Modulationen der Einsamkeit: Theorien der Ausnahme als Moralkritik bei Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche 9783495818190, 9783495488195


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Inhalt
Einleitung: Die These, philosophiegeschichtliche Konstellation, Forschungskontext, Methodik, Ausblick auf den Gedankengang
Teil I – Entwurf des Werkvergleichsmodells
I.1 Exemplarisches Denken mit Adornos Minima Moralia
I.1.1 Die Frage nach dem gelingenden Leben als Tertium comparationis
I.1.2 »Ausnahme« und »Einsamkeit«: Anti-Begriffe exemplarischen Denkens
I.1.3 Der »Einzelne« und der »Einsame« als Utopien gelingenden Lebens
I.2 Die Bedeutung der Ausnahmetheorie für das Werkganze Kierkegaards
I.2.1 Faktische Fassung
I.2.2 Normative Fassung
I.2.3 Religiöse Fassung
I.2.4 Ausnahmetheorie als nihilistische Moralkritik
I.3 Die Bedeutung der »Einsamkeitslehre« für das Werkganze Nietzsches
I.3.1 Einsamkeitslehre als nihilistische Moralkritik
I.3.1.1 Kommentierung von Moralisches Interregnum (§&ga;453 M)
I.3.1.2 Kommentierung von Ursprung der Erkenntniss (§&ga;110 FW)
I.3.1.3 Zusammenfassung und Rückbindung: das »höhere Selbst« (SE/MA I)
I.4 Zusammenführung von Ausnahmetheorie und Einsamkeitslehre
I.4.1 Isolation – faktische Ausnahmetheorie
I.4.1.1 Experimentalpsychologie und Ausnahmetheorie
I.4.1.2 Experimentalphilosophie und Einsamkeitslehre
I.4.2 Verlassenheit – normative Ausnahmetheorie
I.4.2.1 Verlassenheit I – Die Problematik der Mitteilung
I.4.2.2 Verlassenheit II – Der Typus Dichter
I.4.2.3 Verlassenheit III – Der Typus Morallehrer
I.4.2.4 Mitleid als Affekt der Verlassenheit
I.4.3 Einsamste Einsamkeit – religiöse Ausnahmetheorie
I.4.3.1 Der »Einzelne« als begrifflich unvermittelbare Aufhebung des Ausnahmetheorems
I.4.3.2 Der Zerfall der Isolation im »Einsamen«
I.4.4 Das Werksvergleichsmodell grafisch
I.4.4.1 Kierkegaard
I.4.4.2 Nietzsche
Teil II – Entwicklung des Werkvergleichsmodells
II.1 Isolation – faktische Ausnahmetheorie
II.1.1 Kierkegaards Fassungen des »ungewöhnlichen Menschen« (EO/WH/FZ)
II.1.2 Nietzsches Fassungen des »ungewöhnlichen Menschen« (SE/Z)
II.1.3 Stiftung und Umwertung des Allgemeinen durch die Ausnahme (SE)
II.1.3.1 Agon: Die Ausnahme und das Allgemeine (WH)
II.1.3.2 Die Ausnahme als Umwertungsautorität (WH)
II.1.4 Die unterschiedene Forderung der »Liebe« in der Ausnahme
II.1.4.1 Kierkegaard (EO)
II.1.4.2 Nietzsche (SE)
II.2 Verlassenheit – normative Ausnahmetheorie
II.2.1 Der Typus Dichter
II.2.1.1 Die prekäre Haltlosigkeit seines Anspruchs (WH/Z)
II.2.1.2 Durchgangsfigur exemplarischen Denkens (EO/WH/Z)
II.2.2 Die moralische Bedeutung der Vereinsamung
II.2.2.1 Kierkegaard (EO)
II.2.2.2 Nietzsche (SE/Z)
II.2.2.4 Zusammenfassung und Übergang
II.2.3 Einsamkeit und Bosheit
II.2.3.1 Die Wirklichkeit der Bosheit (FZ/M)
II.2.3.2 Die Voraussetzung des Guten (EC/SE)
II.2.4 Geist – Mensch – Einsamkeit
II.2.4.1 Die Pointe des Ethischen: die Verzahnung von Sinnlichkeit und Geist
II.2.4.1.1 Kierkegaard
II.2.4.1.2 Nietzsche
II.2.4.2 Zum Kontrast: Schopenhauers Metaphysik der Geschlechtsliebe
II.2.4.3 Zusammenfassung und Übergang
II.2.5 Der Typus Morallehrer
II.2.5.1 Die Ausreizung nihilistischer Moralkritik (mit Schopenhauer zum Kontrapunkt)
II.2.5.2. Die Haltlosigkeit seines Anspruchs
II.3 Einsamste Einsamkeit – religiöse Ausnahmetheorie
II.3.1 Das »Zeichen des Widerspruchs«
II.3.1.1 Die Aufforderung zur Tötung des »Einsamen« (Z)
II.3.1.2 Der Mord auf dem Gewissen (SL)
II.3.2 Zusammenfassung
Teil III – Erprobung des Werkvergleichsmodells
III.1 Die Bedeutung der Mitleidskritik für das Werkganze Kierkegaards und Nietzsches
III.1.1 Die vorläufige Mitleidskritik in Stadien
III.1.1.1 Mitleid gegen Mitleid (SL)
III.1.1.2 Kierkegaards anti-soziologische Vermittlung des eigenen Anspruchs (SL)
III.1.2 Nietzsches anti-soziologische Vermittlung des eigenen Anspruchs
III.1.2.1 Mitgefühls-Moral gegen Pathos der Distanz (GD)
III.1.2.2 Vom Wissen der Herdenmoral (JGB)
III.1.2.3 Der Leib als Gesellschaftsbau: Über die Grenzen des Begriffs »Wille« hinaus (JGB)
III.1.3 Zusammenfassung
III.2 Ausrichtung der Mitleidskritik an Schopenhauer
III.2.1 Ad Personam
III.2.2 Psychologisch
III.2.3 Substantiell
III.3 Die ›Liebe über dem Mitleiden‹
III.3.1 Die Umschaffung des Menschen (EC/Z/JGB)
III.3.2 Die Inversion des Mitleidsaffekts (EC/Z/JGB)
III.3.3 Das ›Rache-am-Zeugen‹-Motiv (FZ/EC/Z)
III.3.4 Zusammenfassung
Schluss: Ergebnisse und (selbst-)kritische Bemerkungen
Literatur
LV-Siglen/Primärtexte
Weitere Literatur:
Danksagung
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Modulationen der Einsamkeit: Theorien der Ausnahme als Moralkritik bei Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche
 9783495818190, 9783495488195

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Raphael Benjamin Rauh

Modulationen der Einsamkeit Theorien der Ausnahme als Moralkritik bei Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche

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ALBER THESEN

https://doi.org/10.5771/9783495818190

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Raphael Benjamin Rauh Modulationen der Einsamkeit

ALBER THESEN

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https://doi.org/10.5771/9783495818190 .

Das Buch stellt, inspiriert durch Theodor W. Adornos Minima Moralia, ein Werkvergleichsmodell vor, das Kierkegaards und Nietzsches Werk als Fragen nach dem gelingenden Leben perspektiviert, wobei der »Einzelne« Kierkegaards und der »Einsame« Nietzsches jenes Fragen utopisch erfüllen. Die von beiden Denkern entworfenen Theorien der Ausnahme, die aus Einsamkeit ihre vitalen Konturen beziehen, lassen sich strukturell verschränken und ermöglichen den systematischen Vergleich. Es kristallisiert sich eine nihilistische Moralkritik heraus, welcher Sachverhalt zuletzt an der Kritik einer auf Mitleid basierenden Moralphilosophie durchexerziert wird.

Der Autor: Raphael Benjamin Rauh hat nach dem Studium der Soziologie und Philosophie 2015 in Freiburg promoviert. Er hat als wissenschaftliche Hilfskraft an der Forschungsstelle »Nietzsche-Kommentar« (2012– 2014) und am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin (2011– 2015) gearbeitet, wo er seit Mai 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter ist.

https://doi.org/10.5771/9783495818190 .

Raphael Benjamin Rauh

Modulationen der Einsamkeit Theorien der Ausnahme als Moralkritik bei Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495818190 .

Alber-Reihe Thesen Band 65

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48819-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81819-0

https://doi.org/10.5771/9783495818190 .

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Die These, philosophiegeschichtliche Konstellation, Forschungskontext, Methodik, Ausblick auf den Gedankengang . . . . . . . . . . . . . . .

9

Teil I – Entwurf des Werkvergleichsmodells I.1

Exemplarisches Denken mit Adornos Minima Moralia .

I.1.1 Die Frage nach dem gelingenden Leben als Tertium comparationis . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.1.2 »Ausnahme« und »Einsamkeit«: Anti-Begriffe exemplarischen Denkens . . . . . . . . . I.1.3 Der »Einzelne« und der »Einsame« als Utopien gelingenden Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I.2

Die Bedeutung der Ausnahmetheorie für das Werkganze Kierkegaards . . . . . . . . . . . . . . . .

I.2.1 I.2.2 I.2.3 I.2.4

Faktische Fassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Normative Fassung . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse Fassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausnahmetheorie als nihilistische Moralkritik . . .

I.3

Die Bedeutung der »Einsamkeitslehre« für das Werkganze Nietzsches . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

I.3.1 Einsamkeitslehre als nihilistische Moralkritik . . . . . . I.3.1.1 Kommentierung von Moralisches Interregnum (§ 453 M) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Modulationen der Einsamkeit

25 25 29 36

38 41 43 47 48

51 56 58

A

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5

Inhalt

I.3.1.2 Kommentierung von Ursprung der Erkenntniss (§ 110 FW) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.3.1.3 Zusammenfassung und Rückbindung: das »höhere Selbst« (SE/MA I) . . . . . . . . .

I.4

Zusammenführung von Ausnahmetheorie und Einsamkeitslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I.4.1 Isolation – faktische Ausnahmetheorie . . . . . . . . . I.4.1.1 Experimentalpsychologie und Ausnahmetheorie . I.4.1.2 Experimentalphilosophie und Einsamkeitslehre . I.4.2 Verlassenheit – normative Ausnahmetheorie . . . . . . I.4.2.1 Verlassenheit I – Die Problematik der Mitteilung . I.4.2.2 Verlassenheit II – Der Typus Dichter . . . . . . . I.4.2.3 Verlassenheit III – Der Typus Morallehrer . . . . I.4.2.4 Mitleid als Affekt der Verlassenheit . . . . . . . I.4.3 Einsamste Einsamkeit – religiöse Ausnahmetheorie . . . I.4.3.1 Der »Einzelne« als begrifflich unvermittelbare Aufhebung des Ausnahmetheorems . . . . . . . I.4.3.2 Der Zerfall der Isolation im »Einsamen« . . . . . I.4.4 Das Werksvergleichsmodell grafisch . . . . . . . . . . . I.4.4.1 Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.4.4.2 Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64 73

81 82 86 89 92 101 107 111 117 119 123 132 141 143 144

Teil II – Entwicklung des Werkvergleichsmodells II.1 Isolation – faktische Ausnahmetheorie . . . . . . . . II.1.1 Kierkegaards Fassungen des »ungewöhnlichen Menschen« (EO/WH/FZ) . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.2 Nietzsches Fassungen des »ungewöhnlichen Menschen« (SE/Z) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.3 Stiftung und Umwertung des Allgemeinen durch die Ausnahme (SE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.3.1 Agon: Die Ausnahme und das Allgemeine (WH) . . . . . . . . . . . . . . . II.1.3.2 Die Ausnahme als Umwertungsautorität (WH)

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147 148 157 169 174 177

Raphael Benjamin Rauh https://doi.org/10.5771/9783495818190 .

Inhalt

II.1.4 Die unterschiedene Forderung der »Liebe« in der Ausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.4.1 Kierkegaard (EO) . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.4.2 Nietzsche (SE) . . . . . . . . . . . . . . . . .

II.2

Verlassenheit – normative Ausnahmetheorie . . . . . II.2.1 Der Typus Dichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.1.1 Die prekäre Haltlosigkeit seines Anspruchs (WH/Z) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.1.2 Durchgangsfigur exemplarischen Denkens (EO/WH/Z) . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.2 Die moralische Bedeutung der Vereinsamung . . . . . II.2.2.1 Kierkegaard (EO) . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.2.2 Nietzsche (SE/Z) . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.2.4 Zusammenfassung und Übergang . . . . . . . II.2.3 Einsamkeit und Bosheit . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.3.1 Die Wirklichkeit der Bosheit (FZ/M) . . . . . II.2.3.2 Die Voraussetzung des Guten (EC/SE) . . . . . II.2.4 Geist – Mensch – Einsamkeit . . . . . . . . . . . . . . II.2.4.1 Die Pointe des Ethischen: die Verzahnung von Sinnlichkeit und Geist . . . . . . . . . . . . . II.2.4.1.1 Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . II.2.4.1.2 Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . II.2.4.2 Zum Kontrast: Schopenhauers Metaphysik der Geschlechtsliebe . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.4.3 Zusammenfassung und Übergang . . . . . . . II.2.5 Der Typus Morallehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.5.1 Die Ausreizung nihilistischer Moralkritik (mit Schopenhauer zum Kontrapunkt) . . . . . . . II.2.5.2 Die Haltlosigkeit seines Anspruchs . . . . . .

II.3

182 183 189 205 205 206 214 221 222 229 237 238 239 243 248 251 257 265 270 275 282 284 294

Einsamste Einsamkeit – religiöse Ausnahmetheorie . 304

II.3.1 Das »Zeichen des Widerspruchs« . . . . . II.3.1.1 Die Aufforderung zur Tötung des »Einsamen« (Z) . . . . . . . . . II.3.1.2 Der Mord auf dem Gewissen (SL) II.3.2 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . .

. . . . . . .

304

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

308 312 316

Modulationen der Einsamkeit

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Inhalt

Teil III – Erprobung des Werkvergleichsmodells III.1

Die Bedeutung der Mitleidskritik für das Werkganze Kierkegaards und Nietzsches . . . . . . . . . . . . . 323

III.1.1 Die vorläufige Mitleidskritik in Stadien . . . . . . . . III.1.1.1 Mitleid gegen Mitleid (SL) . . . . . . . . . . III.1.1.2 Kierkegaards anti-soziologische Vermittlung des eigenen Anspruchs (SL) . . . . . . . . . III.1.2 Nietzsches anti-soziologische Vermittlung des eigenen Anspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.1.2.1 Mitgefühls-Moral gegen Pathos der Distanz (GD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.1.2.2 Vom Wissen der Herdenmoral (JGB) . . . . III.1.2.3 Der Leib als Gesellschaftsbau: Über die Grenzen des Begriffs »Wille« hinaus (JGB) . III.1.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

III.2

III.3.1 III.3.2 III.3.3 III.3.4

334 342 346 353 356 363

Ausrichtung der Mitleidskritik an Schopenhauer . . . 365

III.2.1 Ad Personam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.2 Psychologisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.3 Substantiell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

III.3

325 330

368 375 379

Die ›Liebe über dem Mitleiden‹ . . . . . . . . . . . . 387 Die Umschaffung des Menschen (EC/Z/JGB) Die Inversion des Mitleidsaffekts (EC/Z/JGB) Das ›Rache-am-Zeugen‹-Motiv (FZ/EC/Z) . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

390 401 410 419

Schluss: Ergebnisse und (selbst-)kritische Bemerkungen . . 422 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439

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ALBER THESEN

Raphael Benjamin Rauh https://doi.org/10.5771/9783495818190 .

Einleitung: Die These, philosophiegeschichtliche Konstellation, Forschungskontext, Methodik, Ausblick auf den Gedankengang

»Nur in Zeiten, wo die Wirklichkeit eine hohle geist- und haltungslose Existenz ist, mag es dem Individuum gestattet sein, aus der wirklichen in die innerliche Lebendigkeit zurückzufliehen.« (G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts)

Kierkegaards »Einzelner« ist christlich konzipierte Utopie gelingenden Lebens, dessen Bedeutung negativ erhoben wird in kritischer Auseinandersetzung mit der ›Ethikvergessenheit‹ einer in die konkrete Lebenswelt sich einbildenden idealistisch-spekulativen Systemphilosophie. Dieser relativ unfragwürdigen Einschätzung wird im vorliegenden Buch – das eine noch nicht ausgelotete Vergleichsmöglichkeit zwischen Kierkegaard und Nietzsche vorlegt – die innovative These gegenübergestellt, dass in Analogie zu Kierkegaards »Einzelnem« Nietzsche einen »Einsamen« gestaltet, der gleichermaßen als Utopie gelingenden Lebens in den Blick gebracht werden kann – beide wollen die als Nihilismus diagnostizierte Erfahrung ethischer Orientierungslosigkeit, die dem Isolationszeitalter Moderne spezifisch eignet, unterlaufen. 1 Es ist das Ziel der Studie ein Werkvergleichsmodell im Blick auf das Werkganze beider Denker zu entwerfen, zu entwickeln und schließlich zu erproben in Hinsicht auf jenes Fragen nach dem gelingenden Leben, welches das Vergleichsdritte dieser Studie darstellt. Diese »anti-begrifflich« zu umreißenden Utopien gelingenRalph Harper (1965) verdichtet diese Erfahrung in seinen stimmungsvollen Reflexionen zur modernen Einsamkeit wie folgt: »The nineteenth and twentieth centuries in art and real life have left a frieze of outsiders of all kinds, ranging from epic and tragic heroes to orphans and refugees. They are all brothers in a communion of displacement and loneliness with the departed and unseen solitaries of the past. There is one exception, the new self-conscious solitude of those who record the absence or silence of God. To be homeless and in exile is as old and sad as the hills; to be metaphysically homeless and to care is new.« (S. 5)

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Einleitung

den Lebens werden indirekt eingeholt. 2 Hierzu eignen sich herausragend die moralkritische Ausnahmetheorie Kierkegaards und die gleichermaßen als Moralkritik zu deutende »Einsamkeitslehre« Nietzsches, insofern sie das Werkganze – aus der Perspektive ihrer Autoren – seiner Vollzugsstruktur nach besehen in sich organisieren, teleologisch ausrichten und sich wechselweise – aufgrund ihrer strukturellen Analogie – durchdringen lassen: auch Nietzsche formuliert eine Ausnahmetheorie und auch Kierkegaards Werk ist eingelassen in die normierenden Semantiken von Einsamkeit. Die klassischen nachidealistischen Philosophien fragen leidenschaftlich nach neuer Orientierung für den Menschen. 3 Den Nullpunkt der nachhegelschen religionskritischen Besinnung auf das Subjekt bildet Max Stirners Schrift Der Einzige und sein Eigentum. Der »Einzige« hat zum Willen die kompromisslose ›Entzauberung‹ und radikale Entidealisierung der Wirklichkeit, wobei er in einer Überbietung der feuerbachschen Philosophie – deren Bedeutung darin lag, Theologie in Anthropologie zu übersetzen zur Neuaneignung des ursprünglich entfremdeten Menschenwesens 4 – bereits den »Menschen« als höheren Schwindel und Erbe christlicher Weltauslegung brandmarkt 5 und als letzten Anknüpfungspunkt des Nachdenkens nur das endliche, konkret in der Welt stehende Ich gelten lässt. Der konstruktiv von Feuerbach ausgehende Antipode Stirners, Karl Marx, der den »Einzigen« wiederum schnell als Produkt der Ideologie, als ein Hirngespinst losgelöst von den materiellen Gesellschaftsverhältnissen aufdeckt, setzt folgendes Urteil als Wendepunkt der Philosophie: Die vorliegende Arbeit zäumt den Vergleich zwischen Kierkegaard und Nietzsche nicht von der substantiellen Unterschiedenheit beider Philosophien her auf. Sie deutet in Anlehnung an Michael Theunissen und vor allem Theodor W. Adorno das Werk beider Denker als negativistische Ethikkonzeptionen, dessen positive Ermöglichung nicht auf den Begriff zu bringen ist (vgl. zum Begriff des »Negativismus« einführend den von der Redaktion (1984) verfassten Artikel im HWPh, Sp. 692–694 und in Auseinandersetzung mit Kierkegaard Theunissen (1991)). 3 Vgl. zur philosophiegeschichtlichen Umbruchssituation nach Hegel die Studie von Löwith (1988). Metz (2009/2010) geht in Adaption der durch Foucaults dicontinuitéBegriff verwandelten Bruch-Metaphorik davon aus, dass sich mit Schopenhauers pessimistischer Weltanschauungsphilosophie das Tor zur Moderne öffnet. Hühn (2009) und (2012) zeichnet »Konstellationen des Übergangs« nach. 4 Dieses Anliegen führt Feuerbach durch in Das Wesen des Christentums (2008). 5 »In Dir und Mir nichts weiter zu sehen, als ›Menschen‹, das heißt die christliche Anschauungsweise, wonach einer für den andern nichts als ein Begriff (z. B. ein zur Seligkeit Berufener usw.) ist, auf die Spitze treiben.« (Stirner (2008), S. 189) 2

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Einleitung

Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik […]. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. 6

Kierkegaard und Nietzsche – deren Denken in einem lebendigen Verhältnis zu religiösen Ambitionen steht – nehmen innerhalb dieser Konstellation eine über diesen dezidiert weltlichen Extremen schwebende Zwischenposition ein, wenn sie je auch diametral entgegengesetzte Ziele verfolgen: die Verwirklichung einer Existenz, die sich an der ursprünglichen ethischen Bedeutung des Christentums orientiert, welche durch das Schein-Christentum der Neuzeit verschüttet wurde, wobei Nietzsche, auf der anderen Seite, seine Aufgabe darin sieht, die Überwindung der jüdisch-christlichen Weltauslegung als Ursache des modernen Nihilismus zu befördern, um Raum für neue, lebensbejahende Wertsetzungen zu schaffen. Bei Kierkegaard und Nietzsche wird das Individuum also weder gegen Feuerbachs »Menschen« prompt vergöttlicht und als »Einziger« über alles erhoben, noch wird wie bei Marx mit Feuerbach die Religionskritik als erschöpft dargestellt, wodurch das entfremdete Menschenwesen durch eine Revolution der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse rein angeeignet werden soll, um es sich in der klassenlosen Gesellschaft gut gehen zu lassen. Kierkegaard und Nietzsche mobilisieren in ihrem Werk ein geistiges Innenleben, das aus materialistischer Perspektive jede Bedeutung verloren hat. Vor dem hier entworfenen Horizont der Frage nach dem Menschen ist Arthur Schopenhauers pessimistische Willensmetaphysik, zumal die aus ihr hergeleitete Ethik von besonderem Interesse für diese Studie. Nicht allein deswegen, weil Nietzsches Suche nach neuer Orientierung im Denken sich durchgängig an Schopenhauer abarbeitet, sondern auch deswegen, weil der späte Kierkegaard Schopenhauer liest und sich kritisch mit dessen Konzept vom gelingenden Leben auseinandersetzt. 7 Die Unmöglichkeit, die Forschungsliteratur in ihrer Gänze zu überblicken, ist bekannt. Die Zahl der Publikationen zu Kierkegaard und Nietzsche im Einzelnen steigt kontinuierlich ins zunehmend Unübersehbare, auch die Anzahl der Vergleichsstudien ist auf ein kaum mehr auswertbares Ausmaß gewachsen. 8 Mit dem publizierten Be6 7 8

Marx (1983), S. 9. Vgl. zum Verhältnis Schopenhauer – Kierkegaard Cappelørn et al. (Hrsg.) (2012). Thomas Brobjer listet lose die Zahlen der Studien zu Kierkegaard und Nietzsche

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Einleitung

denken von »Ausnahme« im Denken Kierkegaards (und Nietzsches) und »Einsamkeit« im Denken Nietzsches (und Kierkegaards) lassen sich allerdings noch keine ›Bibliotheken füllen‹, was immerhin eine grobe Einordnung des Aufgearbeiteten durchaus ermöglicht. Im Folgenden sollen zwei Studien aus der jüngsten Forschung zu »Ausnahme« und »Einsamkeit« in den Blick kommen, um von ihnen aus die eigene Forschungsfrage herauszustellen. Es geht dabei nicht um die gerechte Besprechung der spezifischen Inhalte, sondern vielmehr um die Generierung eines Stimmungsbildes, das den hier versuchten Zugang konfiguriert. 9 Der Aufsatz Waiting for the Storm: Theology and the Narrative of Exception 10 stellt in jüngster Zeit bezogen auf das Interesse für auf, wobei allein schon die Auswahl der Studien, die sich nur mit der Frage, ob Nietzsche um Kierkegaard wusste, jenseits der Zahl dreißig liegt und die unverbindliche Erwähnung allein dieses (noch die Philosophie beider Philosophen gar nicht belangenden) Sachverhalts »by hundreds of commentators« (2002), S. 252 nicht eben ermutigt, den Forschungsstand gewissenhaft aufzuarbeiten. 9 Jüngere Publikationen zu »Ausnahme« und »Einsamkeit« gibt es – das ist als Befund bedeutend – kaum, zumindest verbindet sich mit diesen Begriffen kein breiter rezipiertes Forschungsinteresse. Man stößt unwillkürlich, sucht man philosophische Auseinandersetzungen mit »Ausnahme« im Denken Kierkegaards und Nietzsches, an den geschichtlichen Ort der Moderne, von dem diese Arbeit methodisch ausgeht, wenn auch mit Adorno antipodisch. Es war vor allem Karl Jaspers (1960), der im Jahre 1935 auf die »Ausnahme-Denker« Kierkegaard und Nietzsche aufmerksam machte als prägend für die geistige Situation der Zeit. Jaspers spricht diesen Ausnahmedenkern quasimessianische Bedeutung zu: »Sie sind unter keinen früheren Typus (Dichter, Philosoph, Prophet, Heiliger, Genie) zu bringen; mit ihnen ist eine neue Gestalt menschlicher Wirklichkeit in die Geschichte getreten: sie sind ein gleichsam vertretendes Schicksal, Opfer, deren Weg aus der Welt hinaus zu Erfahrungen für andere führt.« (S. 28) Ausdrücklich als eine kritische Auseinandersetzung mit dieser existenzphilosophischen Vereinnahmung Kierkegaards und Nietzsches ist Götz (1949) spannend, allerdings weniger aus inhaltlicher denn aus geistesgeschichtlicher Perspektive. Im Vorwort formuliert der Verfasser, persönlich sich positionierend: »Die konsequente Nietzschekritik ist vom Standpunkt einer humanen Weltanschauung aus unerläßlich. Nietzsche bejahen, heißt, jede konkrete Gemeinschaft verneinen.« (VII) Die Kritik des objektive Normen zersetzenden, verabsolutierten Begriffs des »Willens zur Macht«, die Götz formuliert, wendet sich gegen Nietzsche nicht nur als einzelnen Denker, sondern als Sanktionierungsinstanz des Zeitgeistes schlechthin. Entsprechend versuchte Götz, wie er rückblikend formuliert, »am Gegenstand Nietzsche auch die allgemeinste Formulierung zu finden für die eigene Auseinandersetzung mit jenem Willen zur Macht, der in der geistigen Situation Deutschlands zu jener Zeit mit besonderer Konzentration an Dämonie gegeben war und jetzt auch noch selbst dort gegeben ist, wo sich der Egoismus als Existentialismus goutiert.« (Ebd.) 10 Vgl. Tatár (2011).

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ALBER THESEN

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»Ausnahme« bei Kierkegaard einen Einzelfall dar, wobei Gegenstand der kritischen Auseinandersetzung – das belegt seinen Sonderstatus indirekt – eben nicht die aktuelle Forschungslage ist, sondern Carl Schmitts politische Theologie, 11 die sich – so die These Tatárs – sinnentstellend einen Ausschnitt des kierkegaardschen Ausnahmetheorems aneignet, obschon politische Theologie – mit Anti-Climacus’ Die Krankheit zum Tode bewertet –, ein verzweifeltes Geschäft ist. So wie Tatárs Essay im jüngeren Diskurs eine einmalige Erscheinung ist bezogen auf das Interesse für »Ausnahme« bei Kierkegaard, so ist auch das Interesse an »Einsamkeit« bei Nietzsche in Formen der Einsamkeit bei Friedrich Nietzsche 12 vereinzelt. Stuppner sortiert dabei nach einer in dieser Studie nicht übernommenen Klärung des Begriffs »Einsamkeit«, den er zugleich in seinen metaphorischen Auslegungen analysiert und stimmig in seiner vertikalen und horizontalen BeAuch und vor allem Klaus-Michael Kodalles Auseinandersetzung mit Kierkegaard positioniert sich als eine politisch orientierte Aneignung des Theologen, welche sich wesentlich in der »Ausnahme« bricht. Kodalles Interesse ist es dabei ausdrücklich nicht, Exegese des kierkegaardschen Urtextes zu betreiben (vgl. vor allem Kodalle (1988), S. 22), sondern die Sache aneignend zu wenden und Kierkegaard als einen Ideengeber fruchtbar zu machen für die Orientierung im eigenen Diskurs (1982, 1983a). Durch diesen aneignenden Zugang gehen freilich für den nicht unmittelbar am Diskurs Teilhabenden entscheidende Informationen zur »Ausnahme« verloren. Indirekt ersichtlich wird die herausragende Bedeutung des Ausnahmedenkers Kierkegaard für Kodalle durch die ihm gewidmete, zweibändige Festschrift, deren Titel programmatisch lautet: Die Ausnahme denken (2003). Dabei widmet sich wiederum keiner der versammelten Beiträge ausgezeichneter Forscher explizit und mit systematischem Interesse eingehender dem kierkegaardschen Ausnahmetheorem, wobei die Klärung dieses Begriffs gewissermaßen in der Luft liegt, insofern einige Essays (aus dem hier Erarbeiteten bewertet) stimmig in das Ausnahmetheorem oder den »Einzelnen« auslaufen (vgl. etwa Kaehler (2003), Adriaanse (2003) und Stegmaier (2003)). Dieser Umgang suggeriert jedenfalls, dass hinlänglich geklärt wäre, was »Ausnahme« im kierkegaardschen Werk theoretisch bedeutet. Die hier vorliegende Studie will das auf diese Weise notwendig marginalisierte und aus der Perspektive Kierkegaards nicht adäquat gewichtete Problem der »Ausnahme« systematisch sichern. Um einen zentralen Aspekt vorwegzunehmen: Durch diesen aneignenden Zugang, der notwendig eine Klärung des Begriffs »Ausnahme« voraussetzt, gehen Momente des Ausnahmetheorems als eines Theorems, das Kierkegaards Auffassung von Christlichkeit nicht genügt, verloren, die erhellen, dass Kierkegaard dieses Theorem in seiner politisch verwertbaren Theoretisierung als eine – provisorisch mit Nietzsche zu reden – Figur der »Verlassenheit« konzipiert. 12 Vgl. Stuppner (2011). Stuppners Text ist eine veröffentlichte Diplomarbeit, der eine Dissertation folgt, welche die Einsamkeitsproblematik bei Nietzsche durch die Dialogphilosophien Martin Bubers und Emmanuel Lévinas’ zugespitzt sieht (2013). Dieser spannenden These kann in dieser Studie leider nicht vertieft nachgedacht werden. 11

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wegtheit unterscheidet, die Forschungslage, wobei er unkritisch die Besprechungen von Nietzsches persönlicher Einsamkeit nachzeichnet, zu denen er auch die »pathologische Einsamkeit« zählt, der die Aufarbeitung von »Einsamkeit« als eines literarischen Phänomens und zuletzt die Besprechung der Philosophie der Einsamkeit im Zarathustra folgt. Stuppner wählt einen kontemplierenden Zugang zum Einsamkeitsthema, der zwar einen guten Ein- und Überblick gibt in die Möglichkeiten der Besprechung des Phänomens, allerdings »Einsamkeit« nicht adäquat vernetzt mit entsprechenden Begriffen wie etwa »Ausnahme«, die seine systematische Bedeutung für Nietzsches Werk im Ganzen erhellen. Auch der zentrale Ausdruck »Einsamkeitslehre« findet keine Erwähnung in Stuppners Studie. Da eine genauere Besprechung der vorliegenden Arbeiten zu »Ausnahme« und »Einsamkeit« im Denken Kierkegaards und Nietzsches hier nicht am Ort sein kann, soll nun – um den eigenen Zugang negativ zu konturieren 13 – in drei Schlagworten mit Nennung exemplarischer Texte gebündelt werden, welche Zugänge zu diesen Begriffen bisher vor allem gewählt wurden, die zwar als unmittelbar evident bewertet werden können, aber doch Entscheidendes unter den Tisch fallen lassen. Man hat die ohnehin der Alltagssprache entnommenen und damit für akademisch-philosophische Reflexion nicht besonders einnehmenden Begriffe »Ausnahme« und »Einsamkeit« tendenziell erstens ›biografisiert‹ : 14 Kierkegaard rechtfertigt in seinen Gedanken zur »Ausnahme« die Trennung von seiner Verlobten; Nietzsche flieht vor Mutter und Schwester in die Alpeneinsamkeit. Man hat sie zweitens ›pathologisiert‹ : 15 die Schwermut des Dänen Es muss nicht erst erwähnt werden, dass diese negative Thematisierung des Forschungskontextes wesentlich heuristische Zwecke hat, um den spezifischen Zugang dieses Buches zu fokussieren, und dass es eine Reihe an Publikationen gibt, die konstruktiv den Gedankenverlauf dieser Studie bereichern und stützen und an entsprechender Stelle eingelassen werden können. 14 Hier ist in erster Linie wieder an Jaspers zu denken (1960), S. 12–41 und S. 127– 150, der in angemessener Sprache die (oft unfassbare) geistige Nähe von Kierkegaard und Nietzsche eindringlich herausstellt. Wenn Jaspers allerdings auf »Ausnahme« (etwa S. 31–34) und »Einsamkeit« (ebd.) zu sprechen kommt, werden diese Worte wesentlich als selbstevident genommen bzw. nur andeutungsweise in ihrem begrifflichen Sinn expliziert und nicht in ihrer sachlichen Tiefe ausgelotet. Diese biografische Lesart findet sich auch bei Theunissen (1971). Vgl. zu einer biografischen Lesart von »Einsamkeit« bei Nietzsche Mendes (1997), S. 89–99. 15 Vgl. hierzu stets einschlägig Emanuel Hirsch, etwa in einem Kommentar, den er zu einer Passage zu Kierkegaards Christlichen Reden (1848) setzt, in welchen letzterer 13

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geht Hand in Hand mit zunehmender Vereinsamung und Verbitterung; auch der bei Nietzsche schließlich ausbrechende Wahnsinn ist mitinduziert durch die zunehmend unerträglicher werdende Einsamkeit. Man hat sie drittens ›literarisiert‹ : 16 indem man sie der Genieästhetik zuordnet, die von Immanuel Kants Urteilskraft ausging und über verschiedene Umwege und Modulationen in der Romantischen Schule auslief, gegen deren Waldeinsamkeit Kierkegaard und Nietzsche einen Akzent setzen. Diesen drei Aspekten ist, abgesehen von deren unmittelbarer Stimmigkeit, gemeinsam, dass durch sie zu den konkreten Problemen, die sie bedeuten, Distanz aufgebaut wird. Entsprechend nimmt man sich die ethische Dimension dieser Konzeptionen nicht zu Herzen. Die ethische Dimension wird jedoch unwillkürlich freigelegt, wenn auf »Ausnahme« und »Einsamkeit« als auf die unter Umstänscharf den Unterschied zwischen heidnischer und christlicher Orientierung im Leben durch Denken einzeichnen will. Dort formuliert Kierkegaard in einer Die Sorgen der Heiden genannten Kompilation von neutestamentlichen Versexegesen in VII Die Sorge der Unschlüssigkeit, des Wankelmuts, der Untröstlichkeit ein Plädoyer für Muße und Entschleunigung: »Der Vogel und die Lilie haben nicht Anlaß, sich selbst wichtig zu werden um des Gebrauches willen, der von ihnen gemacht wird, sie fühlen sich in Demut gleichsam überflüssig. Sie sind darum Gott doch nicht minder lieb; auch ist das derart Überflüssigsein nicht eben das geringste Glück. Gleich wie nicht selten in der Menschen emsigem Leben gerade der ungewöhnlich Begabte so ungefähr überflüssig ist, weil er für oder in nichts von dem taugt, das die Emsigkeit ihm zuweisen, damit sie ihn beschäftigen, dazu sie ihn brauchen will […]«. (GW 15 – 85) Hirsch setzt hinter das Wort »Begabte« folgenden Kommentar: »Daß hier persönliche Erfahrung des in Kopenhagen todeinsam Gewordenen durchklingt, braucht nicht erst gesagt zu werden.« (GW 15 – 329) Obschon Hirsch zugesteht, dass der »Gedanke« sich mit einem »reizenden Brief« an den »lahmen Vetter Hans Peter Kierkegaard« deckt, fährt er doch fort sadistisch nahezulegen: »Wer die langsame Umdüsterung Kierkegaards seit 1848 studieren will, muß diese Rede hier vergleichen mit der Rede über den gleichen Text […]«. (GW 15 – 329) Auch pathologisierend nimmt Wall (1998) die Einsamkeitsthematik bei Nietzsche unter die Lupe. Natürlich liegt auch die Versuchung nahe, Kierkegaard und Nietzsche wechselweise zu pathologisieren: Dies unternimmt hier exemplarisch Malantschuk (1962), S. 124–126, der mit Kierkegaard Nietzsche durch den Rang dämonisch-trotziger Verzweiflung auszeichnet, wobei er mit Nietzsche Kierkegaard als jemanden deutet, der – wie sein Seelenverwandter Pascal – durch das Christentum zerstört wurde. 16 Die Studien, die »Einsamkeit« bei Nietzsche als ein literarisches Phänomen würdigen, überwiegen. Um nur eine Auswahl zu nennen: Rauh (1969), Lämmert (1987), Zittel (2000) und Sharma (2006). All diese Studien sind allerdings auch mehr oder weniger darauf aufmerksam, dass »Einsamkeit« Bedeutung für die Philosophie Friedrich Nietzsches hat, nehmen diesen Begriff also nicht zwangsläufig als unmittelbar selbstevident hin. Modulationen der Einsamkeit

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den philosophisch problematischen Nährböden jener Philosophien selbst reflektiert wird. Diese Studie entgeht ihrem idealen Anspruch nach diesen idealtypisierten ›Mängeln‹ also dadurch, dass sie sich dem Sog jener Begriffe hingibt und aussetzt, indem sie auf sie als die Denkbewegung beider Philosophien normierende reflektiert und sich von deren systematisierbaren Dynamiken ›mitreißen‹ lässt. Der Gedankenverlauf dieser Studie bildet also – indem er sich durch die Reflexion auf »Ausnahme« und »Einsamkeit« in die rekonstruierbare Werkentwicklungsstruktur selbst einlässt, sich angesprochen fühlt von den Problemen, die »Ausnahme« und »Einsamkeit« für Kierkegaard und Nietzsche theoretisch bedeuten – mimetisch die jedermann zugänglichen, moralkritisch sich formulierenden Problemkonstellationen nach und generiert dadurch einen pathisch nachvollziehbaren Blick auf das Werkganze. 17 Nachdem nun die zentrale These vorgestellt wurde, in gröbsten Umrissen ein Einblick in die philosophiegeschichtliche Konstellation gegeben wurde, der Forschungsstand in Abgrenzung zum eigenen Anliegen und zu der damit verbundenen Methodik skizziert wurde, soll nun noch ein Ausblick auf die markantesten Stationen des Argumentationsgangs geworfen werden. Der erste Teil des Hauptteils ist in 4 Kapitel unterteilt. Das erste Kapitel konturiert ausgehend von Adornos Minima Moralia einen Begriff »exemplarischen Denkens«, 18 welches die Frage nach dem gelingenden Leben stellt, und bewährt diese Perspektive auf das Werk Kierkegaards und Nietzsches als Tertium comparationis. Methodisch wird an die Anti-LehrenKonzeption Werner Stegmaiers angeknüpft, wobei sie mit Adornos Rückhalt an den ethischen Sinn jener Philosophien rückgebunden und damit konstruktiv kritisiert wird: »Ausnahme« und »Einsamkeit« werden als »Anti-Begriffe« par excellence der ethisch motivierten Moralkritik beider Denker ausgewiesen, wobei sich durch diese jene Utopien gelingenden Lebens konturieren lassen. Ein Satz aus Minima Moralia – »Nur dort vermag Erkenntnis zu erweitern, wo sie beim Einzelnen so verharrt, dass über der Insistenz seine IsoliertDas Bedenken von »Ausnahme« und »Einsamkeit« erfordert das Ein- und Abtauchen in deren reelle Bedeutung, deren konkreten Nachvollzug. Immerhin ermutigt Sommer (2013b) zu mehr »Wagnis« im akademischen Umgang mit großen Denkern. 18 Ursprünglich habe ich den missverständlichen Ausdruck »subjektives Denken« verwandt. Der Begriff »exemplarisches Denken« ist, wie sich aus dem Verlauf der Studie ergeben wird, geeigneter. Angestoßen wurde diese Neubenennung außerdem durch Bretschneider (2015). 17

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heit zerfällt.« – wird als methodischer Leitfaden fruchtbar gemacht, der das exemplarische Denken in einen systematischen Zusammenhang bringt und an dessen inspirierendem Gehalt das Werkvergleichsmodell entworfen, entwickelt und erprobt wird. Das zweite Kapitel zeigt, inwiefern die Ausnahmeproblematik das Werkganze Kierkegaards teleologisch und hierarchisierend organisiert, sofern man es auf die Utopie des »Einzelnen« hin auslegt. Dabei muss »Ausnahme« konstruktiv in eine faktische, eine normative und eine religiöse Fassung unterschieden werden. Diese Denkfigur ist im Ansatz nihilistische Moralkritik. Das dritte Kapitel weist die Bedeutung des bisher in der Forschung ziemlich marginalisierten Einsamkeitsbegriffs für das Werkganze Nietzsches nach. Um dieses Phänomen und dessen Bedeutung für die ethisch motivierte und gleichermaßen nihilistische Moralkritik Nietzsches Raum zu geben, werden in diesem Kapitel zwei zusammenhängende Aphorismen der mittleren Werkphase intensiv kommentiert, in denen Nietzsches im Werkganzen anwesende und wirkende »Einsamkeitslehre« zum Ausdruck kommt. Zuletzt wird skizziert, wie Nietzsche in seiner experimentalphilosophischen Werkphase Verheißungen des Frühwerks, die ausgehend von der Bedeutung Schopenhauers um eine neue, allgemeinmenschliche Orientierung bemüht sind, umoperationalisiert einlässt. Dies allein aus strukturellem Interesse: es geht um eine ganzheitliche Perspektive auf die Werkentwicklung beider Denker zu Zwecken der Entwicklung einer Werkvergleichsfolie, wobei sich der »Weg-Charakter« dieser Philosophien – freilich nicht die inhaltliche Totalität – in den Begriffen »Ausnahme« und »Einsamkeit« als ein konsistent nachvollziehbarer spiegelt. 19 Das vierte Kapitel des ersten Teils synthetisiert die Ergebnisse von Kapitel zwei und drei. Zu diesem Zweck wird nun noch der Einsamkeitsbegriff in sich unterschieden in »Isolation«, »Verlassenheit« und »einsamste Einsamkeit«. Es lässt sich herausstellen, dass Nietzsche selbst durch diese Unterscheidungen auf seinen Denk-Weg als Ganzen reflektiert und diesen teleologisch und hierarchisch ausrichtet, wobei der Sinn dieser Unterscheidungen ist, den »Einsamen« als Utopie gelingenden Lebens zu umreißen. Es wird gezeigt, wie die faktische Ausnahmetheorie mit der Erfahrung Zur Unterscheidung des »Weg-Charakters« einer Philosophie von ihrer »inhaltlichen Totalität« vgl. Metz (2013). Er vertritt die These, dass das Symposion den »Weg-Charakter« von Platons Philosophie insgesamt spiegelt, insofern darin die Selbstthematisierung der Philosophie Platons vollzogen wird (vgl. S. 9).

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real-gesellschaftlicher Isolation vernetzt werden kann. Beide Denker bezeichnen die Methodik ihrer Darstellung als »experimentell«, welche Denkform haltbarer ethischer Orientierung zuarbeitet, diese aber nicht ersetzt. Die normative Ausnahmetheorie korrespondiert der Durchgangssphäre der Verlassenheit. In diesem Kontext wird – im Vorblick auf die Erprobung des Werkvergleichsmodells, das die Ausnahmetheorie als Moralkritik in Hinsicht auf das Werkganze zusammenführt – »Mitleid« 20 als Affekt der Verlassenheit bestimmt. Die religiöse Ausnahmetheorie schließlich liegt abstrakt betrachtet auf einer Ebene mit dem utopischen Raum einsamster Einsamkeit: in ihm wären die Utopien des »Einzelnen« und des »Einsamen« erfüllt. Diese dreifachen Korrespondenzen organisieren den Argumentationsgang des zweiten Teils. Die Zusammenfassung des Teils I bildet die grafische Darstellung des Werkvergleichsmodells. Das Vergleichsmodell will dabei allein strukturelle Analogien nachweisen; die Frage nach inhaltlichen Deckungen und Unterschieden bleibt durchgängig nebensächlich. In Teil II werden die abstrakt entworfenen Thesen durch analytische Textexegese plastisch dargestellt und mit Leben gefüllt. So wird im ersten Kapitel – »Isolation – faktische Ausnahmetheorie« – bestimmter nachvollzogen, wie im Isolationszeitalter Moderne in der Darstellung Kierkegaards und Nietzsches in gewisser Hinsicht alle ausgenommen sind von ethischer Orientierung. In diesem Kapitel werden zugleich die verschiedenen Fassungen des »ungewöhnlichen Menschen« in ihren strukturellen Analogien ›isoliert‹, präpariert. Es wird ein Bild des schlechten Werdens gezeichnet, das die nihilistische Ausgangssituation des exemplarischen Denkens umreißt und durch die Darstellung der faktischen Ausnahmetheorie begründet ist, in der die in den »ungewöhnlichen Menschen« hinterlegte Größe zu ethischer Orientierung versuchsweise ausgeklammert wird. Bereits hier wird eine zentrale moralkritische Pointe freigelegt: der AusnahIn dieser Studie werden Forschungsfelder berührt, die eine vielschichtige und lange Tradition zur Voraussetzung haben, allerdings nicht in ihrer Mehrdimensionalität theoretisch adäquat gewürdigt werden können (wie etwa die Erforschung von »Mitleid« und »Bosheit« in Theologie und Philosophie). Im Nachvollzug des konkreten Unterwegs des »ungewöhnlichen Menschen« werden sie virulent jenseits ihrer theoretischen Ergründung. Hamburgers Studie, die nicht unkritisiert blieb und konstruktiver Weiterentwicklung ausgesetzt war, kann hier deswegen als Orientierungspunkt genutzt werden, weil sie als »klassisch« bezeichnet werden kann und breit rezipiert wurde.

