsttätigen Subjektivierung zurückgeführt auf die Deuleuzesche Lesart der Philosophie Nietzsches und Foucaults, welche die Mächtigkeit und Potenzialität der Kräfte im Menschen betont, in deren Neukombination sich die Möglichkeit unendlicher neuer Formen des Menschseins eröffnet (vgl. Deleuze 1987, S. 186, 187 ff.; Saar 2007, S. 284). Ähnlich wie bei Saar (2007) sollen im Folgenden nietzscheanische Themenkomplexe unter Zuhilfenahme des foucaultschen Vokabulars der Selbstsorge interpretiert werden. Diese Methode eröffnet einerseits die Möglichkeit, die Ausführungen Foucaults anhand der Philosophie und den Lebensanweisungen Nietzsches zu verdeutlichen und zu konkretisieren, andererseits zeigt sie neue Formen auf, unter denen Nietzsches späte Philosophie des Selbst interpretiert werden kann. Einen besonders engen Zusammenhang zwischen den Subjektphilosophien des späten Nietzsche und des späten Foucault bildet der Themenkomplex der Wahrheit und des Mutes zur Wahrheit. Dieser Aspekt ist in der einschlägigen Literatur bisher eher unterrepräsentiert, weshalb im Folgenden genauer auf ihn eingegangen werden soll.
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
4.2.1 Mut zur Wahrheit und Umwertung bei Nietzsche und Foucault Der Mut zur Wahrheit, der den Parrhesiastiker laut Foucault auszeichnet, findet sich auch im Werk Nietzsches wieder. Bereits Schmid (1991) wies darauf hin, dass sich in Nietzsches Denken und Existenz Spuren der griechischen parrhesia finden, die mit persönlichen Risiken für den Sprecher einhergehen (vgl. Schmid 1991, S. 278). Paul Veyne (1997) erinnert an den nicht-epistemischen Charakter von Nietzsches Wahrheitsphilosophie und dessen Einfluss auf Foucault: „Nietzsche’s philosophy, Foucault was fond of saying, is not a philosophy of truth, but of speaking truly“ (Veyne 1997, S. 227). Auch Foucault selbst deutet diesbezüglich eine Verbindung zu Nietzsche an. Er spricht davon, dass der wahrhaftige Mensch, welcher sich selbst riskiert, in Nietzsches Idee der Wahrhaftigkeit eine moderne Variation findet: Der Parrhesiastiker, der von der parrhesia Gebrauch macht, ist der wahrhafte Mensch (…). Mir scheint (…), daß die Nietzschesche Wahrhaftigkeit eine gewisse Weise ist, diesen Begriff, dessen entfernter Ursprung auf den Begriff der parrhesia (des Wahrsprechens) zurückgeht, im Sinne des Risikos für denjenigen aufzufassen, der die Wahrheit ausspricht, als Risiko, das von dem, der sie ausspricht, akzeptiert wird (RS, S. 94).
Das Nietzsche-Zitat, das in diesem Zusammenhang am meisten hervorsticht, ist Folgendes: „[D]er rechte Philosoph (…) lebt ‚unphilosophisch‘ und ‚unweise‘, vor Allem unklug, und fühlt die Last und Pflicht zu hundert Versuchen und Versuchungen des Lebens: – er risquirt sich beständig“ (JGB, 205, KSA 5, S. 133). Diese Stelle findet sich im sechstem Hauptstück aus Jenseits von Gut und Böse, welches sich in erster Linie mit den eigentlichen oder zukünftigen Philosophen beschäftigt (vgl. JGB 204– 213, KSA 5, S. 129 – 149), welche im Verlauf der vorliegenden Arbeit als Synonym für das souveräne Individuum herausgearbeitet worden sind. Nietzsche spricht dort wiederholt von den „Gefahren“ (JGB 205, KSA 5, S. 132), welchen der Philosoph heute ausgesetzt sei. Die Gefahr zeigt sich zum einen darin, dass seine Selbstwerdung misslingen könnte, dass er „beschädigt, vergröbert“ (JGB 205, KSA 5, S. 132) werden könnte, oder dass er zu schnell im wissenschaftlichen Betrieb eingespannt werden könnte, bevor er zu seiner wahren Größe und Aufgabe findet. Die Gefahr, die Nietzsche beschreibt, hat jedoch zum anderen noch einen viel umfassenderen und auch erkenntnistheoretischen Hintergrund. Sie geht auf das zurück, was Nietzsche Experimentalphilosophie nennt: Die „Philosophen der Zukunft (…) werden (…) Menschen der Experimente sein“ (JGB 210, KSA 5, S. 142). Der grundlegend perspektivische und interpretierende Charakter allen Geschehens und Wahrnehmens (vgl. FW 344, KSA 3, S. 575 f.) hat zur Folge, dass der Mensch auch sich selbst immer wieder neu erfinden und interpretieren kann. Die Gefahr besteht also darin, dass diese Experimente, welche sich innerhalb des ‚flüssigen Spiels‘ der Sinnzusammenhänge vollziehen, auch scheitern können, die Selbstwerdung also möglicherweise misslingt.
4.2 Selbstsorge und Selbstkonstitution bei Nietzsche und Foucault
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Da es eine überhistorische und objektive Wahrheit nicht gibt, wird auch das menschliche Handeln zu „einer interpretierenden Praxis“ (Rieger 1997, S. 68, vgl. M 432, KSA 3, S. 266). Die Relativität und Gewordenheit menschlicher Perspektiven eröffnen so auch den Raum neuer Freiheiten und Möglichkeiten für den Einzelnen: „Die Welt ist uns (…) noch einmal ‚unendlich‘ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst“ (FW 374, KSA 3, S. 627). Das notwendige Interpretieren und Gestalten, in das der Mensch eingebunden ist, bietet demzufolge die Möglichkeit der Selbstformung und der Selbstgestaltung. Anders ausgedrückt: Das ‚flüssige Spiel‘ der Neugestaltung von Sinn- und Bedeutungszusammenhängen macht auch vor dem Bild des Subjekts nicht halt.²¹ Hiermit kommt Nietzsche dem sehr nahe, was Foucault in seiner Subjektphilosophie umreißt. Denn es ist gezeigt geworden, dass Foucault die griechischen Modelle der Selbstsorge in eine umfassendere Geschichte der Genealogie von Subjektivierungen und Subjektivität eingebunden hat und dass die relative Autonomie dieser Selbstpraktiken nicht in einer Wende zum Subjekt, sondern in einem anderen Verhältnis von Beherrscht-Werden und Selbstherrschaft begründet liegt. In der kritischen Arbeit der Genealogie wird nicht nur aufgezeigt, wie bestimmte Subjektivitäten entstanden sind, sondern in ihr vollzieht sich auch notwendig eine Umformung der eigenen Subjektivität (vgl. Saar 2007, S. 285; WA, S. 49). Bei Nietzsche wie bei Foucault konstituiert sich Subjektivität also auch immer in genealogischer Kritik des eigenen Subjektseins (vgl. Saar 2003, S. 159, 166). Derjenige, der umgestaltet und umwertet, ist somit zugleich Subjekt und Objekt der Umwertung, d. h. an ihm und in ihm vollzieht sich die kritische Umgestaltung, und er selbst wird zum Produkt der Umwertung der Werte. Diesen Vorgang hat Nietzsche wiederholt mit
Dieses flüssige Spiel der Neuordnung von Sinnzusammenhängen wird von Nietzsche auf dessen Lehre von den dynamischen und miteinander konkurrierenden Willen-zur-Macht zurückgeführt, worunter wiederum „die spontanen, angreifenden, übergreifenden, neu-auslegenden, neu-richtenden und gestaltenden Kräfte“ (GM II 12, KSA 5, S. 316) angesprochen sind. Der Begriff der Macht, welcher sich hieraus ableitet, ist demnach durch die Charakteristika der De-Zentralität sowie der Pluralität gekennzeichnet. Dies hat Konsequenzen nicht nur für den Begriff des Subjekts, sondern auch für Nietzsches Begriff der Souveränität: Denn genauso wie bei Foucault wird auch bei Nietzsche Souveränität nicht als Verfügungsgewalt eines unabhängigen Subjekts verstanden. Dafür ist bei Nietzsche jeder Einzelne zu sehr in relationale Kräfteverhältnisse eingebunden. Foucault richtet seinen Blick vor allem in seinen mittleren und späteren Schriften auf die Untersuchung „post-souveräner Machtmechanismen“ (Muhle 2013, S. 254). Macht wird also von Foucault in diesem Zusammenhang sehr nietzscheanisch gedacht: „die Macht ist nicht eine Institution, ist nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger“ (SW I, S. 114). Dieser horizontale, de-zentrale und plurale Machtbegriff, welchen Nietzsche wie Foucault vertreten, macht ein Verständnis von Souveränität im klassischen Sinne, d. h. im Sinne einer hierarchisch organisierten Herrschaft über andere, undenkbar. Trotz der teilweise brachialen Ausdrucksweise ist also auch bei Nietzsche keinesfalls eine Form von Souveränität angesprochen, welche sich unabhängig und lediglich Kraft der eigenen Gewalt auf andere und auf sich selber richtet.
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dem Terminus des Sich-Selbst-Gesetzgebenden beschrieben (vgl. FW 335, KSA 3, S. 563). Nietzsches Experimentalphilosophie, welche auf Perspektivismus und Nominalismus gründet, und in welcher sich eine freie und künstlerische Selbstgestaltung vollzieht, hat also ihr philosophiehistorisches Äquivalent zum einen in Foucaults Methode der kritischen Genealogie von Subjektivität. Zum anderen spiegeln sich Nietzsches Ausführungen zur künstlerischen Erschaffung der eigenen Identität auch in Foucaults Analyse antiker und spätantiker Selbstpraktiken und der sich hierin ausdrückenden Ästhetik der Existenz wider, in welcher das eigene Dasein zum Kunstwerk gestaltet werden soll (vgl. SW II, S. 118 f.). Der grundsätzlich künstlerische (weil erschaffende) Charakter allen Deutens und Auslegens bringt Nietzsche auch dazu, die eigentlichen Philosophen und somit auch die souveränen Individuen mit dem Typus des Künstlers in Verbindung zu bringen (vgl. JGB 213, KSA 5, S. 148; GT Versuch 2, KSA 1, S. 13 f.). Deutlich wird dies vor allem, wenn Nietzsche von der Umwertung der Werte spricht, durch welche sich die eigentlichen Philosophen bzw. die souveränen Individuen selbst konstituieren sollen: „Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber: (…) Ihr ‚Erkennen‘ ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist – Wille zur Macht“ (JGB 211, KSA 5, S. 145). Da alles Erkennen notwendig ein Erschaffen und Interpretieren ist, so bietet sich für die eigentlichen Philosophen in dem dynamischen und pluralistischen Kampf der Willen-zur-Macht auch die Möglichkeit, bestehende Werte, Meinungen und ‚Wahrheiten‘ umzuinterpretieren und neu zu bewerten. Insofern es den Philosophen gelingt, die alten Werte in Bewegung zu bringen, sie wieder ‚flüssig‘ werden zu lassen, birgt dies die Chance, dass die Früchte ihrer Erkenntnisse herrschend und somit zu neuen Gesetzen und Handlungsanleitungen werden. Ihr Wille zur Wahrheit strebt daher nicht nach objektiver Erkenntnis, sondern danach, neue, für alle verbindliche Wahrheiten zu schaffen, deren Wert nicht mehr in ihrer objektiven Richtigkeit oder Falschheit, sondern in ihrer Funktion für das Hervorbringen außergewöhnlicher Individuen liegt.²²
Ganz in diesem nietzscheanischen Sinne schreibt Veyne auch über Foucault: „[K]nowledge is only power, radically, for one can only speak truly by virtue of the force of the rules imposed at one time or another (…). Thus by truths we do not mean true propositions to be discovered or accepted but the set of rules that make it possible to utter and to recognize those propositions held as true“ (Veyne 1997, S. 227). Zu den Überschneidungen zwischen Nietzsches Perspektivismus und Foucaults Wahrheitsauffassung vgl. Simpson 2012, S. 101 f. Gemeinsam ist Nietzsche und Foucault demzufolge, dass sie beide Wahrheit pluralistisch und somit als Fiktionen begreifen, welche auf gesellschaftspolitische Machtausübung zurückgehen. Eine kreative und aktive Auflösung und Transformation solcher ‚Wahrheiten‘, wie es Foucault und Nietzsche vorschwebt, hat seinen Vorreiter auch in der kynischen Form der parrhesia, die Wahrheit nicht epistemologisch, sondern lebensphilosophisch versteht (vgl. Simpson 2012, S. 102, 106 f.). Im mutigen Wahrsprechen ist der Einzelne in die Lage versetzt, auch epistemologische Grundsätze in Bewegung zu bringen und somit neue Formen des Weltverhältnisses zu etablieren: „For those involved in the parrhesiastic game, parrhesia represents a way of rupturing con-
4.2 Selbstsorge und Selbstkonstitution bei Nietzsche und Foucault
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Jenes Thema von der Umwertung der Werte, das ein stehender Terminus bei Nietzsche ist, findet sich auch in Foucaults Analysen des kynischen Lebens: Was ich (…) hervorheben möchte, ist, (…) daß jene Umprägung der Münze, jene Änderung ihres Werts die so beständig mit dem Kynismus verbunden sind, zweifellos so etwas wie folgendes bedeuten: die Formen und Gewohnheiten, die gewöhnlich die Lebensweise kennzeichnen und ihr ihre Gestalt geben, gilt es, durch das Bildnis der Prinzipien zu ersetzen, die traditionellerweise von der Philosophie angenommen werden (MW, S. 318).
Foucault bestimmt die Aufgabe der Philosophie in einem Interview darin, aktiv zu sein, d. h. selbst an der Veränderung der Gesellschaft teilzunehmen und eine Umwertung der Werte voranzutreiben: Philosophie als Aktivität. Denn Philosophie ist eine Bewegung, mit deren Hilfe man sich (…) von dem freimacht, was für wahr gilt, und nach anderen Spielregeln sucht. Philosophie ist jene Verschiebung und Transformation der Denkrahmen, die Modifizierung etablierter Werte und all der Arbeit, die gemacht wird, um anders zu denken, um anders zu machen und anders zu werden als man ist (DP, S. 22; vgl. JGB 211, KSA 5, S. 145).
Aufgabe der eigentlichen Philosophie ist also, für Nietzsche wie für Foucault, einen Umwertungsprozess sowie eine subjektive Transformation einzuleiten. Wahrheit ist in diesem Zusammenhang ein Synonym für die auf dynamischen Machtprozessen aufbauenden, fest gewordenen Überzeugungen, Regeln und Glaubenssätze einer Gesellschaft, auf denen das Handeln der Einzelnen beruht. Erkennbar ist hier eine Struktur, welche sich mit dem Terminus des hermeneutischen Zirkels fokussieren lässt: Foucault beschreibt zum einen in seiner Spätphilosophie eindeutig Muster, welche sich mit Nietzsches Terminus der Umwertung der Werte sowie des ‚Flüssig-Machens von Wahrheiten‘ beschreiben lassen. Eine solche, auf Nietzsche aufbauende Philosophie trägt jedoch zum anderen dazu bei, eben jene Begriffe – wie z. B. den der Umwertung – bei Nietzsche breiter zu analysieren, indem sie mit dem Gedankenfeld der griechischen Selbstsorge kontextualisiert werden. Bis hierhin ist deutlich geworden: Der Themenkomplex der Ästhetik der Existenz im Sinne eines künstlerischen Erschaffens des eigenen Selbst findet sich nicht nur im Spätwerk Foucaults, sondern auch in dem Nietzsches. Im Folgenden wird gezeigt, dass dies auch für das Problemfeld der parrhesia (als mutiges Aussprechen der Wahrheit) und dem damit verbundenen Lebensstil zutrifft, welcher die praktische Besiegelung der theoretisch erkannten Wahrheit vollzieht (vgl. HS, S. 589). Wahrheit hat also für Nietzsche und Foucault einerseits einen gesellschaftlichen Aspekt (Regeln und Glaubensartikel), andererseits aber auch ein subjektives Moment. Und dieses drückt sich in dem persönlichen Risiko für denjenigen
ventional logic and opening up a new field of relations in which both parrhesiast and listener may begin to operate“ (Simpson 2012, S.107).
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aus, der die Wahrheit ausspricht, da er sich selbst über seinen Lebensstil an diese Wahrheit bindet. Die Beschreibung des persönlichen Lebensstils sowie die Selbstbeschreibung Nietzsches als Philosophen der Zukunft (und somit als souveränes Individuum) zeigt sich vor allem in dessen später autobiographischer Schrift Ecce homo. Dieses Werk soll nun herangezogen werden, um den Zusammenhang von Wahrheit und Selbstwerdung bei Nietzsche in einem tiefergehenden Sinne zu analysieren, indem das, was von Foucault Mut zur Wahrheit genannt wird, auf jene philosophischen Selbstbeschreibungen Nietzsches angewendet wird. So kann gezeigt werden, dass Nietzsche sich selbst als einen Philosophen inszeniert, welcher die Wahrheit ausspricht und sich auch mutig an das Aussprechen dieser Wahrheit bindet. Dies wird zunächst genauer anhand des bereits besprochenen Terminus der Performanz in Nietzsches und Foucaults Werken erläutert (vgl. Kapitel 3.2 sowie 4.1 dieser Arbeit).
4.2.2 Wahrheit, Stärke und Gefahr Foucault hat in Anlehnung an die Sprechakttheorie die parrhesia als performative Hervorbringung autonomer Subjektivität bestimmt. In Abgrenzung zur Theorie der Sprechakte, in welcher der Sprecher mit seiner Äußerung bereits in eine bestimmte Situation eingebunden ist und dieses bestätigt, so „existiert parrhesia nur, wenn es eine Freiheit in der Äußerung der Wahrheit gibt, eine Freiheit der Handlung, bei der das Subjekt die Wahrheit sagt, aber auch eine Freiheit des Bündnisses, durch das das sprechende Subjekt sich an das Gesagte und die Äußerung der Wahrheit bindet“ (RS, S. 93; vgl. Waldenfels 2012, S. 66 ff.; Austin 1975; Searl 1997; RS, S. 93 ff.). Im selben Zusammenhang kommt Foucault auf Nietzsche zu sprechen und unterstreicht, dass jene parrhesia als mutige Art des Wahrsprechens und des Bündnisses dieser ausgesprochenen Wahrheit mit dem eigenen Leben auch in Nietzsches Werken aufzufinden ist (vgl. RS, S. 94). Ein Beispiel für eine solche, durch die eigene Lebensweise performativ bestätigte Wahrheit ist jene Widmung Nietzsches, die er zwischen das Vorwort des Ecce homo, welches er mit seinem Namen unterzeichnete, und den Beginn des Buches setzt. Der Autor Nietzsche besiegelt mit diesem Exergon seine Lehren sowie das von ihm gelebte Leben (vgl. Derrida 2000, S. 29, 30 ff.; Kittler 2000, S. 78; Kapitel 3.2 der vorliegenden Arbeit). Er besiegelt hiermit auch auf performative Weise die Wahrheit, welche er vertritt (amor fati), indem er die Lehre der ewigen Wiederkehr mit dem von ihm gelebten Leben in Verbindung setzt. Über jene Lehre des amor fati produziert sich Nietzsche somit performativ selbst, zum einen, indem er sich als jemanden vorstellt, der zu dieser Bejahung fähig ist, zum anderen als Autor seiner Schriften, da er seine philosophischen Werke und Positionen durch die ewige Wiederkehr des Gleichen bestätigt:
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ich sah rückwärts, ich sah hinaus (…). Die Umwerthung aller Werthe, die Dionysos-Dithyramben und (…) die Götzen – Dämmerung (…)[.] Wie sollte ich nicht meinem ganzen Leben dankbar sein? – Und so erzähle ich mir mein Leben (EH Motto, KSA 6, S. 263).
Wie kommt nun bei Nietzsche ein Zusammenhang zwischen Wahrheit, Risiko und Subjektivität ins Spiel? Wie erwähnt, beschreibt Foucault eine Verbindung von Nietzsches Philosophie mit jenem kynischen Mut zur Wahrheit: Der Parrhesiastiker (…) ist der Wahrhaftige. Mir scheint (…), daß die Nietzschesche Wahrhaftigkeit eine gewisse Weise ist, diesen Begriff (…) im Sinne eines Risikos für denjenigen aufzufassen, der die Wahrheit ausspricht, als Risiko, das von dem, der sich ausspricht, akzeptiert wird (RS, S. 94).
Untersucht man nun Nietzsches Vorwort aus dem Ecce homo genauer auf Spuren der foucaultschen performativen Subjektkonstitution, so sticht vor allem Nietzsches Rede vom „eigenen Kredit“ (EH Vorwort 1, KSA 6, S. 257) hervor, auf den hin er laut eigener Aussage lebt. Derrida hat dies als eine futuristische Selbstproduktion des Autors interpretiert, d. h. Nietzsches Werk wird erst in der Zukunft und durch die richtigen Leser zu dem, was es sein soll: „Ich selber bin noch nicht an der Zeit, einige werden posthum geboren“ (EH Bücher 1, KSA 6, S. 298; vgl. Derrida 2000, S. 29). Mit der Metapher vom „Kredit“ verbindet sich bei Nietzsche eine starke Empfindung der Einsamkeit: „[E]s ist vielleicht bloss ein Vorurtheil, daß ich lebe?“ (EH Vorwort 1, KSA 6, S. 257). An anderer Stelle spezifiziert Nietzsche dieses Gefühl, indem er als Grund hierfür seine Philosophie nennt: Wer die Luft meiner Schriften zu atmen weiss, weiss, dass es eine Luft der Höhe ist, eine starke Luft. Man muss für sie geschaffen sein, sonst ist die Gefahr keine kleine, sich in ihr zu erkälten. Das Eis ist nahe, die Einsamkeit ist ungeheuer – (EH Vorwort 3, KSA 6, S. 258).
Hier deutet sich noch spezifischer an, worin genau die Gefahr, worin das Risiko besteht, von dem Nietzsche bereits an anderer Stelle gesprochen hat (vgl. JGB 205, KSA 5, S. 132 f.). Die Gefahr, der sich Nietzsche (und hiermit auch der Typus des eigentlichen Philosophen) aussetzt, besteht nicht nur in der extremen persönlichen Vereinsamung, sondern auch darin, sich in seinen Schriften so sehr dem „Fremden und Fragwürdigen im Dasein“ (EH Vorwort 3, KSA 6, S. 258) zu nähern, dass man an den Erkenntnissen, die hieraus folgen, zugrunde geht. Mit jener Rede vom „Fremden und Fragwürdigen“ gibt Nietzsche einen Fingerzeig, inwiefern für ihn die Wahrheit mit Gefahr und Risiko für die eigene Person verknüpft ist, denn seine Formulierung von dem „Fremden und Fragwürdigen“, das er freiwillig aufgesucht hätte, kommt in ähnlicher Form in der Götzen-Dämmerung vor: „Das Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen (…), das nannte ich dionysisch“ (GD Alten 5, KSA 6, S. 160). Wie nun kommt hierbei Nietzsches Begriff von Wahrheit ins Spiel? Wahrheit wird von ihm nicht als objektive, ontologische Wahrheit verstanden, sondern vielmehr eng
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an das Individuum geknüpft: „Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist? das wurde für mich immer mehr der eigentliche Werthmesser“ (EH Vorwort 3, KSA 6, S. 259). Wahrheit ist für Nietzsche also das Kriterium für die Bestimmung der Größe des Menschen (souveräne Individualität). Sie wird, im Sinne Foucaults, mit dem Mut verknüpft: „Jede Errungenschaft, jeder Schritt vorwärts in der Erkenntniss folgt aus dem Muth (…) gegen sich“ (EH Vorwort 3, KSA 6, S. 259). Worin genau besteht nun dieser Mut? Nietzsche spricht in der Götzen-Dämmerung von einem Pessimismus, welcher vor dem Werden und dem Ungewissen im Dasein nicht die Augen verschließt, sondern sogar bejahend danach strebt „die ewige Lust des Werdens selbst zu sein“ (GD Alten 5, KSA 6, S. 160). Er verbindet hier demnach seine Lehre vom Werden mit der Idee der ewigen Wiederkehr sowie seiner Vorstellung des Pessimismus. Einige andere Textstellen aus Nietzsches Spätwerk sollen helfen, den Zusammenhang von Wahrheit, Pessimismus, souveräner Individualität und persönlichem Risiko besser zu verstehen. Es geht um einen Aspekt der Philosophie Nietzsches, welche Wahrheit als eine Wirklichkeit definiert, die grausam, furchteinflößend, unmoralisch und gefährlich ist. Er spricht von der „widrigen, unchristlichen, unmoralischen Wahrheit“ (GM I 1, KSA 5, S. 258) und identifiziert hier Wahrheit mit dem Verbotenen und Tabuisierten. Der Terminus der Stärke taucht hierbei immer wieder im Zusammenhang mit dem Innewerden der Wahrheit auf: Etwas dürfte wahr sein: ob es gleich im höchsten Grade schädlich und gefährlich wäre; ja es könnte selbst zur Grundbeschaffenheit des Daseins gehören, dass man an seiner völligen Erkenntniss zugrunde ginge,– so dass sich die Stärke eines Geistes danach bemässe, wie viel er von der ‚Wahrheit‘ gerade noch aushielte (JGB 39, KSA 5, S. 56 f.).
In der nachgereichten Vorrede aus der Geburt der Tragödie zeichnet Nietzsche ein genaueres Bild von dem Zusammenhang von Wahrheit, Stärke und Pessimismus. Er spricht dort von einem Pessimismus der Stärke: „Giebt es einen Pessimismus der Stärke? Eine intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus Fülle des Daseins“ (GT Versuch 1, KSA 1, S. 12)? Den angsteinflößenden Aspekten des Lebens offenen Auges entgegenzugehen, gilt hier als Indiz für Stärke und Wohlgeratenheit. In den modernen Wissenschaften und in den mit ihnen einhergehenden Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriffen zeigt sich für Nietzsche hingegen eine Verdrängung dieser Aspekte: [W]as bedeutet überhaupt, als Symptom des Lebens angesehn, alle Wissenschaft? (…) Ist Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus? Eine feine Notwehr gegen – die Wahrheit? (GT Versuch 1, KSA 1, S. 12 f.).
Was genau ist es nun für Nietzsche, das so furchteinflößend an dieser Wahrheit ist?
4.2 Selbstsorge und Selbstkonstitution bei Nietzsche und Foucault
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Zuerst bezeichnet er als furchteinflößend, dass in dieser wahren Welt des Werdens die Dualismen wie die vom ‚Subjekt und Objekt‘ oder von der ‚Innen- und Außenwelt‘ ihre Gültigkeit verlieren. Es ist demzufolge nicht möglich, Aussagen über einen Abgleich mit der Wirklichkeit auf ihren Wahrheitsgehalt zu befragen (Korrespondenztheorie). Auch lässt sich nicht mehr über Begriffsnetze und der Konstruktion voneinander isolierter, fest-stehender Gegenstände eine Orientierung im Leben schaffen. In dieser werdend-dynamischen Wirklichkeit entfällt also die für das Leben und Überleben so unabdingbare Ordnung (vgl. FW 344, KSA 3, S. 574 f.). Furchteinflößend scheint jedoch vor allem der Umstand, dass in einer stets ‚flüssigen‘, heraklitischen Welt des Werdens kein endgültiger Sinn mehr produziert werden kann. Denn es ist an diesem Punkt nicht mehr möglich, ein substanzielles Sein oder Ich und somit eine Einheitlichkeit zu konstruieren, von der sich ein dauerhafter und allgemeingültiger Zweck des Daseins ableiten würde. Der von Nietzsche vertretene Heraklitismus entbehrt, da eine übersinnliche Welt zurückgewiesen wird, also auch einer praktischen Zielgerichtetheit. Der Einblick in den chaotischen, werdenden, anti-teleologischen Charakter des Daseins bringt demzufolge nicht nur einen erkenntnistheoretischen, sondern auch einen praktischen Nihilismus mit sich: Diese zwei Einsichten gegeben, daß mit dem Werden nichts erzielt werden soll und daß unter allem Werden keine große Einsicht waltet, in der der einzelne völlig untertauchen darf, wie in einem Element höchsten Werthes: so bleibt als Ausflucht übrig, diese ganze Welt des Werdens als Täuschung zu verurtheilen und eine Welt zu erfinden, welche jenseits derselben liegt, als wahre Welt (NL 1887– 1888, KSA 13, 11[99] 1, S. 47 f.).
Diese wahre Welt, welche auf Platonismus und Christentum zurückgeht, wird von Nietzsche demzufolge als eine falsche Welt bezeichnet. Und die in der Tradition als falsch bezeichnete Welt des Werdens, des Scheins, der Ungewissheit und der Unordnung wird umgekehrt zur wahren Welt (vgl. GD Fabel, KSA 6, S. 80 f.). Jedoch garantieren jene Schein-Wahrheiten die zum Leben wichtige Ordnung der Wahrnehmung und der Lebensvollzüge (vgl. FW 344, KSA 3, S. 576 f.). Nietzsche beschreibt das, was von der Tradition mit Wahrheit bezeichnet worden ist, in seiner berühmten Formulierung dementsprechend auch als die Art von Irrtum „ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte“ (NL 1885, KSA 11, 34 [253], S. 507). Somit bedeutet umgekehrt die genealogische Kritik von Begriffen wie Subjekt, freier Wille, Substanz oder Ding (vgl. GD Irrthümer 3, 4, 7, KSA 6, S. 90 ff., 95 f.) und die hiermit verbundene Einsicht in den chaotischen, sinnfreien, zufälligen und unmoralischen Charakter der Welt eine große Gefahr, untergräbt sie doch die zum Leben notwendigen Irrtümer und Schein-Wahrheiten. Nietzsche unterscheidet hierauf aufbauend in FW 370 zwei Typen von Menschen: diejenigen, welche „das Verlangen nach Starrmachen, Verewigen, nach Sein“ umtreibt, und diejenigen, die „das Verlangen nach Zerstörung, nach Wechsel, nach Neuem, nach Zukunft, nach Werden“ empfinden. Letzteres kann laut Nietzsche „Ausdruck der übervollen, zukunftsschwangeren Kraft sein“, ersteres kann „jener
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tyrannische Wille eines Schwerleidenden, Kämpfenden, Torturirten sein, welcher das Persönlichste, Einzelnste, Engste, die eigentliche Idiosynkrasie seines Leidens noch zum verbindlichen Gesetz und Zwang stempeln möchte“ (FW 370, KSA 3, S. 621, 622). Schwach sind demnach die, welche die wahre, chaotische und unmoralische Welt des Werdens „verdünnt, verhüllt, versüsst, verdumpft, verfälscht nötig“ (JGB 39, KSA 5, S. 57) haben und somit jenseitige, übersinnnliche Konstrukte wie Gott, Substanz, Ding oder Subjekt entwerfen müssen, um sich im Leben zu halten, d. h. um Sicherheit im Handeln zu erlangen und um nicht an der Reizüberflutung zugrunde zu gehen, welche in der Erkenntnis der dionysischen Welt des Werdens liegt. Die Starken hingegen sind diejenigen, welche mit der Tatsache leben und umgehen können, dass es keine Wahrheit gibt, d. h. dass im bloßen Werden und Fließen kein festes Sein ausgemacht und somit auch kein verbindlicher Sinn für das eigene Leben abgeleitet werden kann. Die Philosophen der Zukunft, welche sich Nietzsche wünscht und herbeisehnt, zeichnen sich also gerade nicht durch ein maximal gefestigtes Weltbild aus, sondern sie sind umgekehrt sowohl in der Lage, die eigenen Standpunkte ‚ein- und auszuhängen‘ als auch die damit zusammenhängende Einsicht zu akzeptieren, dass in der Welt eine feste Ordnung fehlt: „Welche werden sich als die Stärksten (…) erweisen? Die Mäßigsten, die, welche keine extremen Glaubenssätze nöthig haben, die, welche einen guten Theil Zufall, Unsinn, nicht nur zugestehen, sondern lieben (…): Menschen die ihrer Macht sicher sind“ (NL 1886 – 1887, KSA 12, 5[71] 15, S. 217). Stärke bedeutet also, eine ständige Offenheit der Welt gegenüber beizubehalten. Dies bedeutet, in einer für Nietzsche überraschend ‚demokratischen‘ Wendung, den eigenen Gesichtspunkt zu erweitern und zu relativieren, anstatt ihn zu verabsolutieren und anderen vorzuschreiben. Zuletzt muss jedoch, zumindest bis zu einem gewissen Grade, an jenen Scheingebilden und Selbsttäuschungen festgehalten werden, da wir in einer heraklitischen Welt des Werdens und des Werterelativismus auf Dauer weder in Bezug auf unsere Wahrnehmung (Wahnsinn, Reizüberflutung) noch vom praktischen Aspekt her (Sinngebung) überleben können. Das Erschaffen von zum Überleben notwendigen Schein-Gebilden ist laut Nietzsche ein dem Leben immanenter Prozess: „Werthschätzungen sind Geschaffenes (…). Das Geschaffene muß vernichtet werden, um neuGeschaffenen Platz zu machen (…). Das Werthschätzen selber aber kann sich nicht vernichten: das aber ist das Leben“ (NL 1882– 1883, KSA 10, 5[1] 234, S. 214).²³
Wertschätzungen sind für Nietzsche Annahmen über das Leben, welche auf den Grundlagen des Lebens selbst entstanden sind. „Wertschätzen“ bedeutet, dass der Mensch notwendig Schein-Wahrheiten über das Leben produzieren muss, deren Wahrheit nicht auf theoretischer Richtigkeit, sondern auf der praktischen Notwendigkeit des Überlebens beruht. Der Nützlichkeitsaspekt ist also dem der Erkenntnis vorangestellt. Grundlage der Wertschätzungen sind Nietzsche zufolge die Existenzbedingungen: „Werthschätzungen entstehen aus dem, was wir als Existenzbedingungen glauben: wandeln sich unsere Existenzbedingungen oder unser Glaube darin, dann auch die Werthschätzungen“ (KSA 11, 116).
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Es ist also am Ende immer notwendig, die Werte, unter denen man zu leben beschlossen hat, für die wahren Werte zu halten, auch wenn sie, von einer höheren Perspektive betrachtet, Irrtümer bleiben müssen. Genauso wenig ist es auf Dauer möglich, die Wahrnehmungsstrukturen aufzugeben, durch die hindurch man die Welt ordnet. Die Einsicht in die wahre Welt des Werdens kann also stets nur episodisch stattfinden. Und unsere Kraft bemisst sich danach, inwiefern und inwieweit wir uns einzugestehen in der Lage sind, dass wir den Irrtum nötig haben, um zu überleben. Trotzdem hält Nietzsche zumindest an der Utopie eines mutigen, beständigen Lebens in der Wahrheit fest. In der bereits ausschnittsweise zitierten Textstelle aus der Götzen-Dämmerung findet ein dionysischer Pessimismus seinen Ausdruck, welcher an dem notwendig phänomenalen, zweckfreien und werdenden Geschehen nicht zugrunde geht: Niemand ist dafür verantwortlich, dass er (…) so und so beschaffen ist (…). Er ist nicht die Folge einer eignen Absicht, eines Willens, eines Zwecks (…) es ist absurd, sein Wesen in irgendeinen Zweck hin abwälzen zu wollen. Wir haben den Begriff ‚Zweck‘ erfunden: in der Realität fehlt der Zweck (…). [D]ass die Welt weder als Sensorium, noch als ‚Geist‘ eine Einheit ist, dies erst ist die grosse Befreiung – damit erst ist die Unschuld des Werdens wieder hergestellt (GD Irrthümer 8, KSA 6, S. 96, 97).
Auf die Erkenntnis, dass es in der wahren Welt keine Substanzen, keine autonomen Subjekte, keinen freien Willen und keinen allgemeingültigen Sinn gibt, folgt hier weder eine Überforderung durch die Konsequenzen dieser Einsicht, noch ein resignatives Abgleiten in den Nihilismus. Stattdessen soll die noch nicht durch die menschlichen und philosophischen Deutungen vereinnahmte und daher noch unschuldige Welt des Werdens emphatisch bejaht und begrüßt werden (vgl. GD Alten 5, KSA 6, S. 160). Die nietzscheanische Vision eines souveränen Individuums ist durch einen bedeutenden Anteil von dieser Utopie bestimmt. Denn jenes ‚beständige Riskieren‘, welchem sich der eigentliche Philosoph laut Nietzsche aussetzt (vgl. JGB 205, KSA 5, S. 132 f), wurde erläutert über Nietzsches Rede vom Pessimismus der Stärke, welcher ein Standhalten gegenüber dem wahren Strom des Werdens sowie seine nihilistischen Konsequenzen beschreibt. Im Aushalten und Standhalten dieser Wahrheit – die chaotische, des Werdens – konstituiert sich souveräne Indivdualität und muss sich immer wieder neu bewähren. Dem souveränen Individuum kommt also neben der Fähigkeit zur Umwertung, d. h. zum ‚Füssig-Machen‘ von alten und Schaffen von neuen Werten, auch die Fähigkeit zu, in dem Zustand des nicht-feststellbaren Interpretationsgeschehens zu verharren sowie sich dem Umstand bewusst zu werden, dass alle Wahrheiten nur Schein-Wahrheiten sind, dass alles Fest-Machen immer aus Auslegung und Zurecht-
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Machung besteht, dass jede Wahrheit letztendlich ein Irrtum ist, der dazu dient, sich selbst und die Gattung im Leben zu halten.²⁴ Diese Dialektik von notwendigem Wertschätzen einerseits und dem gleichzeitigen Bewusstwerden andererseits, dass alles Wertschätzen nur vorübergehend ist und seine Ursachen in historischen, religiös-kulturellen sowie physiologischen Dispositionen hat, steht im Zentrum der nietzscheanischen Vorstellung von Souveränität. Souveränität bedeutet demzufolge auch, die eigenen Meinungen, Vorannahmen und Perspektiven innerhalb dieses Gefüges von Schein-Wahrheiten und Wertschätzungen zu betrachten, also auch eine gewisse ironische Distanz zu den eigenen Annahmen zu behalten.²⁵ Auf das Feld der Individualität bezogen bedeutet dies: Im Innewerden des rein phänomenalen Stroms des Werdens kann einerseits keine feste Identität mehr ausgemacht werden, andererseits jedoch wird die Konstitution einer souveränen Individualität eingefordert, welche zu einer Umwertung in der Lage ist. Andersherum ausgedrückt: Die Kritik der bisherigen ewigen Werte nimmt ihren Ausgang gerade über eine Kritik von Begriffen wie Subjekt und Substanz, ‚Ding an sich‘ oder Einheit. Am Ende dieser Kritik steht jedoch wieder das Setzen einer solchen Einheit. Durch die genealogische Kritik am Subjekt- und Substanzbegriff werden bisherige Strukturen und darauf aufbauende Werte und Handlungsmaximen aufgelöst und wieder ‚flüssig‘ gemacht. Und durch die Etablierung neuer Strukturen und Werte (Werden, Wiederkunftsgedanke, amor fati) wird wiederum eine gewisse Festigkeit der Strukturen hergestellt. Eine solche Festigkeit wird nun aber nicht mehr über eine ursächliche, mit sich selbst identische Subjektivität garantiert. Vielmehr verschiebt sich dieser Begriff zugunsten einer pluralen Form von Identität, in welcher der Vielheit und Gegensätzlichkeit der eigenen Existenz in einer souveränen Weise begegnet wird. Dies bedeutet, dass weder einzelne Standpunkte totalisiert werden noch eine feste Ordnung ganz in der Relativität sich widersprechender Perspektiven untergeht (vgl. GD Streifzüge 41, KSA 6, S. 143). Die Subjektsvielheit soll also durchaus unter einem kommandierenden
Siehe hierzu auch die erkenntnistheoretischen Ausführungen des jungen Nietzsche: „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern (…), eine Summe von menschlichen Relationen, die (…) nach langem Gebrauche (…) fest (…) und verbindlich dünken“ (WL, KSA 1, S. 880). Diesem pluralistischen Wahrheitsverständnis lässt sich ein Zitat Ludwig Wittgensteins zur Seite stellen, welches den Prozess der Umwertung eine erkenntnistheoretische Formulierung gibt: „Man könnte sich vorstellen, daß gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die anderen nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionieren; und daß sich dieses Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste flüssig werden“ (Wittgenstein 1970, S. 96; vgl. GM II 12, KSA 5, S. 313 ff.). Die Frage, wie viel Wahrheit jemand verträgt, bezieht sich demnach nicht nur auf die Wahrnehmung der Welt, sondern auch auf die Betrachtung der eigenen Persönlichkeit, d. h. es geht auch um das Vermögen, den eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten ins Auge zu sehen bzw. zu ertragen, dass das Bild, das man sich von sich selbst gemacht hat, möglicherweise eine nützliche Lüge war.
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Instinkt zusammengeführt werden, jedoch unter der Prämisse der grundsätzlichen Offenheit und Dynamik, d. h. der Möglichkeit zum ‚Aus- und Einhängen‘ der Affekte. Bezüglich des Zusammenspiels von Wahrheit, Individualität und Lebenspraxis kann Nietzsches Philosophie hier erneut unter Bezugnahme auf Foucaults späte Analytik der Selbstsorge verdeutlicht werden: Zentral für den foucaultschen Begriff der spätantiken Wahrheitsvorstellung ist die Einheit von Lehre und Lebensvollzügen. Subjektivität im autonomen Sinne kann sich nur konstituieren, wenn man sich mit der Wahrheit, die man lehrt, in Einklang zu bringen versteht: „In welchem Maße, bis zu welchem Grad bin ich tatsächlich fähig, als Subjekt der Handlung und als Subjekt der Wahrheit identisch zu sein“ (vgl. HS, S. 589)? Ganz ähnlich fragt Nietzsche: „Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist“ (EH Vorwort 3, KSA 6, S. 259)?²⁶ Die Frage, die sich Nietzsche letztendlich stellt, bezieht sich demzufolge nicht zuvorderst auf das epistemologische Problem, ob die Wahrheit oder die Außenwelt erkennbar ist, sondern vielmehr darauf, ob das Individuum dazu in der Lage ist, das, was für Nietzsche die Wahrheit ist, auszuhalten. Pointiert ausgedrückt: Das eigentliche Thema der Wahrheitsphilosophie Nietzsches ist nicht die Wahrheit, sondern das Selbst. Hier wird also erneut jene Struktur des hermeneutischen Zirkels offenbar, in welcher die nietzscheanischen und die foucaultschen Überlegungen zur Subjektivität miteinander in Verbindung stehen: Unter Zuhilfenahme der Analytik der Selbstsorge beim späten Foucault kann die Wahrheitskonzeption Nietzsches zurückgeführt werden auf dessen Vision eines souveränen Individuums, welches in der Lage ist, diese Wahrheit zu ertragen und sich hierbei dem Risiko aussetzt, an der Erkenntnis dieser Wahrheit zugrunde zu gehen. Foucaults Methodik, Wahrheit nicht primär erkenntnistheoretisch aufzufassen, sondern sie mit dem „wahre[n] Leben als Ausübung der Souveränität gegenüber sich selbst“ (MW, S. 355) zu identifizieren, ist dabei wiederum von Nietzsche entliehen, wie folgendes Zitat Foucaults deutlich macht: Entweder muß man sich für eine kritische Philosophie entscheiden, die sich als analytische Philosophie der Wahrheit im allgemeinen darstellt, oder für ein kritisches Denken, das die Form einer Ontologie unserer Selbst annimmt (…). Diese Form der Philosophie von Hegel (…) über Nietzsche (…) usw., hat eine Form der Reflexion begründet, der ich mich (…) anschließe (MW, S. 39 f.).
Mit der Schablone einer solchen Wahrheitskonzeption, die auf die Spätantike zurückgeht, lässt sich also auch Nietzsches Vision von Wahrheit und Souveränität deutlich machen.
Es geht also bei Nietzsche wie beim späten Foucault um die Auseinandersetzung mit der Frage, zu welchem Grad jemand in der Lage ist, mit der Wahrheit, die er lehrt, identisch zu sein. Eine völlige Identifikation mit der Wahrheit ist demnach nicht möglich.
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Die Frage danach, inwiefern wir in der Lage sein können „als Subjekt der Handlung und als Subjekt der Wahrheit identisch zu sein“ (HS, S. 589), beschäftigt auch Nietzsche: Er fragt danach, inwiefern es möglich ist, dass wir uns die Wahrheit, die wir erkannt haben, auch einverleiben können, d. h. ob und wie wir auch praktisch-leiblich mit ihr umgehen und nach ihr leben können: „Inwieweit verträgt die Wahrheit die Einverleibung? – das ist die Frage, das ist das Experiment“ (FW 110, KSA 3, S. 471; vgl. Brusotti 1997, S. 424 ff.). Nietzsche führt aus, dass sich diese Einverleibung als besonders schwer herausstellt, weil die Wahrheit, welche einverleibt werden soll, sich eigentlich jeder Einverleibung entzieht, da sie ja gerade die Einsicht in die notwendige Falschheit aller sogenannten Wahrheiten bedeutet. Eine Identifikation mit einer solchen Wahrheit muss also besonders schwer fallen. Denn der Wille zur Wahrheit hat sich soweit von der eigentlichen Funktion jeglicher Wahrheiten, welche darin besteht, das Überleben zu sichern, entfernt, dass er selbst zur Gefahr für das Leben geworden ist: „Der Denker: das ist jetzt das Wesen, in dem der Trieb zur Wahrheit und jene lebenserhaltenden Irrtümer ihren ersten Kampf kämpfen, nachdem auch der Trieb zur Wahrheit sich als eine lebenserhaltende Macht bewiesen hat“ (FW 110, KSA 3, S. 471). Der Widerstreit, der hier beschrieben wird, besteht demnach in der Frage, ob es möglich ist, eine Wahrheit zur Grundlage des Handelns zu machen, die ihrem Wesen nach eigentlich jegliches Handeln unterbindet und nur in einer vorübergehenden Kontemplation erkannt werden kann. In diesem Zusammenhang sticht ein Nachlass-Zitat von Nietzsche hervor, welches zunächst zu suggerieren scheint, dass Nietzsche eine Stufenfolge von ‚höheren Wesen‘ vorschwebt, an deren Ende ein Wesen steht, welches die Wahrheit auch dauerhaft ertragen kann: Beschwörung der Wahrheit aus dem Grabe.Wir schufen sie, wir weckten sie auf: höchste Äußerung des Muthes und des Machtgefühls (…). Wir ringen mit ihr – wir entdeckten, daß unser einziges Mittel, sie zu ertragen, das ist ein Wesen zu schaffen, das sie erträgt (NL 1883, KSA 10, 21[6], S. 602; vgl. NL 1883, KSA 10, 16[86], S. 529 f.).
Dieses zukünftige Wesen, das allein zur ständigen Bejahung der Wahrheit fähig ist, bleibt also in dieser Interpretation ein zukünftiges Ereignis, welches durch die Umwertung der Werte, die die eigentlichen Philosophen vollziehen, nur vorbereitet und angekündigt werden kann. Das Bild von einer zeitlichen Reihenfolge führt jedoch in die Irre. Nietzsche betonte gerade den nicht-chronologischen Charakter des Auftauchens großer Individuen: „Nicht was die Menschen ablösen soll in der Reihenfolge der Wesen, ist das Problem (…). Die Menschheit stellt nicht eine Entwicklung zum Besseren oder Stärkeren oder Höheren dar (…). Der ‚Fortschritt‘ ist bloss eine moderne Idee, das heisst eine falsche Idee“ (AC 3, 4, KSA 6, S. 170, 171). Zudem betont er, dass der ‚höhere Typ‘ Mensch bereits schon existiert hat und auch wieder auftauchen wird und dass auch die Umwertung der Werte keinen Prozess
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darstellt, der von einem bestimmten Geschlecht von Philosophen begonnen und in erst ferner Zukunft abgeschlossen sein wird: „[W]ir selbst, wir freien Geister, sind bereits eine ‚Umwerthung der Werte‘“ (AC 13, KSA 6, S. 179). Das Wesen, das in der Lage ist, den Gedanken der Formlosigkeit und des Chaos dauerhaft zu ertragen und zu bejahen, ist demzufolge nicht ein Wesen, das noch niemals existiert hat und erst in der Zukunft erschaffen werden kann, sondern die Konstitutierung dessen, was man souveräne Individualität nennen kann, vollzieht sich sehr viel konkreter und unspektakulärer. Für Nietzsche besteht die entscheidende Frage darin, „welchen Typus Menschen man züchten soll“ (AC 3, KSA 6, 170). Es geht also darum, solche Individuen, die in der bisherigen Geschichte der Menschheit nur zufällig aufgetreten sind, bewusst zu schaffen. Züchten bedeutet in diesem Zusammenhang das Betonen und das Bestärken bestimmter Eigenschaften im Menschen. Dies wiederum soll über asketische Praktiken herbeigeführt werden (vgl. EH klug 10, KSA 6, S. 295 ff.). Diese Überlegung korrespondiert wiederum mit Foucaults Gedanken einer selbst bestimmten Form von Subjektivität, in welcher es darum geht, über Techniken asketischer Selbstbeherrschung bestimmte Eigenschaften in sich zu stärken, während andere bewusst geschwächt werden sollen. Askese ist demnach „die Gesamtheit, die (…) Abfolge der Verfahren, mittels derer das Individuum diese paraskeue ausbilden, endgültig fixieren, periodisch aktivieren und, falls nötig, verstärken kann“ (HS, S. 401). Es geht also um die Frage, ob, und wenn ja, wie die Wahrheit vom menschlichen Sinnesapparat leiblich-physiologisch, aber auch geistig verarbeitet und verkraftet werden kann. Die Frage danach, ob die Wahrheit auch einverleibt werden kann, wird noch durch den Gedanken der ewigen Wiederkehr verstärkt. Denn, dass es das Chaotische, Formlose und Sinnlose ist, das wiederkehrt, macht das folgende Zitat in seiner ganzen niederschmetternden Konsequenz deutlich: Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten [Hervorhebung durch den Verf. – J. H.] Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: ‚die ewige Wiederkehr‘. Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das ‚Sinnlose‘) ewig! (NL 1886 – 1887, KSA, 12, 5[71] 6, S. 213).
Diesem Gedanken standzuhalten, ohne ihn dabei zu verharmlosen, dies ist eine ständige und nicht final lösbare Aufgabe, sie erfordert, im foucaultschen Vokabular gesprochen, eine ständige Arbeit an sich selbst. Diese besteht bei Nietzsche in der asketischen Züchtung bestimmter Eigenschaften in sich, welche uns in die Lage versetzen sollen, dem Gedanken der ewigen Wiederkehr des Sinnlosen standzuhalten und ihn sogar ekstatisch zu bejahen. Wie man sich nach Nietzsche psychologisch und physiologisch in diese Lage versetzen kann, wird im folgenden Abschnitt erläutert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Nietzsche grundsätzlich folgendes Bild entwirft:
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Der erkenntnistheoretischen These vom dionysischen, chaotischen Interpretationsgeschehen folgt die Einsicht in die Gewordenheit und grundlegende Relationalität aller Werte. Jenes Geschehen wird von Nietzsche übersetzt in eine Dynamik der Willen-zur-Macht-Quanta, welche in einem reziproken Verhältnis zueinander stehen und um Vorherrschaft und Interpretationshoheit kämpfen. Foucault und Nietzsche eint also die grundsätzliche Annahme, dass hinter den ewigen Werten, hinter Begriffen wie Sein, Substanz oder Subjekt in Wirklichkeit dynamische Machtprozesse stehen, welche diese Einheiten erst konstituieren. Aus dieser Einsicht leitet Nietzsche die genealogische Methode ab, welche von Foucault übernommen wird. Mit dieser Methode wird eine Rück-Übersetzung jener Begriffe in die diesen vorgängigen, dynamischen Prozesse der Willen-zur-Macht-Quanta geleistet. Innerhalb dieses genealogischen Prozesses bilden sich auch notwendig neue Formen von Subjektivität. Denn in der auflösenden, dekonstruierenden Analyse formen sich auch Neu-Auslegungen von dem, was zuvor mit autonomer Subjektivität umschrieben worden ist. Souveräne Individualität bei Nietzsche bzw. autonome Subjektivität bei Foucault formen sich also auch in diesem Prozess der genealogischen Auflösung und Neu-Bewertung von Substanz- und Subjektbegriffen. In der genealogischen Methode werden jene ewigen Werte von Nietzsche konkret zurückgeführt auf die Existenzbedingungen sowie die physiologischen Dispositionen der Menschen. Nietzsche unterscheidet daraufhin zwischen dem Typus der décadents und dem des höheren Menschen. Ersterer erschafft auf der Grundlage seiner physiologischen Benachteiligung nihilistische, weil letztlich lebensverneinende, Werte und Vorstellungen (Jenseitsglaube, christliche Askese, Subjekt, Gott, Ding an sich), um sich im Leben zu halten. Die höheren Menschen hingegen konstituieren sich gerade in der kritischen Genealogie dieser Werte und konstruieren ihrerseits Vorstellungen, die dem Leben, welches durch Werden, Chaos und Überwältigungsprozesse bestimmt ist, näher kommen. Das zentrale Gegenideal zum lebensverneinenden asketischen Ideal ist hierbei der auf der Lehre der ewigen Wiederkehr aufbauende amor fati.
4.2.3 Amor fati, Souveränität und Selbstsorge Nietzsche möchte niemanden zu seinem Ideal überreden, „weil wir Niemandem so leicht das Recht darauf zugestehn“ (EH Zarathustra 2, KSA 6, S. 238). Das, was Nietzsche Wahrheit nennt, steht zu erkennen also nur wenigen Menschen zu. Dies hat seine Ursache darin, dass nur der, welcher eine besondere, starke Konstitution besitzt, dazu in der Lage ist, die Realität, wie sie wirklich ist, zu erkennen und einzusehen,
4.2 Selbstsorge und Selbstkonstitution bei Nietzsche und Foucault
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warum die Werte des asketischen Ideals (Christentum, Platonismus, wahre Welt) nihilistisch sein müssen²⁷: Die Erkenntnis, das Jasagen zur Realität ist für den Starken eine ebensolche Nothwendigkeit, als für den Schwachen, unter der Inspiration der Schwäche, die Feigheit und Flucht vor der Realität – das ‚Ideal‘ … Es steht ihnen nicht frei, zu erkennen: die décadents haben die Lüge nötig (EH GT 2, KSA 6, S. 311 f.).
Dies klingt zunächst nach einer quasi-sozialdarwinistischen Unterscheidung zwischen Starken und Schwachen, die sich auf einen naturgegebenen Unterschied zwischen diesen beiden Arten Mensch bezieht und daher auch den ‚höheren Typus‘ notwendig an die Erkenntnis der Wahrheit bindet. Nietzsche jedoch macht deutlich, dass der Einzelne auch aktiv in die Konstitution seiner selbst eingreifen kann und sich somit auch selbst in die Lage versetzen kann, sein Schicksal zu bejahen. Er stellt heraus, dass das, was er „die grosse Gesundheit“ nennt, etwas ist, was „man nicht nur hat, sondern auch beständig noch erwirbt“ (EH Zarathustra 2, KSA 6, S. 338). Für Nietzsche ist die große Gesundheit die „physiologische Voraussetzung“ (EH Zarathustra 2, KSA 6, S. 337) für das Entstehen eines „jasagenden Typus“ (EH JGB 2, KSA 6, S. 350). Die Gesundheit selber ist etwas, das erworben, erhalten und stets erneuert werden muss. Um diese Größe am Menschen, wie es Nietzsche ausdrückt, heranzuzüchten, bedarf es der Sorge um alltägliche Dinge, „um all[e] Ding[e)], die Ernst im Leben verdienen, den Fragen von Nahrung, Wohnung, geistiger Diät, Krankenbehandlung, Reinlichkeit, Wetter“ (EH Schicksal 8, KSA 6, S. 374; vgl. EH klug 10, KSA 6, S. 295 ff.). Die körperlichen Praktiken der Selbstsorge bilden also die Voraussetzung zur Entstehung der großen Gesundheit und diese wiederum ist Voraussetzung für das Erscheinen eines „höheren Typus“, dessen Haupteigenschaft in der Bejahung des Schicksals besteht: „Meine Formel für Grösse am Menschen ist amor fati: dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht“ (EH klug 10, KSA 6, S. 297). Es wurde jedoch erläutert, dass die Härte und Beschwerlichkeit dieses Ideals nicht bloß in der Bejahung aller Ereignisse des eigenen Leben besteht, sondern auch in der Fähigkeit zur Einsicht und Akzeptanz des „Fremden, Fragwürdigen, Furchtbaren“ (EH Zarathustra 2, KSA 6, S. 338) in der Welt. Gemeint ist hiermit der Einblick in den werdenden und ungeordneten Charakter der Wirklichkeit und die hiermit verbundene Einsicht, dass jene furchtbare, werdende, zerstörerische Welt auch die Welt ist, die ewig wiederkehrt:
Siehe hierzu Nietzsches Untersuchung des Aufstiegs und des Niedergangs des asketischen Ideals in GM III 1– 28, KSA 5, S. 339 – 412, insbesondere die Aphorismen 27 und 28.
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
An dieser Stelle (…) muss man den Ansatz machen, um zu begreifen, was Zarathustra will: diese Art Mensch, die er conzipirt, conzipirt die Realität, wie sie ist: sie ist stark genug dazu-, sie ist ihr nicht entfremdet, entrückt, sie ist sie selbst, sie hat all deren Furchtbares und Fragwürdiges auch in sich, damit erst kann der Mensch Grösse haben… (EH Schicksal 5, KSA 6, S. 370).