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me kommt Umwertungs- und Wertsetzungsautorität zu. Kann der Wert dieser Wertsetzung nicht bestimmter qualifiziert werden in einem allgemein-menschlichen Sinne, so ließe sich einer nihilistischen Perspektive auf das Leben nichts entgegensetzen. In die Ausnahme wird sowohl bei Kierkegaard als auch bei Nietzsche – zur Abwehr dieser Welt schlechter Unendlichkeit – eine inklusive Liebe vorausgesetzt, welche diese orientiert, womit die Zone der Verlassenheit, die moralkritische Dynamik der normativen Ausnahmetheorie in den Blick kommt. Das zweite Kapitel – »Verlassenheit – normative Ausnahmetheorie« – analysiert eingehender die Typen der Verlassenheit, durch die das exemplarische Denken seine ethische Moralkritik thematisiert und an sich austrägt. Der Typus Dichter seiner sozialen Bestimmung nach ist konzipiert als »großer Mensch«, der die gegebene Ordnung von Gut und Böse umwertet und determiniert, insofern sie sich an ihm auslegt, und das tut sie notwendig. Hier zeigt sich, dass der Mangel dieser Figur ihre Angewiesenheit auf Anerkennungsstrukturen ist, die keine haltbare Orientierung stiften können. Allerdings wird in diese Figur eine Sinnebene vorausgesetzt, die negativ zum Ausdruck kommt durch den leidvollen Umgang mit der Tatsache, unfreiwillig nicht in der gegebenen Ordnung leben zu können und dies doch als Schuld sich anrechnen lassen zu müssen. Der Schuldvorwurf, den der ungewöhnliche Mensch nutzen muss, um auf Distanz zur herrschenden Ordnung sich zu orientieren, perspektiviert aufgrund der bald sich ihm offenlegenden Halt- und Maßlosigkeit jener Ordnung die Sphäre der Moral um. Die »Bosheit« des Menschen als »Menschen« lugt hier hervor, deren Bedeutung sich einer begrifflichen Traktierung entzieht. Gleichzeitig wird dadurch jene inklusive Liebe, welche der Ausnahme zu ihrer Orientierung mitgegeben wurde, nicht durchgestrichen, sondern in einer ›über-begrifflichen‹ Sphäre verankert, insofern der ungewöhnliche Mensch nun durch einen Begriff von »Geist« bestimmt wird, dessen positive Erfüllung in einen ›übermoralischen‹, begriffs-utopischen Raum entzogen ist. Jene Bosheit, welche sich nicht durch eine immanente Perspektive auf Moral für eine Ethik ausloten lässt, wird bei beiden Denkern strukturell analog normiert, indem deren Effekte und deren gelingende Kompensation ausgelagert und der Maßstab des Gelingens einer Größe überlassen wird, die dem menschlichen Verstand unzugänglich bleibt. Kierkegaard wird die Antwort auf die Frage, ob dieser eine ungewöhnliche Mensch berechtigterweise sein Leben nicht in der gegebeModulationen der Einsamkeit

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nen Ordnung von Gut und Böse haben kann, auslagern in »Gott«. Nietzsche konzipiert Zarathustra als die normierende Instanz, welche der Ausnahme als Maßstab zur Orientierung auf ihres Lebens Weg dienen muss. Da die positive Bedeutung dieser Namen, an der sich die Utopien des »Einzelnen« und »Einsamen« orientieren, nur anti-begrifflich vermittelbar ist, eröffnen beide Denker negativistisch die religiöse Sphäre über den Selbstwiderspruch der Sphäre der Moral – typisiert im Morallehrer seiner sozialen Bestimmung nach –, insofern sie nicht nur zulässt, sondern mitunter erzwingt, was sie ihrem idealen Begriff nach nicht tun dürfte: Ausnahmen von ihrem Geltungsbereich. Im dritten Kapitel des zweiten Teils – »einsamste Einsamkeit – religiöse Ausnahmetheorie« – wird dieser dramatisch inszenierte Sachverhalt in Rücksicht auf die Strategien indirekten Mitteilens in seiner widerspruchslogischen Bedeutung eingeholt, indem gezeigt wird, wie Kierkegaard die Ausnahmetheorie an ihre begriffliche Belastbarkeit bringt, indem er seinem »ungewöhnlichen Menschen« einen Mord auf das Gewissen legt, dessen Möglichkeit allein durch eine religiöse Sphäre verklärt werden kann. Nietzsches Zarathustra wird – die immanente Perspektive auf Moral ausreizend – unter gegebenen Umständen zur Tötung des »Einsamen« aufrufen, wobei dieses Zeichen des Widerspruchs aufgelöst wird dadurch, dass Nietzsche durch seinen Zarathustra, darin der »Einsame« absolute Bedeutung erhält, zeigt, wie diese Umwertung des Paulinischen: ›Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig‹ zu nehmen ist. Das Werkvergleichsmodell ist mittlerweile entworfen und entwickelt: es nimmt das exemplarische Denken Kierkegaards und Nietzsches als Fragen nach dem gelingenden Leben in den Blick und verschränkt den Denk-Weg als Ganzen systematisch. In den Utopien des »Einzelnen« und »Einsamen« wäre die real-gesellschaftliche Isolation ›zerfallen‹ und die Bedeutung von Ausnahmen aufgehoben. Dabei ist die Verschränkung von den drei Fassungen der Ausnahme und der Einsamkeit auf die ethische Moralkritik hin ausgelegt, was der in drei Kapitel unterteilte Teil III erprobt. Im ersten Kapitel wird dargestellt, wie die im ungewöhnlichen Menschen durchgeführte Moralkritik beider Denker sich komprimiert darstellen lässt an der Kritik der auf Mitleid basierenden Moralphilosophie, die für die jeweilige Werkentwicklung als Ganze von maßgeblicher Bedeutung ist. Es lässt sich zeigen, dass Kierkegaard und Nietzsche – freilich mit je anders motivierten Inhalten – ihren ethischen Anspruch »anti-sozio20

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logisch« vermitteln, was gegen die zeitgenössische Tendenz unternommen wird, die Frage nach dem Wesen des Menschen unvermerkt nur noch ›ästhetisierend‹ in den Blick zu bekommen, wodurch das eigentliche Problem zementiert wird. Im zweiten Kapitel wird Schopenhauers ethisch ausgelotete Metaphysik des Mitleidens in Umrissen dargestellt, dies im Wesentlichen nur, um die strukturell analogen Stoßrichtungen der Mitleidskritik Kierkegaards und Nietzsches, die sich aus dem Werkvergleichsmodell ergeben, indirekt zu konturieren. Während Schopenhauer das Mitleid als reine Liebe charakterisiert und erotische Liebe diesem diametral entgegensetzt, setzen Kierkegaard und Nietzsche im Blick auf eine inhaltlich freilich je anders besetzte ›Liebe über dem Mitleiden‹ in das Mitleid erotische Komponenten voraus, die das Mitleid für eine ethische Orientierung entwerten. Die esoterische Essenz der Mitleidskritiken wird indirekt erhellt durch die Auseinandersetzung Kierkegaards und Nietzsches mit Schopenhauer auf drei Ebenen: ad personam, psychologisch und sachlich. Hierdurch wird deutlich, wie die ›Liebe über dem Mitleiden‹, die aus dem begriffs-utopischen Raum »einsamster Einsamkeit« hervorscheint und die Utopien des »Einzelnen« und »Einsamen« nährt, die Moralkritik trägt. Im letzten Kapitel des Teils III wird die Schärfe der Mitleidskritik herausgestellt, welche allein im Hinblick auf jene ›Liebe über dem Mitleiden‹ adäquat zugeordnet werden kann. Im letzten Kapitel wird zugleich die eigentümlich anti-moderne, philosophisch problematische Härte der interpretierten Philosophen thematisch. Kierkegaards Pseudonym Anti-Climacus, das konzipiert ist als um den Sinn der Liebe des Gott-Menschen wissend, streicht die Sphäre nur menschlichen Mitleids durch, insofern es sich nicht durch das Vorbild umschaffen lässt, sondern das Ideal selbst nach seinem Bilde deformiert. Nietzsche zieht diesen über den Gott-Menschen vermittelten Orientierungsmaßstab ein und implementiert ihn in die textuelle Struktur seiner Philosophie selbst. Da diese sachlich vorausgesetzte positive Essenz unterbestimmt bleibt, endet das Kapitel mit der psychologisch nachvollziehbaren ›Rache-am-Zeugen‹-Problematik, die einsichtig macht, dass der Anspruch des Mitleids an gewisse ungewöhnliche Menschen für diese und damit vermittelt ihr soziales Umfeld desaströse Konsequenzen haben kann und also für die ethische Orientierung absolut entwertet ist.

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Teil I – Entwurf des Werkvergleichsmodells

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I.1 Exemplarisches Denken mit Adornos Minima Moralia

Theodor Wiesengrund Adornos Schrift Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben wird in der vorliegenden Studie als maßgebliche Inspirationsquelle für den Entwurf, die Entwicklung und die Erprobung eines Werkvergleichsmodells ausgelegt. 1 Die gemeinsame Perspektive, unter welche die Philosophien Kierkegaards und Nietzsches gebracht wird, ist die Frage nach dem gelingenden Leben, wobei davon ausgegangen wird, dass Kierkegaards und Nietzsches Philosophieren in eminentem Sinne als ein solches Fragen begriffen werden kann. Der Stil, die Form, das Wie dieses Fragens wird hier terminologisiert als exemplarisches Denken. Im nächsten Abschnitt soll bestimmter nachgebildet werden, wie das nach dem gelingenden Leben fragende exemplarische Denken bestimmter zu fassen ist und inwiefern es das im ersten Teil zu entwerfende, im zweiten Teil zu entwickelnde und im dritten Teil zu erprobende Tertium comparationis dieser Studie bildet. Der Abschnitt I.1.3 wird die Werkorganisation beider Philosophen in einen systematischen Zusammenhang bringen.

I.1.1 Die Frage nach dem gelingenden Leben als Tertium comparationis Im Folgenden soll veranschaulicht werden, wie Adorno eine bestimmte Denkhaltung und Philosophietradition von Kierkegaard 2 Dass Adorno ein ausgezeichneter Kenner sowohl Kierkegaards als auch Nietzsches ist und also in kritisch-konstruktiver Auseinandersetzung mit diesen Philosophen die Sache seines Denkens erprobt und etabliert, ist ein Umstand, der hier keiner weiteren Erläuterung bedarf und vorausgesetzt werden kann. 2 Für eine kritische Darstellung der Aufnahme Kierkegaards durch Adorno vgl. Kodalle (1983b); dessen Kritik leistet Deuser (1983). Es kann hier offen bleiben, ob die scharfe Kritik Adornos an Kierkegaard in Kierkegaard. Konstruktionen des Ästheti1

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und Nietzsche 3 übernimmt und wie diese Adaption stimmig – zu Zwecken eines Vergleichs – auf diese rückprojiziert werden kann. 4 Der erste Satz von Minima Moralia lautet: Die traurige Wissenschaft, aus der ich meinem Freunde einiges darbiete, bezieht sich auf einen Bereich, der für undenkliche Zeiten als der eigentliche der Philosophie galt, seit deren Verwandlung in Methode aber der intellektuellen Nichtachtung, der sententiösen Willkür und am Ende der Vergessenheit verfiel: die Lehre vom richtigen Leben. 5

Die Philosophien Kierkegaards und Nietzsches werden in der vorliegenden Studie ausgelegt als Philosophien, die wie Adorno exemplarisch die Frage nach dem gelingenden 6 Leben stellen. 7 Die Möglichkeit dieses Fragens, so wie sie Adorno hier entwickelt, die notwendig an einer Erfahrung von Leben hängt, das unmittelbar nicht hält, was es verspricht, und das der Philosophie zumutet, mehr als nur Methode zu sein, unterliegt in Adornos Darstellung einer graduell zulaufenden Verfallsgeschichte. Diese erschen sich theoretisch nachhaltig etabliert (so stellt Hühn (2011), S. 325–328 in Frage, wie innovativ Adornos Denken wirklich gegenüber seinen Ursprüngen in Kierkegaard sich ausnimmt). 3 Vgl. zum Einfluss Nietzsches auf Adorno (und Horkheimer) Rath (1987). Adornos Philosophie an sich, die man mit Rath als das »Projekt eines durch Nietzsche entideologisierten Sozialismus« (S. 74) lesen kann, ist nicht Gegenstand dieser Studie. 4 Dass der auch von Hegel und Marx herkommende Adorno zugleich ein vehementer Kritiker jener Denker ist, die die esoterische Essenz ihrer Liebe zur Wahrheit in die Einsamkeit flüchten, wird in dieser Arbeit nur am Rande thematisiert. 5 Adorno (2003), S. 13. 6 Im Gegensatz zu Habermas (2005) nehme ich den Ausdruck »richtiges Leben« nicht streng analytisch, so, als wäre er von Adorno konzipiert als entweder ›richtig‹ oder ›falsch‹ unter Ausschluss einer dritten Möglichkeit. 7 Auch Miles (2006) bemüht sich darum, Kierkegaards und Nietzsches Gemeinsames als ethisches Fragen auszuweisen: »we should understand Kierkegaard and Nietzsche as pursuing the same basic ethical project: the project of illustrating, analyzing, and evaluating different ways of life as a whole.« (S. 441) Hier wird versucht, diesem Anliegen systematische Kontur zu geben. Angier (2006) jedenfalls zeigt unfreiwillig, wie man es nicht machen sollte. Diese Studie hinterlässt den Eindruck, dass das ausgefochtene Duell zwischen Kierkegaard und Nietzsche im Grunde schon wegen der persönlichen Präferenzen des Verfassers vorentschieden war, wobei das Punkten für Nietzsche allein der Erhöhung der Dramatik dient. Diesem die Sache verzerrenden Zugriff auf Kierkegaard und Nietzsche wird hier alternativ ein nachbildender Zugang gegenübergestellt, der möglichst absieht von eigenen Überzeugungen und also sich öffnen will für den Geist dieser Philosophien. Auch Lippitt (2007) kritisiert in einer fairen Besprechung dieses Buchs die nicht jederzeit gut begründete Präferenz für Kierkegaard.

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Die Frage nach dem gelingenden Leben als Tertium comparationis

innert an Nietzsches Wie die ›wahre Welt‹ endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrthums. (GD – 80 f.), hat aber auch bei Kierkegaard ein entsprechendes Vorbild. 8 Hier ist allein die Beobachtung entscheidend – da aus ihr ›beispielhaft‹ hervorgeht, was exemplarisches Denken meint –, wie Adorno sich in eine Reihe mit Kierkegaard und Nietzsche stellt: Denn historisch ist ja die von Adorno gezeichnete Linie falsch, insofern die Philosophien Kierkegaards und Nietzsches eminente Unterbrechungen der Dekadenz des Fragens nach dem gelingenden Leben sind. Dass die exemplarischen Denker je in andere historische Umstände hineingeboren wurden, je spezifische philosophische Sozialisationserfahrungen durchlebt haben, ihr Ethos also an einer ihnen je anders begegnenden Umwelt etablieren müssen, ist bezogen auf die hier entwickelte Fragestellung nebensächlich. Um die Sache exemplarischen Denkens und die durch sie vermittelte Frage nach dem guten Leben aufrechtzuerhalten, so gibt Adorno zu verstehen, hat sie überlieferten Entwürfen notwendig kritisch gegenüber zu stehen. Die ›fröhliche Wissenschaft‹ Friedrich Wilhelm Nietzsches verkehrt sich, ein paar Generationen später scheinbar unwillkürlich, zur »traurigen Wissenschaft« Theodor Wiesengrund Adornos. Die Hoffnungen, so scheint Adorno anzeigen zu wollen, die Nietzsche zur Diskussion stellte, sind geschichtlich gnadenlos enttäuscht worFür Kierkegaard ist das Christentum wesentlich Ethik und also an die Frage nach dem gelingenden Leben geknüpft, wobei er dieses existenzorientierende Ideal in Der Augenblick einem Geschichtsverlauf ausgeliefert sieht, der es sukzessive um seine Essenz bringt: »Man hat die Geschichte schon oft mit dem verglichen, was die Chemiker einen Prozeß nennen. Dies Bild kann durchaus bezeichnend sein, wohlgemerkt, wenn man es richtig versteht. Man spricht von einem Filterprozeß; Wasser wird gefiltert und setzt in diesem Prozeß die unreinen Bestandteile ab. Ganz im entgegengesetzten Sinne ist die Geschichte ein Prozeß. Die Idee wird angebracht – und geht nun ein in den Prozeß der Geschichte. Aber dieser besteht unglücklicherweise nicht darin – eine lächerliche Annahme! – die Idee zu läutern, die niemals reiner ist als bei ihrem Ursprung, nein, er besteht darin, in steter Steigerung die Idee zu verhunzen, zu verpfuschen und zu zerreden, die Idee zu verbrauchen und – das Widerspiel des Filtrierens – die ursprünglich fehlenden, unreineren Bestandteile zuzusetzen, bis es schließlich durch das begeisterte, sich gegenseitig anerkennende aufeinanderfolgende Zusammenwirken einer Reihe von Geschlechtern erreicht ist, daß es mit der Idee völlig aus ist und das Widerspiel der Idee das geworden ist, was jetzt die Idee genannt wird, mittels der Behauptung, dies sei erreicht durch den historischen Prozeß, worin die Idee geläutert und veredelt werde.« (A – 216) Die Zitierweise der Werke Kierkegaards und Nietzsches folgt im Übrigen dem transparenten Muster: Werksigle – Seitenzahl. Vgl. für die Auflösung der Siglen und die verwendeten Ausgaben das Literaturverzeichnis.

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den. Sie sind außerdem gebunden an den sie Fortschreibenden, den ›Mitschaffenden‹, ›Mitfeiernden‹, und Adornos Biografie, eingebunden in eine andere historische Situation, hat nicht die Möglichkeit, ungebrochen weiter auf ›Fröhlichkeit‹ zu bauen. Die sich durch exemplarisches Denken je spezifisch aktualisierende Frage nach dem gelingenden Leben ist dabei zugleich introspektiv, so dass allein durch andauernde Kritik der sich im Denkenden spiegelnden Umwelt die Wirklichkeit dieses Denkens sich etabliert. Für Adorno steht fest, dass, »wer die Wahrheit übers unmittelbare Leben erfahren will […] dessen entfremdeter Gestalt nachforschen« muss, »den objektiven Mächten, die die individuelle Existenz bis ins Verborgenste bestimmen«. 9 Das auf Selbsterkenntnis ausgerichtete exemplarische Denken geht also aus von einer konkreten biografischen Existenz, die sich innerhalb einer sie bindenden und bestimmenden Ordnung entwickelt, wobei der in die Frage nach dem gelingenden Leben vorausgesetzte Prozess der Selbsterkenntnis notwendig eine introspektive Dynamik lostritt, aus der ethische Orientierung erwächst. Adorno setzt sich also nicht primär – das ist das bleibend Avantgardistische an seinem Zugang zu Kierkegaard und Nietzsche – mit den entsprechenden Philosophemen auseinander, er fragt nicht, was die »Stadienlehre« bedeutet, was der »Wille zur Macht« uns sagen will. Adorno eignet sich – als vom Pathos jener Philosophien Betroffener – vielmehr das Ethos der beiden Denker konstruktiv und zugleich kritisch an, indem er sie einbindet in sein persönlich und historisch kontingentes Selbst- und Weltverhältnis. Er ist damit seiner Zeit im Umgang mit diesen Denkern – wenn man so möchte – ›ewig‹ voraus, insofern exemplarisches Denken nur durch die konkrete Aktualisierung durch spezifische Menschen lebt. Als objektive Theorie hat es keine Wirklichkeit. Diesen allgemeineren Erwägungen zur Sache des exemplarischen Denkens soll nun, im Vorblick auf das Ganze dieser Studie, systematische Kontur gegeben werden.

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»Ausnahme« und »Einsamkeit«: Anti-Begriffe exemplarischen Denkens

I.1.2 »Ausnahme« und »Einsamkeit«: Anti-Begriffe exemplarischen Denkens In den Minima Moralia findet sich ein Satz, dessen inspirierende Kraft das in dieser Studie entworfene, entwickelte und erprobte Werkvergleichsmodell bezogen auf die Frage nach dem gelingenden Leben bei Kierkegaard und Nietzsche komprimiert enthält. Dessen Momente können fruchtbar gemacht werden als die nachweislich im Werk beider Philosophen selbst angelegte teleologische und zugleich systematisch rekonstruierbare Ausrichtung am »Einzelnen« und »Einsamen« als Utopien gelingenden Lebens. Er lautet: »Nur dort vermag Erkenntnis zu erweitern, wo sie beim Einzelnen so verharrt, dass über der Insistenz seine Isoliertheit zerfällt.« 10 Dieser sich gegen die »Unmenschlichkeit« des hegelschen »Idealismus« – der, kaum dass er an das Besondere rührt, es auch schon zum bloßen Durchgangsmoment stempelt – verwahrende Satz besteht aus drei Momenten. Der Voraussetzung eines historisch und gesellschaftlich determinierten Status quo des Denkens/des Einzelnen (Isoliertheit), der Formulierung eines prozessual zu denkenden Ethos des Denkens (Insistenz) und einem Telos (dem Zerfall jener Isoliertheit). Adorno erläutert dies mit einem konstruktiv-kritischen Verweis auf den Idealismus: Das setzt freilich auch eine Beziehung zum Allgemeinen voraus, aber nicht die der Subsumtion, sondern fast deren Gegenteil. Die dialektische Vermittlung ist nicht der Rekurs aufs Abstraktere, sondern der Auflösungsprozeß des Konkreten in sich. Nietzsche […] hat davon gewußt. 11

Wie einleitend angekündigt gibt es die herausragende Möglichkeit, das Werk Kierkegaards und Nietzsches als Ganzes unter eine vergleichende Perspektive zu bringen, indem man den »Einzelnen« und den »Einsamen« als Utopien gelingenden Leben fasst und deren Bedeutung vermittelt anvisiert über die Ausnahmetheorie Kierkegaards und die Einsamkeitslehre Nietzsches, welche sich wechselweise durchdringen lassen. Diese Möglichkeit wird in den nächsten Kapiteln des ersten Teils entworfen. In diesem Abschnitt soll gezeigt werden, inwiefern der maßgebliche Leitsatz Adornos durch Werner Stegmaiers Konzept der »Anti10 11

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Lehre« 12 konstruktiv systematisiert werden kann, indem man ihn durch die je dreifach in sich zu unterscheidenden Anti-Begriffe »Ausnahme« und »Einsamkeit« stärkt, und wie umgekehrt Stegmaiers Konzept der »Anti-Lehre« mit Adorno kritisiert werden muss, indem dem man es an seinen ursprünglich ethischen Sinn rückbindet, womit es sozusagen ›vom Kopf auf die Füße‹ gestellt wird. Es ist die Frucht der Anti-Lehren-Konzeption Stegmaiers, den Umgang mit Nietzsche entkrampft und vor allem entdogmatisiert zu haben. Sie geht davon aus, dass das oft erschütternde Pathos, mit dem Nietzsche seine vermeintlichen Lehren vertritt, durch diesen selbst relativiert, ironisiert, perspektiviert wird. Durch diesen entspannenden Zugang zu Nietzsches Werk – dessen methodische Fruchtbarkeit hier auf Kierkegaard übertragen wird 13 –, kann der unermessliche Reichtum dieses Denkens gelassen zu Tage gefördert werden. 14 Vgl. etwa Stegmaier (1995) und (2000), auch (2012), S. 15–24. Die Übertragung der Anti-Lehre-Konzeption auf Kierkegaards Denken ist nicht nur deswegen legitim, weil die vorliegende Studie eben offen lässt, wie Kierkegaard den christlichen Gott für eine Ethik auslegt, sondern vor allem auch deswegen, weil Anti-Climacus selbst das Christentum als eine Art Anti-Lehre konzipiert. So schreibt Anti-Climacus: »Aber die ganze moderne Philosophie hat alles getan, um uns weiszumachen, daß Glaube eine unmittelbare Bestimmung sei, das Unmittelbare selber sei, was wiederum damit zusammenhängt, daß man die Möglichkeit des Ärgernisses abgeschafft, das Christentum zu einer Lehre gemacht, den Gott-Menschen und die Situation der Gleichzeitigkeit abgeschafft hat. Was die moderne Philosophie unter Glauben versteht, ist eigentlich das, was man eine Meinung nennt, oder was man in der gewöhnlichen Umgangssprache glauben nennt. Das Christentum wird zu einer Lehre gemacht; diese Lehre wird dann einem Menschen verkündigt, und der glaubt nun, es sei so, wie diese Lehre sagt. Das nächste Stadium wird dann darum sein, diese Lehre zu ›begreifen‹, was die Philosophie tut. Dies wäre alles ganz richtig, wenn das Christentum eine Lehre wäre. Da es das indessen nicht ist, so ist dies auch völlig verkehrt.« (EC – 162 f.) 14 Auch Adorno ist in Zueignung zu Minima Moralia darauf aufmerksam – und beweist seine These durch die Tat –, dass mit Nietzsche (und Kierkegaard) das Innen des Subjekts an Reichtum gewonnen hat, den es zu kultivieren gilt. So heißt es gegen Hegel, dem das Individuum »weithin, naiv, für die irreduzible Gegebenheit« gilt, womit er die Dialektik zwischen der »bürgerlichen Gesellschaft« und dem »Individuum«, beide hypostasierend, nicht »wahrhaft« austrägt: »In der individualistischen Gesellschaft jedoch verwirklicht nicht nur das Allgemeine sich durchs Zusammenspiel der Einzelnen hindurch, sondern die Gesellschaft ist wesentlich die Substanz des Individuums. / Darum vermag die gesellschaftliche Analyse aber auch der individuellen Erfahrung unvergleichlich viel mehr zu entnehmen, als Hegel konzedierte, während umgekehrt die großen historischen Kategorien nach all dem, was mittlerweile mit ihnen angestiftet ward, vorm Verdacht des Betrugs nicht mehr sicher sind. In den 12 13

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Das Konzept der »Anti-Lehre« erweist sich allerdings bei näherer Betrachtung auch als eigentümlich unbefestigt, es schwebt unbestimmt über dem Werk und kontempliert dessen Gehalte rein abbildend, kann es damit bis in feinste Verästelungen filigran nachzeichnen, scheinbar vermeintliche Zerklüftungen innerhalb des Werks selbst – sub specie aeterni, mit Kierkegaards Verwendung dieser Formel zu reden – überbrücken, ohne den Grund angeben zu müssen, der eine »Anti-Lehre« überhaupt erfordert. 15 Allerdings hundertundfünfzig Jahren, die seit Hegels Konzeption vergingen, ist von der Gewalt des Protests manches wieder ans Individuum übergegangen. Verglichen mit der altväterischen Kargheit, die dessen Behandlung bei Hegel charakterisiert, hat es an Fülle, Differenziertheit, Kraft ebensoviel gewonnen, wie es andererseits von der Vergesellschaftung der Gesellschaft geschwächt und ausgehöhlt wurde.« (Adorno (2003), S. 16 f.) 15 Im gegenwärtigen Forschungsdiskurs um Kierkegaard und Nietzsche ist es – die Anti-Lehre-Konzeption spiegelt dies – gemütlich geworden. Man hat Mittel gefunden, die spezifisch abgründigen Probleme, mit denen sich diese Denker w i r k l i c h auseinandersetzen, die existentiell bedrohlichen Zerklüftungen, die diesem Werk wesentlich sind, zu entdramatisieren, zu relativieren, zu banalisieren, zu verschleiern. Um ein Beispiel zu nennen, das diesen Umstand spiegelt: In Stegmaier (2012) findet sich in Vorwort folgende Einschätzungen zur Geschichte der Nietzsche-Auslegung, die den Nietzsche-Boom der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und die noch nicht ausgeschöpften Möglichkeiten dieser Philosophie quasi als Vordersatz hat. »Seit Martin Heideggers Interpretation, die auf die dreißiger und vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückgeht, hat man sich vor allem an die berühmten Lehren vom Tod Gottes, vom Übermenschen, vom Willen zur Macht und von der ewigen Wiederkehr des Gleichen gehalten und nach ihrer systematischen Verknüpfung gefragt. Sie haben Nietzsches Werk stark überblendet. Nietzsche hat die Gedanken des Übermenschen und der ewigen Wiederkehr des Gleichen jedoch seinem Zarathustra vorbehalten, den er als Lehrer einführt und als solchen scheitern lässt. Als Lehren, wenn sie denn so gemeint sind, haben sie viel Unheil bewirkt; die des Übermenschen hat Nietzsche den Ruf eines faschistischen Vordenkers eingebracht. In der Philosophie wurden sie kaum weiterverfolgt; inzwischen gilt Nietzsche auch kaum mehr als politisch gefährlich. In diesem Buch [Werner Stegmaiers, R. R.] wird auf dem jetzt erreichten Stand der Nietzsche-Forschung gefragt, worauf die anhaltende Attraktivität von Nietzsches Philosophie beruht.« (S. V) Um gleich auf den Punkt zu kommen: ist die Beobachtung, dass heute Nietzsche kaum mehr als politisch gefährlich gilt, angesichts dessen, worum es Nietzsche in seiner Philosophie geht, in Auseinandersetzung mit Nietzsche die entscheidende? Oder wird hier nicht vielmehr mit dem Rekurs auf den »Fortschritt« des (subjektivierten) Forschungsdiskurses, die entscheidende Sache weggeschnitten, nämlich die »genetische« Verbundenheit einer Philosophie mit einer Epoche abgründiger Krisen? In Stegmaiers Schilderung gibt es eine eigentümlich optimistische Sphärenüberlappung zwischen dem Umgang mit Nietzsche und dem Gehalt der Philosophie Nietzsches, wobei unterstellt wird, dass die Probleme, mit denen Nietzsche rang, durch den Fortschritt des Forschungsdiskurses behoben wurden, und Modulationen der Einsamkeit

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hebt Nietzsches Philosophie nachweislich nicht mit der Formulierung einer »Anti-Lehre« an, sondern mit dem Versuch, verbindliches Wissen zu formulieren. 16 Die Annahme, dass dieser Anspruch spurlos verpufft, ist psychologisch unplausibel. Diese Beobachtung legt die Vermutung nahe, die im Werk angelegten »Anti-Lehren« dann zu bewerten als eine Reaktion auf die sich zunehmend erschwerende Behauptung der ursprünglichen Positionierung. Es wird hier also die These vertreten, dass man der Rede von der »Anti-Lehre« einen neuen Aspekt abgewinnen kann, wenn man sie mit dem Rückhalt Adornos befestigt an den hier als solche auszuweisenden »Anti-Begriffen« »Ausnahme« und »Einsamkeit«. »Ausnahme« und »Einsamkeit« werden in dieser Studie als diese Überlappung instrumentalisiert zuletzt »Nietzsche« als Bürge dafür, d a s s w i r w i r k l i c h b e s s e r g e w o r d e n s i n d . Wie kaum andere Denker förderten gerade Kierkegaard und Nietzsche die Schattenseiten menschlicher Existenz zu Tage und integrierten diese in ihre bedingungslose Liebe zur »Wahrheit«, durchlebten den Wahnsinn, der unter Umständen an die Form »Mensch« gebunden ist. Dieser Tatsache kann man durch den Zugang zu Kierkegaard und Nietzsche über Adorno eingedenk bleiben. Stegmaier (2003) ist der theoretische Ausdruck dieser ätherisierenden Interpretation. Darin formuliert Stegmaier bezogen auf das Ausnahmetheorem Kierkegaards, das er mit Nietzsches Gedanken zur Sache analogisiert: »In der Reflexion der Unterscheidung von Regel und Ausnahme, wie Kierkegaard und Nietzsche sie vollziehen, kann die Regel beständig zur Ausnahme und die Ausnahme zur Regel werden. Einmal vollzogen, kann man sich dieser Reflexion nicht mehr entziehen. Sie eröffnet die Möglichkeit, einander in der moralischen Beurteilung weniger zu normieren, zu kontrollieren und zu sanktionieren, also einzuschränken und zu hemmen, […] als einander als Ausnahmen zu erkennen und anzuerkennen und so voneinander zu lernen und im Austausch miteinander sein moralisches Urteil zu entwickeln. Man setzt einander dann Zeichen im Ethischen.« (S. 137) Derartige Darstellungen sind etwa angesichts Kierkegaard, für den Abrahams Bereitschaft, seinen Sohn zu opfern, eine Ausnahmesituation im eminenten Sinne darstellt, welches Motiv von Nietzsche in seinem Zarathustra weiterverarbeitet wird, nicht nur zu mild, sondern auch sachlich falsch. 16 So lautet der den ersten Paragraphen von Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik programmatisch einleitende Satz: »Wir werden viel für die ästhetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des A p o l l i n i s c h e n und des D i o n y s i s c h e n gebunden ist: in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt.« (GT – 25) Vor diesem Hintergrund kann Stegmaiers nicht näher begründete Überzeugung, bei der Tragödienschrift handele es sich in Analogie zu Nietzsches Zur Genealogie der Moral um eine »Streitschrift«, nur irritieren (vgl. Stegmaier (1995), S. 229).

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»Ausnahme« und »Einsamkeit«: Anti-Begriffe exemplarischen Denkens

»Anti-Begriffe« par excellence vorgestellt. Die Pointe ihrer Operationalisierung durch die hier vorgestellten Denker ist, dass das vorausgesetzte ›Ja‹ als das das ›Anti‹ tragende Moment, dass deren Wesentliches un-begrifflich bleibt und umrissen werden kann, wenn man den »Einzelnen« und den »Einsamen« als Utopien gelingenden Lebens vorstellt. Indem man schließlich mit Adorno das »Anti-Lehre«-Konzept an die »Anti-Begriffe« »Ausnahme« und »Einsamkeit« rückkoppelt, wird man eines Sachverhaltes gewahr, den Stegmaier ausblendet bzw. ausdrücklich negiert, womit er eine »Lehre« zieht aus den Versuchen, aus Nietzsches Philosophie Lehren herauszudestillieren. Wie Adornos konstruktiv rückprojizierter Leitsatz es anzeigt, orientieren sowohl Kierkegaard als auch Nietzsche ihr exemplarisches Denken, ihr Fragen nach dem gelingenden Leben an einer Größe, deren ethisch verbindliche Kraft nicht allein aus inter-individueller Vermittlung entspringt. 17 Es wird sich jedenfalls – mit Adorno, der dieses selbst angesichts des negativen Zenits der Moderne nicht preisgibt – zeigen, dass man – rekapituliert man, was Kierkegaard seiner AusnahmeDas hier Gemeinte kann schlaglichtartig anvisiert werden, obschon es nicht die Ambition dieser Arbeit ist, jenen orientierenden Bezugspunkt inhaltlich näher zu bestimmen. Es ist allein das Anliegen zu zeigen, dass es ihn gibt. Bei beiden Denkern wird »die Sache« pathetisch ins Wort gebracht durch die Unterstellung eines wie auch immer genauer vorzustellenden Gnadenaktes einer alles Menschliche überragenden Macht. Die programmatischen Worte, mit denen Kierkegaard Wilhelm in Entweder – Oder seine Selbst-Wahl-Theorie weihen lässt, werden mit folgendem Vordersatz antikem Ideengut opponiert – »Es gibt manche, die einen außerordentlichen Wert darauf legen, irgendein bemerkenswertes welthistorisches Individuum von Angesicht zu Angesicht erblickt zu haben. Diesen Eindruck vergessen sie nie, er hat ihrer Seele ein ideales Bild geschenkt, das ihr Wesen adelt; und doch ist dieser Augenblick, wie bedeutungsvoll er auch sei, nichts gegen den Augenblick der Wahl.« (EO II – 727) – und lauten wie folgt: »Wenn da alles still um einen geworden ist, feierlich wie eine sternenklare Nacht, wenn die Seele allein ist in der ganzen Welt, da zeigt sich vor ihr nicht ein ausgezeichneter Mensch, sondern die ewige Macht selbst, da tut gleichsam der Himmel sich auf, und das Ich wählt sich selbst, oder richtiger, es empfängt sich selbst. Da hat die Seele das Höchste gesehen, was kein sterbliches Auge zu sehen vermag und was nie mehr vergessen werden kann, da empfängt die Persönlichkeit den Ritterschlag, der sie für eine Ewigkeit adelt.« (EO II – 727 f.) Dieser Satz hat strukturell (nicht inhaltlich freilich) besehen – das ist hier das Entscheidende – sein Analogon in Nietzsches Also sprach Zarathustra: »Mit lässigen Muskeln stehn und mit abgeschirrtem Willen: das ist das Schwerste euch Allen, ihr Erhabenen! / Wenn die Macht gnädig wird und herabkommt in’s Sichtbare: Schönheit heisse ich solches Herabkommen. / Und von Niemandem will ich so als von dir gerade Schönheit, du Gewaltiger: deine Güte sei deine letzte Selbst-Überwältigung.« (Z – 152)

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theorie und Nietzsche seiner Einsamkeitslehre unterstellt – an aufeinander aufbauende und sich aufeinander beziehende Angelpunkte ihrer Werke geführt wird, welche die Bemühung tragen, wieder an den Ursprung der einen, allein wirklich ethisch verbindlichen Wahrheit zu gelangen (Kierkegaard) bzw. durch das Abtragen einer in sich widersinnig gewordenen Weltauslegung neue Werte zu setzen (Nietzsche). 18 Befestigt man also die »Anti-Lehre«-Konzeption an die mit Adorno durchzuführenden Anti-Begriffe »Ausnahme« und »Einsamkeit«, legt sich die ethisch-existentielle Dimension jenes Denkens unwillkürlich frei, welches sich über Verfahren indirekten Mitteilens auch unwillkürlich etabliert – ihrem idealen Begriff nach jenseits der Verkapselung des je individuierten Geistes in seinen »natürlichen Differenzen«. Das hier in Betracht kommende exemplarische Denken ist im Ursprung bei Sokrates und damit im Prinzip kein exklusives Geschäft, sondern sieht sich motiviert durch eine Energie, die allen Menschen als »Menschen« gemeinsam ist, einer wie auch immer näher zu bestimmenden Allgemeinheit, auch wenn diese in der Moderne eigentümlich überschattet ist und nur vermittelt, indirekt aufleuchtet, etwa in einem Buch, das den paradoxen Titel trägt, zugleich für alle und keinen zu sein. 19 Stegmaier unterstellt in seinem Zugang zu Nietzsche nicht, dass die Rede vom Allgemeinen als der den Einzelnen ethisch orientierenden Größe abgetan wäre. Dieses konstituiert sich seiner sozialtheoretischen Auffassung gemäß allerdings nur interindividuell (dies wird besonders deutlich in Stegmaier (2013)). Es wird in der hier vorgeschlagenen gegenüberstellenden Auslegung Nietzsches und Kierkegaards in Zweifel gezogen, ob man die Frage nach dem gelingenden Leben bei Kierkegaard und Nietzsche allein durch Sozialtheorie stimmig in den Blick bringen kann. Mit Adornos Adaption eines Ferdinand-Kürnberger-Wortes zu reden (vgl. Adorno (2003), S. 20): das sozialtheoretisch erfasste »Leben« lebt nicht, schneidet vielmehr die Konnotation systematisch heraus, um deren Erfüllung – so die leitende These dieser Studie – Nietzsches und Kierkegaards Philosophie unbeirrt ringt: »Gemeinsamkeit« als Zerfall eines isolationistischen Weltbildes, dessen Individuen die Möglichkeit droht, diesen Missstand nicht mehr als Missstand erfahren und thematisieren zu können. In diesem Sinne heißt es bei Adorno programmatisch: »Angesichts der totalitären Einigkeit, welche die Ausmerzung der Differenz unmittelbar als Sinn ausschreit, mag temporär etwas sogar von der befreienden gesellschaftlichen Kraft in die Sphäre des Individuellen sich zusammengezogen haben. In ihr verweilt die kritische Theorie nicht nur mit schlechtem Gewissen.« (Adorno (2003), S. 16) 19 Bei Adorno klingt diese Einsicht – dass auch indirektes Mitteilen Verbindliches behaupten möchte – im Aphorismus Beitrag zur Geistesgeschichte, in welchem er in Analogie zu Kierkegaard von Der Augenblick ein Brechmittel mischt (vgl. A – 103 f.), 18

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»Ausnahme« und »Einsamkeit«: Anti-Begriffe exemplarischen Denkens

Das hier Dargelegte kann an einem Beispiel zusammenfassend veranschaulicht werden. Stegmaier formuliert: Nietzsche hat Also sprach Zarathustra als ›Tragödie‹ eines Einzelnen angelegt, der damit scheitert, sich anderen mitzuteilen, nicht als theoretische Abhandlung. Eine Tragödie, eine Dichtung aber kann man, wenn man sie ernst nimmt, nicht in begriffliche Theoreme und Systeme, in die lehrbare Wahrheit einer allgemeinen Vernunft auflösen. Vielmehr zeigt der ›Untergang‹ Zarathustras den Untergang eben dieser Art von Wahrheit an, der Wahrheit, auf die Sokrates die europäische Philosophie in ihren Anfängen verpflichtet hatte. 20

Diese Setzung wird in der vorliegenden Studie versuchsweise in ihrer Bedeutung umgekehrt, indem unterstellt wird, dass sich die philosophische Liebe zum Menschen als »Menschen« im Zarathustra in die »Einsamkeit« als den allgemein-menschlich normierenden »Anti-Begriff« schlechthin flüchtet und damit vermittelt erhält, und – mit Adorno zu reden – als Flaschenpost jederzeit ihrer Öffnung und Verwirklichung harrt. Adorno war früh schon auf die Indirektheit des Kommunizierens (welcher Sachverhalt die letzten Jahrzehnte des Forschungsfokus bei Kierkegaard und Nietzsche dominierte) aufmerksam, übertrieb diese allerdings nicht zur Verdrehung von deren Sinn, sondern dachte sie exemplarisch fort.

indem er zeitgemäße Rezensionen des Zarathustra aneinanderreiht – so: »Es half alles nichts [gemeint ist die Unterbrechung Nietzsches direkter Kommunikation mit seiner Zeit, R. R.] – beschwingt ungläubige Pfaffen und Exponenten jener organisierten ethischen Kultur, die später in New York Emigrantinnen, denen es einmal gut ging, als Servierfräulein abrichtete, haben an der Hinterlassenschaft dessen sich gütlich getan, der bangte, ob einer ihm zuhörte, als er ›heimlich ein Gondellied‹ sich sang. Schon damals war die Hoffnung, in der Flut der hereinbrechenden Barbarei Flaschenposten zu hinterlassen, eine freundliche Vision: die verzweifelten Lettern sind im Schlamm des Quickborns steckengeblieben und von einer Bande von Edelmenschen und anderem Gesindel zu hochkünstlerischem, aber preiswertem Wandschmuck verarbeitet worden. Seitdem kam der Fortschritt der Kommunikation erst recht in Schwung. Wer will es schließlich selbst den allerfreiesten Geistern verübeln, wenn sie nicht mehr für eine imaginäre Nachwelt schreiben, deren Zutraulichkeit die der Zeitgenossen womöglich noch überbietet, sondern einzig für den toten Gott?« (Adorno (2003), S. 238 f.) 20 Stegmaier (2000), S. 194. Modulationen der Einsamkeit

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I.1.3 Der »Einzelne« und der »Einsame« als Utopien gelingenden Lebens Das hier abstrakt entworfene Tertium comparationis bringt den »Einzelnen« Kierkegaards und den »Einsamen« Nietzsches als Utopien gelingenden Lebens in den Blick, wobei Adornos Satz »Nur dort vermag Erkenntnis zu erweitern, wo sie beim Einzelnen so verharrt, dass über der Insistenz seine Isoliertheit zerfällt« 21 die Struktur des Vergleichsmodells vorgibt und die Möglichkeit offen hält, das Leben nicht nur als »beschädigtes« zu erfahren. Adornos Erläuterung muss hier noch einmal in Erinnerung gerufen werden, um die in den nächsten Kapiteln einzuholende anti-begriffliche Vermittlung jener moralkritisch zugespitzten, utopischen Ethikkonzeptionen plastischer nachvollziehen zu können: »Das setzt freilich auch eine Beziehung zum Allgemeinen voraus, aber nicht die der Subsumtion, sondern fast deren Gegenteil. Die dialektische Vermittlung ist nicht der Rekurs aufs Abstraktere, sondern der Auflösungsprozeß des Konkreten in sich.« 22 Die Beziehung des Denkens/Einzelnen zum Allgemeinen wird hier negativ – und kritisch gegen Hegel – formuliert. Die ausstehende Versöhnung beider Komponenten – die gelingendes Leben verbürgen würde – wird bei Kierkegaard und Nietzsche nicht dadurch errungen, indem das einzelne Individuum sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst würde und seinen Platz in der gegeben Ordnung einnähme, von der angenommen ist, dass sie als wirkliche ihre Güte verbürgt, sondern – »fast« – umgekehrt: die im Individuum vorausgesetzte Anlage zu gelingendem Leben wird nahezu ausschließlich negativ erfahren, insofern die herrschenden Verhältnisse erschlagend als nicht-sein-sollende Ordnung (»Verblendungszusammenhang«) erfahren werden, wobei das Individuum – notwendig im Falschen des Ganzen verstrickt – allein dadurch zu seiner Bestimmung kommt, insofern es an sich Sedimentierungen falschen Lebens abträgt. Dadurch allein kann freigelegt werden, was sein soll, auf einen positiven Begriff wird es allerdings nicht gebracht. Diese hier auf ihre ethische Bedeutung heruntergebrochene ›negative Dialektik‹ äußert sich als Moralkritik, insofern – so die Einschätzung Kierkegaards und Nietzsches – die Substanz jeder Ethik unmittelbar ›die Moral‹ ist. Entsprechend werden die Utopien des »Einzelnen« und 21 22

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»Einsamen« an einem Punkt verankert, der die Sphäre der Moral im Prinzip überbietet, der Sphäre des Begriffs allerdings unzugänglich bleibt. Es gilt nun, diese Thesen am Text selbst zu bewähren. In Kapitel I.2 wird gezeigt, wie das im Ansatz moralkritische Ausnahmetheorem Kierkegaards die Werkentwicklung als Ganze teleologisch organisiert. In Kapitel I.3 wird die Bedeutung der gleichermaßen moralkritischen Einsamkeitslehre für das Werkganze Nietzsches herausgestellt; da dies in der Forschung kein Vorbild hat, muss hier der Auslegung Nietzsches mehr Raum gegeben werden. Aus diesen Darstellungen wird sich ein komplexitätsreduzierender und konsistenter Blick auf den Denkweg – nicht auf die inhaltliche Totalität – dieser Philosophen werfen lassen, der sich aus der Selbstthematisierung des Werks ergibt, zu Zwecken einer dann zu entwickelnden (Teil II) und zu erprobenden (Teil III) Vergleichsfolie (I.4).

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I.2 Die Bedeutung der Ausnahmetheorie für das Werkganze Kierkegaards

In diesem Kapitel soll dargestellt werden, inwiefern das Problem der Möglichkeit und Wirklichkeit von Ausnahmen maßgebliche Bedeutung hat für die Werkentwicklung Kierkegaards überhaupt. Die Ausnahmeproblematik organisiert, unterscheidet man sie auf eine im Werk selbst angelegte Weise konstruktiv, die pseudonymen Schriften Kierkegaards bis zur Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift. Und allein die Anti-Climacus-Schriften – von Kierkegaard selbst als die »Schriften der Erfüllung« 1 bezeichnet – heben die Ausnahmeproblematik, begrifflich unvermittelbar, auf in den »Einzelnen«, der als Utopie gelingenden Lebens die Denkanstrengungen Kierkegaards nachweislich zusammenhält. 2 Die Theorie der Ausnahme formuliert sich bei Kierkegaard vor allem 3 in Entweder – Oder (1843), Die Wiederholung (1843), 4 Furcht Gerdes (1982) exponiert die Tatsache, dass Kierkegaard seinem Selbstverständnis nach mit Anti-Climacus den Zenit seiner religiösen Schriftstellerei erreicht hat. 2 Vgl. hierzu den Abschnitt I.4.2.2. 3 Diese Zuordnung leistet auch Theunissen (1971), Sp. 667 f. Dass das Ausnahmetheorem und der »Einzelne« auf eine komplexe Weise miteinander verquickt sind, ist zu belegende These dieser Studie. Dabei wäre es eine weitere Untersuchung wert genauer hinzusehen, in welche lebensweltlich konkreteren Fassungen als den »Einzelnen« sich der Gehalt der »Ausnahme« verzweigt und moduliert. So wären Schriften wie Hat ein Mensch das Recht, sich für die Wahrheit totschlagen zu lassen? Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel oder die Schrift Das Buch Adler oder der Begriff des Auserwählten zu berücksichtigen, welche im Niemandsland zwischen Philosophie und Theologie vagabundieren und die Möglichkeiten des menschlich Erfassbaren zugleich ausreizen und eingrenzen (letztere Schrift, in der Kierkegaard sich auseinandersetzt mit einem Pastor, der ein Offenbarungserlebnis gehabt zu haben vorgibt, findet Berücksichtigung bei Kodalle (1982), S. 205–217). Auch der »Märtyrer« wäre eine Figur, die man daraufhin untersuchen könnte, inwieweit zentrale Motive des Ausnahmetheorems in sie eingelassen werden. All diesen Möglichkeiten kann in dieser Arbeit nicht vertieft nachgedacht werden. 4 Es ist ein verblüffender Befund, dass keine Studie existiert, welche das, wofür »die Wiederholung« steht, über das darin exponierte Ausnahmetheorem zu begreifen 1

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und Zittern (1843) und Stadien auf des Lebens Weg (1845). Es wäre, da das Ausnahmetheorem sich im Fluss befindet, vergebliche Mühe, jede Schrift chronologisch, analytisch-kommentierend durchzugehen, da bestimmte Aspekte und Attribute der Ausnahme hinreichend familienähnlich sind, um sie als zusammengehörig zu identifizieren. Entsprechend wird eine konstruktiv-systematische Lesart bevorzugt, welche die analogen Punkte zusammenzieht, ohne doch die jeweilige Neukontextualisierung unkommentiert zu lassen, vielmehr im Gegenteil: Auf die Diskontinuitäten der Form und Darstellung und der Substanz wird im zweiten Teil dieser Studie besonderes Augenmerk gelegt werden, um die Entwicklung des exemplarischen Denkens Kierkegaards hin zu Anti-Climacus nachvollziehen zu können, insofern in ihnen – als den Schriften der Erfüllung – jenes an sein Ziel kommt. 5 Bevor gezeigt wird, inwiefern die – zu Zwecken ihrer Systematisierbarkeit konstruktive – Unterscheidung von Ausnahme in eine faktische, normative und religiöse Fassung dieses moralkritische Konzept stimmig wiedergibt, soll eine allgemeine Erwägung zur Eröffnung des exemplarischen Denkens durch die Ouvertüre 6 Entweder trachtet, obschon Die Wiederholung explizit »Wiederholung« und »Ausnahme« systematisch verknüpft. Stegmaier (2003) hebt an mit diesen Worten: »Die Unterscheidung von Regel und Ausnahme ist die Unterscheidung dessen, was sich wiederholt (regelmäßig eintritt) und was sich nicht wiederholt (nicht regelmäßig eintritt). Die Einheit der Unterscheidung ist also die Beobachtung von Wiederholung bzw. NichtWiederholung.« (S. 127) Sie werden mit einem Verweis auf Die Wiederholung beschlossen. Dies ist ein Einzelfall, der bestimmt nicht den Anspruch erhebt, die Sache erschöpfend dargestellt zu haben. 5 Liest man die pseudonyme Schriftstellerei Kierkegaards vom Ausnahmetheorem her, betritt man also Kierkegaards Werk durch die Hintertür, im Gegensatz zu den maßgeblichen Studien Fahrenbachs (1968) und Greves (1990) zur Ethik Kierkegaards, dann ergibt sich »Anti-Climacus« sozusagen von selbst, insofern es die Leistung dieses Pseudonyms ist, die reale Problematik von Ausnahmen – welche die Werkentwicklung bis Anti-Climacus genetisch verknüpft – auszuhebeln. Die in den zur Debatte stehenden Schriften verhandelte Theorie der »Ausnahme« ist nämlich quantitativ betrachtet relativ marginal. So ist Entweder – Oder ein rund 900 Seiten starkes Buch, und »Ausnahme« wird explizit thematisiert auf ca. 15 Seiten. Dem Anliegen Kierkegaards, so wird in dieser Studie verteidigt, kommt man allerdings näher, wenn man dem Wink folgt, der Entweder – Oder einleitet, nämlich daran zu zweifeln, dass das Innere das Äußere und das Äußere das Innere sei (vgl. EO Vorwort – 11). 6 Die Ouvertüre einer (klassischen) Oper umfasst gewissermaßen als Möglichkeit, andeutungsweise, als Keim das sich in den verschiedenen Akten Auslegende, en détail zu Wort und Musik Kommende. Auch Green (2008) macht diese These der OuverModulationen der Einsamkeit

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– Oder Raum finden, da an ihr sehr schön der anti-begriffliche Ansatz des kierkegaardschen Denkens hervorscheint. Der in der Einsamkeit siegende Herausgeber von Entweder – Oder – »Victor Eremita« – setzt in seinem Vorwort der von ihm vorgeblicherweise zufällig gefundenen Textkompilation, die eine ästhetische und eine ethische Lebensanschauung beinhaltet, Lust an philosophischem Denken voraus, indem er unterstellt, dass der Leser bestimmt schon einmal an dem berühmten philosophischen Satz, dass das Äußere das Innere und das Innere das Äußere sei, zu zweifeln sich angeschickt hat. Der Titel der Ouvertüre des kierkegaardschen Denkens lautet in seiner Gänze: Entweder – Oder. Ein Lebensfragment herausgegeben von Victor Eremita und gibt als solcher bereits die Frage auf: Für was steht das »Entweder Oder«? Und warum ist es »ein« Lebensfragment, wenn doch, wie sich schnell zeigen wird, zwei unterschiedliche Lebensauffassungen von zwei charakterlich deutlich unterschiedenen Persönlichkeiten vorgeführt werden? Victor Eremita gibt hierfür eine Lektürehilfe: er nennt die Titelwahl explizit eine »Täuschung«, die er dadurch gerechtfertigt sieht, dass man den gefundenen Papieren eine »neue Seite abgewinnen könnte, wenn man sie als einem Menschen zugehörig betrachtete«. (EO Vorwort – 23) Der Zweifel an der Identität von Innen und Außen hat sich also bereits am Titel zu erproben – wie wäre es anders denkbar? Der Titel – das Äußere – spiegelt nicht adäquat wider, was er zu sein vorgibt, nämlich das Stellen vor entweder eine ästhetische Lebensanschauung oder eine ethische Lebensanschauung unter Ausschluss einer dritten Möglichkeit als einer Entsprechung des Inhalts – dem Inneren. Man muss, folgt man den Hinweisen Eremitas, die Oberflächenstruktur des Textes, also das, was in ihm auf propositionale Aussagen sich herunterspielen lässt, aufbrechen, um der eigentlichen, nicht direkt vermittelbaren Intention gerecht zu werden. So gesehen kann behauptet werden, dass das anti-begriffliche Ausnahmetheorem unterschwellig in die Anlage von Entweder – türen-Struktur bezogen auf Kierkegaard geltend. Dieser wird hier beigepflichtet. An diesem Bild gibt es aber einen Haken. Eine Ouvertüre zu einer Oper bezieht sich auf dieses Werk allein und nicht auf das Opus des Komponisten im Ganzen. Mozart konnte außerdem deswegen die Ouvertüre zu Don Giovanni ›in nur wenigen Stunden‹ niederschreiben, weil das Werk bereits komponiert war. So verhält es sich bei Kierkegaard in gewissem Sinne spiegelverkehrt: erst nach und nach entwickeln sich die Möglichkeiten, die in der Ouvertüre aufgehoben lagen, zu ihrer Transparenz. Dass diese Metapher auch für die Entwicklung des exemplarischen Denkens Nietzsches Gültigkeit hat, wird sich im Verlauf dieser Studie zeigen.

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Faktische Fassung

Oder insgesamt eingelassen ist als ein Eröffnen der Frage nach dem »Menschen«. Die Ausnahmetheorie darf allerdings nicht im strengen Sinne als »Theorie« verstanden werden, da Kierkegaard darum bemüht scheint, keine Lehre bzw. Theorie vom »Menschen« anzubieten, in denen sich die Frage nach seinem Wesen erschöpfte.

I.2.1 Faktische Fassung Es ist nun zu umreißen, inwiefern das im Ansatz moralkritische Ausnahmetheorem in drei Fassungen zu unterscheiden ist. Entweder – Oder selbst ist als Werk äußerlich betrachtet darauf bedacht, die Ausnahme als möglichen, aber scheinbar seltenen Einzelfall zu verharmlosen. Wilhelm, der Stimmführer des zweiten Teils, hat als Ethiker und Fürsprecher des Allgemeinen 7 das letzte Wort und formuliert seine Theorie der Ausnahme als eine ihm selbst unheimliche Konzession, wobei diese ›Unheimlichkeit‹ sich theoretisch in halblatenten Selbstwidersprüchen spiegelt. Wilhelm gesteht immerhin, dass ein Individuum bei der an es gestellten Aufgabe, das Allgemeine zu verwirklichen, unter Umständen »auf Schwierigkeiten stößt«, indem sich herausstellt, »daß es etwas in dem Allgemeinen gibt, was er [gemeint ist das Individuum als Ausnahme, R. R.] nicht in sein Leben aufnehmen kann […]«. (EO II – 909) Etwas später wird bezogen auf den, der das Allgemeine nicht realisieren kann, wiederholt: »Ein Mensch kann an dieser Unvollkommenheit selber schuld sein, er kann sie ohne sein Verschulden haben, aber es kann Wahrheit darin liegen, dass er das Allgemeine nicht realisieren kann.« (EO II – 909) Das Ausnahmesein wird hier als eine Unvollkommenheit gesetzt, deren fragwürdige Gegebenheit sich nicht innerhalb ethischer Kategorien bedenken lässt. Schuld haben an dieser Unvollkommenheit oder unschuldig in ihr stehen – das scheint nicht der Punkt, das ist nebensächlich: es kann schlicht und ergreifend »Wahrheit« darin Der Ausdruck »das Allgemeine« schillert in Kierkegaards Verwendung – und das soll er. Er ist der existentiell gebrochene Aufhänger der Polemik gegen Hegel bzw. der zum intellektuellen Gemeingut werdenden hegelschen ›Spekulation‹, deren Resultat ethisch-existentielle Orientierungslosigkeit ist. Er muss in Kierkegaards Werk in seiner Bedeutung je aus dem Kontext erschlossen werden. Hier ist er Platzhalter für die Möglichkeit gelingenden Lebens: vermöchte es das Individuum, ›das Allgemeine‹ zu verwirklichen, so wäre sein Leben als gelungen zu betrachten (vgl. zur Auseinandersetzung Kierkegaards mit »Hegel« Thulstrup (1972)).

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liegen, das Allgemeine nicht verwirklichen zu können. Das von Constantin Constantius verfasste Buch Die Wiederholung, dem Furcht und Zittern von Johannes de silentio wesentlich korrespondiert, 8 hat noch weniger Hemmungen, die Sache beim Namen zu nennen. In scharfer Spitze gegen Wilhelm formuliert Kierkegaard mit Constantin also noch im selben Jahr, 1843, aus immoralistischer Perspektive: »Im Lauf der Zeit wird man des ewigen Geschwätzes vom Allgemeinen und Allgemeinen überdrüssig, das bis zur langweiligsten Fadheit wiederholt wird. Es gibt Ausnahmen. Kann man sie nicht erklären, kann man auch das Allgemeine nicht erklären.« (WH – 436) Dass dieser Satz Wilhelms Verteidigung des Allgemeinen, der herrschenden Moral geradezu auf den Kopf stellt, soll hier noch nicht weiter bedacht werden; entscheidend ist allein: »Es gibt Ausnahmen«. Auch diese werden nicht einfach sich selbst überlassen, sondern vielmehr innerhalb einer experimentalpsychologisch generierten, ästhetischen Normenlehre konstruiert. Der »junge Mensch«, der als Dichter jene Ausnahme ist, die es schlicht gibt, ist ein Gedankenprodukt von Constantin Constantius und gehorcht in dessen Experimentanordnung quasi-naturgesetzlichen Dynamiken. In Furcht und Zittern, der Schrift, in der es unumwunden um die religiöse Ausnahme als die »eigentliche[] aristokratische[] Ausnahme[]« (WH – 436) geht, die am Bild des Glaubensritters Abraham, dem Auserwählten Gottes, orientiert wird, heißt es: »Dieses: ursprünglich durch Natur oder Geschichtsverhältnisse aus dem Allgemeinen herausgenommen worden zu sein, das ist der Anfang zum […]«. (FZ – 303) Wozu dies der Anfang ist, spielt hier noch keine Rolle. Entscheidend ist vielmehr die veranschlagte Möglichkeit, dass, unschuldig also durch – ganz allgemein gesprochen – unvorteilhafte Naturanlagen oder durch gesellschaftliche Umbrüche als Erschütterungen der bestehenden Orientierungsraster nicht in der Lage zu sein, die gebotene Pflicht erfüllen zu können, und damit faktisch »Ausnahme« zu sein, ob man es will und weiß, oder nicht. Zuletzt wird in Stadien als die experimentalphilosophische Erfüllung der Ausnahmetheorie der Status des einzelnen Individuums als Ausnahme hypothetisch auf eine ganze Generation ausgeweitet: Unsre Zeit ist nicht die schäbigste; denn es ist gleichsam, als ob die ganze Generation sich mit der fixen Idee quälte, daß sie zum Außerordentlichen Vgl. zu diesem Verweisungszusammenhang den Aufsatzband von Perkins (Hrsg.) (1993).

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Normative Fassung

berufen sei, daß da jeden Augenblick durch eine Abordnung aus dem Rat der Götter Botschaft zu ihr kommen könne, damit sie in der Ratsversammlung Platz nehme, denn so viel ist gewiß: vertraut mit der ganzen Zukunft der Menschheit als Aufgabe fühlt diese Generation jeden Augenblick so, als müsse sie gleich Hermann von Bremenfeld losgehen, um Gott ins Ohr zu raunen, was das Richtigste wäre. (SL – 495 f.)

Die faktische Fassung des Ausnahmetheorems, so wie sie in dieser Studie konstruktiv zu Zwecken der Systematisierbarkeit des Ausnahmetheorems als Ganzem aus dem Werk herausdestilliert wird, hält also die Möglichkeit offen, dass jeder Mensch unter Umständen bzw. eigentümlich perspektiviert Ausnahme sein kann. Es geht hier zugleich um eine ästhetisierende, im Grunde sozialtheoretische Perspektive auf die Wirklichkeit. Sie wird von Constantin Constantius, dem Pseudonym von Die Wiederholung, durchgeführt. Die sich aus ihr ergebende Wirklichkeitsbeschreibung wiederum ist aus der Perspektive des religiösen Pseudonyms Johannes de silentio eine Welt des schlechten Werdens, zu der ein Unterschied gedacht und gelebt werden muss.

I.2.2 Normative Fassung Die normative Fassung des Ausnahmetheorems unterbricht die beschreibende, persönlich unbeteiligte Perspektive auf die Sozialwelt, die aus einer agonalen Dynamik zwischen herausragenden Ausnahmemenschen und der Masse zusammengehalten wird. 9 Der Ausnahme wird nun die Verpflichtung auferlegt – obschon sie ihr Leben nicht in der gegebenen Ordnung von Gut und Böse haben kann –, vermittelt doch dieses zu sanktionieren, was durch die Befolgung einer, im zweiten Teil dieser Studie genau zu analysierenden, schmerzreichen Selbsterziehung in Einsamkeit zu vollziehen ist. Formuliert wird diese Fassung des Ausnahmetheorems von der Figur Wilhelm, die das Ausnahmetheorem in Entweder – Oder II initiiert und in Stadien theoretisch ausreizt. Dabei ist folgender Befund bedeutend. Während die Figur Wilhelm in Entweder – Oder II dahingehend das letzte Wort hat, insofern die ethische Lebensform als die hierarchisch höchste ausgezeichnet wird, was das vermittelt mit dem Bestehenden Für eine Analyse dieser agonalen Dynamik siehe im Teil II dieser Studie den Abschnitt II.1.3.

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versöhnte Leben der Ausnahme einzugestehen hat, so wird in der Weiterentwicklung des kierkegaardschen Werks die unterschiedslos gedachte ethische Sphäre entthront. 10 Dies kann nachvollzogen werden, wenn man auf das Ergebnis sieht, welches die Ausnahme, vollzöge sie den von Wilhelm vorgegebenen Lebenswandel auf Distanz zur bestehenden Ordnung, erreichte. Aus der Darstellung Wilhelms geht hervor, dass die Ausnahme in ein versöhnliches Verhältnis zu der Tatsache treten könnte, dass sie von der Möglichkeit, ihre Anlagen in das Bestehende zu integrieren, unmittelbar ausgenommen ist. Der entscheidende Befund ist hier: Die Darstellung Wilhelms suggeriert theoretische Geschlossenheit. In Stadien wird mit dieser gebrochen, das anti-begriffliche Ausnahmetheorem widerspruchslogisch in die religiöse Sphäre – begrifflich unvermittelbar – geöffnet. Dies kann hier etwas eingehender umrissen werden. Die sich im Fluss befindende ›Theorie‹ der Ausnahme findet ihren formalen Abschluss in Stadien auf des Lebens Weg, die man zu Recht als eine Reprise und Verdichtung der Gehalte von Entweder – Oder und Die Wiederholung bezeichnet hat. 11 Dies zeigt sich nicht zuletzt an der neuen Verhandlung der Theorie der Ausnahme – die im Zentrum der Stadien überhaupt steht. Dieses Werk ist in drei Teile gegliedert: einen ästhetischen, einen ethischen und einen religiösen, die je auf verschiedene Weisen mögliche Selbstauslegungen inszenieren. 12 Das erste Drittel umfasst ein kunstvoll entworfenes Sym10 Diese Tatsache, dass Entweder – Oder ethisch »schließt«, wird in Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift von Johannes Climacus als der entscheidende »Mangel« dieser Schrift ausgelegt, welcher in Stadien, das die religiöse Sphäre der ethischen hierarchisch überordnet, behoben wird (vgl. AUN – 453). Diese Einschätzung macht nur Sinn – und das wiederum erhellt die fundamentale und kontinuierliche Bedeutung des Ausnahmetheorems –, wenn man sie nicht auf die Struktur des Buchs überträgt, sondern auf die qualitative Hierarchie zwischen ethischer Lebensanschauung und der Anschauung, für welche die Ausnahme steht. Entweder – Oder endet nämlich nicht mit der Darstellung der ethischen Lebensauffassung, sondern durchaus religiös im Ultimatum, in welchem letzten Teil des Buchs eine Predigt mit dem Titel Das Erbauliche, das in dem Gedanken liegt, daß wir gegen Gott immer unrecht haben (EO II – 915–932) hinterlegt ist. Diese teilt B A, der potentiell eine Ausnahme im edlen Sinne werden kann, zur Orientierung auf seinem einsamen Lebensweg mit. Jener Mangel ist also, dass B die ethische Lebensform hierarchisch über die der Ausnahme stellt. 11 Vgl. W. MacDonald (2003). Auch Johannes Climacus insistiert in der Besprechung der »zufällig« in seinem Sinn erschienenen Werke der Pseudonyme die Gemeinsamkeit von Entweder – Oder und Stadien. 12 Dieser Aufbau spiegelt die in diesem Werk formulierte »Stadienlehre«, welche

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Normative Fassung

posion, bei dem Ästhetiker (mitunter bekannte Namen wie Victor Eremita und Constantin Constantius) ihre Theorien der Liebe vortragen (allesamt unberechtigte Ausnahmen, mit Ausnahme vielleicht des »jungen Menschen«, bei dem noch Hoffnung besteht (vgl. die Einschätzung Climacus’ in AUN – 455)). Diese Auffassungen von Eros werden vom Gerichtsrat Wilhelm konstruktiv durch eine Entscheidungs- und Ehetheorie aufgehoben. Die finalen Ausführungen Wilhelms – er glaubt nunmehr ein höheres Leben als das Eheleben zu kennen, und zwar das der Ausnahme – bieten das abstrakt-normierende Schema für den darauf folgenden Passus ›Schuldig?‹ – ›Nicht Schuldig?‹. Eine Leidensgeschichte. Psychologisches Experiment von Frater Taciturnus, in dem konkret der Prozess des Sichberechtigens, wie in Die Wiederholung anhand einer scheiternden Liebesgeschichte, ausbuchstabiert wird. Dieser also dezidiert ins Religiöse weisende Abschnitt umfasst mit der anschließenden Zuschrift an den Leser von Frater Taciturnus, der die Experimentanordnung erhellt und begrifflich aufbereitet, insgesamt etwa zwei Drittel des Buches. Der Protagonist der Leidensgeschichte, Quidam, ist gewissermaßen der »junge Mensch« und das Pseudonym Constantin aus Die Wiederholung in einer Person – er hat die leidenschaftliche Ursprünglichkeit und zugleich die intellektuelle Kraft, seine Lage zu durchdenken. Rein äußerlich also fällt nun schon die Neujustierung und teleologische Ausrichtung der Ausnahmetheorie auf. Wilhelm wiederholt einige Forderungen, wie sie in Entweder – Oder formuliert wurden, stellt aber an entscheidenden Punkten neue Prämissen auf, welche die reliGerd-Günther Grau kompensatorisch ausgelegt hat als »Folge und Beweis der ausgebliebenen Parusie«. Dieser Lesart kann hier durch die eng am Text orientierte Auslegung des Ausnahmetheorems in Hinsicht auf die Werkentwicklung Kierkegaards als Ganze zugespielt werden – besonders anschaulich durch die Revision der Ausnahmetheorie durch den wiederholten Auftritt der Figur Wilhelm –, obschon sie in ihrer programmatischen Zuspitzung auf die Parusie undiskutiert bleibt. Gemeint ist bei Grau und hier in jedem Fall, dass die Substanz der religiösen Lebensform aus der Sphäre des Begriffs ausgelagert wird. In dieser Studie bleibt vollkommen offen (anders als bei Grau, der Kierkegaards »Christentum« geschichtsphilosophisch von Nietzsche her reflektiert, einer logischen Entwicklung entsprechend zuordnet), was Kierkegaard substantiell als Christentum fasst; die hier vorgeschlagene Perspektivverschiebung geht vom Objekt der Philosophie (wobei eben gesagt werden muss, dass bei Kierkegaard »Christentum« streng genommen kein Objekt der Philosophie sein kann, sie kann dem Christentum nur Platz machen) zum Subjekt, dem exemplarisch Philosophierenden über: und hier kann man zunächst einmal ganz unbefangen konstatieren, dass Kierkegaards exemplarisches Denken bemessen am eigenen Begriff und Maßstab der Entwicklung g e l i n g t – seinem Selbstverständnis nach. Modulationen der Einsamkeit

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giöse Sphäre widerspruchslogisch durch die Problematik der Ausnahme aufbrechen lässt. Frater Taciturnus gesteht zwar eine gewisse Verwandtschaft mit Constantin zu, will sich aber doch in wesentlichen Punkten unterschieden wissen (vgl. SL – 428), vor allem eben darin, dass seine Theorie der Ausnahme nicht mehr nicht-religiös gedacht werden können soll. Bereits an den hier abstrakt konturierten Schemen wird deutlich, in welch ausgezeichnetem Maß das Ausnahmetheorem dazu dient, das exemplarische Denken Kierkegaards bezogen auf das Werkganze nachzuzeichnen; es unterliegt einer zusammenhängenden Entwicklung, die sich teleologisch zuspitzt. Kierkegaards Pseudonyme ziehen letztlich an einem Strang, gehen auf ein Ziel zu. Dies bekräftigt eine Einschätzung Johannes Climacus’, der vor dem Kapitel III Die wirkliche Subjektivität, die ethische; der subjektive Denker seiner Unwissenschaftlichen Nachschrift in einer Beilage den Blick auf gleichzeitige Bestrebungen in der dänischen Literatur beurteilt. Darin liest er die bis dahin publizierten Schriften der Pseudonyme, von Entweder – Oder bis zu Stadien, teleologisch, und die Formulierung des Begriffs des »subjektiven Denkers« vorbereitend, auf sein eigenes Projekt hin und wertet sie entsprechend aus. Der Besprechung der Stadien widmet er besondere Aufmerksamkeit, indem er gegen den Typus »neugieriger Leser« polemisiert, der behauptet, in Stadien stehe »das selbe« wie in Entweder – Oder. Die öffentliche Wahrnehmung dieses Werks ging dahin, es mit dem Inhalt von Entweder – Oder zu identifizieren, was rein äußerlich nachvollziehbar ist: es tauchen ja zum Beispiel bekannte Namen auf. Und doch setzt das Werk einen entscheidenden Unterschied, der an der Umlagerung des Ausnahmetheorems abgelesen werden kann und den Climacus mit einer Reminiszenz an Sokrates aus Gorgias für das Pseudonym der Stadien in folgende Worte fasst: In bezug auf Belustigungen im Tivoli und literarische Neujahrpräsente gilt nämlich für Stüberfänger und auch für die, die sich von ihnen einfangen lassen, Veränderung als höchstes Gesetz, aber in bezug auf die Wahrheit als Innerlichkeit in der Existenz, in bezug auf eine unveränderlichere Freude am Leben, die mit dem Verlangen des Lebensüberdrusses nach Zerstreuung nichts gemein hat, gilt das Gegenteil, und das Gesetz heißt: dasselbe und doch verändert und doch dasselbe. (AUN – 443) 13 Der Seitensprung »und doch verändert« im letzten Satz des Zitats, der so bei Sokrates keine Entsprechung hat (dieser sagt stets dasselbe über das selbe, während

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Religiöse Fassung

I.2.3 Religiöse Fassung Es gilt zuletzt, die religiöse Fassung des Ausnahmetheorems in ihrer Bedeutung für die Utopie gelingenden Lebens zu erwägen, deren Ausdruck der »Einzelne« sein soll. Bereits in Furcht und Zittern geht es durchgängig um den Einzelnen als »Einzelnen«, dessen Bedeutung an der exemplarischen Figur Abraham, dem Glaubensritter, etabliert wird. Diese Figur ist im Bilde und damit unverbindlich bereits der Sinn von Kierkegaards christlicher Existenzphilosophie, wie sie sich in den Anti-Climacus-Schriften ausbuchstabiert. Niemand ist Abraham, der den »Glaubensritter« und religiöse, aristokratische Ausnahme repräsentiert, aber doch sind – das wird hypothetisch nur gesetzt in Furcht und Zittern – alle der Möglichkeit nach »Einzelne«. Diese zwei Begriffe klaffen in Kierkegaards Darstellung noch auseinander, weil die zwei begrifflichen Größen fehlen, die sie im unvordenklichen Raum – spezifisch christlich – verknüpfen: die »Sünde« und »Jesus Christus« als der historische Ausgangspunkt für ein »ewiges Bewusstsein«. Diese werden erst in Der Begriff der Angst (1844) und in Philosophische Brocken (1844) gesetzt und im Modus des Entzugs der Ausnahmetheorie in Stadien (1845) beigegeben, welches Werk dieses Theorem an seine Grenzen belastet. Der Wilhelm der Stadien formuliert wie gesehen eine revidierte Theorie der Ausnahme, die zu einer hierarchischen Überordnung der religiösen über die ethische Sphäre führt. Das für die These dieser Studie zentrale Moment ist hier, dass die Essenz der religiösen Ausnahmetheorie an einen Begriff von »Geist« geknüpft wird, der inhaltlich unerfüllbar ist und doch via negationis die religiöse Sphäre freilegt. Diese religiöse Ausnahmetheorie spielt der Konzeption des »Einzelnen« zu, wie sie in den Anti-Climacus-Schriften entwickelt wird. In Die Krankheit zum Tode, welche Schrift mit der allgemeinen Bestimmung des Menschen anhebt: »Der Mensch ist Geist« (KzT – 31), wird – nun dezidiert christlich – die allgemein-menschliche Möglichkeit eines gelingenden Selbstverhältnisses gesetzt. Der entscheidende Unterschied ist die in das Selbstverhältnis integrierte »Sünde«, welche den Menschen als Kallikles immer etwas anderes über etwas anderes sagt), ist natürlich alles andere als unbedeutend. Die Sache des exemplarischen Denkens erfährt bei Kierkegaard ihren entscheidenden Umschwung durch die Ausnahmetheorie dahingehend, als sie sich in Entweder – Oder unter eine ethische Lebensanschauung unterzuordnen hatte, während sich durch die Gedankengänge der Schriften nach Entweder – Oder zeigt, dass die Ethik ohne Rückbindung an die religiöse Sphäre haltlos ist. Modulationen der Einsamkeit

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Menschen negativ auszeichnet als verzweifelt und allein durch ein christlich konzipiertes Gottesverhältnis versöhnt werden kann, wobei der Ausdruck für dieses der Sphäre des Begriffs unzugängliche Tun ist: »Glauben«. In dieser Studie werden nur die drei Fassungen des Ausnahmetheorems interpretiert, wobei Kierkegaards christlich konzipierte Utopie gelingenden Lebens, deren Ausdruck der »Einzelne« sein soll, allein als die begrifflich unvermittelbare Aufhebung des Ausnahmetheorems in den Blick kommt (vgl. hierzu den Abschnitt I.4.3.1).

I.2.4 Ausnahmetheorie als nihilistische Moralkritik Die Gedanken zu den drei Fassungen des Ausnahmetheorems sollen in Hinsicht auf ihre moralkritische Stoßrichtung zusammengefasst werden, die man stimmig als »nihilistisch« bezeichnen kann. 14 Das Ausnahmetheorem ist in seiner ursprünglichen Formulierung in Entweder – Oder als eine moralkritische Denkfigur konzipiert, 15 insofern Es ist Winfried Schröders (2005, zuerst 2002) Verdienst, auch für Kierkegaard die Sache beim Namen genannt zu haben, indem er die berühmteste und umstrittenste Formel Kierkegaards von der »teleologischen Suspension des Ethischen« ernst nimmt und gegen entdramatisierende Interpretations-Tendenzen – mit biblischem, neutestamentlichen Rückhalt, aus dem entspringt, dass der moralische Nihilismus in die Fundamente des Christentums eingelassen ist (vgl. Schröder (2002), S. 95) – verteidigt. Vgl. dazu insgesamt Schröder (2005), S. 73–110. Aber auch schon Karl Löwith (1933) stellt fest, dass sich das in der »unnatürlichen, menschlichen Existenz« und im »unnatürlichen, menschlichen Leben[]« (S. 5) widerspiegelnde »Problem des Nihilismus […] das ursprünglich bewegende Zentrum in Nietzsches Philosophie des Lebens und in Kierkegaards philosophischer Theologie der Existenz, das eigentliche Problem von Nietzsche und Kierkegaard« (S. 6) ist. 15 Während die Erforschung von Nietzsches Moralkritik wahrlich keine Innovation ist, hat man Kierkegaards kaum je in ihrer Radikalität gebührend gewichtet. Die entscheidenden Spitzen der Kierkegaardschen Moralkritik verfließen wohl deswegen schnell am Rande der Aufmerksamkeit seiner Exegeten, weil sie sich mit der »Christlichkeit« seines/ihres Denkens nicht vermitteln lässt. Die Auslotung des Ausnahmetheorems ist eine ausgezeichnete Möglichkeit, die Aufhebung dieses Befunds vorzubereiten. Wenn die Herausgeber des Tagungsbandes Moralkritik bei Schopenhauer und Nietzsche (2013) Dieter Birnbacher und Andreas Urs Sommer philosophische Orientierungslosigkeit eingestehen, wenn sie im ersten Satz ihrer Hinführung lakonisch formulieren: »›Moralkritik‹ ist ein ungewöhnlicher Begriff.« (S. 7), ohne die Sache näher auszuführen, dann besteht begründete Hoffnung, diesem »ungewöhnlichen Begriff« dadurch seine bestimmte und haltbare Fassung zu geben, indem man ihn in die Denkfigur und die Stationen ihrer begrifflichen Entwicklung zurückdenkt, darin sie 14

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Ausnahmetheorie als nihilistische Moralkritik

die »Ausnahme« bzw. der »ungewöhnliche Mensch« (vgl. etwa EO II – 907) als synonymer Ausdruck einer Figur konzipiert ist, die ihre – hegelisch gedacht – gebotene ethische Pflicht, ihre Innerlichkeit in die bestehende Ordnung zu integrieren, in ihr offenbar zu werden – unschuldigerweise – nicht erfüllen kann. Das Ausnahmetheorem steht in seinen verschiedenen Fassungen und Inszenierungen dann für die »nihilistische« Einsicht, dass aus einer immanenten Perspektive auf die Moral diese nicht begründet werden kann. 16 So wird die nihilistische Moralkritik im Modus existentieller Empörung und Erschütterung vorgeführt, durch Figuren, die durch überdimensionierten Anspruch an sich selbst die sie bedingende Moral kollabieren lassen. So lässt sich etwa der »junge Mensch« in Die Wiederholung – experimentalpsychologisch generiertes Konstrukt zur Veranschaulichung dessen, was ein Dichter als berechtigte Ausnahme wäre – nach einer alle Existenzbewegung blockierenden Erfahrung, dem Scheitern seiner Liebesgeschichte als einer Kollision mit seinem naturgemäßen Vorverständnis gelingenden Lebens – in einem Brief an seinen »stillen Mitwisser« – wie folgt vernehmen: »Mein Leben ist bis zum Äußersten gebracht; ich ekele mich vor dem Dasein, es ist geschmacklos ohne Salz und Sinn. […] Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen, in welchem Land man sich befindet, ich stecke den Finger ins Dasein – es riecht nach nichts.« (WH – 410) Dieser Erfahrung einer sinnentleerten Welt korrespondiert die Erfahrung eines Weltlaufs, der – so die Einschätzung Johannes de silentios – eine schlechte Unendlichkeit perpetuiert. Falls ein Mensch nicht im Besitz eines ewigen Bewußtseins wäre, falls allem nur eine wild gärende Macht zugrundeläge, die sich in dunklen Leidenschaften windend alles hervorbrächte, was es an Großem gibt und was es allein, plastisch und konkret, zum Ausdruck kommt und ihren spezifischen Sinn hat: den »ungewöhnlichen Menschen«. 16 Für Feuerbach (2008), an dessen Philosophie der Zukunft das Gespenst des Nihilismus vorbeigezogen zu sein scheint, gilt gewissermaßen das Gegenteil. So heißt es an einer Stelle, dass die Religion eifersüchtig auf die Moral sei und dieser die besten Kräfte aussauge (vgl. S. 404). In diesem Sinne heißt es kurz darauf: »Wo es Ernst mit der Moral ist, da gilt sie eben an und für sich selbst für eine göttliche Macht. Hat die Moral keinen Grund in sich selbst, so gibt es auch keine innere Notwendigkeit zur Moral; die Moral ist dann der bodenlosen Willkür der Religion preisgegeben.« (S. 406) Es entbehrt nicht der Ironie, dass Jean-Paul Sartres atheistischer Existentialismus wiederum (streng genommen nicht zulässige) Anleihen bei Kierkegaard macht, um eben jene Möglichkeit, aus Moral allein ethische Orientierung zu schöpfen, zu verwerfen (vgl. Sartre (1960)). Modulationen der Einsamkeit

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an Unbedeutendem gibt, falls sich unter allem eine bodenlose Leere, niemals gesättigt, verbärge, was wäre das Leben dann anders als Verzweiflung. Falls es sich so verhielte, falls kein heiliges Band wäre, das die Menschheit zusammenknüpfte, falls ein Geschlecht nach dem anderen erstünde, wie Blätter im Walde, falls ein Geschlecht das andere ablöste, wie der Vogelgesang im Walde, falls das Geschlecht durch die Welt zöge, wie das Schiff durchs Meer zieht, das Wetter durch die Wüste, ein gedankenloses und fruchtloses Tun, falls ein ewiges Vergessen immer hungrig auf seine Beute lauerte und keine Macht wäre, stark genug, sie ihm zu entreißen – wie leer und trostlos wäre dann das Leben. (FZ – 191)

Alles hängt schließlich ab vom hier veranschlagten »ewigen Bewusstsein«, das allein durch die Formel der »teleologischen Suspension des Ethischen« umrissen wird (vgl. FZ – 237 ff.) und in einer Sphäre beheimatet sein soll, die nicht durch die nur menschliche Ordnung von Gut und Böse geprägt ist und die die innerweltliche Ausnahme-Allgemeines-Dialektik unterbricht.

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I.3 Die Bedeutung der »Einsamkeitslehre« für das Werkganze Nietzsches

Bis hierher wurde in abstrakten Umrissen skizziert, inwiefern man das Werkganze Kierkegaards durch die darin maßgeblich wirkende Entwicklung des Ausnahmetheorems als Ganzes in den Blick bringen kann, wobei die Ausnahmeproblematik als solche ethische Moralkritik ist dahingehend, als sie die Utopie des Einzelnen, die gelingendes christliches Existieren verbürgen soll, umreißt. Es ist die zentrale These dieser Studie, dass Nietzsches »Einsamer«, dem man bisher kaum tragende Bedeutung für Nietzsches Werk als Ganzem zusprach, analoges Gewicht hat wie Kierkegaards »Einzelner«. Während Kierkegaards »Einzelner« lebendiger Ausdruck sein soll wahrer christlicher Existenz, so wird auch in Nietzsches »Einsamen« die positive Essenz seiner Philosophie vorausgesetzt, die zuletzt wie jener »Einzelner« verbürgen soll – gelingendes Leben. Da diese These kein Vorbild hat in der Nietzscheforschung, muss ihrer Entwicklung in diesem Kapitel mehr Raum gegeben werden als der abstrakten Skizzierung des Ausnahmetheorems. Es soll nun zunächst ein panoramischer Blick auf das Werkganze Nietzsches geworfen werden, um offenzulegen, inwiefern »Einsamkeit« Nietzsches Werk durchdringt und innerlich vernetzt. Dieser Überblick wird anschließend begrifflich unterschieden und im Blick auf seinen moralkritischen Sinn ausgerichtet. Dazu werden zwei substantiell zusammenhängende Aphorismen 1 der mittleren Werkphase – § 453 aus Morgenröte (Moralisches Interregnum) und § 110 aus Die fröhliche Wissenschaft (Ursprung der Erkenntniss) – in ihrer gemeinsamen Bedeutung verknüpft. Diese Aphorismen sind in ihrer moralkritischen Ambition ein Ringen nach neuer ethischer Verbindlichkeit und die verwandelte, experimentalphilosophische Fortsetzung eines bereits in Schopenhauer als Erzieher noch metaphysisch formulierDie innere Verbindung dieser Texte sieht auch Zimmer (2010) in seiner ironischdistanzierten Darstellung von Nietzsches Experimentalphilosophie.

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ten Anliegens: der – ausgehend von Schopenhauers Philosophie – Bewährung eines kulturphilosophisch begründeten, allgemein-menschlichen Orientierungsmaßstabs. Bemüht man den Einsamkeitsbegriff als einen das Gesamtwerk konsistent vernetzenden, so zeigt sich, dass Nietzsche in seiner Freigeistphase mitnichten das fallen lässt, was im Ursprung seiner Denkbewegung zu Gunsten eines den Menschen als Menschen vergemeinschaftenden »Geistes der Musik« beschworen wurde. Das zu Zwecken allgemein-menschlicher Orientierung in Schopenhauer als Erzieher formulierte Kulturphilosophieprogramm wird in der – strategisch betrachtet – klügeren, vorsichtigeren, geschützteren, letztlich sokratischen Phase des mittleren Werks verschachtelt dargestellt, wird ›umgelabelt‹, flüchtet sich auf Arbeitsinseln, denen als solchen der provisorische, »vorläufige« Charakter eigen ist, wobei die im Ursprung der Denkbewegung gesetzten Intuitionen des Denkens letztlich in Also sprach Zarathustra – durch das Unterwegs stilistisch 2 an sich bereichert – neu aufgeglüht, in Fluss gebracht und letztlich, gemessen am eigenen Anspruch, eingelöst werden. 3 Also sprach Zarathustra ist die verwandelte Wiederaufnahme jener ursprünglichen Setzungen und Verheißungen. Es ist zuDieses Attribut ist hier als möglichst substantiell zu denken. »Einsamkeit« bekommt erst im psychologisierenden Durchgang durch die Welt des Menschlichen, allzu Menschlichen die semantischen Falten, die sie als Begriff sich von sich unterscheiden lässt als Stationen der Verlassenheit, wobei Nietzsche »Zarathustra« als die Figur konzipiert, die diese Unterscheidung von »Einsamkeit« in Reinform spiegelt (vgl. den Abschnitt I.1.2). Vgl. zur Bedeutung der Entwicklung des Stils im eminenten Sinne auch Scheier (2013), Band 3, S. 318 f. 3 Vgl. hierzu den Brief an Franz Overbeck von Anfang August 1884, in welchem Nietzsche seinem Freund empfiehlt, Schopenhauer als Erzieher quasi als vorausgeschickten, ideellen Kommentar zu Also sprach Zarathustra zu lesen, wobei Nietzsche betont, dass er so gelebt hat, wie er es sich in erstgenannter Schrift vorschrieb. »Übrigens habe ich so gelebt, wie ich es mir selber (namentlich in »Schopenhauer als Erzieher«) vorgezeichnet habe. Falls Du den Zarathhustrai mit in Deine Mußezeit nehmen solltest, nimm, der Vergleichung halber, doch die eben genannte Schrift mit hinzu (ihr Fehler ist, daß eigentlich in ihr nicht von Schopenhauer, sondern fast nur von mir die Rede ist – aber das wußte ich selber nicht, als ich sie machte.)« (KSB 6, Nr. 524 – S. 518) Analog auch in einem Brief an Heinrich Köselitz vom 21. April 1883 über den ersten Teil des Zarathustra: »Es ist ein curiosum: ich habe den Commentar früher geschrieben als den Text. Versprochen ist Alles schon in ›Schophenhaueri als Erzhieheri‹ ; es war aber ein gutes Stück Weg von ›Menschlhichesi, Allzumhenschlichesi‹ bis zum ›Übermenschen‹ zu machen. Wenn Sie jetzt einen Augenblick an die ›fröhlhichei Wisshenschafti‹ zurückdenken wollen, so werden Sie lachen, mit welcher Sicherheit, ja impudentia darin die bevorstehende Geburt ›annoncirt‹ wird. –« (KSB 6, Nr. 405 – S. 364) 2

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gleich das Werk Nietzsches, in welchem »Einsamkeit« explizit – also durch Nietzsche selbst – die werkstrukturierende Bedeutung beigemessen wird, wie sie die vorliegende Studie freilegen will. Die zentrale ›Entdeckung‹ der hier formulierten Gedanken in – bezogen auf die Werkvergleichsermöglichung – systematischer Hinsicht ist, dass zentrale Passagen aus Schopenhauer als Erzieher als Ausnahmetheorie gedeutet werden können, die den drei durch Kierkegaard vorbereiteten Fassungen analog sind, wobei sie durch Zarathustra ihre verwandelte Fortsetzung und Erfüllung erfahren. Diese These wird systematisch ausgearbeitet im nächsten Kapitel, das zugleich den Einsamkeitsbegriff derart unterscheidet, dass er mit den Fassungen des Ausnahmetheorems kompatibel wird, womit das dann zu entwickelnde und zu erprobende Vergleichsmodell entworfen sein wird. In den Abschnitten I.3.1.1 und I.3.1.2 werden nun die zwei zur Debatte stehenden Aphorismen durch eine kommentierende, eng am Text orientierte Interpretation dargestellt. Der Abschnitt I.3.1.3 legt die angedeutete substantielle Verbundenheit des metaphysischen Ausgangspunktes von Nietzsches Denken mit der mittleren, experimentalphilosophischen Werkphase vor, wobei zuletzt zur Inblicknahme einer umfänglicheren Perspektive auf Nietzsches Anliegen Einschätzungen aus dem Ecce homo zu Wort kommen sollen. Das Beschreiben und Ergründen von »Einsamkeit« ist in äußerst facettenreichen Inszenierungen ein wesentliches Moment der Denkanstrengung Nietzsches. In der dritten unzeitgemäßen Betrachtung, deren intensive Auslegung noch aussteht, wird Schopenhauer als Erzieher kaum wegen seiner spezifischen Philosophie gewürdigt, sondern vor allem auch wegen seines Muts, sich in Einsamkeit seiner Wahrheitssuche zu stellen. Das Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, das der pessimistischen Weltanschauung Schopenhauers umwertend begegnet, kann vor dem Hintergrund einer eminenten Isolationserfahrung ausgelegt werden. Perspektiviert man den spezifischen Sinn dieser Schrift vor diesem Hintergrund, kann der beschworene »dionysische Rausch« begriffen werden als die Aspiration zu gelingender Gemeinschaft: federführend ist das Telos, den sich im principium individuationis verhärtenden Isolationszusammenhang zum Zerfall zu bringen. 4 Im mittleren Werk Um nur eine Stelle zu zitieren, die dieser Einschätzung exemplarischen Ausdruck verleiht: »Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder

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Nietzsches, von Menschliches, Allzumenschliches an bis zu Die fröhliche Wissenschaft sind auffällig viele Aphorismen und Bucheinheiten diesem Thema verschrieben: um nur einige der ihrem Titel und Gehalt nach evidentesten Beispiele zu benennen: Der Einsame spricht (MA II – 641), Einsamkeit lernen (M – 156); Wer ist denn je allein! (M – 205); Nicht entsagen! (M – 269); Gehen wir vorüber! (M – 284); Ferne Perspectiven (M – 288); Auch deshalb Einsamkeit (M – 290); Der Einsame (FW – 360); In der Einsamkeit (FW – 502); Aus der siebenten Einsamkeit (FW – 545 f.). Viele weitere ließen sich anfügen. Also sprach Zarathustra ist für den am Phänomen »Einsamkeit« interessierten Nietzscheinterpreten die Fundgrube schlechthin: Zarathustras Lebenselement ist die »Einsamkeit«, wobei dieses begrifflich – in Aufnahme der zentralen Einsichten aus dem aphoristischen Werk zu dieser Thematik – in Zarathustras Leidensweg durch die Gesellschaft und seinem Pendeln zwischen Einsamkeit und Gesellschaft überhaupt in Fluss gebracht wird. 5 Auch in Jenseits von Gut und Böse ist »Einsamkeit« omnipräsent, abgrenzungsrhetorisch inszeniert gegenüber seichten Philosophien ohne Zukunftsperspektive, gewürdigt als ein Begriff vornehmer Tugendlehre, aber auch eingelassen in Theoreme, deren begrifflicher Sinn mit dem zu »Einsamkeit« bereits in Nietzsches Werk Ergründeten in Beziehung steht: wie »Pathos der Distanz« oder die Kritik der »Herdenmoral« als das abstrakte wertsetzende Prinzip der Moderne überhaupt oder schließlich die Definition des Einzelleibes als eines Gesellschaftsbaus vieler

unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und friedfertig nahen die Raubthiere der Felsen und der Wüste. Mit Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysus überschüttet: unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger. Man verwandele das Beethoven’sche Jubellied der ›Freude‹ in ein Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen schauervoll in den Staub sinken: so kann man sich dem Dionysischen nähern. Jetzt ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder ›freche Mode‹ zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnissvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen.« (GT – 29) 5 Auch Himmelmann (2000) weist auf dieses Pendeln des Protagonisten zwischen Einsamkeit und Gesellschaft hin.