Es genügt also nicht, das Schicksal zu bejahen, indem man sich vor dieses hinstellt, sondern es gilt, sich selbst als Teil dieses Ganzen zu begreifen, mit dem man unauflöslich verstrickt ist: „Die Fatalität seines Wesens ist nicht herauszulösen aus der Fatalität alles dessen, was war und was sein wird“ (GD Irrthümer 8, KSA 6, S. 96). Das, was einen an der Wahrheit so erschreckt, nämlich die Erkenntnis einer amoralischen und anti-teleologischen, fließenden und flüssigen Wirklichkeit, muss also auch auf das eigene Selbst übertragen werden. Schicksalsbejahung bedeutet demzufolge auch Selbstbejahung im Sinne einer Einsicht und Einwilligung in den dynamischen, ordnungsfreien, werdenden und nicht definitiv fixierbaren dionysischen Charakter auch der eigenen Identität. Die „Wahrheit“ (EH Vorwort 3, KSA 6, S. 259), das Gegen-Ideal zum asketischen Ideal, von dem Nietzsche spricht, besteht also in einem auf die Zukunft projizierten Ideal eines „menschlich-übermenschlichen Wohlseins“ (EH Zarathustra 2, KSA 6, S. 338), einer Gesundheit, die es ermöglicht, das Dasein auch in seinen größten Problematiken und Ungewissheiten zu akzeptieren: [W]ir Frühgeburten, einer noch unbewiesenen Zukunft – wir bedürfen zu einem neuen Zwecke auch eines neuen Mittels, nämlich einer neuen Gesundheit (…) wir Argonauten des Ideals, muthiger vielleicht als klug ist, (…) gefährlich gesund (…), als ob wir dafür ein noch unentdecktes Land vor uns haben, (…) ein Jenseits aller bisherigen Länder und Winkel des Ideals, eine Welt so überreich an Schönem, Fremdem, Fragwürdigem, Furchtbarem [Hervorherbung durch den Verf. – J. H.] und Göttlichem, dass unsre Neugierde ebensowohl als unser Besitzdurst ausser sich gerathen sind (…). Ein andres Ideal läuft vor uns her, ein wunderliches, versucherisches, gefahrenreiches Ideal (…): das Ideal eines Geistes, der (…) mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess (FW 382, KSA 3, S. 635, 636, 637).
An diesem ungemein dichten Zitat wird zum einen deutlich, dass der Mensch des neuen Ideals zu einer Umwertung der Werte imstande ist, dass seine Gesundheit aber auch eine Gefahr mit sich bringt, welche darin besteht, dass das, was bisher als wahr und richtig erschien, als Lüge entlarvt wird. Eine Gefahr birgt diese Lehre also in erster Linie für die Schwachen und Schlechtweggekommenen, welche die Wahrheit nötig haben: „Aber meine Wahrheit ist furchtbar: denn man hiess bisher die Lüge Wahrheit“ (EH Schicksal 1, KSA 6, S. 365). Die Gefahr einer Umwertung, die in ihrer Hautstoßrichtung die Bejahung der ewigen Wiederkehr zum Ziel hat, stellt für den Typus des décadents eine Gefahr dar, weil dieser nicht die Disposition besitzt, dem Gedanken der ewigen Wiederkehr der diesseitigen Welt standzuhalten. Darüber hinaus würde hierdurch die Welt des décadents, welche durch die Perspektive der Schuld und der Verantwortlichkeit gedacht wird, in Frage gestellt und ihr nihilistischer Kern entlarvt werden.
4.2 Selbstsorge und Selbstkonstitution bei Nietzsche und Foucault
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Die Gefahr und das Versucherische, von dem Nietzsche in Bezug auf sich und die zukünftigen Philosophen spricht, besteht zudem darin, dass in dem dynamischen und offenen Spiel mit dem, „was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess“ (FW 382, KSA 3, S. 637), die negativen Aspekte, das Fremde und Fragwürdige die Überhand gewinnen und sich somit das Ideal des amor fati, welches unauflöslich mit der Konstitution eines souveränen Individuums verknüpft ist, nicht durchsetzen wird. Somit lässt sich sagen: Für Nietzsche sind alltägliche, praktische Techniken der Selbstsorge (Achtsamkeit für Ort und Klima, geistige Diät) Grundlagen für die Hervorbringung einer großen Gesundheit im Menschen, welche wiederum dazu beiträgt, einen Typus zu konstituieren, der sowohl dazu in der Lage ist, zu allen Erlebnissen seines Lebens ja zu sagen als auch dazu, dem unheimlichen, amoralischen und werdenden Charakter der Wirklichkeit (Wahrheit) ins Auge zu sehen und diesen zu bejahen (amor fati). Die große Gesundheit ist somit das Mittel zum Zweck des amor fati (vgl. FW 382, KSA 3, S. 635 f.). Der zu diesem Ja-Sagen fähige Mensch ist das souveräne Individuum. Dieses konstituiert sich über einen autonomen und selbstgewissen Umgang mit seinen Affekten, was wiederum durch Techniken der Askese gewährleistet wird. Diese Techniken dienen dazu, die eigene Bedürfnisstruktur so weit wie möglich zu beeinflussen und zu hierarchisieren. Anhand dieser Zusammenfassung wird deutlich, dass sich souveräne Individualität bei Nietzsche strukturell mit den Analysen des späten Foucault zur Selbstsorge erklären lässt: Denn dieser stellt die asketisch-leiblichen Techniken an den Anfang einer Strukturierung der eigenen Persönlichkeit, welche sowohl dazu in der Lage ist, die Wahrheit auszusprechen, als auch dazu, seine eigene Existenz mit dieser Wahrheit in Einklang zu bringen: „Die askesis macht aus dem Wahr-Sprechen eine Seinsweise des Subjekts“ (HS, S. 400 f.; vgl. HS, S. 397). Die asketischen Praktiken der Selbstsorge erlauben es dem Individuum also, sich als ein Subjekt zu konstituieren, das in der Lage ist, auch sein persönliches Handeln nach der Wahrheit, welche es erkannt hat, zu richten. Es wurde bereits auf den selbsttransformativen Charakter von Nietzsches Lehre der ewigen Wiederkehr verwiesen, welcher darin besteht, jenen, der ihn denkt, zu „verwandeln und vielleicht [zu] zermalmen“ (FW 341, KSA 3, S. 570). Dass das Subjekt, welches einen solchen Gedanken denkt und ausspricht und sich mit diesem identifiziert, damit auch automatisch selbst eine Transformation durchläuft, hat Foucault, auch unter Bezugnahme auf Nietzsches Lehre der ewigen Wiederkehr, hervorgehoben (vgl. Schmid 1991, S. 327 f.). Dass sich aber dahinter noch ein sehr viel grundsätzlicherer Aspekt verbirgt, macht folgendes Zitat aus einem Interview mit Foucault deutlich. Das Subjekt ist bei ihm philosophisch grundsätzlich etwas, das nicht nur die Welt um sich, sondern auch sich selbst beständig produziert und konstituiert. Dies setzt erkenntnistheoretisch eine prinzipielle Dynamik und Offenheit der Subjektivierungsprozesse voraus. In einem Interview sagt Foucault hierzu:
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
‚Aus der Idee, daß uns das Selbst nicht gegeben ist, kann meines Erachtens nur eine praktische Konsequenz gezogen werden: wir müssen uns selbst als Kunstwerk erschaffen (…)[,] wir sollten nicht jemandes schöpferische Tätigkeit auf eine Art des Selbstverhältnisses zurückführen, sondern die Art seines Selbstverhältnisses als eine schöpferische Tätigkeit ansehen.‘ ‚Das klingt wie Nietzsches Beobachtung in der Fröhlichen Wissenschaft (Nr. 290), man sollte das eigene Leben schaffen, indem man ihm durch lange Übung und tägliche Arbeit Stil gibt.‘ ‚Ja[.]‘ (GE, S. 274).
Nietzsche umschreibt das souveräne Individuum mit der Rede von den „Sich-selberSchaffenden“ (FW 335, KSA 3, S. 563) oder den „Dichtern unseres Lebens“ (FW, 299, KSA 3, S. 538). Dies ist eine Einstellung, die Foucault in bewusster Bezugnahme auf Nietzsche auch für seine eigene Subjektphilosophie als konstitutiv betrachtet: „Wir müssen uns das, was wir sein könnten, ausdenken und aufbauen“ (SM, S. 250). Nietzsches Lehre der ewigen Wiederkehr kann umgekehrt unter Bezugnahme auf Foucaults Theorie von der performativen Kraft der parrhesia interpretiert werden: Derjenige, der überhaupt fähig ist, den Gedanken der ewigen Wiederkehr zu denken, auszusprechen und zu bejahen, der wird rückläufig auch in seinem Subjektsein konstitutiv und grundsätzlich verändert: „Der Gedanke der Ewigen Wiederkehr hat eine andere Seinsweise zur Folge, die nicht mehr die des substanziellen Subjekts ist. Er bewirkt die Veränderung des Selbst von Grund auf, das Zerbrechen des herkömmlichen Subjekts“ (Schmid 1991, S. 327 f.).²⁸ Der amor fati kann auf diese Weise als ein „Kunstgriff der Lebensklugheit“ (Schmid 1991, S. 326) gedeutet werden, wie sie Foucault in Anbetracht der antiken Selbstsorge definierte. Die Verbindung von der Lehre der ewigen Wiederkehr mit der antiken Schule der Selbstsorge (und somit auch zu Foucaults später Subjektphilosophie) ist keine unbegründete Annahme, sondern findet seine Bestätigung in konkreten Textstellen. Eine ungeheuer ergiebige Quelle hierfür ist das Nachlassfragment NL 1881, KSA 9, 11 [141]. Hier fließen viele Strömungen des Konzepts vom souveränen Individuum zusammen. Nietzsche spricht dort im Zusammenhang mit der ewigen Wiederkehr von den alltäglichen Praktiken unserer Lebensvollzüge: „Das neue Schwergewicht: die ewige Wiederkehr des Gleichen. Unendliche Wichtigkeit (…) unsrer Gewohnheiten, Lebensweisen für alles Kommende.Was machen wir mit dem Rest unseres Lebens“ (NL 1881, KSA 9, 11[141], S. 494)? Für Nietzsche ist von hervorgehobener Bedeutung, wie wir uns zum Leben verhalten, wenn wir dieses unter der Prämisse der ewigen Wiederkehr des Gleichen betrachten. Die Konzentration auf die alltäglichen Lebensweisen und Lebensvollzüge soll dazu führen, ein Individuum zu konstituieren, welches lernt, den Gedanken der ewigen Wiederkehr zu akzeptieren und zu bejahen. Noch im selben Nachlassfragment
Im amor fati drückt sich der Gedanke aus „die ewige Lust des Werdens selbst zu sein“ (GD Alten 5, KSA 6, S. 160) und somit kann hierin, eingedenk des dionysisch-chaotischen Interpretationsgeschehens, gar kein traditionelles, autonomes Subjekt mehr erzeugt werden (vgl. RS, S. 96 f.).
4.2 Selbstsorge und Selbstkonstitution bei Nietzsche und Foucault
155
spricht Nietzsche erneut von der Einverleibung, einem Begriff, welchen er bereits im Zusammenhang mit dem Innewerden der Wahrheit verwendete (vgl. FW 110, KSA 3, S. 469 ff.). Hier gebraucht er sie, um die Auseinandersetzung mit der ewigen Wiederkehr zu beschreiben, was als erneuter Beweis dafür zählen kann, dass Wahrheit und ewige Wiederkehr für Nietzsche in gewissen Zusammenhängen synonym gesetzt werden: „Wir lehren die Lehre – es ist das stärkste Mittel, sie uns selber einzuverleiben“ (NL 1881, KSA 9, 11[41], S. 494). Für Nietzsches sind also die eigentlichen Philosophen, welche die ewige Wiederkehr lehren, zugleich auch diejenigen, welche sich am besten zur Aneignung dieser Lehre eignen, was auch in der Rede von den „Sich-selber-Schaffenden“ (FW, 335, KSA 3, S. 563) zum Ausdruck kommt. Die Einverleibung dieser Wahrheit (ewige Wiederkehr des Sinnlosen) vollzieht sich in der Einübung bestimmter Selbstpraktiken, die ihr Vorbild im Stoizismus und im Kynismus haben: Philosophie der Gleichgültigkeit (…). Unser Streben des Ernstes ist aber alles als werdend zu verstehen, uns als Individuen zu verleugnen, möglichst aus vielen Augen in die Welt sehen, leben in Trieben, und Beschäftigungen, um damit sich Augen zu machen, zeitweilig sich dem Leben überlassen, um hernach zeitweilig über ihm mit dem Auge zu ruhen: die Triebe unterhalten als Fundament allen Erkennens, aber wissen, wo sie Gegner des Erkennens werden: in summa abwarten, wie weit das Wissen und die Wahrheit sich einverleiben können – und in wiefern eine Umwandlung des Menschen eintritt, wenn er endlich nur noch lebt, um zu erkennen (NL 1881, KSA 9, 11[141], S. 494 f.).
Indem man trainiert, seine eigenen Standpunkte und Leidenschaften ‚aus- und einzuhängen‘, kann man also gewissermaßen spielerisch die eigenen Grenzen ausprobieren und erkennen, bis zu welchem Grade man zur Erkenntnis der Wahrheit fähig ist, ohne an ihr zugrunde zu gehen; bis zu welchem Grade man also mit der Wahrheit, die man lehrt, identisch sein kann (vgl. RS, S. 93; EH Vorwort 3, KSA 6, S. 258 f.). Jenes ‚Aus- und Einhängen‘ geschieht vor dem Hintergrund der nietzscheanischen Grundannahme, dass alle Welt- und Selbsterkenntnis letztlich auf die Struktur unserer Triebe zurückgeht, welche wiederum dem basalen Muster des Für und Wider folgt (vgl. MA I 32, KSA 2, S. 51 f.). Wir können die Wahrheit demzufolge nur in dem Maße erkennen, als dass wir unsere Triebe und Affekte in eine für uns erwünschte Struktur zu bringen versuchen. Dies vollzieht sich für Nietzsche nach der Logik der Pferd-Metapher: „Seine Affekte, sein Für und Wider willkürlich haben und nicht haben, sich auf sie herablassen, (…) sich auf sie setzen wie auf Pferde“ (JGB 284, KSA 5, S. 231). Man soll also Gewalt über seine Affekte haben, ohne sie ganz zu kontrollieren. Man kann also nur lernen, sie zu beeinflussen, indem man sich ihnen periodisch überlässt. Und dies wiederum kann sich nur über eine asketische Lebensweise vollziehen, welche es ermöglicht, die eigenen Triebe und Bedürfnisse in eine selbstbestimmte Hierarchie zu bringen und gegebenenfalls über sie zu verfügen. Souveräne Individualität erzeugt sich also in einem asketischen Einüben bestimmter Sicht- und Lebensweisen, die dazu dienen sollen, ein Leben in der Wahrheit zu erproben, das
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
sich, in Anschluss an Foucault, als eine Form der Subjektivierung beschreiben lässt, welche sich in größtmöglicher Übereinstimmung mit der Wahrheit vollzieht.²⁹ Um jene Wahrheit, d. h. die ewige Wiederkehr des werdenden, nicht-ontologischen, nicht-fest-stellbaren Geschehens zu erfassen, und um sich an und in diesem Gedanken als ein souveränes Selbst zu konstituieren, braucht es laut Nietzsche „Muth und, als dessen Bedingung, ein[en] Überschuss von Kraft“ (EH Tragödie 2, KSA 6, S. 311). Diese Kraft stellt sich her über konkrete Praktiken und Lebensvollzüge, welche letztlich dazu führen sollen, die große Gesundheit zu etablieren (vgl.: EH Zarathustra 2, KSA 6, S. 337 f.). Dieser Zusammenhang lässt sich im Rückblick auf Foucaults Betrachtungen zur antiken Selbstsorge folgendermaßen einordnen: Es geht darum, in einem asketischen Rückzug auf sich selbst, einen Mut zur Wahrheit zu etablieren, der sich als ein wahr gelebtes Leben umschreiben lässt, welches wiederum den anderen provozieren soll, ebenfalls ein solches Leben zu führen. Ein solches Verhältnis des Subjekts zu sich selbst trägt den Charakter der Selbsttransformation (vgl. MW, S. 350 f.). Foucault fasst diesen Vorgang in Bezug auf die Frage nach dem Subjekt folgendermaßen zusammen: [D]die parrhesia [existiert, Anmerkung des Verf. – J. H.] nur, wenn es eine Freiheit in der Äußerung der Wahrheit gibt, eine Freiheit der Handlung, bei der das Subjekt die Wahrheit sagt, aber auch eine Freiheit des Bündnisses, durch das das sprechende Subjekt sich an das Gesagte und die Äußerung der Wahrheit bindet (….). Und in diesem Sinne findet man im Zentrum der parrhesia nicht den sozialen und institutionellen Status des Subjekts, sondern seinen Mut (RS, S. 93).
Das Subjekt, von dem Foucault an dieser Stelle spricht, ist natürlich nicht das autonome Subjekt der neuzeitlichen Tradition, sondern jenes selbstgeschaffene „Kunstwerk“ (GE, S. 274), in welches das Selbst überführt worden ist, nachdem das cartesianische Subjekt dekonstruiert wurde. Im performativ-künstlerischen Akt der parrhesia, d. h. bei Nietzsche, dem Aussprechen des amor fati, wird also auch das Subjekt auf autonome Weise künstlerisch mit erzeugt oder zumindest transformiert und modifiziert. Somit ist der amor fati einer jener „Erfahrungen, in denen das Subjekt seine herkömmliche Identität verliert“ (Schmid 1991, S. 328; vgl. ME, S. 51).³⁰
In der Rede von der „Gleichgültigkeit“ (NL 1881, KSA 9, 11[141], S. 494) zeigt sich zudem, dass für Nietzsche eine Einsicht in den wahren Charakter der Wirklichkeit (Pessimismus der Stärke) nur periodisch möglich ist. Es geht ihm also auch um eine Dialektik vom ‚Aus- und Einhängen‘ der Wahrheit, d. h. souveräne Individualität besteht zum einen darin, den Gedanken der ewigen Wiederkehr emphatisch zu bejahen, und zum anderen in einer bloßen Kontemplation der phänomenalen und chaotischen Vielheit der Ereignisse, in der alle Dinge und Ansichten gleichermaßen sinnlos und lächerlich erscheinen. Das Subjekt, von dem hier die Rede ist, ist bereits durch die Vielheit und Dynamik der mannigfaltigen Willen-zur-Macht-Quanta bestimmt und definiert, stellt also keine substanzielle Wesenheit mehr dar. Das Subjektive ist zudem etwas, das künstlerisch am Individuum erzeugt wird.
4.2 Selbstsorge und Selbstkonstitution bei Nietzsche und Foucault
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Die Äußerung und das Lehren der ewigen Wiederkehr verändert das Subjekt also performativ (vgl. bei Foucault RS, S. 96 f.). Auf diese Weise wird das Individuum zum „Sich-selber-Schaffenden“ (FW 335, KSA 3, S. 563), lebt also unter der Prämisse des von sich selbst Gelehrten, oder, um es im foucaultschen Vokabular auszudrücken: Das Individuum konstituiert sich als Subjekt seiner Handlungen, indem es seine Lebensvollzüge mit der Wahrheit, welche es lehrt, in Einklang zu bringen weiß. Foucault denkt ein solches wahrhaftes Leben unter der Kategorie der Souveränität (vgl. MW, S. 350 f.). Unter Bezugnahme auf Sokrates sowie auf die kynische und stoische Denktradition entwirft er das Bild einer Souveränität, welche sich zum einen dadurch auszeichnet, dass zu sich ein Verhältnis aufgebaut wird, welches den Charakter des Sich-selbst-in-Besitz-Nehmens trägt. Zum anderen besteht Souveränität darin, diese Verfügungsgewalt über sich zu genießen (vgl. MW, S. 351 f.).³¹ Es ist gezeigt worden, dass die römisch-hellenistische Tradition von Foucault als eine Transformation der Selbstsorge hin zu einer stärkeren Selbstbezüglichkeit gewertet wurde. In dieser „Intensivierung des Selbstbezugs“ (vgl. SW, III, S. 57) haben die asketischen Praktiken in erster Linie den Zweck, eine größtmögliche Autonomie der Welt gegenüber zu etablieren. Autonome Subjektivität erzeugt sich also über die asketische Entsagung von der Welt und den Bedürfnissen, die durch sie hervorgerufen werden. Über eine derartige Rückkehr zu einem selber entzieht man sich soweit von der Welt, ihrem Prestige und ihren Anforderungen, dass man über sich nicht nur maximale Macht ausübt, sondern sich selbst auch genießen kann, ist man doch vor allen möglichen äußeren Schicksalsschlägen und Einflüssen gefeit, sodass man sich selbst „genießen kann wie ein Ding, das man zugleich in Besitz und vor Augen hat“ (SW III, S. 90). Foucault konkretisiert diesen Gedanken in Der Mut zur Wahrheit stärker in eine Richtung, die in eine Opposition zu äußerlichen Machtverhältnissen geht. Er analysiert die kynisch-stoische Souveränität als einen „Akt der Besitzergreifung seiner selbst durch sich selbst“ (MW, S. 354): Man genießt sich selbst im souveränen Leben, man findet in sich alle Prinzipien und Grundlagen der wahren Lust, nicht der des Körpers, nicht derjenigen, die von äußeren Dingen abhängt, sondern derjenigen, über die man unbegrenzt verfügen kann, ohne ihr jemals verlustig zu gehen (MW, S. 351).³²
Besonders in Bezug auf Seneca betont Foucault dieses Bestreben, Eigentum seiner selbst zu sein (vgl. MW, S. 351). Foucault akzentuiert darüber hinaus auch den Aspekt der Fürsorge, welcher im Akt des souveränen Lebens liegt, der sich u. a. in der performativen Erzeugung der eigenen Gedanken im anderen über das Verfassen von Texten ausdrückt (vgl. MW, S. 352 f.). Für Foucault ist die Souveränität über sich selbst nicht zu trennen von der Sorge um die anderen: „Sich selbst gegenüber souverän und den anderen nützlich zu sein, sich selbst und nur sich selbst genießen und zugleich den anderen die Hilfe zuteil werden zu lassen, die sie (…) brauchen, das ist im Grunde nur ein und dasselbe“ (MW, S. 354). Ganz im Sinne Nietzsches (vgl. GM 1, 10, KSA 5, S. 270 ff.) ist die Hilfe, die man den anderen angedeihen lässt,
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
Der kynische Kampf um ein souverän gelebtes Leben nimmt also einerseits die Gestalt eines Kampfes gegen sich selbst, andererseits jedoch darüber hinaus die des Kampfes gegen gesellschaftliche Regeln und Konventionen und somit die Gestalt einer nietzscheanischen Umwertung der Werte an (vgl. u. a. MW, S. 398, 404 f.). Wie gezeigt worden ist, ist die foucaultsche und die nietzscheanische Kritik am neuzeitlichen Subjektbegriff auch ein subversives Programm, weil mit dem Subjekt ebenfalls die gesellschaftlichen Mechanismen ins Wanken geraten, die auf dem Gedanken des cartesianischen Subjektmodells aufbauen. Dem muss vor dem Hintergrund des eben Gesagten hinzugefügt werden, dass auch die Souveränitätskonzeptionen des späten Nietzsche und des späten Foucault in einem ähnlichen Sinne subversiv sind, fordern sie doch zum asketischen Verzicht auf und untergraben somit auch die Abhängigkeit zu einer äußeren Welt, welche gerade auf dem Hervorrufen und der Befriedigung bestimmter Begierden und Leidenschaften beruht.³³ In diesem Sinne betont Foucault auch im Zusammenhang mit der kynischen Souveränität den Begriff des philosophischen Aktivismus. Dieser soll die Menschen über die Provokation eines wahr gelebten Lebens dazu bringen, ihre eigenen Wertvorstellungen zu hinterfragen. Foucault spricht vom Aktivismus als von einem zentralen Punkt der Souveränität: „(E)inen offenen, universellen, aggressiven Aktivismus, einen innerweltlichen Aktivismus, der sich gegen die Welt richtet. Das macht, glaube ich, die Einzigartigkeit dieser kynischen Souveränität aus“ (MW, S. 371). Besonders interessant in Bezug auf Nietzsche ist, dass die kynische Souveränität zudem als Schicksalsbejahung charakterisiert wird. Souveränität besteht damit nicht nur im Genuss seiner selbst, sondern auch in der Bejahung seiner selbst und des Schicksals, in das man eingebunden ist: „Die kynische Souveränität begründet die Möglichkeit eines glückseligen Lebens in einem Selbstverhältnis in Form der Annahme seiner Bestimmung (…). Der Kyniker bejaht also sein eigenes Schicksal“ (MW, S. 397; vgl. SW III, S. 81). Diese souveräne Selbstannahme konstituiert sich über asketische Enthaltsamkeit: Durch das Sich-Freimachen von äußerlichen Bedürfnissen können einen selbst die schlimmsten Entbehrungen und Schicksalsschläge nicht mehr treffen. Alle Ereignisse werden vielmehr unter einen neuen Gesichtspunkt, nämlich den der Schicksalsannahme und des Glücks, gerückt: „Und insofern akzeptiert der Kyniker alles, was Zeus will, alles, was Zeus ihm wirklich an Prüfungen zukommen läßt, alle Härten des Lebens, die er erfahren hat. Er akzeptiert sie, indem er ihnen den Stempel der Glückseligkeit und des Glücks aufdrückt (…). Jede Härte des Lebens, jede Ent-
laut Foucault ein „Überschuß“ (MW, S. 354), welcher von einem souveränen, sich selbst besitzenden Leben ausgeht. Dies gilt aus heutiger Sicht insbesondere für jene neoliberalen Diskurse, welche die Ziele des Unternehmens in die Subjektivierungsprozesse des arbeitenden Individuums einbauen, sodass es zu einer Verzahnung von Unternehmensinteressen und innerer Bedürfnisstruktur kommt (vgl. u. a. Rose 1996, S. 58; Krasmann 2000, S. 198; Rose/Miller 1992).
4.2 Selbstsorge und Selbstkonstitution bei Nietzsche und Foucault
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behrung und Frustration, all das kehrt sich in eine positive Übung der Souveränität gegenüber sich selbst um“ (MW, S. 397 f.). Kynische Souveränität entwickelt sich also in einem über asketische Selbstsorgepraktiken vollzogenen Frei-Werden von der Welt, als dessen Konsequenz und Belohnung die Annahme des eigenen Schicksal steht, welche alle Ereignisse, die einem zustoßen, unter der Prämisse der Glückseligkeit deutet. Mit Hilfe der foucaultschen Deutung von Souveränität lässt sich auch Nietzsches Lehre des amor fati in den Kontext kynischer Askeseübungen stellen: Für Foucault zeichnet sich die souveräne Schicksalsannahme des Kynikers dadurch aus, dass auch die negativen Aspekte des Lebens positiv umgedeutet werden, indem sie in einen anderen Zusammenhang gestellt werden. Anhand dieses Musters lässt sich auch Nietzsches Konzept von Souveränität deuten, in dessen Zentrum seine Lehre des amor fati steht. Diese Lehre muss demzufolge als eine lebenspraktische Übung aufgefasst werden, welche die (hypothetische) Annahme der ewigen Wiederkehr als Imperativ auf jedes Handeln setzt. Denn Nietzsche hat in jenem berühmten Aphorismus, welcher den Titel Das größte Schwergewicht trägt, den Gedanken der ewigen Wiederkehr als einen das Handeln bestimmenden Grundsatz vorgestellt: „[D]ie Frage bei Allem und Jedem: ‚willst du diess noch einmal und noch unzählige Male?‘ würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen“ (FW 341, KSA 3, S. 570). Dass alle Ereignisse, auch die fremdesten und fragwürdigsten, bejaht werden, hat seinen Grund nicht etwa darin, dass man alle Ereignisse grundsätzlich als positiv empfindet, sondern darin, dass man sie in einen größeren Zusammenhang setzt. Erst unter der Annahme, dass alle Dinge notwendig miteinander zusammenhängen, können auch die unangenehmen Aspekte des Daseins bejaht werden, da es ohne die negativen auch nicht die positiven und ekstatischen Momente im Dasein geben kann. Erst unter diesem, wie Foucault es ausdrückt, „Stempel“ (MW, S. 398), welchen man den Erfahrungen aufdrückt, kann das Leben in seiner Ganzheit bejaht werden. Die Übung besteht demnach darin, diesen Standpunkt möglichst lange und anhaltend durchzustehen. Offenbar trägt Nietzsches Lehre des amor fati also Spuren der kynisch-stoischen Denktradition.³⁴ Jedoch besteht der Hauptunterschied zwischen Nietzsches und der stoischen Form der Schicksalsannahme, wie Foucault sie beschreibt, in der Intensität der Bejahung. Das, was Epiktet und Seneca unter Schicksalsbejahung verstehen, kann eher
Dies unterstreicht ein Zitat aus dem Ecce homo auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht: Nietzsche, der sich ansonsten eher als Unverstandenen ohne wirkliche philosophische Vorläufer inszeniert, gibt hier zumindest eine lose Verbindung zwischen seiner Lehre der ewigen Wiederkehr und des Werdens und dem Heraklitismus und Stoizismus zu: „Die Lehre von der ‚ewigen Wiederkunft‘, das heisst vom unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf der Dinge – diese Lehre Zarathustra’s könnte zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein. Zum Mindesten hat die Stoa, die fast alle ihre grundsätzlichen Vorstellungen von Heraklit geerbt hat, Spuren davon“ (EH Tragödie 3, KSA 6, S. 313; vgl. Sommer 2013, S. 488 f.).
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als Fatalismus bezeichnet werden. Der nietzscheanische amor fati jedoch geht über das bloße stoische Annehmen des eigenen Schicksals hinaus: „Das Nothwendige nicht bloss ertragen (…) –, sondern es lieben“ (EH klug 10, KSA 6, S. 297). Das emphatisch-ekstatische Bejahen des Schicksals ist gerade das, was Nietzsche das dionysische Element nannte, welches zum Moment des bloßen Fatalismus noch hinzukommt.³⁵ Zusammenfassend kann man sagen, dass sich die Chronologie, nach der Nietzsche verfährt, über die Untersuchung antiker Selbstpraktiken bei Michel Foucault verdeutlichen und vertiefen lässt: Bei Foucault verläuft die Konstitution eines Menschen, der zur Schicksalsannahme fähig ist, über die Einübung spezifischer Techniken der Selbstsorge. In diesem Sinne sind auch für Nietzsche die Selbstpraktiken Mittel zum Zweck der Errichtung individueller Souveränität und Schicksalsannahme. Diese Bejahung des eigenen Lebens besteht in der Interpretation aller Geschehnisse unter einem Gesichtspunkt (Schicksalsbejahung). Unter Bezugnahme auf die foucaultsche Deutung kynisch-stoischer Souveränität gelingt eine Deutung des amor fati als praktische Übung, welche die Konstitution einer souveränen Individualität vorantreibt. Die Wahrheit der Lehre der ewigen Wiederkehr besteht dabei nicht in ihrer wissenschaftlichen Beweisbarkeit, sondern darin, ob und in welchem Maße das Individuum dazu in der Lage ist, unter der Prämisse dieser Vorstellung zu leben. Für beide, Nietzsche wie Foucault, besteht ein Zusammenhang zwischen souveräner Selbstannahme und Wahrheit, und für beide ist die Fähigkeit, die Wahrheit zu sagen und in ihr zu leben, nicht nur mit einem persönlichen Mut und Risiko verknüpft, sondern verläuft auch körperlich. Foucault stellt dies in Der Mut zur Wahrheit folgendermaßen dar: Die Übereinstimmung, die zwischen dem eigenen Leben und der Wahrheit hergestellt werden soll, spezifiziert Foucault als eine „physische Übereinstimmung“ (MW, S. 399 f.) zwischen dem kynischen Leben und der Wahrheit, welche der Kyniker lehrt. Das heißt, dass der Kyniker durch seinen persönlichen Lebensstil deutlich machen soll, dass ein Leben in Enthaltsamkeit und in Abkehr von der Welt tatsächlich nützlich und gesundheitsfördernd ist. Dies soll auch dadurch geschehen, dass er sich und seinen Körper pflegt und in Form hält: „[D]as eigentliche Sein des Wahren, das durch den Körper sichtbar gemacht wird (…). Der Kyniker ist wie ein Athlet, der sich auf Olympia vorbereitet“ (MW, S. 400/401).
Nietzsche sieht in bestimmten Lebensabschnitten durchaus auch die Notwendigkeit zu einer solchen stoischen Schicksalsannahme. Er verwendet hierfür den Begriff vom russischen Fatalismus (vgl. EH weise 6, KSA 6, S. 272 f.). Was es mit diesem Begriff auf sich hat und inwiefern er sich einreiht in die praktischen Techniken, welche eine souveräne Individualität vorbereiten sollen, soll genauso untersucht werden, wie die Frage danach, in wieweit er sich wiederum mit Foucaults Interpretation antiker Selbstsorge und Selbstgestaltung in Einklang bringen lässt. Dies wird im folgenden Abschnitt 4.3 dieser Arbeit thematisiert werden, in dem es um die nietzscheanisch-foucaultschen Selbstsorgepraktiken gehen wird.
4.3 Selbstsorge, Diätetik und die große Gesundheit
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Dieser zentrale Aspekt der Körperlichkeit für die Darstellung der Wahrheit verlangt nach einer tiefergehenden Untersuchung derjenigen Techniken und Strategien, welche den Einzelnen dazu in die Lage versetzen, in der Wahrheit zu leben. Im Folgenden soll es daher um eine Analyse der Diätetik in Nietzsches Werk Ecce homo und deren Rolle für die Konstitution eines wahrhaftigen, souveränen Individuums gehen. Diese Untersuchung entlehnt ihr Analyseraster von Michel Foucaults Interpretation früh- und spätantiker Selbstsorgepraktiken.
4.3 Selbstsorge, Diätetik und die große Gesundheit Ein Textauszug aus Nietzsches später und autobiographisch gefärbter Schrift Ecce homo verdeutlicht besonders, dass er sich selbst als einen Vorläufer jener zukünftigen Philosophen betrachtet, deren Ankunft er herbeisehnt: „Ich habe es jetzt in der Hand, ich habe die Hand dafür, Perspektiven umzustellen: erster Grund, weshalb für mich allein vielleicht eine ‚Umwertung der Werte‘ überhaupt möglich ist“ (EH weise 1, KSA 6, S. 266). Nietzsche stellt sich hier explizit als jemanden vor, der neue Werttafeln schaffen kann (vgl. EH Schicksal 1, 3, KSA 6, S. 365, 367; Sommer 2013, S. 613, 618). Die Fähigkeit zur Umwertung wird hierbei an ein besonderes, persönliches Vermögen geknüpft. Im nachfolgenden Aphorismus erläutert Nietzsche genauer, was gerade ihn dazu qualifiziert, Perspektiven umzustellen: „Jene Energie zur absoluten Vereinsamung (…), der Zwang gegen mich, mich nicht mehr besorgen, bedienen, beärzteln zu lassen (…). Ich nahm mich selbst in die Hand, ich machte mich selber wieder gesund“ (EH weise 2, KSA 6, S. 266). In diesem Textauszug stellt sich Nietzsche nicht bloß selbst als Vertreter der eigentlichen Philosophen vor, welche in der Lage sind, neue Wertschätzungen zu erschaffen, sondern gibt auch einen ersten Fingerzeig auf die Grundlagen bzw. Voraussetzungen für eine solche Umwertung, welche im physiologischen Training seiner selbst liegen. Für Nietzsche besteht ein fundamentaler Zusammenhang zwischen Selbstsorge, souveräner Individualität und der Fähigkeit zur Umwertung der Werte (vgl. Saar 2007, S. 106). Hier liegt die zentrale Verbindung zwischen Nietzsches und Foucaults Spätphilosophie. Für beide ist der Bezug zu sich selbst Voraussetzung für Souveränität und für das eigentliche Philosophieren, d. h. nicht nur für das Erkennen der Welt, sondern auch für die Transformation des Selbst sowie der Welt im Sinne ihrer Sinn- und Gesetzgebungen. Eine der Hauptthesen dieser Arbeit besteht in der Annahme, dass die Ausübung verschiedener Techniken der Selbstsorge nötig ist, damit diese Souveränität zum Tragen kommen kann und dass Nietzsche diese Techniken an sich selbst, als einem Vorreiter der zukünftigen Philosophen, veranschaulicht. Diese Techniken der Selbstsorge finden sich auch in den Analysen des späten Foucault, sodass sich die Subjektphilosophie des späten Nietzsche unter dem Deutungsmuster des späten Foucault besser interpretieren und verstehen lässt.
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
Diese These wird anhand einer detaillierten Textexegese des Ecce homo untermauert werden. Nach der Methode des Auffindens von Anspielungsuniversen wird hierbei Nietzsches Utopie des souveränen Individuums mit seinen praktischen Diätvorschriften verbunden werden (vgl. Benne 2005, S. 196). Denn in den Diätvorschriften, welche Nietzsche im Ecce homo anführt, finden sich deutliche Anspielungen auf die Philosophie des souveränen Individuums sowie der damit verbundenen Lehre vom Pessimismus der Stärke. Um diese Ansammlungen von lebenspraktischen Anleitungen in eine Ordnung zu bringen und zu kontextualisieren, wird Foucaults späte Subjektphilosophie den Ausgang für diese Untersuchung bilden. Foucault analysiert die antike Selbstsorge als Ausgangspunkt für die Neukonstitution eines Subjekts, das in seiner Subjektivierung weder den Gesetzen der Pastoralmacht noch denen der Wissensdispositive oder denen der Disziplinierung gehorcht (vgl. Wolfers 2009, S. 214 ff.; Ruoff 2007, S. 141, 199 f.). Der Einzelne soll sich über die Praktiken des Selbst zum Subjekt seines Moralverhaltens konstituieren (vgl. RS, S. 39 f.; MW, S. 25 f.; HD, S. 16; SW II, S. 40 ff.; Kögler 2004, S. 153 ff.; Schmid 1991, S. 69, Ruoff 2007, S. 141, 187 ff.). Diese Praktiken bestehen aus alltäglichen Vollzügen und Übungen, welche dazu dienen sollen, über die Etablierung und Fixierung bestimmter Aspekte, Haltungen und Denkweisen eine relative Form der Autonomie im Individuum zu verfestigen. Askese hat hierbei die Funktion, über gewisse Enthaltsamkeitsübungen „Proben“ zu liefern, um die eigene „Unabhängigkeit zu messen“ (SW III, S. 81), um sich also der eigenen Souveränität gegenüber der Außenwelt zu versichern: „[M]an [soll] in den Stand versetzt werden, auf das Überflüssige zu verzichten, indem man (…) Souveränität über sich gewinnt“ (SW III, S. 81). Neben den asketischen Praktiken betont Foucault die Wichtigkeit der „Arbeit des Denkens an ihm selbst“ (SW III, S. 86). In seiner Untersuchung der hellenistischen Kultur seiner selber spricht er von der Notwendigkeit einer „fortwährenden Filterung der Vorstellungen“ (SW II, S. 86), welche das Individuum vorzunehmen hat, um das „allgemeine Ziel dieser Selbstpraktiken“, nämlich „das ganz allgemeine Prinzip der Umkehr zu einem selber“ (SW III, S. 89), zu erreichen. Das Ordnen und Ausfiltern der eigenen Wahrnehmungen und Gedanken spielt für Foucault eine übergeordnete Rolle in der Etablierung eines autonomen Denkens und Handelns: „Das ist mehr als eine (…) Übung, das ist eine ständige Haltung, die man sich selbst gegenüber einnehmen muß“ (SW III, S. 86). Foucault konzentriert sich in Sexualität und Wahrheit II hingegen auf die sokratisch-platonische Form der Diätetik. Essen und Trinken werden hierbei, in Parallelisierung zur Sexualität, als etwas betrachtet, das in Maßen vollzogen werden soll (vgl. Saar 2007, S. 258). Maßhalten im Sexuellen und in der Ernährung bedeutet keinen totalen Genussverzicht, sondern dient vielmehr dazu, die natürlichen von den künstlich hervorgerufenen Begierden zu unterscheiden. Erstere zu befriedigen wird angeraten, während von der Befriedigung der letzteren abgeraten wird. Diese Anleitungen folgen einer „Dynamik des Vergnügens und des Begehrens“ (SW II, S. 75),
4.3 Selbstsorge, Diätetik und die große Gesundheit
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welche dazu beiträgt, dass man nicht zum Sklaven seiner Begierden wird, sondern vielmehr als Herr seiner Lüste auftritt. Die Lust ist Voraussetzung für die Begierde, jedoch sollen durch unnatürliche Lüste keine neuen Begierden hervorgerufen werden, sodass man nicht von seinen Lüsten „überfahren“ (SW II, S. 75) wird: „[W]enn sich die sexuellen Begierden zeigen, soll man sie befriedigen können, aber nicht neue Begierden schaffen, die über die Bedürfnisse hinausgehen“ (SW II, S. 75). Ziel einer solchen maßhaltenden Diätetik ist es, eine Leibordnung zu etablieren: „Die Leibordnung muß sich dem Prinzip einer allgemeinen Ästhetik der Existenz unterordnen, in der das körperliche Gleichgewicht eine Bedingung der rechten Hierarchie der Seele ist“ (SW II, S. 135).³⁶ Dieses Maßhalten wird durch asketische Übungen bestärkt und auf die Probe gestellt. So soll etwa Zurückhaltung geübt werden beim Anblick von mit Speisen bedeckter Tische. Ziel solcher Übungen ist in der klassischen Tradition stets die Selbstbeherrschung bzw. die Konstitution eines Selbst, welches in souveräner Weise Herr über sich ist (vgl. SW II, S. 74 ff.; Kögler 2004, S. 159). Für Foucault handelt die „Praktik der Diätetik“ (SW II, S. 140) letztlich davon, „wie man sich als ein Subjekt konstituiert, das um seinen Körper die rechte, notwendige und ausreichende Sorge trägt“ (SW II, S. 140), und hat den weiterführenden Sinn, „das Individuum für die Vielfalt der möglichen Umstände zu rüsten“ (SW II, S. 137). Auch für Nietzsche stellen Askese und Selbstsorge die notwendige Voraussetzung für die Konstitution souveräner Individualität dar. Nietzsche stellt im zweiten Teil von Ecce homo diverse asketisch-diätetische Techniken der Selbstsorge vor, welche aus seiner Sicht die Voraussetzungen bilden, um den höheren Typ vom Menschen erscheinen zu lassen, welcher in der Lage ist, die „Subjekts-Vielheit“ (JGB, 12, KSA 5, S. 27) in sich hierarchisch zu strukturieren. Im Duktus der Physiologie (vgl. EH klug 2, KSA 6, S. 281 ff.) und unter wiederholter Verwendung der Begriffe der Gesundheit, der Krankheit sowie der Diät (vgl. EH klug 1, 2, 5 KSA 6, S. 278 f., 281 ff., 288 f.) zählt Nietzsche die Kriterien der Ernährung, des Ortes, des Klimas und der Erholung auf, welche dazu dienen sollen, die große Gesundheit „heranzuzüchten“, bzw. auch an sich selbst im Sinne einer „Selbstzucht“ (EH klug 9, KSA 6, S. 294) heranzuzüchten (vgl. EH klug 1, 2, KSA 6, S. 278 f., 281 ff.). Nietzsche möchte also praktische Anleitungen für die Herstellung der großen Gesundheit als
Nietzsches Credo von der „Subjekts-Vielheit“ (JGB 12, KSA 5, S. 27) und der „Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte“ (JGB 12, KSA 5, S. 27) lässt sich demnach unter der antiken Idee der Leibordnung beschreiben. Nietzsche vermutet hinter dem Begriff vom einheitlichen, rationalen Subjekt die eigentliche Struktur leiblicher Kräfteverhältnisse. Und diese so weit als möglich zu beherrschen, macht seinen Begriff von Freiheit aus (vgl. bei Foucault SW II, S. 105). Auch Nietzsches Kritik des traditionellen Begriffs von Willensfreiheit ordnet sich in dieses Deutungsmuster ein: „Ein Mensch, der will –, befiehlt einem Etwas in sich, das gehorcht“ (JGB 19, KSA 5, S. 32). Für Foucault ist die griechische Figur der Selbstbeherrschung „eine Art und Weise, Mann im Verhältnis zu sich selber zu sein, das heißt, dem zu befehlen, dem befohlen gehört, das zum Gehorsam zwingen, was nicht fähig ist, sich selber zu leiten“ (SW II, S. 109 f.).
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
„physiologische Voraussetzung“ (EH Zarathustra 2, KSA 6, S. 337) für die Konstitution eines autonomen Menschen bereitstellen. Die Arbeit an der eigenen Physiologie, die in den Techniken der Selbstsorge zum Ausdruck kommt, bildet also die Bedingung der Erschaffung souveräner Individualität. Aus folgendem Nietzsche-Zitat wird deutlich, dass für ihn die Bedingungen der Gesundheit mit denen souveräner Individualität zusammenfallen: „die dominirende Leidenschaft, welche sogar die supremste Form der Gesundheit überhaupt mit sich bringt: hier ist die Coordination der inneren Systeme und ihr Arbeiten in Einem Dienste am besten erreicht – aber das ist beinahe die Definiton der Gesundheit“ (NL 1888, KSA 13, 14[157], S. 342). Wie bei der Konstitution souveräner Individuen hat Nietzsche demnach auch bezüglich seiner großen Gesundheit die innere Hierarchisierung der Triebe und Affekte unter einen „dominirenden Instinkt“ (GM II 2, KSA 5, S. 294) im Blick (vgl. van Tongeren 2008, S. 28; Schipperges 1975, S. 138; Schmücker 2012, S. 226). Die Vokabeln, die Nietzsche in diesen Zusammenhängen verwendet (Gesundheit, Krankheit), entstammen vornehmlich der Medizin. Man kann demnach sagen, dass er eine medizinisch-philosophische Anleitung zur Selbstsorge entwerfen möchte (vgl. Schipperges 1975, S. 125 ff.).³⁷ Nietzsche will diese medizinisch-philosophischen Selbstsorgepraktiken als lange Vorbereitung für ein souveränes Handeln etablieren: „Bevor wir an’s Handeln denken dürfen, muß eine unendliche Arbeit gethan sein“ (NL 1884, KSA 11, 25[36], S. 28; vgl. Schipperges 1975, S. 127 ff.).³⁸ Er etabliert hierbei die Figur des Philosophen als „Arzt der Kultur“ (Schipperges 1975, S. 129), welcher die theoretischen Anleitungen für eine solche Zucht liefern soll (vgl. Schipperges 1975, S. 141 ff., S.146 f.). Nietzsche geht in dieser Beziehung von einem grundsätzlichen Zusammenhang von der Qualität der geistigen Arbeit und der körperlichen Betätigung aus: „[K]einem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, – in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern“ (EH klug 1, KSA 6, S. 281). Der Bezugspunkt der diätetischen Praktiken zu Nietzsches Gesamtphilosophie liegt in der großen Vernunft des Leibes. Nietzsche entwirft eine Philosophie am Leitfaden des Leibes, in welcher die cartesianische Behauptung eines nicht-körperlichen Geistes zurückgewiesen wird zugunsten der Lehre eines primär leiblichen Existierens und Wahrnehmens, in welcher die menschliche Rationalität bloß eine untergeordnete Stellung einnimmt:
Zu Nietzsches Diäetetik und Ernährungshinweisen vgl. insbesondere Lemke, H. 2007, S. 405 – 434; Jordan 2006, S. 133 – 136; Klass 2008; Dahlkvist 2005. Hierin kommt erneut jene philosophische Annahme Nietzsches zum Ausdruck, wonach der freie Wille lediglich ein Konstrukt darstellt und jegliches Handeln ohnehin nur eine Explosion sich notwendig entladender Kräfte bedeutet (vgl. JGB 19, KSA 5, S. 32 f.; NL 1883, KSA 10, 7[77], S. 268 ff.; NL 1884, KSA 11, 25[185], S. 64). Autonomie in Handeln kann daher nur indirekt, in Form einer Einflussnahme auf die eigenen Triebe und Affekte, ausgeübt werden.
4.3 Selbstsorge, Diätetik und die große Gesundheit
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Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für etwas am Leibe. Der Leib ist eine grosse Vernunft (…). Werkzeug deines Leibes ist auch die kleine Vernunft, mein Bruder, die du ‚Geist‘ nennst (Z I Verächtern, KSA 4, S. 39; vgl. NL 1884, KSA 11, 26[274], S. 221 f.; Klass 2008, S. 413).
Die Konzentration, die Nietzsche auf den Aspekt der Ernährung legt, liegt also sowohl in dieser Einheit von Geist und Körper begründet als auch in dem Einfluss, den äußerliche Faktoren (wie Ernährung und Klima) auf diese Einheit haben (vgl. EH klug 1, 10, KSA 6, S. 278 f., 295 f.; Dahlkvist 2005, S. 215; Lemke, H. 2007, S. 408 f.). Die Punkte der Ernährung, der Umgebung sowie der Erholung sollen nun nacheinander untersucht und in ihrer Bedeutung für das souveräne Individuum erläutert werden.
4.3.1 Die Ernährung Was die Ernährung betrifft, so rät Nietzsche etwa vom Genuss von Alkohol ab. Gleiches gilt für den übermäßigen Konsum von Kaffee oder der deutschen Küche. Hierauf aufbauend zieht er Rückschlüsse von der Ernährung auf das Denken und die Philosophie: „[D]ie Herkunft des deutschen Geistes – aus betrübten Eingeweiden (…). Alle Vorurtheile kommen aus den Eingeweiden“ (EH klug 1, KSA 6, S. 280). Nietzsche betont hier den Zusammenhang zwischen Ernährung und individueller Lebenssteigerung: „[W]ie hast gerade du dich zu ernähren, um zu deinem Maximum von Kraft (…) zu kommen“ (EH klug 1, KSA 6, S. 279)? Es lassen sich hier durchaus sprachliche Verbindungen zwischen den Texten herstellen, in denen Nietzsche über scheinbar Banales wie Verdauung spricht, und jenen, in welchen er das souveräne Individuum charakterisiert. So stellt er etwa den deutschen Geist als einen Geist dar, der „mit nichts fertig“ (EH klug 2, KSA 6, S. 280) wird, und führt dieses ‚Nicht-fertig-Werden‘ auf die Verdauungsstörungen zurück, welche die deutsche Küche hervorruft: „Der deutsche Geist ist eine Indigestion“ (EH klug 1, KSA 6, S. 280).³⁹ Diese Formulierung wird von Nietzsche auch in einem scheinbar substantielleren Zusammenhang benutzt: „Man weiss von Nichts loszukommen, man weiss mit Nichts fertig zu werden, man weiss Nichts zurückzustoßen, – Alles verletzt. Mensch und Ding kommen zudringlich nahe, die Erlebnisse treffen zu tief, die Erinnerung ist eine eiternde Wunde. Kranksein ist eine Art Ressentiment selbst“ (EH weise 6, KSA 6, S. 272). Nietzsche stellt dem Menschen des Ressentiments, der nicht vergessen kann, den starken Menschen gegenüber, welcher, vermöge seines Kräfteüberschusses und seiner Gesundheit, in der Lage ist, die gegen ihn verrichteten Handlungen zu vergessen (vgl. GM I 10, KSA 5, S. 292; Sommer 2013, S. 400). Das Vergessen wurde wiederum als
„Indigestion“ bedeutet Verdauungsstörung (vgl. Sommer 2013, S. 400).
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Eigenschaft des souveränen Individuums vorgestellt (vgl. GM II 1, 2, KSA 5, S. 291– 294). Nietzsche führt also Gesundheit und Krankheit auf die jeweilige physiologische Konstitution des Einzelnen zurück und macht diese wiederum abhängig vom Faktor der Ernährung (vgl. Schipperges 1975, S. 163 ff.). Der wiederholte Gleichlaut der Begriffe hinsichtlich der Ernährung sowie des souveränen Individuums deutet darauf hin, dass Nietzsche in der aus seiner Sicht richtigen Ernährung eine Grundvoraussetzung für das Entstehen souveräner Individuen sieht. Das Nicht-Loskommen des Menschen des Ressentiments geht u. a. auf eine falsche Ernährung zurück, welche dazu tendiert, die Speisen auf viele Mahlzeiten zu verteilen, und die deshalb Verdauungsstörungen hervorrufen (vgl. EH klug 1, KSA 6, S. 279 ff.). Eine gesunde Verdauung ist hingegen nur möglich, wenn dem Magen die Speisen als Ganzes zugeführt werden: „Dass der Magen als Ganzes in Thätigkeit tritt, erste Voraussetzung einer guten Verdauung“ (EH klug 1, KSA 6, S. 281). Derjenige, welcher die Größe seines Magens kennt, geht deshalb auch Gerichten mit mehreren Gängen aus dem Weg, da hier die Einschätzung des Umfangs der Speise schwieriger und somit eine Verdauungsstörung wahrscheinlicher ist. Nietzsche verwendet Vokabeln der Ernährungsphysiologie, um hierdurch die geistige Disposition sowohl des Menschen des Ressentiments als auch des starken Menschen zu charakterisieren: Schlechte Verdauung führt auch zu einer schlechten geistig-sinnlichen Verdauung der Eindrücke und Sensationen, wohingegen die gesunde Verdauung auch zu einer besseren Verarbeitung der Reize und der Geschehnisse, die einem zugefügt werden, führen. Die sprachliche Überschneidung von Ernährungsanleitungen und Wahrnehmungsvollzügen wird vielleicht im folgenden Zitat am deutlichsten, in welchem Nietzsche von der Wahrnehmung des „wohlgerathne[n] Mensch[en]“ spricht: Ihm schmeckt nur, was ihm zuträglich ist; sein Gefallen, seine Lust hört auf, wo das Mass des Zuträglichen überschritten wird (…), er nützt schlimme Zufälle zu seinem Vortheil aus (…). Er sammelt instinktiv aus allem, was er sieht, hört, erlebt, seine Summe: (…). Er reagirt auf alle Art Reize langsam (…), er prüft den Reiz, der herankommt (…). Er glaubt weder an ‚Unglück‘, noch an ‚Schuld‘: er wird fertig, mit sich, mit Anderen, er weiss zu vergessen (EH weise 2, KSA 6, S. 267).
Die Unterscheidung von souveränen und gewöhnlichen Individuen verläuft also anhand der Fähigkeit, mit den Konsequenzen seines Handelns leben zu können oder nicht. Der höhere Mensch wird also, wie Nietzsche es ausdrückt, ‚fertig mit sich‘. Zugleich wird er auch fertig mit den anderen, dass heißt er kann auch gegen ihn verübte schlechte Handlungen vergessen und muss sie nicht, wie in der christlichen Nächstenliebe, dem anderen verzeihen (vgl. GM I 10, KSA 5, S. 273 f.).⁴⁰
Diese Haltung drückt Nietzsche auch in jenem Aphorismus aus, in welchem er seine Ernährungsanleitungen gibt: „Ich möchte nicht eine Handlung hinterdrein in [sic!] Stich lassen, ich würde
4.3 Selbstsorge, Diätetik und die große Gesundheit
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Der Mensch mit der guten Verdauung, der um die Größe seines Magens weiß, weiß auch, welche Reize er auswählen und welche er „durchfallen“ (EH weise 2, KSA 6, S. 267) lassen soll. Das, was trotzdem an Negativem und „schlimme[n] Zufälle[n]“ zu ihm durchdringt, legt und nützt er „zu seinem Vorteil aus; was ihn nicht umbringt, macht ihn stärker“ (EH weise 2, KSA 6, S. 267). Diese Formulierungen erinnern zum einen an Nietzsches Lehre vom amor fati, in der der „Herrschaft des Unsinns und Zufalls“ (JGB 203, KSA 5, S. 126) ein Ende bereitet werden soll, indem auch schlimmste Ereignisse aus ihrer Isoliertheit gelöst und in ein großes Ganzes integriert werden sollen (vgl. EH M 2, KSA 6, S. 330 f.). Die Reize und Erfahrungen, die nicht von Anfang an durch den Filter des souveränen Menschen hindurchfallen, werden also in einen größeren Bedeutungszusammenhang eingeordnet, d. h. unter dem Gesichtspunkt der Schicksalsbejahung interpretiert.⁴¹ Zum anderen kommt hierin jene Arbeit an sich selber zum Ausdruck, welche Foucault als ein Hauptelement zur Konstituierung der hellenistischen Souveränität ausmacht. Foucaults Spätphilosophie kann also erneut als Interpretationsraster herangezogen werden, um Nietzsches Spätphilosophie zu erläutern. Für Foucault ist die beständige Arbeit an seinen Denk- und Wahrnehmungsvorgängen, die beständige Filterung der eigenen Vorstellungswelt, das Hauptelement für die Etablierung einer souveränen „Haltung, die man sich selbst gegenüber einnehmen muß“ (SW III, S. 86; vgl. SW III, S. 83, 85). Nietzsches Beschreibung des souveränen Menschen, welcher die Reize seiner Umgebung in einer für sich nützlichen Weise zu filtern weiß, geht also zurück auf das spätantike Konzept der Umkehr zu sich, wie Foucault es beschrieben hat. Eines seiner Hauptmomente liegt in der „Filterung der Vorstellungen“, die man „prüfen, kontrollieren und sortieren“ (SW III, S. 86) muss (vgl. außerdem SW III, S. 89). Die Aufgabe der aus diesen Überlegungen abgeleiteten, hellenistischen Philosophie liegt laut Foucault darin, eine prüfende Haltung gegenüber unseren Handlungen und Gedanken einzunehmen, um auf dieses Weise eine Kontrolle unserer selbst zu garantieren, welches mit einer Souveränität gegenüber der Außenwelt zusammenfällt: „Aufgabe der Philosophie (…) wird es sein, diese Kontrolle auszuüben“ (SW III, S. 87). Dem entspricht Nietzsches Charakterisierung des souveränen Individuums, welchem „Herrschaft über sich“ sowie „Herrschaft über die Umstände“ (GM II 2, KSA 5, S. 294) attestiert wird. Dieser Interpretation der nietzscheanischen Utopie des souveränen Individuums kommt entgegen, dass sich jene sprachliche Parallelisierung von Verdauung und Wahrnehmung ebenfalls in Nietzsches Beschreibung von Erinnern und Vergessen findet, die er im Zusammenhang mit dem souveränen Individuum ausführt:
vorziehn, den schlimmen Ausgang, die Folgen grundsätzlich aus der Werthfrage wegzulassen“ (EH klug 1, KSA 6, S. 278). Vgl. zu dieser Thematik bei Foucault MW, S. 397 f.
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[D]as ist der Nutzen der (…) aktiven Vergesslichkeit (…): womit sofort abzusehn ist, inwiefern es kein Glück, (…) keinen Stolz, keine Gegenwart geben könnte ohne Vergesslichkeit. Der Mensch, bei dem dieser Hemmungsapparat beschädigt wird und aussetzt, ist einem Dyspeptiker zu vergleichen (und nicht nur zu vergleichen –) er wird mit nichts ‚fertig‘ (GM II 1, KSA 5, S. 291, 292; vgl. Sommer 2013, S. 400).