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Triebe und Seelen. 6 In den späteren Schriften lässt das Thematisieren von »Einsamkeit« nach, ohne sich doch zu verlieren; vielmehr amalgamiert sich »Einsamkeit« immer deutlicher als factum brutum des sprechenden Ich, das sich in Einsamkeit absolut über seine Zeitgenossen erhoben wähnt. In Der Antichrist heißt es beispielsweise einleitend in Vorwort: Dies Buch gehört den Wenigsten. Vielleicht lebt selbst noch Keiner von ihnen. Es mögen die sein, welche meinen Zarathustra verstehn: wie dürfte ich mich mit denen verwechseln, für welche heute schon Ohren wachsen? – Erst das Übermorgen gehört mir. Einige werden postuhmi geboren. (AC – 167)

Eine notwendige Bedingung jedenfalls, um Nietzsche zu verstehen, ist eine »Erfahrung aus sieben Einsamkeiten«. (AC – 167) Offenbar rekurriert Nietzsche hier zur Legitimierung seines Einzigseins auf Werke, welche das Einsamkeitsphänomen zum Thema hatten, was die textuelle Verwobenheit des ganzen Werks voraussetzt und als diese bedacht werden muss, wollte man gewisse Einzelaussagen des Spätwerks nicht falsch gewichten. 7 Zuletzt – um den kursorischen Überblick zum Einsamkeitsphänomen in Nietzsches Werk abzurunden – müssen Dionysos-Dithyramben Erwähnung finden, da darin »Einsamkeit« in ihrer spezifischen tragisch-abgründigen Bedeutung leitmotivisch eingeflochten ist und ausgelotet wird. 8 »Einsamkeit« durchdringt Nietzsches Werk wie ein roter Faden, wobei sie Theoreme der nietzscheschen Philosophie innerlich vernetzt, die, seitdem es Nietzscheforschung gibt, als zentrale Themen von Nietzsches Werk anerkannt sind. So wird beispielsweise der berüchtigte Wiederkunft-Gedanke im Aphorismus Das grösste Schwergewicht (FW – 570) derart inszeniert, dass die Bedingung der Möglichkeit seiner Erfahrung die »einsamste Einsamkeit« ist. 9 Die Diese Gedanken werden durchgeführt im Kapitel II.1.2. Um den Sachverhalt an nur einem Beispiel zu beleuchten: Sommer (2005) formuliert die angesichts Der Antichrist zweifelsohne treffende These, dass Jesus aus der Perspektive Nietzsches Pöbel, »Inbegriff des Unvornehmen« (S. 143) sei. Bedenkt man allerdings, was Nietzsche seinen Zarathustra über dieselbe Person sagen lässt im Kapitel Vom freien Tode – nämlich, dass Jesus durchaus edel veranlagt war (vgl. Z – 95) –, dann lässt sich Sommers These angesichts des Werkganzen nicht konsistent bewähren. 8 Sommer (2013a) arbeitet »Einsamkeit« neben »Wahrheit« und »Tod« als ein Hauptmotiv der Dionysos-Dithyramben heraus (vgl. S. 652 ff.). 9 »Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: […]« (FW – 570). »Einsamste Einsamkeit« kommt in die6 7

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Dynamiken des »Willens zur Macht«, so wie sie im Zarathustra-Kapitel Von der Selbstueberwindung das erste Mal explizit zum Ausdruck gebracht werden, werden im Gedicht Der Einsame (FW – 360) eigentümlich verklärt. Und um ein letztes Beispiel zu nennen, welches zeigt, dass unleugbar zentrale und anerkannte Themen der Nietzscheforschung für Nietzsche mit »Einsamkeit« verwoben sind: die naturgeschichtliche/genealogische Moralkritik Nietzsches erfährt, zumal in der Ja-sagenden Periode seines Werks, ihren ethischen Sinn durch die Einbettung in das »Einsamkeitsphänomen«. Im Aphorismus Moralisches Interregnum aus Morgenröte wird gar von einer »Einsamkeitslehre« gesprochen, die im nächsten Kapitel konstruktiv unterschieden wird, da in Nietzsches Werk keine Abhandlung existiert, welche die konkreten Inhalte dieser »Lehre« präsentierte.

I.3.1 Einsamkeitslehre als nihilistische Moralkritik Um die Stimmung von Nietzsches nihilistischer Moralkritik zu bezeichnen, lohnt sich stets der Verweis auf den berühmt-berüchtigten § 125 aus Die fröhliche Wissenschaft, der den subjektiv empfundenen Widersinn der eigenen Existenz und die Absurdität der Seinserfahrung des »jungen Menschen« aus Die Wiederholung gleichsam auf eine globale Ebene hebt: nachdem der tolle Mensch 10 am Vormittag – wie einst Diogenes auf der Suche nach dem »Menschen« – eine Laterne anzündete und auf dem Markt, unter die dort versammelten Menschen tretend, fragend nach Gott suchte, wobei seine Vehemenz

ser Form der superlativischen Zuspitzung nur hier vor. Wenn in dieser Studie das Telos der Denkbewegung beider Philosophen mit diesem utopischen »Raum« identifiziert wird, dann hat das neben der Tatsache, dass Nietzsche die Empfängnis des Wiederkunftsgedankens allein durch jene »einsamste Einsamkeit«, in der Substanz und Subjekt zusammenfallen, ermöglicht sieht, allein konstruktive Bedeutung. Im Zarathustra lässt Nietzsche seinen Protagonisten, bevor er für seinen Wiederkunftsgedanken reif ist, durch die »letzte Einsamkeit« hindurchgehen (Z – 195). Dies bedeutet beide Male, dass hier eine Unterscheidung an ihr Ende kommt und auf ihrer qualitativen Ebene nicht noch bestimmter analysiert werden kann. 10 Dieser »tolle Mensch« heißt in einer Vorstufe zum § 125 noch »Zarathustra«: »Einmal zündete Zharathustrai am hellen Nachmittage eine Laterne an, lief auf den Markt und schrie: […]«. (KSA 14 – S. 256) Diese Verbindung unterschlägt die Möglichkeit, den Gehalt von § 125 durch den Verweis, es sei doch ein toller Mensch, der hier deklamiere, zu entschärfen bzw. zu banalisieren.

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nur auf bösartiges Gelächter stößt (vgl. auch Zarathustra’s Vorrede), erwidert er: ›Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? […]‹ (FW – 480 f.)

Nietzsches Moralkritik allerdings, darauf weist früh schon Werner Stegmaier hin, 11 ist exoterisch motiviert, ist Vordergrund, will durch negative Gewichtung die esoterische Essenz des nietzscheschen Denkens herausstellen. Man muss diesen Hinweis stets im Hinterkopf behalten, um Nietzsches oft überdimensioniert und plakativ anmutende Projekte nicht für direkte Mitteilung zu nehmen. Auch die jetzt zu analysierenden Aphorismen formulieren ihr Anliegen in entsprechenden Perspektiven. In experimentalphilosophischer Verklärung bezeichnet Nietzsche im Aphorismus Moralisches Interregnum, der im Titel bereits den »Ausnahmezustand« des nach ethischer Orientierung suchenden Subjekts markiert, den Denkort seiner philosophischen Bemühung. Nietzsches Programm einer Umwertung aller Werte findet hier einen ersten Ausdruck. So heißt es in der korrespondierenden Besprechung der Morgenröte in Ecce Homo: Meine Aufgabe, einen Augenblick höchster Selbstbesinnung der Menschheit vorzubereiten, einen g r o s s e n M i t t a g , wo sie zurückschaut und hinausschaut, wo sie aus der Herrschaft des Zufalls und der Priester heraustritt und die Frage des warum?, des wozu? zum ersten Mal a l s G a n z e s stellt. (EH – 330)

Die Neubestimmung des Menschenwesens und damit verbunden die Aufgabe im »moralischen Interregnum«, »die Gesetze des Lebens und Handelns neu auf[zu]bauen« (M – 274), die für Nietzsche nach dem »Tod Gottes« als dem Scheitern einer metaphysischen Rechtfertigung des Daseins und Gewähr einer sittlichen Weltordnung notwendig werden, hat im Zusammenhang mit der Experimentalphi11

Vgl. Stegmaier (1994), S. 3.

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losophie einen durch eine »Einsamkeitslehre« getragenen starken Vernunft- und Wahrheitsbegriff zur Voraussetzung, der anschließend durch eine zuordnende Besprechung des Aphorismus Ursprung der Erkenntniss betrachtet werden soll, in welchem Text Nietzsche seinen Ausnahmestatus umreißt und die Aufgabe seines exemplarischen Denkens festlegt.

I.3.1.1 Kommentierung von Moralisches Interregnum (§ 453 M) Wer wäre jetzt schon im Stande, Das zu beschreiben, was einmal die moralischen Gefühle und Urtheile a b l ö s e n wird! – so sicher man auch einzusehen vermag, dass diese in allen Fundamenten irrthümlich angelegt sind und ihr Gebäude der Reparatur unfähig ist: ihre Verbindlichkeit muss von Tag zu Tage immer abnehmen, sofern nur die Verbindlichkeit der Vernunft nicht abnimmt! Die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufbauen, – zu dieser Aufgabe sind unsere Wissenschaften der Physiologie, Medicin, Gesellschafts- und Einsamkeitslehre ihrer selbst noch nicht sicher genug: und nur aus ihnen kann man die Grundsteine für neue Ideale (wenn auch nicht die neuen Ideale selber) entnehmen. So leben wir denn ein v o r l ä u f i g e s Dasein oder ein n a c h l ä u f i g e s Dasein, je nach Geschmack und Begabung, und thun am besten, in diesem Interregnum, so sehr, als nur möglich, unsere eigenen reges zu sein und kleine Ve r s u c h s s t a a t e n zu gründen. Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein! (M – 274)

Dieses Textstück geht von einer anthropologischen Utopie aus, der Möglichkeit, dass moralisches Empfinden und Urteilen als der tragend-normierende Unterbau der Selbst- und Weltauslegung, als Voraussetzung des menschlichen Selbst- und Weltverstehens ersetzt werden könnte. Die entscheidende Bedingung für diese fundamentale Neuperspektivierung menschlichen Lebens ist, dass die Vernunft in ihrer Verbindlichkeit nicht nachlässt. 12 Wenn die Verbindlichkeit der Vgl. hierzu etwa auch den Aphorismus Zürnen und strafen hat seine Zeit. Darin wird eine zukünftige Menschheit fingiert, die sich von den moralischen Affekten des Zürnens und Strafens vollkommen befreit hat, wobei auch hier die conditio sine qua non die Weiterentwicklung der Vernunft ist: »Und zwar dürfen wir uns diese Freude versprechen, ja als etwas Nothwendiges verheissen und beschwören, im Fall nur die Entwickelung der menschlichen Vernunft nicht stille steht! Einstmals wird man die logische Sünde, welche im Zürnen und Strafen, einzeln oder gesellschaftsweise geübt, verborgen liegt, nicht mehr über’s Herz bringen: einstmals, wenn Herz und Kopf so nahe bei einander zu wohnen gelernt haben, wie sie jetzt noch einander ferne stehen.« (MA II – 631)

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Vernunft nicht abnimmt, folgt sogar notwendig, dass moralisches Empfinden und Urteilen sich auflösen und durch eine andere, noch unbestimmte Selbstauslegung ersetzt werden wird. 13 Die Fundamente der Moral beruhen auf inkorporierten Irrtümern. Es wird also behauptet, dass die etablierte Moral als handlungsorientierender Horizont des Menschen, gemessen an einem neuen Vernunftbegriff, existentiell desorientierend ist. Nietzsches philosophische Selbstpositionierung ist überschwänglich-fortschrittsoptimistisch, wobei der hier unterstellte Vernunftbegriff, konsequent weitergedacht und inkorporiert, notwendig in eine neue Transparenz menschlicher Lebensform mündete. Die moralische Selbstauslegungsmöglichkeit, ursprünglich bedingt durch eine wie auch immer näher bestimmte, jedenfalls metaphysisch sanktionierende Instanz als die orientierende Bedingung für gelingendes Leben schlechthin, wurde sich durch die Evolution der menschlichen Vernunft zum Problem. Der durch die wie auch immer gewusste bzw. geglaubte Hinterwelt sanktionierende Gott wird hier gedacht als ein in den menschlichen Leib eingeschriebener, vorreflexiv handlungsorientierender Text, der allein durch die Mittel einer zu sich kommenden Vernunft hinterfragt und in seinen Fehlschlüssen korrigiert werden kann. Implizit wird in der Argumentation unterstellt, dass der Mensch in der Welt, die er ausschließlich anhand der Kategorien Gut und Böse auslegte, verloren, verhältnis- und orientierungslos wäre, wenn er sich jenen Orientierungsrahmen nähme. Nietzsche fordert demgemäß, dass die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufgebaut werden müssen, gibt allerdings im selben Atemzug zu, dass die dazu nötigen wissenschaftlichen Einsichten der fingierten Wir-Gruppe für diese Aufgabe noch nicht ausreichend ausgebaut seien. »Die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufbauen, – zu dieser Aufgabe sind unsere Wissenschaften der Physiologie, Medicin, Gesellschafts- und Einsamkeitslehre ihrer selbst noch nicht sicher genug.« (M – 274) Gleichzeitig ist sich Nietzsche aber sicher, dass nur durch sie »Grundsteine für neue Ideale«, »wenn auch nicht die neuen Ideale selber«, gelegt werden könnten, was zu einem bestimmten zukünftigen Zeitpunkt nötig sein würde, weil zum Zeitpunkt der Argumentation eingesehen werden kann, dass die tradierten Fundamente der Moral Diesen Übergang beschreibt Nietzsche in Unverantwortlichkeit und Unschuld immerhin als einen Übergang von einer moralischen in eine »weise« Menschheit (vgl. MA I – 103–106).

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nicht mehr tragen – und erzeugt damit eine grenzgängerische Spannung in der ›Güte‹ seiner Argumentation. Das veranschlagte Projekt, die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufzubauen durch die Wissenschaften Physiologie, Medicin und die Gesellschafts- und Einsamkeitslehre kann in seiner hypothetischen Struktur nicht anders verstanden werden als die Errichtung neuer Ideale selbst. Schließlich können nur deswegen die Gesetze des Lebens und Handelns als eine neue Orientierung im Leben nicht bereits hier und jetzt formuliert werden, weil die neuen Wissenschaften und die dazugehörigen Lehren – über deren spezifisch begriffliche, womöglich handlungsausrichtende Substanz man an Ort und Stelle nichts erfährt – ihrer selbst noch nicht sicher genug sind, aber nicht, weil aus diesen prinzipiell keine neue Orientierung herzuleiten wäre. Nietzsches Argumentation oszilliert zwischen zwei Ebenen. Behauptet er in der Eingangspassage des Aphorismus, dass die moralischen Gefühle und Urteile als moralische obsolet sind und durch die Weiterentwicklung der Vernunft einsichtig wird, dass die Fundamente jener Urteile in ihrer Gänze unhaltbar sind aufgrund der Weiterentwicklung der einer sich noch unsicheren Vernunft, so wird später deutlich, dass es Nietzsche nicht primär um die Infragestellung der Moral als solcher geht, sondern vielmehr um die Infragestellung einer überlieferten Moral, deren Gehalt einem Irrtumszusammenhang entspringt. Nietzsches Philosophie, bzw. die sich im Verbund mit dieser sich befindenden Wissenschaften der Physiologie, Medicin und der Gesellschafts- und Einsamkeitslehre ausdrückende neue Vernunft, könnte das Fundament als Fundament ersetzen, wenn anders »Grundsteine für neue Ideale« als identisch mit »Fundament« gefasst werden darf. Wie aus dem hier nur als Möglichkeit veranschlagten Projekt der Fundamentumschaffung neue Ideale gesetzt werden könnten, wird nicht weiter thematisiert. Der Gedankengang scheint also offenlassen zu wollen, ob die Umwertung mit der Ersetzung des Fundaments koinzidiert, ob also die Fundamentersetzung der Umwertung entspricht, diese also unwillkürlich und notwendig Ersterer entspringt, oder ob die Setzung »neuer Ideale« ein Tun ist, das unabhängig von der Fundamentsetzung geleistet werden muss, ob die Stiftung eines neuen Fundaments davon unabhängig ist. Die Unsicherheit des moralischen Interregnums ist hier textuell redupliziert. Der Zustand, von dem her argumentiert wird, wird inszeniert als einer des Übergangs; das denkende Subjekt des herrscherlosen Zwischenreichs kann seine ihm zur Verfügung stehenden 60

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Selbstauslegungsmöglichkeiten nicht konsistent bewähren. Soll eine neue Moral die alte ersetzen? Oder ist das, was die alte Moral ersetzen soll, die neuen Gesetze des Lebens und Handelns, nicht mehr etwas, was adäquat als moralisches Verhalten bestimmt werden kann? Dieser poröse Gehalt der Begriffe, mit denen Nietzsche hier experimentiert, schlägt sich nieder in den zwei alternativen Haltungen, die der Experimentalphilosoph seinem Leser im benannten Denkort des Übergangs einzunehmen freistellt. Nachdem Nietzsche die Hypothesen über seine Jetztzeit, die man als eine Markierung des Scheidepunkts des Noch-moralisch-Empfindens und der potentiell anstehenden Überwindung der Moral in Gefühl und Urteil verstehen kann, geäußert hat, schließt er, dass man je nach »Geschmack« und »Begabung« entweder ein »v o r l ä u f i g e s « oder ein »n a c h l ä u f i g e s « Dasein lebt – zu gegebenem Zeitpunkt »gleichzeitig« mit sich selbst zu leben scheint aus der Perspektive des entwickelten Gedankens nicht denkbar. Beide vorgestellten Lebenswege haben bemessen am Ethos Nietzsches ihr faktisches Existieren als unversöhnbar mit ihren theoretischen Einsichten zu erleben. Der denkend nach dem guten Leben fragende Einzelne erfährt also sein Ungenügen an sich selbst, was zu zweierlei möglichen Lebensauslegungen führt. Entweder lebt man mutig und progressiv ein vorläufiges Dasein, was ein mögliche Zukünfte antizipierendes Dasein bezeichnet und neue Lebensweisen – gestützt durch die bereits vorliegenden Ergebnisse jener Wissenschaften, die neue Gesetze des Lebens und Handelns verbürgen sollen – erprobt. Dass Nietzsche »vorläufig« im Sperrdruck notiert, deutet auf eine Mehrdeutigkeit des Begriffs hin. Einmal meint es, wie dargestellt, ein Gerichtetsein in Hinblick auf etwas Zukünftiges, noch zu Verwirklichendes. Zum anderen will Nietzsche mit dem Wort »vorläufig« auch markieren, dass es sich logischerweise nur um eine provisorische Lebensform handeln kann. Die neue Gestaltung des menschlichen Lebens, von dem das Dasein ein Provisorium ist, kann eben noch nicht benannt werden, weil es etwas einschneidend anderes zu sein hat und aus dem Jetztmoment, der noch in der überlieferten Moral befangen ist, nicht formulierbar ist. Oder man lebt passiv, in Abhängigkeit von den Vorläufern. Das »nachläufige« Dasein scheint sich an das halten zu wollen, was an Moral, als dem klassischen Lebensraum des Selbst in Fühlen und Urteilen, noch haltbar ist. Es zeichnet sich durch eine eher vergangenheitsorientierte Lebensauslegung aus, es ist wider seinen Geschmack und seine Begabung, mit unter Umständen haltlosen Hypothesen sich in ungewisse Zukünfte Modulationen der Einsamkeit

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einzuschiffen. Dabei ist unverkennbar, dass der diese Alternativen Formulierende – allein durch die Wahl seiner Worte – den ›Nachläufern‹ einen weniger ehrwürdigen Titel gibt; sie sind im Grunde abhängig von den Errungenschaften der Vorläufer und von dem, was sie durch ihre provisorischen, neues Leben erprobenden Ausflüchte ins philosophische Neuland fürs Hier und Jetzt heimbringen konnten. Vom Interregnum in Sachen gemeinschaftlich verbindlicher Lebensform ist niemand ausgenommen; der Nachläufige wird allerdings immerhin entschuldigt dadurch, dass er nicht die »Begabung« mitbringt, sich als ein Vorläufer zu erweisen. Somit ist er qua Naturanlage am Vergangenen und noch Haltbaren orientiert, was man ihm moralisch nicht zum Vorwurf machen kann. Sofern allerdings sein »Geschmack« 14 eine wertsetzende Instanz ist, die geschult werden kann, trägt er doch vermittelt Verantwortung für sein Beharren auf der sich notwendig verflüchtigenden Lebensauslegungsmöglichkeit. Durch diese Bestimmung des Denkortes als eines Interregnums und die damit notwendig verbundene Ungleichzeitigkeit mit sich selbst entwirft Nietzsche ein existentielles Panorama, das sich im Bild des Scheideweges genauer fassen lässt: er möchte, wie es scheint, tunlichst verhindern, dass man sich zur plausibel entworfenen Lebenswirklichkeit gleichgültig verhalten kann, ein ›regloses‹ Dasein als ein unreflektiertes Sichabfinden mit dem Hier und Jetzt wird nicht zugelassen, indem jedem Leser die Möglichkeit eröffnet wird, sich selbst zu verorten und entsprechend zu reagieren. Man kann sich nicht nicht zur Tatsache des moralischen Interregnums verhalten, der Ausnahmezustand betrifft alle. »Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!« (M – 274) Der keiner moralischen Herrschaft im strengen Sinne Unterworfene ist bei der Suche nach der Rechtfertigung seines Daseins ein von Fremdbestimmung befreites Reich, das danach streben soll – diese moralische Ermutigung zum provisorischen Immoralismus bildet den Gipfel des Aphorismus –, so viel Selbstregierung als nur denkbar über sich zu verhängen. Der Mensch ist als Experiment zugleich Subjekt und Objekt, das noch nicht festgestellte Tier, das nicht mit sich expe-

Das Kunstwort »Geschmack« hat als Begriff der Philosophie Nietzsches seine eigentümliche Tiefe: Die Zunge, das Organ des Schmeckens, ist die Verbindung der »großen« und »kleinen Vernunft«. Vgl. zu dieser Auslegung auch Claus Artur Scheiers Würdigung der »schmeckenden Vernunft« Zarathustras (vgl. Scheier (1990), S. XV f.).

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rimentieren lassen soll, indem es seinen wesentlichen Naturexperimentcharakter einfach unreflektiert hinnimmt, sondern sich selbst erprobend mit sich selbst experimentieren darf. Der moderne Mensch findet sich wieder als ein mehr oder weniger kompliziertes Set einer Experimentanordnung, das er so vielleicht nicht gewählt hat, mit dem er aber doch so verfahren soll, als ob es seiner Wahl entspricht, als ob er es so gewollt hätte. Außerdem ist zentral, dass Nietzsche in Moralisches Interregnum den Seelenhaushalt des modernen Menschen als »Versuchsstaat« umschreibt, was wiederum sagen will, dass der Mensch als sozialdeterminiertes Wesen nichts Letztbegründetes, durch positive Gesetze Geregeltes ist. 15 Wie hätte man sich also ein Experimentieren mit dem »Versuchsstaat«, der man ist, vorzustellen? Wären da nicht Chaos, Ratlosigkeit und Anarchie der Triebe die nächste Konsequenz? Bei allem, es scheint innerhalb dieses Netzwerkes gesellschaftlicher Grundstrukturen dominierende Triebe zu geben, die sich entsprechend als Herrscher durchsetzen können, wobei hier jener Trieb der Erkenntnis, jener starke Begriff »Vernunft« in Erinnerung gerufen werden muss, den Nietzsche in diesem Aphorismus voraussetzt und ohne den die hier dargestellte anthropologische Utopie innerhalb der Experimentalphilosophie Nietzsches keinen Ausgangspunkt hätte. Es gibt also in diesem herrscherlosen Reich einen dominierenden Trieb, die Vernunft, dem sich der Leib begriffen als Netzwerk verschiedenster Triebe als Objekt zur Verfügung stellen soll. Der spezifische ontologische Status dieses Naturexperiments, das man ist, kann sich neu auslegen anhand des Wissens, welches in den benannten Wissenschaften und Lehren aufgehoben ist. Bevor allerdings nachvollzogen wird, inwiefern Nietzsche mit seiner Lehre der »Gesellschaft« und »Einsamkeit« versucht, den Boden umzupflügen, auf dem das Fundament Man könnte auch versucht sein, jenen zitierten »Versuchsstaat« aus Moralisches Interregnum nicht als Metapher für den Einzelleib aufzufassen, sondern als tatsächliche Aufforderung, auf noch unbevölkerten Flecken dieser Erde unter seines Gleichen neue Siedlungsformen zu begründen. Eine Passage aus dem Kapitel Von alten und neuen Tafeln des Zarathustra beschreibt entsprechend die »Menschen-Gesellschaft« als einen misslungenen Versuch (vgl. Z – 265). So abwegig heute diese Erwägung erscheinen mag: Nietzsche hatte in der Begründung »Nueva Germanias« in Paraguay durch Schwager und Schwester und Co. bald anschauliches Material. Vgl. hierzu auch die Erläuterungen Jaspers’ (Jaspers (1947), S. 266 ff.). In dieser Arbeit wird allerdings die Formel der »großen Politik« (vgl. ebd., S. 254–289) Nietzsches und damit verbunden die Idee der explizit politischen Umorganisation der Gesellschaft ignoriert, »Versuchsstaat« ausschließlich als Metapher für den »Leib« gelesen.

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für neue Ideale gesetzt werden könnte, muss vergewissert werden, ob die angestellten Analysen sich nicht von vornherein auf eine falsche Spur haben führen lassen; »Nietzsche« und ein so positiv besetzter Vernunftbegriff scheinen sich von vornherein nicht zu vertragen.

I.3.1.2 Kommentierung von Ursprung der Erkenntniss (§ 110 FW) Der Aphorismus Ursprung der Erkenntniss (FW – 469 ff.) 16 soll als eine Vertiefung und Erhärtung dessen gedeutet werden, was als die Problemlage anhand von Moralisches Interregnum geschildert wurde. Während Nietzsche in Moralisches Interregnum durch eine konstruierte »Verungleichzeitigung« mit sich selbst und seiner Gegenwart seinen Denkort als einen des Übergangs behauptete, wobei die implizite Voraussetzung der grenzgängerischen Argumentation darin bestand, dass Moral einer außermoralischen Begründung überhaupt bedarf, so wird dieses globale Panorama im § 110 aus Die fröhliche Wissenschaft weiterführend zusammengezogen als die Aufgabe der nietzscheschen Philosophie überhaupt, 17 indem zwei Begriffe von »Wahrheit«, ein tradierter, wesentlich moralischer und ein neuer, wesentlich außer- bzw. übermoralischer, aneinander aufgerieben werden. In der Miniaturabhandlung Ursprung der Erkenntniss wird auf eine eigentümliche Weise eine Genealogie der Erkenntnis aus dem Irrtum beschrieben, indem erörtert wird, in welchem Verhältnis Irrtum, Erkenntnis, menschliches Dasein und Leben überhaupt stehen und wie Erkenntnis als Funktion für die Erhaltung des Menschen durch ihre Entwicklung und Transformation das menschliche Leben selbst fundamental verändert hat. Diese Beschreibung mündet in Aufgrund seiner Länge soll der Aphorismus nicht in seiner Gänze zitiert werden. In der Nietzscheforschung ist immer wieder auf die herausragende Bedeutung des § 110 aus Die Fröhliche Wissenschaft aufmerksam gemacht worden. Paul van Tongeren (2012) stellt heraus, wie in diesem Aphorismus der Anspruch der Philosophie Nietzsches komprimiert zum Ausdruck gebracht wird. Gleichzeitig »entsubstantialisiert« er Nietzsches realgesellschaftlich zu nehmende umwerterische Ambitionen, indem er die Pointe dieser Philosophie im »Fragen« aufgehoben sieht. Auch Zittel (1995) ist in seiner Studie zu Nietzsches Denkfigur der »Selbstaufhebung« auf diesen Text aufmerksam, hebelt allerdings durch eine einseitige Lesart die produktive Dialektik des hier durch Nietzsche entworfenen Szenarios aus (vgl. S. 62 f.). Siehe dagegen Pearson (2006), S. 230–249, der durch Nachlassexegese gestützt diesen Aphorismus auch angesichts des Befundes der dritten Abhandlung der Genealogie (analog, wie es die vorliegende Studie unternehmen wird) ernst nimmt.

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einer Umschreibung der Denk-Aufgabe für das Hier und Jetzt, in der sich der argumentierende Experimentator – bzw. der Textkorpus – als Ausnahme setzt, welcher die Kraft zukommt, einen neuen Begriff von »Wahrheit«/»Leben« gegen einen alten zu behaupten. 18 Nietzsche hat zur Voraussetzung seiner von evolutionstheoretischen Einsichten inspirierten Überlegungen die These, dass die menschliche Intelligenz in ihrem Entstehen und dann über lange Zeiten hinweg zum Nutzen der Fortexistenz der menschlichen Gattung nichts als Irrtümer 19 produziert hat. Zu diesen falschen Glaubenssätzen gehören – hier wird en passant deutlich, worin die Irrtümlichkeit der Fundamente der moralischen Selbst- und Weltauslegung besteht – etwa die Behauptung, dass es »dauernde Dinge« gebe, dass es »gleiche Dinge« gebe, »dass es Dinge, Stoffe, Körper gebe«, »dass unser Wollen frei sei«, »dass was für mich gut ist, auch an und für sich gut ist« (FW – 469). Nietzsche behauptet damit die ursprüngliche Verquickung von Erkenntnis – die sich heute als ein Irrtum erweist – mit der moralischen Selbst- und Weltauslegung. Er bezeichnet damit also auch als überlebenswichtige Irrtümer das, was unumstößliche philosophische Grundwahrheiten sind, sagt implizit, dass das Philosophieren vor ihm im Grunde auf unhaltbaren Fundamenten basierte. 20 Ohne zu bestimmen, wie er zur Einsicht geDas Werk Nietzsches inszeniert sich bekanntlich gerne durch gigantomanische Zuspitzungen, die ihn als einen »Dreh- und Wendepunkt« der Weltgeschichte behaupten. Dabei ist es nicht ausgeschlossen, dass Nietzsche mit dem Paragraphen 110 von Die fröhliche Wissenschaft auf den in der christlichen theologischen Forschung als besonders bedeutsam gewürdigten Psalm Davids 110 anspielt, der vor allem wegen der genealogischen Zuspitzung und Auslegungsmöglichkeit hin auf das Ereignis Christus gedeutet wurde (vgl. hierzu etwa Anderson (2001)). Ist der Wille zur Macht des Christentums, so könnte Nietzsche unterstellen wollen, Umwerter alttestamentlicher Verheißungen, so bin ich, Friedrich Nietzsche, die Gestalt der Moderne, welche die Gegenwart von ihrem jüdisch-christlichen Erbe erlöst und in den Raum meiner zweideutigen Verheißungen schickt (die Umwertung davon nicht distinkt zu trennenden »heidnischen« Ideengutes ist im Aphorismus explizit). Ein ähnlicher Dreischritt findet sich, komplexer durchgeführt, im Werk Also sprach Zarathustra: der dreißigjährige Zarathustra verlässt seine Heimat, welcher unbegründete Schritt der Berufung Abrahams durch Gott entspricht, wobei seine 10-jährige Reifungsphase in Einsamkeit Jesus, der bekanntlich im Alter von 30 Jahren seinen weltgeschichtlichen Auftritt hatte, die Gefahren der Jünglingsliebe (zur Charakterisierung Jesu als eines edlen Jünglings, der seine Lehre widerrufen hätte, wäre er 10 Jahre reifer geworden, vgl. Z – 95) umgehen lässt. Bewährt wird diese These im Abschnitt II.3.1.1. 19 Vgl. bestärkend hierzu auch den Aphorismus Die Grundirrthümer (MA II – 547 f.). 20 Vgl. hierzu auch den Aphorismus Grundfragen der Metaphysik: »[…] [D]er Glau18

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langte, dass der Intellekt ursprünglich nur Grundirrtümer produzierte, fährt er fort, zur Unterscheidung des Begriffs »Erkenntnis« den Begriff der »Wahrheit« einzuführen und bezeichnet sie als die schwächste Form von Erkenntnis. Aufgrund eines relativ gesicherten Lebensstandards konnten gewisse Menschen sich herausnehmen, an bestimmten, bis dahin feststehenden, lebenserhaltenden Irrtümern zu zweifeln, sie zu leugnen. Es stand allerdings fest, dass der menschliche Organismus auf einverleibte Grundirrtümer angewiesen war und Irritierungen durch Wahrheiten schwer wogen. Die höheren Funktionen des menschlichen Körpers, wie die Wahrnehmungen und Empfindungen durch die Sinne, waren erfolgreich, weil erfolgversprechend auf Fehlinterpretationen der Welt hin konditioniert. »[D]ie Kraft der Erkenntnisse« lag »nicht in ihrem Grade von Wahrheit, sondern in ihrem Alter, ihrer Einverleibtheit, ihrem Charakter als Lebensbedingung« (FW – 469). Etwas an sich Falsches – so will es Nietzsches Geschichte der Philosophie in ihrer genealogischen Zuspitzung auf ihn hin – wurde also der Maßstab für Abwägungen nach wahr und unwahr. Man setzte zum Beispiel den Irrtum voraus, dass es etwas Gutes an sich gebe, und bemaß nach dieser Fehleinschätzung als einer des Lebens selbst die Handlungsweisen der Menschen, stellte Ethiken auf, die für sich Wahrheit beanspruchten, weil viele Argumente generiert aus dem Wohl der Gemeinschaft für sie sprachen, und vergaß darüber zu fragen, was es denn überhaupt mit dem Guten als solchem auf sich hatte. Nietzsche gibt den Verfechtern der nicht lebensdienlichen Wahrheit ein Gesicht. Die Eleaten waren unter anbe an die Freiheit des Willens ist ein ursprünglicher Irrthum alles Organischen, so alt, als die Regungen des Logischen in ihm existieren; der Glaube an unbedingte Substanzen und an gleiche Dinge ist ebenfalls ein ursprünglicher, ebenso alter Irrthum alles Organischen. Insofern aber alle Metaphysik sich vornehmlich mit Substanz und Freiheit des Willens abgegeben hat, so darf man sie als die Wissenschaft bezeichnen, welche von den Grundirrthümern des Menschen handelt, doch so, als wären es Grundwahrheiten.« (MA I – 40) In Götzen-Dämmerung wird im Abschnitt Die vier grossen Irrthümer diese Abgrenzungsstrategie Nietzsches gegenüber der traditionellen Philosophie intensiviert (vgl. GD – 88–97). Nicht zuletzt gehört auch die rhetorische Frage aus Zur Genealogie der Moral: »Ist heute schon genug Stolz, Wagniss, Tapferkeit, Selbstgewissheit, Wille des Geistes, Wille zur Verantwortlichkeit, Freiheit des Willens vorhanden, dass wirklich nunmehr auf Erden ›der Philosoph‹ – möglich ist? …« (GM – 361) hierher, welche alle Philosophen – bis auf Nietzsche freilich – als gegängelt durch das »asketische Ideal« verunmöglicht sieht, wobei die hier unterstellte »Freiheit des Willens« in außermoralischem Sinne zu verstehen wäre im Sinne reiner Kraftäußerung.

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deren jene »Ausnahme-Denker«, »welche trotzdem die Gegensätze der natürlichen Irrthümer aufstellten und festhielten« und daran »glaubten […], dass es möglich sei, dieses Gegentheil auch zu leben« (FW – 479 f.). Die Wahrheit wird vorläufig nur abstrakt bestimmt als Gegensatz bzw. Gegentheil zum einverleibten Irrtum, aus dem sich der Glaube generiert, auch durch ihn leben zu können. Dieses historische Umwertungspanorama bildet zu Nietzsches Selbstsetzung als Ausnahme die Negativfolie. Die Eleaten als die philosophiegeschichtlichen Opponenten zu Heraklit, welche Denkerpersönlichkeit Nietzsche seinen Ambitionen als nah verwandt wähnt, erfanden einen Typus Mensch, dessen Ideal sich durch Attribute wie »Unveränderlichkeit«, »Unpersönlichkeit« und »Universalität der Anschauung« konstituiert, »als Eins und Alles zugleich, mit einem eigenen Vermögen für jene umgekehrte Erkenntniss; sie waren des Glaubens, dass ihre Erkenntniss zugleich das Princip des Lebens sei«. (FW – 470) Auch die Ausnahmedenker, wie sie die Eleaten darstellten, entsprangen einer Menschheit, die ihr Leben basierend auf Grundirrtümern auslegte. Die sich in ihnen formulierende Wahrheit mit ihren idealen Prämissen behauptete sich zwar für sie als Leben im Leben, hatte aber die subjektive Selbsttäuschung über den Charakter aller Erkennenden zur Folge. So hypostasierten sie mangels eines Willens zu sich im eminenten Sinne – eingebunden in den Zwang einer »Sittlichkeit der Sitte« – etwa die Vernunft zu einer autonomen, also von Trieben und Instinkten losgelösten, sich selbst entspringenden Kraft. Außerdem waren jene Ausnahmedenker nicht in der Lage, ihr Tun als eine naturgemäße Reaktion auf die gegebenen sozialen Tatsachen und Umstände auszulegen, einzusehen also, dass sich hinter ihren neu gewonnenen Einsichten ein sublimiertes Kräftemessen im Dienste des Lebens abspielte. [S]ie mussten sich Unpersönlichkeit und Dauer ohne Wechsel andichten, das Wesen des Erkennenden verkennen, die Gewalt der Triebe im Erkennen leugnen und überhaupt die Vernunft als völlig freie, sich selbst entsprungene Activität fassen; sie hielten sich die Augen dafür zu, dass auch sie im Widersprechen gegen das Gültige, oder im Verlangen nach Ruhe oder Alleinbesitz oder Herrschaft zu ihren Sätzen gekommen waren. (FW – 470)

Als nächsten Entwicklungsschritt der Genealogie der Erkenntnis nennt Nietzsche die Verunmöglichung dieses Philosophentyps durch die feinere Entwicklung der Redlichkeit und der Skepsis als einer nunmehr allein haltbaren Methode, Denken und Existenz zusamModulationen der Einsamkeit

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menzuführen. Nietzsche denkt hier mit Sicherheit an die geistesgeschichtliche Entwicklung weg von den Weltanschauungsphilosophien der Vor-Sokratiker hin zu den ethisch orientierten Sophisten und Sokrates. Es zeigte sich durch sie, dass die lebensausrichtende Weisheit jener Ausnahmedenker ebenfalls auf Grundirrtümern basierte, dass »auch ihr Leben und Urtheilen […] sich als abhängig von den uralten Trieben und Grundirrthümern alles empfindenden Daseins« (FW – 470) erwies; dies offenbar deswegen, weil der sich in ihnen etablierende Trieb zur Wahrheit sich nicht an dem Leben orientierte, das jene Weisheit neu auszurichten hatte. Die Erfindung des Typus Philosoph durch die Eleaten griff, gemessen am Fortschritt der Möglichkeit von Wahrheit, nicht adäquat in die lebendige Substanz des Menschen ein. Jenes »Gegentheil«, das sie zu den einverleibten Grundirrtümern bedeuteten, war zu unbestimmt und trocknete auf Grund seiner abstrakten Idealität aus. Die Entwicklung der feineren Redlichkeit und Skepsis allerdings wird von Nietzsche demgegenüber in sich auf eine materielle Dialektik zugespitzt. Sie wurde dort ermöglicht, wo zwei entgegengesetzte Sätze auf die Grundirrtümer des Lebens gleichermaßen anwendbar waren, womit sich eine agonale Dualität »Leben« gegen »Leben« aufspaltet. Jene feinere Redlichkeit und Skepsis hatte überall dort ihre Entstehung, wo zwei entgegengesetzte Sätze auf das Leben a n w e n d b a r erschienen, weil sich beide mit den Grundirrthümern vertrugen, wo also über den höheren oder geringeren Grad des N u t z e n s für das Leben gestritten werden konnte; ebenfalls dort, wo neue Sätze sich dem Leben zwar nicht nützlich, aber wenigstens auch nicht schädlich zeigten, als Aeusserungen eines intellectuellen Spieltriebes, und unschuldig und glücklich gleich allem Spiele. (FW – 470)

Einen zweiten Entstehungsherd für die Verfeinerung des Intellekts hin zu Redlichkeit und Skepsis sieht Nietzsche in der Neutralität der neuartigen Erkenntnisse gegenüber dem Leben. Solche sich nicht schädlich gegen das Leben richtenden Erkenntnisse sind Äußerungen eines intellektuellen Spieltriebes. Dieses Denken aus Freude am Denken, das Denken um des Denkens willen, verselbstständigte sich und setzte sich im menschlichen Gehirn in Form von Überzeugungen und Urteilen fest. »Allmählich füllte sich das menschliche Gehirn mit solchen Urtheilen und Ueberzeugungen, so entstand in diesem Knäuel Gährung, Kampf und Machtgelüst.« (FW – 470) Durch synergetische Prozesse im menschlichen Gehirn gewann das Spiel mit Wahrheiten 68

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schließlich eine ursprünglich verbindliche Dimension, eine spezifische Wichtigkeit innerhalb des menschlichen Lebens, das sich durch diese bereichernd an sich selbst verwandelte. Im weiteren Verlauf der Evolution von »Erkenntnis« beteiligte sich bald der lebensausrichtende Triebhaushalt des Organismus am Kräftemessen um die »Wahrheiten«, um sich von diesen auf ein anderes Niveau ihrer Selbstauslegungsmöglichkeit heben zu lassen. Nützlichkeit und Lust nicht nur, sondern jede Art von Trieben nahm Partei in dem Kampfe um die ›Wahrheiten‹ ; der intellectuelle Kampf wurde Beschäftigung, Reiz, Beruf, Pflicht, Würde –: das Erkennen und das Streben nach dem Wahren ordnete sich endlich als Bedürfniss in die anderen Bedürfnisse ein. (FW – 470)

Der Geist des Lebens wechselte sozusagen die Fronten, indem jede Art von Trieb als der unmittelbar-vitalen Basis des Geistes, welche sich ursprünglich und über lange Zeitstrecken hinweg allein vermittelt über Grundirrtümer ins Leben übersetzte, sich nun zur Erprobung seiner realen Möglichkeiten am Kampf um die Wahrheiten beteiligt, um sich durch sie bedingen zu lassen, insofern sich das Streben nach dem Wahren als Bedürfnis neben anderen Bedürfnissen inkorporiert und behauptet hat. Das zentrale Ergebnis dieser sowohl als biologisch-organisch als auch als sozial-politisch zu denkenden »Institutionalisierung« des Kampfes um Erkenntnisse ist nun wie gesagt, dass das Streben nach dem Wahren ein tatsächliches Bedürfnis neben anderen Bedürfnissen wird. 21

21 Der Text Ursprung der Erkenntniss hat einen vorläufigen Kommentar in Menschliches, Allzumenschliches I, dessen Argumentationsgang von § 629 mit dem Titel Von der Ueberzeugung und der Gerechtigkeit ausgeht und sich bis § 637 erstreckt. Darin heißt es: »Wenn nicht dem Einzelnen an seiner ›Wahrheit‹, das heisst an seinem Rechtbehalten gelegen hätte, so gebe es überhaupt keine Methode der Forschung; so aber, bei dem ewigen Kampfe der Ansprüche verschiedener Einzelner auf unbedingte Wahrheit, gieng man Schritt für Schritt weiter, um unumstössliche Prinzipien zu finden, nach denen das Recht der Ansprüche geprüft und der Streit geschlichtet werden könne.« (MA I – 359) Nietzsche grenzt hier dann den letztlich irrationalen Begriff der »Überzeugung« ab von dem der »Gewissheit«, wobei letztere nur durch einen Wettstreit (Agon) zwischen einzelnen Denkern gesichert werden konnte. »Der persönliche Kampf der Denker hat schliesslich die Methoden so verschärft, dass wirklich Wahrheiten entdeckt werden konnten und dass die Irrgänge früherer Methoden vor Jedermanns Blicken blosgelegt sind.« (MA I – 360) Auf diese zentrale Textpassage wird im Abschnitt I.1.1.3 zur Vernetzung der ersten mit der mittleren Werkphase zurückzukommen sein.

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Von da an war nicht nur der Glaube und die Ueberzeugung, sondern auch die Prüfung, die Leugnung, das Misstrauen, der Widerspruch eine M a c h t , alle ›bösen‹ Instincte waren der Erkenntniss untergeordnet und in ihren Dienst gestellt und bekamen den Glanz des Erlaubten, Geehrten, Nützlichen und zuletzt das Auge und die Unschuld des G u t e n . (FW – 470 f.)

Neben dem Glauben und der Überzeugung als biologisch vererbten und politisch unverdächtigen Lebensträgern entstand im Einzelleib und etablierte sich im Sozialwesen eine individuell errungene und sozial anerkannte Methode des Wahrheitstriebs, deren Effekte zunächst aus der Perspektive der meisten als lebenshemmend, desorientierend, pathologisch, sonderbar gedeutet werden mussten: »Böse« Instinkte kann sie Nietzsche deswegen nennen, weil sie den damaligen, verhältnismäßig unreflektierten Menschen, deren Wissen von sich und dem Leben immer noch vorwiegend auf herkömmlichem Glauben und tradierter Überzeugung basierte, von seiner sozialen Natur desintegrierte. »Böse« – das ist der zweite Sinn des durch Anführungsstriche angezeigten Doppelsinns – waren die Instinkte aber dennoch nur noch gleichsam, deswegen, weil sich ihr destruktives Leben ja einordnete in den Dienst der Erkenntnis, welche vermittelt neue soziale, allgemein-menschlich anerkannte Verbindlichkeiten generierte. Was Nietzsche hier beschreibt, ist eine Art Sublimierungsleistung des als böse empfundenen Hangs, die sich aus dem etablierten Trieb nach Wahrheit naturgemäß ergibt. Glaube und Überzeugung als letztlich unbegründete Haltungen, deren Güte sich aus tradierten Wertekanons speist, werden nach und nach in ihrer unreflektierten, lebensausrichtenden Orientierungsfunktion angeätzt und können aufgrund der anhaltenden Ab- und Auflösung durch den Willen zur Wahrheit und Gewissheit nicht mehr halten, was sie versprechen. Sobald Erkenntnis selbst als ein gesellschaftlich anerkanntes, lebenswichtiges Bedürfnis etabliert war, sich als solches, wie Nietzsche gleich darauf sagt, »b e w i e s e n « hat, kann auch behauptet werden, dass die bösen Werkzeuge der Erkenntnis, wie Misstrauen, Widersprechen, Neinsagen etc., etwas Gutes wurden. Nietzsche schließt aus diesen Beobachtungen mit einem »also«, dass die Erkenntnis zu einem Stück »Leben« selber geworden ist: 22 »Die ErDie Gleichsetzung des »Erkenntnistriebes« mit »Leben«, weit davon entfernt, eine ausnahmsweise Verirrung im Denken Nietzsches zu sein, wie auch die berühmte Formel »Geist ist das Leben, das selber in’s Leben schneidet« (Z – 134) aus dem Zarathustra zeigt, jene Gleichsetzung erfährt im § 230 von Jenseits von Gut und Böse eine

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kenntniss wurde also zu einem Stück Leben selber und als Leben zu einer immerfort wachsenden Macht: bis endlich die Erkenntnisse und jene uralten Grundirrthümer auf einander stiessen, beide als Leben, beide als Macht, beide in dem selben Menschen.« (FW – 471) Hiermit ist die Geburtsstunde des wirklichen Denkers gesetzt – und der Sinn von Nietzsches genealogisch rekonstruiertem Erkenntnisbegriff offenbart sich als eine Projektionsfläche, deren geschichtliche Stadien die für den Jetztmoment entscheidende Denkaufgabe zuspitzen. In der Ausnahmeerscheinung »Nietzsche« – von deren offener Bedeutung hier alles abhängt – bzw. in deren Werk entscheidet sich – so will es die Inszenierung – das Geschick der modernen Philosophie. Das Innenleben des Denkers wird also begriffen als Agon zwischen Leben als Erkenntnis und Leben als Irrtum, was durch die Tatsache ermöglicht wird, dass sich im Leib des Denkers der Trieb zur Wahrheit als »lebenerhaltende Macht b e w i e s e n hat.« (FW – 471) 23 subtile Vertiefung. Die dort vollzogene komplexe Analyse des Phänomens »Geist« kann hier nicht nachgezeichnet werden. Als das für Nietzsche Entscheidende sei hier lediglich hervorgehoben, dass all die Prozesse, die man unter dem Wort »Geist« begreift, ihre Entsprechung im Begriff des »Lebens« der Physiologen finden: »es [das ›befehlerische Etwas‹, i. e. »Geist«, R. R.] hat den Willen aus der Vielheit zur Einfachheit, einen zusammenschnürenden, bändigenden, herrschsüchtigen und wirklich herrschaftlichen Willen. Seine Bedürfnisse und Vermögen sind hierin die selben, wie sie die Physiologen für Alles, was lebt, wächst und sich vermehrt, aufstellen«. (JGB – 167) 23 Dieser zentrale Punkt – dass der Trieb zur Wahrheit als lebenserhaltende Macht sich bewiesen hat – wird sowohl von van Tongeren (2012) als auch bei Zittel (1995), S. 62 f. ausgelassen. Damit wird verkannt, dass dieses Motiv bis zum ersten Buch des Zarathustra – und letztlich auch noch darüber hinaus (vgl. wiederum Pearson (2006)) – an diesem aufgeladenen Wahrheitsbegriff, durch den Nietzsche seinen Begriff von »Leben« mit dem der exakten Wissenschaften seiner Zeit konfundiert, aufrechterhalten wird. So heißt es im zweiten Abschnitt aus Von der schenkenden Tugend, bildlich das hier Besprochene augenscheinlich verdichtend: »Hundertfältig versuchte und verirrte sich bisher so Geist wie Tugend. Ja, ein Versuch war der Mensch. Ach, viel Unwissen und Irrthum ist an uns Leib geworden! / Nicht nur die Vernunft von Jahrtausenden – auch ihr Wahnsinn bricht an uns aus. Gefährlich ist es, Erbe zu sein. […] Euer Geist und eure Tugend diene dem Sinn der Erde, meine Brüder: und aller Dinge Werth werde neu von euch gesetzt! Darum sollt ihr Kämpfende sein! Darum sollt ihr Schaffende sein! / Wissend reinigt sich der Leib; mit Wissen versuchend erhöht er sich; dem Erkennenden heiligen sich alle Triebe; dem Erhöhten wird die Seele fröhlich.« (Z – 100) Scheier kommentiert den Abschnitt aus § 110 wie folgt: »Daß im ›Verhältniss zu der Wichtigkeit dieses […] Kampfes alles Andere gleichgültig‹ ist, folgt aus der zweideutigen Stellung der Kontrahenten zueinander: Einerseits geht der Trieb zur Wahrheit den lebenerhaltenden Irrthümern ans Mark, […] und das geschichtliche Resultat heißt Pessimismus, Nihilismus und décadence; anderseits ist Modulationen der Einsamkeit

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Nietzsche betont, hiermit den für seine Philosophie entscheidenden Punkt formuliert zu haben, weil in ihm die letzte Frage um die Bedingung des Lebens gestellt ist. An dieser Stelle kann an die Analysen aus Moralisches Interregnum angeknüpft werden und an die Forderung dieses Aphorismus, die »Gesetze des Lebens und Handelns neu auf[zu]bauen« (M – 274). Nietzsche polarisiert zwei unterschiedene Begriffe von »Leben« gegeneinander. Dabei wird mit der entscheidenden Frage aus Ursprung der Erkenntniss, »inwieweit verträgt die Wahrheit die Einverleibung?« (FW – 471), die besprochene Forderung aus Moralisches Interregnum bezogen auf den Einzelleib ausgelegt. Hierbei muss eine Unterscheidung Nietzsches berücksichtigt werden, die strukturell an die grenzgängerische Güte der Argumentation aus Moralisches Interregnum erinnert. Der Denker, so gibt Nietzsche zu verstehen, ist neben inkorporierten Irrtümern auch bestimmt durch den Trieb zur Wahrheit. Die Frage allerdings, inwieweit die Wahrheit die Einverleibung verträgt, scheint jenes »Wahrheit = Leben« aus obigem Zitat zu modifizieren. Wenn Nietzsche vom Trieb zur Wahrheit spricht, dann kann man sich schließlich den Trieb nicht anders vorstellen als bereits inkorporiert. Die scheinbar nicht erläuterungsbedürftige Güte des Wahrheitstriebes 24 ist vorausgesetzt, wobei es in der Frage »inwieweit (…)?« um eine quantitative Zuspitzung zu geer selber eine lebenerhaltende Macht und reproduziert diese abgründige Trias in einem endlosen Ende der Geschichte.« (Scheier (2013), Band 5, S. 309) Scheier stellt heraus, dass es Nietzsche hier um die Frage geht, ob »Wissenschaft« Werte setzen könne, nachdem sie erwiesen hat, dass sie sie auch nehmen kann. Nietzsche wird in den Schriften nach Zarathustra – das ist hier die Vermutung – davon abkommen, einen »wissenschaftlichen« Ausgangspunkt für die Umwertung zu suchen. Nachdem also die Verheißungen des Zarathustra gesetzt sind, wird Nietzsche seinen moralkritischen Anspruch zurückfahren derart, dass er innermoralische Distinktionen umwertet zur Bestimmung neuer Rangordnungen. 24 Im Hintergrund von Nietzsches Argumentation ist ein Anspruch auf den Besitz von Wahrheit federführend. Dieser hier einfach nur zu konstatierende Befund kann an das Anliegen, Stegmaiers Konzepts der »Anti-Lehre« durch die »Einsamkeitslehre« zu erden, angeknüpft werden. Stegmaier gewichtet Nietzsches Wahrheitsanspruch durch die Anti-Lehren-Konzeption zu leicht, insofern er die ihn bedingende Basis (»Leben«), die durch Nietzsche sich formuliert, unberücksichtigt lässt. Es wird sich zeigen, wie die ursprünglich durch den Namen »Schopenhauer« eingeleitete Ära einer tragischen Weltauffassung, die als diese den Anspruch erhebt, »wahr« zu sein, bald durch den Namen »Nietzsche« ersetzt wird. Vor diesem Hintergrund ist es bedeutend, dass Zittel die tragische Dimension des Konflikts herausstellt (vgl. Zittel (1995), 62 f.).

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hen scheint, in dem Sinne, als man weiterfragen muss, ob der noch junge und dementsprechend fragile Trieb zur Wahrheit ›hochgezüchtet‹ werden kann, um dem als Irrtum inkorporierten Leben den Garaus zu machen. Man könnte auch anders fragen: Wie viel Irrtum bedarf der Leib, um überhaupt noch lebensfähig zu sein? Es kann festgehalten werden: »Wahrheit« ist Leben – zumindest im Denker, und Nietzsches Aphorismus kulminiert in der Frage, inwieweit dieses Leben einverleibt werden, inwieweit man den menschlichen Leib von seinen Grundirrtümern reinigen kann.

I.3.1.3 Zusammenfassung und Rückbindung: das »höhere Selbst« (SE/MA I) In diesem zusammenfassenden Abschnitt soll gezeigt werden, wie Nietzsche die in Schopenhauer als Erzieher formulierte Aufgabe in die Gehalte seiner Freigeistepisode einbindet. Davor ist es sinnvoll, die Ergebnisse der engen Textexegese und -kommentierung zu sichern. Die Aphorismen Moralisches Interregnum und Ursprung der Erkenntniss treten innerhalb der Experimentalphilosophie in gemeinsamer Absicht auf. Führt man nun die beiden Aphorismen in ihrem Gehalt eng, so ist die Kerneinsicht, dass Nietzsche das Entstehen des Erkennens gleichzeitig denkt mit der moralischen Auslegung der Welt. »Erkennen« war in der Geschichte der Philosophie immer »moralisches Erkennen«. Die philosophische Weltauslegung hatte einen moralischen Sehnerv, welcher der durch die Pupille einleuchtenden Wirklichkeit unmittelbar und unwillkürlich ein moralisches Gepräge verlieh. 25 Die Geburtsstunde des wahren Denkers ist nun Es wird in der modernen Philosophie ein gängiger Topos sein, eine möglichst umfassende Perspektive auf die Entwicklung der Menschheit zu gewinnen und diese als im Prinzip verfehlt zu charakterisieren. So werden die diagnostizierten Missstände gemünzt als »instrumentelle Vernunft«, »Logozentrismus«, »Geist als Widersacher des Lebens«, als »Seinsvergessenheit« etc. Dabei muss man zumindest in Hinsicht auf Nietzsche vorsichtig sein, ihm ein einseitiges Bild des Geschichtsverlaufs zu unterstellen. Nietzsches Konstruktion einer »Genealogie der Moral« ist dialektisch konzipiert. So betont er selbst in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral immer wieder, dass man nicht vorschnell »schlecht« vom Sklavenaufstand in der Moral als notwendiger Entwicklung der moralischen Weltauslegung denken dürfe, da durch ihn das Menschenwesen eine neue Dimension und Tiefe erhalten hat. Diesen Sachverhalt sieht auch Hutter (2006), der die Bedeutung von »Einsamkeit« für die Ambition

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jene, wo dieser lebenskonservierende Grundirrtum als solcher entlarvt und angefochten wird durch den gleichermaßen »Leben« verbürgenden und bewiesenen Trieb zur Wahrheit. Nur wenige Aphorismen nach Ursprung der Erkenntniss inszeniert Nietzsche in Der tolle Mensch die Situation seines Philosophierens negativ, deren positive Antithese in § 110 gemünzt wurde. Nietzsche gibt in seinem Ecce homo vor diesem Panorama Erläuterungen zum Titel seines »Gedanken-Gedichts« 26 Also sprach Zarathustra: Man hat mich nicht gefragt, man hätte mich fragen sollen, was gerade in meinem Munde, im Munde des ersten Immoralisten, der Name Z a r a t h u s t r a bedeutet: denn was die ungeheure Einzigkeit jenes Persers in der Geschichte ausmacht, ist gerade dazu das Gegentheil. Zarathustra hat zuerst im Kampfe des Guten und des Bösen das eigentliche Rad im Getriebe der Dinge gesehn, – die Übersetzung der Moral in’s Metaphysische, als Kraft, Ursache, Zweck an sich, ist s e i n Werk. Aber diese Frage wäre im Grunde bereits die Antwort. Zarathustra s c h u f diesen verhängnissvollsten Irrthum, die Moral: folglich muss er auch der Erste sein, der ihn e r k e n n t . Nicht nur, dass er hier länger und mehr Erfahrung hat als sonst ein Denker – die ganze Geschichte ist ja die Experimental-Widerlegung vom Satz der sogenannten ›sittlichen Weltordnung‹ –: das Wichtigere ist, Zarathustra ist wahrhaftiger als sonst ein Denker. Seine Lehre und sie allein hat die Wahrhaftigkeit als oberste Tugend – das heisst den Gegensatz zur F e i g h e i t des ›Idealisten‹, der vor der Realität die Flucht ergreift, Zarathustra hat mehr Tapferkeit im Leibe als alle Denker zusammengenommen. Wahrheit reden und g u t m i t P f e i l e n s c h i e s s e n , das ist die persische Tugend. – Versteht man mich? … Die Selbstüberwindung der Moral aus Wahrhaftigkeit, die Selbstüberwindung des Moralisten in seinen Gegensatz – in m i c h – das bedeutet in meinem Munde der Name Zarathustra. (EH – 367)

Diese Erläuterungen Nietzsches über den Titel seines Also sprach Zarathustra fassen das bisher Dargestellte weiterführend zusammen. Nietzsche schildert den Stellenwert der Leistung des historischen Zarathustra als ein für die historische Menschheit verbindliches Ereignis. Der historische Zarathustra verbürgt eine moralische Rechtfertigung des menschlichen Daseins, Nietzsches Zarathustra müsse Nietzsches, neue Ideale zu setzen, inspirierend auslotet. Dort heißt es affirmativ über die »Sklavenmoral«: »From slave morality we derive a much greater intelligence and cunning, cleverness, emotional refinement, and general depth of soul than the ancient subjects of master morality ever had.« (S. 30) 26 Vgl. zu dieser Wortschöpfung Metz (1993), S. 182.

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»folglich« derjenige sein, der das Konzept einer »sittlichen Weltordnung« als verfehlt entlarvt. 27 Die Art, wie Nietzsche schließt, ist herausfordernd. Gewissermaßen als Stütze seines prekären »folglich«, fährt er fort zu bemerken, dass sein Zarathustra mehr Erfahrung in Sachen Moralgenealogie hat als jeder andere Denker. Sein eigenes großangelegtes Experiment legt ihm dar, dass Moral zu Zwecken der Rechtfertigung des Daseins ausgedient hat. Wichtiger allerdings als die Widerlegung der sittlichen Weltordnung durch das historischempirische Material ist das redliche, wahrhaftige und tapfere Wesen Zarathustras selbst. Damit grenzt Nietzsche das Ethos seines Philosophierens ab von der Feigheit der »Idealisten«, deren Weltinterpretation durch Wunschvorstellungen entstellt wird. Im Wesen des wahrhaftigen Denkers weicht also das moralische Sehen dem erkennenden Sehen. Moralisches Erkennen war bei und trotz allem Erkennen – darüber belehrt Ursprung der Erkenntniss –, das innerhalb einer bestimmten historischen und sozialen Konstellation für das Leben seine tiefere Berechtigung hatte. 28 Jenen Trieb ausVgl. hierzu auch die verwandten Ausführungen in Götzen-Dämmerung: »Die ›wahre Welt‹ – eine Idee, die zu Nichts mehr nütz ist, nicht einmal mehr verpflichtend, – eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab!« (GD – 81) 28 Nietzsche ist wie angedeutet in dem Sinne ein dialektischer Denker, als er zugleich den Nutzen und den Nachteil der Moral für das Leben abwägt. So sagt obiges Zitat aus dem Zarathustra, liest man rück-schließend, dass all der Wahnsinn der moralischen Weltauslegung nötig war, damit auch die »Vernunft« am Menschen ausbrechen kann. An einer anderen Stelle anerkennt Zarathustra entsprechend: »Und wahrlich, wie Viel gerieth schon! Wie reich ist diese Erde an kleinen guten vollkommenen Dingen, an Wohlgerathenem!« (Z – 364) Vgl. ferner auch den Aphorismus Das Ueber-Thier: »Ohne die Irrthümer, welche in den Annahmen der Moral liegen, wäre der Mensch Thier geblieben.« (MA I – 64) So war der Nutzen der Moral in einer primitiveren Entwicklungsstufe der Menschheit die Loslösung vom Tier. Der Nachteil wäre, dass mit der Moral als verfänglichem Mittel des Willens zur Macht dieser selbst sich einen Fallstrick gelegt hat in dem Sinn, als eine bestimmte Form von Moral dem Prinzip des Lebens als Wille zur Macht hemmend zusetzt. Nietzsche, diesen Sachverhalt in Götzen-Dämmerung am Beispiel Sokrates näher untersuchend, fragt, inwieweit es überhaupt denkbar ist, dass Moral als »Widernatur« zur Machtsteigerung dienen kann. Die Antwort auf die Frage, warum Sokrates jene ungeheuer für sich einnehmende Aura und Macht besaß, sieht Nietzsche darin, dass die Athener dieser Zeit selbst an einem absteigenden und dekadenten Lebenswillen litten, Sokrates nur hellsichtiges Sprachrohr einer allgemeinen, abfallenden Tendenz war (vgl. dazu GD – 71 ff. und zu der Verstrickung von Krankheit des Lebenswillens und pervertierter Form des Jasagens durch asketische Ideale überhaupt GM – 323 f., 326, 365 ff.). Diese Kritik hat eine Analogie in der späten Auseinandersetzung Nietzsches mit seinem Erzieher 27

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zuleben ist, um obiges Zitat aus Ecce Homo wieder aufzugreifen, nun Zarathustras Bestimmung. Diesen neu etablierten Trieb in seinen Möglichkeiten für die zukünftige Menschheit zu erproben ist in diesem Kontext Nietzsches Experimentalphilosophieren. Und der Versuch, diese Philosophie durch faktisches Leben zu verwirklichen, manifestiert sich in Nietzsches Wissenschaften der »Physiologie«, »Medizin«, »Gesellschafts- und Einsamkeitslehre«, von denen die letzte allein, ausgehend von Schopenhauer als Erzieher und Also sprach Zarathustra in dieser Arbeit näher betrachtet werden soll. Nach dieser Zusammenfassung soll nun gezeigt werden, wie Nietzsche die in Schopenhauer als Erzieher gestellte Aufgabe einer Neubegründung ethischer Orientierung in die Freigeistphase verwandelt einlässt. Es wurde gesagt, dass es zum Aphorismus Ursprung der Erkenntniss in Menschliches, Allzumenschliches I eine Textkette gibt, die dem Gehalt des § 110 von Die fröhliche Wissenschaft nah verwandt ist. Die Rede ist von § 629, Von der Ueberzeugung und der Gerechtigkeit, welcher zentrale Motive aus Ursprung der Erkennniss bereits andenkt und durch ausgewählte Ausdrücke an Setzungen aus Schopenhauer als Erzieher erinnert, wobei das darin Dargestellte sich bis § 637 erstreckt und ausläuft in den das erste Buch von Menschliches, Allzumenschliches beschließenden Aphorismus mit dem einsamkeitssymbolisch profilierten Titel Der Wanderer. Der Gehalt der hier zur Debatte stehenden Passage kann nicht erneut durch enge Textinterpretation ausgehoben werden. Es geht hier allein um den formalen Nachweis, dass Nietzsche an eine Ambition anknüpft, die er in seiner programmatischen Schrift Schopenhauer als Erzieher setzt und über die Bedeutung der Philosophie/Person Schopenhauers eruieren will: der Neubegründung ethischer Orientierung aufgrund einer tragischen Weltanschauung. Diese Verknüpfung der Werke und der Erweis ihrer inneren Kontinuität in benannten Belangen werden ermöglicht durch die Zusammenführung des Ausdrucks »höheres Selbst« mit der durch es verbürgten »Genialität der Gerechtigkeit«. 29 Der Text leitet sich ein mit folgendem Beund dessen Bedeutung für die moderne Décadence, auf die im dritten Teil dieser Studie intensiv eingegangen werden wird. 29 Es ist für den hier versuchten Zugang zu Nietzsche von eminenter und maßgeblicher Bedeutung, dass auch Horkheimer und Adorno den Ausdruck »höheres Selbst« in Nietzsches Werk auslegen als Versuch, eine verbindliche ethische Orientierung zu etablieren. Die kritischen Theoretiker bewerten dieses Unterfangen allerdings als den verzweifelten Versuch der Rettung Gottes und entdecken darin »die Erneuerung von

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fund: »Das, was der Mensch in der Leidenschaft sagt, verspricht, beschliesst, nachher in Kälte und Nüchternheit zu vertreten – diese Forderung gehört zu den schwersten Lasten, welche die Menschheit drücken.« (MA I – 354) Das geschilderte Problem hat seinen Grund – so geht aus dem fortlaufenden Text hervor – in der affektiven Verbundenheit der Menschen als Sozialwesen untereinander. Diese Ebene wurde bemerkenswerterweise im § 110 aus Die fröhliche Wissenschaft bezogen auf die »Wahrheitsetablierung« durch Nietzsche in seinem Werk eigentümlich ausgeblendet. Im Weiteren schildert Nietzsche entsprechend die – sowohl für das Individuum als letztlich auch für die Menschheit – schädlichen Wirkungen aller in Leidenschaft gefällten unbedingten Entschlüsse und fragt bald, nachdem sich herausstellt, dass jene Entscheidungen eher selbstbetrügerische »hypothetische Versprechen« waren als auf klaren Gewissheiten basierende Schlüsse: Sind wir verpflichtet, unsern Irrthümern treu zu sein, selbst mit der Einsicht, dass wir durch diese Treue an unserem höheren Selbst Schaden stiften? – Nein, es giebt kein Gesetz, keine Verpflichtung der Art, wir müssen Verräther werden, Untreue üben, unsere Ideale immer wieder preisgeben. (MA I – 355)

Der wohl von Ralph Waldo Emerson entlehnte Ausdruck »höheres Selbst« 30 hat vor allem in Nietzsches noch metaphysisch konzipierten Werken erhebliche Bedeutung: in Schopenhauer als Erzieher und in Richard Wagner in Bayreuth wird er an zentralen Stellen eingearbeitet, wobei er in Menschliches, Allzumenschliches I an zwei weiteren Stellen Erwähnung findet, um dann – zumindest als Allgemeinmenschliches verbürgender ›Terminus‹ – im weiteren Werkverlauf zu versickern – worauf er im Zarathustra der Sache nach letztgültige Bedeutung erhält. 31 Es soll hier nicht der Versuch unternommen werKants Unternehmen, das göttliche Gesetz in Autonomie zu transformieren, um die europäische Zivilisation zu retten, die in der englischen Skepsis den Geist aufgab«, wobei Kants Prinzip, »›alles aus der Maxime seines Willens als eines solchen zu tun, der zugleich sich selbst als allgemein gesetzgebenden zum Gegenstand haben könnte‹ […]«, zuletzt »auch das Geheimnis des Übermenschen« sei, vgl. Horkheimer/ Adorno (2003), S. 138. 30 Vgl. hierzu Conant (2014), S. 379. 31 In Nachlass und Briefen lässt sich seine Verwendung bis ins Jahr 1882 belegen. So heißt es in einem Brief an Heinrich von Stein, bar jeder glückversprechenden Konnotation nun, die diesem weihevollen Ausdruck ursprünglich zukam: »Man gewinnt etwas lieb: und kaum ist es Einem von Grund aus lieb geworden, so sagt der Tyrann in Modulationen der Einsamkeit

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den, diesem Ausdruck ein prägnanteres Gepräge zu verleihen. Es soll hier allein konstatiert werden, dass diesem Ausdruck, wo er Verwendung findet, zugesprochen wird, eine Erfahrung zu bedeuten, die jedem Menschen als Menschen möglich ist und ihn zugleich rechtfertigt und verbindlich orientiert. Er steht für die jedem gegebene Möglichkeit, nach einer idealen Gemeinschaft zu streben, welche hier in ihrer Möglichkeit durch irrationale, dissoziierende Leidenschaften untergraben wird. Die in den folgenden Textabschnitten durchgeführte Sezierung des Glaubens- und Überzeugungsbegriffs, der einige Stationen des § 110 antizipiert und vor allem dazu dienen soll, das moralisch motivierte Leiden aufgrund der Untreue gegen seine irrationalen Entscheidungen zu unterlaufen zugunsten der Treue zum dynamisierten höheren Selbst als dem zugleich individuell und allgemein-menschlich orientierenden Fixstern, mündet in einer Huldigung der »wissenschaftlichen Methode« und des »wissenschaftlichen Geistes« als alleiniger Garantie für »Gewissheit«, welche allein die naturgemäße Ungerechtigkeit der Leidenschaften und den mit ihr zusammenhängenden Geniekult unterbinden kann (vgl. MA I – uns (den wir gar zu gerne ›unser höheres Selbst‹ nennen möchten): ›Gerade d a s gieb mir zum Opfer.‹« (KSB 6, Nr. 342 – S. 287) Diese Ummünzung des höheren Selbst zu einem tragisch-dynamischen Ethos, der von Nietzsche – zumindest gegenüber Stein, auf den er als Zögling baute, indem er ihn Wagner abspenstig machen wollte – als »grausam« getauft wird und vor allem Individuen eignet, die – wie Nietzsche – eine »›tragische‹ Complexion im Leibe« (ebd.) tragen, hängt hier mittlerweile auf das Engste mit dem Begriff der »Redlichkeit« zusammen als einem nicht weiter begründbaren Hang der Wahrheitssuche, die das Fundament der Lebenswelt des empirischen Menschen gefährlich angräbt, insofern jeder sozial-determinierte, moralische Halt durch ihn aufgelöst wird. Diese tragische Erfahrung moderner Wahrheitssuche meditiert eindringlich der Aphorismus Aus der siebenten Einsamkeit: »Eines Tages warf der Wanderer eine Thür hinter sich zu, blieb stehen und weinte. Dann sagte er: ›Dieser Hang und Drang zum Wahren, Wirklichen, Un-Scheinbaren, Gewissen! Wie bin ich ihm böse! Warum folgt mir gerade dieser düstere und leidenschaftliche Treiber! Ich möchte ausruhen, aber er lässt es nicht zu. Wie Vieles verführt mich nicht, zu verweilen! Es giebt überall Gärten Armidens für mich: und daher immer neue Losreissungen und neue Bitternisse des Herzens! Ich muss den Fuss weiter heben, diesen müden, verwundeten Fuss: und weil ich muss, so habe ich oft für das Schönste, das mich nicht halten konnte, einen grimmigen Rückblick, – w e i l es mich nicht halten konnte!‹« (FW – 545) Auch hier ist es die Wahrheitssuche im Wanderer, welche nicht duldet, dass an ihm Einzelnes seinem Wesen nachhaltig Halt stiftete. Hier kann Erwähnung finden, dass Gerd-Günther Grau die Verbundenheit Nietzsches mit Kierkegaard über den Begriff der »Redlichkeit« darstellt, wobei er die These vertritt, dass Kierkegaards relative Redlichkeit der absoluten Nietzsches geradezu in die Hand spielt (vgl. Grau (1963), S. 21–49).

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360 f.). 32 Aus dieser Gewissheit – die hier zu begreifen ist als eine geistig vermittelte, zwischenmenschlich verbindliche Konkretisierung des »höheren Selbst« – entspringt letztlich eine Genialität der Gerechtigkeit, welche »eine Gegnerin der Ueberzeugungen [ist], denn sie will Jedem, sei es ein Belebtes oder Todtes, Wirkliches oder Gedachtes, das Seine geben – und dazu muss sie es rein erkennen; sie stellt daher jedes Ding in das beste Licht und geht um dasselbe mit sorgsamem Auge herum.« (MA I – 361) 33 Auch wenn dieses beschauliche Moment als Möglichkeit, allem und jedem gerecht zu werden, in dieser unbedarften Stimmung sich nicht lange halten wird, 34 fällt auf, wie Nietzsche in diesem Zusammenhang die in Schopenhauer als Erzieher formulierte Kulturphilosophie 35 und die durch sie verbürgte, neue »Humanität« in seine Freigeistphase aufnimmt. Fünf Abschnitte vor Von der Ueberzeugung und der Gerechtigkeit steht der Aphorismus Verkehr mit dem höheren Selbst. Er beginnt, formal betrachtet, mit einem Allsatz: »Ein Jeder hat seinen guten Tag, wo er sein höheres Selbst findet; und die wahre Humanität verlangt, Jemanden nur nach diesem Zustande und nicht nach den Werktagen der Unfreiheit und Knechtung zu schätzen.« (MA I – 351) Niemand ist von diesem Verkehr mit dem »Menschen« in sich ausgeschlossen. Das

Vorausblickend kann hier behauptet werden, dass sowohl Kierkegaards »Einzelner« als auch Nietzsches »Einsamer« ihrem idealen Begriff nach eine kritische, da im Prinzip Ungleichheit sanktionierende Auseinandersetzung mit der Genieästhetik sind. Dies wird zuletzt anschaulich in der Kritik an der Genialisierung der Moral durch Schopenhauers Ethik, in welcher der »Asket« als exklusives Paradigma gelingenden Lebenswandels gefeiert wird (vgl. hierzu insgesamt den Teil III dieser Studie). 33 Kaulbach (1980), S. 186–228 exponiert die Bedeutung von »Gerechtigkeit« für Nietzsches Experimentalphilosophie eingehend. 34 Der in der Forschung viel gewürdigte »Perspektivismus« Nietzsches könnte in der hier besprochenen Konstellation – der Verquickung von unwillkürlich wertendem Zugriff auf die Wirklichkeit und Anspruch auf objektive »Wahrheit« – seinen Ausgangspunkt haben. Man übersieht schnell, dass er vor allem der modern gewendete Anspruch Kants ist, (so gut wie eben möglich) objektive Erkenntnis zu sichern, ohne auf eine unmittelbar gewusste allgemeine Vernunft rekurrieren zu können (vgl. GM – 363–365). 35 So heißt es im Abschnitt 632, dass der Mensch, welcher nicht durch verschiedene Überzeugungen hindurchgegangen ist, »ein Vertreter zurückgebliebener Culturen« (MA I – 358) sei, welcher im besten Falle als Antagonist »das zartere Gebilde der neuen Cultur« (MA I – 358) hervortreibt, was wiederum an die Nachläufer und Vorläufer erinnert aus Moralisches Interregnum. Auch Campioni (1976) zeichnet die hier noch auszuarbeitende Bewegung des nietzscheschen Denkens als eines Übergangs von ihrem Ausgangspunkt zum mittleren Werk genetisch nach. 32

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»höhere Selbst« wird zuletzt mit dem »Menschen selber« identifiziert. »Dazu hat es [das höhere Selbst, R. R.] eine geisterhafte Freiheit zu kommen und fortzubleiben wie es will; es wird desswegen häufig eine Gabe der Götter genannt, während eigentlich alles Andere Gabe der Götter (des Zufalls) ist: jenes aber ist der Mensch selber.« (MA I – 352)

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I.4 Zusammenführung von Ausnahmetheorie und Einsamkeitslehre

Nachdem nun die Bedeutung der Ausnahmetheorie für das Werkganze Kierkegaards und die Bedeutung der Einsamkeitslehre für das Werkganze Nietzsches herausgestellt wurden, steht aus, diese antibegrifflichen Konzepte exemplarischen Denkens zusammenzuführen, ineinander zu verschränken, aus welcher Synthese sich das Vergleichsmodell ergibt, das das Werk Kierkegaards und Nietzsches unter die Perspektive der Frage nach dem gelingenden Leben bringt, wobei der »Einzelne« und der »Einsame« die utopischen Platzhalter für die Möglichkeit des Gelingens sind. Bis hierher wurde das Ausnahmetheorem Kierkegaards abstrakt und nur in Umrissen in drei Fassungen unterteilt: in eine faktische, eine normative und eine religiöse. Anschließend konnte plausibel gemacht werden, inwiefern die »Einsamkeitslehre« Nietzsches – im bisherigen Forschungskontext ziemlich marginalisiert, deswegen intensiver am Text entwickelt – tragende Bedeutung hat für Nietzsches Philosophie insgesamt. Zur Vernetzung der Ausnahmetheorie mit der Einsamkeitslehre muss nun noch »Einsamkeit« in sich unterschieden werden, und zwar auf eine Weise, wie sie in Nietzsches Werk selbst angelegt ist. Diese hat ihre strukturelle Analogie bei Kierkegaard und organisiert also auch Kierkegaards Werkentwicklung unterschwellig, so wie die drei Fassungen des Ausnahmetheorems auch durch Nietzsches Denkweg ausgereizt werden, was die Interpretation zentraler Passagen aus Schopenhauer als Erzieher und Also sprach Zarathustra im zweiten Teil dieser Studie erhellen wird. Es geht, wie noch einmal zu betonen ist, nicht um inhaltliche Deckungen, sondern allein um strukturelle Analogien. »Einsamkeit« ist zu unterscheiden – in konstruktiver Übernahme der drei Momente des methodischen Leitsatzes aus Adornos Minima Moralia – in »Isolation« (als die realgesellschaftliche Isoliertheit der Individuen/des Denkens), »Verlassenheit« (als die teleologische Insistenz des Denkens/des Individuums, das an sich sich verModulationen der Einsamkeit

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wirklichende falsche Allgemeine – »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« (Adorno 2003, S. 43) – abzutragen, zerfallen zu lassen) und »einsamste Einsamkeit« (als begriffsutopischen Raum, in dem die Isolation zerfällt bzw. als zerfallen dargestellt wird). »Ausnahme« in der bereits skizzierten Unterscheidung ist die lebendige, moralkritisch dynamisierte Figurierung von »Einsamkeit«. Diese dreigliedrigen Verbindungen werden im Folgenden zusammengeführt. Aus ihnen ergibt sich das Werkvergleichsmodell, das in den letzten Abschnitten dieses Kapitels in einer Grafik anschaulich gemacht wird (vgl. I.4.4.1 und I.4.4.2). Dabei werden sie die Struktur des zweiten Teils vorgeben, in dem das Vergleichsmodell konkreter am Text entwickelt wird, bevor es im dritten Teil sachlich an der Mitleidskritik beider Denker erprobt wird.

I.4.1 Isolation – faktische Ausnahmetheorie In diesem Abschnitt soll veranschaulicht werden, inwiefern die realgesellschaftliche Erfahrung der Isoliertheit initiierende Bedeutung hat für das exemplarische Denken beider Philosophen, insofern sie ursächlich dafür ist, dass gelingendes Leben unmittelbar unmöglich ist. Das exemplarische Denken nimmt Anstoß am Isolationszeitalter Moderne. 1 Diese Isolationserfahrung korrespondiert dem, was als faktische Ausnahmetheorie bei Kierkegaard vorgestellt wurde, dem Befund nämlich, dass unter gegebenen Umständen keiner davon ausgenommen ist, ausgenommen zu sein von der allgemeinen Desorientierung auf des Lebens Weg. In Schopenhauer als Erzieher heißt es, eine Art Bestandsaufnahme der Jetztzeit gebend: Seit einem Jahrhundert sind wir auf lauter fundamentale Erschütterungen vorbereitet; und wenn neuerdings versucht wird, diesem tiefsten modernen Hange, einzustürzen oder zu explodiren, die constitutive Kraft des sogenannten nationalen Staates entgegenzustellen, so ist doch für lange ZeiDiese lebensweltliche Erfahrung der Isoliertheit der Individuen voneinander hat notwendig und unwillkürlich Effekte auch auf die von ihr ausgehenden Philosophien. Das zeigt Lothar Hönninghausen, welcher die »Maskierung und perspektivische Schreibweise im allgemeinen und insbesondere bei Nietzsche im Zusammenhang mit der Erfahrung einer gesellschaftlichen Isolation des ›fin de siècle-Ich‹« auslegt, wobei dieser »von daher auch Nietzsches Verschiebung der Erkenntnistheorie auf eine Perspektiven-Lehre der Affekte« (zitiert nach Lämmert (1987), S. 64) deutet.

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ten hinaus auch er nur eine Vermehrung der allgemeinen Unsicherheit und Bedrohlichkeit. Dass die Einzelnen sich so gebärden, als ob sie von allen diesen Besorgnissen nichts wüssten, macht uns nicht irre: ihre Unruhe zeigt es, wie gut sie davon wissen; sie denken mit einer Hast und Ausschliesslichkeit an sich, wie noch nie Menschen an sich gedacht haben, sie bauen und pflanzen für ihren Tag, und die Jagd nach Glück wird nie grösser sein als wenn es zwischen heute und morgen erhascht werden muss: weil übermorgen vielleicht überhaupt alle Jagdzeit zu Ende ist. Wir leben die Periode der Atome, des atomistischen Chaos. (SE – 367) 2

Die hier umschriebene Gegenwart leidet an allgemeiner Orientierungslosigkeit. Die Moderne wird charakterisiert als die Periode, die vom Verzehr ihres Herkommens lebt. Die Zukunftsentwürfe werden entlarvt als Verlegenheitslösungen, welche die geistlose Zerstreutheit der Einzelnen nur zementiert. Ein Ausdruck davon ist die Atomisierung der Individuen, welche Metapher hier assoziiert werden kann mit der Isolation der Subjekte voneinander. Diese Atomisierung/Isolation der Individuen ist ursächlich für die gegenwärtige Stimmung; sie meint hier eine die Besinnungslosigkeit perpetuierende Schicht, die sich zwischen die Individualwelten legt und also philosophisch und menschheitlich nachhaltige Kommunikation im Keim erstickt. 3 Die Essenz des Menschlichen ist in einen chaotischen, das heißt hier Auch Kierkegaard verwertet diese lebensweltliche Erfahrung theoretisch im Ausgangspunkt seines Denkens, ganz ausdrücklich etwa im Essay Der Reflex des antiken Tragischen in dem modernen Tragischen. Ein Versuch im fragmentarischen Streben. Gelesen vor den Συμπαρανεκρωμενοι der Figur A des erstens Teils von Entweder – Oder (vgl. EO I – 165–196), in dem er die moderne Isolation der Individuen voneinander auf die Überreflektiertheit seiner Gegenwart überhaupt zurückführt und als den Nährboden für eine moderne Wiedergeburt der Tragödie voraussetzt. 3 Das ist ein Kritikpunkt Kierkegaards gegen die Romantische Ironie bereits in Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates. Einerseits liegt, so konzediert er und wird es durch sein Ausnahmetheorem gebührend würdigen, »Wahrheit« in der ironischen Distanznahme und Isolierung vom ethischen Selbstbewusstsein der bürgerlichen Ordnung. Andererseits allerdings läge in der Romantischen Ironie – hier argumentiert Kierkegaard mit Hegel, der die Romantische Ironie einseitig als einen selbstgefälligen, einsamen Gottesdienst an sich selbst entwertet (vgl. GW 21 – 366), gegen Hegel und die Romantiker – Unwahrheit, ihr misslinge die Wiederversöhnung mit der Wirklichkeit. Die ästhetische Wiederversöhnung mit der Wirklichkeit ist nur Rückfall in die alte Leere, insofern sie die religiöse Dimension, durch die allein eine verwandelte, nicht egomane Rückbindung an die Wirklichkeit möglich wird im Sinne eines ursprünglichen Abhängigkeitsverhältnisses des Selbst, wesentlich nicht zuließe. Vgl. zu diesen Aspekten die gediegene Studie von Soderquist (2007), deren Verdienst es ist, vor allem die existentielle Dimension des Ironiebegriffs herauszuarbeiten. 2

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geist- und also orientierungslosen Zerstreuungszusammenhang aufgelöst. 4 Nietzsche fragt nach einem orientierenden »Bild des Menschen« (SE – 368), von dem aus in dieser gefahrvollen Zeit eine Kontinuität mit der geschichtlich errungenen »Menschlichkeit« neu ausgelegt werden kann. Die dramatischen Schilderungen, mit denen Nietzsche den Horizont seines Denkortes absteckt, bleiben noch im Zarathustra 5 verbindlich und erweisen damit ihre prägende Bedeutung für das exemplarische Denken Nietzsches: Jetzt wird fast alles auf Erden nur noch durch die gröbsten und bösesten Kräfte bestimmt, durch den Egoismus der Erwerbenden und die militärischen Gewaltherrscher. Der Staat, in den Händen dieser letzteren, macht wohl, ebenso wie der Egoismus der Erwerbenden, den Versuch alles aus sich heraus neu zu organisiren und Band und Druck für alle jene feindseligen Kräfte zu sein: das heisst, er wünscht dass die Menschen mit ihm denselben Götzendienst treiben möchten, den sie mit der Kirche getrieben haben. Mit welchem Erfolge? Wir werden es noch erleben; jedenfalls befinden wir uns auch jetzt noch im eistreibenden Strome des Mittelalters; es ist aufgethaut 4 Wenn Kierkegaard in Über den Begriff der Ironie bereits schreibt: »Unsre Zeit haßt Isolierung, und wie dürfte sie auch dulden, daß ein Mensch auf die verzweifelte Idee verfällt, für sich allein durchs Leben zu gehn, diese Zeit, die da Hand in Hand und Arm in Arm (gleich wandernden Handwerksburschen und Landwehrmännern) für die Idee der Gesamtheit lebt« (BI – 250), dann hat diese Schilderung augenscheinlich zum historischen Ausgangspunkt die Erfahrung der Isolation, der nicht auf der Ebene begegnet wird, auf welcher allein ihre Überwindung denkbar wäre. So heißt es etwas später über die Verbundenheit der Romantischen Ironiker untereinander: »Es ist aber in Wahrheit auch ebenso wenig Einheit der Gemeinschaft in einem Klüngel von Ironikern, wie in Wahrheit Redlichkeit ist in einem Räuberstaat.« (BI – 253) Und ganz entsprechend wird in der Selbstwahl-Theorie Wilhelms in Entweder – Oder II die »Isolierung« bestimmt als eine Voraussetzung zur Wiedereinbindung an das Konkrete. 5 So heißt es etwa im Kapitel Von alten und neuen Tafeln analog visionär: »Diess ist mein Mitleid mit allem Vergangenen, dass ich sehe: es ist preisgegeben, – / – der Gnade, dem Geiste, dem Wahnsinne jedes Geschlechtes preisgegeben, das kommt und Alles, was war, zu seiner Brücke umdeutet! / Ein grosser Gewalt-Herr könnte kommen, ein gewitzter Unhold, der mit seiner Gnade und Ungnade alles Vergangene zwänge und zwängte: bis es ihm Brücke würde und Vorzeichen und Herold und Hahnenschrei. / Diess aber ist die andre Gefahr und mein andres Mitleiden: – wer vom Pöbel ist, dessen Gedenken geht zurück bis zum Grossvater, – mit dem Grossvater aber hört die Zeit auf. / Also ist alles Vergangene preisgegeben: denn es könnte einmal kommen, dass der Pöbel Herr würde und in seichten Gewässern alle Zeit ertränke. / Darum, oh meine Brüder, bedarf es eines n e u e n A d e l s , der allem Pöbel und allem Gewalt-Herrischen Widersacher ist und auf neue Tafeln neu das Wort schreibt ›edel‹.« (Z – 254) Auch das Motiv des Götzendienstes mit dem Staat wird im Kapitel Vom neuen Götzen (vgl. Z – 61–64) fortgeführt.

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und in gewaltige verheerende Bewegung gerathen. Scholle thürmt sich auf Scholle, alle Ufer sind überschwemmt und gefährdet. Die Revolution ist gar nicht zu vermeiden und zwar die atomistische: welches sind aber die kleinsten untheilbaren Grundstoffe der menschlichen Gesellschaft? (SE – 368)

Besonderes Interesse verdient die rhetorische Frage am Ende des Zitats, die eine verheißungsvolle Schneise in eine ansonsten fatalistische Geschichtsperspektive schlägt. Dem Prozess der Auflösung ist ausnahmslos jedes Individuum ausgesetzt, und eine Revolution der gesellschaftlichen Verhältnisse ist nicht mehr aufzuhalten. Allerdings wird in Nietzsches Frage der Begriff der »Revolution« eigentümlich invertiert; der theologische Ausdruck für das, was Nietzsche hier meint, ist »Konversion«. 6 Die atomistische Revolution wäre so gesehen der Zerfall der Isolation, deren Möglichkeit nur durch Insistenz nach Innen denkbar wird. Das Individuum als kleinster unteilbarer Grundstoff der Gesellschaft muss sich an sich selbst verwandeln, damit die Gesellschaft sich nachhaltig umbildet und eine neue Ordnung der Kultur denkbar wird. Und wenn Zarathustra versichert: »Auch durch Mauern bläst mein freier Athem, und hinein in Gefängnisse und eingefangne Geister! / Wollen befreit: denn Wollen ist Schaffen: so lehre ich.« (Z – 258), dann ist das, wofür sein Name steht, die positive Essenz, welche die atomistische Revolution, das Aufbrechen der Verschlossenheit, den Zerfall der Isolation vollzieht. 7 Es geht also ofVgl. einen entsprechenden Zugang zu Nietzsche bei Ruhstorfer (2004). Nietzsche hat durch das Schaffen seines Zarathustra die Mitteilungsproblematik seines Denkausgangspunktes thematisiert und überwunden (das wird der ersten Verlassenheit Zarathustras korrespondieren, die zugleich eine kritische Reflexion auf die Möglichkeit direkten Mitteilens exemplarischen Denkens ist, vgl. den Abschnitt I.4.2.1). Kierkegaards Werk ist in seinem Ursprung bereits doppelt-reflektiert. In den letzten Zeilen des zweiten Briefes von Entweder – Oder, die zugleich den Abschluss der im Teil II dieser Studie auszulegenden Ausnahmetheorie bilden, steht folgende eindringliche Charakterisierung des A durch Wilhelm, die wie die Nietzsches ihre Nährstoffe aus dem Boden der industriellen Moderne bezieht (vgl. zu diesem Topos Scheier (2012), S. 67–79, hier S. 69): »Wenn Du Dich also in der verschlossenen Maschinerie deiner Persönlichkeit selber verarbeitest, so gebe ich meine Ausführungen dazu und bin überzeugt, daß sie mit in Bewegung geraten.« (EO II – 914) Wilhelm hält – das bedeutet die Theorie der Ausnahme implizit – die Möglichkeit offen, dass ihm das Wesen seines Adressaten A, den er durch zwei lange Briefe zu seiner ethischen Lebensanschauung animieren will – nicht vollends transparent werden kann und wirft damit indirekt einen Schatten auf die Sache, die er vertritt: des vollständigen Offenbarwerdens des Einzelnen in der Gesellschaft. Entsprechend betont er am Ende des zweiten Briefes, nachdem die Theorie einer »berechtigten Ausnahme« entwickelt wurde, dass er sich nicht in vollgültigem Sinne As Freund nennen dürfe, ihn nur aus

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fensichtlich darum, einen sich automatisierenden, nichtseinsollenden Prozess – den der sich verhärtenden Isolierung der Subjekte voneinander – zu unterbinden, indem ihm »etwas« in die Logik seiner eigenen Prozessualität eingegeben wird, das diese nicht assimilieren kann, sie vielmehr an sich selbst kollabieren lässt. Jenes »etwas« darf nicht wiederum Teil des Prozesses sein, welcher der Logik des »Entweder Oder« gehorcht, 8 es muss – wie auch immer – gegeben werden/sein.