In dieser Textstelle, in welcher es dezidiert um das souveräne Individuum geht, wird also eindeutig Souveränität als Fähigkeit zu filtern bestimmt, d. h. zum richtigen Zeitpunkt zu vergessen und sich zum richtigen Zeitpunkt zu erinnern. Das Thema der Reize ist hierbei deshalb für Nietzsche von so hervorgehobener Bedeutung, weil es auf essentielle Art mit dem Begriff der Handlungsfreiheit zusammenhängt. Denn Nietzsche betont an mehreren Stellen die Verbindung von äußeren Reizen mit der Explosion von Kraft, welche für ihn den Kern jeder menschlichen Handlung ausmacht (vgl. NL 1881, KSA 9, 11[263], S. 541 f.; NL 1883, KSA 10, 7[77], S. 268 ff.; sowie Kapitel 3.5 der vorliegenden Arbeit). Reize lösen für Nietzsche grundsätzlich Handlungen aus. Er macht die asketische Filterung, Auswertung und Ansammlung von Reizen zur Voraussetzung für die Hervorbringung großer Handlungen souveräner Individuen. Solche Individuen entwickeln sich demnach in größtmöglicher Unabhängigkeit und Abgrenzung von der Welt und den Umständen; was wiederum, ganz im antiken Sinne, durch asketische Praktiken der Selbstsorge gewährleistet werden soll. Somit kann Nietzsche sagen: Grosse Männer sind wie grosse Zeiten Explosiv-Stoffe, in denen eine ungeheure Kraft aufgehäuft ist; ihre Voraussetzung ist immer, historisch und physiologisch, dass lange auf sie hin gesammelt, gehäuft, gespart und bewahrt worden ist,– dass lange keine Explosion stattfand (…). Die grossen Männer sind nothwendig, die Zeit, in der sie erscheinen, ist zufällig (…). Das Genie (…) ist nothwendig ein Verschwender: dass es sich ausgibt, ist seine Grösse…Der Instinkt der Selbsterhaltung ist gleichsam ausgehängt (…). Er strömt aus, er strömt über, er verbraucht sich (…) mit Fatalität, verhängnisvoll, unfreiwillig, wie das Ausbrechen eines Flusses über seine Ufer unfreiwillig ist (GD Streifzüge 44, KSA 6, S. 145, 146).
Die Größe eines Menschen bemisst sich demzufolge danach, wie viel er anhäufen konnte, wie oft er widerstehen konnte, dem Reiz also nicht nachgab und auf diesen somit nicht zugleich mit einer Handlung reagierte. Die Kraft, welche grundsätzlich notwendig ausbricht, soll möglichst lange zurückgehalten werden. Nietzsche betont jedoch zugleich, dass derjenige Reiz, welcher schließlich zu der Explosion der Handlung führt, zufällig sein kann und in keinem Verhältnis zu der Größe der Tat steht (vgl. NL 1881, KSA 9, 11[263]S. 541 f.). „Reize“ sind hierbei zudem nicht bloß als direkte Wahrnehmungssensationen zu verstehen, sondern beziehen sich auch auf Vergangenes und Erinnertes, wie zum Beispiel das Werk eines Schriftstellers oder Philosophen: „[D]aß die anreizende Kraft eines Menschen nach seinem Tode übrig bleiben kann, durch seine Werke oder durch die Fabel, die von seinem Leben sich bildet:
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darauf sollen die denken, welche auf die Zeit keinen ‚Reiz‘ üben“ (NL 1881, KSA 9, 11 [263], S. 542 f.).⁴² Nietzsche entwirft dementsprechend handlungstheoretisch ein gewisses nichtkausales, aber dennoch notwendiges Reiz-Reaktionsschema, dessen Mechanismen man sich nur in autonomer Weise bemächtigen kann, indem man die Reize, die einen erreichen, auf eine Art filtert, die es einem ermöglicht, die Explosion, welche jede Tat darstellt, in einer für sich zielführenden Weise nutzbar zu machen. Dadurch, dass man jene Explosionen aufspart, werden sie in ihrer Bedeutung und Heftigkeit gesteigert. Dieser Prozess verläuft über asketische Übungen und das hieraus folgende Vermögen, seine Instinkte ‚aus- und einzuhängen‘. Der Sinn der asketischen Praktiken besteht also darin, nicht jedem Reiz, nicht jedem Bedürfnis sofort nachzugeben, um die Kraft, die man hat, nicht sinnlos zu verschwenden.⁴³ Eine der zentralen asketischen Praktiken ist in diesem Zusammenhang die Ernährung. Bezüglich der Ernährung fällt zuletzt eine Parallele zwischen Nietzsches Verdauungslehre und seiner Interpretation von Wahrheit und Stärke ins Auge, welche zuvor mit dem foucaultschen Terminus vom Mut zur Wahrheit in Verbindung gesetzt wurde: Ein Strang der nietzscheanischen Wahrheitsphilosophie sieht in dem Grad, in dem wir fähig zur Einsicht in die Wahrheit, d. h. fähig zur Einsicht in den chaotischen, sinnfreien und werdenden Charakter der Welt sind, das Maß unserer Stärke (vgl. GT Versuch 1, KSA 1, S. 12 f.; EH Vorwort 3, KSA 6, S. 258 f.). Nietzsche spricht in einem für diesen Zusammenhang immanent wichtigen Aphorismus von der Möglichkeit der „Einverleibung“ (FW 110, KSA 3, S. 471) der Wahrheit. Er spricht dort zudem davon, dass weder unser Sinnesapparat noch unser „Organismus“ darauf hin „eingerichtet“ ist, die Wahrheit zu verkraften, da diese bisher noch auf den „Grundirrthümern“ (FW Hier spielt Nietzsche ganz offensichtlich auch auf seine eigene performative, futuristische Selbstkonstitution als Autor an, der sich erst in der Zukunft im Leser verwirklicht (vgl. Kittler 2000, S. 78). Brusotti (Brusotti 2012b) vertieft und differenziert die Thematik von Reiz und Reaktion in Nietzsches Werk. Er weist darauf hin, dass es bei Nietzsches Spätwerk eine Wendung von dem Begriffspaar ‚aktiv/reaktiv‘ hin zu ‚unmittelbar‘ bzw. ‚langsam/spät reagieren‘ gibt (vgl. Brusotti 2012b, S. 104), wobei ganz grundsätzlich das späte oder langsame Reagieren den starken, souveränen Individuen zugeschrieben wird, während das unmittelbare Reagieren als Ausdruck der Schwäche gewertet wird (vgl. Brusotti 2012b, S. 116 ff.). Brusotti weist jedoch auch darauf hin, dass in gewissen Ausnahmefällen bei Nietzsche die normative Bewertung umgekehrt wird. So kann es zum Beispiel gerade Ausweis einer starken Individualität sein, auf bestimmte Formen des Ressentiments mit einer sofortigen Reaktion zu antworten, damit einen das Ressentiment nicht „vergiftet“ (GM I 10, KSA 5, S. 273; vgl. Brusotti 2012b, S. 118 f.). Die Unfähigkeit, nicht zu reagieren, kann bei Nietzsche sowohl auf Schwäche, als auch – in selteneren Fällen – auf Stärke zurückgeführt werden, denn sie kann auch Ausdruck einer überbordenden Kraft sein: „Nietzsche kommt es auf eine zweifache Ätiologie unmittelbaren Reagierens – durch ein Zuwenig, aber zuweilen durch ein Zuviel an Kraft – entscheidend an“ (Brusotti 2012b, S. 121, vgl. auch Brusotti 2012b, S. 125).
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
110, KSA 3, S. 469) beruhen, welche zum Beispiel in der Annahme eines freien Willens, eines ‚Ding an sich‘ oder eines autonomen Subjekts liegen (vgl. FW 110, KSA 3, S. 469; GD Irrthümer 1– 8, KSA 6, S. 88 – 97). Mit anderen Worten: Organismen und Wahrnehmungsapparate, welche darauf eingestellt sind, voneinander isolierte, dauerhafte Dinge, Stoffe und Körper zu erkennen und zu verarbeiten (zu verdauen), denen ist die Einsicht in den chaotischen, unmoralischen und werdenden Zustand der Welt nicht nur zu gefährlich, sondern schlichtweg nicht möglich. Der Begriff der Einverleibung ist hierbei als Schnittstelle zwischen Nietzsches Ernährungsanleitungen und seiner Idee vom Pessimismus der Stärke zu verstehen. Man trainiert demzufolge über eine gute Ernährung den eigenen Organismus auch dazu, die äußeren Reize besser zu verarbeiten. Die nietzscheanischen Techniken der Selbstsorge, die in einer Züchtung der eigenen Physiologie bestehen, drücken sich u. a. in einer rechten Ernährung aus. Diese trägt dazu bei, den Organismus und die Sinne dahingehend zu transformieren, dass sie zur Einsicht in die Wahrheit in der Lage sind. Die Rede von der Einverleibung hat neben dem wahrnehmungsphilosophischen Moment auch einen Bezug zu Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, welcher als ein grundsätzliches Einverleiben nicht nur der äußeren Gegenstände, sondern auch des Machtfeldes der anderen Person verstanden wird (vgl. Klass 2008, S. 413 f.). Die physische Ernährung wird einerseits dem höheren Prinzip des Willens zur Macht untergeordnet, andererseits beschreibt Nietzsche eben diesen Willen zur Macht wiederholt unter Zuhilfenahme eines ernährungsphysiologischen Vokabulars (vgl. Klaas 2008, S. 413; NL 1887– 1888, KSA 13, 11[121], S. 57 f.). Der überwältigende Charakter des Willens zur Macht findet seinen Ausdruck also nicht bloß in einem Zurecht-Machen der Welt (Interpretationsphilosophie) und einer Filterung der äußeren Reize (Wahrnehmungsphilosophie), sondern auch in vermeintlich niederen Stufen menschlicher Entwicklung wie der Ernährung und der Verdauung (vgl. JGB 36, KSA 5, S. 54 f.). Um Missverständnissen vorzubeugen: Dass Nietzsche Wahrnehmungsprozesse mit Hilfe von Vokabeln aus dem Bereich der Ernährung oder Begriffen wie Einverleibung beschreibt, ist nicht als Indikator dafür zu verstehen, dass diese Parallelisierung der Begriffe lediglich metaphorisch gemeint ist, dass also Wahrnehmungsprozesse nichts mit leiblichen Prozessen zu tun haben. Wahrnehmung verläuft bei Nietzsche niemals als rein geistiger Prozess. Vielmehr ist jeglicher Wahrnehmungsakt notwendig leiblich, d. h. er verläuft durch und über den Leib und ist immer in komplexe organische Prozesse eingebettet (vgl. Müller-Lauter 1999, S. 122).⁴⁴
Es sei an dieser Stelle kurz erwähnt, dass Nietzsches Begriff der Einverleibung mit dem neueren Begriff des Embodiments kontextualisiert werden kann. Hiermit ist die generelle Einsicht verbunden, dass geistige Prozesse abhängig vom individuellen Körper sind und sich notwendig innerhalb eines organischen Systems vollziehen (vgl. Riccardi 2015, S. 534, 540).
4.3 Selbstsorge, Diätetik und die große Gesundheit
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Darüber hinaus findet sich in Nietzsches Spätwerk auch eine Ebene, in welcher organische Ernährungs- und Ausscheidungprozesse unzweideutig mit der Funktionsweise des Willens zur Macht identifiziert werden: „Wenn ich etwas von einer Einheit in mir habe, so liegt sie gewiß nicht in dem bewußten Ich oder dem Fühlen Wollen Denken, sondern wo anders: in der erhaltenden aneignenden ausscheidenden überwachenden Klugheit meines ganzen Organismus“ (NL 1885, KSA 11, 34[46], S. 434). Die organische Vielheit wird also der bewussten Einheit konzeptuell entgegengestellt, das cartesianische Modell also durch das Prinzip eines dynamisch-pluralistischen Willens zur Macht ersetzt, welcher sich einverleibend-überwältigend auf die Welt richtet und welcher auch nach innen den eigenen Organismus in seinen Funktionen beherrscht: „Das Organische bzw. den Begriff, den sich Nietzsche vom Organischen macht, gehört fest zu seiner Subjekt-Entmündigungsstrategie“ (Schlimgen 1998, S. 48; vgl. Schipperges 1975, S. 47). Nietzsche denkt also den Organismus als eine Vielheit und fasst diese Vielheit wiederum als miteinander konkurrierende Willen-zur-Macht-Quanta auf (vgl. MüllerLauter 1999, S. 102). Nietzsches Organismusbegriff unterscheidet sich daher von dem der Tradition, da er weder kausal-mechanisch, noch teleologisch gefasst wird (vgl. Abel 1998, S. 54, S. 112 ff.; Müller-Lauter 1999, S. 119). In Nietzsches Vorstellung vom Organismus spielt vielmehr die Relationalität der Teile und des Ganzen eine übergeordnete Rolle. Abel spricht in diesem Zusammenhang von einem Übergang „vom teleologischen Organismus-Gedanken zum Vorgang der Organisation“ (Abel 1998, S. 54). In diesem Sinne wird der Organismus nun als werdendes, dynamisches und in ständiger Transformation begriffenes Ganzes interpretiert, in der zum einen die einzelnen Teile miteinander im Kampf stehen und zum anderen ein relationales Verhältnis zwischen Teilen und Ganzem besteht: „Ein Organismus ist so im Grunde nichts
Vanessa Lemm (Lemm 2014) verweist darüber hinaus auf den Zusammenhang von Wahrheit und Embodiment bei Nietzsche, Foucault und den Kynikern. Jenseits von rein wahrnehmungsphilosophischen Debatten verläuft das ‚Einverleiben der Wahrheit‘ bei Nietzsche bezüglich eines anderen Aspekts notwendig leiblich. Lemm stellt hierbei das Einverleiben bei Nietzsche in den Kontext der kynischen parrhesia sowie Foucaults später Analyse der Selbstsorge. Das Einverleiben der Wahrheit zeigt sich auch im mutigen Einstehen für eine Wahrheit, die man erkannt hat. Lemm spricht hierbei von einer Beziehung „between life, truth, and the body as a manifestation of truth by the body“ (Lemm 2014, S. 201, vgl. Lemm 2014, S. 208, 212, 221). Vgl. zum Thema der Einverleibung bei Nietzsche: Abel 1998, S. 126; Müller-Lauter 1999, S. 84– 86, 174 f. Vgl. weiterführend zum Terminus des Embodiments in Nietzsches Philosophie: Brown 2006; Miguens 2015, S. 521– 528; Riccardi 2015, S. 533 – 550.
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
anderes als der zu einer relativen einheitlichen Organisation gelangte Ausdruck dieser fortwährenden Kräfteprozesse“ (Abel 1998, S. 113).⁴⁵ Was das Verhältnis von Individuum und Organismus betrifft, so lässt sich sagen, dass der grundlegendere Vorgang des dynamischen Kampfes der Willen-zur-MachtQuanta dem nur scheinbar einheitlichen und autonomen Subjekt zugrunde liegt (vgl. Abel 1998, S. 84). Dass sich wiederum ein solches dynamisches und prozesshaftes organisches Gebilde konstituieren kann, setzt bereits voraus, dass eine gewisse Spezifizierung und Teilung innerhalb des Feldes des Organischen stattgefunden hat. Um diese Teilung zu verdeutlichen und um eine Brücke zurück zum Begriff der Ernährung wie zu dem des souveränen Individuums zu schlagen, bietet sich das Beispiel des Begriffs des Hungers bei Nietzsche an. Erst in einem sekundären Prozess wird das Aneignungsbedürfnis des Willens zur Macht zu dem Erhaltungs-Bedürfnis des Hungers (vgl. Abel 1998, S. 84; Müller-Lauter 1999, S. 121). Das Prinzip der Ernährung hat also einen viel weiteren und grundlegenderen Sinn, als die bloße Nahrungsaufnahme: in ihr drückt sich der ganz grundlegende organische Vorgang der Aneignung aus, welche über die bloße Selbsterhaltung hinausgeht. Und erst aus dieser Teilung der organischen Ganzheit (Wille zur Macht) in eine höherstufige Vielheit von Organen und Trieben, welche arbeitsteilig ihre jeweiligen Aufgaben im Gesamt-Organismus verwalten, kann sich in einem weiteren Schritt so etwas wie ein Subjekt, im Sinne eines Gesellschaftsbaus der Triebe und Affekte, herausbilden (vgl. Abel 1998, S. 84; JGB 36, KSA 5, S. 54 f.). Anhand dieser Ausführungen wird nun deutlich, welche Rolle das Organische in der Konstitution souveräner Individuen spielt: Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass sich das souveräne Individuum auf eine autonome und aktive Weise konstituiert, indem es über asketische Techniken der Selbstsorge eine Ordnung und Rangordnung der Triebe und Affekte in sich erzeugt. Dieser Vorgang kann nun über den Organismusbegriff spezifiziert und vertieft werden. Müller-Lauter weist darauf hin, dass bei Nietzsche nicht nur in der konkreten Nahrungsaufnahme, sondern auch grundsätzlicher im Akt der Aneignung die Auswahl der Reize und Ereignisse von hervorgehobener Bedeutung ist, um aktiv die Dinge, die besser und schneller verdaubar sind, von denen zu trennen, die es nicht sind (vgl. Müller-lauter 1999, S. 115 f.). Auf den Begriff des souveränen Individuums angewendet, bedeutet dies, dass die zufällig auf uns einströmenden Reize gefiltert werden sollen. Der grundsätzliche Vorgang der inneren Hierarchisierung über Askese lässt sich durch folgendes Zitat Nietzsches in den Kontext seiner Theorie des Organismus stellen: „Umänderung der Charactere. Züchtung an Stelle des Moralisirens. /mit direkter Einwirkung auf den Organism zu arbeiten statt mit der indirekten der ethischen Zucht.
Vgl. zu einer Beeinflussung von Nietzsches Organismusbegriff durch den zeitgenössischen Anatomen Wilhelm Roux: Müller-Lauter 1999, S. 97– 141. Vgl. zum Begriff des Kampfes innerhalb des Organismus bei Nietzsche und Roux insbesondere: Müller-Lauter 1999, S. 111 f.
4.3 Selbstsorge, Diätetik und die große Gesundheit
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Eine andere Leiblichkeit schafft sich dann schon eine andere Seele und Sitte. Also Umdrehen!“ (NL 1883, KSA 10, 7[97], S. 275; vgl. Müller-Lauter 1999, S. 116). Die normative Wendung von der ideellen, geistigen Ebene hin zu den konkreten, leiblichen Prozessen hat bei Nietzsche also seine Vorgeschichte in der Vorstellung des Organismus als Grundlage für die Entfaltung geistiger Prozesse. Erst aufgrund organischer Vorgänge können demnach Seelen bzw. Subjekte entstehen. So ist es auch zu verstehen, dass Nietzsche davon spricht, dass erst durch die Einwirkung auf das Feld des Organischen eine Transformation der Seele erwirkt werden kann. Erst über die Aktzeptanz des Vorrangs des Leiblich-Organischen gegenüber dem Mentalen kann also eine wirkliche autonome und aktive Gestaltung des eigenen Selbst vollzogen werden. Zudem ist erst durch die generelle Relationalität der organischen Kräfteverhältnisse auch eine generelle Offenheit und somit die Möglichkeit zur Transformation des Organismus und somit der Seelen gegeben. Die Bezugnahme Nietzsches auf die antike Philosophie der Selbstsorge hat also seine Begründung in dessen Philosophie des Organismus und der Organe. Der Mensch soll demnach nicht mehr durch moralische Urteile und Vorurteile, sondern vielmehr durch leibliches Training gezüchtet werden. Denn erst durch asketische Praktiken wird eine aktive Einwirkung auf die einzelnen Organe und Triebe (z. B. Hunger, Sexualtrieb, Hören, Sehen) vollzogen, die wiederum eine autonome und selbstbestimmte Ordnung der organischen Organisiertheit ermöglicht (vgl. Müller-Lauter 1999, S. 115 f.). An dieser Stelle kommt nun Nietzsches Begriff der Selbstregulierung zur Geltung. Hiermit ist zum einen die höherstufige, hierarchische Organisation der konkurrierenden Kräfte, Triebe und Antriebe gemeint, welche nach dem Vorbild des Gemeinwesens verläuft (vgl. Abel 1998, S. 110; Müller-Lauter 1999, S. 109, 119, 122 f., 132 ff.). Zum anderen ist hiermit auch der Begriff des souveränen Individuums angesprochen. Herman Siemens (Siemens 2015) verbindet, in Anschluss an Müller-Lauter, Nietzsches Philosophie des Organischen mit dessen Konzept souveräner Individualität. Siemens weist ebenso wie Müller-Lauter auf den Zusammenhang von Selbstregulierung und souveränen Individuen hin (vgl. Müller-Lauter 1999, S. 109; Siemens 2015, S. 648 f.; NL 1881, KSA 9, 11[130], S. 487 f., 11[182], S. 509 ff.). Nietzsche selbst schreibt in NL 1881, KSA 9, 11[182], S. 509 f.: Ein starker freier M empfindet gegen alles Andere die Eigenschaften des Organismus: 1) Selbstregulirung: in Form von Furcht vor allen fremden Eingriffen, im Haß gegen den Feind, Im Maaßhalten usw. (…). 3) Assimilation an sich: (…) Gewöhnung, Befehlen Einverleiben von Urtheilen und Erfahrungen 4) Sekretion und Excretion: in Form von Ekel Verachtung der Eigenschaften an sich, die ihm nicht mehr nützen.
Hieraus wird deutlich, dass Nietzsche die grundsätzlichen organischen Prozesse auch auf die Sphäre souveräner Individuen anwendet. In der Selbstregulierung drückt sich der asketische Rückzug von der Gemeinschaft aus, um übermäßiger und zufälliger Beeinflussung von außen zu entgehen. Und in der „Sekretion“ kommt Nietzsches Forderung nach Reduzierung und Filterung der Reize zum Ausdruck, was wiederum
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
dazu dienen soll, zwischen nützlichen und unnützen Eindrücken zu trennen (vgl. EH weise 6, KSA 6, S. 272 f.). Siemens weist ebenfalls darauf hin, dass das Organische in diesem Zusammenhang durchaus als Analogie zur Souveränität gelesen werden muss: „Inner order by means of effective self-regulation is, then, the key to Nietzsche’s concept of sovereignty“ (Siemens 2015, S. 649). Nietzsche vertritt in diesem Sinne ein, wie es Siemens formuliert, „organismic model of sovereignty“ (Siemens 2015, S. 651), welches neben der Selbstregulierung durch Assimilation und asketische Selektion bestimmt ist (vgl. Siemens 2015, S. 635, 651). Dieses Konzept von Souveränität, welches in Analogie zum Organismusmodell entwickelt wird, ist also ein Modell für den Umgang mit anderen Menschen, ein „model for individual social agency“ (Siemens 2015, S. 639). Der autonome Mensch ist nicht mehr souverän im Sinne einer Unabhängigkeit von anderen Menschen: Nietzschean sovereignty is non-sovereign in the sense that it depends on cultivating certain relations with others; it is deeply (…) relational in character. But it is sovereign in the sense that those relations are determined from within by the specific life-form (‘organism’) in search of the optimal conditions of existence unique to it and by the kind of self-regulation this requires (Siemens 2015, S. 639 f.).
Souveränität stellt sich demnach nur innerhalb eines notwendigen, aber nicht-kausaldeterministischen, organischen Geschehens ein, in welchem die Teile und das Ganze in einem nicht aufzulösenden relationalen Verhältnis zueinander stehen. Aktivität und Selbstermächtigung findet demnach nur statt, wenn den sich notwendig entladenden Kräften eine selbstbestimmte Rangordnung der Triebe und Affekte entgegengestellt wird, die wiederum durch Praktiken der Askese bestimmt wird. In diesem Sinne erschöpft sich auch die Linie Souveränität-Organismus nicht in bloßer Analogie, sondern hierin kommt ebenfalls zum Ausdruck, dass sich Autonomie im Handeln bei Nietzsche nur innerhalb von dessen Organismusmodell bestimmen lässt. In diesem Modell kommt das Prinzip der Willen-zur-Macht zum Ausdruck und somit ist das Organische bei Nietzsche „nur als Relationsgefüge von Reiz, Entladung, Auslassung und einverleibendem Übermächtigen“ (Abel 1998, S. 110) denkbar. Den Menschen am Leitfaden des Leibes zu interpretieren, bedeutet also, die ‚Einheit der Person‘ auf die Vielheit der leiblichen Prozesse zurückzuführen: „Am Leitfaden des Leibes erkennen wir den Menschen als eine Vielheit belebter Wesen, welche theils mit einander kämpfend, theils einander ein- und untergeordnet, in der Bejahung ihres Einzelwesens unwillkürlich auch das Ganze bejahen“ (NL 1884, KSA 11, 27[27], S. 282). Cartesianische Subjektivität wird somit als Oberflächenphänomen der darunter liegenden leiblich-organischen Prozesse gedeutet, in welchen Einheit nicht mehr als Einheit eines bewussten Ichs gedacht wird, sondern das bewusste Ich vielmehr zum Teil einer größeren Einheit wird, welche nicht mehr durch Geschlossenheit und ein Mit-sich-identisch-sein, sondern über das Zusammenspiel der einzelnen Teile herge-
4.3 Selbstsorge, Diätetik und die große Gesundheit
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stellt wird: „Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne“ (Z I Verächtern, KSA 4, S. 38). Somit haben Nietzsches Ernährungsvorschriften den weiterführenden Sinn, die leiblich-organische Vielheit zu einer Ordnung zusammenzubringen, indem das Individuum über diätetische Askesepraktiken in die Lage versetzt wird, gewisse Teile in sich zu bestärken und andere vorübergehend in den Hintergrund treten zu lassen. Der „dominirend[e] Instinkt“ (GM II 2, KSA 5, S. 294) innerhalb der großen Vernunft des Leibes soll also aus der Vielheit der Anschauungen, Reize, Triebe und Affekte herausgefiltert werden.⁴⁶ Es lassen sich demnach mehrere Ebenen ausmachen, in denen Nietzsche den Ernährungsbegriff nutzt, um grundlegende Elemente seiner Philosophie zu verdeutlichen bzw. deren Grundlagen zu erläutern: erstens, wenn es um die Darstellung seiner Wahrnehmungsphilosophie geht (Filterung), zweitens in Zusammenhang mit seiner Lehre vom Willen zur Macht (Terminus der Überwältigung), drittens erneut bezüglich seiner Wahrnehmungsphilosophie (Begriff der Einverleibung) und schließlich viertens in Verbindung mit seiner Vision vom souveränen Individuum (Erinnern, Vergessen). Bezüglich dieser Thematik führt Foucault aus, dass die Ernährung in der klassisch-griechischen Epoche der Logik der Selbstbeherrschung folgt. In asketischen Übungen soll das Maßhalten gegenüber seinen Leidenschaften gestärkt werden, damit diese einen nicht übermannen oder schädlich und krankhaft werden (vgl. SW II, S. 75, 161). Nietzsche wendet sich gegen eine solche Rede von der Selbstbeherrschung der eigenen Lüste. Er folgt hierbei der Diktion, dass ein gesundes Leben eine solche Selbstbeherrschung gar nicht erst nötig hat, da in einem guten Affekthaushalt Instinkte niemals etwas schlechtes, unfrei Machendes sein können (vgl. GD Sokrates 9, 12, KSA 6, S. 71 f., S. 73). Für Nietzsche liegt also im Nachgeben gegenüber einer Leidenschaft generell nichts Krankhaftes, sondern es birgt die Gefahr in sich, seine Kräfte zu verschwenden (vgl. GD Streifzüge 41, KSA 6, S. 143). Darüber hinaus haben die Ernährungsratschläge bei Nietzsche die Funktion, ein dem Individuum gemäßes Essen und Trinken zu etablieren (vgl. EH klug 1, KSA 6, S. 279 f.). Die Essensregeln folgen also nicht dem Duktus der Selbstbeherrschung,
Der Begriff vom Subjekt, der hierbei entsteht, ist nicht mehr wörtlich zu nehmen, d. h. hierunter wird nicht mehr das autonome, Handlungen initiierende Zentrum eines Individuums verstanden, vielmehr orientiert sich der neue, variierte Subjektbegriff an der Vielheit der Affekte, die diesem vorangehen und die zu einer gewissen Ordnung gebracht werden müssen, damit wieder so etwas wie selbstbestimmtes Handeln entstehen kann. Während also in der Subjektvorstellung der Tradition Freiheit als bereits gegebene Fähigkeit des Subjekts begriffen wird, geht Nietzsche umgekehrt von einer gegebenen Notwendigkeit der inneren Abläufe aus, in die Freiheit gewissermaßen nur „nachgeholt“ integriert werden kann, indem über Selbstpraktiken Einfluss auf die Rang- und Reihenfolge dieser Affekte genommen wird.
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
sondern dem Kalkül, nur das zu sich zu nehmen, was der eigenen Verdauung und somit auch der geistigen Verdauung guttut.⁴⁷ Die hellenistische Form der Diätetik weist eine größere Nähe zu Nietzsches Figur der „Herrschaft über sich“ (GM II 2, KSA 5, S. 294) auf. Die Ernährungsvorschriften der hellenistischen Epoche werden von Foucault nicht auf allgemeinverbindliche Regeln und Codes, sondern auf einen noch stärker gewordenen Selbstbezug und die Sorge um den eigene Körper zurückgeführt (vgl. SW III, S. 57; Kögler 2004, S. 78 f., 159). Jenes römische „goldene Zeitalter in der Kultur seiner selber“ (SW III, S. 62), welche das Ziel hat, frei über sich zu verfügen, hat ebenfalls eine maßvolle Befriedigung der eigenen Bedürfnisse im Sinn (vgl. SW III, S.71). Jedoch wird in der römisch-hellenistischen Kultur seiner selber die Selbstsorge in eine gesteigerte Aufmerksamkeit auf den Körper sowie in eine medizinisch-philosophische Kultur transformiert (vgl. SW III, S. 75, 78). Der Verzicht wird auch im Hellenismus/Stoizismus nicht aufgrund einer generellen Lustfeindlichkeit vollzogen, sondern hat eine Souveränität zum Ziel, welche in einer größtmöglichen Unabhängigkeit von äußeren Bedürfnissen besteht (vgl. SW III, S. 81). Im Gegensatz zur sokratischen Tradition folgt also das Maßhalten bei Nietzsche nicht der Logik der Bedürfnisminimierung, sondern einer Unterscheidung zwischen überflüssigen und notwendigen Bedürfnissen. Hierin kommt die hellenistisch-stoische Selbstsorge Nietzsches Ausführungen sehr nahe, da dieser ebenfalls die asketischen Selbstpraktiken dazu nutzen möchte, eine Züchtung und Hierarchie innerhalb der Triebe und Bedürfnisse zu entwickeln, welche diese wiederum zu einem höheren Ziel führen kann, anstatt sie in einem laisser aller in verschiedene Richtungen zerfließen zu lassen (vgl. GD Streifzüge 41, KSA 6, S. 143). Was den konkreten Punkt der Ernährung angeht, so finden sich wie bei Nietzsche auch bei Autoren der spätantiken Epoche Verbindungen zwischen körperlicher und geistiger Verdauung. Foucault zitiert in diesem Zusammenhang Epiktet: „Heute aber kaufen Leute, die nicht den geringsten Bissen schlucken können, eine Abhandlung und schlingen sie in sich hinein. Sie erbrechen oder bekommen eine Verstopfung (…), sie hätten beizeiten an ihr Aufnahmevermögen denken sollen“ (SW III, S. 80). Hier wird also, wie auch bei Nietzsche, die individuelle Aufnahmefähigkeit des Magens als Wertmesser für die eigene Ernährung angeführt und diese wiederum auf die geistige Aufnahmefähigkeit übertragen. Die diätetischen Selbstsorgepraktiken setzen also das delphische Prinzip der Selbsterkenntnis (‚Erkenne dich selbst‘) voraus (vgl. SW III, S. 81; EH klug 1, KSA 6, S. 278 ff.).⁴⁸ Foucault erkennt hierin das hellenistische Prinzip einer „Annäherung zwischen Medizin und Moral“ (SW III, S. 79). Unter Bezugnahme auf Plutarch verdeutlicht Foucault, dass es in der Sorge um den eigenen Körper sowie in dem Wissen, das man über ihn erlangen soll, auch darum Gemeinsam ist der nietzscheanischen und der sokratischen Diätetik hingegen, dass beide keinen allgemeinen Gesetzen oder Vorschriften folgen, sondern die Gesundheit des Einzelnen im Blick haben (vgl. SW II, S. 75; EH klug 1, KSA 6, S. 278 ff.). Boyle (Boyle 2012) weist darauf hin, dass bei Foucault das antike Prinzip der Selbsterkenntnis (gnothi seauton) dem der Selbstsorge (epemelia heautou) untergeordnet ist (vgl. Boyle 2012, S. 144).
4.3 Selbstsorge, Diätetik und die große Gesundheit
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geht, eine größere Autonomie von ärztlicher Behandlung zu erlangen: „Die diätetische Literatur ist dazu da, diese Autonomie zu fördern“ (SW III, S. 134). Dieser Wunsch kommt auch in Nietzsches bereits zitierter Äußerung zum Ausdruck „mich nicht mehr besorgen, bedienen, beärzteln zu lassen“ (EHweise 2, KSA 6, S. 266). Die medizinisch-philosophischen Anleitungen, so arbeitet es Foucault unter Bezugnahme auf Epiktet, Galen, Seneca, Fronto und Plutarch heraus, dienen hierbei als „ein Korpus von Wissen und Regeln“, die „eine Lebensweise definieren, eine Form des reflektierten Verhältnisses zu sich, zu seinem Körper, seiner Nahrung“ (SW III, S. 134). Voraussetzung für die praktische Konstitution seiner selbst als ein souveränes Individuum ist demzufolge das genaue Studium des eigenen Körpers und seiner Bedürfnisse, seiner Aufnahmefähigkeit sowie seiner Schwächen und Erkrankungen (vgl. EH klug 1, KSA 6, S. 278 ff.; SW III, S. 77, 78, 80). Nietzsche steht also hinsichtlich der Diätvorschriften eher dem Stoizismus als dem Sokratismus nahe. Anders ausgedrückt: Innerhalb des Rasters der foucaultschen Deutung der antiken Diätvorschriften eignet sich der Stoizismus besser als Analysemuster für Nietzsches Darstellung praktischer Lebensvorschriften als der Sokratismus. Jenseits der individuellen Unterschiede haben jedoch Nietzsches Selbstsorgepraktiken sowohl mit der spätantiken als auch mit der griechisch-klassischen Diätetik (wie Foucault sie deutet) gemeinsam, dass sie ein autonomes Individuum hervorbringen wollen, welches sich über die Achtsamkeit hinsichtlich der Ernährung, des Ortes und des Klimas konstituiert, und dessen Autonomie gerade im freien ‚Aus- und Einhängen‘ der eigenen Instinkte liegt. Foucault fasst dies folgendermaßen zusammen: So problematisiert die Diätetik (…) eine ‚Aktivität‘, der insgesamt freier Lauf zu lassen oder ein Zaum anzulegen ist – je nach den zeitlichen Anhaltspunkten (…). Der sexuelle Akt wird nicht als eine erlaubte oder unerlaubte Praktik betrachtet (…): er wird als eine Aktivität aufgefaßt, die im Schnittpunkt zwischen dem Individuum und der Welt, dem Temperament und dem Klima, den Eigenschaften des Körpers und denen der Jahreszeit mehr oder weniger unheilvolle Folgen nach sich ziehen kann und daher einer mehr oder weniger restriktiven Ökonomie folgen muß (SW II, S. 149/150).
Die hier genannten Kriterien von Klima und Jahreszeit werden, nachdem der Punkt der Ernährung besprochen worden ist, im Folgenden ebenfalls anhand von Nietzsches Spätwerk Ecce homo erläutert und konkretisiert werden.
4.3.2 Die Umgebung In der Analyse eines Briefwechsels zwischen Fronto und Marc Aurel findet Foucault die Elemente des Ortes und des Klimas, deren Berücksichtigung der Erkrankung entgegenwirken soll, und die sich somit in die Praktiken der Selbstsorge und der Selbstbeobachtung einreihen:
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
Der Briefwechsel (…) zeigt deutlich den Platz der Sorge um den Körper in diesen Selbstpraktiken, aber auch den Stil dieser Beschäftigung: die Furcht vor dem Exzeß, die Ökonomie der Diät, das Vormerken von Unwohlsein (…), die Berücksichtigung aller Elemente (Jahreszeit, Witterung, Ernährung, Lebensweise), die den Körper – und durch ihn die Seele – stören könnten (SW III, S. 79).
In der Etablierung eines souveränen Selbst kommt – innerhalb der hellenistischen medizinisch-philosophischen Gesundheitspflege – der Achtsamkeit bezüglich der unmittelbaren Umgebung und Witterung eine zentrale Rolle zu. Auch für Nietzsche hat die unmittelbare Umgebung, neben der Ernährung, großen Einfluss auf die seelisch-geistige Entwicklung. Da Klima und Ort den Stoffwechsel maßgeblich mitbestimmen und „der ‚Geist‘ selbst (…) nur eine Art dieses Stoffwechsels“ (EH klug 2, KSA 6, S. 282) ist, so ist es für Nietzsche nur folgerichtig, dass ein gesundes Klima bzw. gesunde Orte (Nizza, Sils Maria, Turin) im Individuum auch eine enorme denkerische Kraft bzw. eine Leichtigkeit im Denken entwickeln (vgl. Schipperges 1975, S. 161 ff.). Nietzsche nimmt hier Bezug auf seine grundsätzlichere Überlegung, wonach der Intellekt und das Bewusstsein als etwas grundsätzlich dem Physiologischen Nach- und Untergeordnetes betrachtet werden müssen (vgl. Sommer 2013, S. 407; AC 14, KSA 6, S. 180 f.). Er stellt einen Zusammenhang von Klima, Physiologie und Selbstwerdung her, wenn er schreibt: Es steht Niemandem frei, überall zu leben; und wer grosse Aufgaben [Hervorherbung durch den Verf. – J. H.] zu lösen hat, die seine ganze Kraft herausfordern, hat hier sogar eine sehr enge Wahl. Der klimatische Einfluss auf den Stoffwechsel, seine Hemmung, seine Beschleunigung, geht so weit, dass ein Fehlgriff in Ort und Klima Jemanden nicht nur seiner Aufgabe entfremden, sondern ihm dieselbe überhaupt vorenthalten kann: er bekommt sie nie zu Gesicht (EH klug 2, KSA 6, S. 281 f.).
Nietzsche sieht die Gefahren, welche auf den eigentlichen Philosophen lauern, u. a. darin, dass er sich seiner Aufgabe nicht bewusst wird, dass er sich z. B. zu sehr und zu früh wissenschaftlich spezialisiert. Er führt diese Gefahr auch hier auf das Klima und die dadurch bedingte Geschwindigkeit des Stoffwechsels zurück: „Eine zur schlechten Gewohnheit gewordne noch so kleine Eingeweide-Trägheit genügt vollständig, um aus einem Genie etwas Mittelmäßiges, etwas ‚Deutsches‘ zu machen (…). Das tempo des Stoffwechsels steht in einem genauen Verhältniss zur Beweglichkeit oder Lahmheit der Füsse des Geistes“ (EH, klug 2, KSA 6, S. 282). Die „Aufgabe“, von der Nietzsche hier spricht, wurde als Aufgabe der Hervorbringung eines höheren Typus erkannt, eines Tieres, „das versprechen darf“ (GM II 1, KSA 5, S. 291), d. h. des souveränen Individuums (vgl. Sommer 2013, S. 406).⁴⁹
Diese Rückführung der geistig-intellektuellen Tätigkeit auf biologische Prozesse, die Nietzsche in den philosophischen Diskurs einführt, findet ihre Entsprechung in den zeitgenössischen, evolutionsbiologischen Diskussionen. Im Gegensatz zum Darwinismus vollzieht sich bei Nietzsche jedoch die Selektion zwischen stark und schwach nicht auf rein natürliche Weise, sondern es besteht die Mög-
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Nietzsche macht neben Ort und Klima auch den Umgang für das Hervorbringen oder das Ausbleiben souveräner Individuen verantwortlich. In der Rückführung des Geistes auf Stoffwechselprozesse vollzieht Nietzsche eine Gegenüberstellung von dem Idealismus seiner früheren beruflichen Tätigkeit und der medizinisch-philosophischen Selbstsorge: „In meiner Basler Zeit war meine ganze geistige Diät, die Tages-Eintheilung eingerechnet, ein vollkommen sinnloser Missbrauch ausserordentlicher Kräfte (…). Als ich fast am Ende war, dadurch, dass ich fast am Ende war, wurde ich nachdenklich über diese Grund-Unvernunft meines Lebens – den ‚Idealismus‘. Die Krankheit brachte mich zur Vernunft“ (EH klug 2, KSA 6, S. 283; vgl. Sommer 2013, S. 407; M 435, KSA 3, S. 267). Nietzsche führt also erneut auch seine persönliche Biographie an, um sich selbst performativ als Beispiel einer gelungene Genesung darzustellen. Die wiederholte Betonung des Idealismus sowie des Altruismus (vgl. EH klug 1, 2, KSA 6, S. 279, 283), welchen Nietzsche sowohl in seiner früheren Ernährung als auch bezüglich der Wahl von Ort und Klima immer wieder erwähnt, verweist in diesem Zusammenhang zum einen auf „diätmoralischen Altruismus, der isst, was alle essen“ (Lemke, H. 2007, S. 409), und sich damit den guten Geschmack und die Verdauung verdirbt. Zum anderen wird hier grundlegender auf die platonistisch-christliche Tradition abgehoben, in welcher Nietzsche zufolge gerade die nicht-leiblichen Aspekte des Lebens Wert erhalten haben, während eine Beschäftigung mit der Sphäre des Körperlichen schmerzlich versäumt wurde (vgl. Lemke, H. 2007, S. 410 f.).⁵⁰ Da sich Nietzsche als einen ehemals an den akademischen Wissenschaftsbetrieb Verlorengegangen beschreibt, welchem es jedoch geglückt ist, über die Erkenntnis seiner Krankheit gesund zu werden, stellt er sich selbst erneut als Beispiel eines „wohlgerathne[n] Mensch[en]“ (EH weise 2, KSA 6, S. 267) dar, welcher sowohl Anteile des décadents (Krankheit) als auch Anzeichen von Größe (Gesundheit) in sich trägt (vgl. EH weise 2, 6, KSA 6, S. 266 f., 272 f.). Auch der Aspekt der Achtsamkeit bezüglich der Umgebung und des Klimas, welchen Foucault als Element der stoisch-römischen Selbstsorgepraktiken ausmacht,
lichkeit, über Einübung konkreter, alltäglicher Techniken auch aktiv auf diese Selektion Einfluss zu nehmen (vgl. Sommer 2013, S. 406). Die Auseinandersetzung mit der rechten Ernährung und dem rechten Klima dient also auch der Etablierung einer Gegen-Kultur gegen das übermächtig gewordene, letztlich lebensverneinende asketische Ideal. Nietzsche analysiert in GM, III das asketische Ideal als in letzter Konsequenz lebensverneinendes, aber dennoch über das Leben herrschendes Prinzip. Zugleich etabliert er jedoch das Ideal des asketischen Philosophen (vgl. GM III 8, KSA 5, S. 351 ff.). Es gilt daher, zu unterscheiden: Einerseits beschreibt und kritisiert Nietzsche das Prinzip des asketischen Ideals als „geschlossene[s] System von Wille, Ziel und Interpretation“ (GM III 23, KSA 5, S. 396) also als ein sowohl die menschliche Wahrnehmung als auch das Handeln steuernde Matrix. Und anderseits geht es ihm um diejenigen asketischen Ideale, welche dazu beitragen sollen, den zukünftigen Philosophen hervorzubringen (vgl. GM III 8, KSA 5, S. 351 ff.).Während das asketische Ideal den menschlichen Willen letztlich dazu bringt, zu einem Willen zum Nichts zu werden, so sind letztere asketische Ideale gerade Bedingungen für eine diesseitige, souveräne Existenz.
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findet sich demnach in den lebensphilosophischen Anleitungen Nietzsches im Ecce homo. Foucault analysiert die römisch-stoische Sorge um den eigenen Körper als eine sich an der Grenze zur Paranoia befindliche Überreiztheit. Die ‚Gesundheitspraxis‘ impliziert eine starke Fokussierung auf den gesundheitsfördernden oder -schadenden Aspekt der sozialen, klimatischen und räumlichen Umgebung: [Z]wischen dem Individuum und dem, was es umgibt, unterstellt man ein ganzes Gespinst von Interferenzen, wonach die und die Anlage, dieses Ereignis, jene Veränderung in den Dingen krankhafte Wirkungen im Körper hervorbringen werde (…). Beständige und detaillierte Problematisierung der Umgebung (…). Diese beständige Befassung mit der Umgebung, den Orten und Zeitpunkten führt zu einer ständigen Aufmerksamkeit auf sich, den Zustand, in dem man sich befindet, und den Gesten, die man tut (SW III, S. 136, 137).
So zeigt Foucault, unter Bezugnahme auf Athenaios und Antyllos, dass selbst die Architektur des Hauses und des Zimmers, in dem man wohnt, Einfluss auf die körperlich-geistige Gesundheit haben kann (vgl. SW III, S. 136). Die Berücksichtigung des Ortes und des Klimas ist zwar einerseits Bedingungen einer souverän geführten Existenz; andererseits jedoch weist Foucault auf die Möglichkeit hin, durch die ständige Beschäftigung mit der eigenen Gesundheit eine Überreiztheit zu entwickeln. Die beständige und teils etwas überempfindlich wirkende Beschäftigung Nietzsches mit den sozialen, klimatischen und geographischen Umgebungen im Ecce homo, welche ihren philosophiegeschichtlichen Vorläufer in der spätantiken Philosophie der Selbstsorge hat, mag auch darauf zurückzuführen sein, dass Nietzsche beständig sich und seine Krankheitsgeschichte in seine Philosophie der Ernährung und des Klimas mit einbringt (vgl. EH weise 2, KSA 6, S. 266 f.). Nietzsche selber betonte, dass er aufgrund seiner Überempfindlichkeit und ungewöhnlich kräftezehrenden Krankheitsgeschichte in besonderer Weise sowohl zur Analyse der Krankheit und der décadence als auch der Gesundheit und der Stärke geeignet sei (vgl. EH weise 1, 2, KSA 6, S. 266 f.). Bei Nietzsche findet sich jedoch auch eine tieferreichende Begründung für den Zusammenhang von Gesundheit und Krankheit: er löst die herkömmliche bipolare Unterscheidung zwischen Gesundheit und Krankheit auf zugunsten einer „dialektischen Dynamisierung von Gesundheit und Krankheit“ (Schmücker 2012, S. 226). Die Krankheit wird demnach als etwas vorgestellt, was für die Etablierung der Gesundheit unverzichtbar ist. Dies bedeutet, dass die große Gesundheit, verstanden als innere Hierarchisierung und Ordung der Triebe und Leidenschaften, erst denkbar wird durch Episoden der Krankheit und der Auflösung, welche es ermöglichen, seine innere Struktur neu zu ordnen (vgl. Campioni 2015, S. 229). Der Grad der Gesundheit bemisst sich in diesem Sinne auch danach, wie viel jemand zu leiden in der Lage ist (vgl. Schipperges 1975, S. 134, 135, 138; Schmücker 2012, S. 226 f.; van Tongeren 2008, S. 27 f.).
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Darüber hinaus wird hieran deutlich, dass ein allgemeiner Begriff von Gesundheit aufgegeben werden muss (vgl. FW 120, KSA 3, S. 477). Bei Nietzsche findet vielmehr eine Pluralisierung des Gesundheitsbegriffs statt. Dies ermöglicht, Gesundheit nicht als etwas Statisches zu denken, sondern als einen niemals definitiv abschließbaren Prozess, welcher auch Nietzsches Philosophie der Transformation sowie seiner Lehre der dynamischen Willen-zur-Macht-Quanta entgegen kommt (vgl. FW Vorrede 3, KSA 3, S. S. 349; van Tongeren 2008, S. 28, Abel 1998). Zum einen wird also ein dialektisches „Zugleichsein von Gesundheit und Krankheit“ (Schipperges 1975, S. 135) konstantiert. Zum anderen wird der Begriff einer allgemeingültigen Gesundheit zurückgewiesen, was Gesundheit zu etwas radikal Individuellem macht: „wobei man die Gesundheit vor allem als ein individuelles Phänomen zu sehen hat, von dem man keine allgemeingültigen Begriffe aufstellen kann“ (Schipperges 1975, S. 135). Da der Sinn der diätetischen Praktiken in der Herstellung der großen Gesundheit liegt (vgl. Schipperges 1975, S. 139), so lässt sich schließen, dass „allgemeine diätetische Vorschriften daher Unsinn sind“ (Klass 2008, S. 412).Was dem einen an Ernährung oder Klima zur Stärkung und zur Regeneration von Kraft hilft, kann für den anderen verheerende Wirkungen haben (vgl. Klass 2008, S. 412; JGB 30. KSA 5, S. 48 f.). Diese Überlegungen sind zum einen auf Nietzsches generelle Feststellung zurück zu führen, dass wir alle „unbegrenzt-individuell“ (FW 354, KSA 3, S. 592 f.) sind und dass nur die Grammatik, die unserem bewussten Denken zugrunde liegt, uns dazu verführt, unser Wesen allgemeinen Begriffen unterzuordnen (vgl. JGB 17, KSA 5, S. 31). Darüber hinaus sind hier auch Nietzsches Ausführungen zum Organismus zu berücksichtigen. Denn es ist gezeigt geworden, dass die diätetischen Praktiken der Selbstsorge den weiterführenden Sinn haben, eine Rangordnung, eine innere Hierarchie der Triebe und Affekte zu gewährleisten. Diese ordnende Funktion ist sowohl Merkmal der großen Gesundheit wie auch der einer souveränen Individualität. Deutlich wurde in diesem Zusammenhang, dass die asketischen Übungen der Selbstsorge (Nahrungsauswahl, Reizfilterung, Auswahl des Klima und des Ortes) auf den Organismus des Einzelnen einwirken sollen, um autonome Individuen zu erzeugen, welche in der Lage sind, die Grundlagen ihrer eigenen Selbstwerdung zu beeinflussen und zu steuern (vgl. Müller-Lauter 1999, S. 116). Dem liegt wiederum der Gedanke zugrunde, dass der Organismus des Einzelnen zwar einerseits unhintergehbar in ein relationales Geschehen eingeordnet ist, in welchem auch äußerliche leibliche Kräfte auf ihn einwirken; dass jeder Organismus in seiner jeweiligen Entstehungsgeschichte aber trotzdem etwas notwendig Einzigartiges und Individuelles darstellt, das nicht mit übergeordneten Begriffen eingefangen werden und somit auch nicht mit dem Terminus eines einheitlichen Subjekts in Verbindung gebracht werden kann (vgl. Abel 1998, S. 110, 119, 124). Aufgrund dieses „physiologischen Perspektivismus“ (Schmücker 2012, S. 226) ist somit der Einzelne in seiner organischen Konstituiertheit notwendig einzigartig. Dies führt dazu, dass auch Nietzsches Begriff der Gesundheit und hiermit auch dessen diätetische Anleitungen notwendig diesem erkenntniskritischen Perspektivismus
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Folge leisten (vgl. Schipperges 1975, S. 139; Schmücker 2012, S. 226; van Tongeren 2008, S. 28). Insofern sind sowohl die Begriffe der Gesundheit, als auch die der Stärke und der Autonomie notwendig an das Individuum gebunden. Nietzsches Diätetik ist somit nicht als eine allgemeingültige Philosophie der Ernähung zu lesen. Viemehr muss jeder Einzelne, dem sokratischen Motto der Selbsterkenntnis folgend, den eigenen Organismus insoweit kennen, als dass er sich dessen Aufnahme- und Belastungsfähigkeit hinsichtlich diätetischer Aspekte (Ernährung, Ort, Klima) bewusst ist (vgl. Klass 2008, S. 414).⁵¹ Nietzsche nennt neben Ernährung und Klima zuletzt den Aspekt der Erholung, um die physiologischen Voraussetzungen für die Erschaffung souveräner Individuen darzustellen.
4.3.3 Die Erholung Die Erholung (vor allem das Lesen von Büchern) gilt Nietzsche nur für Zeiten der bewussten Unproduktivität als angebracht, da sie ansonsten die eigene Kreativität hemmen würde (vgl. EH klug 3, KSA 6, S. 284 ff.). Dies geht auf grundsätzlichere Überlegungen Nietzsches zum Themenkomplex Arbeit und Muße zurück: Der modernen Arbeit als bloßer Beschäftigung, als Ablenkung oder als Hast stellt Nietzsche das Ideal eines Wechselspiels von Arbeit und Muße entgegen, welches sowohl dazu in der Lage ist, die Langeweile auszuhalten, als auch dazu, die Arbeit aus Lust zu vollbringen (vgl. Schipperges 1975, S. 166 ff.; M Vorrede 5, KSA 3, S. 17). Genau wie für den erkrankten Menschen ist es auch für den kreativ Tätigen notwendig, möglichst viele äußere Reize zu vermeiden, um so das „Vermögen, von sich aus zu denken“ (EH klug 8, KSA 6, S. 292 f.) beizubehalten. Es ist gezeigt worden, dass Kreativität für Nietzsche auf zentrale Weise mit seiner Konzeption von Freiheit zusammenhängt, sodass er an dieser Stelle nicht bloß in abstrakter Weise von Kunst
In diesem Zusammenhang muss kurz darauf hingewiesen werden, dass Nietzsches Reflexionen über Gesundheit und Krankheit keinesfalls in einen rassistischen und nazistischen Kontext verstanden werden können (vgl. Lemm 2015, S. 57). Foucault hatte in VG die Funktion des Rassismus im Zeitalter Bio-Macht dadurch bestimmt, dass er „eine Zäsur biologischen Typs“ (VG, S. 301) in das biologische Kontinuum einführt. Das genozidale Argument dafür, andere Rassen zu vernichten, besteht laut Foucault darin, dass man durch den Massenmord „das Leben im allgemeinen gesünder machen“ (VG, S. 302) würde, da die ‚krankhafte Rasse‘ vernichtet würde. Hierbei gilt es jedoch zu berücksichtigen, dass Nietzsche einen radikal individualistischen Begriff von Gesundheit vertritt. Überlegungen, den Terminus der großen Gesundheit in rassistisch-sozialdarwinistische Argumentationsmuster einzugliedern, müssen demnach schon allein deshalb scheitern, weil es eine übergeordnete, allgemeine Gesundheit für Nietzsche gar nicht geben kann. Zum anderen ist daran zu erinnern, dass Nietzsche die Krankheit zu einer Voraussetzung der Gesundheit aufgewertet hat. Somit ist eine Selektion zwischen hohen und niederen Lebensformen widersinnig, kann sich doch die Gesundheit ganz grundsätzlich nicht ohne die Erfahrung der Krankheit einstellen (vgl. Lemm 2015, S. 57; Esposito 2008).
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spricht, sondern genauso von einer autonomen Art der Selbstkonstitution (vgl. JGB 213, KSA 5, S. 148). Dieses Verhalten des Künstlers lässt sich ebenfalls über das Analyseraster jener foucaultschen subjektphilosophischen Deutung der spätantiken Selbstsorgeschulen interpretieren. Denn Foucault leitet aus seinen Untersuchungen u. a. die Forderung ab, sich über Askese möglichst weit von der Außenwelt unabhängig zu machen, um in seinem Verhältnis zu sich nicht von äußeren Urteilen und Bewertungen abzuhängen (vgl. MW, S. 326, 350 f., 354). Verbunden ist hiermit ein Subjekt, welches eine maximale Unabhängigkeit von der Welt und somit eine Art der Subjektivierung anstrebt, die möglichst stark vom ihm selbst ausgeht (vgl. Saar 2007, S. 274 ff.). Zur richtigen Zeit jedoch kann eine Erholung, z. B. durch anregende Bücher (wie z. B. Montaigne), kreativitätsfördernd sein (vgl. EH klug 3, KSA 6, S. 284 f.). In produktiven Zeiten hingegen wirkt die Beschäftigung mit den Gedanken anderer hemmend auf die Fertigstellung des eigenen Werkes, da es die Fähigkeit beschneidet, eigene Gedanken zu entwickeln: „Man muss dem Zufall, dem Reiz von aussen her so viel als möglich aus dem Wege gehn; eine Art Selbst-Vermauerung gehört zu den ersten Instinkt-Klugheiten der geistigen Schwangerschaft“ (EH klug 3, KSA 6, S. 284). Nietzsche gebraucht an dieser Stelle die Metapher der Schwangerschaft, welche er bereits in der Genealogie der Moral gebrauchte, um den Prozess künstlerischen Erschaffens zu verdeutlichen: Er spricht dort vom „‘mütterliche(n)‘ Instinkt“ (GM III 8, KSA 5, S. 355), den der Schaffende seinem Werk gegenüber empfindet, und setzt somit wiederholt das kreative Schaffen in die Nähe zum leiblichen Vorgang der Schwangerschaft.⁵² Der Schaffensprozess bringt demzufolge zwar etwas hervor, geht aber in dieser kreativen Phase auch durch der Krankheit verwandte Zustände geistiger und somit auch leiblich-organischer Spannung hindurch. Daher sind hierbei dieselben Heilmittel erforderlich wie für den Kranken: Die Konzentration auf das Wesentliche und ein damit verbundener Rückzug von der Welt (vgl. EH weise 6, KSA 6, S. 272 f.). Während Nietzsche die Lektüre anderer Autoren also zur bloßen Erholung ans Herz legt, so fordert er vom Leser seiner eigenen Schriften eine weitaus größere Aufmerksamkeit: „Während das sprechende Ich das von ihm Gelesene zum Erholungsmittel degradiert, soll das von ihm Geschriebene bei seinen Lesern keinesfalls Erholungsbedürfnisse befriedigen“ (Sommer 2013, S. 408). Der Leser, den sich Nietzsche für seine Schriften wünscht, zeichnet sich gerade als Gegenstück zu dem müßigen Leser aus: Er soll gerade nicht „gleich ‚fertig werden‘“ (M Vorrede 5, KSA 3, S. 17), er stellt sich der allgemeinen Hast des modernen Zeitalters im Die Verbindung von Schwangerschaft und Krankheit hat bei Nietzsche Methode, geht sie doch weit über den Zusammenhang hinsichtlich der Kreativität hinaus: So spricht er in der Genealogie der Moral davon, dass das schlechte Gewissen eine Krankheit sei, „aber eine Krankheit, wie die Schwangerschaft eine Krankheit ist“ (GM II 19, KSA 5, S. 327). Hier ist Schwangerschaft im Sinne einer Selbstüberwindungsfigur gemeint (vgl. GM II 3, KSA 5, S. 294 ff.).
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Lesen entgegen, er ist jemand, der „langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offenen gelassenen Thüren, mit zarten Fingern und Augen“ (M Vorrede 5, KSA 5, S. 17) zu lesen vermag. Die Rede vom ‚Nicht-fertig-Werden‘ lässt aufhorchen: Hatte Nietzsche unter Bezug auf Ernährungsbegrifflichkeiten das Nicht-fertig-Werden noch als Ausdruck einer krankhaften, geistigen Verdauungsstörung gewertet, so wird sein Ideal vom Leser gerade mit einer solchen Verdauungsstörung identifiziert. Dies umschreibt Nietzsche mit seinem oft genutzten Ausdruck vom „Wiederkäuen“ (GM Vorrede 8, KSA 5, S. 256), mit welchem er das geduldige Auslegen seiner Aphorismen meint. Hinter dieser Begrifflichkeit verbirgt sich jedoch keine Verdauungsstörung, sondern Nietzsches Bitte an den Leser, das von ihm Geschriebene so lange ‚wiederzukäuen‘, bis es für den eigenen Magen bekömmlich ist. Im Ecce homo verbindet Nietzsche dezidiert seine Kritik der falschen Lektüre mit der Idee des stoischen Auf-sich-selbst-Zurückziehens: Eine andre Klugheit und Selbstverteidigung besteht darin, dass man so selten als möglich reagirt (…). Ich nehme als Gleichniss den Verkehr mit Büchern. Der Gelehrte, der im Grunde nur noch Bücher ‚wälzt‘ (…)[,] verliert zuletzt ganz und gar das Vermögen, von sich aus zu denken (…). Er antwortet auf einen Reiz (– einen gelesenen Gedanken), wenn er denkt – er reagirt zuletzt bloss noch (…). Der Gelehrte – ein décadent (EH klug 8, KSA 6, S. 292 f.).
Der Gelehrte als Typus des reaktiven décadent gilt Nietzsche als Gegenbild zu seinem gewünschten Leser: Dieser soll sich gerade die stoische Abkehr von der Welt aneignen. In der Fröhlichen Wissenschaft stellt Nietzsche sich selbst und die von ihm gewünschten Leser als Gegentypen zu dieser Art des Gelehrtentums dar: „Wir sind etwas Anderes als Gelehrte: obwohl es nicht zu umgehn ist, dass auch wir, unter Anderem, gelehrt sind.Wir haben andere Bedürfnisse, ein andres Wachstum, eine andre Verdauung: wir brauchen mehr, wir brauchen auch weniger.Wie viel ein Geist zu seiner Ernährung nöthig hat, dafür gibt es keine Formel“ (FW 381, KSA 3, S. 635).
Nietzsche stellt hier als Gegentypen zum gelehrten décadent dezidiert sich selbst vor. Er verwendet zudem erneut den Terminus der Verdauung, um zu verdeutlichen, dass eine aktive Art der Intellektualität auf die individuell verschiedenen, organisch verlaufenden Reizverarbeitungsprozesse zurückzuführen ist. Die Ernährungs- und Verdauungsvokabeln greifen also auch in die Themen der Erholung, der Kreativität und des Gelehrtentums über. Dass jener Gelehrte ‚weniger braucht‘ als die allermeisten, verdeutlicht erneut Nietzsches Nähe zu den stoischen Techniken des asketischen Rückzugs von der Welt. Eine Minimierung der äußeren Reize und deren ‚Verdauung‘ führen zu einer anderen, souveränen Art der Geistigkeit. Der ideale Leser wiederum wird von Nietzsche in Parallelisierung zum künstlerischen Typen bestimmt: Es geht darum, keine äußeren Reize hineinzulassen, damit
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die Fähigkeit, „von sich aus zu denken“, d. h. die Fähigkeit zum Erschaffen von neuen Gedanken nicht verloren geht. Dem bloßen Gelehrten wirft Nietzsche vor, nur in der reinen Wiedergabe von bereits Geschriebenem zu verharren. Dies erinnert an Nietzsches Unterscheidung zwischen „Arbeiter[n] der Philosophie“ und den „eigentlichen Philosophen“ (JGB 211, KSA 5, S. 145). Während erstere bloß dazu in der Lage sind, bereits existierende Wertschätzungen und ‚Wahrheiten‘ „festzustellen und in Formeln zu drängen“ (JGB 211, KSA 5, S. 144), so sind die eigentlichen Philosophen hingegen auch fähig, Werte zu schaffen und umzuwerten. Der unausgesprochene Gegentyp zu jenem Gelehrten ist somit der eigentliche Philosoph bzw. das souveräne Individuum: „Das Ich präsentiert sich als jemand, der gerade diesem Gelehrtenlaster der bloßen Reaktivität nicht unterliegt und stellt sich damit in die Tradition des OriginalGenies, das alles aus sich heraus schöpft“ (Sommer 2013, S. 437). Es wird damit auch suggeriert, dass sich Nietzsche mit seinem idealen Leser so etwas wie das souveräne Individuum vorstellt, nämlich ein gesundes, aktives,von sich aus denkendes Wesen, das in der Lage ist, sich ‚ein- und auszuhängen‘. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass das Umwerten und Erschaffen von Werten etwas ist, das sich schon im Lesen von Nietzsches Schriften vollzieht oder zumindest vorbereitet: „Unterschätzen wir dies nicht: wir selbst, wir freien Geister, sind bereits eine ‚Umwerthung aller Werthe‘, eine leibhafte Kriegs- und Siegs-Erklärung an alle alten Begriffe von ‚wahr‘ und ‚unwahr‘“ (AC 13, KSA 6, S. 170; vgl. EH Bücher, 3, KSA 6, S. 302 ff.; White 1997, S. 146, 149; Derrida 2000, S. 32 ff). Wenn auch Nietzsches Lektüreempfehlungen für jene Zeiten der Erholung nicht für einen Vergleich mit der stoischen Selbstproduktion für ein souveränes Leben herhalten können, so kann doch jene futuristische Selbstverwirklichung im Leser der eigenen Schriften, die Nietzsche erreichen möchte (vgl. Kittler 2000, S. 78; Derrida 2000), durchaus mittels des Analyserasters des Lehrer-Schüler-Verhältnisses und des rechten Lesens in der kynisch-stoischen Philosophenschule untersucht werden. Foucault untersucht sowohl das Meditieren über Gelesenes und Vernommenes als auch das Führen von Briefwechseln als Techniken zur Erlangung eines souveränautonomen Verhältnisses zu sich selbst (vgl. SW III, S. 71; Rieger 1997, S. 63 f.). Ersteres dient dazu, vernommene Wahrheiten zu überdenken und zu vertiefen, um sie zu Grundsätzen unseres Denkens und Handelns zu machen. Auf diese Weise wird auch unser Selbstbezug bestärkt und unsere Abhängigkeit von der Welt minimiert. Dieses stete Einüben von erlernten wahren Sätzen führt letztlich zu einer Struktur, die unser Handeln leitet und vermöge derer das Individuum sich selbst als wahrsprechendes Subjekt seiner Handlungen und Denkprozesse konstituieren kann (vgl. HS, S. 397, 401). Das Führen eines Briefwechsels zwischen Schüler und Lehrer hat die Funktion, sowohl dem Meister als auch dem Empfänger die Ratschläge, die jener diesem erteilt, ins Gedächtnis zu rufen (vgl. SW III, S. 71). Die spätantike Praxis des Schreibens wurde von Foucault als eine Weise analysiert, eine souveräne Existenz herbeizuführen. Durch das Lesen der Texte des Lehrers soll im Schüler eine potenzielle Souveränität
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geweckt werden, bzw. das souveräne Leben des Meisters soll als Beispiel und Hilfe dienen (vgl. MW, S. 353). Dieses Lehrer-Schüler Verhältnis, das sich im Verfassen und Lesen von Texten ausdrückt, kann auch als Folie über Nietzsches Selbstproduktion als Autor seiner Texte gelegt werden.⁵³ Nietzsches Anweisungen an seine Leser können als Versuch gewertet werden, über die Darstellung seines eigenen Lebens und der praktischen Gesundheitsvorschriften, welche er an sich vollzieht, ein Beispiel dafür zu geben, wie man sich als souveränes Individuum konstituiert. Hierin drückt sich also der Wunsch aus, sich selbst in seinen Lesern zu verwirklichen, bzw. den Leser zur Souveränität und zur Veränderung seines Lebens zu provozieren (vgl. White 1997, S. 148 f.; 168; MW, S. 373). Darüber hinaus stellt das, was Nietzsche ‚Wiederkäuen‘ nennt, nämlich das vorsichtige, langsame, wiederholende Lesen seiner Texte, eine Art und Weise dar, die Umwertungen und Wahrheiten, die Nietzsche lehrt (ewige Wiederkehr, amor fati), in eine feste Struktur zu überführen, die das eigene Handeln lenkt (vgl. GM Vorrede 8, KSA 5, S. 255 f.; SW III, S. 71; HS, S. 397, 401).⁵⁴ Nietzsche gibt durchaus eine Antwort auf die Frage, welchen Sinn die Beschäftigung mit scheinbar sekundären Problemen wie Ernährung, Klima, Schreiben und Lesen hat: Man wird mich fragen, warum ich eigentlich alle diese kleinen und nach herkömmlichem Urtheil gleichgültigen Dinge erzählt habe: (…) diese kleinen Dinge – Ernährung, Ort, Clima, Erholung (…) sind über alle Begriffe hinaus wichtiger als Alles, was man bisher wichtig nahm. Hier gerade muss man anfangen, umzulernen (EH klug 10, KSA 6, S. 295).
Nietzsche betonte jedoch immer wieder, kein Heiliger werden zu wollen und wies den Leser seiner Schriften eher dazu an, sich selbst auf dem Weg zu seiner Wahrheit zu machen: „Genau das Gegentheil von dem, was irgend ein ‚Weiser‘, ‚Heiliger‘, ‚Welt-Erlöser‘ und andrer décadent in einem solchen Fall sagen würde (…). Nun heisse ich euch, mich verlieren und euch finden“ (EH Vorwort 4, KSA 6, S. 260). In diesem Sinne möchte Nietzsche seine Leser in einer paradoxen Wendung also gerade dazu anleiten, sich nur durch sich selbst leiten zu lassen. Diese Struktur, die im Leser durch wiederkäuendes Lesen der Texte erzeugt wird, hat selbsttransformativen Charakter, denn die wiederholende Beschäftigung mit den dort vorgestellten Gedanken löst auch eine performative Veränderung dessen aus, der sie denkt, ausspricht und eventuell übernimmt: „Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und Jedem: ‚willst du diess noch einmal und noch unzählige Male?‘ würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen“ (FW 341, KSA 3, S. 570; vgl. RS, S. 93 ff.). Diese Art der performativen Verwirklichung eines Gedankens im Leser ist, unter Zuhilfename der späten Arbeiten Foucaults, als eine hellenistisch-stoische Weise der Vertiefung über Wiederholung des Vernommenen zu verstehen (vgl. SW III, S. 71).
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Der Rückbezug auf alltägliche Selbsttechniken ist also für Nietzsche sowohl Voraussetzung als auch Teil der Umwertung der Werte.⁵⁵ Von den „kleinen Dingen“ kommt Nietzsche noch im selben Aphorismus zu den größten Dingen, nämlich zum Gedanken des amor fati. Für Nietzsche sind die asketischen Techniken der Wahl des Ortes, des Klimas und der Ernährung Ausdruck eines „Instinkt[s] der Selbsterhaltung“ (EH klug 8, KSA 6, S. 291), welcher darin besteht, äußere Reize auszuschalten und dessen Funktion darin liegt, möglichst viel Zufälliges innerhalb der Konstitution seiner selbst auszuschließen: „Vieles nicht sehn, nicht hören, nicht an sich herankommen lassen – erste Klugheit, erster Beweis dafür, dass man kein Zufall, sondern eine Necessität ist“ (EH klug 8, KSA 6, S. 292). Dies ist vor dem Hintergrund jenes Aphorismus aus der Götzen-Dämmerung über das Genie als notwendiges Ausleben von Kraft zu verstehen: „Die grossen Menschen sind nothwendig, die Zeit, in der sie erscheinen, ist zufällig“ (GD Streifzüge 44, KSA 6, S. 145). Die das Genie umgebende Umwelt wird als zufällig und somit ihr Einfluss auf das große Individuum als nichtig qualifiziert. Daher gilt es umgekehrt, dafür zu sorgen, dass möglichst viel in einem „gesammelt, gehäuft, gespart“ (GD Streifzüge 44, KSA 6, S. 145) wird, sodass die Aktion möglichst stark vom Einzelnen selbst ausgeht und möglichst wenig eine Reaktion auf äußere Umstände und Reize darstellt. Dass man sich selber wiederum als „Necessität“ (EH klug 8, KSA 6, S. 292) begreifen soll, hängt damit zusammen, dass die Kraft, welche sich in einer Explosion entlädt, in dieser Entladung notwendig ist, also keiner bewussten Steuerung unterliegt. Gerade in dieser Notwendigkeit liegt aber für Nietzsche Freiheit (vgl. JGB 213, KSA 5, S. 148). Denn wenn die Subjekts-Vielheit zu einer Rangfolge der Triebe und Affekte hierarchisiert und geordnet worden ist, so wird die Notwendigkeit des Auslebens der Triebe, die aus einer solchen selbstbestimmten Struktur heraus stattfindet, als Freiheit empfunden. Die Momente der Ernährung, des Klimas und des Ortes beschreibt Foucault in seiner Untersuchung der Philosophie Plutarchs, Senecas, Epiktets und Frontos: „[D]ie Ökonomie der Diät, das Vermerken von Unwohlsein, (…) die Berücksichtigung aller Elemente (Jahreszeit, Witterung, Ernährung, Lebensweise), die den Körper – und durch ihn die Seele – stören können“ (SW III, S. 79). Foucault beschreibt hierbei die Gesundheitspflege Plutarchs als eine Mischform aus Philosophie und Medizin, d. h. es werden Begriffe der Medizin – wie die der Diät, des Arztes, der Gesundheit und der Krankheit – in philosophische Termini überführt. Es geht also um die Behandlung krankhafter Zustände über die Praktiken der Selbstsorge und der Achtsamkeit, was im Umkehrschluss das Erschaffen einer souveränen Form der Identität ermöglichen hilft.
Diese Umwertung bezieht sich auch auf Nietzsches Umwertung und Aufwertung des Organismus gegenüber den mentalen Prozessen (vgl. Abel 1998, S. 110 – 127; Müller-Lauter 1999, S. 97– 141; Schlimgen 1998, S. 48). In der Rückführung des Geistigen auf organisch-dynamische Kräfteprozesse wird jene Aufwertung der „kleinen Dinge“ begründet und theoretisch legitimiert.
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Nietzsches Bestreben, seinem Charakter Stil zu geben, indem man die ‚Vielheit der Subjekte‘ in sich hierarchisiert, geht also auf die von Foucault beschriebene, antike Ästhetik der Existenz zurück (vgl. FW 290, KSA 3, S. 531 f.; SW II, SW III). Diese konstituiert sich über einen sich sorgenden Zugang zu sich, welcher sich in einer Achtsamkeit gegenüber Faktoren wie Jahreszeit, Klima, Ernährung und Enthaltsamkeit vollzieht (vgl. SW III, S. 78 f.; SW II, S. 149 f.). Diese Faktoren werden unter dem Gesichtspunkt der Reizminimierung betrachtet und behandelt. Diese Reizminimierung wiederum hat letztlich den Sinn, ein Verhältnis zu sich zu etablieren, welches den Charakter der Umkehr zu einem selber hat (vgl. SW III, S. 89).
4.3.4 Die Umkehr zu einem selber Diese auf sich selbst zurückführende Bewegung hat zur Voraussetzung, dass die äußere Welt so weit wie möglich ausgeblendet wird. Der Kontakt zur Welt wird demnach durch asketische Praktiken reduziert, um eine Beziehung zu sich aufzunehmen, die „einer Ethik der Beherrschung“ (SW III, S. 90) folgt, welche sich in der hellenistischen Epoche jedoch mehr und mehr zu einem Sich-selbst-in-Besitz-nehmen transformiert (vgl. SW III, S. 90). Die Umkehr zu einem selber, deren Spiegelbild die Abkehr von der Welt ist, vollzieht sich in einem radikalen Verzicht auf alles Äußere. Dies meint zum einen Askese gegenüber Bedürfnissen, die von außen hervorgerufen werden, zum anderen eine Entsagung von gesellschaftlichen Kategorien wie Prestige oder Erfolg. Dergleichen unabhängig von der Außenwelt und derart auf sich und sein eigenes Wertesystem zurückgeworfen, entwirft der Mensch, welcher eine solche Umkehr vollzieht, eine Souveränität, die die Charakteristika der Selbstbeherrschung und – dies ist das Spezifikum der stoischen Souveränität – des Sich-selbst-Genießens trägt: „Schließlich wird auch der Zeitpunkt dieser Ausformung nach wie vor durch die Souveränität des Individuums über sich selbst definiert, doch diese Souveränität erweitert sich in eine Erfahrung, bei der das Verhältnis zu einem selber die Form nicht nur einer Beherrschung, sondern einer Wollust ohne Begehren und ohne Fehl annimmt“ (SW III, S. 93). Souveränität und Selbstbeherrschung drücken sich also nicht bloß in der Kontrolle der Leidenschaften aus, welche die Form des Kampfes annimmt (vgl. SW II, S. 107, 218), sondern in dieser höherstufigen Selbstbeherrschung zeigt sich die Annahme des Lebens und des eigenen Daseins. Diese Bejahung wird erst dann möglich, wenn die griechische Form der Selbstbeherrschung modifiziert wird, d. h. wenn ich meine Leidenschaften nicht als inneren Feind betrachte, sondern mich soweit auf mich selbst zurückziehe, dass es mir gelingen kann, mich als ganze Person zu akzeptieren, ich mich selbst also wie ein Objekt genießen kann. Indem bei allen Handlungen das Verhältnis zu mir selbst oberste Priorität hat, gelingt es zuletzt, diese Beziehung als unabhängig von äußeren Einflüssen zu konstituieren (vgl. SW III, S. 89).
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Auch für Nietzsche ist die Umkehr zu sich selber zentraler Bestandteil der Selbstsorge und somit der Vorbereitung zu einem souveränen Denken und Empfinden. Nietzsche spricht davon, dass er „Einsamkeit nöthig“ habe: „will sagen, Genesung, Rückkehr zu mir“ (EH weise 8, KSA 6, S. 276). Seine „Energie zur absoluten Vereinsamung“ (EH weise 2, KSA 6, S. 266) wird von ihm auch als ein „Selbstvertheidigungs-Instinkt“ (EH klug 8, KSA 6, S. 292) oder als ein „Wehr- und Waffen-Instinkt“ (EH weise 6, KSA 6, S. 272) beschrieben, d. h. für ihn ist die Fähigkeit, die äußeren Reize nicht mehr aufzunehmen und zu verarbeiten, zu bestimmten Zeiten ein notwendiges Heilmittel gegen Krankheit, Schwäche und Niedergang. Nietzsche prägt in diesem Zusammenhang den Begriff des „russischen Fatalismus“ (EH weise 6, KSA 6, S. 273), „jenen Fatalismus ohne Revolte, mit dem sich ein russischer Soldat, dem der Feldzug zu hart wird, zuletzt in den Schnee legt“ (EH weise 6, KSA 6, S. 272).⁵⁶ Es handelt sich also um eine Art „Winterschlaf“, in dem der Stoffwechsel auf ein Minimum reduziert wird, um keine unnötige Kraft zu verschwenden. Die „Herabsetzung des Stoffwechsels“ (EH weise 6, KSA 6, S. 272) hat demnach letzten Endes die Funktion, denselben zu stärken, schließlich hat Nietzsche darauf hingewiesen, dass das tempo des Stoffwechsels Einfluss auf die Beweglichkeit des Leibes und somit auch des Geistes hat (vgl. EH klug 2, KSA 6, S. 282). Die vorübergehende, bewusste Verlangsamung dient also letztlich dem Wieder-gesundWerden. Der russische Fatalismus wird von ihm zudem vor dem Hintergrund seiner Ernährungsethik sowie seiner Wahrnehmungsphilosophie vollzogen: Er ist das „Heilmittel“ (EH weise 6, KSA 6, S. 272) gegen die Überbetonung des Erinnerns, gegen jenes krankhafte Mit-nichts-fertig-Werden, das Nietzsche sowohl mit körperlichen Verdauungsstörungen als auch mit einer Unfähigkeit, Dinge und Reize auszuwählen und zu filtern, assoziiert.⁵⁷ Denn jener Fatalismus, also jene stoisch-trotzige Akzeptanz seines Schicksals, wird verknüpft mit dem Unwillen, die Situation, in der man sich befindet, abzulehnen, da dies in Zeiten der Krankheit und des Niedergangs „tödtlich gefährlich“ (EH weise 6, KSA 6, S. 273) wäre: „Sich selbst wie ein Fatum nehmen, nicht sich ‚anders‘ wollen – das ist in solchen Zuständen die grosse Vernunft selbst“ (EH weise 6, KSA 6, S. 273). Die Erwähnung der „grosse[n] Vernunft“ verweist auf Nietzsches Lehre der großen Vernunft des Leibes, in welcher der Geist und das Bewusstsein lediglich als untergeordnete Teile des Leibes verstanden werden (vgl. Z I Verächtern, KSA 4, S. 39 f.). Vor diesem Hintergrund ist also auch die Forderung Nietzsches, den Stoffwechselprozess auf ein Minimum herunterzufahren, zu verstehen. Getreu dem Motto, dass „der ‚Geist‘
Vgl. zur Begriffsbildung Sommer 2013, S. 282 ff. Nietzsche kann laut eigener Auskunft auch deshalb so gut über Krankheit und décadence-Symptome sprechen, bzw. er ist gerade deshalb so weise, weil er selbst durch die Krankheit und Schwäche hindurchgegangen ist, und gleichzeitig, als Genesender und als Lehrer einer dionysischen Philosophie, vielleicht als einziger, sowohl die ‚Kranken-Optik‘ als auch die Perspektive der großen Gesundheit einnehmen kann.
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selbst (…) nur eine Art dieses Stoffwechsels“ (EH klug 2, KSA 6, S. 282) ist, und Angesichts der Tatsache, dass man unter der Herrschaft der krankhaft gewordenen Erinnerung überdurchschnittlich viel Kraft verliert, ist die Reduzierung des Stoffwechsels und somit die Minimierung der Affektintensität das einzig wirksame Heilmittel auch für die Gesamtheit des Leibes: Weil man zu schnell sich verbrauchen würde, wenn man überhaupt reagirte, reagirt man gar nicht mehr: dies ist die Logik. Und mit Nichts brennt man rascher ab, als mit den Ressentiment-Affekten. Der Ärger, die krankhafte Verletzlichkeit, (…) der Durst nach der Rache (…) – das ist für Erschöpfte sicherlich die nachtheiligste Art zu reagieren (EH weise 6, KSA 6, S. 272).
Deshalb ist es nötig, asketische Praktiken der Abwehr gegen die Reize und Einflüsse der äußerlichen Welt zu etablieren, weil in Zeiten der Schwächung – wie in denen der Produktivität – jeder zufällige Reiz gefährlich werden könnte. Es geht hier also gerade nicht um eine bewusste und aktive Wahl von Orten und Klima etc., sondern um ein bewusstes, vorübergehendes Stehenbleiben in der aktuellen Lebenssituation: Jener ‚russische Fatalismus‘, von dem ich sprach, trat darin bei mir hervor, dass ich beinahe unerträgliche Lagen, Orte, Wohnungen, Gesellschaften, nachdem sie einmal, durch Zufall, gegeben waren, Jahre lang zäh festhielt, – es war besser, als sie ändern, als sie veränderbar zu fühlen (EH weise 6; KSA 6, S. 273).
Nietzsche empfiehlt für solche Situationen also ein Aushängen des Freiheitsdrangs. Während die asketisch-körperlichen Techniken wie die Wahl des Essens, des Ortes und der Erholung letztlich der Konstituierung einer souveränen, ja-sagenden Identität dienen, so geht es in der Rückkehr zu mir darum, zu verhindern, dass die Affekte des Ressentiment zu sehr Besitz von mir ergreifen. Damit dient aber jener russische Fatalismus genauso der Vorbereitung souveräner Individualität, wie jene aktiveren Techniken des Selbst es tun, nur auf eine indirektere, vorbereitende Art. Unter äußerlichen Bedingungen, die den Charakter der décadence tragen, kann also selbst ein ansonsten überlegener Mensch zu keinem anderen Mittel greifen als zum asketisch-fatalistischen Rückzug von der Welt, welcher sich in einem passiven Nicht-zur-Wehr-Setzen äußert. Diese Überlegungen zeigen, dass Stärke bei Nietzsche ein relativer Begriff ist, da er immer auch in Abhängigkeit zu der äußeren Welt und ihren Existenzbedingungen steht (vgl. Sommer 2013, S. 387).⁵⁸
Brusotti (Brusotti 2012b) entwirft eine für diesen Zusammenhang äußerst hilfreiche Differenzierung zwischen dem dionysischen Zustand und dem russischen Fatalismus (vgl. Brusotti 2012b, S. 120 – 126). Während der dionysische Zustand sich dadurch auszeichnet, dass die überbordende Kraft nicht zurückgehalten werden kann und somit zuweilen auf Reize sofort reagiert wird, so ist jener russische Fatalismus vor allem dadurch bestimmt, sich jeglicher Reaktion zu enthalten (vgl. Brusotti 2012b, S. 121, 124). Brusotti trifft hierbei eine Unterscheidung zwischen russischem Fatalismus und starkem Willen: „Der erstere reagiert gar nicht, der letztere eher schwer und langsam“ (Brusotti 2012, S. 124). Die
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Die Umkehr zu einem selber impliziert also auch bei Nietzsche eine radikale Abkehr von der Welt. Die nietzscheanische Rede von der ‚Rückkehr zu mir‘ lässt sich demzufolge als eine stoisch-foucaultsche Denkfigur lesen. Bei Nietzsche findet jedoch auch eine Modifizierung der stoischen Schicksalsbejahung statt. Während das stoisch-kynische Verständnis von Souveränität gerade die radikale Entsagung von der Welt voraussetzt (vgl. SW III, S. 93), so wertet Nietzsche die Unfähigkeit, mit äußeren Reizen fertig zu werden, als Symptom des Verfalls, der Krankheit und der décadence (vgl. EH weise 6, KSA 6, S. 272 f.). Für ihn besteht Souveränität prinzipiell darin, die Reize in einer für sich selbst zuträglichen Weise zu filtern, sich also nicht komplett der Welt zu entziehen, sondern gerade in einer prinzipiellen Offenheit dem Leben gegenüber das eigene Dasein zu bejahen. Die Praktiken der Selbstsorge, welche ohne Zweifel in einer griechisch-römischen Tradition stehen, dienen also auch bei Nietzsche zur Etablierung einer souveränen Identität, welche sich durch die Bejahung seines eigenen Schicksals auszeichnet. Jedoch wird diese Schicksalsbejahung bei Nietzsche erstens als Schicksalsliebe begriffen und setzt zweitens eine grundsätzliche Offenheit der äußeren Welt gegenüber voraus. Hiermit geht Nietzsche über die stoische Denktradition, wie Foucault sie beschreibt, hinaus. Nietzsche steht also hinsichtlich der praktischen Konstitution souveräner Individualität in kritischer Tradition zu den griechischen und römischen Philosophenschulen der Lebenskunst (vgl. JGB 198, KSA 5, S. 118 f.; NL 1880 – 1881, KSA 9, 8[14], S. 286).⁵⁹ Bezüglich der sokratischen Techniken der Selbstbeherrschung merkt Nietzsche an, dass der Topos der Selbstbeherrschung bereits auf einen Verfall der Instinkte hinweist, der dieser Selbstbeherrschung vorausgegangen ist: „Die Instinkte bekämpfen müssen – das ist die Formel für décadence: so lange das Leben aufsteigt, ist Glück gleich Instinkt“ (GD Sokrates 11, KSA 6, S. 73). Das von Foucault herausgearbeitete sokratische Prinzip des Maßhaltens im Gebrauch der Lüste, welches die Gefahr des Übermaßes in Schach halten soll (vgl. SW II, S. 68 f.), deutet Nietzsche als eine Reaktion auf eine Unordnung der Affekte, welche er als Anzeichen des Niedergangs
Nicht-Reaktion ist somit nicht ohne weiteres in den „Katalog“ der Stärke souveräner Individuen einzuordnen. Das Gar-nicht-Reagieren ist also zum einen Audruck einer zumindest vorübergehenden Schwäche, andererseits macht die instikintktive und leibliche Gesundheit den russischen Fatalismus erst grundsätzliche möglich (vgl. Brusotti 2012b, S. 124, 125). Russischer Fatalismus ist somit das Heilmittel für starke Personen, die vorübergehend geschwächt sind: „Die (…) Hauptunterscheidung (reagieren müssen = Schwäche/nicht reagieren müssen = Stärke) kennt also mehrere Ausnahmen“ (Brusotti 2012b, S. 125). Dass die stoische Denkfigur Rückkehr zu einem selber durchaus auch im Sinne von Nietzsches Credo ‚Werde, der du bist‘ verstanden werden kann, macht Frédéric Gros deutlich: „Sich um sich selbst zu sorgen beinhaltet nicht die Rückkehr zu einem verlorengegangenen Ursprung, sondern bedeutet das Hervortreten einer eigenen ‚Natur‘, die allerdings keine uns ursprünglich gegebene ist“ (Gros 2009, S. 655).
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versteht: „Überall waren Instinkte in Anarchie; überall war man fünf Schritte weit vom Excess (…). ‚Die Triebe wollen den Tyrannen machen; man muss einen Gegentyrannen erfinden, der stärker ist‘“ (GD Sokrates 9, KSA 6, S. 71). Die Beherrschung der Triebe durch die Vernunft, als deren geistigen Vater Nietzsche Sokrates betrachtet, ist also erstes Anzeichen einer fehlenden Ordnung im Affektehaushalt, also erstes Anzeichen einer nachlassenden Kraft und inneren Hierarchie. Trotz zum Teil affirmativer Bezugnahme auf die Griechen, vollzieht Nietzsche daher auch dezidiert eine Kritik an deren Philosophie der Lebenskunst.⁶⁰ In Bezug auf die spätantiken Formen der Lebensgestaltung äußert sich Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft über „Stoiker und Epikureer“: Der Epikureer sucht sich die Lage, die Personen und selbst die Ereignisse aus, welche zu seiner äusserst reizbaren intellectuellen Beschaffenheit passen, er verzichtet auf das Uebrige – das heisst das Allermeiste –, weil es eine zu starke und schwere Kost für ihn sein würde. Der Stoiker dagegen übt sich, Steine und Gewürm (…) zu verschlucken und ohne Ekel zu sein; sein Magen soll endlich gleichgültig gegen Alles werden, was der Zufall des Daseins in ihn schüttet (FW 306, KSA 3, S. 544).
An diesem Zitat sticht zunächst die erneute Parallelisierung von Wahrnehmungs- und Verdauungsprozessen ins Auge (Magen, Kost). Nietzsche stellt hier den Stoizismus und den Epikurismus in den Kontext seiner Philosophie der Ernährung. Der Stoiker wird hierbei mit dem russischen Fatalismus in Zusammenhang gebracht, da er sich gegen die Zufälligkeit des persönlichen Schicksals zur Wehr setzt, indem er sich gegen die äußeren Umstände (Gesellschaft, Ort, Klima) abstumpft und gleichgültig macht, also keinen Reiz mehr zu nahe an sich heranlässt, da dieser ihm sofort gefährlich werden, ihn zu tief treffen und verletzen könnte. Dementsprechend empfiehlt Nietzsche den Menschen, die ihr äußeres Schicksal nicht beeinflussen können, den Stoizismus: „Für Menschen (…), die in gewaltsamen Zeiten und abhängig von plötzlichen und veränderlichen Menschen leben, mag der Stoicismus sehr rathsam sein“ (FW 306, KSA 3, S. 544). Der Stoizismus wird also von Nietzsche eher als ein „Wehr- und Waffeninstinkt“ (EH weise 6, KSA 6, S. 272) für bereits Erkrankte beschrieben, während der Epikureismus denen angeraten wird, denen „das Schicksal (…) einen langen Faden zu spinnen erlaubt“ (FW 306, KSA 3, S. 544). Die Sensibilität und relative Aufnahmefähigkeit gegenüber den äußeren Reizen ist ihrer kreativen Arbeit nämlich durchaus zuträglich. In diesem Zusammenhang kommt Nietzsches Igel-Metapher in den Sinn. Nietzsche lehnt es für sich selber ab, zum ‚Igel‘ zu werden, da dies zuletzt dazu führt, das eigene Potenzial nicht ganz ausschöpfen zu können: „Müsste ich nicht darüber zum Igel werden? – Aber Stacheln zu haben ist eine Vergeudung, ein doppelter Luxus
Siehe zur positiven Bezugnahme Nietzsches auf die Griechen: FW Vorrede 4, KSA 3, S. 352; M 9, KSA 3, S. 23. Vgl. zur komplexen und teils widersprüchlichen Bewertung von Sokrates durch Nietzsche: Sommer 2013, S. 485.
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sogar, wenn es einem freisteht, keine Stacheln zu haben, sondern offne Hände“ (EH klug 8, KSA 6, S. 292; vgl. Sommer 2013, S. 436).⁶¹ Die Metapher von den „offne[n] Hände[n]“ weist darauf hin, dass Nietzsches Souveränitätsideal daran gekoppelt ist, dass der „Instinkt der Selbsterhaltung (…) gleichsam ausgehängt“ (GD Streifzüge 44, KSA 6, S. 146) ist, dass also der wahrhaft souveräne Mensch den „Wehr- und Waffen-Instinkt“ (EH Weise 6, KSA 6, S. 272) des stoischen, russischen Fatalismus aushebelt, denn „der überwältigende Druck der ausströmenden Kräfte verbietet ihm jede solche Obhut und Vorsicht“ (GD Streifzüge 44, KSA 6, S. 146). Dies bedeutet umgekehrt nicht, dass dieser Typus generell keinen Schutz vor der Welt nötig hat. Nur ist dieser Schutz ein anderer als beim Stoiker. Der generelle Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Reizfilterung besteht zum einen darin, dass der Epikureer nicht grundsätzlich alle äußeren Einflüsse gleichermaßen von sich fern hält, und zum anderen darin, dass er frei über die Art seiner Askese verfügt. Nietzsche beschreibt den Epikureer dementsprechend im Kontext der freien Wahl des Ortes, des Klimas und der Erholung, welchen er im Ecce homo vorgestellt hat (vgl. EH klug 1– 3, KSA 6, S. 278 – 286). Der Epikureer „sucht sich die Lage“ (FW 306, KSA 3, S. 544) aus, in der er lebt, und trägt somit – im Unterschied zum eher reaktiven Stoiker – auch aktiv zur Umgestaltung seiner selbst bei. Er versteht es, die für ihn gesunden von den ungesunden Reizen zu filtern und sich nutzbar zu machen. Der Typus des Epikureers kommt somit dem, was Nietzsche unter souveräner Individualität versteht, unter den antiken Vorbildern am nächsten. Dass Nietzsche das epikureische Prinzip als einen Idealtyp darstellt, verrät der Aphorismus 375 aus der Fröhlichen Wissenschaft, in dem der Epikureismus apologetisch für Nietzsches eigene Philosophie in Anspruch genommen wird: Warum wir Epikureer scheinen. (…) [E]in Geschmack, der alle plumpen vierschrötigen Gegensätze ablehnt und sich seiner Uebung in Vorbehalten mit Stolz bewusst ist. Denn Das macht unsern Stolz aus, dieses leichte Zügel-Straffziehen bei unsrem vorwärts stürmenden Drange nach Gewissheit, diese Selbstbeherrschung des Reiters auf seinen wildesten Ritten: nach wie vor nämlich haben wir tolle feurige Thiere unter uns (FW 375, KSA 3, S. 627/628).
Diese Passage erinnert an jenen Aphorismus 284 aus Jenseits von Gut und Böse, in welchem Nietzsche über die Kontrolle der eigenen Affekte schreibt: „Seine Affekte, sein Für und Wider willkürlich haben und nicht haben, sich auf sie herablassen, für Stunden; sich auf sie setzen, wie auf Pferde (…) man muss (…) ihr Feuer zu nützen wissen“.
Dass Nietzsche jenes ‚Zum-Igel-Werden‘ abwechselnd als Zeichen des Niedergangs und als edle Fähigkeit betrachtet, zeigt der Vergleich der Textstellen EH klug 8; KSA 6, S. 292; FW 306, KSA 3, S. 544; GD Streifzüge 10, KSA 6, S. 117 f. Vgl. zu der sich widersprechenden Verwendung der Reizverweigerung bei Nietzsche: Sommer 2013, S. 437.
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Dieses Ideal eines Nutzbar-Machens seiner Triebe und Affekte spiegelt sich auch in jenem Epikureismus wieder, welchen Nietzsche für sich beansprucht. Mit Epikureismus umschreibt Nietzsche demnach nicht nur antik-asketische Selbstpraktiken, welche in einer freien und aktiven Wahl der Ernährung, des Ortes, des Klimas und der Erholung das vorbereiten sollen, was er souveräne Individualität nennt. Sondern der Begriff verdeutlicht auch, was dieses souveräne Individuum letztendlich auszeichnet, nämlich die Fähigkeit, sich seine Triebe nutzbar zu machen, indem man lernt, sie über den Gebrauch asketischer Techniken in bestimmten Momenten ‚ein- und auszuhängen‘, bzw. sie durch ein „leichte[s] Zügel-Straffziehen“ (FW 375, KSA 3, S. 628) zwar nicht vollkommen zu bändigen, sich aber ihre Kraft für eine bestimmte Sache nutzbar zu machen: „[D]ie grössere Kraft verbraucht dann die kleinere“ (GM III 8, KSA 5, S. 355). Nietzsche verwendet die Metapher vom Reiter und Pferd bezüglich des Affektehaushalts auch in einem Aphorismus der Morgenröthe. In M 109 betont er, dass ein Weg, mit der Heftigkeit seiner Triebe fertig zu werden, darin besteht, „sich absichtlich einer wilden und unbändigen Befriedigung eines Triebes [zu] überlassen (…): vorausgesetzt, dass man es nicht dem Reiter gleich thut, der sein Pferd zu Tode hetzt und selber dabei den Hals bricht“ (M 109, KSA 3, S. 97). Nietzsche betont hier erneut die Notwendigkeit des dialektischen Zusammenspiels von Kontrolle und Kontrollverlust. Man soll einen Trieb also nicht qua reiner Selbstbeherrschung unterdrücken, sondern sich seine Kraft vielmehr nutzbar machen, jedoch muss ein Rest von Kontrolle beibehalten werden, um sich von seinem Trieb nicht überwältigen zu lassen. Die bereits zuvor aufgekommene Frage nach dem Subjekt dieser Kontrolle wird von Nietzsche noch im gleichen Aphorismus beantwortet.⁶² Es geht hier nicht um die Rehabilitation eines diesen Prozessen vorgängigen, autonomen Subjekts mit einem festen Wesenskern. Vielmehr wird die relative Beherrschung eines Triebes lediglich mit dem Zur-Herrschaft-Gelangen eines anderen, stärkeren Triebes begründet: „dass man aber überhaupt die Heftigkeit eines Triebes bekämpfen will, steht nicht in unserer Macht (…). Vielmehr ist unser Intellect bei diesem ganzen Vorgange ersichtlich nur das blinde Werkzeug eines anderen Triebes, welcher ein Rival dessen ist, der uns durch seine Heftigkeit quält“ (M 109, KSA 3, S. 98). Auch das ‚Aus- und Einhängen‘ der Triebe und Affekte ist also ein Vorgang, der nicht von einem einzelnen, mit sich identischen Subjekt vollzogen wird; vielmehr wird auch dieser Prozess eingeordnet in die von Nietzsche postulierte Vielheit der Triebe und Affekte sowie der großen Vernunft des Leibes. Wenn man also einen philosophiegeschichtlichen Bezugspunkt für Nietzsches Ideal des souveränen Individuums anführen kann, dann ist es wohl der Epikureismus, während der Stoizismus, insbesondere aber der Sokratismus zuweilen einer scharfen Kritik unterzogen werden (vgl. GD Sokrates 9, 11, KSA 6, S. 71 f., 73). Während der
In Kapitel 3.5 dieser Arbeit wurde die Frage aufgeworfen, ob nicht wieder ein autonomes Subjekt gedacht werden muss, welches in der Lage ist, diese Disziplinierung der Affekte zu vollziehen.
4.3 Selbstsorge, Diätetik und die große Gesundheit
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Stoizismus also mit der eher trotzigen und unfreiwilligen Schicksalsannahme identifiziert wird (russischer Fatalismus), kommt Nietzsches Vorstellung vom Epikureismus auch dem nahe, was er unter der souveränen Kontrolle der eigenen Affektstruktur versteht.⁶³ Der Stoizismus bleibt jedoch in Form des russischen Fatalismus zumindest als indirekte Voraussetzung für die Konstitution souveräner Individuen von Bedeutung, da es mit Hilfe der stoischen Askesepraktiken des verstärkten Rückzugs und des Selbstbezugs gelingt, in Zeiten der Krankheit und der niedergehenden Kräfte die Genesung vorzubereiten. Diese Überlegungen sind mit einer letzten Anmerkung zu versehen: Es muss auf die Verwendung des griechischen Begriffs des hippo chresthai (sich seines Pferdes bedienen) verwiesen werden, den Foucault in der Vorlesungsreihe Hermeneutik des Subjekts verwendet, um seinerseits den antiken Gebrauch der ‚Reiter/Pferd‘-Metapher zu verdeutlichen (vgl. HS, S. 83 f.). Entgegen Nietzsches partieller Kritik an der sokratisch-platonischen Tradition sowie an der des Stoizismus, ließe sich dieser Begriff heranziehen, um in der platonischen sowie der stoischen Selbstsorgephilosophie gerade einen Vorläufer von Nietzsches Lehre der Souveränität über die Affekte zu erkennen. Foucault analysiert jenes hippo chresthai als eine Form der Selbstsorge, d. h. der Beziehung des Subjekts mit sich selbst. Parallel zu Nietzsche geht es hierbei um die Art und Weise, mit seinen Leidenschaften umzugehen. Auch hier wird nicht auf den Topos der Selbstbeherrschung abgehoben, sondern vielmehr darauf „seinen Wünschen nach[zu]geben“ (HS, S. 83). Foucault weist darauf hin, dass der chresis-Begriff zunächst bei Platon auftauchte, um später vor allem bei den Stoikern populär zu werden. Das Sich-um-sich-selber-Kümmern wird dabei als ein sorgender Umgang mit
Vgl. zu Nietzsches positiver Bezugnahme auf Epikur u. a.: FW 45, KSA 3, S. 411; NL 1881, KSA 9, 12 [156], S. 603. Auch Epikur wird von Nietzsche letztlich jedoch nicht als Idealtyp vorgestellt, was unter anderem folgende Textstellen belegen, in denen dieser auch als Erkrankter vorgestellt wird, welcher nicht zu einem dionysischen Pessimismus in der Lage ist: NL 1884, KSA 11, 25[17], S. 16; NL 1887, KSA 12, 9[160] (111), S. 430; NL 1888, KSA 13, 14[99], S. 276 ff.; FW 370, KSA 3, S. 621 f. Vgl. zu Nietzsches ambivalentem Verhältnis zu Epikur: Ansell-Pearson 2013. Ansell-Pearson weist dort darauf hin, dass Nietzsche in seiner mittleren Werkphase (bis zur Fröhlichen Wissenschaft) affirmativ auf Epikur Bezug nimmt, während der späte Nietzsche ihn als ambivalente philosophische Figur darstellt (vgl. Ansell-Pearson 2013, S. 97, 101 ff., 111). In der mittleren Werkperiode (M; FW; MA) wird Epikur von Nietzsche als Ansprechpartner für die Darstellung der Selbstsorge, der Lebenskunst sowie der Freude verwendet (vgl. Ansell-Pearson 2013, S. 103; MA I 292, KSA 2, S. 235 ff.; FW 45, KSA 3, S. 411). In seiner späten Werkphase wird Epikur jedoch auch zunehmend zur Abgrenzungsfläche, was die Themenfelder der décadence und des Nihilismus betrifft. Epikur tritt in diesen Zusammenhängen als Denker auf, der über Askese einen Zustand der Selbst-Betäubung, „der Ungestörtheit, der Sattheit“ (JGB 200, KSA 5, S. 121) erzeugen möchte (vgl. Ansell-Pearson 2013, S. 111; GM III 17, KSA 5, S. 380 f.). Ungebrochen bleibt bei Nietzsche jedoch stets die positive Bezugnahme auf das epikureische Moment der Sorge gegnüber den ‚kleinen‘ und ‚alltäglichen‘ Dingen sowie die Achtsamkeit bezüglich des Klimas und der Ernährung (vgl. EH klug 1– 7, 10, KSA 6, S. 278 – 291, 295 ff.; FW 306, KSA 3, S. 544).
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den eigenen Trieben und Leidenschaften verstanden, welcher nicht im Modus der Unterdrückung, sondern in dem des Für-sich-Einspannens der Triebe vollzogen wird. Dies kommt jener Rede Nietzsches vom synthetischen Menschen, bei dem die Affekte für ein großes Ziel „in’s Joch gespannt sind“ (NL 1887, KSA 12, 9[119] (78), S. 404), sehr nahe. Foucault betont zudem, dass hierbei die Seele, um die man sich in der platonischen sowie in der stoischen Tradition kümmern soll, nicht auf einen Substanzbegriff zurückgeht, sondern dass sie vielmehr als Subjekt begriffen wird, d. h. in diesem Zusammenhang als eine nicht-festgestellte und nicht fest-zustellende, nur vorübergehende Einheit: „Die Seele als Subjekt, und keineswegs die Seele als Substanz“ (HS, S. 84). Es handelt sich hier also um eine dynamische und über Selbstsorge erst zu erschaffende Form von Subjektivität (vgl. HS, S. 83 f., S. 278 f.). Diese foucaultsche Deutung antiker und spätantiker Selbstsorgepraktiken kommt sowohl Nietzsches Subjektkritik als auch dessen Vorstellung von der Nutzbarmachung der Vielheit der eigenen Affekte sehr nahe. Wenn man diese Deutung Foucaults annimmt, so lässt sich sagen, dass Nietzsches Ideal Vorläufer in der platonischen und stoischen Tradition der chresis hat.
4.3.5 Einschub zum Thema ‚Rasse‘ und ‚Zucht‘ Bevor der Themenkomplex der Diätetik abgeschlossen werden kann, soll noch kurz auf mögliche Missverständnisse hinsichtlich des Gebrauchs von Vokabeln wie Zucht oder Rasse bei Nietzsche eingegangen werden. Wenn es um die Konstitution souveräner Individuen, insbesondere um deren leibliche Voraussetzungen geht, taucht bei Nietzsche immer wieder der Begriff der Zucht oder der Züchtung auf (vgl. JGB 203, 210, KSA 5, S. 126, 143; EH klug 9, KSA 6, 293 ff.). Hier liegen Missverständnisse nahe, besonders eingedenk der Vereinnahmung Nietzsches von sozialdarwinistischer oder nationalsozialistischer Seite. Die Begriffe der Züchtung und der Rasse, welche Nietzsche immer wieder verwendet, um jenen höheren Typus von Menschen zu beschreiben, sind jedoch weder in einem darwinistischen noch in einem biologistisch-rassistischen Sinn zu verstehen. Nietzsche begreift das Wort Rasse im Allgemeinen kulturhistorisch, d. h. er meint hiermit eine Gemeinschaft, die aufgrund bestimmter Existenzbedingungen eine Einheit darstellt, welche vor allem kulturelle und soziale Formen der Identität herausbildet. Die moderne, biologistische Bedeutung des Wortes Rasse wird hierbei von Nietzsche kritisch betrachtet. Dies belegt vor allem das diesbezügliche Standardwerk von Gerd Schank (2000). Dieser gelangt in einer detaillierten monographischen Untersuchung zu der Feststellung, dass Nietzsche insbesondere den zeitgenössischen, modernen Rassebegriff zurückweist, bei dem biologische Reinheitsvorstellungen eine hervorgehobene Rolle spielen, welche an eine Nichtvermischung von Völkern orientiert ist: „Im Gegenteil: Völkermischung wirkt bereichernd und kann durch kulturelle
4.3 Selbstsorge, Diätetik und die große Gesundheit
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‚Arbeit‘ (…) im (…) Sinn einer ‚Synthese‘, ‚rein‘ werden“ (Schank 2000, S. 148; vgl. Schank 2000, S. 147 f.). Auch im Zusammenhang mit dem souveränen Individuum bzw. dem ‚wohlgeratenem Typus‘ beschreibt Nietzsche ‚stärkere Rassen‘ weder biologisch-rassistisch noch nationalistisch. Vielmehr wird von ihm hiermit ein Typ Mensch bezeichnet, der bestimmte Charaktereigenschaften wie Mut, Willensstärke, Verantwortlichkeit und intellektuelle Sauberkeit besitzt. Auch die Züchtung einer solchen höheren Rasse oder eines höheren Typus verläuft nicht anhand biologischer bzw. darwinistischer Kriterien. Vielmehr gilt es, jenen Menschen durch nicht-biologische Mittel wie Vereinsamung, Umwertung, Gewissensbildung und Distanzierung zu züchten, d. h. hervorzubringen. Es geht also nicht um eine Züchtung in einem biologischen Verständnis, sondern um ein erzieherisches Programm. Die Selektion, die eine solche Züchtung herbeiführen soll, ist darüber hinaus nicht (sozial)darwinistisch zu verstehen, da der Einzelne auch aktiv in den Selektionsprozess eingreifen kann. Es handelt sich nicht um eine Selektion von Menschen, sondern von bestimmten Eigenschaften im Menschen, die bestärkt bzw. geschwächt werden sollen.⁶⁴ Ein Zitat aus dem Ecce homo macht besonders deutlich, dass Züchtung in erster Linie ein erzieherisch-geistiges Problem darstellt, welches keiner biologischen Determiniertheit unterliegt: Zur Aufgabe einer Umwerthung der Werthe waren vielleicht mehr Vermögen nöthig, als in einem Einzelnen bei einander gewohnt haben (…). Rangordnung der Vermögen; Distanz; die Kunst zu trennen, ohne zu verfeinden (…); eine ungeheure Vielheit, die trotzdem das Gegenstück des Chaos ist – dies war die Vorbedingung, die lange geheime Arbeit und Künstlerschaft meines Instinkts (EH klug 9, KSA 6, S. 294).
Diesen Überlegungen ist noch ein Argument von Vanessa Lemm (Lemm 2015) zur Seite zu stellen. Demnach handelt es sich bei Nietzsches Gebrauch des Wortes Zucht schon deshalb nicht um einen biologistisch-sozialdarwinistischen Selektionsgedanken, weil Nietzsches Begriff des Lebens und des Subjekts in eine andere Richtung weisen: so ist dessen Auffassung von menschlicher Identität stark durch den Gedanken der Relationalität geprägt. Menschliche Existenz ist somit ‚durchlässig‘ für andere Formen von Leben, genauso wie der Einzelne unhintergehbar abhängig ist von anderen Subjekten und Kräften, die ihn umgeben (vgl. Lemm 2015, S. 61). Eine Trennung bzw. eine Selektion der Arten, der Rassen oder einzelner Individuen ist somit inkompatibel mit Nietzsches grundsätzlichem Gedanken, wonach Subjektivität niemals etwas Autonomes oder Unabhängiges darstellt, sondern vielmehr grundsätzlich offen, dynamisch, transformierbar ist und in Relation zur Umwelt und zur Natur steht (vgl. Lemm 2015, S. 57). Vgl. zu diesen Ausführungen Schank 2000, S. 354 ff., S. 357 ff. Siehe hierzu auch Sommer 2013, S. 406.Vgl. bei Nietzsche zu den Themenkomplexen der Züchtung, der Diätetik, der großen Gesundheit und des Darwinismus: EH Klug 9, KSA 6, S. 294; EH Bücher 1, KSA 6, S. 300; EH Zarathustra 2, KSA 6, S. 337 ff.
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
So lassen nietzscheanische Begrifflichkeiten wie Zuchtwahl, Rasse oder Selektion zwar an Foucaults Analyse und Kritik der Bio-Macht und des Rassismus denken (vgl. VG, S. 300 ff.), jedoch wäre Nietzsche in diesem Zusammenhang ein positiver Begriff von Bio-Macht zu unterstellen. Lemm spricht dementsprechend von „Nietzsche’s posthumanist and affirmative biopolitics“ (Lemm 2015, S. 61) und ergänzt: „The affirmation of the interrelatedness and interconnectedness of all forms of life and their equivalence is so important for affirmative biopolitics because it counteracts both (…) racism and (…) speciesism“ (Lemm 2015, S. 61). Das biologische Kontinuum, das laut Foucault vom Rassismus durchtrennt wird, um zwischen hohen und niederen Rassen zu unterscheiden, bleibt also bei Nietzsche intakt.
4.4 Ethische Subjektivierung bei Nietzsche und Foucault Neben den praktischen, asketischen Techniken der Selbstsorge muss auch auf grundsätzlichere Theorien bei Nietzsche und Foucault eingegangen werden, auf denen die Praktiken des Selbst aufbauen oder mit denen sie eng zusammenhängen. Ein zentraler Aspekt ist hierbei die Gegenüberstellung einer individuellen Ethik mit der christlichen Moral, welche in erster Linie über Gehorsam und Sollen funktioniert.
4.4.1 Moralkritik und individuelle Ethik bei Nietzsche und Foucault Das Programm der moralischen Selbstwerdung stellt Foucault in seinen späten Schriften anhand der griechischen und der römischen Sexualmoral dar. Eine autonome Subjektivierung vollzieht sich hier in Auseinandersetzung mit der Welt und ihren moralischen Werten, Vorschriften und Codes: „Gewiß erhält jede moralische Haltung ein Verhältnis zu dem Wirklichen, in dem es sich abspielt, und ein Verhältnis zu dem Code, auf den sie sich bezieht, aber sie impliziert auch ein bestimmtes Verhältnis zu sich; dieses ist nicht einfach ‚Selbstbewußtsein‘, sondern Konstitution seiner selber als ‚Moralsubjekt‘, in der das Individuum den Teil seiner selber umschreibt, der den Gegenstand dieser moralischen Praktik bildet, in der es seine Stellung zu der von ihm befolgten Vorschrift definiert“ (SW II, S. 40). Das Individuum konstituiert sich also zum Subjekt seiner moralischen Handlungen, indem es sich zu den Vorschriften der gegebenen Moral in eine neugeformte Beziehung setzt, ohne die Notwendigkeit, moralische Handlungen zu vollziehen und hierbei gegebenen Vorschriften zu gehorchen, generell in Frage zu stellen. (Moralische) Subjektivierung vollzieht sich also innerhalb einer gegebenen Ordnung, ohne dabei vorgegebene Gesetze automatisch zu befolgen. Die Anteile des Individuums, welche in Beziehung zu den Vorschriften stehen, werden transformiert, werden „umgeschrieben“. Dies bedeutet, dass sich auch das
4.4 Ethische Subjektivierung bei Nietzsche und Foucault
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Individuum in Teilen seiner Persönlichkeit verändert, wenn es sich zu bestimmten Aspekten der vorgefundenen Moral in ein Verhältnis setzt. Vollzogen wird diese Selbst-Transformation über asketische Selbstpraktiken, die helfen, das Subjekt in einer autonomeren Weise zu den moralischen Werten und Normen in Beziehung zu setzen: „[U]nd um das zu tun, wirkt es [das Individuum, Anmerkung des Verf. – J. H.] auf sich selber ein, geht es daran, sich zu erkennen, kontrolliert sich, erprobt sich, vervollkommnet sich, transformiert sich“ (SW II, S. 40). Die moralische Subjektivierung des Individuums geht also stärker vom Individuum selbst aus, indem sich dieses zu den bestehenden Normen in ein anderes, selbstbestimmtes Verhältnis setzt. Mit diesem Analyseraster lässt sich auch die nietzscheanische Moralkritik und Ethik betrachten. Nietzsche lehnt keinesfalls grundsätzlich jegliche Art der moralischen Lebensführung ab. Der Aphorismus 103 aus der Morgenröthe, der einen deutlichen Bezug zum Aphorismus 9 über die Sittlichkeit der Sitte aufweist, auf welchen sich Nietzsche wiederum in seiner Präsentation des souveränen Individuums explizit beruft, verdeutlicht dies wohlmöglich am prägnantesten. Nietzsche führt dort aus, dass aus seiner Sicht weder sittliche noch unsittliche Handlungen auf wahre Urteile zurückgehen, d. h. dass beide Handlungsformen keinen Wert und keine Begründung a priori haben. Somit möchte Nietzsche auch nicht zu unmoralischen Handlungen anraten, sondern vielmehr weist er darauf hin, „dass viele Handlungen, welche unsittlich heissen, zu vermeiden (…) sind; ebenfalls, dass viele, die sittlich heissen, zu thun und zu fördern sind, – aber ich meine: das Eine wie das Andere aus anderen Gründen, als bisher. Wir haben umzulernen, – um endlich (….) noch mehr zu erreichen: umzufühlen“ (M 103, KSA 3, S. 92). Nietzsche möchte also in erster Linie nicht das moralische Handeln selbst verändern, sondern vor allem den Zugang zu moralischen Handlungen. Und hierin zeigt sich der Bezug Nietzsches zu Foucault und somit auch der zu den frühantiken Ethikkonzepten. Anstatt, wie es im Prozess der Sittlichkeit der Sitte beschrieben wird, bloß aus Furcht vor der Autorität zu gehorchen, soll also ein freier, selbstbestimmter Zugang zu den Normen und Werten der Gesellschaft erreicht werden. Der Grund, d. h. das Motiv für das Handeln soll verändert werden. Im neunten Aphorismus der Morgenröthe zeigt Nietzsche, was er hiermit meint, nämlich den individuellen Nutzen einer Handlung. Moralische Handlungen sollen also zukünftig nicht mehr absolut und unbedingt, sondern pragmatisch begründet und bestimmt werden. Es wird hiermit offenbar, dass für Nietzsche das individuelle Moment im moralischen Handeln gestärkt werden soll. Bezüglich des Topos von der Umwertung der Werte lässt sich also sagen: Es sollen nicht alle Werte zurückgewiesen oder zerstört werden, sondern die Begründung für moralisches Handeln soll anders ausfallen als bisher. Das heißt: Die Umwertung folgt nicht dem Schema der Sittlichkeit der Sitte, sondern dem der Eigenverantwortlichkeit. Die moralischen Werte und Wertschätzungen sollen nicht mehr auf lebensverneinenden Ideen wie Nächstenliebe oder Selbstlosigkeit herum organisiert werden (vgl. M 9, KSA 3, S. 22 f.; GM III 20, S. 387 ff.), sondern sie sollen an konkreten und le-
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bensnahen Situationen sowie Zu- und Abneigung gegenüber Dingen oder Menschen gemessen werden (vgl. M 9, 103, 104, KSA 3, S. 22 f., 91 f.). Moralisches Handeln soll also nicht abgeschafft werden, wie es die Rede von der Umwertung der Werte zunächst suggeriert, sondern anders bewertet und begründet werden. Man soll demnach auch weiterhin moralisch gute Handlungen vollziehen, aber nicht aufgrund des nihilistisch-christlichen Prinzips der Selbstverneinung und des asketischen Ideals, sondern aus einer souveränen Selbstbestimmtheit heraus.⁶⁵ In diesem Sinne spricht Nietzsche auch vom Umlernen und Umfühlen (vgl. M 9, KSA 3, S. 92) gegenüber den Grundlagen von moralischem Handeln. Wenn Nietzsche also bezüglich des souveränen Individuums vom „autonome(n) übersittliche[n] Individuum“ (GM II 2, KSA 5, S. 293) spricht und darauf hinweist, dass sich Autonomie und Sittlichkeit ausschließen würden, so hat er mit Sittlichkeit an dieser Stelle jene Bedeutung aus der Mörgenröthe im Sinn, nämlich den „Gehorsam gegen Sitten“ (M 9, KSA 3, S. 22), welcher aus einer Furcht gegenüber der Autorität vollzogen wird. Das souveräne Individuum wird also nicht als ein unmoralisch oder böse handelndes Wesen gedacht. Der autonome Mensch handelt, verglichen mit seiner Umwelt, nicht völlig amoralisch, sondern er hat sein eigenes „Werthmaass“: „[V]on sich aus nach den Anderen hinblickend, ehrt oder verachtet er“ (GM II 2, KSA 5, S. 294). Was zunächst klingt wie eine Apologie auf Despotie, meint bei genauerem Hinsehen jenes von Nietzsche in der Morgenröthe beschriebene Umlernen über die Grundlagen der moralischen Wertschätzungen: „Eigene Werthschätzung: das will besagen, eine Sache in Bezug darauf messen, wie weit sie gerade uns und niemanden Anderen Lust oder Unlust macht“ (M 104, KSA 3, S. 92). Das souveräne Individuum ist also in erster Linie kein Gegenentwurf zu herrschenden Sitten, sondern an ihm vollzieht sich die Forderung nach individueller Wertschätzung. Nietzsches Begriff von Unsittlichkeit bezieht sich also auf die Voraussetzungen und die Motive des Handelns, nicht auf die konkrete Ausführung der Handlung: „[W]ird eine Handlung gethan, nicht weil das Herkommen sie befiehlt, sondern aus anderen Motiven (zum Beispiel des individuellen Nutzens wegen), (…) so heisst sie unsittlich“ (M 9, KSA 3, S. 22). Moralisches Handeln aus lebensverneinenden Idealen, wie z. B. dem der Selbstlosigkeit, heraus hat einen nihilistischen Kern, da es selbstloses Handeln für Nietzsche in Wirklichkeit nicht geben kann und sich ein solches Ideal somit gegen die Grundvoraussetzungen des Lebens richten würde (vgl. GM III 27, KSA 5, S. 408 ff.). Es besteht daher die Gefahr, dass moralisches Tun nicht mehr begründet werden kann, da sich die herrschenden Werte, welche die Grundlage für das moralische Handeln abgeben, als nihilistisch erweisen und nicht mehr zur Begründung der Moral herangezogen werden können. Dies geht auf die grundlegende Idee Nietzsches zurück, wonach unegoistisches Handeln letztlich eine Tautologie darstellt, da menschliches Denken und Handeln ohnehin immer auf den basalen Prinzipien des Für und Wider, der Lust und der Unlust aufbaut (vgl. M 104, KSA 3, S. 92; JGB 262, KSA 5, S. 214 ff.).