I.4.1.1 Experimentalpsychologie und Ausnahmetheorie In einer bestimmten Weise seiner Darstellung wird dem »ungewöhnlichen Menschen« – dem Hoffnungsträger exemplarischen Denkens schlechthin – jene Größe, die in ihm vorausgesetzt ist und aus der allein die Möglichkeit des gelingenden Lebens zu entwickeln wäre, versuchsweise genommen, um der Mitwelt ein Menschenbild vorzuführen, in das sie sich – so die Einschätzungen Kierkegaards und Nietzsches jedenfalls – immer mehr zu verwickeln droht. Die im Ansatz als moralkritische Denkfigur konzipierte »Ausnahme« formuliert sich bei Kierkegaard über eine Experimentalpsychologie, wobei sich die Vernetzung des Begriffs »Ausnahme« mit der Weise seiner Darstellung über die entscheidenden Werke umstrukturiert. Dabei ist folgender Befund bedeutsam: In Entweder – Oder, welches Werk das Ausnahmetheorem initiiert, wird durch Wilhelm jedes experimentelle Existieren als letztlich verzweifelt gebrandmarkt. Die normative Ausnahmetheorie Wilhelms, der von sich behauptet, dass er alles Experimentieren hasse (vgl. EO II – 666), formuliert dieser für seinen jungen Freund, um dessen experimentell angelegte Existenz von ihrem sprunghaften Versuchscharakter zu befreien, was voraussetzt, dass in ihm etwas hinterlegt ist, das seine experimentelle Natur konstruktiv unterlaufen könnte, sofern er sich daran orientierte und also Kontinuität in sein Leben brächte. Diese der Ferne lieben könne, da A in direkter Kommunikation mit »sich« nicht herausrücke. Sein »verschlossen[es] Wesen« (ebd.) sei, so hofft Wilhelm allerdings, empfänglich für die Mitteilung in Form von Briefen. 8 Vgl. zu diesem Topos den Aphorismus Widersprüche aus Dialektik der Aufklärung: »Unerträglich ist der Versuch, dem Entweder-Oder sich zu entwinden, das Misstrauen gegen das abstrakte Prinzip, Unbeirrbarkeit ohne Doktrin.« (Horkheimer/Adorno (2003), S. 271)

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Abwertung einer experimentellen Existenz wird in den Anti-Climacus-Schriften, die den idealen Ausdruck des exemplarischen Denkens Kierkegaards darstellen, wieder aufgenommen. In ihnen wird der Mensch als Geistwesen an einem begrifflich nicht einholbaren Maßstab orientiert, vor dem es keine Ausnahmen gibt. Die höheren Formen der Verzweiflung werden Reminiszenzen an das überwundene Ausnahmetheorem sein, das in Die Wiederholung und Stadien experimentalpsychologisch operationalisiert wurde. Es fällt nämlich auf bei der Betrachtung der Entwicklung des Ausnahmetheorems ab Entweder – Oder, dass der Befund, experimentelles Existieren sei Verzweiflung, in den einschlägigen Schriften nach Entweder – Oder (Die Schrift Die Wiederholung heißt im Untertitel Ein Versuch in Experimentalpsychologie und im letzten Teil der Schrift Stadien auf des Lebens Weg rekonstruiert Frater Taciturnus die Effekte von Wilhelms neu formulierter Ausnahmetheorie in »Schuldig?« – »Nicht Schuldig?«. Eine Leidensgeschichte. Psychologisches Experiment von Frater Taciturnus) formal betrachtet keine Bedeutung mehr zu haben scheint, da das Ausnahmetheorem in den Folgeschriften als experimentelle Denkfigur exponiert wird. Die »Ausnahmen«, die durch ein psychologisches Experiment buchstäblich konstruiert werden, sind – das ist dabei der zentrale Befund – konzipiert als scheiternde Ergebnisse dessen, wofür »Ausnahme« steht (etwa »die Wiederholung« als Bedingung der Möglichkeit für einen transzendenten Ausgangspunkt der Existenzbewegung). Kierkegaards Denken reagiert damit implizit kritisch auf die geistesgeschichtliche Entwicklung seiner Zeit, welche das menschliche Subjekt aufgrund der zunehmenden Thematisierung seiner seelischen Substanz durch die naturwissenschaftlichen Methoden nur noch als quantitativ bestimmbare »Versuchsperson« 9 auf den Begriff bringt und restlos in die »SichtVgl. hierzu die informative Studie von Tang (2006), S. 172–188. Der Autor sieht drei zu unterscheidende und doch miteinander verwobene Entwicklungsstränge im Diskurs des psychologischen Experiments sich ihren Weg bahnen: »die Physiologisierung der Seele in der wissenschaftlichen Experimentalpsychologie, die Ästhetisierung des psychologischen Experiments in der sich vom psychologischen Realismus abhebenden Erzählliteratur und den existenzialanalytischen Zugang zum psychologischen Experiment.« (S. 172) Diesen drei verwobenen Tendenzen, die das »Subjekt« zur »Versuchsperson« ummünzen, korrespondieren nach Tang drei Zugänge zum Feld in Kierkegaards Werk, die »point towards three approaches to psychological experimentation: the physiological approach, which he vehemently rejected, the aesthetic approach, which he half-heartedly embraced, and the existential approach he promoted. As different modes of dealing with the experimental subject, these approaches imply

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barkeit« zu drängen sich anschickt. Man muss beim Unterwegs des exemplarischen Denkens (»Verlassenheit«) also scharf die (ursprünglich ihrer Möglichkeit nach gesetzte [Entweder – Oder] und im idealen Höhepunkt bewährte [Anti-Climacus-Schriften]) Substanz der »Ausnahme« von der Weise ihrer Darstellung unterscheiden. Die Möglichkeit gelingenden Lebens ist im Werk Kierkegaards letztlich etwas Gegebenes und lässt sich von keinem durch Experimentalpsychologie feststellenden Blick erfassen. Die mögliche Gesundheit des Geistes wird thematisch nur durch negative Abgrenzung von dem, was nicht sein soll – und in den Erbaulichen Reden durchgängig. 10 Kierkegaard macht damit en passant also die »selbst«-destruktiven Effekte anschaulich, die im modernen Zugang zum »Wesen« des Menschen aufgehoben sind, wenn die Ausnahmefiguren in Die Wiederholung und in Stadien aufgrund des psychologisch-normierenden, ästhetisierenden und damit in die Eindimensionalität zerrenden Blicks durch den Experimentator aufgerieben werden. 11 three at times antagonistic models of subjectification: physiological-technical, aesthetic and religious.« (S. 188) In diesem Zusammenhang ist auch die Lektüre von Sharpless (2013) fruchtbar, darin zwei Begriffe von »Psychologie« in Kierkegaards pseudonymen Werk präpariert werden: einen am entsprechenden Wissenschaftsstand seiner Zeit formulierten (zeit-)kritischen Begriff von »Psychologie«, als der Tendenz, das Subjektive empathielos zu objektivieren und damit zu verfälschen (S. 95–96). Der zweite Begriff meint Kierkegaards eigene, experimentelle Psychologie als das selbsterkenntnistheoretische Bindemittel zwischen Subjekt und Subjekt, welche sowohl konstruktiv – Sharpless unternimmt hier (S. 101–103) den spannenden Versuch, Kierkegaard als Care-Ethiker fruchtbar zu machen, indem er das palliative Moment von Kierkegaards Psychologie darstellt – als auch manipulierend-destruktiv – Stichwort: Tagebuch des Verführers (S. 103–105) – angewandt werden kann. 10 Kierkegaard hat stets gleichzeitig zu seinen exoterisch-philosophischen Schriften sein esoterisch-erbauliches Gedankengut herausgegeben. Dabei sind es gerade die im strengeren Sinne philosophischen Schriften des Dänen, die der philosophischen Besinnung keine Ruhe lassen. Die darin entworfenen Konzepte sind auf keinen haltbaren Begriff zu bringen, die Macht weltlicher Vernunft läuft an ihnen auf an dem »überbegrifflichen« Element, das sie unter Umständen tragen könnte. Die Erbaulichen Reden und Christlichen Reden meditieren dagegen Kierkegaards Anspruch vom Raum des (sich problematischerweise im Wandel befindenden) Gelingens her (vgl. in diesem Sinne die allgemeinen Zuordnungen bei Sløk (1979), S. 241–261). Hinter diesem hier nicht weiter auslotbaren Befund, dass sich philosophische Auseinandersetzungen mit Kierkegaards Werk lange Zeit allein mit den »harten« Schriften Kierkegaards auseinandersetzten und sich mit »männlicher« Leidenschaft in dessen Aporien verbohrten, mag eine theoretisch noch nicht genug gewürdigte, aber bewusst integrierte »Bosheit« Kierkegaards liegen, deren Inszenierung diesem reichlich Spaß beschert haben mochte. 11 Kierkegaard arbeitet etwa – um den Sachverhalt etwas bestimmter zu bezeichnen – bei der Ausarbeitung seines Ausnahmetheorems in Die Wiederholung mit begriff-

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I.4.1.2 Experimentalphilosophie und Einsamkeitslehre Nietzsche befindet sich auf einem anderen philosophiegeschichtlichen Boden, insofern er durch seine Experimentalphilosophie ganz bewusst mit den exakten Wissenschaften seiner Zeit anbandelt, die Moral im Gegensatz zu Kierkegaard naturgeschichtlich auslegt und diese als von (»starken« und »schwachen«) Menschen gesetzt erfährt. Und dennoch lässt sich zeigen, dass die Frage nach dem gelingenden Leben bei Nietzsche durch diese vollkommen andersartige Perspektive auf Moral nicht nebensächlich wird, vielmehr im Gegenteil: Nietzsches Moralkritik ist ethisch motiviert. Zunächst kann festgehalten werden, um das oben Herausgearbeitete mit Kierkegaards Ambitionen zu verbinden, dass weder im metaphysischen Ursprung seiner Denkbewegung noch in Also sprach Zarathustra die sich darin ausdrückende Substanz sich als »experimentell« behauptet. 12 Vielmehr lichen Größen, die aus sich heraus nicht zur Klarheit tendieren können (vgl. zum experimentellen Charakter dieser Schrift wiederum Tang (2002), S. 93–118; auch Schwab (2012), S. 512 ist in seiner Studie zu den Mitteilungsformen bei Kierkegaard darauf aufmerksam, dass Die Wiederholung Kierkegaards »experimentellste Schrift« ist.). Der »junge Mensch« als Versuchsobjekt ist derart operationalisiert, dass er das, was er erreichen soll, nicht erreichen kann, was wiederum daran liegt, dass die Bewusstseinsebene des Experimentators selbst beschränkt ist, was die Frage aufwirft, wie das Problem überhaupt adäquat zu formulieren ist. Man kann durch eine immanente Exegese den Gehalt von Die Wiederholung nicht auf den Punkt bringen bzw. auf propositionale Aussagen festlegen. Die vorliegende Studie versucht dementgegen, sich auf den Flusscharakter des Werks einzulassen, wobei das unwillkürlich die Dynamik des Denkflusses ausrichtende Bett die mit Nietzsche (und Adorno) vollzogene Selbstunterscheidung von »Einsamkeit« ist. Beide Denker assoziieren den glückseligen Raum »einsamster Einsamkeit« mit Wasser, Meer, dem Schwimmen über einem Abgrund. So heißt es in Stadien lapidar: »Glauben aber heißt eben das Gleiche wie schwimmen; und anstatt einem ans Land zu helfen, soll der Redner ihm hinaushelfen auf die Tiefe […]«. (SL – 472) Für Nietzsche hat hier Stegmaier (2010) exemplarische Bedeutung. Auch in Adornos Minima Moralia haben diese Assoziationen ihr punktuell entstresstes, vermeintlich unscheinbares Echo. So heißt es in Sur l’eau: »Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, ›sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung‹ könnte an Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten und so wahrhaft das Versprechen der dialektischen Logik einlösen, in ihren Ursprung zu münden.« (Adorno (2003), S. 179) 12 Dieser Punkt wird in der Forschung zur Experimentalphilosophie gerne unberücksichtigt gelassen: sie ist – das ist hier die These – Überbrückung, Verlegenheit, »faute de mieux«, nicht Zweck an und für sich. Dem Verfasser sind Formulierungen wie: »Ich lobe mir eine jede Skepsis, auf welche mir erlaubt ist zu antworten: ›Versuchen wir’s!‹ Aber ich mag von allen Dingen und allen Fragen, welche das Experiment nicht zulassen, Nichts mehr hören. Diess ist die Grenze meines ›Wahrheitssinnes‹ : denn Modulationen der Einsamkeit

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ist dieser ideale Höhepunkt des exemplarischen Denkens der leidenschaftliche Ausdruck Nietzsches, nichts »Vorläufiges« oder »Übergangsweises« mehr sein/darstellen zu wollen, und als Dichtung die Aufhebung des Übergangs, des Provisoriums, des Vorläufigen. 13 Es besteht kein Zweifel darüber, dass Nietzsche den Ausdruck »Experiment« in seiner mittleren Phase regelrecht feiert und seine Freigeistphase sich in den schillernden Semantiken dieses Begriffs erprobt. Gleichzeitig darf dieser Befund nicht dahin tendieren, den ethischen Ernst, der in diesem Versuchscharakter der Philosophie liegt, zu überspielen. Dies gelänge, wenn man zeigen kann, dass der Sinn dessen, was Nietzsche etwa in der dritten unzeitgemäßen Betrachtung 14 als die Erlösung der Natur von sich durch den Menschen als Menschheit umreißt, sich in einen Satz flüchtet wie: »Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!« (M – 274) Wenn man sich bei diesem unscheinbar sich gebenden Ausruf fragt: wer ist Subjekt, wer Objekt des Experiments, dann fällt auf, dass Nietzsche diesen Begriff seiner herkömmlichen Bedeutung entfremdet, indem er nicht das Subjekt rein in der Experimentatorfunktion aufgehen lässt, sondern vielmehr das fatale, unverfügbare Moment betont: der moderne Mensch wird hier gedacht als Naturexperiment, als ein Ausläufer einer mit sich experimentierenden Natur. 40 Jahre später denkend als Kierkegaard bandelt Nietzsches Moralkritik auf eine brisante Weise mit eben jener Wissenschaft an, von der Kierkegaard befürchtete, dass ihre Fortschritte die ethische Didort hat die Tapferkeit ihr Recht verloren.« (FW – 415 f.) bekannt; allerdings sind sie doch hörbar abgerungene Maßregelungen eines Geistes, dessen Hang zur Wahrheit einen umfänglicheren Ausdruck sucht als den des Provisorischen. Diese Einschätzung bewahrheitet sich in einem späten Brief Nietzsches an Rhode dramatisch, worin auch bei Nietzsche der experimentelle Charakter seines Philosophierens mit »Verzweiflung« assoziiert wird. Darin betont Nietzsche, dass er »immer noch nicht daran verzweifle, den Ausweg und das Loch zu finden, durch das man in’s ›Etwas‹ kommt.« (KSB 8, Nr. 852 – S. 81) Derart markante Ausdrücke werden kaum als eine unbedarfte Formulierung abgetan werden können. 13 Das oben – vgl. Abschnitt I.3.1.2, Anm. 23 – bereits zitierte »[…] Ja, ein Versuch war der Mensch […]« (Z – 100) aus Von der schenkenden Tugend kann hier entsprechend verstanden werden als eine Amalgamierung des oben anhand Moralisches Interregnum und Ursprung der Erkenntniss besprochenen Anliegens, die Irrtümer der moralischen Selbstauslegung (= das Subjekt als Naturexperiment) durch wirkliches Wissen zu ersetzen. Das Zitat lässt keine Zweifel über die Bedeutung von »Versuch« aufkommen; es sagt: dies ist Vergangenheit bzw. es hat Vergangenheit zu sein! 14 Vgl. hierzu die Erläuterungen im Abschnitt I.4.2.1.

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mension des Menschen auslöschen würde: der »Physiologie« 15 (vgl. exemplarisch den Aphorismus Moralisches Interregnum), und integriert dadurch einen planen naturalistischen Fatalismus in sein DenSo teilt Emanuel Hirsch im Band 12 der GW Nachlassaufzeichnungen Kierkegaards mit, die das Verhältnis »Christentum – Naturwissenschaft« reflektieren. Ein einschneidender Satz darunter lautet: »Die Physiologie wird zuletzt so um sich greifen, daß sie die Ethik einstreicht. Es gibt ja bereits Spuren genug für ein neues Streben: die Ethik als Physik zu behandeln, womit denn das gesamte Ethische zu Illusion wird, und das Ethische in der Menschheit statistisch auf Durchschnittszahlen hin zu behandeln oder zu berechnen, so wie man Schwankungen bei Naturgesetzen berechnet.« (GW 12 – 126) Es wäre zu prüfen, inwiefern Kierkegaards Argumente gegen diese Tendenz heute noch Aktualität haben; deren Gegenstand ist jedenfalls eigentümlich »modern«: »Ein Physiolog unternimmt es, den ganzen Menschen zu erklären. Hier gilt nun zuerst und vor allem: principiis obsta (widersetze dich den ersten Anfängen): was soll ich damit. Was brauche ich zu wissen von der zentrifugalen und zentripedalen Nervenzirkulation, von dem Blutkreislauf, vom Zustand des Menschen im Mutterleib, mikroskopisch betrachtet. Die E t h i k h a t A u f g a b e n g e n u g f ü r m i c h . Oder brauche ich zu wissen, wie die Verdauung vor sich geht, um essen zu können, oder brauche ich zu wissen, wie die Bewegung im Nervensystem vor sich geht – um an Gott zu glauben und die Menschen zu lieben. Und wenn man nun sagen will: ›ja, dafür braucht man das allerdings nicht‹ : so will ich wiederum fragen: ob es denn aber nicht meine ganze ethische Leidenschaft schwächt, daß ich ein Naturbetrachter werde.« (GW 12 – 126 f.) Während Nietzsches »Physiologisierung« des Leibes Gefahr läuft, in einen fatalistischen Biologismus zu kippen, obschon er darum bemüht ist, tragende Perspektiven in dieses plane Weltbild zu integrieren, so reserviert Kierkegaard in diesem Zusammenhang eine Sphäre der »Freiheit«, die dem naturwissenschaftlichen Blick im Prinzip unzugänglich bleibt. Dies gelingt ihm, indem er einen »geistreichen Physiologen« zu Wort kommen lässt und gegen »diese reinen Schlächtergesellen, die meinen mit Hilfe des Messers alles erklären zu können – und dann mit Hilfe des Mikroskops«, die Kierkegaard »widerwärtig« sind, abgrenzt –, der konzedieren muss, »daß jeder Übergang ein Sprung ist, daß er nicht erklären kann, wie ein Bewußtsein entsteht, oder wie ein Bewußtsein von der Umwelt zu Selbstbewußtsein wird, zu Bewußtsein von Gott, er gesteht: wie viel er auch am Nervensystem erkläre, das eigentlich Konstituierende, die Idee, könne er nicht erklären«. (GW 12 – 127) Interessanterweise befindet er sich hier in nächster Nähe zu Schopenhauer, der gleichfalls davon ausgeht, dass empirisches Wissen uns das Wesen der Dinge nicht eröffnet – ohne dabei im Sinne Kierkegaards ethisches Kapital daraus zu schlagen. Schopenhauer findet folgendes sprechende Gleichnis für diesen Sachverhalt, den Kierkegaard »qualitativ dialektisch« nennt: »bei der vollendeten Aitiologie der ganzen Natur müßte dem philosophischen Forscher doch immer so zumute sein wie jemandem, der, er wüßte gar nicht wie, in eine ihm gänzlich unbekannte Gesellschaft geraten wäre, von deren Mitgliedern der Reihe nach ihm immer eines das andere als seinen Freund und Vetter präsentierte und so hinlänglich bekannt machte: er selbst aber hätte unterdessen, indem er jedesmal sich über den Präsentierten zu freuen versicherte, stets die Frage auf den Lippen: ›Aber wie, Teufel, komme ich denn zu der ganzen Gesellschaft?‹« (Schopenhauer (1996), S. 155)

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ken, der Kierkegaard fremd war (vgl. etwa GM – 356–359 und AC – 181 f.). Es lässt sich aber zeigen, dass Nietzsches Moralkritik als streitlustige Provokation gedeutet werden kann, die Ideologemen seiner Gegenwart das Leben schwer machen will.

I.4.2 Verlassenheit – normative Ausnahmetheorie »Isolation« ist also kein von außen an das Werk herangetragener Begriff. Er kann vielmehr stimmig als die Ausgangsstimmung des exemplarischen Denkens Kierkegaards und Nietzsches ausgewiesen werden. Dieser Weltanschauung korrespondiert die faktische Ausnahmetheorie: Keiner ist davon ausgenommen, ausgenommen zu sein, bezogen auf die Möglichkeit gelingenden Lebens, wobei diese negative Einheit bezeichnet wird durch die Beschreibung eines planen, sinnentleerten Weltbildes. Es wurde angedeutet, inwiefern Kierkegaards Experimentalpsychologie, durch die er sein Ausnahmetheorem auf eine bestimmte Weise inszeniert, interpretiert werden kann als der Entwurf einer Schreckensvision. Kierkegaard beobachtet Bestrebungen seiner Zeit, welche die Frage nach dem Menschen rein ästhetisch – anhand von Mikroskopen und Versuchsreihen sozusagen – stellt und dadurch unfreiwillig eine Dimension des Menschseins einbetoniert, von der allein ethische Orientierung für den Menschen ausgehen kann. Indem Kierkegaard in den experimentalpsychologisierten Ausnahmefiguren die Größe ausklammert, die sie als Menschen erst auszeichnete, führt er vermittelt das namenlose Leiden vor, das aus einem rein ästhetisierenden Zugriff auf die Frage nach dem Wesen des Menschen entspringen kann. Auch Nietzsches Experimentalphilosophie, so konnte anschaulich gemacht werden, ist nicht Selbstzweck. Sie installiert Versuchsreihen, Arbeitsinseln, deren Realismus durch die Integrierung idealer Perspektiven getragen wird. Durch sie jedenfalls lässt sich auch bei Nietzsche die Frage nach dem Menschen nicht zufriedenstellend stellen bzw. beantworten, die er in seinen metaphysischen Werken und zuletzt im Zarathustra alles andere als »experimentell« aufwirft. Im Gegenteil, darf man wähnen: Gerade Zarathustra nämlich wird, insofern dieses Werk auf einer Metaebene als eine Rekapitulation des eignen Denkweges gelesen werden kann (siehe die nächsten Abschnitte), die Werkphase der Freigeisttrilogie als eine des Übergangs charakterisieren, des Unterwegs, der »Verlassenheit«. 92

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Jene Größe jedenfalls – und das ist zentral –, von der ethische Orientierung ausgehen soll und mit Adorno als in jedem Individuum vorausgesetzt behauptet wurde, ist in der normativen Ausnahmetheorie, welcher der Begriff der »Verlassenheit« korrespondiert, nicht ausgeklammert, vielmehr negativ orientierend. Bevor gezeigt wird, wie ausgehend von Nietzsches Werk der Begriff der »Verlassenheit« in sich näher zu unterscheiden ist und typisiert werden muss, soll der Begriff als solcher und die mit ihm verbundene Intention der ethischen Moralkritik exemplarischen Denkens umschrieben werden. »Verlassenheit« ist ein relationaler Begriff im Gegensatz zu »Einsamkeit«, er drückt die Empfindung eines Entzugs, eines zu behebenden Mangels aus. Man kann nicht »einsam« von »…« sein – man ist es schlicht. »Verlassenheit« drückt hingegen eine emotionale Spannung aus, die überwunden werden muss und aus sich selbst ihre Überwindung will. »Verlassenheit« wäre prinzipiell nicht erfahrbar als eben dieses aufwühlende Gefühl, wenn ihre Register nicht auch Saiten mitschwingen ließen, welche zu ihren spannungsreichen Modulationen eine verklärende Kontrapunktik setzten; in ihr ist »Einsamkeit« – im Sinne Kierkegaards und Nietzsches – als erfüllendes Gelingen hinterlegt. Die »Isolation« bzw. »Isoliertheit« von der Möglichkeit gelingenden Lebens jedenfalls, in der man sich unwillkürlich und unverschuldet im Isolationszeitalter Moderne befindet, wird durch die »Insistenz« exemplarischen Denkens geistig belebt zur »Verlassenheit«. Der Gegenstand der Verlassenheit kann verstanden werden als das, darin man unmittelbar sein Leben hat, das Bestehende, jenes falsche Allgemeine, »die herrschende Moral«. Furcht und Zittern veranschaulicht sehr eindringlich den hier umrissenen Sachverhalt. Abraham – so will es die Darstellung Johannes de silentios vermitteln – hat in seinen Bediensteten, seiner Frau Sara und vor allem seinem Sohn Isaak sein unmittelbares, sozial determiniertes, ethisches Leben. Wenn »Gott«, der formal betrachtet der intersubjektiv nicht vermittelbare Zuspruch aus »einsamster Einsamkeit« 16 ist, von Abraham nun fordert, ihm seinen Sohn zu opfern, 17 damit er seinen Glauben in dieser Prüfung beweise, dann ist Vgl. zur formalen Bedeutung des Raumes »einsamster Einsamkeit« für den Entwurf des Werkvergleichsmodells den Abschnitt I.4.3. 17 An dieser Stelle kann die Berücksichtigung von Adriaanse (2003) die Problemkonstellation erhellen, darin er das »Opfer« als ein Beispiel der religiösen Ausnahme 16

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das diese Definition im Bild. Das, darin man sein Leben/Lieben hat, muss prinzipiell, in seiner Gänze umgewertet werden können durch eine spezifische Form des Selbstverhältnisses, soll das die Verlassenheit orientierende Versprechen aus »einsamster Einsamkeit« nicht leer sein. Man könnte gegen diese sehr formalistische Interpretation der Anlage von Furcht und Zittern einwenden, dass sie das abgründige Grauen jener Forderung Gottes an den ›Patriarch der Menschlichkeit‹ banalisiere. Allerdings gibt Johannes de silentio selbst zwei entdenkt. Er unterscheidet dessen ambivalente Verwobenheit mit dem anderen seiner selbst (sinnhafte »Ordnung«) vergleichend mit dem Verhältnis »Regel – Ausnahme«, in welchem die Ausnahme einerseits nicht Teil, andererseits Ausdruck der Regel selbst ist, zwei Begriffe der »Ausnahme«, einen über den Religionsphänomenologen Gerardus van der Leeuw vermittelten »materialistischen« Opferbegriff, dessen Nähe zum Begriff der »Gabe« Adriaanse konstruktiv aufnimmt, von einem über Henri Bergson adaptierten und durch Emmanuel Lévinas vertieften Opferbegriff, bei dem überhaupt erst als Problem in den Blick kommt, was denn von einem selbst beim Opfer geopfert wird, und erhellt, »daß der Andere [im Sinne des von Bergson nachdrücklich herausgestellten Blut- bzw. Menschenopfers, R. R.] eben nicht als Eigentum meiner selbst fungieren kann«, insofern – mit Lévinas argumentiert – »eine Differenz in bezug auf das Selbe bzw. das Selbst« besteht, »die letztlich unüberbrückbar ist« (S. 57), wobei sich durch diesen Paradigmenwechsel ergibt, dass bei Lévinas die Ausnahme nicht »der Andere, sondern das Selbst« selbst ist. Adriaanse spitzt die hier nur unvollkommen wiedergegebene Argumentationslinie zu auf Kierkegaards »Einzelnen«, der – im Gegensatz zum materialistischen Opferbegriff, der gerade die Ordnung erhalten soll – das Ganze (die »Totalität« Lévinas’) an sich als das Unwahre kollabieren lässt. Es besteht kein Zweifel darüber, dass Kierkegaard und Nietzsche in ihren Figuren des »Einzelnen« und »Einsamen« dem zuarbeiten, was in der Darstellung Adriaanses in Lévinas’ Bedenken des »Opfers« und der »Ausnahme« zum Ausdruck kommt. Adriaanse strukturiert seine Argumentation entsprechend ganz bewusst auf Kierkegaards »Einzelnen« hin (vgl. S. 61), baut sie jedoch nicht an der Sache aus. Im Falle Nietzsches kann für diesen Gedankenzusammenhang der Verweis auf ein Wort Zarathustras genügen, der in Von den Fliegen des Marktes seinen »Einsamen« im Prinzip unterscheidet von den »Schauspielern« der Wahrheit, deren Selbstverhältnis keinen Unterschied macht zur die gegebene Macht sanktionierenden agonalen Dialektik zwischen »Ausnahme« (im Sinne des »großen Menschen«) und dem »Allgemeinen« (im Sinne »gegebener Ordnung«). »Wenig begreift das Volk das Grosse, das ist: das Schaffende. Aber Sinne hat es für alle Aufführer und Schauspieler grosser Sachen. / Um die Erfinder von neuen Werthen dreht sich die Welt: – unsichtbar dreht sie sich. Doch um die Schauspieler dreht sich das Volk und der Ruhm: so ist es der Welt Lauf. / Geist hat der Schauspieler, doch wenig Gewissen des Geistes. Er glaubt immer an Das, womit er am stärksten glauben macht, – glauben an s i c h macht! / […] / Umwerfen – das heisst ihm: beweisen. Toll machen – das heisst ihm: überzeugen. Und Blut gilt ihm als aller Gründe bester. / Eine Wahrheit, die nur in feine Ohren schlüpft, nennt er Lüge und Nichts. Wahrlich, er glaubt nur an Götter, die grossen Lärm in der Welt machen!« (Z – 65 f.)

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scheidende Hinweise, welche diese formale Interpretation stützen. Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass man – so lässt das Pseudonym wissen – nicht dadurch Abrahams exemplarischer Tat gerecht wird, indem man seinen Sohn töten will, sondern indem man seinen Sohn liebt. So heißt es an entscheidender Stelle in Furcht und Zittern: »Die absolute Pflicht [gegen Gott, R. R.] kann dazu bringen, zu tun, was die Ethik verbieten würde; aber sie kann keineswegs den Ritter des Glaubens dazu bringen, zu unterlassen, zu lieben. Dies zeigt Abraham. In dem Augenblick, in dem er Isaak opfern will, ist der ethische Ausdruck für sein Tun: er haßt Isaak. Aber falls er wirklich Isaak haßt, so kann er dessen gewiß sein, daß Gott es nicht von ihm verlangt; denn Kain und Abraham sind nicht miteinander identisch.« (FZ – 262)

Gleichzeitig muss man die analogische, metaphorische Bedeutung von »Isaak« im Blick haben. Jede nähere Explikation dessen, was unter Isaak verstanden werden soll, kann sich der Einzelne immerzu nur selber geben. Und sogar, wenn man noch so genau bestimmen könnte, allgemein gesprochen, was unter Isaak verstanden werden sollte [was im übrigen der lächerlichste Widerspruch wäre, den Einzelnen, der gerade außerhalb des Allgemeinen steht, allgemeinen Bestimmungen unterwerfen zu wollen, da er gerade wie derjenige Einzelne handeln soll, der außerhalb des Allgemeinen steht], so wird sich der Einzelne dessen doch niemals durch andere vergewissern können, sondern allein durch sich selbst als den Einzelnen. (FZ – 259)

Keiner ist Abraham, und doch hat jedes Individuum in der Darstellung Johannes de silentios etwas, das dem Verhältnis Abrahams zu seinem Sohn gleicht. 18 In Also sprach Zarathustra entspricht – rein strukturell – für Zarathustra »die bunte Kuh« dem, was in Furcht und Zittern in Abrahams Familie aufgeht. 19 Zarathustra muss zuletzt Wenn man sich also distanziert und unbefangen fragt, welcher »Wahnsinn« Kierkegaard geritten hat, als er auf modernem Boden Gen 22,1–19 neu ausrollt, dann dürfte – auch im Blick auf das Werkganze Kierkegaards – folgende Vermutung naheliegen: er will es einer mit der Welt versöhnten »Christenheit« wieder fragwürdig sein lassen, was es eigentlich bedeutet, dass in Christus sich dieses Ereignis ›verwandelt‹ erfüllt. 19 Und allgemein wird auch im Zarathustra affirmativ auf die religiöse Ausnahme des Opfers rekurriert, auch wenn sie streng genommen mit Zarathustras neuer Lehre vom Geben nicht harmoniert (vgl. zu dieser den Abschnitt I.4.2.2). So heißt es im sechsten Abschnitt des Kapitels Von alten und neuen Tafeln in Anspielung an das Abraham-Narrativ: »Oh meine Brüder, wer ein Erstling ist, der wird immer geopfert. Nun aber sind wir Erstlinge. / Wir bluten Alle an geheimen Opfertischen, wir bren18

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seine Liebe zu dieser Stadt und seinen aus ihr ihm nachfolgenden Jüngern aufgeben. Er muss durch seine »einsamste Einsamkeit« hindurch und kehrt von dieser zum Gegenstand seiner unmittelbaren Liebe vollkommen verwandelt zurück – nämlich als ein Buch für alle und keinen. In Analogie zu Abrahams Unmöglichkeit, sich seinen Nächsten direkt zu vermitteln, wird es Zarathustras tragische Einsicht sein, das ihm Wesentliche seinen Nächsten nicht direkt sagen zu können.: »Wie lieblich ist es, dass Worte und Töne da sind: sind nicht Worte und Töne Regenbogen und Schein-Brücken zwischen Ewig-Geschiedenem? / Zu jeder Seele gehört eine andre Welt; für jede Seele ist jede andre Seele eine Hinterwelt. / Zwischen dem Ähnlichsten gerade lügt der Schein am schönsten; denn die kleinste Kluft ist am schwersten zu überbrücken.« (Z – 272) Feststeht für beide Denker, dass »Kompagnieschaft« in »diesen Regionen […] völlig unmöglich« (FZ – 259) ist. Um diese vorgreifenden Erörterungen zur »Verlassenheit« in einem Bilde zusammenzufassen: Man könnte die Bedeutung »der Moral«, die aus sich selbst keinen Halt generiert, für das exemplarische Denken beider Philosophen mit dem Gleichnis erhellen, welches Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft gibt, in dem er das Tun eines wirkliches Wissen generierenden Verstandes mit einer »leichten Taube« vergleicht, die im »freien Fluge die Luft teilt«, wobei der ihren Flug letztlich tragende Widerstand der Luft als Sinnbild für die Sinnenwelt notwendig ist für die Generierung haltbaren Wissens, und eben für den sicheren Flug der Taube. Die Taube, so fährt Kant fort, könnte auf die kühne Idee kommen, ihr Flug gelänge im luftnen und braten Alle zu Ehren alter Götzenbilder. / Unser Bestes ist noch jung: das reizt alte Gaumen. Unser Fleisch ist zart, unser Fell ist nur ein Lamm-Fell: – wie sollten wir nicht alte Götzenpriester reizen! / I n u n s s e l b e r wohnt er noch, der alte Götzenpriester, der unser Bestes sich zum Schmause brät. Ach, meine Brüder, wie sollten Erstlinge nicht Opfer sein! / Aber so will es unsre Art; und ich liebe Die, welche sich nicht bewahren wollen. Die Untergehenden liebe ich mit meiner ganzen Liebe: denn sie gehn hinüber. –« (Z – 250 f.) Interessanterweise hat diese Konstellation ihr spiegelbildliches Pendant bei Kierkegaard, der einerseits hervorhebt die äußeren Aufopferungen, die mit der Hervorbringung der Kategorie des »Einzelnen« verbunden waren (vgl. etwa WS – 17), und gleichzeitig – wie Zarathustra dann in Das HonigOpfer – Unbehagen empfindet, geht es um eine Selbstverortung bemessen am semantischen Horizont des (moralischen) Pathos einer Selbstopferung für die »Wahrheit«. »Ich kann nicht ganz sagen daß meine Wirksamkeit als Schriftsteller Aufopferung ist […]; […] ich [erkenne] ja doch, daß der Ausweg den Gott fand, mich Schriftsteller werden zu lassen, für mich reich, reich an Genuß gewesen ist. Ich bin somit wohl geopfert, aber meine Wirksamkeit als Schriftsteller ist nicht Aufopferung, es ist ja doch das was ich unbedingt am liebsten fortfahren möchte zu sein.« (GS – 166)

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leeren Raum noch viel besser, weil in ihm der Widerstand nicht fühlbar wäre, der ihren Flug mitbedingt. Dabei unterliegt dieser Gedanke einem psychologischen Fehlschluss, indem er verkennt, wie der gefühlte Gegenstand, die geteilte Luft, den Flug überhaupt erst ermöglicht und der gelingende Flug nicht dadurch optimiert werden kann, dass der ihn bedingende Widerstand als solcher aufgehoben wird. »Verlassenheit« ist bei beiden Denkern, um das Bild auf die Sphäre der Moral zu übertragen, die Empfindung im Durchgang durch die Moral, ohne deren gefühlten Widerstand die ethisch motivierte Moralkritik leer wäre. Erst durch die leidenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Durchgangssphäre bekommt exemplarisches Denken seine spezifische Fülle. Und ohne den »ungewöhnlichen Menschen«, der bei Kierkegaard und Nietzsche in gewissem Sinne jeder ist und dessen lebensbedingender Gegenstand ›die Moral‹ ist, wäre diese an sich selbst blind (deswegen bedarf es der Ausnahmen im Großen und Kleinen, wie Constantin Constantius behaupten wird). Würden sich Kierkegaard und Nietzsche auf dieser Ebene genügen, wären sie ›nur‹ wie Sokrates Zitterrochen bzw. Bremsen, welche ihr Umfeld durch mitunter unsanfte Stöße und Stiche ermuntern wollten, ihren persönlichen Lebensweg argumentierend zu rechtfertigen: logon didonai. Es scheint jedoch, dass beide Denker mehr wollen, als die Sphäre der Moral in sich umzupflügen. »Einsamste Einsamkeit« ist – wie im nächsten Kapitel zu zeigen ist – die utopische Chiffre für dieses Mehrwollen, das aus einer Überbietung der Sphäre der Moral in ihrer Gänze diese erst begründete. Es ist zu fragen, ob »einsamste Einsamkeit« jenem luftleeren Raum entspricht, mit dem die lebensmüde Taube liebäugelt, oder ob diese Sphäre als regulatives Licht im Dunkel spezifischen ungewöhnlichen Menschen allein ihr Leben garantiert. 20 Um den Unterschied versöhnlich zu benennen: Kant übersieht, dass es im Flug der Taube Momente geben kann und geben muss, in denen sie gleichsam geflogen wird, insofern sie nur ihre Flügel auszustrecken hat und der »Flug« einem Getragenwerden durch den sich wohlwollend in sich selbst verkehrenden Widerstand gleicht. Nietzsche dichtet diese Möglichkeit eindringlich in Vogel Albatross., das in seinen Idyllen aus Messina hinterlegt ist: »O Wunder! Fliegt er noch? / Er steigt empor und seine Flügel ruhn! / Was hebt und trägt ihn doch? / Was ist ihm Ziel und Zug und Zügel nun? // Er flog zu höchst – nun hebt / Der Himmel selbst den siegreich Fliegenden: / Nun ruht er still und schwebt, / Den Sieg vergessend und den Siegenden. // Gleich Stern und Ewigkeit / Lebt er in Höhn jetzt, die das Leben flieht, / Mitleidig selbst dem Neid –: / Und hoch flog, wer ihn auch nur schweben sieht! // O Vogel Albatross! / Zur Höhe treibt’s mit ew’gem Triebe mich! / Ich dachte dein: da floss / Mir Thrän’ um Thräne – ja, ich liebe dich!« (IM – 341 f.)

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Es gilt nun zu zeigen, wie der Verlassenheitsbegriff in Nietzsches Werk selbst auf eine in sich unterschiedene Weise angelegt ist und dazu dient, den eigenen Denkweg unter eine einheitliche Perspektive zu bringen, der sich an der Unterscheidung von »Einsamkeit« in »Isolation«, »Verlassenheit« und »einsamste Einsamkeit« teleologisch ausrichtet. Die Unterscheidung der »Verlassenheit« in sich durch spezifische Typisierungen im Dichter und Morallehrer hat analoge Verbindlichkeit bei Kierkegaard. Das Buch Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen [Erster Teil] hebt mit folgenden Worten an, denen die Überschrift Zarathustra’s Vorrede voransteht. »Als Zarathustra dreissig Jahr alt war, verliess er seine Heimat und den See seiner Heimat und gieng in das Gebirge. Hier genoss er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde.« (Z – 11) Am Ende des ersten Buchs steht Zarathustra mit seinen Jüngern an einem Kreuzwege und fordert auf zur Einsamkeit und Verleugnung Zarathustras, da nur auf diese Weise seine »Lehren« fruchten können. Diese Aufforderung steht in Analogie zur Eröffnung des Zarathustra: So wie Zarathustra seine Heimat verließ, um sich zu dem zu bilden, der er durch zehn Jahre Einsamkeit wurde, so fordert Zarathustra seine Jünger auf, den allein je ihnen bestimmten Weg durch die Einsamkeit zu gehen. Das zweite Buch beginnt wie schon das erste Buch programmatisch mit der Schilderung des einsamen Zarathustra, der seine Lehre nun in Gefahr und wiederum aufgrund seiner Überfülle an Weisheit sich in die Gesellschaft seiner Jünger gedrängt sieht, um ›sich‹ in ihnen richtig zu stellen. Das zweite Buch endet mit dem Verlassen der Freunde. Das darauf folgende dritte Buch bricht mit dieser Logik, indem es nicht anhebt mit der Schilderung des sich in Einsamkeit befindenden Zarathustra, sondern das Unterwegs Zarathustras zu sich schildert. Dieser Weg zu sich wird im ersten Kapitel des dritten Buches, Der Wanderer, als der Weg der »einsamsten Einsamkeit«, als »einsamste Wanderung« (Z – 194) bzw. »letzte Einsamkeit« (Z – 195) beschrieben. Wieder bei sich, vorzustellen als wieder das, was er zu Beginn des Buches war 21 (vor seinem ersten Untergang jedenfalls war Zarathustra kein »Mensch«, vgl. Z – 12), ist er in Die Heimkehr. Die ersten Teile des Zarathustra sind ringkompositorisch angelegt. Damit ist zugleich ausgedrückt, dass Nietzsche im dritten Teil des Zarathustra ab dem Kapitel Die Heimkehr, ab welchem Zarathustra sich in seine esoterische Essenz auflöst, dem nicht näher spezifizierten Wesen Zarathustras vor seiner ersten Menschwerdung, ›Inhalt‹

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Das Kapitel Die Heimkehr leitet die Selbst-Unterscheidungen Zarathustras ein, welche sich als Unterscheidungen des Begriffs »Einsamkeit« darstellen. Es hebt mit folgenden Worten an: »Oh Einsamkeit! Du meine Heimat Einsamkeit! Zu lange lebte ich wild in wilder Fremde, als dass ich nicht mit Thränen zu dir heimkehrte!« (Z – 231) Zarathustra, der als Landtier nicht in seinem Element war, löst sich wieder zu sich auf – in und durch Tränen. 22 Dieser Sachverhalt wird durch den folgenden markierten Wort-Wechsel im doppelten Sinne des Wortes hervorgehoben: Nun drohe mir nur mit dem Finger, wie Mütter drohn, nun lächle mir zu, wie Mütter lächeln, nun sprich nur: ›Und wer war das, der wie ein Sturmwind einst von mir davonstürmte? – / ›– der scheidend rief: zu lange sass ich bei der Einsamkeit, da verlernte ich das Schweigen! D a s – lerntest du nun wohl? / ›Oh Zarathustra, Alles weiss ich […] (Z – 231)

Zunächst ist es Zarathustra, der seiner Heimat die Worte des Empfangs eingibt, dann – das ist die Pointe an jenem Spiel mit »›…‹ / ›…‹« – übernimmt die Einsamkeit die Rede, indem sie das von Zarathustra angestoßene reuevolle Betragen aufnimmt und buchstäblich fortführt. Die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt der Rede, von Ego und Alter-Ego zerfließen (Subjekt und Substanz werden Eins). Wichtig zu sehen ist eben, dass die Einsamkeit – in der Zarathustra sich selbst Subjekt ist – Zarathustra hier nicht als moralisches Dividuum anspricht, sondern als Individuum, wobei »ungeteilt« man selbst zu sein nur im inszenierten Reich jenseits »der Moral« gelingt. »›Oh Zarathustra, Alles weiss ich: und dass du unter den Vielen v e r l a s s e n e r warst, du Einer, als je bei mir!« (Z – 231) An dieser Stelle fällt die zentrale Unterscheidung des Begriffs gibt. Dass die ersten drei Bücher des Zarathustra ringkompositorisch angelegt sind, sagt Nietzsche selbst in folgendem Brief an Heinrich Köselitz vom 30. März 1884, der den Abschluss des Dritten Buches thematisiert: »Eben ist der letzte Druckbogen abgethan – welche Erleichterung! Sind Sie zufrieden, auch mit dem Finale meiner ›Symphonie‹ ? (Es knüpft an den Anfang des 1ten Theils an: circulus also, und hoffentlich nicht circulus vitiosus).« (KSB 6, Nr. 499 – S. 491) Das, was im ersten Abschnitt von Zarathustra’s Vorrede des ersten Buchs abstrakt geschildert wird, bekommt so gesehen zwischen den Kapiteln Die Heimkehr und Die sieben Siegel (Oder: das Ja- und Amen-Lied) Gehalt; darin allein – so darf als vorausgesetzt unterstellt werden – sieht Nietzsche die Hoffnung begründet, dass der Zirkel kein vitiöser ist. 22 Das menschliche Weinen kann verschiedene Ursachen und Bedeutungen haben; in dem hier gemeinten Sinn löst es Beklemmungen, nimmt Last, hebt das Gewicht empfundener »Isolation« im weitesten Sinne auf in ihr Gegenteil. Modulationen der Einsamkeit

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»Einsamkeit«, die das selbstaufklärende Subjekt Zarathustras ist, insofern dieser sich in ihr und durch sie voll entspricht. Sich zu dem auflösend, was Zarathustra vor seiner Menschwerdung war, kann er hier und jetzt erfahren, dass seine Selbsterfahrung in entscheidenden Begegnungen mit sich unter Menschen nicht die Erfahrung von Einsamkeit bedeutete, wie er damals meinte, sondern »Verlassenheiten« waren, die vorzustellen sind als notwendige, leidvolle Durchgangsmomente hin zu sich, überwundene Fassungen seiner selbst, denen er nun, wieder in seinem Element, entwachsen kann. »›Ein Anderes ist Verlassenheit, ein Anderes Einsamkeit: D a s – lerntest du nun!« (Z – 231) Zarathustras Einsamkeit erinnert diesen im Folgenden an seinen Werdegang als Stationen der Verlassenheit, die sich textlich konkret manifestieren in den Kapiteln Zarathustra’s Vorrede, Das Nachtlied und Die stillste Stunde. 23 Diese Stationen von Zarathustras Leben unter den Menschen sind eminente Situationen der Selbstbegegnung, in denen »Zarathustra« als sich transformierende Denkfigur je verschiedene Rollen übernimmt. Dabei ist es Zarathustras Einsamkeit, welche die Gründe des je spezifischen Unerfülltseins ihres Protagonisten benennen kann. Es steht aus, die entsprechenden Abschnitte zur weiteren Konturierung des Werkvergleichsmodells in ihrer strukturellen Bedeutung auszulegen. Dabei sind folgende Thesen leitend: Die Unterscheidungen des Begriffs der »Einsamkeit« sind nicht nur der semantische Rahmen, in den sich der Lebenslauf Zarathustras einlässt, sondern auf einer Metaebene eine selbstreflexive Auslegung und Organisierung der Werkentwicklungsgeschichte Nietzsches durch diesen selbst ausgehend vom in sich unterschiedenen Einsamkeitsbegriff. Zarathustras Heimat Einsamkeit weist auf drei Verlassenheiten ihres Bedeutungsträgers hin. Die erste Verlassenheit – das führt der nächste Abschnitt näher aus – reflektiert den Ausgangspunkt von Nietzsches metaphysischer Philosophie und ist damit zugleich eine Reflexion auf die Problematik der Mitteilung. Diese hat bei Kierkegaard keine Entsprechung; er ist in der Ouvertüre seines exemplarischen Denkens, wie bereits zu sehen war, im Gegensatz zu Nietzsche aufmerksam auf den Umstand, dass exemplarisches Denken nicht direkt vermittelbar ist. Die zwei folgenden Verlassenheiten allerdings erinnern Zara23 Auch van Ness (1988) betont, dass »Einsamkeit« das die Komposition des Zarathustra strukturierende Prinzip ist, geht allerdings nicht so weit, die nahegelegten Markierungen, die Nietzsche in Die Heimkehr setzt, mitzubedenken.