4.4 Ethische Subjektivierung bei Nietzsche und Foucault
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Michael Steinmann (2000) fasst diesen Tatbestand so zusammen: „So sollen die Bewertungsschemata der Moral nicht einfach verworfen, sondern auf einen allgemeineren Wertegesichtspunkt bezogen werden“ (Steinmann 2000, S. 58). Dieser Gesichtspunkt kann bei Nietzsche nur über eine Genealogie der herrschenden moralischen Werte erarbeitet werden: „Dein Urtheil ‚so ist es recht‘ hat seine Vorgeschichte in deinen Trieben, Neigungen, Abneigungen, Erfahrungen und Nicht-Erfahrungen; ‚wie ist es da entstanden?‘ musst du fragen, und hinterher noch: ‚was treibt mich eigentlich, ihm Gehör zu schenken?‘“ (FW 335, KSA 3, S.561). Es geht also darum, dem moralischen Impuls nicht einfach nachzugeben, sondern nach dem Begründungszusammenhang zu fragen, der mich ihm bisher folgen ließ. Die Moral soll also auf das Individuum zurückgeführt werden. Nur über den Rückgang auf die Bedingungen der Moral und über die Frage, warum wir bestimmte Gesetze, Regeln und Normen nötig haben, kann auch die Frage danach beantwortet werden, wie alternative ethische Werte aussehen könnten, welche den Grundbedingungen des Lebens (Schein, Lüge, Leiblichkeit, Notwendigkeit) sowie den individuellen Dispositionen (persönliche Erfahrungen, Neigungen und Abneigungen) mehr entsprächen, als dies die früheren moralischen Grundsätze taten: [W]ir haben eine Kritik der moralischen Werthe nöthig, der Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in Frage zu stellen – und dazu thut eine Kenntnis der Bedingungen und Umstände noth, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben (GM Vorrede 6, KSA 5, S. 253; vgl. FW 335, KSA 3, S. 563).
Die moralische Selbstwerdung, die Forderung Nietzsches die zu werden, die wir sind verläuft also über und in der genealogischen Kritik der bestehenden Werte, deren Gewordenheit aus der Beschaffenheit der Individuen abgeleitet wird: „Damit ist auch gesagt, daß wir uns mit der Kritik keineswegs von unserem Ziel, der Darlegung der positiven Ethik entfernen, sondern direkt zu den sie bestimmenden Prinzipien gelangen“ (Steinmann 2000, S. 58). Mit dem Programm der Umwertung der Werte ist demzufolge auch eine Form der Selbstverwirklichung angesprochen. Das Selbst, um das es hierbei geht, ist jedoch nicht als cartesianisches Subjekt zu verstehen, das den moralischen Handlungen bereits zugrunde liegt, sondern es soll vielmehr in der Konstitution einer souveränen Ethik gebildet werden: „Es geht aber nicht darum, die Moral aus dem Selbst abzuleiten, sondern umgekehrt das Selbst aus der Moral“ (Steinmann 2000, S. 63). Das Selbst ist somit ein dynamisches, transformierbares Selbst, kein fester, bereits gegebener Wesenskern. Mit der Umwertung der Werte ist also auch eine Umwertung des Subjekts angesprochen. Diese Überlegungen zeigen, dass sich Nietzsches individuelle Ethik⁶⁶ des souveränen Individuums durch die methodische und begriffliche Schablone des späten
Bereits in früheren Stellen in Nietzsches Nachlass findet sich der Begriff der „Individualethik“ (NL 1870 – 187, KSA 7, 8[81], S. 252) bzw. der der „Individual-Ethik“ (NL 1870 – 1871, KSA 7, 8[115], S. S. 266 f.).
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Foucaults lesen und verstehen lässt. Denn dieser hatte die Konstitution und die Transformation des Individuums als souveränes, autonomes Subjekt seiner Handlungen in die Auseinandersetzung des Individuums mit den moralischen Werten und Normen verlegt.⁶⁷ Noch in einem weiteren Punkt lassen sich Nietzsches Ausführungen zum Thema Moral und Individuum unter Zuhilfenahme der Termini des späten Foucault untersuchen: Foucault weist in seiner Untersuchung der antiken Praktiken zum Gebrauch der Lüste auf die zentrale Rolle hin, welche die Selbsterkenntnis für die Transformation seiner selbst zum Moralsubjekt spielt. Das sokratische Motto ‚Erkenne dich selbst‘ bildet somit eine wichtige Bedingung dafür, sich in rechter Weise um sich selbst zu kümmern. Inwieweit wir unseren Bedürfnissen nachgehen sollen, ist individuell verschieden, hängt es doch von unseren persönlich-individuellen Dispositionen ab. Foucault zitiert in diesem Zusammenhang Sokrates, welcher darauf hinweist, dass „die Unmäßigsten auch immer die Unwissenden sind“ (SW II, S. 114), da sie sich selbst und ihre Lüste nicht wirklich kennen. Nietzsches Ausführungen im Ecce homo, wonach man seine Aufnahmefähigkeit kennen muss, um sich richtig zu ernähren, lassen sich als Variationen dieses antiken Prinzips der Selbsterkenntnis lesen. So liegt Foucault zufolge das griechische Ideal einer gelungenen Selbstsorge darin, dass „die Lüste so weit beherrscht werden, daß sie sich im Einklang mit den Bedürfnissen, Zeiten und Umständen gebrauchen lassen“ (SW II, S. 115; vgl. EH klug 1, KSA 6, S. 278 f.).⁶⁸ Foucault fasst dies pointiert so zusammen: „Man kann sich im Gebrauch der Lüste nicht als Moralsubjekt konstituieren, ohne sich gleichzeitig als Erkenntnissubjekt zu konstituieren“ (SW II, S 114). Dieses Prinzip findet sich deutlich in Nietzsches Aufforderung wieder, unsere moralischen Vorschriften auf unsere persönlichen Bedürfnisse zurückzuführen: „Wir aber wollen Die werden, die wir sind (…). Und dazu müssen wir die besten Lerner und Entdecker alles Gesetzlichen und Nothwendigen in der Welt werden (…). Und darum: Hoch die Physik!“ (FW 335, KSA 3, S. 563, 564; vgl. Steinmann 2000, S. 58).
Diese Individualethik wird von Nietzsche bereits hier in Abgrenzung zu dem Christentum und in positiver Bezugnahme auf die Ethik der Antike definiert. Das Individuum vollzieht seine moralische Selbstwerdung, indem es sich in einem dynamischen Prozess auf die Sitten bezieht und sich zu diesen in eine Beziehung setzt. Auch hier sollen moralische Regeln durchaus befolgt werden, und Autonomie und Selbstbestimmung setzen eher in den Voraussetzungen zu diesen Regeln an (vgl. SW II, S. 39 ff.). Das Individuum erschafft sich selbst in der Konstitution seiner selbst als moralisches Subjekt, „in der es seine Stellung zu der von ihm befolgten Vorschrift definiert, in der es eine bestimmte Seinsweise fixiert, die als moralische Erfüllung seiner selber gelten soll“ (SW II, S. 40). Sich selbst zu erkennen, führt das Individuum demzufolge auch dazu, zu erkennen, welche spezifischen Techniken der Selbstsorge für das eigene Wohlbefinden am besten geeignet sind.
4.4 Ethische Subjektivierung bei Nietzsche und Foucault
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Dass es sich hierbei zuletzt um eine Variation sokratischer Selbsterkenntnis und nicht bloß um die naturwissenschaftliche Erkenntnis der äußeren Welt handelt, macht folgendes Zitat aus der Morgenröthe deutlich: „‘Erkenne dich selbst‘ ist die ganze Wissenschaft. – Erst am Ende der Erkenntniss aller Dinge wird der Mensch sich selber erkannt haben. Denn die Dinge sind nur die Gränzen des Menschen“ (M 48, KSA 3, S. 53). Laut Nietzsches grundsätzlicher Lehre vom Willen-zur-Macht-Geschehen sind alle Dinge in der Welt, auch das vermeintliche Subjekt, Konstruktionen, welche dadurch bestimmt sind, dass sie sich generell in Relation (zu anderen Subjekten, Dingen, Existenzbedingungen) konstituieren (vgl. u. a. Nehamas 1991, S. 200; Z IV Nachtwandler-Lied 10, KSA 4, S. 402). Erst über die Erkenntnis der Welt, d. h. die Einsicht darin, welche Konstruktionen und Interpretationen von der Welt herrschend geworden sind, lässt sich also im Rückschluss auch eine Erkenntnis darüber gewinnen, wie ein Mensch geschaffen sein muss, der solche Konstrukte über die Welt nötig hat. So wie der Mensch selbst sind also auch dessen Anschauungen in einem solchen Relationsgeschehen gebildet worden: Die „Einsicht darüber, wie überhaupt jemals moralische Urtheile entstanden sind“, nämlich über unsere persönlichen Vorlieben, Abneigungen und Triebe, führt dazu, dass moralische und moralisierende Begriffe wie Gewissen und Pflicht ihren Pathos verlieren, „so wie dir schon andere pathetische Worte, zum Beispiel ‚Sünde‘, ‚Seelenheil‘, ‚Erlösung‘ verleidet sind“ (FW 335, KSA 3, S. 562). Vor dem Hintergrund dieser Einsicht in die vermeintlich niedere Herkunft der angeblich höchsten Begriffe wird auch Nietzsches Fokussierung auf die körperlichen Selbstpraktiken im Ecce homo verständlicher: Man wird mich fragen, warum ich eigentlich alle diese kleinen und nach herkömmlichem Urtheil gleichgültigen Dinge erzählt habe (…). Antwort: diese kleinen Dinge – Ernährung, Ort, Clima, Erholung, die ganze Casuistik der Selbstsucht – sind über alle Begriffe hinaus wichtiger als Alles, was man bisher wichtig nahm. Hier gerade muss man anfangen, umzulernen (EH klug 10, KSA 6, S. 295).
Diese Umwertung des „Kleinsten und Alltäglichsten“ (FW 299, KSA 3, S. 538) zum Höchsten und Wichtigsten hat seine Vorgeschichte in der Genealogie der Moral, d. h. in der Rückführung vorgeblich edler moralischer Begrifflichkeiten auf ihre teils unmoralischen, teils persönlichen, teils leiblich-animalischen und gerade nicht ‚ewigen‘ oder ‚geistigen‘ Hintergründe und Herkünfte (FW 335, KSA 3, S. 561 f.). Die Fokussierung auf solche nur scheinbar großen Begriffe wie Erlösung oder Seelenheil hat dazu geführt, dass „man die ‚kleinen‘ Dinge, will sagen die Grundangelegenheiten des Lebens selber, verachten lehrte“ (EH klug 10, KSA 6, S. 296). Hierüber gilt es nun laut Nietzsche „umzulernen“ (EH klug 10, KSA 6, S. 295). Die Rede vom Umlernen führt zurück zum Aphorismus 103 aus der Morgenröthe und schließt die Lücke zwischen Nietzsches apologetisch vorgebrachten Praktiken der Selbstsorge und seiner Moralkritik sowie der Konstituierung eines souveränen, d. h. zwar über-sittlichen, aber nicht amoralischen Individuums.
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Das Wort umlernen verwendet Nietzsche in M 103 im Zusammenhang mit der Feststellung, dass er nicht zur allgemeinen Unsittlichkeit aufrufen würde. Hierzu sei noch einmal der hierfür wichtige Textabschnitt in voller Länge wiedergegeben: Ich leugne also die Sittlichkeit wie ich die Alchymie leugne, das heisst, ich leugne ihre Voraussetzungen: nicht aber, dass es Alchymisten gegeben hat, welche an diese Voraussetzungen glaubten und auf sie hin handelten. – Ich leugne auch die Unsittlichkeit: nicht dass zahllose Menschen sich unsittlich fühlen, sondern dass es einen Grund in der Wahrheit giebt, sich so zu fühlen. Ich leugne nicht (…) dass viele Handlungen, welche unsittlich heissen, zu vermeiden und zu bekämpfen sind; ebenfalls, dass viele, die sittlich heissen, zu thun und zu fördern sind, – aber ich meine: das Eine wie das Andere aus anderen Gründen, als bisher. Wir haben umzulernen, – um endlich, vielleicht sehr spät, noch mehr zu erreichen: umzufühlen (M 103, KSA 3, S. 91 f.).
Zuerst fällt in diesem Zitat die Verwendung des Wortes Wahrheit auf. Der bereits erwähnte Passus vom Pessimismus der Stärke muss hier noch einmal in Erinnerung gerufen werden. Nietzsche hatte es unter anderem als Zeichen von Stärke gewertet, gerade den unmoralischen Aspekten des Daseins, gerade diesen „unmoralischen Wahrheit[en]“ (GM I 1, KSA 5, S. 258) ins Auge zu blicken (vgl. JGB 39, KSA 5, S. S. 56 f.; GT Versuch 1, KSA 1, S. 12 f.). Somit ist das souveräne Individuum, oder der „freie Mensch“ (M 9, KSA 3, S. 22), von dem Nietzsche in der Morgenröthe spricht, in moralisch-ethischer Hinsicht dadurch bestimmt, dass er es nicht nötig hat, sein moralisches Urteilen und Handeln an eine metaphysische Wahrheit zu koppeln, welche in Nietzsches Sinn einen Irrtum darstellen muss.⁶⁹ Die grundsätzlich perspektivistisch und nominalistisch angelegte Interpretationsphilosophie Nietzsches, welche bestreitet, dass sich Begrifflichkeiten wie Substanz, ‚freier Wille‘, ‚autonomes Subjekt‘ oder ‚Ding an sich‘ in der Realität auffinden lassen, macht auch vor der Moral nicht halt, d. h. sie leugnet, dass moralische Gesetze ein für allemal bewiesen und begründet werden können, indem sie in etwa aus der Natur des Menschen abgeleitet werden (vgl. GD Irrthümer 1– 8, KSA 6, S. 88 – 97; M 103, KSA 3, S.91 f.). Was schließlich das Umlernen betrifft, so gilt es sich laut Nietzsche darüber klar zu werden, dass sich moralische Grundsätze in Wahrheit anders begründen und herleiten, als in der bisherigen Moralphilosophie angenommen. Führt die genealogische Kritik der moralischen Werte zu der Einsicht in die in erster Linie unmoralischen, egoistischen und selbstsüchtigen Gründe jeglichen moralischen Verhaltens, so soll dadurch über die Motive für moralisches Handeln umgelernt werden, d. h. die In jenem Aphorismus 39 aus Jenseits von Gut und Böse, in welchem Nietzsche Stärke als Vermögen vorstellt, auch die unmoralischen Seiten des Lebens wahrzunehmen und zu akzeptieren, macht er zudem deutlich, dass eine solche souveräne Stärke am ehesten von einem Philosophen entwickelt und getragen werden könnte. Allerdings betont er hierbei auch, dass ein solcher Philosoph nicht mit dem Typen des Gelehrten aus EH klug 8 zu verwechseln ist: „Vorausgesetzt, was voran steht, dass man den Begriff ‚Philosoph‘ nicht auf den Philosophen einengt, der Bücher schreibt – oder gar seine Philosophie in Bücher bringt“ (JGB 39, KSA 5, S. 57). Philosophie, wie Nietzsche sie versteht, ist daher nicht mit akademischem Gelehrtentum zu verwechseln, sondern stellt sich auch als praktisches Ideal dar.
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Grundsätze, auf die hin das Handeln vollzogen wird, sollen von nun an den Egoismus, die Selbstsucht und auch die Triebhaftigkeit des Menschen mit einbeziehen (vgl. FW 335, KSA 3, S. 562 f.; M 9, 103, KSA 3, S. 21 ff., 91 f.).⁷⁰ Notwendige Voraussetzung für das Umlernen über die moralischen Werte ist somit auch die Kritik des autonomen, vernunftgeleiteten Subjekts cartesianischer Prägung. Über das dauerhafte, praktische Einüben dieser Grundsätze soll das Individuum auch dazu gebracht werden, umzufühlen, also dazu, dass die neuen Werte ‚in Fleisch und Blut‘ übergehen, d. h. als natürlich gegebene Werte erscheinen, die keiner weiteren Begründung mehr bedürfen.⁷¹ Dieser Prozess kann laut Nietzsche sehr lange andauern und „vielleicht erst sehr spät“ (M 103, KSA 3, S. 92) seinen Abschluss finden, denn schließlich hat auch jener „Sklavenaufstand in der Moral“ (GM I 10, KSA 5, S. 270) eine lange Entstehungsgeschichte hinter sich, hatte die christliche Kultur doch zwei Jahrtausende lang Zeit, um sich nicht nur scheinbar unverrückbar im Gedächtnis und Bewusstsein, sondern auch im Gefühlsempfinden der Menschen festzusetzen: „[J]ener Aufstand, welcher eine zweitausendjährige Geschichte hinter sich hat und der uns heute nur deshalb aus den Augen gerückt ist, weil er – siegreich gewesen ist“ (GM I 7, KSA 5, S. 268). Nietzsche geht hier ideologiekritisch vor und führt das Unvermögen der allermeisten Menschen, auch hinter die moralischen Grundsätze zu blicken, auf den ‚Verblendungscharakter‘ der christlichen Moral zurück, welche es bewerkstelligen konnte, dem Menschen die moralischen Werte als natur- bzw. gottgegeben erscheinen zu lassen und auf diese Weise ihren Gewordenheitscharakter zu verschleiern: „Die Moral ist im Lauf der Geschichte so dominant geworden, daß sich ihr Entstanden-Sein verbirgt und sie als einzig mögliche Form der Wertgebung erscheint“ (Steinmann 2000, S. 59). Der erste Vergleich von Nietzsches und Foucaults Ethiken hat ergeben: Nietzsche führt die Kriterien der Lust und der Unlust als Wertmesser für eine Handlung ein (vgl. M 104, KSA 3, S. 92), welcher der Selbstlosigkeit entgegengestellt werden soll. Dass er hiermit jene positiven oder negativen individuellen Begleiterscheinungen im Blick hat, die einem freien Willensakt folgen, drückt folgendes Nachlass-Zitat aus, in dem es um die generelle Bewertung von Handlungen geht: „[I]st es erlaubt, ihren Werth nach Begleiterscheinungen abzumessen, nach Lust und Unlust, dem Spiel der Affekte, dem Gefühl der Entladung, Explosion, Freiheit“ (NL 1888, KSA 13, 14[185], S. 372). Jenes subjektive Gefühl der Freiheit ist in Wahrheit nur das Lustgefühl, welches sich einstellt, wenn ein Affekt über den anderen triumphiert und befiehlt (vgl. JGB 19, KSA 5, S. 32). Der Forderung Nietzsches, Handlungen nach Lust- und Unlustkriterien zu beurteilen, geht also die Theorie voraus, dass jegliche freie Willensakte in Wirklichkeit auf eine „Explosion von Kraft“ (NL 1884, KSA 11, 25[185], S. 64; vgl. NL 1884, KSA 11, 26[277], S. 222 f.) zurückgehen, und Willensfreiheit mit dem Lustgefühl der Entladung verwechselt wird. Das Herbeiführen einer solchen, inneren Struktur, welche auf neubestimmten Grundsätzen beruht, kann unter Zuhilfenahme von Foucaults Beschreibung der antiken paraskeue und der logoi gedeutet werden: „Sie [die logoi – J. H.] sind Handlungen induzierende Schemata, die, sobald sie einmal vorhanden sind (…), aufgrund ihrer induzierenden Kraft dazu führen, daß derjenige, der sie besitzt, wie aus eigenem Antrieb handelt: als ob diese logoi, die allmählich mit seiner Vernunft, seiner Freiheit und seinem Willen verschmelzen, selbst sprächen, für ihn sprächen“ (HS, S. 397).
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
Das nietzscheanische Programm der Selbst-Transformation verläuft über eine Genealogie der Moral sowie eine Genealogie des Subjekts. Der neue Typ ethischen Verhaltens definiert sich hierbei über ein verändertes Verhältnis zu den moralischen Vorschriften. Dies lässt sich über den Vergleich mit der foucaultschen Interpretation der antiken Selbstsorgepraktiken als eine Konstituierung der Individuen als autonome Subjekte ihres moralischen Handelns verstehen und bezeichnen. Foucaults Deutung antiker Texte der Selbstsorge kann also auch hinsichtlich des nietzscheanischen Ethikverständnisses als methodische Folie herangezogen werden: Freie moralische Subjektivität bildet sich über die Erkenntnis über die Grundlagen der Moral sowie der eigenen Subjektiviertheit, also auch über den antiken Topos der Selbsterkenntnis. Um den Typ der Ethik, den Nietzsche und Foucault positiv vorantreiben wollen, genauer zu bestimmen, sollen im Folgenden die foucaultschen und nietzscheanischen Vorstellungen in ein allgemeineres Ethikkonzept überführt werden.
4.4.2 Sollensethik vs. Strebensethik Im Anschluss an Krämer (1992) ordnet Steinmann (2000) den nietzscheanischen Ethiktyp als Strebensethik, in welcher, im Gegensatz zur Sollensethik, „die Anforderungen der Sozietät sich mit den wahren Interessen des Individuums decken“ (Krämer 1992, S. 9). Krämer weist darauf hin, dass eine solche Ethik besonders die antike Philosophie seit Sokrates bestimmt hat. Das gelingende Leben des Einzelnen wird hierbei als Ausgangspunkt jeglicher ethischer Struktur verstanden (vgl. Krämer 1992, S. 10; Steinmann 2000, S. 61). Steinmann unterstreicht Nietzsches Unterscheidung zwischen einer aristokratischen ‚Herrenmoral‘ und einer auf Ressentiment fußenden ‚Sklavenmoral‘, um das Gegensatzpaar der Strebens- und der Sollensethik auf die nietschzeanischen Vorstellungen von individueller Ethik einerseits und Moralkritik andererseits zu übertragen. Nietzsche wirft demnach der jüdisch-christlich geprägten Moral vor, das ethische Paradigma der Lebensweise durch das des Unterlassens und Verurteilens ersetzt zu haben. Zugespitzt formuliert wird eine ja-sagende und selbstbejahende Ethik ersetzt durch eine nein-sagende Ethik des Sollens. Eine so geartete Sollensethik ist für Nietzsche immer Ausdruck des Ressentiments und des Empfindens, Unterworfener zu sein (vgl. Steinmann 2000, S. 61 f.; GM I 2, 10, 13, KSA 5, S. 258 ff., S. 270 ff., S. 278 ff.). Der positive Ausdruck einer Strebensethik findet sich in jenem bereits erwähnten neunten Aphorismus aus der Morgenröthe, in welchem Nietzsche der altruistischen Ethik des Gehorsams und der Sittlichkeit der Sitte eine auf individuellen und egoistischen Motiven fußende Ethik gegenüberstellt: „Jene Moralisten dagegen, welche wie die Nachfolger der sokratischen Fussstapfen die Moral der Selbstbeherrschung und Enthaltsamkeit dem Individuum als seinen eigensten Vortheil, als seinen persönlichsten Schlüssel zum Glück an’s Herz legen, machen die Ausnahme“.
4.4 Ethische Subjektivierung bei Nietzsche und Foucault
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Nietzsche macht mit der Anspielung auf Sokrates und seine Nachfolger deutlich, dass er selbst ebenfalls jene Strebensethik im Sinne hatte, welche ihren Ausgang in dem geglückten Leben des Einzelnen hat. Mit dem Hinweis auf die „Moral der Selbstbeherrschung“ wird zudem deutlich, dass er eine auf asketischen Selbstsorgepraktiken aufbauende Ethik begrüßt.⁷² Nietzsche ist also auch an dieser Stelle mit der Schablone der Selbstsorge zu interpretieren, wie sie Foucault in seiner späten Subjektphilosophie herausgearbeitet hat, und welche auch als Apologie einer Strebensethik bezeichnet werden kann. Nietzsche unterscheidet also zwischen einer lebensverneinenden asketischen Moral im Christentum einerseits und einer asketischen Ethik der Selbstbeherrschung andererseits, deren Zweck jedoch nicht mehr in einem gehorchenden, sich selber geißelnden Subjekt liegt. Vielmehr soll im asketischen Einüben eine souveräne Herrschaft über sich und seine Affekte und Leidenschaften etabliert werden (vgl. GM III 8, KSA 5, S. 351 ff.; Steinmann 2000, S. 61 f.).⁷³ Aus einem solchen autonomen Verhältnis zu sich soll eine Ethik entstehen, welche sittliche Handlungen „des individuellen Nutzens wegen“ (M 9, KSA 3, S. 22) vollzieht.⁷⁴ Nietzsche drückt das Gegeneinander von Sollens- und Strebensethik pointiert so aus: „So wie wir sind – so werden wir widerspenstig bei einem ‚du sollst‘. Unsere Moral muß heißen ‚ich will‘“ (NL 1883, KSA 10, 7[1], S. 236). Das, was Krämer (1992) mit Strebensethik bezeichnet hat, nämlich die Verbindung von ethischem Handeln mit den individuellen Lebensvollzügen, und was Steinmann (2000) daraufhin auf die Ethik Nietzsches anwendet, kann mit einigem Recht als Denkfigur verstanden werden, welche der späte Foucault, auf Nietzsche aufbauend, genauer entwickelt. Diese Denkfigur kann wiederum auf Nietzsche angewendet werden, um dessen Strebensethik sowie die hiermit zusammenhängende Individualisierung auch begrifflich genauer zu fassen.
Dass Nietzsche sich die individuelle Strebensethik der Griechen zum Vorbild nimmt, verdeutlicht auch jenes bereits erwähnte Nachlass-Zitat: „Die Entstehung vieler freier Individuen bei den Griechen: Ehe nicht der Wollust wegen. Übung und Ausbildung der Kunst des coi[tus] (…). Die einfache Lebensweise (…). Die Religion keine Moralpredigerin, also Sitten freilassend“ (NL 1881, KSA 9, 11[97], S. 476). Diese Überlegungen müssen jedoch immer vor dem Hintergrund von Nietzsches Kritik am Sokratismus gewertet werden. Es ist gezeigt worden, dass Nietzsche die sokratische Philosophie der Selbstbeherrschung als Zeichen eines bereits ‚absteigenden Lebens‘ gewertet hat und den Gedanken der Selbstbeherrschung durch den der Steigerung und der Instinktbejahung ersetzt (vgl. GD Sokrates 9, 11, KSA 6, S. 71 f., 73; NL 1887– 1888, KSA 13, 11[74] (332), S. 37). Nietzsche schiebt jedoch diesen Überlegungen eine Ausführung über den „Schein-Egoismus“ (M 105, KSA 3, S. 92) hinterher. Dass jemand aus individuellem Nutzen handeln kann, setzt voraus, dass er sich zumindst bis zu einem gewissen Grade erkannt hat. Denn: „Die Allermeisten, was sie auch immer von ihrem ‚Egoismus‘ denken und sagen mögen, thun trotzdem ihr Lebenlang Nichts für ihr ego, sondern nur für das Phantom von ego, welches sich in den Köpfen ihrer Umgebung über sie gebildet und sich ihnen mitgetheilt hat“ (M 105, KSA 3, S. 92 f.).
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
Denn die Unterscheidung zwischen antiker Strebens- und christlicher Sollensethik findet sich (etwas differenzierter und ausführlicher) auch im Spätwerk Foucaults wieder (vgl. SW II, S. 41 ff.; Krämer 1992, S. 238). Foucault differenziert zwischen zwei Weisen, sich zu moralisch-sittlichen Handlungsvorschriften zu verhalten: entweder im bloßen Befolgen der Regel aufgrund gesellschaftlicher Gegebenheiten, oder „um zu versuchen, sich selber zum moralischen Subjekt seiner Lebensführung zu machen“ (SW II, S. 38). Das Individuum hat also die Wahl, sich führen zu lassen, oder sich selbst als Subjekt seiner Handlungen zu konstituieren. Wie vorher schon bei Nietzsche besteht auch für Foucault das Problem nicht darin, freies und unfreies Handeln dahingehend zu unterscheiden, ob man moralischen Normen und Regeln gehorcht oder nicht, sondern dahingehend, auf welche Weise ich mich zu ihnen verhalte, aus welchen Gründen ich meine Handlungen ausführe (vgl. M 9, KSA 3, S. 22; SW II, S. 39 ff.). Es geht also in erster Linie nicht darum, vorgegebene sittliche Handlungsmuster zu durchbrechen, sondern darum, eine innere Stellung zu der zu befolgenden Vorschrift zu entwickeln, indem man sich erkennt, kontrolliert und transformiert (vgl. SW II, S. 40). Foucault bezieht sich hierbei affirmativ auf eine antike, individuelle Strebensethik, die ihren Ausgang in der ästhetisch-ethischen Lebensweise des Einzelnen hat: „Es gibt keine einzelne moralische Handlung, die sich nicht auf die Einheit einer moralischen Lebensführung bezieht“ (SW II, S. 40). Das, was bei Nietzsche mit jenem Ausdruck vom „persönlichste[m] Schlüssel zum Glück“ (M 9, KSA 3, S. 23) umschrieben wird, findet bei Foucault also eine begriffliche Schärfe, die zudem einen Zusammenhang zur antiken Philosophie offenbar werden lässt. Die der christlichen Moral entgegengestellte positive Ethik stellt einen Zusammenhang zwischen moralischen Regeln und der Subjektivierung des Individuums her. Dieser Zusammenhang stellt sich so dar, dass die moralische Handlung letztlich zurückgeführt wird auf die individuellen Lebensvollzüge und eine vorübergehende ‚Einheit der Person‘, welche auf asketische Praktiken des Selbst zurückgeht. Jede Moral ist Foucault zufolge davon geprägt, dass sich verschiedene Formen des Verhältnisses zwischen den moralischen Codes und den Subjektivierungsweisen herausbilden (vgl. SW II, S. 41). Die autonomere Art der moralischen Subjektivierung, welche auch Foucault selbst im Sinn hat, konstituiert sich stets über asketische Praktiken, die dem Individuum helfen, bestimmte Aspekte seiner selbst zu transformieren uns zu bestärken (vgl. SW II, S. 40). Als Gegenpol zu dieser Art der in der individuellen Lebensweise gründenden, freien moralischen Selbstkonstitution (Strebensethik) bestimmt Foucault eine Sollensethik, die den Zugang des Einzelnen zu den moralischen Codes in erster Linie über das Gehorchen regelt (vgl. SW II, S. 41; Krämer 1992, S. 11). Wie schon Nietzsche betont auch Foucault bei diesem Typ der moralischen Subjektivierung die wichtige Rolle einer Autorität, welche das Befolgen der Regeln aufwertet und deren Unterlassen sanktioniert. Das, was bei Nietzsche Sittlichkeit der Sitte genannt wird, findet bei
4.4 Ethische Subjektivierung bei Nietzsche und Foucault
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Foucault seine Entsprechung und Ausdifferenzierung in der Beschreibung eines Typus von Subjektivierung, welcher im Christentum beginnt, seine Fortsetzung im mittelalterlichen und neuzeitlichen Strafsystem findet und sich schließlich in seine modernste Form, der Gouvernementalität transformiert, in welcher eine massenhafte Regierung der Einzelnen vollzogen wird (vgl. M 9, KSA 3, S. 22; SW II, S. 38, 41 f.; GG I; GG II).⁷⁵ Foucault stellt, hierin Nietzsche verwandt, die antike Ethik der christlichen Moralität gegenüber: Es wäre verfehlt, die christliche Moral – man müßte eigentlich sagen: ‚die christlichen Moralen‘ – auf ein solches Modell zu reduzieren; wohl aber kann man annehmen, daß die Organisation des Strafsystems zu Beginn des 13. Jahrhunderts und seine Weiterentwicklung bis zum Vorabend der Reformation eine sehr starke Verrechtlichung – eine sehr starke ‚Kodifizierung‘ im eigentlichen Sinn – der Moralerfahrung hervorgerufen haben (…). Andererseits lassen sich Moralen denken, in denen das starke und dynamische Element auf Seiten der Subjektivierungsformen und Selbstpraktiken zu suchen ist (SW II, S. 42).
Foucault betont zwar einerseits die Kontinuität zwischen den griechischen Praktiken der Selbstsorge und den christlichen asketischen Idealen, weist aber auch darauf hin, dass der Aspekt der relativen Freiheit in diesem Entwicklungsprozess verloren gegangen ist: „Es geht also darum zu sehen, wie sich diese Subjektivierung vom klassischen griechischen Denken bis zur Konstituierung der christlichen Doktrin und Pastoral (…) definiert und transformiert hat“ (SW II, S. 44). Die Parallelen, die sich hinsichtlich des nietzscheanischen und foucaultschen Ethiktyps der Strebensethik feststellen ließen, finden sich auch in deren Darstellung des ‚Gegentyps‘, der christlich-asketischen Ethik. Hierbei kann nun Foucaults Analyse der sogenannten Pastoralmacht als Schablone auf Nietzsches Spätwerk gelegt werden, um dessen Verständnis und Implikationen genauer herausarbeiten zu können. Nietzsches asketischer Priester wird hierbei als Repräsentant eines historischen, aber
Zu nennen ist hinsichtlich des Strafsystems die individualisierende humanistische Moral, welche Foucault anhand seiner Analyse der Disziplinarmacht und der Geschichte des Gefängnisses einer Kritik unterzieht. Die zunehmend menschlicheren Strafen im Zuge der humanistischen Strafrechtsreform sind also keiner höheren Empfindsamkeit oder Menschlichkeit geschuldet, sondern dienen einer ökonomischeren und spezifischeren Form der Regulierung und der Disziplinierung der delinquenten Individuen: „Die Gesamtsituation, die Voraussetzung der Reform war, ist also nicht eine neue Empfindsamkeit, sondern eine andere Politik gegenüber den Gesetzwidrigkeiten (…). ‚Menschlichkeit‘ ist der ehrerbietige Name für diese Ökonomie mit ihren sorgfältigen Kalkülen“ (ÜS, S. 104. 117). Diese humanistische Strafrechtsreform impliziert auch eine andere Vorstellung vom Menschen als Subjekt: „Über die Verzahnung von Machtwirklichkeit und Wissensgegenstand hat man verschiedene Begriffe und Untersuchungsbereiche konstruiert: Psyche, Subjektivität, Persönlichkeit (…) usw.; man hat darauf wissenschaftliche Techniken und Diskurse erbaut; man hat darauf die moralischen Ansprüche des Humanismus gegründet. Doch man täusche sich nicht: (…) Der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man einlädt, ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er“ (ÜS, S. 42; vgl. Kögler 2004, S. 84 f.; Lemke, T. 1997, S. 84 ff.).
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
nicht an bestimmte handelnde Personen gebundenen Herrschaftstypus gedeutet, in welchem sich eine Beziehung zu sich selbst etabliert, die den Charakter der Unterwerfung trägt. Die nähere Untersuchung der Pastoralmacht bzw. des asketischen Priesters ist deshalb notwendig, weil sich, wie schon des Öfteren gezeigt worden ist, souveräne Formen von Individualität bei Nietzsche und bei Foucault nicht nur durch aktive Selbstgestaltung ergeben. Denn individuelle Souveränität ergibt sich auch als Produkt und Konsequenz aus unfreien und unterwerfenden Formen von Moral und Subjektivierung, deren Dekonstruktion und Ent-Decodierung wiederum dazu beitragen, freiere Formen der Existenz zu etablieren.
4.4.3 Nietzsches asketischer Priester und Foucaults christliches Pastorat Foucault untersucht die christliche Pastoralmacht als eine Form des Regierens, welche er von der griechischen und hellenistischen Art des Regierens unterscheidet (vgl. Lemke, T. 1997, S. 152; Kögler 2004, S. 146; Ruoff 2007, S. 161 ff.). Zeitlich ordnet er das Entstehen und Erstarken dieses Machttyps in etwa zwischen dem 3. und dem 18. Jahrhundert ein. Während in der antiken Konzeption von Regierung der einzelne Mensch nicht direkt geleitet, sondern stattdessen die Stadt bzw. das Gemeinwesen regiert wird, so werden in der Pastoralmacht die einzelnen Menschen regiert und geleitet und durch dieses Regiert- und Geleitetwerden auf bestimmte Art als Individuen konstituiert: „[D] ie pastorale Macht [ist] eine individualisierende Macht“ (GG I, S. 191; vgl. Lemke, T. 1997, S. 152; GG I, S. 188). Die Funktionsweise des Pastorats folgt dem Schema des Hirten (Priester oder Gott selbst), der sich sowohl um seine Herde im Ganzen als auch um die einzelnen ‚Schafe‘ zu kümmern hat (vgl. Kögler 2004, S. 146).⁷⁶ Wenn sich auch bereits in der jüdischen Kultur- und Religionsgeschichte Strukturmomente der Pastoralmacht finden, so betont Foucault dennoch: „Die wirkliche Geschichte des Pastorats, als Ausgangspunkt eines spezifischen Typus der Macht über
Foucault siedelt den Beginn dieses Machttyps in Ägypten an, wobei er seine erste umfassende Ausführung in der hebräischen Religion erfährt. Der hebräische Gott wird, im Gegensatz zu den griechischen Gottheiten, als ein beweglicher Gott erfahren, und die Macht wird auf eine bewegliche Herde (Israeliten) ausgeübt (vgl. GG I, S. 188). Die zu regierende Gemeinde ist also nicht mehr an ein bestimmtes Territorium gebunden. Die christliche Form der Regierung der Menschen, welche sich hieraus entwickelt, richtet sich nicht mehr an eine geographisch begrenzte Gruppe von Menschen, sondern – und das ist das spezifisch Neue dieser Machtform- an die Menschheit im allgemeinen (vgl. GG I, S. 218). Die Zielgruppe des christlichen Pastorats definiert sich also nicht über geographische (wie die Stadt in der Antike) oder ethnische Zugehörigkeit (wie noch in der hebräischen Religion), sondern allein über das Glaubensbekenntnis.
4.4 Ethische Subjektivierung bei Nietzsche und Foucault
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die Menschen (…), diese Geschichte der abendländischen Welt beginnt erst mit dem Christentum“ (GG I, S. 217; vgl. Ruoff 2007, S. 161).⁷⁷ Das christliche Pastorat ist durch die Fürsorge des Hirten gegenüber seiner Herde gekennzeichnet. Ziel dieser fürsorglichen Regierung ist das Seelenheil jedes Einzelnen und somit die spirituelle Rettung und Leitung der Herde (vgl. Kögler 2004, S. 146; Lemke, T. 1997, S. 153; Ruoff 2007, S. 163). Foucault definiert die Pastoralmacht in vielen Punkten bewusst in Abgrenzung zum antiken Regieren. Dies tut er zum Beispiel anhand des Begriffs des Gehorsams. Foucault unterstellt, dass die Kategorie des Gehorsams in der griechischen Regierungsform nicht existierte, d. h. der Einzelne befolgt ein Gesetz oder einen Befehl freiwillig bzw. lässt sich von ihnen überzeugen (vgl. GG I, S. 253). Im Pastorat hingegen hat sich eine, wie Foucault es nennt, „Instanz des reinen Gehorsams“ (GG I, S. 254) herausgebildet, welche eine „Unterwerfungsbeziehung eines Individuums unter ein anderes Individuum“ (GG I, S. 255) voraussetzt⁷⁸. Der Gehorsam wird so zum Gehorsam um seiner selbst willen, zur Kardinaltugend, aus der sich alle anderen Tugenden – und zuletzt auch das Seelenheil – ableiten, während die Unterwerfung unter den Meister in der antiken Philosophie letztlich zum Ziel hat, Herr über sich selbst zu werden, also dem Topos der Selbstbeherrschung folgt (vgl. Lemke, T. 1997, S. 153 f.; Kögler 2004, S. 146; GG I, S. 258). Der individualisierende Gehorsam wird garantiert über das vorgegebene und regelmäßige Durchführen asketischer Praktiken der Selbstkasteiung, welche der Reinigung der Seele und dem Erreichen eines jenseitig situierten Heils vorangehen soll (vgl. Kögler 2004, S. 146).⁷⁹ Foucault differenziert auch hierbei zwischen dem griechisch-römischen und dem christlichen Ideal: Soll die durch Entsagung erreichte Abwesenheit von Leidenschaften bei den griechischen und hellenischen Philosophieschulen noch zu einer durch keine äußeren Reize getrübte Selbstbeherrschung, also zu einer Stärkung des Individuums führen, so sollen die Entsagungstechniken des christlichen Pastorats das individuelle Moment gerade schwächen: [K]eine Leidenschaften, was bedeutet dies für das Christentum? Das bedeutet im Wesentlichen, jenem Egoismus, jenem eigenartigen Willen, der der meine ist, zu entsagen. Und nicht, daß sie passiv machen, was das stoische und sogar das epikureische Thema war, wirft man den Freuden
Die bei den Hebräern noch vereinzelt auftretende Figur des Hirten wird mit der Konstituierung der Kirche in ein institutionalisiertes, umfassendes, auf Individualisierung gerichtetes System der religiösen Regierung überführt (vgl. Lemke, T. 1997, S. 153; GG I, S. 218). Vgl. zum Thema des Gehorsams bei Nietzsche: M 9, KSA 3, S. 21 ff. Auch Nietzsche analysiert das Ziel der Herdenführung des asketischen Priesters in einem auf das Jenseits gerichtete Seelenheil (vgl. GM III 13, KSA 5, S. 365 ff.). Für ihn haben diejenigen asketischen Ideale, welche nicht zu einer Stärkung, sondern zum Gehorsam des Individuums führen sollen, generell einen lebensverneinenden, d. h. auf das Jenseits, auf eine andersgeartete Welt gerichteten Charakter. Ein asketisch geführtes Leben soll in diese andere Welt hineinführen (vgl. GM II 11, KSA 5, S. 361 ff.). Foucault wie Nietzsche unterscheiden also zwischen freien und unfreien Weisen der Subjektivierung über Askese.
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
des Fleisches vor, sondern, daß sich im Gegenteil darin eine Aktivität entfaltet, die eine individuelle, persönliche, egoistische Aktivität ist (GG I, S. 260; vgl. GG I, S. 259 ff.).
Dies lässt sich als eine philosophiegeschichtliche Untermauerung von Nietzsches These über die asketischen Ideale in der Genealogie der Moral lesen. Dem positiv gewendeten Ideal des asketischen Philosophen, welcher die Kontrolle seiner Leidenschaften in eine Hierarchie der Triebe und Affekte integriert (vgl. GM III 8, KSA 5, S. 351 ff.), stellt Nietzsche die asketischen Ideale christlicher Prägung gegenüber, deren nihilistischen Kern er am Ende der Abhandlung offenbart. In ihnen sieht er ein lebensfeindliches Prinzip walten, wenden sie sich doch gegen die Grundvoraussetzungen des Lebens, welche u. a. in der Selbstsucht, der Leiblichkeit und dem Geschlechtstrieb liegen: „Man kann sich schlechterdings nicht verbergen, was eigentlich (…) vom asketischen Ideal her seine Richtung bekommen hat: dieser Hass gegen das Menschliche, mehr noch gegen das Thierische, mehr noch gegen das Stoffliche (…), das Alles bedeutet, wagen wir es, dies zu begreifen, einen Willen zum Nichts, einen Widerwillen gegen das Leben, eine Auflehnung gegen die grundsätzlichen Voraussetzungen des Lebens“ (GM III 28, KSA 5, S. 412). Nietzsches Kritik der asketischen Ideale ist also die Kritik an einer Form von Askese, in welcher das Individuum konstituiert werden soll, indem paradoxerweise gerade die individuellen Eigenschaften und Bedürfnisse von ihm abgezogen werden sollen.⁸⁰ In Foucaults Diktion ausgedrückt: Die Askese, welche im christlichen Deutungsschema ihren Ausgang nimmt, produziert gehorchende Subjekte, da die individuellen, aktiven Momente des Menschen als verwerflich beschrieben werden. Selbstaktivierung ist daher umgekehrt nur möglich, wenn asketische Praktiken dazu verwendet werden, die Eigenständigkeit und Aktivität im Menschen zu sichern. Dies stellt Foucault anhand des philosophiehistorischen Beispiels antiker Selbstkontrolle dar, und dies zeigt sich bei Nietzsche apologetisch im Ecce homo. Das Thema des auf Askese beruhenden absoluten Gehorsams führt Foucault zu einem weiteren, für das Verständnis vom Pastorat essentiellen Begriff, nämlich dem der Gewissensleitung.War die antike und spätantike Gewissensleitung noch abhängig von der Forderung des Schülers, zeitlich begrenzt geleitet zu werden, so ist die christliche Gewissensleitung andauernd und zwingend (vgl. Lemke, T. 1997, S. 154; GG I, S. 264 ff.). Angebunden an die Gewissensleitung ist der Begriff von Wahrheit, welcher sich im christlichen Pastorat herausbildet. Während die Erforschung des Selbst und des Gewissens besonders bei den Griechen den Zweck verfolgt, sich besser kennenzulernen, um sich besser leiten zu können, so entwickelt sich das Verhältnis
In der Deutung von Deleuze (1985) werden souveräne bzw. unterworfene Formen der Individualität wiederum zurückgeführt auf aktive bzw. reaktive Kräfte, deren Synthese der Bildung einer solchen Einheit vorausgehen (vgl. u. a. Deleuze 1985, S. 56 f., 94). In diesem Sinne ist ein christliches „asketisches Leben ein Selbstwiderspruch: (…) [H]ier wird ein Versuch gemacht, die Kraft zu gebrauchen, um die Quellen der Kraft zu verstopfen“ (GM III 11, KSA 5, S. 363; vgl. hierzu ausführlicher Kapitel 3.4 der vorliegenden Arbeit).
4.4 Ethische Subjektivierung bei Nietzsche und Foucault
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von Subjektivität und Wahrheit zu Zeiten des christlichen Pastorats in eine andere Richtung: „Durch die Gewissenserforschung gestaltet man also in jedem Augenblick einen bestimmten Wahrheitsdiskurs über sich (…) – eine geheime Wahrheit, eine Wahrheit der Innerlichkeit, eine Wahrheit der verborgenen Seele“ (GG I, S. 266, 267). Über die Konstruktion verborgener Wahrheiten wird demnach ein Verhältnis zwischen Wahrheit und Subjekt mitkonstruiert, welches dem Schema der Selbst-Dechiffrierung folgt, d. h. man erfährt sukzessiv mehr über sich, desto tiefer man in die ‚verborgenen Winkel seiner Seele‘ eindringt. Dies kommt vor allem in der Institutionalisierung des Geständnisses und der Beichte zum Ausdruck. Die Beichte ermöglicht die Kenntnis über die Seele und die Geheimnisse des Einzelnen, was wiederum zu einer umfassenderen Leitung der Individuen beiträgt (vgl. Lemke, T. 1997, S. 154; GG I, S. 265 ff.; Schmidt-Semmisch, 2000, S. 177 ff.).⁸¹ Das Wissen über sich selbst, welches bei den Griechen noch der Selbstkontrolle diente, hat nun im Pastorat die Funktion, den Einzelnen von außen zu kontrollieren, und, über die Institutionalisierung von Kirche und Beichte, dies auch in einem übergreifenden, massenhaften Sinn zu tun. Die Individualisierung, die sich aus diesem Wahrheitsdiskurs ergibt, ist für Foucault eine Individualisierung durch Unterwerfung, welche die massenhafte Regierung der Einzelnen garantiert: Die Individualisierung vollzieht sich (…) nicht durch die Affirmation einer Selbstbeherrschung des Selbst, sondern sie vollzieht sich durch ein ganzes Geflecht von Knechtschaften (…). Es ist folglich eine Individualisierung durch Unterwerfung (…). Es ist (…) eine Individualisierung, die sich durch die Erzeugung einer inneren, geheimen und verborgenen Wahrheit vervollkommnet (GG I, S. 268).⁸²
An dem Themenkomplex der Wahrheit wird deutlich, dass sich die pastoralen Regierungsformen an der Schnittstelle zu dem befinden, was von Foucault als Bio-Macht oder Bio-Politik beschrieben worden ist (vgl. VG, S. 286; GG, I, S. 13). Das pastorale Bescheid-Wissen-Wollen über verborgene Wahrheiten kristallisiert sich zunehmend zu einem Sexualitätsdispositiv, durch welches die Menschen dazu gebracht werden, detailliert über ihre Sexualität Auskunft geben und in dieser verborgenen Sexualität auch ihr ‚wahres‘ Wesen zu finden (vgl. Kögler 2004, S. 97; SW I, S. 185). Die Institution der Beichte wird hierbei mehr und mehr durch medizinisch-technische Untersuchungen und Befragungen ersetzt. Die Sexualität wird zunehmend in den Kontext von Faktoren wie Bevölkerung, Fruchtbarkeit und Geburtenrate gestellt. Mit dieser Zunahme staatlicher Intervention sowie der Verbindung von ökonomischem Kalkül mit dem Thema der Sexualität ist der Beginn der biopolitischen Epoche markiert (vgl. Ruoff 2007, S. 80). Die Produktion der Sexualität vermittels ‚wahrer‘ Diskurse über den Sex hat demnach seinen historischen Vorläufer in der Pastoralmacht, die über die Konstruktion ‚verborgener Wahrheiten‘ auch individualisierend wirkte (vgl. Ruoff 2007, S. 154). Die Machtform des Pastorats geht Foucault zufolge ab dem Ende des 16. Jahrhunderts mehr und mehr in einen Machttyp über, welchen er Gouvernementalität nennt, ohne sich freilich ganz in diesem aufzulösen. Die Regierung der Seelen der Einzelnen wird hierbei integriert in die Totalisierung des Zugriffs auf die Bevölkerung im modernen Staat. Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates stellt den vorläufigen Endpunkt dieser Entwicklung dar (vgl. Kögler 2004, S.147 f.; Lemke, T. 1997, S. 155 ff.; Ruoff 2007, S. 164 f.; GG I, S. 281, 331 ff., S. 369 ff.). Die Führung des Einzelnen im Pastorat transformiert sich in die Fürsorge gegenüber dem Einzelnen im Wohlfahrtsstaat: „An die Stelle des Heils treten weltliche
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In diesen Überlegungen Foucaults zum Themenkomplex des Pastorats findet sich sowohl eine Reflexion über die Gründe und Grundlagen der Transformation einer Strebensethik hin zu einer Sollensethik als auch die historische Ausarbeitung von Nietzsches Modell des asketischen Priesters. Denn ein genauerer Blick auf Nietzsches Typologie der asketischen Priester verdeutlicht, dass Foucaults Analyse der Pastoralmacht den Versuch darstellt, jenem nietzscheanischen Typus eine philosophiegeschichtliche Plausibilität zu verschaffen (vgl. Kammler 2008, S. 173). Foucaults Untersuchungen können also dazu beitragen, Nietzsches Begriff des asketischen Priesters genauer zu fassen. Die Typologie des Priesters wird von Nietzsche entworfen, ohne sie hierbei in eine historische Konkretisierung zu überführen. Es gibt Textstellen, welche nahe legen, dass Nietzsche die Figur des asketischen Priesters lediglich als Repräsentanten von bestimmten, allgemein-unpersönlichen Mächten, historischen Erscheinungsformen und Morallehren begreift (vgl. Trillhaas 1983, S. 39, S. 48 f.).⁸³ Durch das Analyseraster der foucaultschen Pastoralmacht hindurch betrachtet stellt der asketische Priester also keine konkrete historische Figur dar, sondern vergegenständlicht einen bestimmten Machttypen und die damit verbundene Form einer unterwerfenden Subjektivierung. Im Begriff des asketischen Priesters drückt sich also zunächst ein depersonaler Typus aus, welcher sich wiederum im Wirken der Priester innerhalb der Institution der Kirche ausdrückt und konkretisiert. Für Nietzsche ist der asketische Priester Repräsentant jenes asketischen Ideals, in welchem sich eine jenseitig orientierte Interpretation der Welt ausdrückt, welche Nietzsche zufolge in einem lebensverneinenden Willen zum Nichts ihren Ausgang findet (vgl. GM III 28, KSA 5, S. 411 f.). Nietzsche spricht von der „Selbstdisciplinirung, Selbstüberwachung, Selbstüberwindung“ (GM III 16, KSA 5, S. 375), zu der der asketische Priester seine Herde über die Konstruktion von Begriffen wie Schuld oder Sünde anleitet. Das Thema der Selbstüberwachung spielt für Foucault nicht bloß in der Untersuchung der Gefängnisse und der Disziplinargesellschaft eine hervorgehobene Rolle. Auch beim Machttyp des Pastorats werden die einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft dazu angehalten, sich selbst zu kontrollieren und zu überwachen, indem sie, angetrieben von der In-
Zwecke: Gesundheit, erhöhte Sicherheit und das Wohlergehen im Sinne eines verbesserten Lebensstandards ersetzen das jenseitige Heil“ (Ruoff 2007, S. 165). Der historische Prozess, der dem vorausgegangen ist, war der im Zuge von Reformation und Gegenreformation stattfindende Einzug des christlichen Pastorats auch in die nichtreligiösen staatlichen Institutionen, was dazu führte, die Fragen der Führung und der Erziehung des Einzelnen noch stärker ins Alltagsleben der Menschen zu integrieren: „Es gab (…) eine Intensivierung, eine Übersetzung, eine allgemeine Ausweitung dieser Frage und dieser Techniken der Verhaltensführung. Mit dem 16. Jahrhundert treten wir in das Zeitalter der Verhaltensführungen, in das Zeitalter der Führungen, wenn sie wollen, in das Zeitalter der Regierungen ein“ (GG I, S. 336). Nietzsche stellt den asketischen Priester besonders ausführlich in GM II 13 – 22 vor. Dort wird er, wie Foucaults Pastoren, als derjenige beschrieben, der Macht über seine Herde hat und diese leitet (vgl. GM III 13, KSA 5, S. 18, 365 ff.; GG I, S. 225 f.).
4.4 Ethische Subjektivierung bei Nietzsche und Foucault
215
stitution der Beichte, einen Wahrheitsdiskurs über sich etablieren, welcher nach der Aufdeckung verborgener Wahrheiten und verborgener Sünden strebt und das Individuum somit als ein unterworfenes und fremdgeleitetes Individuum konstituiert (vgl. GG I, S. 266 f.). Auch Nietzsche spricht vom Willen zur Wahrheit, welcher in der „BeichtväterFeinheit des christlichen Gewissens“ (GM III 27, KSA 5, S. 409) begründet liegt. Der asketische Priester leitet das Gewissen der Mitglieder der Herde, indem er nach innen gerichtete Vorstellungen wie Schuld, Sünde oder Erlösung installiert, womit die Überwachung des Einzelnen auch in eine Selbstüberwachung umschlägt, welche dazu führt, das moderne Subjekt als ein ‚nach innen‘ gerichtetes, unterworfenes und geleitetes zu konstituieren (vgl. GM II 16, KSA 5, S. 322 f.).⁸⁴ Bei Nietzsche geht es also wie bei Foucault um „Praktiken der Selbstzüchtung“ (Kögler 2004, S. 146), über welche die nicht-personalen Machtprozesse und Diskurse im Individuum ausgeführt und konkretisiert werden. Die Krise des Pastorats wird bei Foucault wie bei Nietzsche in der Reformation situiert. Diese stellt den historischen Punkt dar, an welchem sich die pastorale Macht mehr und mehr in einen anderen Machttyp transformiert, da die Leitung der Einzelnen den Priestern zunehmend aus der Hand genommen wurde, was sich zum Beispiel in der Trennung der Ohrenbeichte vom Amt des Pastors manifestiert (vgl. Lemke, T. 1997, Trillhaas 1983, S. 40). Das folgende Zitat Nietzsches zu diesem Themenkomplex verdeutlicht die Rolle, die auch für Nietzsche die Aufdeckung vermeintlich ‚verborgener Wahrheiten‘ für die Leitung und die Subjektivierung der Individuen hat: „Luther musste dem Priester (…) die Ohrenbeichte nehmen (…): aber damit war im Grunde der christliche Priester selbst abgeschafft, dessen tiefste Nützlichkeit immer die gewesen ist, ein heiliges Ohr, ein verschwiegener Brunnen, ein Grab für Geheimnisse zu sein“ (FW 358, KSA 3, S. 604). Die Macht, welche Nietzsche den asketischen Priestern zuspricht, speist sich also zu einem nicht geringen Maße aus dem, was bei Foucault als die Unterwerfung des Individuums über den Diskurs der ‚verborgenen Wahrheiten‘ beschrieben wird. Auch hinsichtlich der Selbstaufhebungsfiguren, welche sich in der christlichen Subjektivierung finden, lässt sich eine Nähe von foucaultschen und nietzscheanischen Denkmuster feststellen. Für Nietzsche gibt die Figur des asketischen Priesters die kulturelle Vor-Form für das Aufkommen eigentlicher Philosophen bzw. souveräner Individuen ab. Das hierfür zentrale Zitat aus der Genealogie der Moral zeigt diese Zusammenhänge am deutlichsten: Anschaulich und augenscheinlich ausgedrückt: der asketische Priester hat bis auf die neueste Zeit hin die widrige und düstere Raupenform abgegeben, unter der allein die Philosophie leben durfte
Auch bei Foucault geht der Selbstüberwachung des Einzelnen die Überwachung der ‚Schafe‘ durch den Hirten voraus: „Der Hirte ist derjenige, der wacht. ‚Wachen‘ natürlich im Sinne von Überwachung dessen, was sich an Bösem ereignen kann (…). Er hütet die Herde“ (GG I, S. 190).
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
und herumschlich (…)[.] Ist das bunte und gefährliche Flügelthier, jener ‚Geist‘, den diese Raupe in sich barg (…), zuletzt doch noch entkuttet und in’s Licht gelassen worden? Ist heute schon genug Stolz, Wagniss, Tapferkeit (…), Freiheit des Willens vorhanden, dass wirklich nunmehr auf Erden ‚der Philosoph‘ – möglich ist? (GM III 10, KSA 5, S. 360 f.).
Nietzsche führt diesen Gedanken in GM III 27 genauer aus. Der asketische Priester ermöglicht deshalb das Aufkommen neuer, eigentlicher Philosophen, weil sich in der zeitgenössischen und zukünftigen Philosophie, welche immer noch unter dem Banner des asketischen Ideals steht, eine Selbstkritik des Willens zur Wahrheit ankündigt und vollzieht. Dies bedeutet, dass der im Christentum ‚gezüchtete‘ Wille zur Wahrheit um jeden Preis nicht nur vor der Kritik religiöser Dogmen keinen Halt mehr macht, sondern am Ende auch die Existenz jeglicher objektiver, ontologischer, allgemeinverbindlicher Wahrheiten leugnet. Damit ist aber nicht nur dem Willen zur Wahrheit selbst die Grundlage entzogen, sondern auch der christlichen Moral und somit auch dem asketischen Ideal insgesamt. Mit der Kündigung des Glaubens „an einen metaphysischen Werth, einen Werth an sich der Wahrheit“ (GM III 24, KSA 5, S. 400) ist in letzter Konsequenz auch der Glaube an den metaphysischen und absoluten Wert moralischer Urteile aufgekündigt. Dies macht das Entstehen autonomer Individuen nötig, welche in der Lage sind, mit diesem nihilistischen Prozess fertig zu werden. Durch diesen Prozess der Selbstüberwindung ergibt sich die Möglichkeit des Erscheinens von Individuen, welche sich auf autonome Art selbst konstituieren und sich kraft Selbstzüchtung in die Lage versetzen, einer Welt standzuhalten, welche keine absoluten Wahrheiten und Verbindlichkeiten mehr anbieten kann. Wie die Sittlichkeit der Sitte letztlich das Versprechen-Können und hiermit das Entstehen übersittlicher, souveräner Individuen ermöglicht, so entsteht aus der christlichen Wahrhaftigkeit letztlich ein wissenschaftlicher Wille zur Wahrheit, der die christliche Weltinterpretation leugnet (vgl. GM III 27, KSA 5, S. 409 f.). In diesem Prozess der Kritik der Wahrheit sowie der Ent-Wertung der Wahrheit entstehen auch neue Subjektformen, werden durch jene Kritik doch auch metaphysische Begriffe wie Substanz und autonomes Subjekt fragwürdig. Der Prozess des Fragwürdig-Werdens der Wahrheit läutet somit auch notwendig den Prozess der Umformung und der Auflösung von Subjektivitäten ein. Die Individuen, die aus diesem Prozess der Selbstüberwindung entstehen könnten, wären neue, tragische Philosophen, die zu einer Umwertung der Werte und zu neuen Wertschätzungen fähig wären, obgleich sie zumindest vorübergehend zu der Einsicht in den werdenden, chaotischen, fragwürdigen und sinnfreien Charakter der Welt gelangen. Bei Foucault drückt sich der Selbstüberwindungsgedanke in der Transformation des Machttyps des Pastorats in den des Machtyps der Gouvernementalität aus (vgl. Kögler 2004, S. 147 f.; Lemke, T. 1997, S. 155 ff., GG I, S. 331 ff.). Aus diesem wiederum entspringt die Möglichkeit, sich in stärkerer Unabhängigkeit selbst zu führen (vgl. HS, S. 313 f.).
4.4 Ethische Subjektivierung bei Nietzsche und Foucault
217
Für Foucault ist die wiederentdeckte, antike Ethik des Subjekts kein bloß rückwärtsgewandter Individualismus, sondern die Antwort auf einen gegenwärtig existierenden Machttypen, welcher sich aus der Seelenführung der Pastoralmacht hin zur gegenwärtigen Form der Gouvernementalität entwickelt hat. Dieser Machttyp gesteht den Individuen zwar eine größere Autonomie zu, stellt diese jedoch unter den Banner des ökonomischen Verwertungszwangs, welcher der Logik des ‚Unternehmertums des Selbst‘ gehorcht. Ohne diesen größeren Spielraum für den Einzelnen innerhalb des strategischen Machtfelds der neoliberalen Gouvernementalität wäre jedoch jene Rückbesinnung auf eine Ethik des Selbst gar nicht erst möglich. Denn erst in und unter der Regierungsform der Gouvernementalität, welche sich wiederum aus dem Pastorat heraus ausbildete, entwickelt sich ein „Subjekt (…), das sich durch eine Beziehung zu sich selbst definiert“ (HS, S. 313 f.). Erst unter der Voraussetzung eines solchen Regiert-Werdens kann sich also ein Individuum entwickeln, welches „sich in seinem Verhältnis zu sich selbst und zu den anderen als Subjekt konstituiert“ (RS, S. 64). Ein solches Individuum, das sich in einer Beziehung zu sich selbst und über asketische Praktiken als Subjekt konstituiert, ist, wie gezeigt werden konnte, auch das philosophische Projekt des späten Nietzsche, der, vor allem in seiner selbstreferentiellen Schrift Ecce homo konkrete Askesetechniken vorstellt, die zur Etablierung einer souveränen Identität führen sollen, welche gerade das Erkennen und das Ertragen jenes nihilistischen Prozesses der Wahrheitsfalsifikation ermöglichen soll (vgl. EH Tragödie 2, KSA 6, S. 311 f.; EH Zarathustra 6, KSA 6, S. 343 f.; EH Schicksal 5, KSA 6, S. 369 f.). Die Transformation eines Machttyps macht also bei Nietzsche wie bei Foucault auch die Transformation der Individuen hin zu autonomeren Formen der Selbstwerdung möglich. Bei allen individuellen Unterschieden lässt sich also zusammenfassend feststellen, dass sich sowohl für Nietzsche als auch für Foucault eine souveräne Selbstkonstitution nur über die christliche Vorarbeit am Menschen vollziehen kann, welche bei Nietzsche mit dem asketischen Priester, bei Foucault mit dem Terminus der Pastoralmacht umschrieben ist. Beide Philosophien etablieren und kultivieren also den Gedanken der Selbstüberwindung, d. h. der Etablierung einer souveränen Existenz aus dessen Gegensatz heraus. Das foucaultsche Deutungsmuster der Pastoralmacht diente hierbei dazu, dem Typus des asketischen Priesters eine historische und begriffliche Tiefenschärfe zu verleihen. Der asketische Priester ist also Repräsentant einer Macht- und Herrschaftsform, welche die Individuen regiert, indem sie sie auf eine unfreie, äußerliche Weise subjektiviert. Asketischer Priester und souveränes Individuum sind somit gleichsam Vorderund Rückseite einer auf christlicher Askese und christlichen Begriffen aufbauenden Subjektivierung. Auch der für die Thematik vom souveränen Individuum immens wichtige Begriff des Gewissens wird bei Nietzsche im Modus der Selbstüberwindung erörtert. Der Themenkomplex des Gewissens knüpft direkt an den von der Pastoralmacht und den
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
des asketischen Priesters an. Transformiert sich doch im schlechten Gewissen die vom asketischen Priester vollzogene Führung und Unterwerfung in eine verfeinerte SelbstFührung und Selbst-Unterwerfung, welche sich in einer ‚Verinnerlichung des Menschen‘ ausdrücken (vgl. GM, II, 16, 18, KSA 5, S. 321 ff., 325 ff.). Aus dieser SelbstFührung heraus entwickeln sich schließlich auch Möglichkeiten freier Selbst-Führung.
4.5 Nietzsches Konzept des Gewissens Es soll zunächst aufgezeigt werden, wie bei Nietzsche die Entwicklung des schlechten Gewissens bzw. bei Foucault die christliche Gewissensbildung zu einer Konstitution von Subjektivität beiträgt, die es zu überwinden gilt (vgl. GM II 1– 19, KSA 5, S. 291– 329; GG I). Damit hängt diejenige Art der Moralität zusammen, die von Nietzsche wie von Foucault abgelehnt wird. Im weiteren Verlauf werden hierauf aufbauend auch die autonomeren Formen des Gewissens (intellektuelles Gewissen, souveränes Gewissen) untersucht.
4.5.1 Schlechtes Gewissen und Subjektivität bei Nietzsche und Foucault Foucault entwirft besonders in Überwachen und Strafen das Bild eines Gewissens, welches in erster Linie einer besseren und lückenlosen Überwachung und Manipulation der Menschen dient. Er sieht in der sich verändernden Strafpraxis einen wichtigen Hebel, um die Entstehung des Gewissens und der modernen Subjektivität zu erklären. Er geht hierbei von der grundlegenden These aus, dass die Milderung der Strafen nicht mit einer Vermenschlichung des Strafsystems, sondern mit einem besseren Funktionieren der Macht und der Machtmechanismen erklärt werden muss (vgl. ÜS, S. 116). Foucault spricht in seiner genealogisch-historischen Analyse des Gefängnisses und des Strafens von einem mittelalterlichen „Fest der Martern“ (ÜS, 44), welches mit einer totalen Macht des Souveräns gegenüber dem Körper des Delinquenten verbunden ist. Innerhalb dieses Systems blühen Folter und Todesstrafe, d. h. die physische und öffentliche Bestrafung des Verbrechers. Aus dieser direkten Macht über Leben und Tod des straffällig Gewordenen entwickelt sich Foucault zufolge spätestens im 18. Jahrhundert eine neue Form der Macht und des Bestrafens, welche die physische Bestrafung durch die Überwachung der menschlichen Seele ersetzt: Die Bestrafung muß anders werden: die physische Konfrontation zwischen dem Souverän und dem Verurteilten muß ebenso ein Ende finden wie der Nahkampf, den sich vermittels des Gemarterten und des Scharfrichters die Rache des Fürsten und die verhaltene Wut des Volkes liefern (…). Im 19. Jahrhundert sollte dieser im Verbrecher entdeckte ‚Mensch‘ zur Zielscheibe einer besseren und ändernden Straf-Intervention (…) werden. Aber jetzt in der Aufklärung wird der Mensch nicht als Gegenstand eines positiven Wissens der Barbarei der Martern entgegengehalten,
4.5 Nietzsches Konzept des Gewissens
219
sondern als Rechtsschranke, als legitime Grenze der Strafgewalt. Er ist nicht das, was die Strafgewalt angreifen und verändern, sondern was sie intakt lassen und respektieren soll (ÜS, S. 93, 94).
Auch für Nietzsche ist die Praxis der Strafe zentral, wenn es um die Entstehung der menschlichen ‚Seele‘ und die Gewissensbildung geht. In GM II 16 stellt Nietzsche seine Hypothese zur Entstehung des schlechten Gewissens vor: „Ich nehme das schlechte Gewissen als die tiefe Erkrankung, welcher der Mensch unter dem Druck jener gründlichsten aller Veränderungen verfallen musste, die er überhaupt erlebt hat, – jener Veränderung, als er sich endgültig in den Bann der Gesellschaft und des Friedens eingeschlossen fand (…). Alle Instinkte, welche sich nicht nach Aussen entladen, wenden sich nach Innen – dies ist das, was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne: damit wächst erst das am Menschen heran, was man später seine ‚Seele‘ nennt“ (GM II 16, KSA 5, S. 321, 322).⁸⁵ Auch für Nietzsche ist die Strafe integraler Bestandteil der Konstitution des modernen Subjekts. Denn er benennt die Strafe als eines jener „furchtbaren Bollwerke“ (GM II 16, KSA 5, S 322), welche dazu beitragen, die Instinkte des Menschen gegen sich selbst zu wenden und somit erst jene „ganze innere Welt“ (GM II 16, KSA 5, S. 322) entstehen zu lassen. Da sich hiermit auch die grausamen Instinkte gegen sich selber wenden, beschreibt er die Entstehung des schlechten Gewissens als einen Akt der Auto-Aggression: „Die Feindschaft, die Grausamkeit (…) – Alles das gegen die Inhaber solcher Instinkte sich wendend: das ist der Ursprung des ‚schlechten Gewissens‘“ (GM II 16, KSA 5, S. 323; vgl. Stegmaier 1994, S. 155 f.). Zentral an dieser Textstelle ist für den hier erörterten Zusammenhang, dass Nietzsche die Selbstwerdung des modernen Subjekts mit den sittlichen und zivilisatorischen Regeln und Gesetzen verknüpft: „Guilt and bad conscience are an internalized psychological condition that only arose out of the long process of breeding memory, promising, and responsibility into the human animal“ (Hatab 2008b, S. 85; vgl. Owen 2007, S. 91 ff.). Erst durch die Verinnerlichung der äußeren Werte, durch die Etablierung eines ‚Über-Ichs‘, also letztlich durch die Zähmung des Tieres im Menschen konstituiert sich der Mensch als zivilisatorisches Wesen und wird somit zu dem, was man ein ein ‚modernes Subjekt‘ nennt.⁸⁶ Nietzsche attackiert hier die christliche Moral als Verwalterin der „tiefen Erkrankung des Menschen“, also der Entfremdung des Menschen von seinen ursprünglich-animalischen Instinkten.⁸⁷
Vgl. für eine genauere Untersuchung dieser Problematik: Kapitel 2.2 und 2.3 der vorliegenden Arbeit. Dieses konstituiert sich in und über kognitive Fähigkeiten, moralisches Urteilen und der Annahme von Autonomie (vgl. GM II 1– 2 KSA 5, S. 291– 294). Er versäumt jedoch an dieser Stelle nicht, auch die positiven Potenziale aufzuzeigen, die in einer solchen ‚Verinnerlichung des Menschen‘ liegen: So spricht er davon, dass auch etwas „Zukunftsvolles“ (GM II 16, KSA 5, S. 323) in diesem Prozess der Zähmung des Menschen liege, nämlich, dass sich hierdurch auch etwas Neues ankündige, was er ein „grosses Versprechen“ (GM II 16, KSA 5, S. 324) nennt, dass der Mensch nur eine „Brücke“ (GM II 16, KSA 5, S. 324) zu etwas Höherem sei. Dieses
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
Nietzsches Genealogie des modernen Subjekts lässt sich auch im Zusammenhang mit den Begriffen von Schuld und schlechtem Gewissen mit Hilfe von Foucaults historisch-kritischer Analyse der Strafpraxis deuten und begrifflich schärfen. Der Begriff der Schuld zum Beispiel, der für das schlechte Gewissen und die damit zusammenhängende Form von Subjektivität von zentraler Bedeutung ist, wird laut Nietzsche aus einem ursprünglicheren Verhältnis von Schuldner und Gläubiger abgeleitet. Die Idee, dass wir für etwas verantwortlich sind und uns an diese Verantwortlichkeit erinnern müssen, entsteht erst aus diesem vorgeschichtlichen, ökonomischen Sinn der Schuld im Sinne von Schulden-machen. Die christliche Selbstmarterung und Selbstdisziplinierung ist die Folge und Weiterentwicklung dieses Schuldner-Gläubiger-Verhältnisses, welches erst später eine Moralisierung erfahren hat. Das ökonomische Verständnis von Schuld geht also dem moralischen genealogisch voraus. Dieses wiederum bildet die Vor- und Raupenform für die Konstitution einer souveränen Weise der Verantwortlichkeit und des Erinnerns (vgl. GM II 4– 7, KSA 5, S. 297– 305; Mohr 1977, S. 2 f.; Stegmaier 1994, 138 f., 140 f.; 144 ff.). Auch das Recht auf Bestrafung und Grausamkeit dem Delinquenten gegenüber leitet Nietzsche aus der ökonomischen Form des Rechts auf Grausamkeit ab, welches der Gläubiger dem Schuldner gegenüber hatte. Das personale Recht auf Bestrafung wurde auf die staatliche Ebene übertragen. Auch das staatliche bzw. moralische Bestrafen eines Verbrechers hat also seine genealogischen Ursprünge in der ökonomischen Form ‚Gläubiger/Schuldner‘ (vgl. GM II 9, KSA 5, S. 307 f.; Stegmaier 1994, S. 140, 147 f.). In der Strafe sieht Nietzsche außerdem ein Mittel zum „Gedächtnissmachen“ (GM II 13, KSA 5, S. 318), also zur Etablierung gewisser Regeln und Gesetze in der Person und somit die gleichzeitige Konstitution eines Subjekts, welches charakterisiert ist durch ein Gedächtnis, durch ein Verlässlich-Werden, d. h. durch die Fixierung bestimmter Ideen, Charaktereigenschaften und Verhaltens- und Denkweisen (vgl. GM II 3, 16, KSA 5, S. 294 ff., 321 ff.). Vor dem Hintergrund von Foucaults Untersuchung des Strafrechts lässt sich bezüglich dieser Überlegungen Nietzsches sagen: Das Individuum wird u. a. dadurch als modernes Subjekt konstituiert, indem dass Strafsystem ‚humanisiert‘ wird, indem bestimmte Begrifflichkeiten wie die der Schuld und der Verantwortlichkeit im Individuum installiert werden. Die moralischen Kategorien, auf die das moderne Strafsystem baut, gehen jedoch genealogisch auf unmoralische bzw. vor-moralische und barbarische Strafpraktiken zurück: „‘Schuld‘, ‚Gewissen‘, ‚Pflicht‘ (…) – ihr Anfang ist, wie der Anfang alles Grossen auf Erden, gründlich und lange mit Blut begossen worden“ (GM II 6, KSA 5, S. 300). Auch Foucault besteht auf dieser ‚Unmoral‘ als Herkunft der Moralisierung: „In dieser Humanität ist das Donnerrollen der Schlacht nicht zu überhören“ (ÜS, S. 396). Argumentationsmuster erinnert stark an Nietzsches Ausführungen zur Sittlichkeit der Sitte und dem souveränen Individuum, das aus diesem Prozess entsteht, da auch hier das souveräne (und übersittliche) Individuum aus seinem Gegenteil heraus entsteht, bzw. sich gerade die durch den Prozess der Sittlichkeit der Sitte ‚gezüchteten‘ Eigenschaften (Erinnern, Versprechen) zu Nutze macht.
4.5 Nietzsches Konzept des Gewissens
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So wie Foucault von einem „Fest der Martern“ (ÜS, S. 44) spricht, das sich lediglich in ein ökonomischeres Strafsystem transformiert, so deutet auch Nietzsche den Vorgang des vor-moralischen Strafens als „Fest“ (GM II 6, KSA 5, S. 300), spricht er von der „Grausamkeit“ als von der „grosse[n] Festfreude der älteren Menschheit“ (GM II 6, KSA 5, S. 301) und deutet darauf hin, dass auch noch heutige Formen des Strafens und des kulturellen Fortschritts „auf die immer wachsende Vergeistigung und ‚Vergöttlichung‘ der Grausamkeit“ (GM II 6, KSA 5, S. 301) aufbauen. In der diffiziler, menschlicher gewordenen Form des Bestrafens sieht Foucault eine Art der Machtausübung und der Individualisierung, welche unter dem Vorwand, die Zurechnungsfähigkeit des Delinquenten zu klären, Macht auf den Einzelnen und seine Identität ausübt: Geurteilt wird (…) durch all die Begriffe, die seit dem 19. Jahrhundert zwischen Medizin und Jurisprudenz zirkulieren (die ‚Monster‘ (…), die ‚physischen Anomalien‘ (…), die ‚Perversen‘ (…) und ‚Unangepaßten‘ der heutigen Gutachten) und die unter dem Vorwand, eine Tat zu erklären, ein Individuum qualifizieren (ÜS, S. 27).
Die Maßnahmen, die den Delinquenten betreffen, sollen nicht „die Gesetzesübertretung (…) sanktionieren (…), sondern das Individuum kontrollieren“ (ÜS, S. 28 f.). Foucault schreibt also die Geschichte des Gefängnisses und des Strafens als Genealogie der Disziplinierung und der Individualisierung: „Die Geschichte dieser ‚Mikrophysik‘ der Strafgewalt wäre also eine Genealogie oder ein Stück der Genealogie der modernen ‚Seele‘“ (ÜS, S. 41). Für Foucault ist das Subjekt demnach etwas, das eine Geschichte hinter sich hat, das wandelbar in seinen Erscheinungsformen und somit nicht gottgegeben oder mit sich selbst identisch ist. Vielmehr ist dieses Subjekt etwas Hergestelltes, etwas, das Ergebnis und Produkt vielfältiger Machteinwirkungen ist: „Historische Wirklichkeit dieser Seele, die im Unterschied zu der von der christlichen Theologie vorgestellten Seele nicht schuldbeladen und strafwürdig geboren wird, sondern aus Prozeduren der Bestrafung, der Überwachung, der Züchtigung, des Zwangs geboren wird“ (ÜS, S. 41 f.). Wie Nietzsche sieht also auch Foucault Begriffe wie Schuld und Gewissen nicht als Substanz, nicht als gottgegeben an, sondern führt sie vielmehr genealogisch auf Grausamkeit und auf Prozesse der Machteinwirkungen zurück. Das Subjekt, welches unter diesen Machteinwirkungen entsteht, ist zwar konstruiert, deshalb aber nicht unwirklich. Es ist die Folge von Isolierungstechniken, medizinischen Einteilungen, alltäglichen, ritualisierten Überwachungsvorgängen und Selbstüberwachungsmechanismen: „Diese wirkliche und unkörperliche Seele ist keine Substanz; sie ist das Element, in welchem sich die Wirkungen einer bestimmten Macht und der Gegenstandsbezug eines Wissens miteinander verschränken“ (ÜS, S. 42). Für Foucault ist auch das Gewissen hierbei Folge der Einwirkung dieser Disziplinarmacht auf den Einzelnen. Das Gewissen ermöglicht der Macht, den Delinquenten nicht bloß ‚äußerlich-physisch‘, sondern auch ‚innerlich-seelisch‘ zu leiten
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
und zu bestrafen. Auf das Feld der Subjektivität übertragen, bedeutet dies: Die Macht hat über das Gewissen einen Zugriffspunkt auf die Individuen gefunden, indem es diese auf eine bestimmte Weise subjektiviert: „Über dieser Verzahnung von Machtwirklichkeit und Wissensgegenstand hat man verschiedene Begriffe und Untersuchungsbereiche konstruiert: Psyche, Subjektivität, (…) Bewußtsein, Gewissen“ (ÜS, S. 42). Der Mensch, als Ergebnis dieser Gewissensbildung, ist somit nicht frei, sondern vielmehr ist sein Gewissen der Punkt, an dem die äußerliche Überwachung und Bestrafung in eine innere umschlägt: „Eine ‚Seele‘ wohnt ihn ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den Körper ausübt“ (ÜS, S. 42). Das moderne Strafrecht, welches von Foucault als eine zunehmende Ablösung der juristischen Strafpraxis durch eine psychologische charakterisiert wird, hat demnach zum Ziel, ein Klassifizierungssystem für straffällig gewordene Individuen zu etablieren (vgl. ÜS, S. 126 f.). Jedoch betrifft die Individualisierung, welche das Strafsystem am Delinquenten vornimmt, nicht nur den Verbrecher, sondern jegliche Individuen, welche von einer irgendwie gearteten Form der Ausgrenzung oder der Disziplinierung betroffen sind: „[D]ie Seele (…), sie hat eine Wirklichkeit, sie wird ständig produziert (…) durch Machtausübung an jenen, die man überwacht, dressiert und korrigiert, an den Wahnsinnigen, den Kindern, den Schülern, den Kolonisierten, an denen, die man an einen Produktionsapparat bindet und ein Leben lang kontrolliert“ (ÜS, S. 41). Die die Individuen subjektivierende Disziplinarmacht reicht also nicht bloß ins Gefängnis, sondern auch in andere Institutionen wie die Schule, die Psychiatrie und sogar bis an den Arbeitsplatz des Arbeitnehmers im kapitalistischen Produktionsprozess.⁸⁸ Für Foucault bildet sich das moderne Subjekt zu einem nicht geringen Teil durch den Prozess der ‚Humanisierung‘ des Strafsystems. Die äußerlichen Martern werden Foucault zufolge jedoch nicht einfach abgeschafft, sondern vielmehr in eine verinnerlichte Form der Marter transformiert. Das Gewissen gibt den Namen ab für diese Transformation und bietet der Macht die Einflussmöglichkeit auch auf das Innere der Individuen, welches durch diesen Prozess zugleich erst erzeugt wird. Unter Zuhilfenahme dieses Gedankens lässt sich also auch der Straf- und Gewissensbegriff bei Nietzsche spezifizieren. Denn dieser schreibt bezüglich des Zusammenspiels von Herrschafts- und Strafstrukturen: „Wächst die Macht und das Selbstbewusstsein eines Gemeinwesens, so mildert sich immer auch das Strafrecht“ (GM II 10, KSA 5, S. 308 f.). Nietzsche vergleicht hier die früheren Formen des Strafens, in welchen das Strafen lediglich die Möglichkeit zum Ausleben des Zorns des Gläubigers gegenüber seinem Schuldner Außerdem werden über die Ausgrenzung und Isolierung der ‚Anormalen‘ indirekt auch die anderen, ‚gesunden‘ Individuen von dieser Machtausübung in ihrer Identität geformt: „[W]enn man den gesunden, normalen gesetzestreuen Erwachsenen individualisieren will, so befragt man ihn immer danach, was er noch vom Kind in sich hat, welcher geheime Irrsinn in ihm steckt, welches tiefe Verbrechen er eigentlich begehen wollte“ (ÜS, S. 248 f.).
4.5 Nietzsches Konzept des Gewissens
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war, mit den Formen des Strafens moderner Justizsysteme, die „einer hohen Stufe der Vermenschlichung bed[ürfen], damit das Thier ‚Mensch‘ anfängt, jene (…) Unterscheidungen ‚absichtlich‘, ‚fahrlässig‘, ‚zufällig‘, ‚zurechnungsfähig‘ und deren Gegensätze zu machen und bei der Zumessung der Strafe in Anschlag zu bringen“ (GM II 4, KSA 5, S. 297 f.).⁸⁹ Nietzsche verbindet also das Komplexer-Werden moderner Strafsysteme mit der Konstitution eines autonomen Subjekts, welches der Effekt und die Konsequenz solcher juristischer Machtsysteme ist. Begriffen wie Verantwortlichkeit oder Persönlichkeit, die mit autonomer cartesianischer Subjektivität verbunden werden, geht also ein Prozess voraus, in welchem die juristische Zurechnungsfähigkeit des Einzelnen verhandelt wird. Nietzsche spezifiziert also an dieser Stelle seine These zur Entstehungsgeschichte moderner Subjektivität und der hieraus entstehenden Möglichkeit eines souveränen Individuums: Das schlechte Gewissen geht also zurück auf den zivilisatorischen Prozess des Berechenbar-Machens des Menschen durch die Sittlichkeit der Sitte, an dessen Ende die im Vergleich noch relativ junge Vorstellung vom neuzeitlichen Subjekt steht, das für seine Taten verantwortlich ist: „‘der Verbrecher verdient Strafe, weil er hätte anders handeln können‘ ist thatsächlich eine überaus spät erreichte, ja raffinirte Form des menschlichen Urtheilens und Schliessens“ (GM II 4, KSA 5, S. 298). Wie von Foucault beschrieben, dient das Erschaffen eines autonomen, eigenverantwortlichen Subjekts jedoch auch bei Nietzsche nicht einer wirklichen Befreiung des Menschen, sondern vielmehr einer umfassenderen Unterwerfung des Einzelnen unter das Herrschaftssystem der dominierenden Moral (vgl. GD Irrthümer 7, KSA 6, S. 95 f.). Durch den Vergleich mit Foucault ist Folgendes deutlich geworden: Nietzsche führt die Etablierung der neuzeitlichen Form der Subjektivität auch auf die Transformation eines Justiz- und Strafsystems zurück. In diesem Prozess wird das Gewissen dahingehend geleitet und beeinflusst, dass sich das Individuum nicht auf autonome Weise als moralisches Subjekt seiner Handlungen selbst konstituiert, sondern vielmehr – unter der Illusion der Freiheit – grundlegender und endgültiger dem Regime der Gewissensleitung unterworfen wird. Nach dem Schema des hermeneutischen Zirkels ist also zum einen deutlich geworden, dass Foucault nietzscheanische Termini und Denkfiguren übernimmt und spezifiziert, indem er sie in eine historische Konkretisierung überführt. Zum anderen gelingt es, die Ergebnisse der Untersuchungen, zu denen Foucault auf Nietzsche aufbauend gelangt, zu benutzen, um ein neues und systematischeres Verstehen von Nietzsches Subjektphilosophie zu erlangen. Vorangehend wurde die Entstehung des Subjekts über die historische Entwicklung des schlechten Gewissens bei Nietzsche durch das von Foucault übernommene
Vgl. zu den Parallelen zwischen Nietzsches und Foucaults Philosophie der Strafe: Stegmaier 1994, S. 140, 227.
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
Raster der ‚Geschichte des Überwachens und Bestrafens‘ erläutert und erklärt. Dies ist nötig, um am Ende auch das Entstehen einer souveränen und selbstbestimmten Form des Gewissens philosophie- und kulturgeschichtlich erklären zu können. Bei Foucault wird die Kritik der Gewissensleitung in einer Disziplinargesellschaft durch das Konzept der Pastoralmacht ergänzt. Die Priester fungieren in der foucaultschen Genealogie als Träger dieser Gewissensleitung und somit einer die Individuen unterwerfenden Subjektivierung der Menschen. Bei Nietzsche ist der asketische Priester Nutznießer und ausführende Kraft des sich in der christlichen Moral ausdrückenden asketischen Ideals. Er leitet die Erkrankten und an sich selbst Leidenden, indem er ihrem Leiden einen (jenseitigen) Sinn verschafft und sie somit im Leben hält. Die Begriffe der Willensfreiheit und des autonomen Subjekts sind hierbei die ‚Einflugschneisen‘, um den Menschen Schuld empfinden zu lassen und ihn somit über die Leitung seines Gewissens auch als Subjekt zu konstituieren und zu leiten (vgl. Stegmaier 1994, S. 186, 188 f.; GM III 14, 15, 16, KSA 5, S. 318 – 324). Willensfreiheit dient also nur dazu, das Individuum in einer tieferen Weise zu unterwerfen. Foucault betont darüber hinaus die Bedeutung der Wahrheit für die pastorale Gewissensleitung. Der Institution der Beichte entspricht die innere Form der Unterwerfung. Durch das Gewissen wird der Einzelne nicht nur vom Pastor, sondern zunehmend auch durch sich selbst erforscht. Indem verborgene Wahrheiten im Individuum konstruiert werden, kann dasselbe durch das Aufdecken eben jener tiefen Wahrheiten stückweise erkannt und auf diese Weise als Subjekt konstituiert und an eine feste Identität gebunden werden (vgl. Lemke, T. 1997, S. 154 f.; GG I, S. 266 ff.).
4.5.2 Der Wille zur Wahrheit und das intellektuelle Gewissen Dieser Form der Subjektivierung der Individuen über eine Verbindung ihrer Identität mit einer verborgenen Wahrheit widmet sich Foucault auch in seinem Werk Der Wille zum Wissen. Er weitet dort den Geständniszwang auf die wissenschaftliche Sphäre aus. Durch die Verwissenschaftlichung des Menschen hat dieser auch gelernt, sich selbst als Objekt wissenschaftlicher Begutachtung zu begreifen und somit auch, sich selbst im Modus der Dechiffrierung zu erkennen (vgl. Kögler 2004, S. 112; ÜS, S. 245). Dies gilt vor allem für die psychiatrischen Wissenschaften sowie generell für die Humanwissenschaften, aber auch in der Medizin und in der Rechtssprechung. In diesen Wissenschaften vom Menschen ist der Gedanke vorherrschend, man könne die Wahrheit über eine Person erfahren, indem diese sich selbst prüft und ihre verborgene Wahrheit gesteht: „Im Kontext der Disziplin entwickeln sich somit die objektivierenden Human- und Sozialwissenschaften, die eine unabhängig vom Selbstverständnis der Subjekte existierende ‚Wahrheit‘ über diese Individuen aufzudecken haben. In Statistiken, Tabellen, Klassifikationen drücken sich jene auch auf der konkreten Beobachtungs-
4.5 Nietzsches Konzept des Gewissens
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ebene des Einzelnen festzustellenden Charaktereigenschaften aus, die uns seine Natur zu offenbaren haben“ (Kögler 2004, S. 112 f.). Die Sexualität ist für Foucault hierbei deshalb das hervorgehobene Thema, weil sich an ihr besonders anschaulich die Verbindung einer angenommenen Identität mit verborgenen Trieben, Bedürfnissen und Wahrheiten darstellen lässt (vgl. Kögler 2004, S. 113). Foucault macht, anhand der Analyse des biopolitischen Dispositivs der Sexualität, deutlich, dass die Vorstellung, über die Dechiffrierung einer verborgenen Wahrheit auch die Wahrheit über die Identität eines Individuums feststellen zu können, einen fundamentalen Bestandteil abendländischer Kultur ausmacht, der sich bis in die Gegenwart hineinzieht: Jeder Mensch soll nämlich durch den vom Sexualitätsdispositiv fixierten imaginären Punkt Zugang zu seiner Selbsterkennung haben (…), zur Totalität seines Körpers (…), zu seiner Identität (weil er an die Kraft eines Triebes die Einzigartigkeit einer Geschichte knüpft). Aufgrund einer Wende, die sich zweifellos schon seit langem, schon seit der christlichen Seelsorge des Fleisches eingeschlichen hat, haben wir es jetzt soweit gebracht, daß wir unsere (…) Identität dort vermuten, wo man nur dunkles namenloses Drängen wahrnahm (SW I, S. 185; vgl. SW I, S. 31, 188 ff.; Dreyfus/Rabinow 1987, S. 205 ff.).⁹⁰
Die Rede vom Willen zum Wissen bei Foucault entspricht, freilich ohne die Spezifizierung auf die Sexualität, der nietzscheanischen Figur des Willens zur Wahrheit, welche sich aus der christlichen Moralität heraus zu einer intellektuellen Redlichkeit um jeden Preis transformiert hat (vgl. GM III 27, KSA 5, S. 409 f.). Gleich dem Willen zum Wissen vollzieht sich auch der Wille zur Wahrheit im Modus der Wissenschaftlichkeit. Beide bauen sie auf dem Raster christlicher Herrschaftsformen auf: Bei Foucault führt der wissenschaftliche Wille zum Wissen in Psychiatrie, Medizin und Justiz auf die christliche Geständnispraktitk und dem damit verbundenen Glauben, die Wahrheit über ein Individuum über die Dechiffrierung seiner Seele herauszufinden, zurück. Nietzsche drückt diesen Tatbestand so aus: „[D]ie christliche Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die BeichtvaterFeinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimiert zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis“ (GM III 27, KSA 5, S. 409 f.). Foucaults Begriff vom Willen zum Wissen ist also deutlich von Nietzsches Figur vom Willen zur Wahrheit geprägt. Der Willen zur Wahrheit, welcher sich bei Nietzsche
Foucault selbst richtet sich freilich gegen einen solchen Zusammenhang von Wahrheit und Identität: „Foucaults genealogische Sicht möchte nun aber (…) gerade den Bezug auf solche Identitäten selbst als ein Moment der modernen Macht entlarven. Statt sich zur Kritik der Macht auf eine Wahrheit oder ursprüngliche Natur des Menschen zu stützen, muß man die Produktion von vermeintlich ‚natürlichen‘ Identitäten vielmehr selbst als einen durch Machtpraktiken gesteuerten Prozeß begreifen“ (Kögler 2004, S. 88). Die antiken Selbsorgepraktiken und die damit verbundene Form der Gewissenleitung bieten hierbei einen Widerstandspunkt nicht nur gegen die christliche Tradition, sondern auch gegen Formen moderner Herrschaft und modernen Regiert-Werdens.
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
auf den ersten Blick vor allem als Wissenschaftskritik ausnimmt (vgl. GM III 24– 27, KSA 5, S. 398 – 411), entpuppt sich zuletzt als ein Verhaftet-Sein in der christlichen Subjektiviertheit. Denn der wissenschaftliche Wille, um jeden Preis die Wahrheit zu sagen, geht genealogisch zurück auf den christlichen Willen, die Wahrheit über sich selbst zu sagen. Und in der ‚intellektuellen Redlichkeit um jeden Preis‘ verbirgt sich das christliche Gewissen, welches glaubt, über rückhaltlose Beichte die Wahrheit über eine Person zu finden, um diese gerade hierdurch an die christliche Macht zu binden. Anders ausgedrückt: Im wissenschaftlichen Willen zur Wahrheit lebt die pastorale Regierungsform weiter, die das Individuum auf unfreie, äußerliche Weise subjektiviert, indem sie dessen Streben nach Erkenntnis und Selbsterkenntnis an eine äußerliche Macht bindet, welche vor allem in der Institution der Beichte ihren Ausdruck findet.⁹¹ Nietzsche kritisiert also den Willen zur Wahrheit nicht nur, weil sich in ihm ein nihilistischer Wille zum Nichts verbirgt (vgl. GM III 28, KSA 5, S. 411 f.), sondern auch deshalb, weil er auf einer Form von Subjektivierung und Gewissensleitung aufbaut und zurückgeht, welche den Einzelnen als unterworfenes Individuum konstituiert. Jedoch lassen sich bei Nietzsche auch hinsichtlich der Gewissensthematik Selbstüberwindungsfiguren finden. Das intellektuelle Gewissen, welches selbst aus dem Willen zur Wahrheit entspringt, führt zuletzt über diesen und (somit auch über die christliche Wahrhaftigkeit) hinaus. Das intellektuelle Gewissen ist für Nietzsche der positiv gewendete Willen zur Wahrheit. Das intellektuelle Gewissen wird von Nietzsche somit letztlich als ein Gegenprogramm zum christlichen schlechten Gewissen entworfen. Das intellektuelle Gewissen steht im Zeichen der genealogischen Kritik und Hinterfragung überkommener moralischer Werte. In der traditionellen Moral gibt das Gewissen die letzte nicht hintergehbare oder hinterfragbare Instanz ab (vgl. Stegmaier 1994, S. 131 f.). Nietzsche hingegen möchte dazu anregen, sich in seinem Handeln nicht mehr unhinterfragt von der Stimme des (schlechten) Gewissens leiten zu lassen: Aber warum hörst du auf die Sprache deines Gewissens? Und inwiefern hast du ein Recht, ein solches Urtheil als wahr und untrüglich anzusehen? Für diesen Glauben – giebt es da kein Gewissen mehr? Weisst du Nichts von einem intellectuellen Gewissen? Einem Gewissen ‚hinter‘ deinem ‚Gewissen‘? (FW 335, KSA 3, S. 561).
Das intellektuelle Gewissen wird nicht durch moralische Grundsätze, sondern durch intellektuelle Redlichkeit⁹² motiviert und bestimmt. Zwar hat es seine Vor- und Ent-
Erneut kann also nach dem Schema des hermeneutischen Zirkels festgestellt werden: Der Gedanke des Willens zum Wissen, welcher deutliche Spuren von Nietzsches Konzept des Willens zur Wahrheit aufweist, kann wiederum im Umkehrschluss dazu beitragen, Nietzsches Wissenschaftskritik eine subjektphilosophische Wendung zu geben. Zum Begriff der Redlichkeit bei Nietzsche vgl.: JGB 227, KSA 5, S. 162 f.; FW 335, KSA 3, S. 563 f. Redlichkeit wird hier von Nietzsche zum einen als Voraussetzung für den Begriff des intellektuellen
4.5 Nietzsches Konzept des Gewissens
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stehungsgeschichte in dem Ideal der christlichen Wahrhaftigkeit, jedoch wird der Wille zur Wahrheit, welcher den Kern des intellektuellen Gewissens ausmacht, mit der Zeit so autonom, dass er sich zuletzt sogar gegen den Wahrhaftigkeitsanspruch der christlichen Moral wendet (vgl. GM III 27, KSA 5, S. 408 ff.). Nietzsche möchte also mit dem Begriff des intellektuellen Gewissens das kritische, rationale Nachfragen über den Gefühlsimpuls des moralischen Gewissens stärken. Dennoch will er den Gedanken des moralischen Gewissens nicht vollkommen durch den eines Gewissens ersetzen, welchem allein kühle, intellektuelle Berechnung zugrunde liegt. In der Rede vom Gewissen hinter dem Gewissen schwingt mit, dass es Nietzsche nicht um eine Abschaffung des Gewissens und moralischen Urteilens geht, sondern um eine intellektuellere, redlichere Begründung desselben. Das Gewissen hinter dem Gewissen fungiert also als erkenntnistheoretische, kritische und genealogische Rechtfertigung der Handlungsanleitungen des eigentlichen Gewissens des souveränen Individuums. Der Hauptunterschied zwischen Nietzsches Konzeption des Gewissens zu der der Tradition besteht darin, dass er eine generelle ‚Flüssigkeit‘, Dynamik und Veränderbarkeit moralischen Urteilens und Handelns unterstellt. Nietzsche fordert dementsprechend eine ontogenetisch-genealogische Kritik des eigenen moralischen Handelns: „Dein Urtheil ‚so ist es recht‘ hat eine Vorgeschichte in deinen Trieben, Neigungen, Abneigungen, Erfahrungen und nicht Nicht-Erfahrungen: ‚wie ist es da entstanden?‘ musst du fragen, und hinterher noch: ‚was treibt mich eigentlich, ihm Gehör zu schenken?‘“ (FW, 335, KSA 3, S. 561).⁹³
Gewissens (vgl. FW 335, KSA 3, S. 561), zum anderen als stoische Tugend (vgl. JGB 227, KSA 5, S. S. 162 f.) vorgestellt. Auch Lampert (Lampert 2001) und van Tongeren (van Tongeren 2000) bestimmen nietzscheanische Redlichkeit, indem sie ihn an den Begriff des intellektuellen Gewissens binden (vgl. Lampert 2001, S. 30.; van Tongeren 2000, S. 215). Beide führen zudem Nietzsches Begriff der Redlichkeit auf antike Konzepte der Wahrheit und der parrhesia zurück (vgl. van Tongeren 2000, S. 215; Lampert 2001, S. 221). Somit muss Redlichkeit bei Nietzsche nicht nur als epistemologisches Aufsuchen der Wahrheit verstanden werden, sondern auch als eine moralische Tugend: „Redlichkeit, gesetzt, dass dies unsre Tugend ist, von der wir nicht loskönnen, wir freien Geister – nun, wir wollen (…) an ihr arbeiten und nicht müde werden, uns in unsrer Tugend, die allein uns übrig blieb, zu ‚vervollkommnen‘ (…). Und wenn dennoch unsre Redlichkeit eines Tages müde wird (…) bleiben wir hart, wir letzten Stoiker!“ (JGB 227, KSA 5, S. 162). Der Verweis auf den Stoizismus macht deutlich, dass Nietzsches Idee der Redlichkeit nicht auf den christlichen Begriff der Wahrhaftigkeit reduzierbar ist, sondern dass Nietzsche in dieser affirmativen Bezugnahme, wie Foucault, historisch hinter das Christentum zurück und somit über dieses hinaus geht. Bis zu einem gewissen Grade spiegelt sich in der Konzeption des intellektuellen Gewissens also auch jener Themenkomplex vom Pessimismus der Stärke wider. Die Gefahr besteht darin, Einsicht zu haben in die Tatsache, dass es in der Welt des Werdens und des Chaos keine objektive Wahrheit und somit auch keine allgmeinverbindliche Begründung der Moral geben kann. Je mehr ein Mensch von einer solchen Wahrheit aushält, je mehr er der Fragwürdigkeit des Daseins ins Gesicht sehen kann, desto stärker ist er (vgl. GT Versuch 1, KSA 1, S. 12). Nietzsche spielt bezüglich des intellektuellen Gewissens mit einem ähnlichen Gedanken: „Aber inmitten dieser (…) ganzen wundervollen Unge-
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In diesem Sinne unterstellt Nietzsche gerade jenen Schwäche und fehlende Persönlichkeit, welche sich ihrer moralischen Grundsätze besonders sicher sind, fehlt ihnen doch die Stärke, auch der Fragwürdigkeit und der Gewordenheit ihres moralischen Urteilens ins Auge zu sehen: Die Festigkeit deines moralischen Urtheils könnte immer noch ein Beweis gerade von persönlicher Erbärmlichkeit, von Unpersönlichkeit sein, deine ‚moralische Kraft‘ könnte ihre Quelle in deinem Eigensinn haben – oder in deiner Unfähigkeit, neue Ideale zu schauen (FW 335, KSA 3, S. 561 f.; vgl. Steinmann 2000, S. 91).
Das intellektuelle Gewissen hat dementsprechend auch die Funktion der Vorbereitung einer souveränen, autonomen Form des Gewissens, indem es die Gewordenheit und Relativität herkömmlicher moralischer Urteile durchleuchtet und bloßstellt. In diesem Sinne leistet das intellektuelle Gewissen die kritische Vorarbeit für die Etablierung einer neuen Gesetzgebung, in welcher der amor fati die Hauptrolle spielt. Anders ausgedrückt: Das intellektuelle Gewissen gibt den Namen ab für eine redlichere Begründung der persönlich moralischen Handlungsmaximen. Es soll also auch begründet werden, warum man einem bestimmten Handlungsimpuls folgt. Das intellektuelle Gewissen steht somit ‚hinter‘ dem, was man das souveräne Gewissen nennen kann, in welchem der Gedanke der ewigen Wiederkehr eine hervorgehobene Rolle spielt. Diese Zusammenhänge kommen im folgenden Zitat sehr gut zum Ausdruck: Ich mache immer wieder die gleiche Erfahrung (…): den Allermeisten fehlt das intellectuelle Gewissen (…). Es sieht dich Jeder mit fremden Augen an und handhabt seine Waage weiter, diess gut, jenes böse nennend; es macht Niemandem eine Schamröthe, wenn du merken lässest, dass diese Gewichte nicht vollwichtig sind (FW 2, KSA 3, S. 373).
Diese Formulierung führt zu jenem Aphorismus aus der Fröhlichen Wissenschaft, welcher mit „Das grösste Schwergewicht“ (FW 341, KSA 3, S. 570) überschrieben ist. Der Waagschale, mit welcher das intellektuelle Gewissen die Werte bemisst, hält die christliche Moral nicht stand. Insofern spricht Nietzsche davon, dass diese Werte und Handlungsmaximen nicht „vollwichtig“ (FW 2, KSA 3, S. 373) sind. Der Gedanke der ewigen Wiederkehr hingegen ist schwer, d. h. gewichtig genug, um zur Handlungsmaxime zu werden (vgl. FW 341, KSA 3, S. 570). Dem intellektuellen Gewissen kommt hierbei selbstverständlich nicht die Aufgabe zu, die Lehre der ewigen Wiederkehr wissenschaftlich zu beweisen, sondern seine Funktion besteht vielmehr darin, die Stimme des Gewissens zu hinterfragen, das blinde Befolgen der Sitten auf ihre Herkunft hin zu überprüfen.
wissheit und Vieldeutigkeit des Daseins stehen und nicht fragen, nicht zittern vor Begierde und Lust des Fragens (…), das ist es, was ich als verächtlich empfinde“ (FW 2, KSA 3, S. 573).
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Das intellektuelle Gewissen muss demzufolge periodisch ein- und ausgehängt werden, damit alte, übernommene Werte dekonstruiert und auf diese Weise neue, schwerere Handlungsmaximen etabliert werden können. Zum Einsatz kommen muss das intellektuelle Gewissen vor allem dort, wo sich die höchsten Werte selber entwerten oder in eine lebensverneinende Richtung gehen: Wir haben zeitweilig die Blindheit nöthig und müssen gewisse Glaubensartikel und Irrthümer in uns unberührt lassen – so lange sie uns im Leben erhalten. Wir müssen gewissenlos sein in Betreff auf Wahrheit und Irrthum, so lange es sich um das Leben handelt – eben damit wir das Leben dann wieder im Dienste der Wahrheit und des intellectuellen Gewissens verbrauchen. Dies ist unsere Ebbe und Fluth (NL 1881, KSA 9, 11[217], S. 526; vgl. Brusotti 1997, S. 334; Mohr 1977, S. 10).
Das intellektuelle Gewissen kann also, sofern es pragmatisch in eine höhere Ordnung eingebunden wird, den nihilistischen und lebensverneinenden Charakter des Willens zur Wahrheit abstreifen (vgl. GM III 24, KSA 5, S. 408 ff.). Hierbei geht es, um es noch einmal abschließend zu sagen, nicht darum, moralischem Handeln grundsätzlich eine Absage zu erteilen, sondern darum, die angebliche Wahrheit bestimmter Gewissenssätze zu hinterfragen. Es soll also dem moralischen Gefühl misstraut werden. Es geht letztendlich darum, die Sittlichkeit und nicht generell die Sitten einer Kritik zu unterziehen (vgl. M 103, KSA 3, S. 91 f.). Die Selbstaufhebung des christlichen Gewissens hat neben der Selbstaufhebung des wissenschaftlichen Willens zur Wahrheit noch eine andere, subjektphilosophische Komponente. Denn das schlechte Gewissen und die damit verbundene Gewissensleitung sind zwar einerseits große, allgemeine zivilisatorische Prozesse, andererseits lenkt das Gewissen auch das Handeln jedes Einzelnen und formt sich der Einzelne anhand des Gewissens als moralisches Subjekt. Somit kommt in diesen Selbstaufhebungsfiguren auch die Selbstüberwindung, welche das souveräne Individuum an sich selbst vollzieht, zum Ausdruck. Diese Selbstüberwindung eines auf Knechtschaft und Unterwerfung gründenden schlechten Gewissens zu einem souveränen Gewissen zeigt Nietzsche besonders in den Aphorismen 2, 3, 16 und 24 des zweiten Abschnitts seiner Genealogie der Moral. Den Gedanken der Selbstüberwindung fasst Nietzsche pointiert so zusammen: „Es ist eine Krankheit, das schlechte Gewissen, das unterliegt keinem Zweifel, aber eine Krankheit, wie die Schwangerschaft eine Krankheit ist“ (GM II 19, KSA 5, S. 327).
4.5.3 Das Gewissen des souveränen Individuums Der Begriff des Gewissens ist für Nietzsches Konzept des souveränen Individuums deshalb so entscheidend, weil das Gewissen diejenige Instanz ist, die es dem Einzelnen auch innerhalb traditioneller Moral erlaubt, sein Handeln zu bestimmen: „Die letzte Instanz der herkömmlichen Moral ist das Gewissen. Dem Gewissen wird zuletzt überantwortet, in konkreten Situationen über Gut und Böse des eigenen Handelns zu
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entscheiden. Das Gewissen ist aber, das wird auch von der herkömmlichen Moralphilosophie anerkannt, immer einzelnes, vereinzeltes, und muß es sein, wenn es in konkreten Situationen, in denen jeder einzeln handeln muß, entscheiden soll. Mit dem Begriff des Gewissens kommt die auf Überzeitlichkeit und Allgemeinheit ausgerichtete Moralphilosophie also wieder auf die Individuen zurück“ (Stegmaier 1994, S. 131 f.). An diesen Ausführungen kommt also noch einmal eine Variation der Selbstaufhebungskomponente in der nietzscheanischen Moralphilosophie zum Ausdruck: Im zivilisatorisch gezüchteten Gewissen verbirgt sich also die Möglichkeit autonomer Selbstgestaltung, da im Prozess des Berechenbar-Machens auch ein Individuum konstituiert worden ist, welches eigenständig in der Lage ist, die moralischen Grundsätze umzusetzen. Hierin liegt zumindest die Möglichkeit, aus dem Berechenbar-geworden-Sein auch ein souveränes Versprechen-Können zu entwickeln. Der Aphorismus GM II 2, welchen Nietzsche dem souveränen Individuum widmet, gipfelt in der Darstellung seines positiven Begriffs vom Gewissen. Im Gewissensbegriff kulminieren auch die Termini der Verantwortung und der Willensfreiheit: Das stolze Wissen um das ausserordentliche Privilegium der Verantwortlichkeit, das Bewusstsein dieser seltenen Freiheit, dieser Macht über sich und das Geschick hat sich bei ihm bis in seine unterste Tiefe hinabgesenkt und ist zum Instinkt geworden, zum dominirenden Instinkt: – wie wird er ihn heissen, diesen dominirenden Instinkt, gesetzt, dass er ein Wort dafür bei sich nöthig hat? Aber es ist kein Zweifel: dieser souveraine Mensch heisst ihn sein Gewissen… (GM II 2, KSA 5, S. 294).
In dieser außerordentlich dichten Textstelle laufen sowohl die Problemkomplexe des souveränen Individuums als auch generellere Themen aus Nietzsches Spätphilosophie zusammen: ‒ Erstens ist festzustellen, dass auch für Nietzsche der Gewissensbegriff an den Begriff vom Bewusstsein gekoppelt bleibt, dass also das Gewissen bei ihm keineswegs eine außermoralische, rein animalische Kategorie darstellt, sondern vielmehr bereits durch den Prozess der Sittlichkeit der Sitte hindurchgegangen ist und diesen in sich aufgenommen, ihn aber schließlich in eine höhere Ordnung integriert hat. ‒ Zweitens wird deutlich, wie Nietzsche seinen positiven Begriff von Freiheit verstanden haben möchte, nämlich zum einen als souveräne Herrschaft über sich, welche sich u. a. auch an dem Ideal der Selbstbeherrschung der sokratischen Selbstsorge-Tradition orientiert, und zum anderen als Herrschaft über das Schicksal, als „Macht (…) über sein Geschick“. Hiermit ist seine Lehre des amor fati angesprochen. Denn dieser wurde bestimmt als Vermögen des Willens, das unwiderruflich Vergangene umzudeuten in ein ‚So-wollte-ich-Es‘ (vgl. Z II Erlösung, KSA 4, S. 179). Schicksalsbejahung besteht also in dem kreativen und interpretatorischen Akt des Willens, die Vergangenheit auch in Zukunft und in alle Ewigkeit in einem Akt der Befreiung zu bejahen. Auf diese affirmative Weise kann daher die Unwiderrufbarkeit der Vergangenheit durchbrochen und das gesamte
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Schicksal bejaht werden, was auch und zuerst die Bejahung des eigenen, persönlichen Schicksals mit einschließt.⁹⁴ Drittens kommt in jener Textstelle auch Nietzsches Begriff von Freiheit zum Ausdruck und wird mit dem des Gewissens kurzgeschlossen.