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thustra an spezifische Rollen, Typisierungen seines Wesens in Gesellschaft, unter Menschen. Und auch Kierkegaard inszeniert sein exemplarisches Denken durch eben jene Bedeutungsträger, die auf eine spezifische Weise ›die Moral‹ personifizieren bzw. repräsentieren. Auf diese Analogien wird in den Abschnitten I.4.2.2 und I.4.2.3 nur zur weiterführenden Gedankenentwicklung hingewiesen, durchgeführt bzw. konkret am Text entwickelt werden sie im Teil II dieser Studie.

I.4.2.1 Verlassenheit I – Die Problematik der Mitteilung Die erste Verlassenheit wird folgendermaßen in Erinnerung gerufen: »Denn, weisst du noch, oh Zarathustra? Als damals dein Vogel über dir schrie, als du im Walde standest, unschlüssig, wohin? unkundig, einem Leichnam nahe: – / ›– als du sprachst: mögen mich meine Thiere führen! Gefährlicher fand ich’s unter Menschen, als unter Thieren: – D a s war Verlassenheit!« (Z – 232) und ist damit eine Reminiszenz an Zarathustra’s Vorrede. Diese erste »Verlassenheit« bezeichnet – weniger an ein spezifisches Kapitel gebunden als die im Anschluss zu strukturierenden »Verlassenheiten« – das Befinden Zarathustras nach der Wiedermenschwerdung und dem Vortragen der Lehren des Übermenschen und letzten Menschen. Zarathustra ist am Volk aufgelaufen und hat allein den abgestürzten toten Seiltänzer zur Seite; er ist vollkommen orientierungslos. Diese »Verlassenheit« von sich und seiner Bestimmung ergibt sich durch die Form »Mensch«, in die er sich ergoss. Offenbar konnte der naturgemäß sich aus Liebe ergebende Impuls, »wieder Mensch werden« (Z – 12) zu wollen, nicht absehen, was dies unmittelbar bedeutet. Soviel ergibt sich aus der rein anschaulichen Ebene. Es soll hier allerdings behauptet werden, dass Nietzsche in diesem komplexen Assoziationsreich mit der von seiner Einsamkeit in Erinnerung gerufenen ersten Verlassenheit zugleich seine eigene Denkgeschichte thematisiert. Nietzsche reflektiert, wie sich zeigen wird, in Zarathustra’s Vorrede zugleich auf den Ausgangspunkt seiner Philosophie, die metaphysische Vorgeschichte und die Problematik, welche jene in Angriff nahm: eine real-gesellschaftliche, lebenslähmende Isoliertheit zu durchbrechen (›dionysischer Rausch‹). Er reflektiert auf diese und nimmt sie – das ist die Pointe – verwandelt auf, insofern Nietzsche Zarathustra nun – in der Vorrede ziemlich schnell – zur Modulationen der Einsamkeit

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Einsicht kommen lässt, dass exemplarisches Denken sich nicht ›nach vorne‹, also direkt mitteilen lässt, sondern indirekt vermittelt werden muss. 24 Die Erinnerung an die erste Verlassenheit Zarathustras durch seine Einsamkeit bezieht sich nämlich nur auf bestimmte Abschnitte innerhalb der Vorrede, nämlich – das ergibt sich aus den bestimmten Bildern (der schreiende Vogel etc.) – auf Zarathustra’s Vorrede 7./8.– 10., womit innerhalb der Vorrede eine Zäsur gesetzt wird. Diese dezidiert als »Verlassenheitserfahrung« markierten Abschnitte haben also innerhalb von Zarathustra’s Vorrede eine »Vorgeschichte«, und diese Vorgeschichte thematisiert zugleich die Erfahrung, welche Nietzsche durch seine Erstlinge widerfuhr; diese wird in diesen Passagen metareflektiert. Die Abschnitte 3. bis 5. tragen gegenüber einer anonymen Menschenmasse (»Volk«) die Lehren vom Übermenschen und vom letzten Menschen vor als den entgegengesetzten Polen des für die Form »Mensch« Möglichen. Zarathustra scheitert als derart – nämlich frontal, direkt – Mitteilender und erntet nur Spott und also Missverständnis. Er resümiert vor sich selbst, relativ unbeirrt und dennoch verwundert im fünften Abschnitt: ›Da stehen sie‹, sprach er zu seinem Herzen, ›da lachen sie: sie verstehen mich nicht, ich bin nicht der Mund für diese Ohren. / Muss man ihnen erst die Ohren zerschlagen, dass sie lernen, mit den Augen hören? Muss man rasseln gleich Pauken und Busspredigern? Oder glauben sie nur dem Stammelnden? […]‹ (Z – 18)

Der Bruch innerhalb der Vorrede, der den metaphysischen Ausgangspunkt von Nietzsches Denken von allem Weiteren unterscheidet, wird am Schluss desselben Abschnitts hervorgehoben: »Und hier endete die erste Rede Zarathustra’s, welche man auch ›die Vorrede‹ heisst: denn an dieser Stelle unterbrach ihn das Geschrei und die Lust Dass es eine eigentümliche Verbindung gibt zwischen Nietzsches metaphysischer Philosophie und dem Zarathustra, in dem Sinne etwa, dass in Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik etwas angelegt ist, was im Zarathustra gestärkt neu ins Spiel gebracht wird, ist keine innovative Behauptung. Zahlreiche Publikationen widmen sich dieser Verbindung. Um nur zwei Beispiele zu nennen: de Bleeckere (1979) figuriert diese Evidenz durch an einem Begriff »tragischer Philosophie«. Auch Meyer (2005) arbeitet die »Entwicklung vom dionysischen Weltwillen (Tragödienschrift) zum schaffenden Individualwillen (Zarathustra)« (S. 87) heraus, wobei er »Einsamkeit« als »existentielle[s] Grundmotiv« exponiert, »die Einsamkeit als Verhängnis und die Einsamkeit als schöpferischer Zustand, aus dem die Kunst erwächst, die höchste Form der Lebenssteigerung«. (Ebd.) 24

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der Menge.« (Z – 20) Hier wird ein Unterschied gemacht zwischen Substanz und Form; die »Vorrede« endet nur innerhalb ihrer substantiellen Bestimmung, formal erstreckt sie sich im Zarathustra über 5 weitere Abschnitte. Dieser Befund macht also allein Sinn, wenn man ihn auf Nietzsches Denkgeschichte überträgt. Die Zäsur liegt – formal betrachtet – begründet im »denn« des Zitats. Sowohl die Lehre vom Übermenschen als auch die vom letzten Menschen als die zwei entgegengesetzten Pole, dem »Volk« nach dem Tod Gottes eine positive wie negative Möglichkeit mitzugeben, sich durch spezifische Selbstunterscheidungen umzubilden, bleiben unerhört, insofern deren unmittelbar vorgetragener Sinn vom Empfänger buchstäblich abgerissen wird: direkte Kommunikation des exemplarischen Denkens misslingt in seinem Ursprung, so wie Nietzsches Philosophie in ihrem »metaphysischen« Ursprung in Die Geburt der Tragödie und im Sinne der unzeitgemäßen Betrachtungen, die ihrer Form nach direkte Mitteilung waren. »Sie verstehen mich nicht: ich bin nicht der Mund für diese Ohren.« (Z – 20) 25 Mit dieser Einsicht, dass die »Isolation« als Ausgangspunkt des exemplarischen Denkens nicht unmittelbar durchbrochen werden kann, endet substantiell die »Vorrede«, die Vorgeschichte der Verlassenheitserfahrung, die bereits eine dynamisierte und produktive ReDer Verriss von Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik durch Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff kann als bekannt vorausgesetzt werden. Nietzsche wertet diese »erste Enttäuschung« offenbar um, indem er ihre partielle Berechtigung zuerkennt und aus der Not eine Tugend macht dahingehend, als er sein ursprüngliches Denkanliegen feingliedriger und realistischer zu bedenken genötigt wird. Rekapitulierend schätzt Nietzsche in Versuch einer Selbstkritik die Bedeutung von Die Geburt der Tragödie entsprechend ironisch-distanziert ein, ohne doch das Problem, das sie stellte, damit aufgegeben zu haben (vgl. GT – 11–22). Das mit Menschliches, Allzumenschliches anhebende Aphorismenwerk ist indirekte Mitteilung und durch diese wird jene euphorische Stimmung der Erstlingswerke gebrochen, erschwert, allerdings nicht aufgegeben. Dies erhellt etwa, wenn man den das zweite Buch von Menschliches, Allzumenschliches beschließenden Aphorismus Die goldene Loosung mitbedenkt, in welchem Text das exoterische Pathos einer durch dionysischen Rausch neu verschwisterten Menschheit introvertiert wird als die Forderung, die Menschheit von ihrer »K e t t e n - K r a n k h e i t « zu erlösen, welche Metapher wiederum die durch Moral, Religion und Metaphysik inkorporierten Irrtümer bezeichnet als ursprünglich notwendig für die Loslösung des Menschen vom Tier. »Noch immer, so scheint es, i s t e s n i c h t Z e i t , dass es a l l e n Menschen jenen Hirten gleich ergehen dürfe, die den Himmel über sich erhellt sahen und jenes Wort hörten: ›Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen an einander.‹ – Immer noch ist es d i e Z e i t d e r E i n z e l n e n .« (MA II – 702) 25

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aktion auf jene »Isolation« bedeutet. Dass Nietzsche in der Mitte des aus zehn Abschnitten bestehenden Kapitels Zarathustra’s Vorrede »die Vorrede« enden lässt, bedeutet den Einschub einer Metareflexion auf das eigene Werk, den eigenen Denkweg. Der sechste Abschnitt inszeniert das Ereignis, an dem Zarathustra lernt, als Mensch unter Menschen durchzukommen. Der Seiltänzer ist als Figur durch andere, indem der Erfolg seines Tuns bedingt ist durch den Effekt, den er durch sinnliche Wirkung beim Publikum erzeugt. In den voranstehenden Kapiteln ist es eben das, was den »Geist« der Lehren Zarathustras am Volk als Volk stranden lässt: Dieses will Wirkung sehen, den Effekt, den unmittelbaren Sinnenrausch. Am Ende des vierten Abschnitts, nachdem Zarathustra den Übermenschen gelehrt hat, »schrie Einer aus dem Volke: ›Wir hörten nun genug von dem Seiltänzer; nun lasst uns ihn auch sehen!‹« (Z – 16) Und auch die bereits zitierte, potenziert paradoxe Forderung des fünften Abschnitts fragt rhetorisch, ob erst die Ohren zerschlagen werden müssten, damit das Volk mit Augen hören lernte. Zarathustra hat nun gewissermaßen Glück, dass er Zeuge wird des Geschicks des Seiltänzers. Der »Possenreißer« – personifizierter Genius der Herdenpsyche – der den Seiltänzer in den Tod stürzte, ist derselbe, der Zarathustra des Nachts zur Besinnung bringt. Zarathustra solle die Stadt verlassen, weil er nur aufgrund von Missverständnis und Zufall überlebt hätte, und ihn die »Guten und Gerechten« und »Gläubigen des rechten Glaubens« als ihren »Feind und Verächter« und als »Gefahr der Menge« und Zarathustra deswegen lieber beiseite geschafft sähen (Z – 23). Was Zarathustra also durch dieses Ereignis lernt, ist eine Lektion in Sozialpsychologie: Er wird im Umgang mit Menschen klüger und vorsichtiger, wandelt aus Selbstschutz – »Gefährlicher fand ich’s unter Menschen als unter Thieren, gefährliche Wege geht Zarathustra« (Z – 27) – als Erkennender unter ihnen »als unter Thieren« (Z – 113). Das entschuldigt den Menschen zugleich und entschärft die Vorwurfshaltung, die die Menge und die sie zusammenhaltende Macht angesichts »Zarathustra« empfinden. Dies gelingt durch die Psychologisierung und Physiologisierung alles Menschlichen, womit es auf seine natürliche, tierische Basis, für die der Mensch nichts kann, zurückgeführt wird. 26 Dieser Einsicht entspricht werkgeschichtlich der Bruch, der »Psychologie«, das ist ein wichtiger Punkt, begreift nur das Tierhafte am Menschen und kann das nicht auf den Begriff bringen, was den Menschen als Menschen vor dem Tier auszeichnet. Nietzsche greift hier eine Frage auf, die in Schopenhauer als Erzie-

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zwischen Nietzsches Erstlingen liegt, deren metaphysische Substanz sich direkt mitteilte, und Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, welche Werkphase in Die fröhliche Wissenschaft ihren vorläufigen Abschluss findet, wobei in Zarathustra das ursprüngliche Anliegen neu zu Wort kommt. 27 Die ihn an seine erste Verlassenheit erinnernde Einsamkeit bezieht sich konkret, wie betont, auf die Abschnitte 7./8.–10. der Vorrede, womit das Problem der Mitteilung thematisiert wird. 28 Dort her unter anderen Vorzeichen offengehalten wurde: »Doch überlege man wohl: wo hört das Thier auf, wo fängt der Mensch an! Jener Mensch, an dem allein der Natur gelegen ist!« (SE – 378) Wenn man in einem Satz das Anliegen des exemplarischen Denkens Kierkegaards und Nietzsches zusammenfassen möchte, könnte man sagen: es geht um das Offenhalten der Frage, was der Mensch sei. Das gelingt beiden Denkern auf dem Gipfel ihrer Philosophie durch die Einführung eines Begriffs von »Geist«, dessen positive Bestimmung über jede Psychologisierung seines Wesens erhaben ist. Vgl. zu dieser These bereits die Ausführungen in den Abschnitten I.4.1.1 und I.4.1.2. 27 Die hier vertretene Einschätzung, dass die »Freigeistphase«, die mit Menschliches, Allzumenschliches anhebt und mit dem vierten Buch von Die fröhliche Wissenschaft schließt, eine Phase des Übergangs und der Auslagerung des »eigentlichen« Anliegens ist, formuliert Nietzsche in einem Brief an Lou von Salomé vom 3. Juli 1882 selbst: Darin beschreibt Nietzsche eine Reihe von glücklichen Fügungen, unter anderem, wie ihm seine Schwester Kirschen und der Verleger Teubner »die drei ersten Druckbogen der ›fröhlichen Wissenschaft‹« sandte; »und zu alledem war gerade der allerletzte Theil des Manuscriptes fertig geworden und damit das Werk von 6 Jahren (1876– 1882), meine ganze ›Freigeisterei‹ ! Oh welche Jahre! Welche Qualen aller Art, welche Vereinsamungen und Überdrüsse! Und gegen Alles das, gleichsam gegen Tod und Leben, habe ich mir diese meine Arznei gebraut, diese meine Gedanken mit ihrem kleinen kleinen Streifen unbewölkten Himmels über sich […]«. (KSB 6, Nr. 256 – S. 217) In einem Brief an den Jugendfreund Erwin Rohde wird die Sache noch zugespitzt: »Ohne ein Ziel, welches ich nicht für unaussprechlich wichtig hielte, würde ich mich nicht oben im Lichte und über den schwarzen Fluthen gehalten haben! Dies ist eigentlich meine einzige Entschuldigung für diese Art von Litteratur, wie ich sie seit 1876 mache: es ist mein Recept und meine selbstgebraute Arzenei gegen den Lebens-Überdruß«. (KSB 6, Nr. 267 – S. 226) Erwin Rohdes Einschätzung der Werkentwicklung ab Menschliches, Allzumenschliches ist ziemlich verhalten und geht Nietzsche nachweislich nahe. So heißt es in einem Brief an Nietzsche: »[…] was zuerst, liebster Freund, gestatte daß ich es eingestehe, wie ein nur mit Gewalt deiner eigentlichen Neigung abgezwungener, mit verbissenen Zähnen g e w o l l t e r excentrischer Entschluss vorkam […]«. Dabei hält Rhode angesichts Die fröhliche Wissenschaft immer noch ironisch die Möglichkeit offen, dass Nietzsche ein »wahrer Tausendkünstler der Selbstüberwindung« sei (Brief an Nietzsche, S. 307–309, Nr. 158, vom 26. November 1881), dass Nietzsche mit seinen Aphorismen-Büchern also nicht wirklich in seinem Element ist. 28 Diese »Verlassenheit« kennt Kierkegaards exemplarisches Denken nicht; es ist im Modulationen der Einsamkeit

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wird Zarathustra sich klar darüber, dass er nicht zum »Volk«, zu einem anonymen »Publikum« direkt zu sprechen hat, sondern zu »lebendige[n] Gefährten […], die mir folgen, weil sie sich selber folgen wollen – und dorthin, wo ich will.« (Z – 25) An dieser Umorientierung seiner eigenen Bestimmung wird deutlich, dass das Wohin der Mitteilung intersubjektiv vermittelt wird über einen Selbstbezug des Einzelnen, 29 ohne doch sich in Beliebigkeit aufzulösen. Der Name »Zarathustra« steht dann für die dynamisierte Aspiration nach neuer, allgemein-menschlicher Orientierung. Der Ausdruck für dieses zugleich allgemein-menschliche und doch je besondernde Tun heißt im Zarathustra »Schaffen«: »Gefährten sucht der Schaffende und nicht Leichname, und auch nicht Heerden und Gläubige. Die Mitschaffenden sucht der Schaffende, Die, welche neue Werthe auf neue Tafeln schreiben.« (Z – 26) Die von Zarathustra nunmehr gesuchten Gefährten folgen »ihm« freiwillig, weil sie sich selbst folgen wollen, und damit folgen sie unwillkürlich dem Willen »Zarathustras« als des Namens für eine je individuelle, aber doch nach einer »mächtige[n] Gemeinsamkeit« (SE – 382) suchenden Lebensform. 30 Zarathustra kam, das sieht er nun klarer, um »Viele wegzulocken von der Heerde« (Z – 25), um also den Menschen von seiner abstrakten Bestimmung als Gattungswesen je spezifisch zu »besondern«. Mit dieser Umorientierung der Angesprochenen ist nicht der Angesprochene ein anderer, sondern die Weise, wie er angesprochen wird. »Den Einsiedlern werde ich mein Lied singen und den Zweisiedlern; und wer noch Ohren hat für Unerhörtes, dem will ich sein Herz schwer machen mit meinem Glücke.« (Z – 27) Nachdem nun gezeigt wurde, wie Nietzsche die erste VerlassenUrsprung bereits indirekt vermittelt. Die Einschätzung, dass Kierkegaards Mitteilungsstrategie in ihrem Ursprung bereits komplexer durchdacht ist als die Nietzsches, teilt van Tongeren (2012), S. 8. Dennoch wird (wie im Abschnitt I.4.1.1 gezeigt) die Darstellung der »Substanz« – und das ist sehr wichtig zu betonen –, so wie sie in Entweder – Oder ursprünglich behauptet wird (als eine Überlegenheit des Ethischen über das Religiöse), transformiert, insofern sie in der Entwicklung des exemplarischen Denkens Kierkegaards aus der Sphäre des Begriffs verwiesen wird. 29 Das ist – um es noch einmal zu erwägen – wohl der tiefere Sinn eines Werks in Aphorismen, in dem es scheinbar keinen kontinuierlichen und konsistenten Standpunkt gibt. Es ist gerade durch seine polyphone Anlage – in der die Frage nach Konsistenz nur äußerlich nebensächlich wird – vermittelt selektiv und kann seinen Anspruch an sich selbst als ein Streben nach Wahrheit quasi unendlich erhöhen. Vgl. zu diesem Problemfeld Strobel (1998). 30 Vgl. zur Einordnung dieser Formel den Abschnitt II.1.4.2.

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heit Zarathustras derart konzipiert, dass sie zugleich die Form und das Anliegen von Nietzsches metaphysischer Philosophie metareflektiert und diese verwandelt aufnimmt, soll nun gezeigt werden, inwiefern die nächsten Verlassenheiten je spezifische Rollen und Typisierungen in Erinnerung rufen, die als Durchgangsmomente exemplarischen Denkens zentrale Bedeutung haben, auch für Kierkegaard.

I.4.2.2 Verlassenheit II – Der Typus Dichter Die zweite »Verlassenheit« Zarathustras – ›Und weisst du noch, oh Zarathustra? Als du auf deiner Insel sassest, unter leeren Eimern ein Brunnen Weins, gebend und ausgebend, unter Durstigen schenkend und ausschenkend: / ›– bis du endlich durstig allein unter Trunkenen sassest und nächtlich klagtest ›ist Nehmen nicht seliger als Geben? Und Stehlen noch seliger als Nehmen?‹ –

– bezieht sich dezidiert auf Das Nachtlied, dem zwei weitere als Lieder konzipierte Kapitel, Das Tanzlied und Das Grablied, folgen. Es geht in diesem Abschnitt nicht um eine inhaltliche Interpretation von Das Nachtlied, sondern allein um die Präparierung einer strukturellen Analogie zwischen Kierkegaard und Nietzsche. Sowohl Kierkegaard nämlich als auch Nietzsche inszenieren ihr Denken anschaulich durch exemplarische Bedeutungsträger wie den Dichter. Der »junge Mensch« etwa aus Die Wiederholung ist als »Ausnahme« ein Dichter, wobei auch Zarathustra hier diesen Typus repräsentiert. Diese Figuren sind keine in sich konsistenten theoretischen Konzepte; das, was sie bedeuten für den Zusammenhalt unserer Welt, lässt sich nur durch Überzeichnung und also unzureichend auf den Begriff bringen. Diese Typisierungen können in einer buchstäblich genommenen und also verwandelten Übernahme von Max Webers Konzept des ›Idealtypus‹ als existierende Idealtypen verstanden werden. Sie repräsentieren überzogen spezifische Denk-Haltungen und thematisieren unwillkürlich und bewusst deren Mängel mit. Sie sind letztlich unmittelbarer Anschauung entlehnt und werden in ihrer fragwürdigen Bedeutung für die Wirklichkeit theoretisch entsprechend verarbeitet und ›gewürdigt‹. So hat beispielsweise der Typus Dichter – dessen Bedeutung sehr weit zu nehmen ist; der Typus Dichter ist ›der große Mensch‹, der im sozialen Raum unter Umständen mit zweifelhaften Mitteln Aufmerksamkeit auf sich zieht – mehr politische Modulationen der Einsamkeit

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Macht und Bedeutung jenseits guter Argumente, als es dem exemplarischen Denken in Rücksicht auf sein Anliegen lieb sein kann. Kierkegaard wird spät Bischof Mynster, Nietzsche das Phänomen »Wagner« entsprechend deuten. Dabei dockt das hier nachvollzogene exemplarische Denken an den Habitus dieser Typen an, indem es sich mimetisch an diese Rollen anschmiegt und deren Lebensform redupliziert. Allerdings – und das ist das Entscheidende – möchte es das Ungenügen, den Mangel dieser Typen an sich selbst überwinden, was für das exemplarische Denken zu Selbstunterscheidungen von diesen Typen führt. 31 Nicht zuletzt werden durch diese Typisierungen epochale Zusammenhänge sortiert und unter einen historischen Horizont subsumiert. Der »Dichter« ist »heidnisches« griechisches Konzept, das jederzeit Renaissancen feiern kann, während der »Morallehrer« sich mit dem Unterschied, den die jüdisch-christliche Lebensauslegung bedeutet, auseinanderzusetzen hat. Sowohl bei Kierkegaard als auch bei Nietzsche wird also der Typus Dichter als Figur des Durch- bzw. Übergangs, eben der »Verlassenheit« charakterisiert. So heißt es in Die Wiederholung: »Eine solche Ausnahme ist ein Dichter, der den Übergang zu den eigentlichen aristokratischen Ausnahmen bildet, zu den religiösen Ausnahmen.« (WH – 436) Und auch Zarathustra muss in den drei Liedern vorgestellt werden als jemand, der nicht im eminenten Sinne bei sich ist, was die Anrede der Heimat Einsamkeit Zarathustras klar zum Ausdruck bringt. 32 »Zarathustra«, in seinem Element Einsamkeit sich selbst absolut genug, wird unter Menschen, selbst und gerade unter den ihm Nächsten, naturgemäß uneins mit sich durch die sinnliche, erotische Verbundenheit zu ihnen. Die erotische, ›heidnische‹ Liebe wird hier in ihrer Insuffizienz vorgeführt, insofern ihre Verheißung nicht halten kann, was sie verspricht. Nietzsche führt hier auf seine Weise das vor, was Kierkegaard mit dem Begriff der »Stimmung« auseinanderlegt, und deren Bedeutung ist, zu schwanken, die also den sie Erleidenden fremdbestimmt sein lässt. »Begehren – das heisst mir schon: mich verloren haben« (Z – 205), wird es später an entscheidender,

Hierauf wird in den Abschnitten I.4.2.3 und I.4.3 zurückzukommen sein. Diesen Punkt verkennt Karl August Götz gnadenlos, indem er die Schilderungen dieses Liedes für den egoistischen Standpunkt Nietzsches nimmt und es als »Symbol der Lieblosigkeit« (Götz (1949), S. 165 ff.) liest.

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negativ korrespondierender Stelle heißen. 33 Gegen den erotischen Liebesbegriff, in dem das Selbst Opfer instabiler Größen ist, konzipiert Nietzsche im Zarathustra das Konzept der »schenkenden Tugend« als ursprünglich bedingungslos sich gebendes Leben. Deren Wirklichkeit ist in Das Nachtlied bedroht. Ich kenne das Glück des Nehmenden nicht; und oft träumte mir davon, dass Stehlen noch seliger sein müsse, als Nehmen. / Das ist meine Armuth, dass meine Hand niemals ausruht vom Schenken; das ist mein Neid, dass ich wartende Augen sehe und die erhellten Nächte der Sehnsucht. (Z – 136)

Der Typus Dichter, wie er in dieser Studie aus dem Werk Kierkegaards und Nietzsches herausgelöst wird zu Zwecken eines Werkvergleichs, zeichnet sich dadurch aus, dass er durch gesellschaftliche Dynamiken bedingt und determiniert ist. Der an sich mit sich selbst übervolle, mehr als selbstgenügsame Zarathustra, dauerhaft unter Menschen gestellt, leidet bald an dieser seiner Überfülle, insofern die Korrespondenz mit den relativ besehen kleineren Menschen notwendig misslingt, da sie nichts Entsprechendes zurückgeben könnten. Zarathustra wird, eingespannt unter Menschen, eine Form also, die ihm nicht wesentlich ist, unwillkürlich kleinlich, ›nach unten gezogen‹ ; so empfindet er beispielsweise Neid gegenüber denen, die noch beschenkt werden können. Zarathustras unbedingter Reichtum an sich selbst wird, an die Form »Mensch« gebunden und dauerhaft unter Menschen lebend, eigentümlich entwertet. Die Hand zurückziehend, wenn sich schon ihr die Hand entgegenstreckt; dem Wasserfalle gleich zögernd, der noch im Sturze zögert: – also hungere ich nach Bosheit. / Solche Rache sinnt meine Fülle aus; solche Tücke quillt aus meiner Einsamkeit. / Mein Glück im Schenken erstarb im Schenken, meine Tugend wurde ihrer selber müde an ihrem Überflusse! / Wer immer schenkt, dessen Gefahr ist, dass er die Scham verliere; wer immer austheilt, dessen Hand und Herz hat Schwielen vor lauter Austheilen. (Z – 137)

Kann – so lässt sich dieser Gedanke fortspinnen – zu dieser eindimensionalen Perspektive auf die Gesellschaft, die sich aus relativ kleinen und relativ großen Menschen zusammensetzt, kein Unterschied gedacht werden, dann sind naturgemäß eine Reihe unehrenwerter Affekte in Gang gesetzt, auch wenn sie in Gesellschaft auf unscheinbare Namen getauft werden, und knechten »die Menschheit« unter ein planes, sich agonal bedingendes Kräftemessen von spezifisch indivi33

Vgl. hierzu den Abschnitt III.3.1.

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duierten Machtquanten. 34 So betrachtet kann es als redliche Leistung Nietzsches gewürdigt werden, den menschlichen Unterschied nicht durch diskursive Strategien zu überzeichnen und seine latente Wirksamkeit durch »moderne Ideen« (wie etwa die ›Gleichheit der Menschen‹ auch ohne Gott) zu verleugnen, sondern aus der Perspektive eines Begünstigten zu problematisieren. 35 Als sozialdeterminierter Typus Dichter ist Zarathustra, relativ herausragend unter Menschen, bald unwillkürlich ausgelaugt und fragt sich gemessen an dem ihm Möglichen also vollkommen berechtigt, warum er sich dauerhaft erniedrigen und verschenken soll, wenn ohnehin nichts zurückkommt. Und unwillkürlich kommen Zarathustra auch bezogen auf seine Nächsten »böse« Gedanken. 36 Die vorliegende Studie geht davon aus, dass Nietzsches (und Kierkegaards) Werk ein organisches Ganzes ist. Aus dieser Voraussetzung rechtfertigt sich die hier präsentierte ›unvornehme‹ Interpretation von Das Nachtlied, womit gewisse Passagen etwa aus Zur Genealogie der Moral – wie etwa der § 14 der ersten Abhandlung – nicht so wirken, als wären sie von einer anderen Person geschrieben, sondern anti-thetisch korrespondieren. 35 Lässt man diese selektive Interpretation bezogen auf die strukturelle Bedeutung der Verlassenheit Zarathustras für den Zarathustra insgesamt gelten, dann hat dieser Aspekt in einer Darstellung des Pseudonyms Johannes de silentio, dem Verfasser von Furcht und Zittern, sein Pendant: »Wer war in der Welt groß wie jene gebenedeite Frau, Gottes Mutter, Jungfrau Maria? Und doch, wie spricht man davon? Daß sie gebenedeit unter den Weibern war, macht sie nicht groß, und falls es sich so sonderbar träfe, daß die, welche hören, ebenso unmenschlich denken könnten wie jene, welche sprechen, dann müßte wohl jedes Mädchen fragen, warum bin nicht auch ich die Gebenedeite geworden? Und wenn ich nichts anderes zu sagen hätte, dann würde ich eine solche Frage keineswegs als dumm zurückweisen; denn einer Begünstigung gegenüber, abstrakt gesehen, ist jeder Mensch gleich berechtigt.« (FZ – 250) 36 An dieser Stelle ließen sich weitere Bohrungen vornehmen. Die natürliche Flucht vor der Selbstbegegnung in Einsamkeit macht den Menschen nicht notwendig besser – das, so ließe sich mit einigem Recht behaupten, wollen Nietzsche und Kierkegaard zu bedenken geben. Jede Ethik im Sinne Kierkegaards und Nietzsches fordert streng genommen entsprechend die Fähigkeit zur (jedem Menschen je verschieden zumutbaren) Einsamkeit, insofern allein hier »Wahrheiten« über einen selbst ins Bewusstsein hochgespült werden, die jederzeit – auch unbewusst – Bedeutung haben für den Menschen als politisches Wesen und allein dann entsprechend »menschlich« kanalisiert werden können. Ironisch sich von seinem eigenen Lebensweg distanzierend, eben sich vom Typus Dichter seiner sozialen Bestimmung nach in der Figur des Anti-Climacus sich selbst unterscheidend, heißt es bei Kierkegaard in Die Krankheit zum Tode, eine verschärfte Verzweiflungsform visierend (»Verschlossenheit«): »Dagegen verspürt er [der Verzweifelte, R. R.] nicht selten den Drang nach Einsamkeit, sie ist ihm eine Lebensnotwendigkeit, bisweilen wie das Atmen, zu anderen Zeiten wie das Schlafen. Daß er diese Lebensnotwendigkeiten mehr als die meisten Leute besitzt, ist ja auch 34

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I.4.2.3 Verlassenheit III – Der Typus Morallehrer Ein weiterer eminenter, ausnahmetheoretisch brisanter Bedeutungsträger des exemplarischen Denkens beider Philosophen ist der Typus Morallehrer. Bei Kierkegaard hat er in Wilhelm, dem Gerichtsrat, wie gesehen einen zweifachen Auftritt: einmal zur Initiierung des Ausnahmetheorems in Entweder – Oder II und dann wieder in Stadien. Wilhelm ist in Kierkegaards Werk konzipiert als Figur, die ihrem Selbstverständnis nach ein erfülltes und ethisch exemplarisches Leben lebt und andere Lebensformen von sich überzeugen darf, insofern seine Lebensform, wenn nicht die richtige, so doch die dem Richtigen nächstliegende ist. Aber gerade in Stadien wird die Figur Wilhelm, auch wenn sie davon selbst nichts mitbekommt, von ihrem Autor eigentümlich selbst-widersprüchlich inszeniert, zumal in der durch sie formulierten Ausnahmetheorie, womit Kierkegaard das Ausnahmetheorem in die religiöse Sphäre aufbricht und formal betrachtet an ihr Ende bringt. Auch Nietzsches Zarathustra ist über weite Strecken eine Figur, die ausgiebig Moral lehrt, zumal im ersten Buch. Aber auch Nietzsche möchte zuletzt diesen Anspruch an die Grenzen seiner Legitimität bringen und diesen an sich selbst kollabieren lassen, wobei ein ein Zeichen dafür, daß er von einer tieferen Natur ist. Überhaupt ist der Drang nach Einsamkeit ein Zeichen dafür, daß ja doch Geist in einem Menschen ist, und der Maßstab für das, was hier Geist heißt. ›Die nur geschwätzigen Un- und Mit-Menschen‹ verspüren in dem Grad keinen Drang zur Einsamkeit, daß sie, wie Gesellschaftsvögel, gleich sterben, wenn sie nur einen Augenblick allein sein sollen; wie das kleine Kind in Schlaf gelullt werden muß, so brauchen diese Leute das beruhigende Einlullen der Gesellschaft, um essen, trinken, schlafen, beten, sich verlieren zu können und so weiter. Aber sowohl im Altertum wie im Mittelalter war man doch aufmerksam auf diesen Drang zur Einsamkeit, hatte Respekt vor seiner Bedeutung; in der ›Fortwährenden Geselligkeit‹ schaudert man derartig vor der Einsamkeit, daß man sie [oh, treffliches Epigramm!] zu nichts anderem zu gebrauchen weiß als zur Strafe für Verbrechen. Doch ist es wahr, daß es ja in unserer Zeit ein Verbrechen ist, Geist zu haben, so ist es ja in seiner Ordnung, daß solche Leute, Liebhaber der Einsamkeit, in eine Klasse mit Verbrechern kommen.« (KzT – 95) Über die sich in der Einsamkeit des »ungewöhnlichen Menschen« notwendig freilegende »Bosheit« und ihre konstitutionelle Bedeutung für das Gesellschaftsganze wird eingehender im Teil II dieser Studie gehandelt (vgl. den Abschnitt II.2.3). Anti-Climacus’ Darstellung der die Einsamkeit Fliehenden, Geistlosen vernimmt sich deswegen so gelassen, weil er den Maßstab aus der Hand gibt, zu be- bzw. verurteilen. Nietzsches atheistisch sich positionierende Moralkritik dagegen, das mitunter forcierte Wüten gegen die »Schlechtweggekommenen« etc. (vgl. etwa GM – 376 ff.), könnte eben in dieser Einsicht ihren Grund haben. Modulationen der Einsamkeit

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kondensierter Ausdruck davon ist Die stillste Stunde. In der Figur des Morallehrers wird – insofern sie als eine Figur der Verlassenheit konzipiert ist und noch nicht von sich selbst unterschieden wurde – die Unmöglichkeit manifestiert, durch den absoluten Anspruch der Moral die Frage nach dem gelingenden Leben zu orientieren. Die dritte und letzte Verlassenheitsform, die an das letzte Kapitel des zweiten Buches erinnert, wird wie folgt umschrieben: ›Und weisst du noch, oh Zarathustra? Als deine stillste Stunde kam und dich von dir selber forttrieb, als sie mit bösem Flüstern sprach: ›Sprich und zerbrich!‹ – / ›– als sie dir all dein Warten und Schweigen leid machte und deinen demüthigen Muth entmuthigte: D a s war Verlassenheit!‹ – (Z – 232)

Dieses Kapitel inszeniert – unter anderem – eine zentrale Ungewissheit in letzten Dingen, eine innerliche, das Wesen Zarathustras spaltende Zerrissenheit. So lauten die ersten Worte des Kapitels unvermittelt: »Was geschah mir, meine Freunde? Ihr seht mich verstört, fortgetrieben, unwillig-folgsam, bereit zu gehen – ach, von euch fortzugehen! Ja, noch Ein Mal muss Zarathustra in seine Einsamkeit: aber unlustig geht diessmal der Bär zurück in seine Höhle!« (Z – 187) Im Folgenden rechtfertigt Zarathustra das Verlassen seiner Freunde, indem er die unterminierende Begegnung mit seiner »zornigen« bzw. »furchtbaren Herrin« (Z – 187) schildert. Es ist Zarathustra offenbar wichtig, seinen Freunden diese Begegnung in all ihrer Abgründigkeit zu schildern – »Und so geschah’s« –, um zu vermeiden, dass diese ein falsches Bild von seinem plötzlichen Abtreten erhielten – »denn Alles muss ich euch sagen, dass euer Herz sich nicht verhärte gegen den plötzlich Scheidenden!« (Z – 187) Die »stillste Stunde« ist Zarathustras namenloses Gewissen, das ihn deswegen von seinen Freunden wegdrängt, weil er nur in »einsamster Einsamkeit« werden kann, der er ist. In diesem Kapitel rauscht es Assoziationen, die an vorgängige Theoreme anspielen, Forderungen der stillsten Stunde erinnern an im Laufe des Zarathustra insgesamt vorausgeschickte Verheißungen. So wird etwa die Verwandlung des Löwen zum Kind aus Von den drei Verwandlungen erneut ins Bild gebracht, außerdem die Lehre des in Von der SelbstUeberwindung thematisierten Willens zur Macht, deren politische Konsequenzen projektiv aufgeschoben wurde: 37 Zarathustra sei einer, »Reden wir nur davon, ihr Weisesten, ob es gleich schlimm ist. Schweigen ist schlimmer; alle verschwiegenen Wahrheiten werden giftig.« (Z – 149)

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der das Gehorchen verlernt habe und die Not tuende Macht zum großen Befehlen, zum Herrschen hätte (vgl. Z – 189). Als entscheidend muss festgehalten werden – das zeigt jeder Versuch, dieses Kapitel zu erhellen, indirekt an, indem er scheitert – die Uneinigkeit Zarathustras mit sich selbst und damit die Dunkelheit des Gesagten. In dieser letzten »Verlassenheit« wirkt Zarathustra unendlich bedeutungsgeschwängert, was durch ein Heer von Selbstzitaten, die wiederum an bedeutende, dunkle Passagen erinnern, erreicht wird, ohne doch sich auf ein klare Bedeutung festlegen zu lassen. Zuletzt wird diese gedrungen komponierte Nichtidentität, Inkommensurabilität Zarathustras mit seinem eigenen Wesen und Anspruch explizit thematisiert: – Nun hörtet ihr Alles, und warum ich in meine Einsamkeit zurück muss. Nichts verschwieg ich euch, meine Freunde. / Aber auch diess hörtet ihr von mir, w e r immer noch aller Menschen Verschwiegenster ist – und es sein will! / Ach meine Freunde! Ich hätte euch noch Etwas zu sagen, ich hätte euch noch Etwas zu geben! Warum gebe ich es nicht? Bin ich denn geizig?‹ – (Z – 190)

Der Sinn dieser finalen Unterredung mit seinen Freunden ist paradox konzipiert. Einerseits hat Zarathustra alles mitgeteilt, was er zu sagen hatte, um den erneuten Weg in seine Einsamkeit vor seinen Freunden zu rechtfertigen; aus diesen Schilderungen soll seinen Freunden zugleich vermittelt aufleuchten, dass »Zarathustra« der verschwiegenste aller Menschen ist, dass er verschlossen ist und es sein will. Der Wille zur Verschwiegenheit, Verschlossenheit, zum Bedeutungsaufschub, der Zarathustra in seiner Menschlichkeit superlativisch auszeichnet, kann vorgestellt werden als Wille zur Schonung seiner Freunde vor den Forderungen seiner fruchtbaren Herrin. Dem steht widersprüchlich gegenüber, dass er doch noch etwas zu sagen und zu geben hätte, was allerdings vorgestellt werden muss als schön, als bereichernd, sonst wäre es ja nicht sein Wille, es seinen Freunden mitzuteilen; auch die rhetorische Frage bezogen auf den Geiz deutet dies an. Kurz: »Zarathustra« ist hier in der sich aus seinem Status als »Mensch« ergebenden Klemme zwischen unversöhnlichen, moralischen Ansprüchen (der ethischen Verpflichtung gegenüber seinen Freunden und der Verpflichtung gegenüber seiner stillsten Stunde, sich selbst im eminenten Sinne) und wird derart über die relationale Befangenheit seines Wesen gehoben. Dieses Szenario ist im Bilde zugleich das Zerbrechen des normativen Ausnahmetheorems, insofern Modulationen der Einsamkeit

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in der nun für Zarathustra anstehenden »einsamsten Wanderung« die Ursache seiner Bedeutung suspendiert wird: die Moral. Man kann so gesehen in Analogie zu Johannes de silentios Verwendung der Formel in Nietzsches exemplarischem Denken gleichermaßen eine sich in den ersten drei Büchern des Zarathustra vollziehende teleologische Suspension des Ethischen ausmachen, von der das gelingende Leben des »Einsamen« abhängt, während Johannes de silentio mit jener Formel die anti-begriffliche Substanz des »Einzelnen« vorbereitet. An dieser Stelle kann die für das Vergleichsmodell erwogene strukturgebende Synthese von Verlassenheit und normativer Ausnahmetheorie weiterführend rekapituliert werden in ihrer Bedeutung für das exemplarische Denken beider Philosophen. Für den Entwurf des Werkvergleichsmodells wurde inspiriert durch Adorno unterstellt, dass die Unterscheidung von »Einsamkeit« in »Isolation«, »Verlassenheit« und »einsamste Einsamkeit« die Werkentwicklung beider Denker teleologisch organisiert, dass »Isolation« nachweislich der Denkanstoß, »Verlassenheit« das ethisch motivierte moralkritische Unterwegs und »einsamste Einsamkeit« der Raum der idealen Erfüllung des exemplarischen Denkens ist. Der Unterscheidung von Einsamkeit korrespondieren drei Fassungen des Ausnahmetheorems (faktisch, normativ, religiös). In diesem Kapitel wurde »Verlassenheit« näher in sich unterschieden, wobei gezeigt werden konnte, dass Nietzsche seine Werkentwicklung als Ganze durch diese Unterscheidung einholt und verwandelt aufnimmt. Die erste Verlassenheit war zugleich eine Meta-Reflexion auf die Problematik der Mitteilung: der Anspruch exemplarischen Denkens muss indirekt vermittelt werden – hierfür stehen die Aphorismenschriften der Freigeisttrilogie –, direkt mitgeteilt missversteht ihn der Empfänger unwillkürlich. Kierkegaard, der sein exemplarisches Denken im Ursprung indirekt vermittelt, kennt diese Verlassenheit nicht. Der »junge Mensch« allerdings aus Die Wiederholung und Wilhelm – die Figur, die das Ausnahmetheorem initiiert (EO II) und an ihr Ende bringt (SL) – können in Analogie zu den Verlassenheiten II und III gedeutet werden, insofern Zarathustra in seiner zweiten Verlassenheit Dichter ist und in seiner dritten Verlassenheit vom widersprüchlichen Anspruch der Moral aufgerieben und über die Sphäre der Moral selbst hinausgehoben wird, was Nietzsche anzeigt durch die Tatsache, dass Zarathustra in seine »letzte Einsamkeit« aufbricht. Die ›Zone‹ der Verlassenheit ist eine des Durch- und Übergangs und mündet in »einsamste 114

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Einsamkeit«, so wurde gesagt. Und aus letzterem Raum allein schöpfen die Utopien des »Einzelnen« und »Einsamen« ihr lebens(weg) rechtfertigendes Element. Dabei war oben von einer »Größe« die Rede, welche die faktische Ausnahmetheorie ausblendet und welche in der normativen Ausnahmetheorie, als in jedem »ungewöhnlichen Menschen« vorausgesetzt, negativ orientierend ist. Entscheidend ist nun die Beobachtung, dass diese negativ orientierende Größe im Ursprung der Denkbewegung beider Philosophen in den ungewöhnlichen Menschen vorausgesetzt wird und auf dem von ihnen selbst als dieser markierte Höhepunkt der Werkentwicklung, deren Essenz sich am Raum »einsamste Einsamkeit« ausrichtet, derart dargestellt wird, dass er die immanente Perspektive auf Moral bzw. den durch sie sich orientierenden Menschen kategorial überbietet und damit vermittelt haltbaren Anspruch auf Verbindlichkeit nach sich zieht. Dieser Sachverhalt kann hier vertieft erwogen werden durch die Beobachtung, dass Kierkegaard und Nietzsche jene sozialdeterminierten Typen Dichter und Morallehrer in sich unterscheiden. Der Typus Dichter/Morallehrer seiner sozialen Bestimmung nach wird als Typus der Verlassenheit überwunden. Dabei gibt es außerdem einen Typus Morallehrer und einen Typus Dichter seiner einsamen Bestimmung nach. Diese werden in der vorliegenden Studie verstanden als die Ausläufer der ersten Typen, wobei diese sich in der Bedeutung der Eigennamen »Kierkegaard« und »Nietzsche« als die Verfasser der Anti-Climacus-Schriften und des Zarathustra brechen, welche Schriften das Werkganze zusammenhalten und krönen. Und das für diese Studie, die nicht primär eine inhaltliche Auslegung der Philosophien Kierkegaards und Nietzsches sein will, allein Entscheidende an dieser Tatsache ist, dass sich damit für Kierkegaard und Nietzsche der an sie selbst formulierte und sich in der Ausnahmetheorie und Einsamkeitslehre spiegelnde Anspruch nachweislich erfüllt: einen Raum begrifflich zu konturieren und momentweise auch zu bewohnen, in dem die Isolation zerfällt und vor/in dessen Bedeutung es keine Ausnahmen gibt. Diese Typen ihrer einsamen Bedeutung nach wollen die Möglichkeit unterlaufen, dass die Unmöglichkeit, aus einer immanenten Perspektive auf die Moral eine Ethik zu begründen, dazu führt, dass es keine allgemein-menschliche Orientierung mehr geben soll. In den Anti-Climacus-Schriften gibt es keinen Menschen, der ausgenommen wäre von der Verantwortung, in Gott zu gründen, um der Verzweiflung seines Selbst- und Weltverhältnisses sich zu entschlagen. Modulationen der Einsamkeit