In Nietzsches Vorstellung von Freiheit zeigt sich auch jenes „Fort-und-fort-Wollen des einmal Gewollten“ (GM II 1, KSA 5, S. 292), also die Fähigkeit, seine Affekte ‚ein- und auszuhängen‘, d. h. die Fähigkeit, einen Willensakt auch über andere Willensakte hinweg zur Ausführung zu bringen. Diese Fähigkeit beruht, wie im Laufe der vorliegenden Arbeit gezeigt werden konnte, letztlich auf asketischen Praktiken der Selbstsorge, durch welche das Individuum ermächtigt wird, bestimmte Triebe und Affekte zurückzuhalten und andere zu bestärken bzw. die kleineren, unbedeutenderen Triebe im dominierenden Instinkt aufzulösen (vgl. GM III 8, KSA 5, S. 355). Im Gewissen des souveränen Individuums ist dieser Vorgang instinktiv, d. h. fest geworden, es hat sich also, aufgrund asketischer Techniken und Praktiken, eine Struktur herausgebildet, aufgrund derer das Individuum Handlungen vollzieht, die es als freie Willensentscheidungen empfindet. Frei sind diese Handlungen auch insofern, als dass sie auf einer Selbstkonstitution aufbauen, die vom Individuum selbst ausgeht und somit als selbstbestimmt bezeichnet werden können. Jedoch sei hier erneut an Nietzsches Äußerung die Künstler betreffend erinnert: „[S]ie, die nur zu gut wissen, dass gerade dann, wo sie nichts mehr ‚willkürlich‘, und Alles nothwendig machen, ihr Gefühl von Freiheit, Feinheit, Vollmacht, von schöpferischem Setzen, Verfügen, Gestalten auf seine Höhe kommt, – kurz, dass Nothwendigkeit und ‚Freiheit des Willens‘ dann bei ihnen Eins sind“ (JGB 213, KSA 5, S. 148).⁹⁵ Die Handlung selbst ist immer notwendig, in ihr drückt sich immer die Explosion einer Kraft aus, jedoch kann das Umfeld einer Handlung beeinflusst werden, indem z. B. über asketische Praktiken gewisse Kräfte gestärkt und andere geschwächt werden. Das Gewissen gibt somit den Namen ab für die Instanz, welche die Handlungen des souveränen Individuums bestimmt, und in der jene Akte freier Selbstgestaltung so
Dass Nietzsche in der souveränen Ausformung des Gewissens eine Weiterentwicklung des schlechten Gewissens sieht, und das, was dieses souveräne Gewissen den Einzelnen lehrt, der Gedanke des amor fati ist, drückt folgendes Zitat Nietzsches sehr anschaulich aus: „Es lässt sich errathen, dass der Begriff ‚Gewissen‘, dem wir hier in seiner höchsten, fast befremdlichen Ausgestaltung begegnen, bereits eine lange Geschichte und Form-Verwandlung hinter sich hat. Für sich gutsagen dürfen und mit Stolz, also auch zu sich Ja sagen dürfen – das ist, wie gesagt, eine reife Frucht, aber auch eine späte Frucht: – wie lange musste diese Frucht herb und sauer am Baume hängen“ (GM II 3, KSA 5, S. 295). Vgl. hierzu erneut jene Überlegungen Foucaults zu der auf Askese beruhenden paraskeue und den logoi: „Sie sind Handlungen implizierende Schemata, die, sobald sie einmal vorhanden sind (…) aufgrund ihrer induzierenden Kraft dazu führen, daß derjenige, der sie besitzt, wie aus eigenem Antrieb handelt: als ob diese logoi, die allmählich mit seiner eigenen Vernunft, seiner Freiheit und seinem Willen verschmelzen, selbst sprächen, für ihn sprächen; sie sagen nicht nur, was einer zu tun hat, sondern sie tun entsprechend der zwingenden Vernunft, was zu tun ist“ (HS, S. 397).
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
sehr „zum Instinkt geworden“ (GM II 2, KSA 5, S. 294) sind, dass die hieraus resultierenden Handlungen notwendig erfolgen. Der Begriff der Verantwortlichkeit, den Nietzsche im Zusammenhang mit dem Gewissen des souveränen Individuums erwähnt, macht erneut die genealogische Herkunft des souveränen Gewissens und Individuums aus dem schlechten Gewissen und den Ressentiment-Gefühlen heraus deutlich. Hierzu Werner Stegmaier: „Wenn die Züchtung eines Gedächtnisses für Verantwortung aber der Moral und ihrer Vernunft, wie wir sie kennen, vorausliegt, dann könnte sie als ihre ‚reifste Frucht‘ auch wieder etwas hervorbringen, was über diese Moral und Vernunft hinausliegt (…). Es setzt für ihn eine lange und harte Erziehung voraus, phylogenetisch und ontogenetisch, beim Geschlecht und beim Einzelnen. Souverän ist ein Individuum, wenn es eine lange und harte Erziehung zur Berechenbarkeit durchlaufen hat und so über sie hinausgewachsen ist, daß es durch sie gefestigt ist und doch gelöst auf sie zurückblicken kann“ (Stegmaier 1994, S. 132/ 136). Hiermit ist sowohl die Herkunft der modernen Moral aus der Grausamkeit (Sittlichkeit der Sitte) als auch die Transformation dieser Moral in den höheren Begriff der Verantwortung des souveränen Individuums angesprochen (vgl. Stegmaier 1994, S. 140 ff., 155 ff., 162 ff.; Owen 2007, S. 101; Conway 2004, S. 173). Denn mit seinem Begriff von Verantwortlichkeit hat Nietzsche vor allem das Programm der Umwertung der Werte und die Hinführung zu einer neuen Gesetzgebung für den Menschen im Sinn: „Der Philosoph, wie wir ihn verstehen, wir freien Geister –, als der Mensch der umfänglichsten Verantwortlichkeit, der das Gewissen [Hervorhebungen durch den Verf. – J. H.] für die Gesammt-Entwicklung der Menschen hat“ (JGB 61, KSA 5, S. 79). An jener Stelle, an der er die eigentlichen Philosophen beschreibt, sagt Nietzsche: „[E]ine Umwerthung der Werthe, unter deren neuem Druck und Hammer ein Gewissen gestählt, ein Herz in Erz verwandelt würde, dass es das Gewicht einer solchen Verantwortlichkeit [Hervorhebungen durch den Verf .– J. H.] ertrüge“ (JGB 203, KSA 5, S. 126 f.). Die Aufgabe jener eigentlichen Philosophen besteht also darin, ein Gewissen zu etablieren, welches in der Lage ist, das „Gewicht einer solchen Verantwortlichkeit“ zu ertragen. Unter Verantwortlichkeit versteht Nietzsche „gerade jene Stärke des Willens, Härte und Fähigkeit zu langen Entschließungen“ (JGB 212, KSA 5, S. 146), also jenes „Fort- und Fortwollen des ein Mal Gewollten“ (GM II 1, KSA 5, S. 292), d. h. die Fähigkeit, bestimmte Willensakte über längere Zeitperioden und über andere Willensakte hinweg zu verwirklichen. Die nietzscheanische Idee der Verantwortlichkeit ist demnach nicht von der des Versprechen-Könnens zu trennen. Das, was der Philosoph über die Umwertung der Werte züchten soll, ist gerade ein Gewissen, das zur Verantwortlichkeit fähig ist, welche darin besteht, jenes „Gewicht“ (JGB 203, KSA 5, S. 127), das das „grösste Schwergewicht“ (FW 341, KSA 3, S. 570), d. h. die ewige Wiederkehr ist, zu ertragen. Umwertung der Werte und souveräne Selbstkonstitution sind also zwei Seiten derselben Medaille. Der Philosoph, wie Nietzsche ihn versteht, soll also über die Lehre der ewigen Wiederkunft, welche zugleich eine Um-Wertung der höchsten Werte ist, ein
4.5 Nietzsches Konzept des Gewissens
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Gewissen erschaffen, das eben diese Lehre zur Handlungsmaxime macht. Das Gewissen, welches über den Prozess der Sittlichkeit der Sitte bereits zur Instanz des selbständigen, individuellen Handelns wurde, kann also nun auch selbst über den Inhalt der Grundsätze bestimmen, die es befolgen und umsetzen soll (vgl. Stegmaier 1994, S. 131 f.). Ein solches Gewissen wäre schließlich das Gewissen eines souveränen Individuums. Das souveräne Individuum kann deshalb zum Träger des amor fati werden, weil es bereits ein zu sich selbst Ja-Sagendes ist (vgl. GM II 3, KSA 5, S. 294 f.). Indem der Gedanke der ewigen Wiederkehr gelehrt wird, wird eine Selektion herbeigeführt zwischen denen, die diesem Gedanken standhalten, und jenen, die hierzu nicht in der Lage sind. So werden die Selbstwerdung und die Selbstkonstitution des souveränen Individuums auch zu einer Verantwortlichkeit zur „Gesammt-Entwicklung“ (JGB 61, KSA 5, S. 79), zum „Gesammt-Versuche“ (JGB 203, KSA 5, S. 126) einer Menschheit, die unter dem Gedanken der ewigen Wiederkehr lebt und leben kann. Jene Weiterentwicklung der Menschheit wird dem souveränen Individuum zum Gewissen, hierin zeigt sich jenes „stolze Wissen um das ausserordentliche Privilegium der Verantwortlichkeit“ (GM II 2, KSA 5, S. 294). Zuletzt müssen diese Überlegungen in Nietzsches Affektelehre sowie seine Moralphilosophie eingebunden werden. Der amor fati als „[D]as grösste Schwergewicht“ (FW 341, KSA 3, S. 570), das auf dem Handeln des Menschen liegt, ist laut Nietzsche „zum Instinkt geworden“ (GM II 2, KSA 5, S. 294). Hierin drückt sich der Wille Nietzsches aus, die innere Affektstruktur des Individuums in einem hierarchischen Sinne zu ordnen und die Instinkte zu „[e]inem Ziele (…) in’s Joch“ (NL 1887, KSA 12, 9[119] (78), S. 404) zu spannen. Der Gedanke des amor fati, welcher eine souveräne Herrschaft über sich selbst und das Schicksal ermöglicht, wird also zu einem das Handeln instinktiv bestimmenden dominierenden Instinkt. Das Gewissen, als Wissen um diese selbstbejahende Souveränität, ist also eine dem Handeln zugrunde liegende und das Handeln bestimmende Instanz, sein dominierender Instinkt.⁹⁶ Bewusstsein und Instinkt schließen sich bei Nietzsche daher diesbezüglich nicht grundsätzlich aus, sondern das Wissen um die eigene Verantwortlichkeit ist vielmehr so sehr Teil der Persönlichkeit geworden, ist so sehr in ihm gezüchtet worden, dass es
Dass sich mit dem Begriff des souveränen Gewissens auch jene Forderung nach Selbstverwirklichung ausdrückt, welche, kantisch gesprochen, durch ein Handeln unter selbstbestimmten Gesetzen bestimmt wird, macht folgender kurzer Aphorismus aus der Fröhlichen Wissenschaft deutlich: „Was sagt dein Gewissen? – ‚Du sollst der werden, der du bist‘“ (FW 270, KSA 3, S. 519). In jenem berühmten anderen Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft konkretisiert Nietzsche diese Selbstwerdung: „Wir aber wollen Die werden, die wir sind, – die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sichselber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden“ (FW 335, KSA 3, S. 563). Die Rede von den „Unvergleichbaren“ verweist auf die individuelle Strebensethik Nietzsches, welche in Abgrenzung zur der verallgemeinernden Sollensethik des kategorischen Imperativs, anerkennt, dass jegliche menschliche Handlung notwendig einzigartig und nicht erkennbar ist. Die Ethik Nietzsches orientiert sich also am ‚Faktum‘ der Unvergleichbarkeit jeglicher Handlung (vgl. FW 335, KSA 3, S. 562 f.; 354 Mohr 1977, S. 13).
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
„bis in seine unterste Tiefe hinabgesenkt“ (GM II 2, KSA 5, S. 294) worden ist, also auch die unbewusst-triebhafte Natur des Menschen betrifft. In der Rede vom Zum-Instinkt-Werden schwingt auch jenes Umlernen und Umfühlen mit, welches Nietzsche in der Morgenröthe angesprochen hat. Indem also die neue Gesetzgebung, das neue Schwergewicht auf dem Handeln, zum Instinkt wird, ersetzt es nicht bloß die christliche Morallehre des asketischen Ideals, sondern schreibt sich auch so tief in den Charakter des Individuums ein, dass ein anderes Urteilen gar nicht mehr möglich erscheint (vgl. M 103, KSA 3, S. 91 f.). Das Gewissen des souveränen Individuums ersetzt somit das Gewissen der christlichen Tradition, in welcher der Stimme des Gewissens nicht aus selbstbestimmten Grundsätzen heraus, sondern aus bloßem Gehorsam gegen eine Autorität gehorcht wird (vgl. FW 335, KSA 3, S. 561; M 9, KSA 3, S. 22).⁹⁷ Die Trennlinie zwischen Sollens- und Strebensethik findet also ihre Entsprechung in der Unterscheidung zwischen schlechtem und intellektuellem Gewissen (vgl. Steinmann 2000, S. 91). In einer ganz ähnlichen Weise stellt Foucault seinen positiven Gewissensbegriff dem des christlichen Gewissens gegenüber. Foucault entwickelt seinen positiven Begriff vom Gewissen in Abgrenzung zur Gewissensleitung der Pastoralmacht. Diese etabliert eine unterworfene Form von Individualität bei denjenigen, welche dem Pastor und der in sich selbst etablierten Stimme des Gewissens gehorchen (vgl. GG I, S. 264 ff.). Zugleich macht Foucault darauf aufmerksam, dass das pastorale Gewissen, welches eine unterworfene Individualität konstituiert, sowie die moderneren, psychiatrischen und juristischen Gewissensverifikationen ihre genealogische Vorgeschichte in der antiken Form der parrhesischen Gewissensleitung haben: Die Untersuchung der parrhesia und des parrhesiates in der Selbstkultur der Antike ist offensichtlich eine Art von Vorgeschichte dieser Praktiken, die sich in der Folge um einige berühmte Paare herum angeordnet und entwickelt haben: der Büßer und sein Beichtvater, der Geleitete und der Leiter des Gewissens, der Kranke und der Psychiater, der Patient und der Psychoanalytiker. Genau diese Vorgeschichte habe ich einem gewissen Sinne zu [schreiben] versucht (MW, S. 22; vgl. RS, S. 437).
Die antike Weise des Lehrer-Schüler-Verhältnisses hat den Sinn, im Schüler eine autonome Form der Existenz zu etablieren, während jene anderen „berühmten Paare“ (MW, S. 22) letztlich weiter im Modus des Pastorats funktionieren. Auch in der modernen Psychologie und der Psychiatrie entwickeln sich Diskurse und Praktiken, die dem Patienten bzw. dem Delinquenten eine Existenz vorschreiben, indem sie dessen Identität auf angebliche verborgene Wahrheiten zurückführen. Diese Art der Identi-
Nietzsche möchte jedoch nicht jegliche moralischen Grundsätze abschaffen, sondern will, dass moralischen Maximen lediglich aus anderen Grundsätzen gefolgt werden soll. Um ein anderes moralisches Verhältnis zu sich selbst aufzubauen, muss das Individuum über asketische Praktiken einen souveränen Selbstbezug, d. h. einen souveränen Umgang mit seinen Trieben und Affekten, etablieren.
4.5 Nietzsches Konzept des Gewissens
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tätsbildung geht auf ein Schema von Gewissensleitung zurück, das denjenigen, der geleitet wird, auf eine unfreie Art an seine Identität bindet. Wenn Foucault also sagt, dass er die „Vorgeschichte dieser Praktiken“ (MW, S. 22) schreiben wollte, dann heißt dies, dass er in seinem Spätwerk (Hermeneutik des Subjekts, Mut zur Wahrheit, Regierung des Selbst und der anderen) und der hier vorgeführten Untersuchung der antiken parrhesia den Versuch unternimmt, eine Genealogie jener Formen der Gewissensleitung und der Individualisierung zu schreiben, die er in Werken wie Überwachen und Strafen, Der Wille zum Wissen oder Die Macht der Psychiatrie beschrieben und kritisiert hatte. In diesem Rückgriff auf die Antike möchte er zugleich eine Form der Subjektivierung und der Gewissensleitung finden, welche den modernen Formen der Identitätsbildung, die auf dem Pastorat aufbauen, vorangeht und diese somit subversiv zu untergraben in der Lage ist. Der Wahrheitsdiskurs in der pastoralen Gewissensleitung trägt dazu bei, das Individuum zu unterwerfen, da diese Identitätsbildung nach dem Schema der Dechiffrierung verborgener Wahrheiten funktioniert und über die institutionalisierte Form der Beichte diejenige Instanz ausgemacht ist, welche diese Identität regiert, formt und verwaltet (vgl. GG I, S. 266 f.). Der antike Wahrheitsdiskurs der parrhesia hingegen ermöglicht dem Individuum eine autonome, sich selbst beherrschende Form der Subjektivierung. Auch die antike Form der Gewissensleitung kommt nicht ohne einen Leitenden aus: „Die Konstitution eines Selbstverhältnisses verbindet sich ganz offensichtlich mit den Beziehungen seiner selbst zum anderen“ (HS, S. 200). Die antike parrhesia, also das mutige und rückhaltlose Wahrsprechen, ist der Modus, in dem der Schüler seinem Lehrer sein Gewissen enthüllen soll: „Die parrhesia (…) ist eine Spielregel, ein sprachlicher Verhaltensgrundsatz, der dem anderen gegenüber in der Praxis der Gewissensleitung anzuwenden ist“ (HS, S. 211). Jedoch dient dieses unbedingte Wahrsprechen über sich selbst seinem Lehrer gegenüber dazu, sich besser kennen- und sich so besser beherrschen zu lernen (vgl. GG I, S. 264 ff.). In der platonischen Idee der Philosophenkönige entwickelt sich sogar eine hierarchische Beziehung zwischen dem politischen Herrscher und dem Philosophen: Der Philosoph soll die Seele des Herrschers vorübergehend leiten, um diesen zu einem guten Herrscher zu machen. Diesem Schema zufolge muss man zuerst sich selbst beherrschen lernen, um andere beherrschen zu können (vgl. RS, S. 371 ff.). Der Herrscher muss zu diesem Zwecke seinem Lehrer genaue Rechenschaft über seinen Tagesablauf liefern, eine Technik, die dem politischen Herrscher helfen soll, sich selbst besser kennenzulernen und die wahren philosophischen Sätze (logoi) in seinem Gedächtnis zu etablieren und zu bestärken (vgl. RS, S. 372 f.; HS, S. 209, S. 397, 401). Der Philosoph hat also die Aufgabe, Techniken der Selbstsorge und der Askese zu etablieren, die dazu beitragen sollen, den Herrscher als Souverän über sich selbst zu konstituieren: Diese Praxis der Philosophie ist vor allem, wesentlich und im Grunde eine Weise, wie sich das Individuum als Subjekt gemäß einem bestimmten Seinsmodus konstituiert. Dieser Seinsmodus
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
des philosophischen Subjekts ist es nun, der den Seinsmodus des Subjekts konstituieren soll, das die Macht ausübt (RS, S. 372).⁹⁸
Affirmativ beruft sich Foucault auf die antike, besonders die hellenistische Tradition der Gewissensleitung. Diese setzt er dahingehend von der christlichen Gewissensleitung ab, indem er betont, dass die Leitung, der sich der Schüler dem philosophischen Lehrer in der Antike unterstellt, nur vorübergehend ist und auf der freiwilligen Wahl beruht, sich durch diese vorübergehende Führung besser selber führen zu lernen: Die Gewissensleitung war (…) freiwillig, episodisch und trostspendend, und in bestimmten Momenten ging sie wohl über in die Gewissenserforschung (…). Doch diese Gewissenserforschung, die sich (…) im Inneren der Praxis der Gewissensleitung einschrieb, hatte in der Hauptsache ein Ziel. Nämlich genau das Ziel, daß derjenige, der sich erforscht, die Kontrolle über sich selbst übernehmen und Herr seiner selbst werden konnte (…). Es war also eine Bedingung der Selbstbeherrschung (GG I, S. 265).
Diese Form der Gewissenführung durch eine andere Person (einen Freund, einen Meister, einen Philosophen) ermöglicht also eine souveräne Art der Individualität, indem sich das Individuum als Subjekt seines Denkens und Handelns etabliert, was wiederum auf asketisches ‚Ein und Aushängen‘ bestimmter Momente und Eigenschaften im Individuum zurückgeht (vgl. SW II, S. 40). Die Gewissensleitung ist für Foucault also eine zentrale Form der antiken Selbstsorge. Nietzsche ist ein solches Lehrer-Schüler-Verhältnis fremd, werden doch seine Arten der autonomen Selbstkonstitution vom Individuum an sich selbst vollzogen, ohne eine Hilfe von außen anzunehmen. Jedoch finden sich in Nietzsches Ecce homo ganz ähnliche Techniken und Askesepraktiken, welche die Etablierung eines souveränen Selbstverhältnisses ermöglichen. Die Konstitution seiner selbst als souveränes Individuum verläuft, wie gezeigt werden konnte, über das Ausüben asketischer Praktiken der Selbstsorge und der Achtsamkeit hinsichtlich der Ernährung, der Wahl des Ortes, des Klimas sowie der Erholung. Der Aphorismus 203 aus Jenseits von Gut und Böse, welcher die Aufgaben der eigentlichen Philosophen zum Thema hat, macht deutlich, dass auch das Gewissen des souveränen Individuums etwas ist, das ‚herangezüchtet‘, also in konkreten und alltäglichen Praktiken der Askese in einer Art Selbstzucht herbeigeführt wird. Nietzsche spricht in JGB 203 von der „Zucht und Züchtung“, welche am Menschen vollzogen werden soll, und von einer „Umwerthung der Werthe, unter deren neuem Druck und Hammer ein Gewissen gestählt“ werden soll. Ein typisches Beispiel für eine solche Lehrer-Schüler-Beziehung zwischen Fürst und Philosoph ist die Korrespondenz zwischen Marc Aurel und Seneca: Seneca fungiert hier als Gewissensleiter für den politischen Herrscher. Das bedeutet, dass dieser seinem Lehrer genaue Rechenschaft über den Ablauf seines Tages abliefert und sich diesem damit im sprachlichen Modus der parrhesia offenbart (vgl. HS, S. 209 ff.; RS, S. 373).
4.5 Nietzsches Konzept des Gewissens
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Diese Züchtung besteht, ins Vokabular Foucaults gewendet, darin, über Selbstpraktiken bestimmte Instinkte, Eigenschaften und Stärken in sich zu kultivieren und zum Wachsen zu bringen und andere diesen unterzuordnen (vgl. FW 299, KSA 3, S. 538; EH klug 1– 4, KSA 6, S. 278 – 287). Das bewusste Einsetzen dieser Techniken erlaubt es am Ende, ein Gewissen zu konstituieren, das unter selbstgewählten Gesetzen steht.⁹⁹ Es geht also zuletzt darum, sein Gewissen nicht von äußerlichen Werten und Autoritäten (Sittlichkeit der Sitte, asketischer Priester) leiten zu lassen, was über eine durch asketische Praktiken gewährleistete Rückkehr zu einem selber gelingen kann. Aus dieser Position heraus wird es möglich, einem Gewissen zu folgen, dessen Gründe, Grundlagen und Motive man sich über das intellektuelle Gewissen versichert hat. So kann Nietzsche sagen: „Wenn man sein Gewissen dressirt, so küsst es uns zugleich, indem es beisst“ (JGB 98, KSA 5, S. 91). Dem entspricht auch das foucaultsche Credo antiker Gewissensleitung, nach welchem sich der Schüler über eine zeitlich begrenzte Periode einem Meister unterordnet, um auf diese Weise in sich selbst (asketische) Taktiken und Techniken zu etablieren, die ihn für eine souveräne Beherrschung seiner selbst und der anderen qualifizieren. Denn der Etablierung eines autonomen Gewissens geht die freiwillige Unterwerfung, geht die Zucht, geht die Dressur, geht die Vorgeschichte des schlechten Gewissens konstituierend voraus (vgl. Stegmaier 1994, S. 131 ff.). Auch die Verbindung von Wahrheit und Subjektivität ist beim guten Gewissen eine andere. Während sich die unfreie Gewissensleitung dadurch auszeichnet, dass man sich selbst konstituiert, indem man verborgene Wahrheiten über sich ans Licht bringt, so konstituiert sich das Individuum als autonomes Subjekt, indem es ein Leben ‚in‘ der Wahrheit führt, d. h. indem es die persönlichen Lebensvollzüge mit der Wahrheit, die es lehrt, in Einklang bringt. Hierzu zuletzt noch einmal Foucault: „Der moderne Mensch ist (…) nicht derjenige, der sich auf die Entdeckung seiner selbst begibt, seiner Geheimnisse und seiner versteckten Wahrheit; sondern der, der sich selbst zu erfinden versucht“ (WA, S. 45). Im letzten Kapitel dieser Arbeit werden schließlich die bis hierhin vorgestellten Ergebnisse und Schlussfolgerungen der Arbeit auf aktuelle Debatten der Subjekttheorie übertragen. Die governmentality studies, Butlers Geschlechtertheorie sowie Ehrenbergs Studien zu Depression und Subjektform haben mit Nietzsche und Foucault gemeinsam, dass die Idee cartesianischer Subjektivität dekonstruiert und auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse zurückgeführt wird. Hinter der Idee des ver-
Es geht Nietzsche dementsprechend um die Abschaffung des „Sklavenaufstand[s] in der Moral“ (GM I 7, KSA 5, S. 268). Diesen hatte er in einer quasi-ideologiekritischen Wendung als herrschenden Diskurs beschrieben, weil der Einblick in seine Entstehungsgeschichte verdeckt wurde: „jener Aufstand, (…) der uns heute nur deshalb aus den Augen gerückt ist, weil er – siegreich gewesen ist“ (GM I 7, KSA 5, S. 268). Züchtung bedeutet also bei Nietzsche, dass man sich die Grundsätze und Grundlagen des eigenen Handelns so grundlegend ins Gewissen einschreibt, dass deren Befolgung automatisch geschieht und uns irgendwann gleich jenem ‚Sklavenaufstand‘ aus den Augen rücken wird.
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4 Philologischer Vergleich: Selbstsorge bei Nietzsche und Foucault
meintlich autonomen Subjekts verbirgt sich demnach ein Unterwerfungsverhältnis. Bei aller theoretischen Dekonstruktion bleibt in diesem Sinn weiterhin eine praktische Wirksamkeit des neuzeitlichen, cartesianischen Subjekts bestehen, welche sich auf die Wirksamkeit bestimmter Diskurse und Herrschaftsformen gründet. Die finale Frage der vorliegenden Arbeit lautet, ob es möglich ist, aus der theoretischen Auflösung des Subjektbegriffs einen transformierten Begriff von Verantwortlichkeit und Autonomie folgen zu lassen, zu welchem die Pluralisierung und Schwächung des Subjekts nicht in einem anachronistischen Verhältnis stehen.
5 Exkurs: Einbettung in die Forschungslage Die Subjekttheorie in Philosophie, Soziologie und Kulturwissenschaft beschäftigt sich seit den 1990er Jahren verstärkt mit der Dezentrierung und Dekonstruktion des Subjekts. In der Forschung hat sich hierfür der Terminus vom Verschwinden des Subjekts (vgl. Bürger 2001) oder vom Tod des Subjekts etabliert. Hiermit verbunden ist in erster Linie die Zurückweisung des cartesianischen Modells des Subjekts als einheitliche und autonome Instanz. Im Zuge dieser Kritik wurde die Kategorie der Subjektivität depotenziert und pluralisiert oder zum Teil sogar ganz aufgegeben (vgl. Reckwitz 2008, S. 5 ff., S. 39 ff.; Bordieu 1979, S. 178 ff.; Pritsch 2008, S. 15 ff.; Zima 2007, S. 196 – 295). In diesem Zusammenhang sind neben der geschlechterspezifischen Subjektanalyse Judith Butlers (vgl. vor allem Butler 1991, 2001; Reckwitz 2008, S. 81 ff.) auch die postkoloniale Theorie (vgl. Moore-Gilbert 1997; Bhabba 1994; Hall 1997; Reckwitz 2008, S. 95 ff.) sowie die governmentality studies (vgl. Rose 1996, Bröckling 2007; du Gay 1996; Reckwitz 2008, S. 132 f.) zu nennen. Die postkoloniale Theorie rekonstruiert in erster Linie die Selbstkonstitution anhand der Konstruktion eines ‚anderen‘ (‚othering‘). Die governmentality studies widmen sich dagegen schwerpunktmäßig der Darstellung der Selbstregulierung der Subjekte im Kontext einer Nutzbarmachung der eigenen Ressourcen auf dem neoliberalen Arbeitsmarkt. Bei Butlers geschlechterspezifischer Subjektanalyse schließlich geht es vor allem um die performative Produktion von Subjektivität und um die kulturell-disziplinare Kontrolle seiner selbst. Governmentality studies und gender studies sollen im Folgenden genauer dargestellt werden. Hierbei steht die Frage im Mittelpunkt, ob diesen dekonstruierenden Aspekten der Subjektphilosophie ein reformiertes, an Nietzsche und Foucault orientiertes Konzept von Individualität entgegengestellt werden kann.¹
5.1 Individualisierte Arbeit (Boltanski/Chiapello) Die einflussreiche Studie Der neue Geist des Kapitalismus von Luc Boltanski und Eve Chiapello ebnet in vielerlei Hinsicht das Forschungsfeld der governmentality studies
Die postkoloniale Theorie soll hier nur erwähnt und nicht eingehender besprochen werden. Denn bei dem Vorgang des ‚othering‘ handelt es sich zumeist um einen hegemonialen Diskurs, der über die stereotype Repräsentation des kolonisierten ‚Anderen‘ im Umkehrschluss auch die eigene Subjektivität stabilisiert (vgl. Reckwitz 2008, S. 95 ff.; Ashcroft 2000, S. 116 ff, 171 f.; Said 1994, S. 3, 7; Bhabba 2000, S. 59 ff.). Für die Kernfrage der vorliegenden Arbeit – nämlich wie sich in einem souveränen Zugang zu sich selbst positive, autonome Weisen der Individualität etablieren können – sind diese Theorien jedoch wenig aufschlussreich, da sich Subjektivität hier in erster Linie negativ, d. h. im Bezug zum ‚Anderen‘ bzw. zum ‚Außen‘ und nicht über Selbstpraktiken herstellt. https://doi.org/10.1515/9783110603316-006
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5 Exkurs: Einbettung in die Forschungslage
(vgl. Boltanski/Chiapello 2003, siehe hierzu auch: Boltanski/Chiapello 2012; Honneth 2012, S. 76). Boltanski und Chiapello beschreiben das Wiedererstarken des Kapitalismus in Diskurs und Praxis ab den 1980er Jahren und begründen ihre These mit der Aufnahme bestimmter Aspekte der Kapitalismuskritik in die Funktionsweise des Kapitalismus. Hierbei unterscheiden sie zwischen zwei Arten der Kapitalismuskritik: der Sozialkritik und der Künstlerkritik. Beklagt erstere vor allem soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, so kritisiert letztere die steigende individuelle Entfremdung im kapitalistischen Produktionsprozess und stellt der Disziplin und der Vermassung die Werte der Freiheit, der Selbstverwirklichung und der Authentizität gegenüber (vgl. Boltanski/Chiapello 2012, S. 29; Boltanski/Chiapello 2003, S. 68 – 89, 456 – 488). Den antikapitalistischen Gegenbewegungen und Diskursen der 1960er und 1970er Jahre begegnet der Kapitalismus, indem er die Ideale der Künstlerkritik in seine Organisationsstruktur integriert: In der Begrifflichkeit der Künstlerkritik – Autonomie, Spontanität, Authentizität, Selbstverwirklichung, Kreativität, Leben – konnten eine Reihe von Verschiebungen (…) als das Ergebnis einer Anerkennung der Berechtigung der kritischen Position durch einen nun endlich aufgeklärten Kapitalismus interpretiert werden, dem seine Öffnung und seine Modernität eine neue Legitimität verlieh (Boltanski/Chiapello 2003, S. 541/542; vgl. Boltanski/Chiapello 2012, S. 30).
Auf diese Weise wird neben der Künstlerkritik auch die Sozialkritik ihrer Wirkungsmächtigkeit beraubt: Die beiden kritischen Fronten wurden auf diese Weise gleichzeitig entkräftet: die eine durch die Aneignung und die Integration, die andere durch den Entzug des Bodens durch die Verwandlung des kapitalistischen Kosmos in eine Welt, die mit den herkömmlichen Mitteln der Sozialkritik aus den hundert Jahren Arbeiterkampf nicht mehr interpretierbar war (Boltanski/Chiapello 2012, S. 31).
Von der gesellschaftspolitischen Ebene aus betrachtet werden in den Unternehmen strukturelle Verschiebungen vorgenommen, welche die Forderung nach mehr Autonomie mit aufnehmen. Beispiele hierfür sind die Flexibilisierung der Arbeitszeit, die Bezahlung nach individueller Leistung, die selektive Autonomisierung durch Teamarbeit, Zeitarbeitsverträge oder Outsourcing (vgl. Boltanski/Chiapello 2012, S. 34). Auf der Ebene der Subjektivität bedeutet dies, dass eine Vielzahl von Individuen für den Prozess der Arbeit motiviert werden können, ohne dass diese von den Unternehmensprofiten besonderen Nutzen ziehen. Die persönliche Motivation verläuft stattdessen über die Befriedigung des Strebens nach mehr Autonomie und Verantwortung am Arbeitsplatz (vgl. Boltanski/Chiapello 2012, S. 30). Hierdurch wird dem eigenen Leben via Arbeit ein Sinn beigemessen, der über die bloße finanzielle Gewinnmaximierung hinausreicht.
5.2 Das Subjekt der Arbeit (governmentality studies)
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Diesen Prozess bezeichnen Boltanski und Chiapello, in Anlehnung an Max Weber, als den (neuen) ‚Geist des Kapitalismus‘ (vgl. Boltanski/Chiapello 2012, S. 19 f.).² Die von Boltanski und Chiapello vertretene soziologische Diagnose einer EntDisziplinierung der Arbeitswelt, welche seit den 1980er Jahren verstärkt einsetzt, wird einerseits auf die historische Kritik am Routinecharakter der kapitalistischen Arbeit zurückgeführt (vgl. Sennett 2006, S. 39 – 57). Andererseits zeigt sich hierin eine konkrete Reaktion auf veränderte Rahmenbedingungen (Künstlerkritik, kapitalismuskritische Gegenbewegungen in den 1960er und 1970er Jahren). Die Konsequenzen, die das Einbeziehen der kapitalismuskritischen Elemente (Forderung nach Flexibilität, Autonomie, Selbstbestimmung und Authentizität) in den Kapitalismus für das Subjekt und die Subjektphilosophie hat, werden spezifischer in den Studien der governmentality studies untersucht.
5.2 Das Subjekt der Arbeit (governmentality studies) Im Anschluss an die Subjektkritik Foucaults sowie an die Theorie der Anrufung Louis Althussers (vgl. Althusser 1977, S. 142; Scharmacher 2004) entwickeln die governmentality studies eine kritische Theorie der Subjektwerdung. Die governmentality studies beschäftigen sich mit der Unterwerfung der Individuen als Subjekte auf dem neoliberalen Arbeitsmarkt. Über eine scheinbare Stärkung der Autonomie und der Partizipation der Arbeitnehmer wird paradoxerweise eine größere Unterwerfung derselben gewährleistet, da die Arbeiter über eine allumfassende Identifikation mit der Arbeit stärker an diese gebunden werden und die Be-
Diese Formulierung erinnert an die soziologischen Studien Richard Sennets zu der ‚Kultur des neuen Kapitalismus‘ (vgl. Sennet 2007; Sennet 2007). Sennet unterscheidet zwischen zwei Arten des Arbeitsethos: zum einen das Ethos im weberschen Sinne, in welchem das Individuum durch protestantische Askese und Selbstdiziplinierung dem eigenen Leben über Arbeit Sinn und Struktur verschafft. Das neue Arbeitsethos des Neoliberalismus zum anderen ist Sennet zufolge bestimmt durch institutionelle Diskontinuität, Spezialisierung, Flexibilisierung und De-Zentralisierung. Die eindeutig vertikal-pyramidisch organisierte Arbeitsstruktur des Fordismus wird hierbei aufgelöst zugunsten von scheinbar lockereren und weniger hierarchischen Strukturen (vgl. Sennet 2006, S. 59 ff.; 137 ff.; Sennet 2007, S. 44 f.). Für Sennet ist es jedoch wichtig zu betonen, dass De-Zentralisierung und De-Strukturierung genauso wenig zu einer Schwächung der Macht führen, wie ein Zuwachs an Flexibilität die Autonomie des Einzelnen stärkt: „In unserer Zeit hat die Ablehnung der bürokratischen Routine neue Macht- und Kontrollstrukturen ins Leben gerufen, die nichts mit Freiheit zu tun haben (…). In modernen Organisationen, die Konzentration ohne Zentralisierung praktizieren, ist die organisierte Macht zugleich effizient und formlos“ (Sennet 2006, S. 58, 71). Sennet weist in diesem Zusammenhang insbesondere auf die neue digitale Überwachung des Arbeitnehmers bei der Heimarbeit hin, die, bei vorgeblicher Flexibilisierung der Arbeit und Autonomisierung des Arbeiters, letztlich zu einer verstärkten Kontrolle führt: „Die Arbeitnehmer tauschen somit eine Form der Überwachung – von Angesicht zu Angesicht – gegen eine elektronische ein (…). Die Arbeit ist physisch de-zentralisiert, die Macht über den Arbeitnehmer stärker zentralisiert worden“ (Sennet 2006, S. 74 f.).
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5 Exkurs: Einbettung in die Forschungslage
messung des eigenen Wertes stärker von der Verrichtung der Arbeit abhängig gemacht wird (vgl. Bröckling/Krasmann/Lemke 2000, Bröckling 2007; Opitz 2004; Rose/Miller 1992; Rose 1989; du Gay 1996; du Gay 1997; Frankenberger 2000; Lemke, T. 1997). Die governmentality studies beziehen sich auf Michel Foucaults These der gouvernementalité. Foucault beschreibt hiermit einen Prozess, in welchem die Arbeit nicht mehr den Charakter eines notwendigen Übels trägt, sondern zur Subjektform, d. h. zur Schablone der eigenen Selbstverwirklichung, wird. Das Subjekt begreift seine Fähigkeiten hierbei zunehmend als Ressourcen, die es nutzen kann, um sich auf dem Arbeitsmarkt zu etablieren (vgl. GG II, S. 314; Reckwitz 2008, S. 130 f., S. 316 ff.).³ Die governmentality sudies bauen vor allem auf den Arbeiten von Nicolas Rose auf (vgl. Rose 1989, 1992, 1996). Besonders in seinem frühen Werk Governing the Soul. The shaping of the private self vollzieht er eine Verbindung zwischen Foucaults Arbeiten zur gouvernementalité und der Verquickung von den Zielen der Unternehmen mit den Wünschen und Bedürfnissen der Arbeitnehmer. Dies geschieht über die Betonung der Autonomie des arbeitenden Subjekts und der Verbindung dieser Autonomie mit der Arbeit, die es vollzieht: „Thus the individual is not to be emancipated from work (…), but to be fulfilled in work, now construed as an activity through which we produce, discover, and experience our selves“ (Rose 1989, S. 103). Die Vernetzung der gefühlten Autonomie des Arbeitnehmers mit dem Unternehmen, für das er arbeitet, wird über eine scheinbare De-Zentralisierung und Flexibilisierung der Strukturen am Arbeitsplatz gewährleistet, welche sich u. a. in Arbeitsgruppen mit gestärkter Autonomie, Rotationen am Arbeitsplatz und ‚self-management‘- Strategien ausdrückt (vgl. Rose 1989, S. 105). Rose verbindet seine Kritik an den neuen kapitalistischen Arbeitsstrukturen ironischerweise gerade mit einer Kritik an der progressiven Psychologie der counter culture der 1960er und 1970er Jahre. Das Individuum wird stärker an die Arbeitsstrukturen, die es umgeben, gebunden, indem Begriffe wie Selbstverwirklichung, Eigenverantwortung oder Autonomie universalistisch als menschliche Wesenszüge beschrieben und somit zum Kern der Subjektivierung des Individuums werden (vgl. Rose 1989, S. 108 f.). Durch diese ‚psychologische Vermittlung‘ werden die Individuen zu effizienteren Arbeitern, fällt doch ihr Streben nach Eigeninitiative mit der Art ihrer Subjektivierung zusammen: „The Individual would come to take on the responsibility for advancing the interests of the company because, at the same time, they would serve to fulfill his or her own deepest needs“ (Rose 1989, S. 110; vgl. Rose 1989, S. 115; Rose/Miller 1992, S. 58). Roses Kritik an der progressiven Psychologie und der Psychotherapie gipfelt in der Feststellung, dass diese das Individuum für den neoliberalen Arbeitsmarkt ‚fit‘ halten sollen, indem sie die Subjektform der Individuen im Sinne des neoliberalen Geistes auslegen: „The psychotherapies provide technologies of individuality for the production and regulation of the individual who is ‘free to choose’“ (Rose 1989, S. 228).
Vgl. hierzu Kapitel 1.3 der vorliegenden Arbeit.
5.2 Das Subjekt der Arbeit (governmentality studies)
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Diese angebliche ‚Freiheit der Wahl‘ entpuppt sich jedoch als Schein-Autonomie, da sich hinter dem Konzept des autonomen Subjekts eine Unfreiheit verbirgt, welche darin besteht, dass das Individuum dazu angehalten wird, seine Fähigkeiten und Autonomie-Potenziale im Sinne einer ständigen Auswertung und Verwertbarkeit einzusetzen und zu interpretieren. Das Individuum ist also gerade deshalb unfrei, weil es an seine Identität als autonomes und entscheidungsfähiges Subjekt gebunden ist (vgl. Rose 1989, S. 254). Der Status des autonomen Subjekts kippt somit in die Verdinglichung und die Selbstausbeutung. Aufbauend auf den Arbeiten von Nicolas Rose und Peter Miller entwirft Paul du Gay (vgl. du Gay 1996; du Gay 1997) das Konzept einer über ökonomische Rationalität konstituierten Subjektivität: „Rather than existing ‘objectively performed’ outside of culture and history (…) the identity that economic actors come to have is discursively constituted as a product of changes in the ways of repressing and acting upon – or governing – economic life“ (du Gay 1997, S. 295). Du Gay betont, dass die Konsequenz aus der Aufhebung der Grenzen zwischen Arbeit und Freizeitverhalten in einer beständigen ‚Arbeit an sich selbst‘ besteht. Aufbauend auf der foucaultschen Deutung der Figur des homo economicus zeichnet er das Bild eines Individuums, welches, aufgrund seiner Subjektivierung qua ökonomischer Verwertbarkeit, sogar als Arbeitsloser beständig an sich selbst wie an einem Unternehmen arbeitet. Du Gay beruft sich hierbei auf den von Colin Gordon verwendeten Begriff vom entrepreneur of the self (vgl. du Gay 1997, S. 301 f.; Gordon 1987, S. 300). In der deutschsprachigen Forschung hat vor allem Ulrich Bröckling der von Gordon und du Gay verwendeten Figur des entrepreneur of the self eine genauere Untersuchung gewidmet (vgl. Bröckling 2007). In seiner Studie Das unternehmerische Selbst analysiert er, unter Bezugnahme auf die Theorieprogamme von Rose, Foucault und Althusser, jüngere und jüngste Management- und Selfmanagementliteratur, die zu einer Art der Subjektivierung beitragen sollen, in der das arbeitende Individuum sich als autonomes Subjekt seiner Handlungen wahrnimmt. Diese ‚unternehmerische Freiheit‘ führt letztlich zu einer umfassenderen Ausbeutung und Nutzbarmachung der arbeitenden Individuen (vgl. Bröckling 2007, S. 13, S. 27 ff.; S. 280 f.). Der Einzelne soll demzufolge zum Unternehmer seiner selbst werden: „Das unternehmerische Selbst sorgt sich um die Bewahrung, Reproduktion und Mehrung seines Humankapitals“ (Opitz 2004, S. 150; vgl. auch Bröckling 2007, S. 73).⁴ Bröckling spricht in diesem Zusammenhang von einer „Normierung des Ich durch das Ich“ (Bröckling 2007, S. 40). Das Regiert-Werden funktioniert demnach über das Regieren der Einzelnen durch sich selbst. Das heißt, es verläuft nicht mehr über di-
In aktuellen Debatten der governmentality studies und der Subjektphilosophie wird auf die Wichtigkeit von biopolitischen Diskursen für das Funktionieren des Neoliberalismus verwiesen. Vgl. zum Zusammenhang zwischen Neoliberalismus, Gouvernementalität und Bio-Politik: Lemke, T. 2014, S. 59 – 63; Vatter 2014, S. 163 – 165, S. 181– 184.
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5 Exkurs: Einbettung in die Forschungslage
rekte Unterwerfung des eigenen Willens unter den Willen des Regierenden, sondern über das autonome Handeln in einer sozialökonomischen Struktur. Durch eine vorgebliche Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktionsprozess sowie an unternehmerischen Entscheidungen (vgl. Rose/Miller 1992) soll eine „Verschränkung von Unternehmens- und Eigeninteressen“ (Krasmann 2000, S. 198) herbeigeführt werden. Für die Vertreter der governmentality studies verläuft demnach die gegenwärtige Art der Subjektivierung primär über Arbeit sowie über die damit verbundenen neoliberalen (und ehemals emanzipatorischen) Forderungen nach der ‚Autonomie des Subjekts‘, der ‚Eigenverantwortlichkeit‘ oder der ‚Freiheit des Einzelnen‘. Diese Forderungen entpuppen sich jedoch als Scheinforderungen, sind sie doch dem Credo einer gesteigerten ökonomischen Regierung des Einzelnen und der Bevölkerung unterworfen (vgl. Rose 1996, S. 57). Die Ergebnisse und Erkenntnisse der governmentality studies sollen deshalb mit den foucaultschen und nietzscheanischen Subjekttheorien verbunden werden, weil ihnen ein Gegenwartsbezug und eine empirische Evidenz nicht abzusprechen sind. So unternehmen Rose und Bröckling detaillierte Untersuchungen der psychologischen Techniken, die dazu verwendet werden, den Arbeitnehmer durch Coachings, Motivationsseminare, Qualitäts- und Selbstmanagements den Eindruck zu vermitteln, Arbeit sei das zentrale Element seiner Selbstwerdung sowie beruflicher und privater Befriedigung (vgl. Rose 1989, S. 102– 118, Rose/Miller 1992; Bröckling, 2000, S. 131– 163). Bröckling betont in diesem Zusammenhang zu Recht immer wieder die Schwierigkeit, Strategien des Widerstands gegen die unternehmerische Subjektivierung zu entwickeln, da durch den neoliberalen Bemächtigungsimperativ der ehemals progressive Gedanke der Eigenermächtigung augenblicklich in Affirmation umschlägt (vgl. Bröckling 2007, S. 40, S. 213; Opitz 2004, S. 71 f.). Das Individuum, das seine Rechte einfordert und auf Selbstbestimmung pocht, ist mühelos mit den Zielen und Zwecken des gegenwärtigen Neoliberalismus vereinbar (vgl. GG II, S. 372 f., S. 429 f.). Bröckling beschreibt diese paradoxe Konstellation in Bezug auf den Begriff des Selfempowerment: Der Einzelne wirkt planvoll auf sein eigenes Verhalten ein (…), erkennt und nutzt seine Ressourcen (…) usw. Bei all dem kann er aber gar nicht anders, als sich an Modellen zu orientieren, die er in der Gesellschaft vorfindet (…). Er mag ihnen folgen oder sie verwerfen, in jedem Fall bilden sie das historische Apriori seiner Arbeit an sich selbst (Bröckling 2007, S. 213).
Der Begriff der „Arbeit an einem selbst“ legt eine Auseinandersetzung mit der weiter oben besprochenen Untersuchung Foucaults über jene antiken Techniken des Selbst nahe. Ist jegliche Arbeit an sich selbst notwendig eingebunden in den gesellschaftspolitischen Imperativ des unternehmerischen Selbst? Ist auch das foucaultsche Programm der antiken Selbstsorge nur eine weitere Form der Selbstregulierung, welche dem Imperativ der Selbstvermarktung gehorcht? Ist also, wie Ulrich Bröckling es ausdrückt, „Empowerment auch als Selbstpraktik eine Sozialtechnologie“ (Bröckling 2007, S. 214)?
5.3 Das depressive Subjekt im digitalen Zeitalter (Ehrenberg, Han)
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Opitz (2004) weist in diesem Sinne auf die Problematik hin, die in Foucaults Ansatz liegt, einerseits Individualismus und Selbstleitung als Programme der gouvernementalité zu denken, und andererseits mit den antiken Techniken der Selbstsorge Strategien aufzuführen, um diesem gouvernalen Regiert-Werden zu entgehen: „Die produktive Zumutung, der Foucault seine Leser aussetzt, liegt somit in der Aufforderung, die gleichzeitige Unterwerfung und Selbstformierung des Subjekts zu denken“ (Opitz 2004, S. 80). Es geht also letztlich um die Frage, wie mit jenen Verknüpfungen von „Herrschaftstechniken und Selbsttechniken“ (Frankenberger 2000, S. 194) umgegangen werden kann. Dies wird noch dadurch erschwert, dass sich der Topos der Unterwerfung durch Freiheit noch auf andere gesellschaftliche Bereiche ausweiten und anwenden lässt und somit ein umfassendes gesellschaftliches Phänomen darstellt.
5.3 Das depressive Subjekt im digitalen Zeitalter (Ehrenberg, Han) Alain Ehrenberg entwirft, aufbauend auf den Konzepten der governmentality studies, die These vom erschöpften Selbst. Das depressive und handlungsunfähig gewordene Individuum sowie die gesamtgesellschaftliche Zunahme von depressiven Erkrankungen werden als Resultat und Kehrseite des sozialen Individualisierungsprozesses und den damit einhergehenden Forderungen nach Eigenverantwortung und Selbstvermarktung gewertet (vgl. Ehrenberg 2004, S. 277 f.; Reckwitz 2008, S. 133 f.; Ehrenberg 2004; viii).⁵ Hierbei analysiert er Depression als Konsequenz und Kehrseite einer auf subjektive Autonomie und Selbstverwirklichung ausgerichteten neoliberalen Arbeitsgesellschaft: „Die Fähigkeit zum selbstständigen Handeln ist der Kern der Sozialisation, das lahm gelegte Handeln ist die grundlegende Störung der Depression“ (Ehrenberg 2004, S. 229; vgl. Honneth 2012, S. 77). Historisch betrachtet sieht Ehrenberg die Entstehung und das Erstarken der Depression als Prozess, welcher unauflöslich mit der Ablösung der Disziplinargesellschaft durch die zunehmende Forderung nach Autonomie und Selbstbestimmtheit verbunden ist: „Die Geschichte der Depression verläuft parallel zum Niedergang jenes Typus disziplinierter Individuen (…) der sich bis in die (…) 60er Jahre gehalten hat“ (Ehrenberg 2012, S. 53).⁶
In diesem Sinne ist die Depression gleichsam die negative Konsequenz der von Ulrich Beck beschriebenen Risikogesellschaft. In Becks Analyse wird der durch die Modernisierung und die Auflösung der sozialen Strukturen ausgelöste Individualisierungsschub noch als Chance auf Selbstverwirklichung begriffen (vgl. Beck, U. 1986, S. 115 ff., S. 205 ff., S. 217). Diese Diagnose geht auf Michel Foucaults Untersuchung der Disziplinarmacht zurück, welche über Bestrafung, Überwachung und Selbstüberwachung ein Individuum konstituiert, das sich nicht nur besser kontrollieren lässt, sondern hierdurch auch auf dem Arbeitsmarkt produktiv nutzbar zu machen ist (vgl. ÜS, S. 157 f., S. 190).
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5 Exkurs: Einbettung in die Forschungslage
Ehrenberg bringt die Unterschiede zwischen einer auf Disziplinierung und einer auf Autonomie fußenden Gesellschaftsform pointiert wie folgt auf den Punkt: „In einer disziplinarisch organisierten Gesellschaft lautet die Frage noch: ‚Darf ich das?‘ Wenn Autonomie zum beherrschenden Zug der Gesellschaft wird, lautet sie dagegen: ‚Kann ich das‘“ (Ehrenberg 2012, S. 54 f.). Die mit dieser Entwicklung verknüpfte Multiplikation von Handlungsmöglichkeiten führt bei Individuen, welche nur wenig oder gar nicht in der Lage sind, das eigene Leben selbstständig zu strukturieren, zu einer Implosion der im Inneren des Ichs vermuteten, cartesianischen Handlungsautonomie (vgl. Ehrenberg 2012, S. 55). So führt das Gefühl, ständig die Wahl zu haben, zu dem Gefühl, für alles verantwortlich zu sein. Auf diese Weise nimmt das Empfinden des persönlichen Scheiterns zwangsläufig zu. Ehrenbergs Studie zum erschöpften Selbst fußt auf der empirischen Diagnose der Zunahme von Depressions- und Suchterkrankungen sowie deren Zusammenhang mit gesellschaftlichen Phänomenen wie Leistungsdruck und Selbstvermarktungszwang. In diesem Sinne kann man mit Axel Honneth feststellen, dass „die zur Deutung herangezogenen Begriffe insofern tatsächlich theoretischen Wert besitzen, als sie sich als Erträge eines innerdisziplinären Lernvorgangs angesichts hartnäckiger, nicht wegzuleugnender Befunde interpretieren lassen“ (Honneth, Vorrede, in: Ehrenberg 2004, viii). Ehrenberg kritisiert in diesem Zusammenhang auch demokratische Institutionen und Diskurse, welche aus seiner Sicht dazu beitragen, das moderne depressive Individuum zu verunsichern. Gerade die in der Demokratie geforderten Werte des Engagements und der Eigeninitiative wenden sich demnach in Handlungsunfähigkeit, Unmotiviertheit und Apathie (vgl. Ehrenberg 2004, S. 9 ff.). Depression ist also sowohl die Schattenseite des ökonomischen Zwangs zur Selbstoptimierung, als auch die der politischen Forderung nach Eigeninitiative. Paradoxerweise baut die demokratische Idee aber genau auf dem Funktionieren dieser Werte auf, welche sie zugleich selber unterläuft (vgl. Honneth, Vorwort, in: Ehrenberg 2004, ix). Diese Tendenz wird, wie einschlägige Studien verdeutlichen, durch das Internet und die damit verbundene Digitalisierung der Alltags- und Arbeitswelt noch bestärkt (vgl. Han 2013; Manovich 2001; Turkle 1998; Becker/Stalder 2009; Morozov 2013). Denn jene Überbetonung der persönlichen Verantwortlichkeit im Handeln findet ihre Entsprechung im Verhalten des ‚user-Subjekts‘ im Umgang mit dem Internet.
Foucault fügt dem Modell der Disziplinarmacht in seinem Spätwerk das Konzept der Gouvernementalität hinzu, das eine effizientere Ausbeutung der arbeitenden Individuen gewährleistet, da ihre Subjektivierung anhand des Modells vom homo oeconomicus vollzogen wird, welches den Einzelnen im Sinne einer cartesianischen Subjektivität als Urheber der eigenen Handlungen begreift, und dieses Handeln wiederum einer ökonomischen Rationalität unterwirft (GG II, S. 372 f.; 382 f.; S. 406). Darüber hinaus ist hierbei erneut auf Richard Sennets Studien zur Kultur des neuen Kapitalismus hinzuweisen. Der ‚neue Kapitalismus‘ löst den ‚sozialen Kapitalismus‘ ab und geht einher mit einer Flexibilisierung von Institutionen, einer De-Zentralisierung von Macht und einer Dynamisierung der Arbeitsprozesse und des arbeitenden Individuums (vgl.: Sennet 2006, S. 58; Sennet 2007, S. 65 f.).
5.3 Das depressive Subjekt im digitalen Zeitalter (Ehrenberg, Han)
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Andreas Reckwitz betont die Eingliederung des digitalen Verhaltens in die ökonomische Logik des Neoliberalismus (vgl. Reckwitz 2006, S. 575). Das digitale Verhalten weist Zusammenhänge zum ökonomischen Handeln auf, wird doch das Gefühl, ständig die Wahl zu haben und Entscheidungen treffen zu müssen, im ‚ComputerSubjekt‘ noch bestärkt: „Im Umgang mit dem Computer werden dem Subjekt Orientierungen vermittelt, die ihn zu einer Routinisierung der Haltung der Wahl und Entscheidung zwischen Möglichkeiten (…) anleiten“ (Reckwitz 2006, S. 575). Der so etablierte „Wahlhabitus“ (Reckwitz 2006, S. 578) ist jedoch nicht mit wirklicher Autonomie im Handeln zu verwechseln, da die Wahlen, die vom user getroffen werden, in einem vorgegebenen digitalen Rahmen stattfinden. Lev Manovich schreibt in seinem Standartwerk The Language of new Media über diese Problematik: In short, we are asked to follow pre-programmed, objectively existing associations. Put differently, in what can be read as an updated version on French philosopher Louis Althusser’s concept of ‘interpellation’, we are asked to mistake the structure of somebody’s else mind for our own (Manovich 2001, S. 61; vgl. Reckwitz 2006, S. 579).
Wir lernen demzufolge im sog. Click-fetishism, die Hauptanforderung des Arbeitsmarkts zu internalisieren. Diese besteht darin, das gesamte Handeln unter das Banner der subjektiven Eigenverantwortlichkeit zu stellen. Hierüber werden Strukturen und Determinismen verschleiert, welche den freien Entscheidungen vorausgehen und ihre Richtungen und Grenzen bestimmen. Das subjektive Gefühl der zunehmenden Wahlfreiheit geht also mit der objektiven Zunahme von Machtstrukturen einher, da deren Wirkungsmechanismen verschleiert werden. Byung-Chil Han sieht demzufolge im digitalen Zeitalter die Vollendung des neoliberalen Arbeitsethos. In seinem Essay Im Schwarm. Ansichten des Digitalen zieht er eine Verbindung zwischen der neoliberalen Ideologie, welche darin besteht, sein eigenes Leben als Projekt zu begreifen, und den unendlichen Wahl- und Selbstdarstellungsmöglichkeiten im digitalen Medium (vgl. Han 2013, S. 61). Dem Ständigverfügbar-Sein im Internet sowie der zunehmenden Aufhebung der Trennung von Privatem und Öffentlichem, die in den sozialen Netzwerken betrieben wird, entspricht der Anspruch des neoliberalen Subjekts, beständig an sich zu arbeiten und auch sein Privatleben in diesen Prozess miteinzubeziehen: „Der neoliberale Imperativ der Leistung verwandelt die Zeit in Arbeitszeit. Er totalisiert die Arbeitszeit“ (Han 2013, S. 48). Somit leisten z. B. Smartphones einen Beitrag zum Effizient-Machen der Subjekte in der Arbeitsgesellschaft des neuen Kapitalismus: „[D]ie digitalen Apparate bringen einen neuen Zwang, ein neues Sklaventum hervor. Sie beuten uns noch effizienter aus, als sie aufgrund ihrer Mobilität jeden Ort in einen Arbeitsplatz und jede Zeit in Arbeitszeit verwandelt“ (Han 2013, S. 49). In diesem Sinne bringt der neoliberale Imperativ der Autonomie paradoxerweise eine viel größere Unfreiheit und Kontrolle mit sich: „Das Projekt, zu dem sich das Subjekt befreit, erweist sich heute als Zwangsfigur. Es entfaltet Zwänge in Form
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5 Exkurs: Einbettung in die Forschungslage
von Leistung, Selbstoptimierung und Selbstausbeutung (…). Mehr Freiheit bedeutet mehr Zwang“ (Han 2013, S. 65). Zuletzt überführt Han den Gedanken der digitalen Selbstausbeutung in Ehrenbergs Modell vom erschöpften Selbst: „Das Leistungssubjekt beutet sich selbst aus, bis es zusammenbricht“ (Han 2013, S. 66). Denn auch Ehrenberg sieht die soziologische Hauptursache für den Anstieg von Depressionen in einer solchen Verabsolutierung angeblich autonomen Handelns, welches mit dem beständigen Imperativ der Selbstoptimierung einhergeht: Der wichtigste Umstand für die Individualität der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist der Zusammenstoß der unbegrenzten Möglichkeiten mit dem Unbeherrschbaren. Der Aufstieg der Depression hat die Spannung aufgezeigt, die diese Konfrontation hervorrief, in einem Maße, dass das Erlaubte zugunsten des Möglichen zurücktrat (Ehrenberg 2004, S. 275, vgl. Ehrenberg 2012, S. 56).
Hauptverantwortlich für die von Ehrenberg beschriebene Krise des modernen Subjekts ist das weiter oben beschriebene ökonomische Modell vom ‚Unternehmer seiner selbst‘, das nicht nur auf die Arbeitswelt, sondern mehr und mehr auch auf das persönliche Leben der Individuen bezogen wird. Der Einzelne wird als Subjekt seiner Handlungen angesprochen, also als jemand, der nicht nur Befehle ausführt, sondern für die Arbeit, die er verrichtet, auch verantwortlich ist (vgl. Ehrenberg 2012, S. 59).⁷
Reckwitz ergänzt die Perspektive der gesellschaftlichen Individualisierung um den Aspekt der Kreativität (vgl. Reckwitz 2012, Reckwitz 2013; vgl. zu dieser Thematik auch: Bröckling 2007, S. 152 ff.). Für ihn ist Kreativität die Art und Weise, wie sich das gegenwärtige Subjekt auf sich selbst bezieht: „Es würde zu kurz greifen, anzunehmen, dass [das] spätmodern[e] Selbst im Wesentlichen nach Individualisierung strebt. Diese Individualisierung hat eine besondere Form: sie zielt auf eine kreative Gestaltung von Subjektivität ab“ (Reckwitz 2013, S. 12). Kreativität wird zum bestimmenden Faktor in der gegenwärtigen Vergesellschaftlichung und Subjektwerdung: Im Modus der Kreativität vollziehen sich Reckwitz zufolge nicht nur der Kulturbetrieb sowie die moderne Arbeitswelt, sondern auch das Konsum-, Sexual-, und Freizeitverhalten (vgl.: Reckwitz 2013, S. 15). Auf der subjektiven Ebene drückt sich dieses Kreativitätsdispositiv in einem Streben nach Kreativität (Kreativitätswunsch) aus, auf der gesellschaftlichen Ebene in der Forderung nach Kreativität (Kreativitätsimperativ) (vgl. Reckwitz 2013, S. 12). Für Reckwitz hat dieses Dispositiv demzufolge auch mit dem vermehrten Auftreten von Depressionen zu tun. So wie Ehrenberg Depression im Spannungsfeld zwischen scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten und reellen Unbeherrschbarkeiten ausmacht, so führt Reckwitz Depressions- und Erschöpfungserkrankungen auf „die Diskrepanz zwischen kreativen Leistungen und kreativem Erfolg“ (Reckwitz 2013, S. 345) zurück (vgl. Ehrenberg 2004, S. 275). Die Tendenz, Kreativität universalistisch im Kern jeglicher menschlichen Existenz auszumachen, führt zwangsläufig in die Nicht-Erfüllbarkeit und zum Scheitern: „Dass das Universalisierungsprogramm des Kreativen an die Leistungsanforderung der Kreativität gekoppelt ist, hat eine paradoxe Konsequenz: Kreativität ist eine Eigenschaft von jedem und wird doch nicht von jedem erreicht“ (Reckwitz 2013, S. 346, vgl. auch Reckwitz 2012, S. 106). Reckwitz macht somit das Kreativitätsdispositiv, welches sich subjektiv als Kreativitätswunsch und objektiv als Kreativitätsimperativ ausdrückt, für die Zunahme an depressiven Erkrankungen mitverantwortlich: „[S]o spricht einiges dafür, dass der seit den 1980er Jahren zu beobachtende Bedeutungsgewinn von sogenannten ‚Unzulänglichkeitserkrankungen‘, also Depression, Erschöpfung,
5.3 Das depressive Subjekt im digitalen Zeitalter (Ehrenberg, Han)
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Das ‚depressive Selbst‘ scheitert somit an der inflationären Forderung nach Eigeninitiative und Selbstwerdung sowie der damit einhergehenden permanenten Möglichkeit der Wahl: „Die Depression ist die Krankheit des Individuums, das (…) durch die Spannung zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen zerrissen wird“ (Ehrenberg 2004, S. 12, vgl. S. 4). In Anlehnung an Nietzsche schreibt Ehrenberg etwas polemisch: „Depression und Sucht sind wie die Vorder- und Rückseite des souveränen Individuums“ (Ehrenberg 2004, S. 277). Diese Verbindung von Nietzsches Utopie des souveränen Individuums mit jenem omnipotenten Freiheitsideal der Selbstvermarktung, welches Ehrenberg kritisiert, ist jedoch unzulässig. Es konnte bereits gezeigt werden, dass Nietzsche mit einer solchen bloß kalkulierten und vordergründigen Rede von Autonomie und Verantwortung nicht viel gemein hat. Denn seine Idee autonomer Individualität unterläuft gerade die Vorstellung vom ursächlichen und mit sich selbst identischen Subjekt (vgl. JGB 17, KSA 5, S. 30 f.), welches wiederum die Voraussetzung bildet für eine Unterwerfung des Selbst über Diskurse vermeintlicher Eigenverantwortung und Autonomie. Vielmehr lässt sich den Analysen von Ehrenberg und den governmentality studies das bereits erwähnte Zitat Nietzsches zur Seite stellen, welche die Diagnose einer unter dem Deckmantel der Freiheit versteckten Unfreiheit und Unterdrückung unterstützt: „Die Menschen wurden ‚frei‘ gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu können – um schuldig werden zu können.“ (GD Irrthümer 7, KSA 6, S. 95). Nietzsche hatte also eine Autonomie im Sinn, die sich gerade nicht innerhalb der cartesianischen Subjektform vollzieht. In der Forschung gibt es eine Diskussion darüber, ob Nietzsches Idee des autonomen Individuums mit der Vorstellung eines ‚eigenverantwortlichen‘ (neo)liberalen Subjekts in Einklang zu bringen ist (vgl. Balke 2007; Cavell 1990; Leiter 2002; Lemm 2015; Richardson 2004). So vertritt Balke den Standpunkt, dass Nietzsches Vision des freien Individuums eben jenen Gedanken des ‚unternehmerischen Selbst‘ entgegen kommt (vgl. Balke 2007, S. 202 ff.; Lemm 2015, S. 59 f.). Balke denkt das übermenschliche Ideal Nietzsches im Modus des liberal-neoliberalen Zeitgeists. Somit ist Nietzsches Idee des sich jenseits der ‚Herde‘ aufhaltenden, autonomen Individuums kompatibel mit dem liberalen Forderung nach dem Risiko, sich als Einzelner möglichst weit außerhalb staatlicher Strukturen zu bewegen und sich somit einer Gefahr auszusetzen (vgl. Balke 2007, S. 207, S. 209). In diesem Sinne ist für Balke Nietzsches Ideal höherer Individualität im Vokabular der neoliberalen Gouvernementalität (Unternehmer ihrer Selbst, Wagnisbereitschaft) zu verstehen (vgl. Balke 2007, S. 212). Lemm stellt dem richtigerweise entegegen, dass Nietzsches Konzept des autonomen, übermenschlichen Individuums gerade die neoliberale Idee der Eigenverantwortlichkeit untergräbt. Denn Nietzsches höherer Typus konstituiert sich gerade über
Suchtkrankheiten und dergleichen, vor dem Hintergrund der Leistungs- und Steigerungsansprüche des Kreativitätsdispositivs zu verstehen ist“ (Reckwitz 2013, S. 348).
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5 Exkurs: Einbettung in die Forschungslage
den Wert des Schenkens, des Überschusses und der sich verschwendenden Kraft, was im Gegensatz zu liberalen Ideen der Eigenverantwortlickeit und des Wettbewerbs sowie zum Utilitarismus steht (vgl. Lemm 2015, S. 60; Z I Tugend 1, KSA 4, S. 98 f.).⁸
5.4 Macht und Widerstand: gender studies und governmentality studies Die Hauptthesen jener gegenwärtigen, progressiven Theorien der governmentality studies lassen sich so zusammenfassen: Diagnostiziert wird ein übergreifendes Ideal zu Individualisierung und Autonomie, welches seine Grundlagen in der Integration kapitalismuskritischer Elemente in die Struktur des Kapitalismus hat, und welches sich auf die gesellschaftlichen Teilbereiche der Arbeit, der Kunstindustrie, des Internets sowie der Psychiatrie erstreckt. Der Zusammenbruch dieses Autonomieideals führt auch zum Zusammenbruch des modernen Leistungssubjekts. Pointiert ließe sich diese Entwicklung so beschreiben: Der Anstieg der Depression ist die Konsequenz und das Symptom einer inflationären Forderung nach Freiheit, Kreativität, Eigenverantwortlichkeit und Selbstverwirklichung, wie sie im gegenwärtigen Arbeitsdiskurs gestellt und durch die Digitalisierung des Alltagslebens bestärkt wird. Der von Boltanski und Chiapello diagnostizierte diskursive und praktische Strategiewechsel des Kapitalismus, welcher darin besteht, das arbeitende Subjekt unter dem Gesichtspunkt der Autonomie zu
Im Zusammenhang mit dem Begriff des Neoliberalismus wird auch der foucaultsche Terminus der Biomacht in Bezug auf Nietzsche diskutiert. Für Foucault ist die neoliberale Regierungsweise der Gouvernementalität die Form der Machtausübung und der Regulierung des Menschen im Zeitalter der Biomacht (vgl. Balke 2003, S. 718; Lemm 2015, S. 59, GG II, S. 18; VG, S. 282– 311). Aus der Sicht von Balke ist Nietzsches Idee der ‚großen Politik‘ eine philosophisch legitimierte Form biopolitischer Machtausübung, wie sie von Foucault erarbeitet worden ist (Balke 2003, S. 706, 709, 718). Stichworte wie ‚große Gesundheit‘ oder ‚große Politik‘ beruhen demnach auf Prozessen der Selektion zwischen ‚Normalen‘ und ‚Anormalen‘ und daher dem, was von Foucault als Normalisierung bezeichnet wird (vgl. Balke 2003, S. 709). Der These von der angeblichen nietzscheanischen rassisistischen Selektion wird von Lemm richtigerweise entgegengehalten, dass in Nietzsches Philosophie menschlichen Lebens der Begriff der Wechselseitigkeit (interrelatedness) von hervorgehobener Bedeutung ist (vgl. Lemm 2015, S. 61; Balke 2003, S. 709). Die Dekonstruktion, das ‚Flüssig-Werden‘ des Subjekts bedeutet also bei Nietzsche gattungstheoretisch gewendet ein biologisches Kontinuum, in dem weder der Mensch begrifflich eindeutig vom Tier getrennt ist, noch innerhalb der menschlichen Gattung zwischen verschiedenen höheren oder niederen Typen unterschieden werden kann (vgl. FW 54, KSA 3, S. 416 f.; NL 1888, KSA 13, 14[133], S. 315 f.; Lemm 2015, S. 60 f.; Braidotti 2006, S. 203). Die von Foucault postulierte Separation des biologischen Kontinuums im Dienste des Rassismus und dem Überleben der ‚höheren Rasse‘ ist demnach bei Nietzsche nicht auszumachen (vgl. Lemm 2015, S. 57, VG, S. 304 ff.). Nietzsches Dekonstruktion des Subjekts steht also einerseits der liberal-neoliberalen Vorstellung vom Menschen als einheitliches, rationales und autonomes Subjekt entgegen, andererseits wird hiermit auch eine rassistisch-biologistische Lesart, welche Nietzsche gattungstheoretisch in eine sozialdarwinistische Tradition einordnen möchte, durchbrochen (vgl. Lemm 2015, S 58).
5.4 Macht und Widerstand: gender studies und governmentality studies
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denken und es so für die Arbeit zu motivieren, scheitert somit zunehmend gerade an der eigenen Prämisse, nämlich der ständig eingesetzten Forderung nach Eigenverantwortlichkeit. Die hier beschriebene Art des neoliberal-gouvernalen Regiert-Werdens enthält jedoch auch die Möglichkeit, die widerspenstigen Potenziale der Freiheit im Einzelnen zu erwecken und somit die gesellschaftlichen Subjektivierungen zumindest zum Teil zurückzuweisen und „Selbststeuerungspotenziale“ (Bröckling 2007, S. 61) zu aktivieren: „Die ‚Normierung des Ich durch das Ich‘ birgt stets die Möglichkeit eines Nein zu den gesellschaftlichen Subjektivitätsnormen“ (Bröckling 2007, S. 40). Die Möglichkeit einer wirklich autonomen und ungebrochen einheitlichen Selbstgestaltung und Selbstkonstitution wird jedoch von den Autoren der governmentality studies in der Regel verneint, da Widerstand gegen die gesellschaftlichen Subjektnormen in die Ideologie der Selbstvermarktung miteinbezogen werden kann: „Selbst der Einspruch, die Verweigerung, die Regelverletzung lassen sich in Programme gießen, die Wettbewerbsvorteile versprechen“ (Bröckling 2007 S. 283). Widerstand wird daher eher als Folge und Komplettierung der Macht erfahren (vgl. Opitz 2004, S. 166), in dem gleichen Sinne wie der Neoliberalismus als Strategie der Macht gedeutet werden kann, die potenzielle Handlungs- und Widerstandsfähigkeit der Subjekte innerhalb der Machtform der Gouvernementalität in feste Bahnen zu lenken. Bei vielen Autoren der governmentality studies kann daher ein Ausbrechen aus der individualisierenden Verwertungsspirale eher durch Kritik, Verweigerung, Ironie und Dekonstruktion, denn durch Eigenermächtigung stattfinden. Hierzu Ulrich Bröckling: Kritik (…) ist kein Gegenprogramm zur unternehmerischen Selbstoptimierung, sondern die kontinuierliche Anstrengung, sich dem Zugriff gleich welcher Programme wenigstens zeitweise zu entziehen (…). Sie (…) zielt auf Praxis der ‚Ent-Subjektivierung‘ (…). Gelingen kann das Außerkraftsetzen des unternehmerischen Kraftfelds stets nur für den Moment, aber es sind diese Momente, die schlagartig erkennen lassen, dass der Sog nicht unausweichlich ist (Bröckling 2007, S. 286, 287).
Diese Erkenntnis deckt sich hinsichtlich der Problematik der Identität mit der Feststellung Foucaults, dass das Individuum unmöglich gegen die Macht in Stellung gebracht werden kann, da der Befreiungsgedanke, auf dem ein solches In-StellungBringen aufbauen würde, paradoxerweise bereits dem Individuum eingeschrieben worden ist, um es gerade jener Macht zu unterwerfen (MP, S. 92, 93 f.). Die Frage, wie sich aus dieser scheinbaren Unentrinnbarkeit der Macht ausbrechen lässt, muss anhand der Frage besprochen werden, wie die Subjektform zu definieren ist, die mit jenen Machtprozessen zusammenhängt. Während Bröckling auf die Notwendigkeit verweist, das Subjekt, um es im Sinne jener Unternehmenskultur unterwerfen zu können, pluralistisch und dynamisch zu denken (vgl. Bröckling 2007, S. 279 f.), hebt Sven Opitz die Geltung des cartesianischen Subjektivitätsmodells für das Funktionieren der gouvernalen Macht hervor. Opitz betont die Wichtigkeit, welche eine solche Vorstellung von Subjektivität für die Ausrichtung eines unternehmerischen Selbst hat: „[D]ie Beantwortung der Frage der
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5 Exkurs: Einbettung in die Forschungslage
Regierung mit einem Konzept des Staates, das Homogenität, Ursprünglichkeit und autonome Handlungsfähigkeit nach dem Bild cartesianischer Subjektivität konnotiert“ (Opitz 2004, S. 19). Opitz weist zurecht darauf hin, dass das ökonomische Bild des entrepreneur nur funktionieren und als Selbstbeschreibung angenommen werden kann, wenn auf der epistemischen Ebene ein Bild vom Menschen als Subjekt propagiert wird, das den Charakter der Ursächlichkeit, der Einheitlichkeit und der Autonomie trägt. Auch in Butlers Geschlechtertheorie stellt die Kategorie cartesianischer Subjektivität die Grundlage für einen hegemonialen Diskurs dar, welcher die Individuen an eine feste (geschlechtliche) Identität bindet. Judith Butler verfolgt eine kritische Theorie des Subjekts anhand der Dekonstruktion fester Geschlechternormen. Hierfür bedient sie sich sowohl der Subjektanalysen Nietzsches und Foucaults als auch der Psychoanalyse sowie der Sprechakttheorie John Austins (vgl. Reckwitz 2008, S. 81 f.; Freud 1999 [1915]; Lacan 1986; Butler 2001, S. 63 – 81, 81– 101; Austin 1975). Ihr übergeordnetes Interesse gilt hierbei der Auflösung naturalisierter geschlechtlicher Subjektivität. Für Butler verdeckt die angeblich natürliche Gegebenheit männlicher wie weiblicher Geschlechterrollen deren historische Gewordenheit sowie die Rolle der Macht in der Konstitution geschlechtlicher Subjektivität (vgl. Hauskeller 2000, S. 115; Reckwitz 2008, S. 84). In diesem Zusammenhang analysiert Butler das cartesianische Modell von Subjektivität als Ausdruck und Form der Macht (vgl. Lorey 1996, S. 91 f.). Die Anerkennung eines kohärenten Subjekts mit einem festen Wesenskern ist Butler zufolge weniger eine Beschreibung der Wirklichkeit, als vielmehr Folge einer normativen Regulierung. Die reelle Wirkungsmacht der cartesianischen Subjektivitätsthese ist somit Ausdruck eines hegemonialen Diskurses (vgl. Butler 1991, S. 37 f.; Lorey 1996, S. 91, 93). Denn durch die Vorstellung eines Subjekts mit einem unveränderlichen Wesenskern wird zugleich auch die Idee einer ein für allemal gegebenen geschlechtlichen Identität (gender) sowie einer angeborenen geschlechtlichen Orientierung stabilisiert. Philosophisch bauen diese Überlegungen auf Nietzsche auf. In dessen Zurückweisung des cartesianischen Subjektmodells und der damit verbundenen Kritik am metaphysischen Substanzbegriff sieht Butler die Voraussetzung auch für die Dekonstruktion der Idee einer natürlich gegebenen, intelligiblen Form geschlechtlicher Identität: „Die Forderung, die Kategorie der Geschlechtsidentität außerhalb der Metaphysik der Substanz neu zu überdenken, muß auch die Tragweite von Nietzsches These in Betracht ziehen, daß es kein Seiendes hinter dem Tun gibt, daß die ‚Täter‘ also bloß eine Fiktion, die Tat dagegen alles ist“ (Butler 1991, S. 49; vgl. JGB, 17, KSA 5, S. 30 f.). Nietzsches These von der sprachlichen Bedingtheit allen Sprechens und Handelns sowie seine Kritik an metaphysischen Begriffen wie Substanz, ‚Ding an sich‘ oder ‚objektive Erkenntnis‘ (vgl. GM III 12, KSA 5, S. 264) prägen also grundlegend Butlers Kritik am identitätsstiftenden Diskurs fester Geschlechterrollen. Von Foucault übernimmt Butler die Auffassung, dass Subjekte immer Effekte performativer Techniken der Regulierung und der Selbstregulierung sind (vgl. Reck-
5.4 Macht und Widerstand: gender studies und governmentality studies
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witz 2008, S. 83 f.; Butler 1991, S. 16 f.). Für Foucault wie für Butler sind Subjekte hierbei nie rein autonom selbst erzeugt, sondern immer geschichtlich geworden und konstitutiv durch den Einfluss diskursiver Mächte geprägt (vgl.: Hauskeller 2000, S. 14). In diesem Sinne können sie auch nie vollständig aus der Macht heraustreten, bzw. Widerstand gegen Subjektivierung kann nicht in einer Befreiung von einer äußerlichen Macht bestehen, sondern vollzieht sich notwendig in den vorgegebenen Klassifikationen, Macht- und Möglichkeitsfeldern (vgl. MP, S. 93 f.; Bublitz 2002, S. 114; Kögler 2004, S. 148 f.). Widerstand gegen die geschlechtlichen Subjektformen lässt sich für Butler demzufolge nur ‚innerhalb der Macht‘ vollziehen (vgl. Hauskeller 2000, S. 255; Butler 1991, S. 213). Denn ein eigenmächtig-autonomer Ausbruch des Subjekts aus den Diskursen, durch die es selber hervorgebracht worden ist, stellt eine nicht aufzulösende Paradoxie dar. Jedoch bleibt dem Subjekt die Möglichkeit zum Hinterfragen und somit letztlich zur Veränderung jener herrschenden Diskurse. Eine solche Handlungsmöglichkeit sieht Butler in der Verschiebung von Bedeutungszuschreibungen, durch welche das geschlechtliche Subjekt konstituiert wird. Butler beruft sich hierbei auf die Sprechakttheorie Austins und Derridas sowie auf Althussers These der Interpellation (vgl. Reckwitz 2008, S. 89 f.; Butler 2001, S. 8; Austin 1975; zu Althusser 1977, S. 142). Das Subjekt wird demnach erzeugt und geformt, indem es von einer äußeren Instanz ‚angerufen‘ wird. In dieser Anrufung wird das, von dem gesprochen wird, erst performativ erschaffen. Butler folgt hierin außerdem Derrida in seiner These, derzufolge jedes performative Sprechen eine Zitation ohne Original ist (vgl. Butler 1991, S. 203 f.; Derrida 1999, 1983; Reckwitz 2008, S. 89 f.). Dementsprechend greift man beim Sprechen nicht auf ein bereits bestehendes Original zurück. Vielmehr findet sich in jedem Zeichensystem eine Zitation eines zeitlich vorgängigen Elements, welches wiederum selbst kein ein für alle Mal Gegebenes ist, sondern in dem Akt der Zitation selbst der Veränderung unterliegt. Für den Begriff des geschlechtlichen Subjekts bedeutet dies: Das Subjekt wird performativ, d. h. symbolisch-diskursiv hervorgebracht, indem durch eine beständige Wiederholung der Geschlechterordnung eine feste Person im Sinne einer Geschlechtsidentität (gender), einem natürlichen Geschlecht (sex) und einer Orientierung des Begehrens (desire) konstruiert wird (vgl. Butler 1991, S. 203; Reckwitz 2008, S. 84, 90 f.). Hierdurch entsteht erst der Eindruck jener natürlich gegebenen Geschlechtlichkeit und sexuellen Orientierung. Als bestes Beispiel für eine mögliche Verschiebung dieser Normen wählt Butler die Parodie. Denn hierin wird offenbar, dass (im Sinne Derridas) die geschlechtliche Identität nicht auf einem Original, sondern auf einer fortwährenden ‚Zitation ohne Original‘ beruht. So vollzieht sich etwa in der Travestie eine Parodie auf festgelegte Geschlechterrollen bzw. einer geschlechtlich bestimmten Identität: „Indem die Travestie die Geschlechtsidentität imitiert, offenbart sie implizit die Imitationsstruktur der Geschlechteridentität als solcher“ (Butler 1991, S. 202; vgl. Butler 1991, S. 201). Wenn also erkannt ist, dass Geschlechteridentitäten auf Imitation eines bereits Imitierten,
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d. h. letztlich auf Konstruktionen, beruhen, so eröffnet die Parodie in diesem Sinne die Möglichkeit einer Transformation und Verschiebung dieser Identitäten: Obgleich die Bedeutungen der Geschlechtsidentität (gender meanings), die diese parodistischen Stile aufgreifen, eindeutig zur hegemonialen frauenverachtenden Kultur gehören, werden sie durch ihre parodistische Re-Kontextualisierung entnaturalisiert und in Bewegung gebracht (Butler 1991, S. 203).⁹
Für Butler, wie für die governmentality studies verläuft also Widerstand über die Dekonstruktion und die Zurückweisung des cartesianischen Modells von Subjektivität. Wird also mit der metaphysischen Idee der Substanz auch die cartesianische Vorstellung vom Ich als ‚autonomes und ursächliches Subjekt‘ obsolet, so kann, hinsichtlich der Geschlechterrollen, aber auch in Bezug auf den Diskurs des neoliberalen Kapitalismus gesagt werden: Die foucaultsche und nietzscheanische Auflösung einer festen und ursprünglichen Subjektivität ist auch ein subversives Programm, werden hiermit doch ebenso diejenigen Macht- und Herrschaftsgebilde in Frage gestellt und geschwächt, die auf ‚Eigenverantwortlichkeit‘, ‚Selbstbestimmtheit im Handeln‘ und einem ‚ursächlichen Wesenskern‘ aufbauen. Jedoch ist in der Auseinandersetzung mit Nietzsche und Foucault auch deutlich geworden, dass neben dieser Methode der Subjekt-Dekonstruktion auch aktive, vom Einzelnen selber ausgehende Weisen der Individualisierung bestehen, die über den Begriff der Kritik bei Butler und bei den governmentality studies hinausreichen. Foucault und Nietzsche bieten weitaus breitere Möglichkeiten der Selbstkonstitution und des Widerstands gegen eine aufgezwungene Subjektform an. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass beiden ein komplexeres Machtmodell zur Verfügung steht und beide hierauf aufbauend vielschichtigere Formen der Subjektwerdung erarbeitet haben. Butler führt Subjektivität auf sprachlich-diskursive Machtvollzüge zurück und kann somit auch Widerstand nur innerhalb eines sprachlich-performativen Rahmens denken (vgl. Hauskeller 2000, S. 152). Foucault hingegen denkt Subjektivität erstens diskursiv im Sinne eines Effekts humanwissenschaftlicher Wissensdispositive (vgl. OD, S. 462), zweitens als Produkt isolierender und disziplinierender Praktiken (vgl. ÜS) sowie schließlich drittens als autonome Selbstwerdung aufgrund asketischer Selbstsorgetechniken (vgl. SW, II; SW III; RS; vgl. Ruoff 2007, S. 201; WA, S. 52). Insofern bei Foucault die Subjekte auch nicht-
Auch diese Überlegungen decken sich weitestgehend mit Nietzsches Thesen. Dessen Analyse vom ‚flüssigen Sinn‘ ergibt, dass menschliche Sinn- und Normgebungen als Resultat miteinander konkurrierender und um Vorherrschaft kämpfender dynamischer Willen-zur-Macht-Quanta erkannt werden. In diesem von Nietzsche als „Zeichen-Kette“ (GM, II, 12, KSA 5, S. 314) beschriebenen Interpretationsgeschehen ersetzt jede Interpretation nur eine andere, ohne dass es ein Original bzw. eine ursprüngliche Wirklichkeit oder einen wahren Sinn gäbe (vgl. Stegmaier 1994, S: 151 f.; S. 208; Abel 1998, S. 173).
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diskursiv, leiblich und aktiver an der eigenen Subjektwerdung mitgestalten, kann sich Widerstand ebenfalls breiter und vielfältiger entwickeln (vgl. Hauskeller 2000, S. 254). Auch bei Nietzsche wird die Subjektkonstitution nicht nur monokausal über sprachliche Regelungen erfasst (vgl. JGB 17, KSA 5, S. 30 f.), sondern auch über philosophische Irrtümer (vgl. GD Irrthümer 3, KSA 6, S. 90 f.), über zivilisatorische Repression (vgl. GM II 4– 23, KSA 5, S. 297– 335) oder religiöse Denksysteme und asketische Praktiken (vgl. GM III 7– 22, KSA 5, S. 349 – 392). Darüber hinaus bieten Foucault und – so die These der vorliegenden Arbeit – auch Nietzsche Techniken der Selbstsorge an, welche eine autonome Selbsteroberung möglich machen. So wird zwar die Kritik am cartesianischen autonomen Subjekt mit aufgenommen, ohne hierbei jedoch, wie Butler, in einer bloßen Verschiebung der Bedeutungen von Normzuschreibungen zu verharren (vgl. SW II, S. 39 ff.; EH klug 1– 10, KSA 6, S. 278 – 297). Die aktive Arbeit an sich selbst, die darin besteht, sich zu einem autonomen und selbstbestimmten Individuum zu machen, ist mehr als nur die negative Dekonstruktion bestimmter Subjekformen ‚von innen‘ heraus: „Dieses kreative Moment, das mit der Subjektwerdung angesprochen ist, gerät bei der dekonstruktiven Kritik an Subjektkonzeptionen zu sehr in den Hintergrund“ (Lorey 1996, S. 155; vgl. Bublitz 2002, S. 113 f.; Hauskeller 2000, S. 254; Ruoff 2007, S. 205). Sucht man innerhalb der gender studies nach einer Position, welche diese Kritik an Butler mit aufnimmt, so wird man bei Rosi Braidotti (Braidotti 1994; 2006) fündig. Braidotti integriert in ihrer kritischen Untersuchung zur Konstitution weiblicher Identität die Elemente des Körpers sowie des Embodiments in eine Theorie materialistischer Subjektivität. Sie betont in diesem Zusammenhang auch die Nähe zu Foucaults später Philosophie der Subjektivität und der Selbstsorge und weist darauf hin, dass in einer materialistisch verstandenen Auffassung von Subjektivität auch Möglichkeiten der Eigenermächtigung für weibliche Subjekte bereitstehen: In other words, what lies in the heart oft he redefintion of gender as the technology of the self is he notion of the politics of subjectivity. This has a twofold sense: it refers both to the constituition of identities and to the acquisition of subjectivity, meant as forms of empowerment or entitlements to certain practices (Braidotti 1994, S. 99).
In Braidottis Geschlechtertheorie wird also die symbolisch-performative Ebene Butlers durch eine praktisch-materielle Ebene ergänzt: „The acquisition of subjectivity is therefore a process of material (institutional) and discursive (symbolic) practices“ (Braidotti 1994, S. 99, vgl. Braidotti 1994 S. 103). Neben den performativ-symbolischen Momenten in der Konstitution weiblicher Subjektivität werden nun also auch konkrete und alltägliche Praktiken beschrieben, welche ebenso identitätsstiftend auf weibliche Formen von Subjektivität wirken: „They are radically materialistic in that they stress the concrete, ‚situated‘ conditions that structure subjectivity“ (Braidotti 1994, S. 98 f.). Ohne hierbei in einen Essentialismus in Bezug auf den Körper zurückzufallen, stellt Braidotti die körperlich-materielle Ebene zwar als konstruiert, aber nicht als unveränderbar vor:
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The subject is not an abstract entity, but rather a material embodied one. The body is not a natural thing; on the contrary, it is a culturally coded sozialized entity (…) the embodied subject is neither an essence nor a biological destiny, but rather one’s primary location in the world, one’s situation in reality. The emphasis on embodiment, that is, the situated nature of subjectivity, allows feminists to elaborate strategies of subversion of cultural codes (Braidotti 1994, S. 238; vgl. Braidotti 2006, S. 201, 203).
Subjektivität wird also nicht bloß, wie bei Butler, auf diskursiv-theoretischer, sondern auch auf praktisch-situativer Ebene als veränderbar beschrieben. Die Aufgabe feministischer Theoriebildung besteht somit für Braidotti in der Eigenermächtigung weiblicher Subjekte nicht nur hinsichtlich symbolisch-performativer, sondern auch bezüglich gesellschaftspolitischer Prozesse: „In my opinion, feminism ist the question – the empowerment of female subjectivity in the political, epistimological, and experiential sense is the answer. By empowerment, I mean both positive affirmation (theoretical) and concrete enactment (social, juridical, political)“ (Braidotti 1994, S. 237). In diesem Sinne kann, Bulter miteinbeziehend, aber auch über sie hinausweisend, eine kritisch-feministische Theorie sowohl mit Nietzsches epistemologischer und zivilisationskritisch motivierter Dekonstruktion des Subjekts (vgl. Lemm 2015, S. 61) als auch mit Foucaults Vorschlägen zu einer asketisch-praktischen Selbstwerdung verknüpft werden. Eine solche autonome Selbstgestaltung soll zuletzt auch mit der These des unternehmerischen Selbst in Verbindung gebracht werden. In diesem Sinne soll am Schluss der Arbeit das Modell souveräner Individualität, wie es in Auseinandersetzung mit dem späten Nietzsche herausgearbeitet worden ist, der These vom erschöpften Selbst entgegengestellt werden, welche gewissermaßen die theoretische Pointe zu den kritischen Arbeiten der governmentality studies darstellt.
5.5 Depressives Selbst vs. souveränes Individuum Alain Ehrenberg deutet Depressions- und Suchterkrankungen als „die Vorder- und Rückseite des souveränen Individuums“ (Ehrenberg 2004, S. 277). Sucht ist für ihn also die Konsequenz eines Subjektiviertseins, welches durch die Forderung eines ständigen Herr-Seins über sein eigenes Leben bestimmt ist. Das Sich-Hingeben in die Sucht ist gleichbedeutend mit der Aufgabe dieser Autonomie. Dem kann Nietzsches Idee vom ‚Ein- und Aushängen‘ der Affekte entgegengestellt werden (vgl. GM III 12, KSA 5, S. 364). Im nietzscheanischen Konzept von Freiheit wird diese nicht als vollkommene Autonomie im Handeln im Sinne einer Wahlfreiheit verstanden, sondern Freiheit wird mit der Idee der Notwendigkeit und des Individualisiertseins zusammen gedacht (vgl. JGB 6, KSA 5, S. 19 ff.). Autonomie lässt sich nur darüber herstellen, Herr über seine Triebe und Affekte zu werden, da die Idee des autonomen Subjekts und das damit zusammenhängende Konzept der Freiheit des Willens ersetzt wird durch die Vorstellung einer Pluralität von Kräften, welche sich in
5.5 Depressives Selbst vs. souveränes Individuum
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einer Handlung entladen, und zu denen der freie Wille nur nachträglich hinzugedacht worden ist (vgl. NL 1884, KSA 11, 25[185], S. 64; Abel 1998, S. 99 f.).¹⁰ Das ‚Ein und Aushängen‘ der Affekte wird bei Nietzsche über asketische Selbstpraktiken vollzogen, die sich an den antiken Techniken der Selbstsorge orientieren und über den Vergleich mit Foucaults Untersuchungen zur Selbstsorge beschrieben worden sind.¹¹ Auf diese Weise ist folgendes Bild nietzscheanischer Autonomie und Selbstkonstitution entstanden: Aufbauend auf praktischen Selbstsorgepraktiken (Diät, Achtsamkeit für Ort und Klima, bewusste Erholung) gelingt eine relative Kontrolle über seine Bedürfnisse und hiermit über die Rangfolge der Triebe zueinander, welche sowohl den wechselhaften und dynamischen Kern der eigenen Identität als auch den unseres Handelns bilden (vgl. MA I 32, KSA 2, S. 51 f.; JGB 6, 19 KSA 5, S. 19 ff., 31 ff.). Da menschliches Handeln für Nietzsche immer nur Folge einer Explosion von notwendig nach Auflösung strebenden Kräften sein kann, so kann auch Autonomie nicht im Handeln selbst ansetzen, sondern nur in der Stellung und Reihenfolge, die die Triebe zueinander haben, da es diese Reihenfolge ist, die jenes Handeln am Ende auslöst. Indem einzelne Triebe über Askese geschwächt werden, können sie anderen untergeordnet werden, bis in einer Hierarchie der Triebe und Affekte die Macht einzelner Antriebe einem dominierenden Instinkt ein- und untergeordnet werden können (vgl. GM II 1, 2, KSA 5, S. 291– 294; GM III 8 KSA, S. 351 ff.). Bei Ehrenberg vollzieht das süchtige Individuum den Zugang zu sich selbst im Modus des Verfallen-Seins. Nietzsche hingegen propagiert das Bild eines souveränen Individuums, welches Herrscher über seine Affekte ist, d. h. welchem es gelingt, sich etwas hinzugeben, ohne ihm dabei zu verfallen, also ohne von ihm beherrscht zu werden: „Seine Affekte (…) willkürlich haben und nicht haben, (…) man muss nämlich ihre Dummheit so gut wie ihr Feuer zu nützen wissen“ (JGB 284, KSA 5, S. 231). Die Suchterkrankung im ehrenbergschen Sinne ist die Aufgabe der Eigenverantwortung, d. h. ein Sich-Hingeben an einen Trieb oder ein Verlangen. Dies ist die Reaktion des überforderten Einzelnen auf die ständig an ihn herangetragene Forderung nach Eigeninitiative. Nietzsches Programm der Souveränität durch Affektkontrolle kann als ein Gegenprojekt hierzu gelesen werden: Bei Nietzsche zeigt sich, dass Freiheit nicht darin besteht, einen Trieb zu beherrschen oder zu unterdrücken, sondern vielmehr darin, die einzelnen Triebe und Affekte zu relativieren, indem man sie in eine Hierarchie und Rangordnung der Triebe ein- und unterordnet. Triebe sollen also nicht einfach asketisch unterdrückt werden, sondern periodisch ein- und ausgesetzt, ‚ein- und ausgehangen‘ werden (vgl. GM III 12, KSA 5, S. 364; JGB 6, KSA 5, S. 20).
Vgl. zu einer genaueren Untersuchung der Problematik von Freiheit und Affektkontrolle: Kapitel 3.5 der vorliegenden Arbeit. Vgl. hierzu Kapitel 4 dieser Arbeit.
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Das depressive Individuum bei Ehrenberg scheitert an dem permanent an ihn gestellten Imperativ der Selbstverwirklichung sowie an der hiermit verbundenen Vorstellung vom Menschen als autonomes Subjekt seiner Handlungen. Ehrenberg macht darauf aufmerksam, dass die Depression als Ergebnis der Spannung zwischen diesem Imperativ nach Eigeninitiative einerseits und der unumgehbaren Existenz des Unbeherrschbaren anderseits zu verstehen ist (vgl. Ehrenberg 2004, S. 275). Nietzsche geht umgekehrt zunächst von einer grundsätzlichen Notwendigkeit allen Handelns aus. ‚Bewusstes Handeln‘ drückt für ihn in Wirklichkeit die notwendige Explosion von Kräften aus. Freiheit wird hierbei dadurch bestimmt, dass die notwendig nach Entladung strebenden Kräfte über Askese in eine selbstbestimmte Rangfolge integriert werden. Bei Nietzsche ist also die Notwendigkeit kein Einwand gegen die Freiheit, sondern vielmehr integraler Bestandteil derselben: Die Künstler (…), die nur zu gut wissen, dass gerade dann, wo sie Nichts mehr ‚willkürlich‘ und Alles nothwendig machen, ihr Gefühl von Freiheit, Feinheit, Vollmacht, von schöpferischem Setzen,Verfügen, Gestalten auf seine Höhe kommt, – kurz, dass Nothwendigkeit und ‚Freiheit des Willens‘ dann bei ihnen Eins sind (JGB 213, KSA 5, S. 148).
Aus Nietzsches Sicht ist man gerade dann frei, wenn man die Kraft seiner Affekte für sich einzuspannen weiß, wenn also die Pluralität der Kräfte zu „[e]inem Ziele unbedenklich in’s Joch gespannt“ (NL 1887, KSA 12, 9[119] (78), S. 404) ist.¹² Erst wenn man die Vorstellung eines autonomen, vernunftbetonten Ichs als Zentrum der Person aufgibt, also dann, wenn man sich bis zu einem gewissen Grad von der Vorstellung verabschiedet, man selbst sei alleinige Ursache seines Handelns, kann sich ein Gefühl von Freiheit einstellen. Wie gezeigt worden ist, hat auch der späte Foucault das Bild einer auf Notwendigkeit fußenden Autonomie entworfen. Dieses orientiert sich an der antiken Philosophie der Selbstsorge. Über askesis soll es dem Individuum möglich werden, Lehrsätze und Maximen in sich soweit zu etablieren, dass sie eine Struktur (paraskeue) ergeben, nach welcher das Individuum so automatisch zu handeln lernt, dass es diese Struktur als seinen Willen ausnimmt (vgl. HS, S. 400 f.). Ehrenberg beschreibt, wie das Individuum anhaltend damit belastet wird, dass es sich bei seinem Handeln als autonomes Subjekt begreifen soll und somit auf jeder Handlung das Gewicht der freien Wahl liegt. Foucaults und auch Nietzsches Idee von Freiheit gehen hingegen stärker vom Individuum selbst aus, das heißt Autonomie wird danach bemessen, inwieweit es gelingt, sich von sich aus als Subjekt zu konstituieren und dieser Subjektivität ent-
Die nietzscheanische Vorstellung von Freiheit ist also als Mächtigkeit zu verstehen. Interpretiert man Autonomie in diesem Sinne als Herrschaft über sich, so stellt auch das Einbeziehen der Notwendigkeit in dieses Freiheitskonzept keinen Widerspruch mehr dar, weil Autonomie nicht mehr im Handeln oder in der Wahlfreiheit liegt, sondern an einen souveränen Umgang mit den Grundlagen der Person und des Handelns gebunden ist.
5.5 Depressives Selbst vs. souveränes Individuum
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sprechend zu handeln. Wenn sich das Individuum im künstlerischen Sinne als autonomes Subjekt erschafft, also die Rang- und Reihenfolge seiner inneren Affekte und Glaubenssätze bestimmt, dann werden auch die hierauf fußenden Handlungen in der Welt als autonom empfunden. Das heißt, das, was gleichsam auf fließende und notwendige Weise geschieht, verschmilzt so sehr mit dem eigenen Willen, dass ein Unterschied zwischen Wollen und Gehorchen nicht mehr festzustellen ist (vgl. JGB 213, KSA 5, S. 148; HS, S. 397). Man gehorcht also seinem Gewissen, dessen Grundsätze man jedoch zuvor in einem asketischen Prozess der Rückkehr zu sich selbst konstituiert hat. Diese Art der Freiheit ist jedoch keine Schein-Freiheit, welche unter dem Deckmantel der Autonomie eine viel größere Unfreiheit verbirgt. Hiermit ist also keine äußere Anrufung des Individuums als autonomes Subjekt und somit keine ökonomische Auswertbarkeit nach dem Modell des homo oeconomicus gemeint. Eine solche Form der Autonomie der Autonomie geht vielmehr auf Praktiken des Selbst zurück, welche vom Individuum selbst ausgehen. Freiheit in diesem Sinne verläuft also nicht primär anhand der Kategorien von Handlungsfähigkeit und Handlungsunfähigkeit, welche von außen an den Einzelnen herangetragen werden, sondern vielmehr anhand der Frage, inwieweit es gelingt, die eigene Subjektiviertheit und das eigene Handeln auf selbstbestimmte Grundsätze zurückzuführen. Diese nietzscheanisch-foucaultsche Idee von Freiheit gehorcht also einer völlig anderen Dialektik von Autonomie und Unbeherrschbarkeit als das ehrenbergsche depressive Individuum. Scheitert letzteres an der falschen Einschätzung von Autonomie und Notwendigkeit, so entwickelt das nietzschanisch-foucaultsche Individuum ein souveränes und ausgewogenes Zusammenspiel von Freiheit und Unbeherrschbarkeit, welches die eigene Begrenztheit miteinbezieht, und somit weniger der Gefahr des Umsturzes in das Gegenteil von Freiheit, nämlich der totalen Handlungsunfähigkeit, ausgesetzt ist. Handlungsfähigkeit kann daher nicht wiederhergestellt werden, indem man sich auf abstrakte Begriffe von Verantwortlichkeit und Handlungsautonomie beruft, da es genau jene Begriffe waren, die im Individuum die Sucht, die Depression und die Handlungsunfähigkeit erzeugt haben. Das Individuum kann demnach paradoxerweise nur dann einer wirklichen Autonomie zugeführt werden, indem gerade eine grundsätzliche Notwendigkeit im menschlichen Handeln akzeptiert wird. Jenem umfassenden Prozess der gesellschaftlichen Individualisierung, der mit der inflationären Forderung nach Eigenverantwortlichkeit und Autonomie einhergeht, kann also dadurch begegnet werden, dass die cartesianische Vorstellung vom ‚autonomen Subjekt‘ dekonstruiert und aufgelöst wird zugunsten eines Begriffs von autonomer Individualität, der auch seine scheinbaren Gegensätze – Notwendigkeit, Pluralität, Werden – in sich aufnimmt, und es auf diese Weise ermöglicht, auch positive Gegenentwürfe für ein selbstbestimmtes Handeln zu ermöglichen. Der Tendenz, die eigene Autonomie als etwas Verwertbares und Marktförmiges zu begreifen, kann somit dadurch entgegengewirkt werden, dass man die Subjektform,
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die hiermit zusammenhängt, verändert, d. h. indem man sich selbst nicht mehr als allumfassend autonomes, ursächliches und für sein Handeln verantwortliches Subjekt begreift. Das Individuum, welches durch seine generelle ‚Offenheit‘ und Eingebundenheit in die Welt in seiner Subjekform auch von der gesellschaftlichen Organisationsform beeinflusst wird, kann umgekehrt über eine autonome Selbstgestaltung auch auf gesellschaftspolitische Prozesse zurückwirken. Ein solchermaßen souveränes und selbstbestimmtes Individuum ist somit auch stärker zur demokratischen Partizipation, also zur Eigenverantwortlichkeit und Mitbestimmung fähig. Ehrenberg hingegen hatte das depressive Subjekt noch als Opfer gerade jener demokratischen Forderung nach Mitbestimmung und Engagement betrachtet, welche sich in das ökonomische Credo der Eigeninitiative einreiht und somit umgekehrt dazu beiträgt, gerade ein handlungsunfähiges, depressives Selbst herauszubilden (vgl. Ehrenberg 2004, S. 9 ff.). Das nietzscheanische souveräne Individuum ist somit auch ein Faktor in einem möglichen Prozess wirklicher demokratischer Selbstermächtigung.
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Index Der Index führt nur diejenigen Personen und Begriffe auf, die besonders häufig zitiert werden bzw. für die Studie von besonderer Bedeutung sind. Abel, Günter 4, 17–19, 21, 79, 83, 86–88, 100, 102 f., 171–174, 181, 187, 254, 257 Acampora, Christa Davis 1, 3, 36, 42, 51, 57, 63 f., 68, 75, 77, 81, 88 Affekt 20, 101 f., 105, 205 Althusser, Louis 2, 14–16, 22, 26 f., 241, 243, 247, 253 Amor fati 3–5, 41, 55 f., 58, 63 f., 67, 71–89, 97, 99, 106, 123, 127, 140, 146, 150 f., 153 f., 156, 159 f., 167, 186 f., 228, 230 f., 233 Askese, asketisch 23, 46, 56, 64, 104 f., 114 f., 119, 121, 127, 133 f., 149 f., 153, 162 f., 172, 174, 183, 188, 190, 193, 195, 211 f., 217, 231, 235 f., 241, 256–258 Ästhetik der Existenz 32, 112, 130, 134, 138 f., 163, 188 Autonomie 2, 5 f., 10, 16, 22 f., 34–37, 41, 51, 58, 62, 64, 67, 76 f., 83, 91, 104, 113, 117, 130, 137, 157, 162, 164, 174, 177, 182, 200, 202, 217, 219, 238, 240–247, 249 f., 252, 256–259 Bewusstsein 2, 7–9, 17, 20–22, 26, 37–39, 43 f., 50 f., 104, 178, 189, 205, 230, 233 Braidotti, Rosi 95, 250, 255 f. Bröckling, Ulrich 5, 30 f., 122, 239, 242–244, 248, 251 Brusotti, Marco 1, 61, 72, 148, 169, 190 f., 229 Butler, Judith 23, 239, 252–256 Christentum 56, 92, 111, 121, 143, 151, 202, 207, 209, 211, 216, 227 Décadence 79, 180, 189–191, 195 Deleuze, Gilles 3, 33, 77, 89–96, 98, 100, 103, 106, 108, 135, 212 Derrida, Jacques 69–72, 140 f., 185, 253 Descartes, René 2, 7 f., 10, 16 f., 20 Diätetik, diätetisch 4, 161–163, 176 f., 182, 196 f. Disziplinarmacht 2, 25, 27, 209, 221 f., 245 f.
https://doi.org/10.1515/9783110603316-008
Ehrenberg, Alain 5, 245 f., 248 f., 256–258, 260 eigentlicher Philosoph, neuer Philosoph, zukünftiger Philosoph 17, 65 f., 68, 71, 104, 120, 127, 136, 145, 185, 204, 216, 232, 235 f. Epiktet 113, 118 f., 159, 176 f. Epikur 195 Epikureismus 192–194 erinnern, das Erinnern 2, 36 f., 39–48, 77, 80, 101, 167 f., 175, 220 Ernährung 4, 38, 162 f., 165 f., 169 f., 172, 175– 182, 184, 186–188, 192, 194 f., 203, 236 Ethik 4, 33, 35, 51, 53 f., 111 f., 114, 121, 188, 198 f., 201, 206–209, 217, 233 ewige Wiederkehr 3, 58, 71–89, 98 f., 134, 140, 142, 149 f., 152–157, 159 f., 186, 228, 232 f. ewige Wiederkunft 72, 78 f., 98, 159, 232 Fichte, Johann Gottlieb
2, 7 f., 10, 12, 16, 20
Gemes, Ken 1, 59–61, 91, 104 Gender studies 6, 239, 250, 255 Gesundheit, große Gesundheit 28, 38, 43, 142, 151–153, 156, 161, 163–166, 176, 179– 182, 187, 189, 191, 197, 214, 250 Gewissen, – intellektuelles, – schlechtes 2, 5, 23, 26, 35, 37, 48 f., 65, 89, 104, 183, 203, 212, 215, 217–237, 259 Goethe von, Johann Wolfgang 55 f., 81 Gouvernementalität 2, 29–32, 120, 129, 209, 213, 216 f., 243, 246, 249–251 Governmentality studies 5, 15 f., 237, 239, 241–245, 249–251, 254, 256 Hatab, Lawrence 1, 3, 36, 41–43, 54, 63, 75, 83, 85 f., 88, 219 Heidegger, Martin 2, 11 f., 94, 134 Herrschaft 5, 19, 26, 28, 32, 36, 46, 49, 59– 61, 63 f., 72 f., 77, 83, 88, 91, 101, 104 f., 110, 112, 114, 118, 129, 137, 167, 176, 190, 194, 207, 222, 225, 230, 233, 258
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Index
Idealismus 7 f., 10, 12 f., 17 f., 20, 179 Individualität 1–5, 10, 14, 16 f., 20, 22, 27, 32– 36, 42, 44, 46, 51, 53–56, 59 f., 62–67, 69, 71, 73 f., 76, 78, 84, 88 f., 93 f., 96 f., 99, 103, 105 f., 132–134, 142, 146 f., 149 f., 153, 155 f., 160 f., 163 f., 169, 173, 181, 190 f., 193 f., 210, 212, 234, 236, 239, 248 f., 256, 259 Individuum, das souveräne 1, 3–5, 11, 20 f., 23 f., 33, 35–37, 40 f., 43 f., 49–53, 55–59, 63–70, 73–77, 79–81, 84 f., 87–91, 97, 103, 106, 135, 162, 166 f., 172 f., 178, 194, 199– 201, 227, 229–234, 236, 249, 256 Instinkt 5, 23, 49, 59–61, 91, 97, 104 f., 147, 164, 168, 175, 183, 187, 189, 191, 193, 230–234, 257 Janaway, Christopher
1, 99, 101, 103, 105
Kant, Immanuel 7–11, 17–19, 61, 67 Kierkegaard, Sören 2, 10–12 Klima 135, 153, 165, 177–179, 181 f., 186, 188, 190, 192, 257 Kultur, kulturell 2, 24, 37 f., 44 f., 47 f., 50, 108, 113, 118, 124, 131, 162, 164, 176, 179, 205, 210, 225, 241, 246, 254 Leib, Leiblichkeit 20 f., 34, 165, 170, 173, 175, 201, 212 Lemm, Vanessa 1, 29 f., 32, 37, 39 f., 43–49, 95, 171, 182, 197 f., 249 f., 256 Loeb, Paul S. 1, 3, 77, 79 f., 84 Marx, Karl 2, 13 May, Simon 3, 82 Muhle, Maria 28 f., 31 f., 110, 137 Müller-Lauter, Wolfgang 18, 170–173, 181, 187 Mut zur Wahrheit 25, 118, 136, 140 f., 156 f., 160, 169, 235 Natur 2, 14, 23 f., 30, 37 f., 44–49, 54, 94, 100, 108, 191, 197, 204, 225, 234 Nihilismus, nihilistisch 73, 124, 143, 145, 149, 151, 195, 200 Notwendigkeit 3, 20 f., 38, 57 f., 61, 74 f., 77, 82 f., 85–88, 98, 116, 120, 128, 144, 160, 162, 175, 187, 194, 198, 201, 251, 256, 258 f.
Organismus 169–174, 181 f., 187 Owen, David 3, 51, 77–79, 219, 232 Parrhesia 128 Pastoralmacht, Pastorat 5, 108, 110, 117, 120, 162, 209–214, 217, 224, 234 f. Rationalismus 7, 18, 20 Reckwitz, Andreas 2, 5, 7, 14, 16, 30, 34, 107, 110, 113, 122, 131, 239, 242, 245, 247 f., 252 f. Redlichkeit 225–227 Ressentiment 22, 43, 46, 49, 89, 165, 169, 190, 206, 232 Saar, Martin 111, 113 f., 117, 122 f., 130, 133– 135, 137, 161 f., 183 Schmid, Wilhelm 33, 108, 115, 118–120, 122, 133 f., 136, 153 f., 156, 162 Seele 11 f., 17, 23, 26, 39, 53, 59 f., 70, 99, 114, 127, 163, 165, 173, 178, 187, 196, 211, 213, 218 f., 221 f., 225, 235 Selbstsorge, Sorge um sich 1 f., 4, 25, 32, 34 f., 39, 56, 66, 76, 104, 106–110, 113– 118, 120–122, 125, 127 f., 131, 133–135, 137, 139, 147, 150 f., 153 f., 156 f., 160–164, 168, 170–173, 176 f., 179–181, 187, 189, 191, 195 f., 198, 202 f., 206 f., 209, 230 f., 235 f., 244 f., 255, 257 f. Selbstwerdung 10 f., 33–35, 66, 69 f., 74–76, 85, 136, 140, 178, 181, 198, 201 f., 217, 219, 233, 244, 249, 254, 256 Seneca, Lucius Annaeus 113, 118, 127, 157, 159, 177, 236 Sexualität 25, 31 f., 107, 110–112, 162, 213, 225 Siemens, Herrmann 1, 173 f. Sittlichkeit der Sitte 2 f., 33, 36, 41–43, 46 f., 50 f., 53, 56, 62 f., 65 f., 77, 81, 101, 199, 206, 208, 216, 220, 223, 230, 232 f., 237 Sokrates 108, 118, 129, 157, 175, 191 f., 194, 202, 206 f. Sommer, Andreas Urs 69, 159, 161, 165, 168, 178 f., 183, 185, 189 f., 192 f., 197 Souveränität 1, 22, 29, 36, 41, 48, 51, 56, 60, 64, 67, 74, 76 f., 87, 91, 99, 104, 110 f., 115, 126–128, 137, 146 f., 150, 157–162, 167 f., 174, 176, 185 f., 188, 191, 195, 210, 233, 257
Index
Stegmaier, Werner 5, 18, 23, 50, 219 f., 223 f., 226, 230, 232 f., 237, 254 Steinmann, Michael 3, 5, 38, 42, 51–55, 57 f., 73, 201 f., 205–207, 228, 234 Stirner, Max 2, 12 f., 17 Stoffwechsel 178, 189 Stoizismus 34, 113 f., 155, 159, 176 f., 192, 194 f., 227 Subjekt, das autonome 1, 22, 26, 29, 61, 117, 122, 130, 170, 194, 223 f., 238, 243, 256 Subjektivität 1 f., 4 f., 10 f., 14–16, 23, 25 f., 30, 32–35, 50, 52, 54, 76 f., 95, 100, 104, 107– 112, 117, 122, 130–134, 137 f., 140 f., 146 f., 149 f., 157, 174, 196 f., 206, 209, 213, 218, 220, 222 f., 237, 239 f., 243, 246, 248, 251 f., 254–256, 258 Trieb
59, 101, 148, 194, 257
Umkehr zu einem selber 114 f., 162, 188, 191 Umwertung der Werte 50, 53, 63, 66–69, 74 f., 119, 137–139, 148, 152, 158, 161, 187, 199– 201, 216, 232
Verinnerlichung, Verinnerlichung des Menschen 23, 48 f., 218 f. Vernunft 2, 11 f., 20–23, 25, 108, 116, 165, 175, 179, 189, 192, 194, 205, 231 f. Versprechen, das Versprechen 36 f., 40–42, 46 f., 50, 57–59, 62, 70 f., 73, 77, 80 f., 84, 91 f., 97, 103, 135, 178, 216, 219, 230, 232, 251 Wille zum Nichts 93, 96–99, 179, 212, 214, 226 Wille zum Wissen 25, 27, 32, 111, 224–226, 235 Wille zur Macht 3, 20, 49, 63, 66, 90, 93 f., 96, 100 f., 138, 170–172 Wille zur Wahrheit 66, 138, 148, 215 f., 225– 227, 229 Wille zur Wahrheit 224 Willensfreiheit 2 f., 5, 18–20, 22 f., 35–37, 54, 57, 59–63, 74, 76 f., 88, 91 f., 116, 163, 205, 224, 230 Zivilisation, Zivilisierung
Verantwortlichkeit 5, 22 f., 35, 48, 57–60, 63– 65, 67 f., 74, 77, 88, 134, 152, 197, 220, 223, 230, 232 f., 238, 246, 259 vergessen, das Vergessen 2, 36–46, 48, 58, 70, 75, 80, 90, 92, 165–168, 175
273
2, 44–51