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Und Nietzsche vermittelt in Zarathustra klar nach Die Heimkehr, ab der es kein Zurück zu den Menschen (Freunden/Jüngern) gibt, seinen moralischen Anspruch über Zarathustra, von dessen Forderung und Urteil wiederum niemand ausgenommen ist. Das verhältnismäßig lange, sich auf die Sphäre der neuen, umgewerteten Moral beziehende Kapitel Von alten und neuen Tafeln zeigt einen Zarathustra, dem man nichts Neues sagen kann, er hat das Möglichkeitsreich des Menschlichen durchlaufen. »Hier sitze ich und warte, alte zerbrochene Tafeln um mich und auch neue halb beschriebene Tafeln. Wann kommt meine Stunde? […] Inzwischen rede ich als Einer, der Zeit hat, zu mir selber. Niemand erzählt mir Neues: so erzähle ich mir mich selber. –« (Z – 246) Der neue Geist, der hier auf dem Spiel steht, ist intersubjektiv vermittelt, ohne dabei allein diskursiv generiert worden zu sein – der Anspruch des neu auszulegenden Lebens selbst an die Menschen vermittelt sich über ihn. Er wird dennoch nicht propositional gesetzt und behauptet; die Tafeln sind »halb beschrieben« und können nur zwischen-menschlich erfüllt werden. Wenn Zarathustra hier sagt, dass er »noch Ein Mal […] zu den Menschen gehn« (Z – 246) will, dann tut er dies nur noch als Buch für Alle und Keinen. Kierkegaards durch Anti-Climacus vermittelter ethischer Anspruch ist der, über den allein das verzweifelte Selbst- und Weltverhältnis abgewehrt werden kann, indem ein ausgelagertes, begrifflich nicht einholbares Drittes in das Selbstverhältnis integriert wird: der Gott-Mensch. Und zuletzt ›erlösen‹ beide Denker sich punktuell selbst von ihrem absoluten moralischen Anspruch an die Moral, indem sie als Dichter den Ort konturieren, indem die Isolation der Subjekte ausgelöscht ist. Kierkegaard etwa in der Komposition Reden beim Altargang am Freitag und Nietzsche als Schaffender des Zarathustra; ab Der Genesende ist der dissonante Widerhall des moralischen Anspruchs insgesamt verklungen und Zarathustra löst sich auf in den konsonanten Klang unbedingter Lebensrechtfertigung. Bevor im nächsten Kapitel gezeigt wird, welche noch bestimmter sachlich nachweisbare Bedeutung von dieser Unterscheidung analog tragend für das Werkganze beider Denker ausgeht, soll im Vorblick auf Teil III dieser Studie, welcher der Erprobung des Vergleichsmodells gewidmet wird, Mitleid als ein Affekt der Verlassenheit bestimmt werden, da an ihm sehr schön die ethische Moralkritik Kierkegaards und Nietzsches nachgezeichnet werden kann und die Utopien des »Einzelnen« und »Einsamen« vermittelt erhellt werden können. 116

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I.4.2.4 Mitleid als Affekt der Verlassenheit Eine Studie über »Einsamkeit« und »Ausnahme« verlangt nach die Dynamik dieser Realitäten normierend in Gang bringenden »Gegenbegriffen«, idealerweise solchen, die das entsprechende Werk selbst anbietet. Man könnte das Spezifische exemplarischen Denkens herausstellen über den Begriff der »Gesellschaft«. Es wurde gesehen, dass Nietzsche seiner »Einsamkeitslehre« eine »Gesellschaftslehre« zur Seite stellt und es ist hinlänglich bekannt, dass Kierkegaards »Einzelner« gleichermaßen ein zeit- und gesellschaftskritisches Konzept ist. 38 Im »ungewöhnlichen Menschen« wird – so wurde mehrmals behauptet – eine Größe vorausgesetzt, die in der faktischen Ausnahmetheorie ausgeblendet, in der normativen Ausnahmetheorie negativ lebenswegorientierend ist. Diese aus dem Raum »einsamster Einsamkeit« vorscheinende und den »ungewöhnlichen Menschen« anziehende Größe kann hier mit dem Wort »Liebe« näher bezeichnet werden. Das vermittelt lebenswegnormierende Problem, mit dem der »ungewöhnliche Mensch« zu kämpfen hat, ist ›die Moral‹. Dennoch: bei beiden Denkern wird im Ausgangspunkt und zuletzt wieder auf dem Höhepunkt ihres Fragens ein allgemein-menschlich Gutes behauptet und gedichtet. Dieses hat für den »ungewöhnlichen Menschen« lebensausrichtende Kraft und wird als inklusive »Liebe« zum Menschen als »Menschen« gesetzt. Diese inklusive »Liebe« allerdings flüchtet sich bei beiden Denkern in die »Einsamkeit«, was voraussetzt, dass ihrer Verwirklichung etwas entgegenarbeitet. Es ist in jedem Fall ein bedeutender, ja paradoxer Befund, dass die Liebe zum Menschen sich im Sinne Kierkegaards und Nietzsches allein durch »Einsamkeit« bewahren kann. 39 Der die Sache des exemplarischen Denkens tragende Gegenbegriff »Gesellschaft« wird in dieser Studie nicht fruchtbar gemacht. Vgl. zu dieser Möglichkeit etwa Tuttle (1996). 39 Aus der Perspektive postmoderner Ethikthematisierungen ließe sich wähnen, liegt dies an dem eigentümlichen Umstand der um diese Zeit generierten Überwucherungen von »Liebe« durch »Sexualität« als eines die Konstitution des Selbst eigentümlich dissoziierenden Phänomens. Vgl. hierzu Michel Foucaults durch Nietzsche methodisch inspiriertes Projekt Sexualität und Wahrheit (Der Wille zum Wissen/Der Gebrauch der Lüste/Die Sorge um sich), in dem er die diskursiven, das Selbst- und Weltverhältnis konstituierenden Strategien moderner Lebenswelt genealogisch zu entwirren trachtet dadurch, dass er die Selbstgewissheit einer befreiten Sexualität in ihre machtstrategischen und biopolitischen Bedingungen zurückdenkt. Von besonde38

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Aus dieser Perspektive wird – philosophiegeschichtlich gewendet – die Konstellation Schopenhauer (1788–1860), Kierkegaard (1813– 1855) und Nietzsche (1844–1900) bedeutend. Ein in den ästhetischen und moralphilosophischen Debatten des 19. Jahrhunderts »Liebe« nah verwandter Begriff ist »Mitleid«. Während Schopenhauer die reine Liebe (Caritas), von der ethische Orientierung ausgehen soll, mit dem Mitleid identifiziert, Eros allerdings als Trieb der Selbstsucht verteufelt und Mitleid absolut entgegengesetzt sieht, werden Kierkegaard und Nietzsche – im Gegenteil – Mitleid der Sphäre der erotischen Sinnlichkeit zuordnen und eine – inhaltlich je anders besetzte – ›Liebe über dem Mitleiden‹ postulieren, die die Sphäre der Moral im Prinzip überbietet. 40 Während Schopenhauer in seinem System ein »Wissen« behauptet um die Bedeutung von »Eros« und »Mitleid« als zweier unversöhnlicher Sphären des Begriffs »Liebe«, lagern die exemplarischen Denker dem entgegen – für die jedes innerhalb eines Systems sich behauptende Wissen vom Menschen Mangel an Rechtschaffenheit ist 41 – die Frage nach der »Bedeutung« aus in Instanzen, die selbst über-menschlichen Wesens sind, was hier und in dieser Arrem Interesse ist in diesem Kontext Sexualität und Einsamkeit (1984) von Michel Foucault und Richard Sennett, welcher Aufsatz als eine Zusammenfassung gelesen werden kann eines in den 80er Jahren gemeinsam gehaltenen Seminars. Darin unterscheidet Sennett drei Begriffe von »Einsamkeit«, deren Bedeutung auch Kierkegaard und Nietzsche systematisch ausloten: Eine von der »Macht« aufgezwungene Einsamkeit, die als Einsamkeit der Isolation, der Anomie beschrieben wird. Hier kommt der »Einsame« als Opfer der Gesellschaft in den Blick (diese Form der Einsamkeit wurde exemplarisch durch Emile Durkheim erfasst). Als zweite Form wird eine bei den Mächtigen Furcht auslösende Einsamkeit genannt, die Einsamkeit des Träumers und Raum der Rebellion, des »homme revolté«; typisiert hat diese Einsamkeitserfahrung Jean-Paul Sartre. Die dritte Möglichkeit der Erfahrung von »Einsamkeit« hat, so heißt es lapidar, mit der Macht nichts zu tun, sie bedeutet »das Gespür, unter vielen einer zu sein, ein inneres Leben zu haben, das mehr ist als eine Spiegelung der Leben der anderen. Es ist die Einsamkeit der Differenz.« (Foucault/Sennett (1984), S. 27) Letztere wollen Foucault und Sennett in ihrer historischen Bedingtheit ergründen, wobei sie sie wie folgt problematisieren: Die Einsamkeit der Differenz ist »eine maßlos verworrene Erfahrung in der modernen Gesellschaft, und ein Grund für die Konfusion liegt darin, daß unsere Ideen von Sexualität als Index der Selbstbewußtheit es uns schwer machen zu verstehen, wie wir neben anderen Individuen in der Gesellschaft stehen« (Foucault/Sennett (1984), S. 28). 40 Das Motiv der ›Liebe über dem Mitleiden‹ ist eine verwandelte Übernahme einschlägiger Verse aus Von den Mitleidigen des Zarathustra. Dort heißt es etwa: »Wehe allen Liebenden, die nicht noch eine Höhe haben, welche über ihrem Mitleiden ist!« (Z – 115) Es wird durchgeführt in seiner ethisch-moralkritischen Bedeutung im Kapitel III.3. 41 Vgl. für die Zusammenstellung der entscheidenden Zitate Jaspers (1960), S. 14 ff.

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Einsamste Einsamkeit – religiöse Ausnahmetheorie

beit durchgängig nur meint: zugleich der begrifflichen Traktierung entzogen und doch vorzustellen als das Menschliche im Ganzen unbedingt normierend. Der Affekt des Mitleids wird in dieser Arbeit in kritisch-konstruktiver Anlehnung an Käte Hamburgers Mitleidsstudie, 42 deren Befund ist, »Mitleid« sei aufgrund seiner Unpersönlichkeits- und Distanzstruktur ein ethisch neutrales Phänomen, begriffen als ein Affekt der »Verlassenheit«, womit – in Weiterführung Hamburgers – der positive Sinn der Kritik dieses Phänomens anschaulich gemacht werden kann; er desorientiert die Bestimmung des »Menschen« als eines Geistwesens im Gegensatz zu jener »Liebe«, welche die Ausnahme haltbar orientiert.

I.4.3 Einsamste Einsamkeit – religiöse Ausnahmetheorie Es bleibt, die religiöse Ausnahmetheorie 43 mit dem Raum »einsamster Einsamkeit« zusammenzuführen, um dem Werkvergleichsmodell Vgl. Hamburger (1985). Bezüglich des religiösen Anspruchs von Nietzsches Denken lässt sich festhalten, dass schon Jaspers (1963) überzeugend zeigt, dass Nietzsche nicht einfach das ihm überlieferte Christentum durchstreichen will, sondern mit dem Anspruch an es herantritt, es in ein realistischeres Konzept idealer Lebensauslegung und -orientierung zu transformieren. Außerdem nennt Nietzsche seinen Zarathustra selbst ein »heilige [s] Buch[]«, mit dem er »alle Religionen herausgefordert« hätte (vgl. KSB 6, Nr. 405 – S. 365). Nietzsches Christentumkritik hat immerhin, um nur dieses Beispiel zu nennen, die vor der Abfassung des Zarathustra formulierte, persönliche Überzeugung zur Voraussetzung, dass das Christentum die höchstmögliche Form »idealen Lebens« ist. Vgl. hierzu einen Brief an Heinrich Köselitz, in dem sich Nietzsche gewissermaßen bei dem (von Haus aus) atheistisch gesonnenen Korrespondenten dafür entschuldigt, dass in der Morgenröte derart offenkundig und affirmativ Gehalte des Christentums umbenannt eingelassen und also aufgehoben sind. »Mir fiel ein, lieber Freund, daß ihnen an meinem Buche die beständige innerliche Auseinandersetzung mit dem C h r i s t e n t h u m e fremd, ja peinlich sein muß; es ist aber doch das beste Stück idealen Lebens, welches ich wirklich kennen gelernt habe, von Kindesbeinen an bin ich ihm nachgegangen, in viele Winkel, und ich glaube, ich bin n i e in meinem Herzen gegen dasselbe gemein gewesen. Zuletzt bin ich der N a c h k o m m e ganzer Geschlechter von christlichen Geistlichen – vergeben Sie mir diese Beschränktheit! –« (KSB 6, Nr. 132 – S. 108 f.) Im zwei Tage später verfassten Brief an den Freund Franz Overbeck (KSB 6, Nr. 133 – S. 109 f.) formuliert Nietzsche allerdings den Zusatz, dass der Versuch der Verwirklichung des christlichen Ideals immer in einer »puren Unmöglichkeit« (S. 110) mündete. Hier ist wiederum Gerd-Günther Grau zu berücksichtigen, der in seinen anspruchsvollen religionsphilosophischen Studien zu Nietz42 43

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seine esoterische ›Spitze‹ 44 aufzusetzen. Dabei ist wieder an den Satz Adornos zu erinnern, dessen Telos – der Zerfall der Isolation des Denkens/Einzelnen – mit dem Raum »einsamster Einsamkeit« assoziiert wird. Die religiöse Ausnahme wäre zugleich die Aufhebung des Status Ausnahme überhaupt, insofern in den durch sie aufgebrochenen Utopien des »Einzelnen« und »Einsamen« ein Raum imaginiert wird, vor dessen Bedeutung es keine Ausnahmen gibt. Zum Zweck der systematischen Verschränkung von religiöser Ausnahmetheorie und einsamster Einsamkeit kann die oben eröffnete Unterscheidung der Typen Dichter und Morallehrer ihrer sozialen und einsamen Bestimmung nach wieder aufgegriffen werden, indem ihr Sinn an der Frage nach dem Maßstab näher erhellt wird. Der Typus Dichter und Morallehrer seiner sozialen Bestimmung nach setzt voraus den Menschen als Maßstab seiner Menschlichkeit. Diese relative Unterscheidung des Menschen nach ›klein‹ und ›groß‹ wird von beiden Denkern bedient und ist zugleich der Stein des Anstoßes, der die Frage nach allgemein-menschlicher Orientierung aufwirft. Kierkegaard bemüht in seiner pseudonymen Schaffensphase den Eigennamen »Abraham«, um an ihm die Frage nach dem Menschen religiös zu orientieren derart, dass die Sphäre des menschlichen Organisierens von Gut und Böse im Prinzip überboten wird. Dabei ist natürlich kein Mensch, der die Bücher Kierkegaards liest, Abraham, und doch repräsentiert er eine exklusive Lebensform, welche die ideale Bestimmung des »Einzelnen« fasst. Das Pseudonym Anti-Climacus – im vorausgesetzten Wissen um die Wahrheit des Christentums – knüpft dann die Frage nach dem Menschen an einen Begriff von »Geist«, dessen positive Erfüllung begrifflich uneinholbar bleibt, insofern sie von einer Größe (dem Gott-Menschen) abhängig gemacht wird, die den menschlichen Verstand auflaufen lässt. Vor diesem sich zu verantworten b e d e u t e t e t w a s a n d e r e s , als jede menschliche sche (1958) und Kierkegaard (1963) den geschichtsphilosophischen Übergang durch eine Methode, die er »methodologischen Hegelianismus« nennt, nachzeichnet und erweist, wie Nietzsche die geschichtsphilosophische Vorlage durch Kierkegaard zu einer »Hiob-Situation des religiösen Denkens« ausreizt (für eine komprimierte Zusammenfassung dieser Thesen vergleiche die Zusammenfassung durch Grau selbst (1972)). 44 Kierkegaard bezeichnet seine Anti-Climacus-Schriften, wie bereits zitiert, als die »Schriften der Erfüllung«. Und auch Nietzsche markiert den Zarathustra als ›Höhepunkt‹ seines Werks insgesamt. So betont er, dass sein Zarathustra »als eine Spitze […] [der] bisherigen Bücher erscheinen soll«. (KSB 6, Nr. 375 – S. 328)

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Vorstellung von Gut und Böse fassen kann – »Glaube« ist der die »Sündhaftigkeit« aufhebende Begriff, nicht »Tugend«. 45 Für Nietzsche – das wird Teil II entwickeln – hat der Eigenname »Schopenhauer« in einer bestimmten Verwendung seines Sinns ursprünglich eine – strukturell besehen – analoge Bedeutung wie »Abraham« für Kierkegaard. Von der durch den Eigennamen »Schopenhauer« verbürgten tragischen und zugleich »Wahrheit« repräsentierenden Weltauffassung aus soll – das geht aus Schopenhauer als Erzieher hervor – eine neue, allgemein-menschlich orientierende Kulturphilosophie begründet werden. In der Entwicklung des nietzscheschen Denkens wird allerdings dem Namen »Schopenhauer« diese Ehre mehr und mehr entzogen und durch den Eigennamen »Nietzsche« und vor allem das durch diesen Eigennamen repräsentierte Opus 46 ersetzt, vor allem, insofern er Dichter des Zarathustra ist und dem Protagonisten dieses Buchs die Möglichkeit zuspricht, eine inklusive Bedeutung zu haben, die, sofern man sich an ihr ausrichteDie Frage nach dem Maßstab diskutiert Kierkegaard im zweiten Abschnitt des ersten Kapitels von Die Krankheit zum Tode, Die Stufen im Bewußtsein vom Selbst [Die Bestimmung: vor Gott]. Darin setzt Kierkegaard einen qualitativen Unterschied des »Selbst, dessen Maßstab der Mensch« ist auf der einen Seite; »eine neue Qualität und Qualifikation erhält das Selbst dadurch, daß es das Selbst Gott gegenüber ist« (KzT – 112) auf der anderen Seite. Folgende Erläuterung: »Und welche unendliche Realität bekommt das Selbst nicht dadurch, daß es sich bewußt wird, vor Gott da zu sein, wodurch es ein menschliches Selbst ist, dessen Maßstab Gott ist!« ist analytisch besehen nur suggestiver Effekt. Natürlich ist das die zentrale Pointe der anti-begrifflichen Strategie Kierkegaards: der Sinn von Christentum im Denken Kierkegaards bleibt ethisch intendierte Anti-Lehre. Aus diesem Grund etwa bricht Hennigfeld (2012) in seiner Studie zum Resignationsbegriff bei Schopenhauer und Kierkegaard genau dort ab, wo Kierkegaard von der Schilderung des Ritters der unendlichen Resignation, der selbst noch mit philosophischem Denken voraussetzungslos einholbar ist, übergeht zur Bezeichnung des Glaubensritters. Der »Einzelne« als Utopie gelingenden Lebens verweigert, um es entsprechend paradox zu formulieren, seine Bedeutung dem Begriff. 46 In Ecce Homo. Wie man wird, was man ist wird es heißen – explizit gegen Schopenhauer: »Ich erst habe den Maassstab für ›Wahrheiten‹ in der Hand, ich k a n n erst entscheiden. Wie als ob in mir ein z w e i t e s B e w u s s t s e i n gewachsen wäre, wie als ob sich in mir ›der Wille‹ ein Licht angezündet hätte über die s c h i e f e Bahn, auf der er bisher abwärts lief … Die s c h i e f e Bahn – man nannte sie den Weg zur ›Wahrheit‹ … Es ist zu Ende mit allem ›dunklen Drang‹, der g u t e Mensch gerade war sich am wenigsten des rechten Wegs bewusst … Und allen Ernstes, Niemand wusste vor mir den rechten Weg, den Weg a u f w ä r t s : erst von mir an giebt es wieder Hoffnungen, Aufgaben, vorzuschreibende Wege der Cultur – i c h b i n d e r e n f r o h e r B o t s c h a f t e r …« (EH – 355). 45

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te, gelingendes Leben verbürgen würde. Der Name »Zarathustra« ist – das wird der Abschnitt I.4.3.2 vertieft herausarbeiten –, sofern er das bezeichnet, was er wesentlich bezeichnen soll – nicht als Eigenname eines Menschen konzipiert. Am ›wesentlichsten‹ er selbst ist Zarathustra vor seinem ersten Untergang zu den Menschen und, nach und nach, wieder ab Die Heimkehr (in den folgenden Kapiteln Von den drei Bösen, Vom Geist der Schwere, Von alten und neuen Tafeln ist Zarathustra Morallehrer seiner einsamen Bestimmung nach, insofern er die gegebene Ordnung der Moral hinter sich lässt und eine neue zur Diskussion stellt) und in eminentem Sinne ab Der Genesende, wobei die Folgekapitel Von der grossen Sehnsucht, Das andere Tanzlied, Die sieben Siegel (Oder: das Ja- und Amen-Lied) Zarathustra als Dichter seiner einsamen Bestimmung nach vorführen. 47 Nietzsche schafft es durch seinen Begriff »einsamster Einsamkeit«, durch den Zarathustra wird, der er ist, als ›überbegrifflicher‹ Substanz des »Einsamen«, der prinzipiell jeder Mensch sein kann (»Einsamkeit« kann intersubjektiv nicht auf den Begriff gebracht werden, jeder hat nur seine), innerhalb des Menschlichen absolute Unterschiede zu denken. 48 Der »Einzelne« und der »Einsame« werden in dieser Studie als Utopien gelingenden Lebens erwogen und vermittelt über die Rekonstruktion der drei moralkritischen Fassungen des Ausnahmetheorems eingeholt. Entsprechend sind sie der Ausdruck der esoterischen Essenz jener Philosophien, insofern in ihnen das Bemühen der ethischen Moralkritik seine positive und doch begrifflich unvermittelbare Bedeutung erfährt. In Analogie zu dem grafisch dargestellten Vergleichsmodell lässt sich das begrifflich nicht einholbare gelingende Leben des »Einzelnen« und »Einsamen« bildlich als der Gipfel eines »Werkberges« fassen (vgl. Abschnitt I.4.4.1 bzw. I.4.4.2). Zwei Indem Heidegger fragt: Wer ist Nietzsches Zarathustra?, verkürzt er die Möglichkeiten der Antwort um diejenige, der man nur durch ein »was« beikommt. Der umfänglichste Sinn des Zarathustra – das besiegelt der Einband – ist es, Ein Buch für Alle und Keinen zu sein. 48 So hebt Nietzsche den Anspruch Feuerbachs, Theologie in Anthropologie zu übersetzen, insofern es die ›atheistische‹ Lehre des Christentums selbst ist, dass Gott Mensch, der Mensch Gott ist (vgl. Feuerbach (2008), S. 22), durch den »religiösen Atheismus [s]eines […] Herzens« (ebd., S. 50) auf in das nicht anthropologisch zu determinierende Wesen Zarathustras (und die »Lehren« bzw. »Anti-Lehren«, die dieser Name verbürgt). Wie Kierkegaard wird allerdings auch Nietzsche – gegen Feuerbach – »die Menschheit« als ein die reale Not des Menschen ästhetisierendes, und damit verhärtendes Ideologem angreifen. 47

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nebeneinander stehende Werkberge sind sich naturgemäß an den Füßen am nächsten und von den Gipfeln bemessen am fernsten. Kierkegaards »Einzelner« ist – das zeigt der nächste Abschnitt – die begrifflich unvermittelbare Aufhebung des religiösen Ausnahmetheorems und soll gelingendes Leben verbürgen, das allein als c h r i s t l i c h e Existenz Wirklichkeit haben kann. Nietzsches gelingendes Leben verbürgende Selbstkonzeption wäre entsprechend – als ›anti-christlich‹ zu bezeichnen? Dies wäre keine materielle Opposition, die für einen Vergleich taugte, da die Negierung eines Standpunktes noch keinen eigenen Standpunkt behauptet. Wie auch immer jene »Liebe über dem Mitleiden« begrifflich zu erfüllen wäre, was auch immer die weltverklärende Seele Zarathustras im positiven Sinne für eine neue Ethik bedeuten kann – feststeht, dass Nietzsche seinen Zarathustra eröffnet als ein Buch, das den christlich konzipierten, über den Gott-Menschen ausgelagerten Erlösungsanspruch einziehen und aufheben möchte, und zwar durch das Buch für alle und keinen, das dem »Einsamen«, der darin absolute Bedeutung erhält, als Gabe angeboten wird zu seiner Selbsterlösung (das zeigt der übernächste Abschnitt). Da allerdings auch Nietzsches »Einsamer« ein begrifflich unvermittelbares Konzept gelingenden Lebens ist und auch in Kierkegaards »Einzelnem« die Isolation als zerfallen vorgestellt werden muss, werden in den folgenden beiden Abschnitten die Analogien enggeführt.

I.4.3.1 Der »Einzelne« als begrifflich unvermittelbare Aufhebung des Ausnahmetheorems Es ist eine zentrale These dieser Studie, dass der »Einzelne« die begrifflich unvermittelbare Aufhebung des religiösen Ausnahmetheorems ist. 49 Diese These wird im zweiten Teil dieser Studie entwickelt, indem gezeigt werden kann, wie sich der »Einzelne« als christlich konzipierte Utopie gelingenden Lebens genealogisch aus den Problemen herausentwickelt, die für Kierkegaards Denken »Ausnahme« in

Auch de Bobadilla (1992) denkt dieser Verbindung nach, und ist, wie es These dieser Studie ist, davon überzeugt, via »Ausnahme« den zentralen Nerv von Kierkegaards Philosophie herausarbeiten zu können. Die komplizierte Argumentation Bobadillos bedenkt »Ausnahme« allein abstrakt, bewährt deren Bedeutung kaum an den existentiellen Problemen, für die sie steht.

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ihren verschiedenen Fassungen bedenkt und vor allem erlebt, insofern »Ausnahme« eine wesentlich dramatisch konzipierte Denkfigur ist. »Begrifflich unvermittelbar« heißt hier: die Ebene, auf der der »Einzelne« als dezidiert christliches Konzept gelingenden Lebens einen Unterschied machen soll zu den Problemen, welche die religiöse Ausnahme 50 hervorbringt und doch theoretisch nicht tragen kann, ist durch philosophische Begriffsarbeit unzugänglich. Das spannende an diesem Verfahren wird in jedem Fall sein, dass konkret nachempfunden werden kann, aus welchen real-lebensweltlichen Problemen und Kollisionen das Ausnahmetheorem in den »Einzelnen« mündet. In Analogie dazu ist auch die utopische Erfüllung des »Einsamen« bei Nietzsche begrifflich unvermittelbar. 51 Doch wo eigentlich wird das Konzept des »Einzelnen« entworfen, wann erhält es seine durch Kierkegaard abgesegnete Gestalt? Auch wenn man nichts über Kierkegaard weiß, eines weiß man doch: dass in seiner Philosophie sich alles um den »Einzelnen« dreht. 52 Im Die Ausnahmetheorie wird durchgängig über Narrative und Denktraditionen thematisiert, die nicht exklusiv christlich sind. 51 Nietzsche »zeigt« dies ziemlich deutlich an. So wird im Kapitel Vom Gesicht und Räthsel, in welchem Kapitel der Wiederkunftsgedanke seine mystische Weihe erhält, angedeutet, dass man durch Begriffsarbeit nicht erfassen kann, was dieser Gedanke bedeuten soll: »Euch, den kühnen Suchern, Versuchern, und wer je sich mit listigen Segeln auf furchtbare Meere einschiffte, – / euch, den Räthsel-Trunkenen, den Zwielicht-Frohen, deren Seele mit Flöten zu jedem Irr-Schlunde gelockt wird: / – denn nicht wollt ihr mit feiger Hand einem Faden nachtasten; und, wo ihr e r r a t h e n könnt, da hasst ihr es, zu e r s c h l i e s s e n – / euch allein erzähle ich das Räthsel, das ich s a h , – das Gesicht des Einsamsten. –« (Z – 197) Es wird sogar hervorgehoben, dass er nur zu jenen gesagt ist, die ihn nicht denkend begreifen wollen. Das Szenario, das Zarathustra hier schildert, ist das, was ihm selbst widerfahren wird im Kapitel Der Genesende, womit Nietzsche »zeigt«, was dieser Gedanke für Zarathustra bewirkt, wozu dieser Gedanke einen Unterschied machen soll, ohne ihn begrifflich vermitteln zu können. Stegmaier (1995) hebt für seine Explikation »inter-individuellen« Philosophierens und der durch es erwirkten ethischen Orientierung die Bedeutung des »Zeigens« hervor. Diese Studie geht – indem sie die Anti-Lehre-Konzeption an die Anti-Begriffe »Ausnahme« und »Einsamkeit« rückbindet – davon aus, dass Nietzsche gerade in seinem Zarathustra eines vor allem zeigen will: dass ethische Orientierung ohne ein wie auch immer inhaltlich zu füllendes Allgemeines, das die bloß menschliche Perspektive auf die Ordnung der menschlichen Verhältnisse überbietet, Verlassenheit, Verzweiflung ist. Schließlich zeigt Nietzsche hier, indem er Zarathustras inter-individuelle Thematisierung des Wiederkunftsgedankens erst einholen lässt in einsamster Einsamkeit, dass die (ästhetische) Sphäre des Zeigens überschritten wurde. 52 Und diese philosophisch öffentliche Meinung hat Kierkegaard als Fürsprecher. Er betont: nicht für ihn als biografische Existenz, sondern, »für [ihn, R. R.] als Denker, ist das mit dem Einzelnen das Allerentscheidendste«. (GWS – 107 f.) Gleichzeitig ist 50

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Folgenden soll – mit dem Ziel, dieses harte Wissen ein wenig zu irritieren – versucht werden, bestimmter den Ort zu markieren, wo der Einzelne als »Einzelner« entwickelt wird, der ja etwas Bestimmteres und Anspruchsvolleres repräsentieren soll als der empirische Mensch, die bloße Faktizität des menschlichen Daseins, die wie ein Fleischwolf alle Informationen und Forderungen des theoretischen und praktischen Lebens in sich hineindreht und durch die Tat zu individuellem Sinn verarbeitet, wie etwa Max Stirners »Einziger«. 53 Es gibt keine Schrift, die explizit definierte, was der »Einzelne« ist, zumindest nicht so, dass diese Definition konsistent durch das Werk sich hielte und es stützte. Ist der »Einzelne« A aus Entweder – Oder? Oder das von Wilhelm im zweiten Teil dieser Schrift zu wählende »Selbst«? Erfährt man mehr, was der »Einzelne« ist, wenn man die Erbaulichen Reden Kierkegaards liest, welche ihm ja regelmäßig gewidmet sind? Aber eine Widmung ist ja keine philosophische Begriffsarbeit. Ist der »Einzelne« der »junge Mensch« aus Die Wiederholung oder der Glaubensritter Abraham in Furcht und Zittern, in welcher exoterischen philosophischen Schrift das erste Mal vom Einzelnen als »Einzelnen« die Rede ist? Aber warum müssen dann noch weitere Schriften verfasst werden? Ist der »Einzelne« das Selbst von Die Krankheit zum Tode oder der zur Nachfolge aufgerufene Christ aus Einübung? Sucht man also in Kierkegaards Werk nach dem »Einzelnen«, so ist man ausgehend von jener Überzeugung überrascht, wie wenig direkt von ihm die Rede ist. Auffällig hingegen ist – und diese Beobachtung dürfte alles andere als belanglos sein –, dass in den Werken Kierkegaards, die auf das eigene Werk reflektieren, nun allerdings von Kierkegaard selbst der »Einzelne« als die Errungenschaft – des verfassten Werks – schlechthin gefeiert wird. Das Werk der hier besprochenen Philosophen ist in eminentem Sinne auto-erotisch bzw., trockener, selbstreferentiell und doch alles andere als unfruchtbar. Denn es erzeugt, indem es sich selbst erklärt, die in ihm selbst aufgehobene Leistung auf einen einzigen Begriff bringt – eben den »Einzelnen« –,

es erstaunlich, dass es im deutschsprachigen Raum kaum Studien gibt, die dem »Einzelnen« als solchem nachdenken. Indem die vorliegende Studie versucht, den lebendigen Sinn des »Einzelnen« konkret aus dem Problem der »Ausnahme« zu entwickeln, kann sie die Fragwürdigkeit seiner Bedeutung zuspitzen. 53 Vgl. zum Verhältnis Stirner und Kierkegaard Buber (1936), S. 300–308. Modulationen der Einsamkeit

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einen kaum zähmbaren Überschuss an Bedeutung, sofern es von Dritten ausgelegt wird und verstanden werden will. 54 Im nun Folgenden soll gesammelt werden, welche unmittelbar bedeutenden Attribute Kierkegaard in den »Schriften über sich selbst« dem »Einzelnen« zuschreibt, der, mehr denn ein begrifflich umrissenes Konzept, der »Geist« des Werkganzen überhaupt zu sein scheint. 55 Die Merkmale, die Kierkegaard dem »Einzelnen« zuschreibt, sind keine aus klaren Prämissen deduzierten und doch können sie dazu dienen, den Gedankenverlauf dieser Studie zu organisieren. Kierkegaards Schriften über sich selbst, Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller und Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller, sind zwischen 1848 und 1850 entstanden. Die Abfassung der Anti-Climacus-Schriften Die Krankheit zum Tode und Einübung im Christentum fallen in den Zeitraum um 1848 (vgl. GW – X). Die Anti-Climacus-Schriften waren also komponiert, wobei Kierkegaard zögerte, diese Schriften in die Welt zu setzen, insofern in ihnen der absolute Anspruch seiner Auffassung von ChrisDie Metapher der Autoerotik bemüht auch Pletsch (1984), S. 160–188, hier S. 188, in welchem Essay er angesichts Gesichtspunkt und Ecce Homo das Unterlaufen der Kategorie des bemessen am zeitgenössischen Diskurs zur Sache typisch »Genialen« feststellt, insofern die Selbstauslegung der Denkleistung dieser Denker durch sich selbst das Gegenteil erreicht von dem, was sie vorgibt zu sein: Klärung der eigenen Bedeutung. Seiner anstehenden, ausufernden Wirkung war sich Nietzsche wohl bewusst. So heißt es in einem späten Brief an Georg Brandes, der mit »Der Gekreuzigte« unterzeichnet ist, durchaus dämonisch: »Nachdem Du mich entdeckt hast, war es kein Kunststück mich zu finden: die Schwierigkeit ist jetzt die, mich zu verlieren …« (KSB 8, Nr. 1243 – S. 573). Es wäre in diesem Sinne vollkommen undenkbar, wie ohne die »Autogenealogie« Ecce Homo dem Wiederkunftsgedanken beispielsweise diese eminente Bedeutung zugesprochen worden wäre, der darin als die »Grundconception« (EH – 355) von Also sprach Zarathustra ausgewiesen wird, was dem Exegeten als ein Stützpunkt zu dienen scheint, obschon in diesem Werk selbst verhältnismäßig wenig Material zu jener Konzeption angeboten wird. Hier erweist sich Stegmaiers Konzept der »Anti-Lehre« als nicht mehr hintergehbare Errungenschaft der Nietzscheforschung. Es wäre eine eigene Studie wert, die entsprechenden Schriften, die den eigenen Werkwerdegang thematisieren und die eigene Persönlichkeit exponieren, zu vergleichen. Die Schnittstellen bis in die Nuancen der Formulierungen sind frappierend. Anhand des Vorsehungsbegriffs geht dem ein Stück weit Kleinert (2013) nach. 55 Man könnte versucht sein, das Konzept des »Einzelnen« in dieser umfassenden und inklusiven Bedeutung psychologisch zu deuten: Mehr als ein klar definiertes, durch philosophische Begriffsarbeit deutlich umrissenes Konzept ist ›jener Einzelne‹ eine schimmernde Patina, Ausdruck einer stolzen, halkyonischen Stimmung, die den zurückgelegten, persönlichen Denkweg in selbstzufriedenem, homogenem, konsistentem, notwendig Unebenheiten verklärendem Glanze erscheinen lässt. 54

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tentum formuliert war und ihm dieser selbst als übermäßig streng erschien. Gleichzeitig müssen sie als eminente Repräsentanten gedeutet werden für die Ortsbestimmung des »Einzelnen« in Kierkegaards Werk, da sie ja von ihrem Urheber als ›Schriften der Erfüllung‹ bezeichnet wurden, als Schriften also, in denen eine sich über mehrere Werke kontinuierlich fortsetzende Denkanstrengung an ihr endgültiges Ziel kommt und diese auf ideale Weise trägt und ausdrückt. 56 In den »Schriften über sich selbst« jedenfalls exponiert Kierkegaard in immer neuen Modulationen den Sinn, die Bedeutung seines Schaffens: dieser bricht sich wesentlich und allein im »Einzelnen«, alles drehe sich seit Anbeginn um ihn. Anhand eines für Gesichtspunkt bestimmten Auszugs, der es nicht in den finalen Druck geschafft hat, aber im Grunde verträglich ist mit den Äußerungen zum »Einzelnen« in den »Schriften über sich selbst«, kann nun veranschaulicht werden, wie Kierkegaard den »Einzelnen« materialisiert: Und vorzüglich in unsrer Zeit mußte und muß dies ethisch und existentiell so entscheidend wie möglich eingeschärft werden; vorzüglich in unserer Zeit, deren eigentümliches Böse und deren besondere Demoralisierung eben ist, in metaphysischer oder ethischer Ausschweifung abschaffen zu wollen, was die Grundfeste ist aller Sittlichkeit, Erbauung, Religiosität, nämlich ›den Einzelnen‹, und an die Stelle das Geschlecht, das eine oder andere Abstraktum, phantastische Bestimmungen der Gesellschaft u. dgl. zu setzen, was die Weltumwälzung von 1848 lediglich noch etwas deutlicher und offenbarer gemacht hat, sodaß es nun bereits ziemlich leicht zu sehen ist, daß ›der Einzelne‹ der Gesichtspunkt (point de vue) der Zukunft in Richtung auf Rettung ist, ebensowie auch der Einzelne der Durchgang ist, durch den die ›Christenheit‹ hindurch muß, dieser alle christlichen Begriffe verkehrt widerspiegelnde Sinnentrug, welcher, wo er vollständig revidiert und aufgehoben werden sollte, die Aufgabe setzen würde: das Christentum in die Christenheit einzuführen. (GW 23 – 125 f.)

Der »Einzelne« ist ein zeit- und gesellschaftskritisches Konzept. Er ist ethisch motiviert, richtet sich gegen ein Böses, das sich unzüchtig für das Gute ausgibt, und er hat im Gegensatz zu diesem offenbar einen validen Maßstab in der Hand. Seine Bedeutung bewährt sich empirisch, indem seine Missachtung menschunwürdige Zustände und Revolutionen in Gang setzte, deren unterstellte fatale Konsequenzen Veröffentlich werden die Anti-Climacus-Schriften schließlich in den Jahren 1849/ 1850 (vgl. GW – XI).

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wiederum nur durch den »Einzelnen« zum Guten hin ausgerichtet werden können. Er ist damit nicht zuletzt eine Art Korsett, ein Öhr, durch die der individuelle Wille normiert werden soll, um das wahre Gute wieder lebendig zu bewähren. Der »Einzelne« – das geht aus weiteren Passagen hervor – ist als Kategorie gegen die Tendenz einer zunehmenden Entpersönlichung ins Feld geführt, seine Bedeutung korrespondiert einer Persönlichkeit, die im verbindlichen Verhältnis zu ihren Gedanken steht. 57 Er ist eine Bestimmung der Emanzipation, insofern er eine Reaktion auf die politische Befreiung großer Bevölkerungsteile darstellt, und zugleich der Ausdruck dafür, dass es ohne die Orientierung an einem Unbedingten nicht geht, 58 dass ohne den in ihm hinterlegten Ewigkeitsaspekt, der die Menschheit in sich stimmig und gerecht ausrichtet, diese sich in lauter Chaos auflöst. 59 Der Schriftstellersein ist für Kierkegaard wie bei Nietzsche eine Lebensform, ein ›Handeln‹ und ›persönliches Existieren‹ : performatives Bewähren der Philosophie über die Schrift, den Stil (vgl. zu diesem Topos Hadot (2005), S. 136–176; vgl. auch den Sammelband von Benne und Müller (Hrsg.) (2014), welcher die ›Persönlichkeit‹ des nietzscheschen Textkorpus bedenkt). Folgende Einschätzung Kierkegaards könnte auch heute noch Bedeutung haben: »Aber was ist in unseren Zeiten, in denen es Weisheit geworden ist, wie es denn zugleich das Geheimnis des Bösen ist, daß man nicht nach dem Mitteilenden fragen soll, sondern allein nach der Mitteilung, bloß nach dem Was, dem Objektiven – was ist in unsern Zeiten ein Schriftsteller? Es ist, oft sogar wenn er namentlich bekannt ist, ein X, ein unpersönliches Etwas […]«. (GWS – 51 f.) 58 »[I]st […] das Geschlecht, oder ein großer Teil einzelner Menschen im Geschlecht dem Kindlichen entwachsen, daß ein andrer Mensch für sie der ist, der das Unbedingte darstellt: wohl, darum kann gleichwohl das Unbedingte nicht entbehrt werden, vielmehr, um so sehr viel weniger kann es entbehrt werden. Dann muß ›der Einzelne‹ selbst sich zum Unbedingten verhalten.« (WS – 17) 59 »Noch nie sind das Geschlecht und die Einzelnen in ihm (der Befehlende – der Gehorchende; der Vorgesetzte – der Unterstellte; der Lehrer – der Lehrling usw.) so wie in unserm Jahrhundert entblößt gewesen von, wenn man so will, aller Geniertheit dadurch, daß etwas unbedingt fest steht und fest stehen soll; noch nie haben sich wohl die ›Meinungen‹ (die allerverschiedenartigsten, auf den mannigfaltigsten Gebieten) so in ›Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‹ ungeniert und glücklich gefühlt unter dem Freibrief ›bis zu einem bestimmten Maß‹ : und nie wird das Geschlecht wohl so bestimmt zu spüren bekommen, daß es selbst und jeder Einzelne in ihm des bedürfe, daß etwas unbedingt fest steht und stehen soll, des bedürfe, was die Gottheit, die liebende in Liebe, erdachte, des Unbedingten, an dessen Stelle der Mensch, der gescheite zu eignem Verderben, sich selber bewundernd das bewunderte ›bis zu einem gewissen Maß‹ setzte.« (WS – 16) Bzw.: »[L]aß das Geschlecht, laß jeden Einzelnen in ihm versuchen ohne das Unbedingte zu bestehen: es ist und bleibt ein Strudel.« (WS – 16) Bzw.: »Ist die Menge das Böse, ist es das Chaos, das droht: so ist Rettung nur in Einem: der Einzelne werden, und ist der rettende Gedanke: jener Einzelne.« (GWS – 64) 57

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»Einzelne« ist ein Begriff, als dessen Begründer Sokrates behauptet werden kann und durch den er weltgeschichtliche Bedeutung erlangte, insofern die ihm korrespondierende nur persönliche, selbsterkennende Vertiefung in sich letztlich einen Wendepunkt der Weltgeschichte nach sich zog und bedeutete, welche Struktur sich in Kierkegaards Biografie eigentümlich wiederholt: die Erbaulichen Reden, die Kierkegaard nach dem Erscheinen von Entweder – Oder herausgab, waren »jenem Einzelnen« gewidmet, wobei er damit zunächst nur seine verlassene Verlobte ansprach; 60 und nach und nach erweist sich ihm der Einzelne als der Grundbegriff der Philosophie, der sich für die Zukunft als epochal bedeutend behaupten wird. Zugleich ist der »Einzelne« Ausdruck der »ewigen Wahrheit« und damit Utopie, er kann nicht gelebt werden, sein Anspruch an sich selbst ist zu ungeheuer. 61 Neben diesen die überdimensionierte Bedeutung des »Einzelnen« erfüllenden Attributen findet sich in den »Schriften über sich selbst« ein wichtiger Hinweis in systematischer Hinsicht, und zwar dort, wo Kierkegaard die Verwobenheit des »Einzelnen« mit der Vgl. GWS 23 – 32/130. »Dahingegen ist es so weit als möglich davon, daß ich, nachdem ich in diesen Jahren so viel und so angestrengt über ›den Einzelnen‹ nachgedacht habe, zu der Entscheidung gekommen wäre, daß es ein Irrtum, ein Mißverständnis sei. Nein, ich bin zu der Entscheidung gekommen, daß dieser Gedanke der Gedanke der ewigen Wahrheit ist; aber daß ihn, wenn er im größten Maßstabe durchgeführt werden soll, daß ihn dann kein Mensch aushalten kann, geschweige ein ganzes Leben, geschweige, wenn ihm sogar die Gunst versagt worden ist freigestellt zu sein von der Sorge um das Auskommen. Die Wahrheit in einem Einzelnen das ist reinste Geistesmacht, heißt aber gleichzeitig allem Irdischen und Zeitlichen entsagen und seiner unbedingt verlustig gehen nach einem Maßstabe als ob man reiner Geist wäre.« (GW – 151 f.) An dieser Stelle lässt sich abermals eine Analogie zu Nietzsches Utopie gelingenden Lebens heraushören, die ja – wollte man sie substantiell auslegen – durch den Gedanken der ewigen Wiederkunft getragen werden müsste, welcher zur Voraussetzung hat das Durchdringen zum Raum »einsamster Einsamkeit«. In Das grösste Schwergewicht jedenfalls, in welchem dieser janusköpfige Gedanke das erste Mal benannt wird, ist seine utopisch-ethische Bedeutung die federführende. So lautet der Beschluss dieses Aphorismus: »Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und Jedem ›willst du diess noch einmal und noch unzählige Male?‹ würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts m e h r z u v e r l a n g e n , als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung? –« (FW – 570) Für eine klassische Auslegung des Wiederkunftsgedankens in seiner ethischen Bedeutung ist im Übrigen Simmel (1995) zu konsultieren.

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»Ausnahme« thematisiert. Kierkegaard betont, dass in seinen pseudonymen Werken, wobei hier vor allem gemeint sein müssen das Initialwerk Entweder – Oder, Die Wiederholung, Furcht und Zittern und Stadien, vom »Einzelnen« die Rede ist, aber in einer nur vorläufigen, provisorischen Form, nicht in seinem vollgültigen Sinne bzw. nur einseitig. So betont Kierkegaard in Beilage zum Gesichtspunkt, Nr. 2. Ein Wort über das Verhältnis, das meine Wirksamkeit als Schriftsteller zu ›dem Einzelnen‹ hat selbst ausdrücklich, dass der Begriff, die Dialektik des »Einzelnen« von Anbeginn zweideutig gehalten wurde, dass in seinen pseudonymen Schriften »der Einzelne« da ist, »aber überwiegend ist dabei der Einzelne der, welcher, gemäß der Auffassung des Ästhetischen, der Einzelne im Sinne des Vorzuges ist, der Ausgezeichnete u. dgl.«. (GWS – 109) Dagegen sei in den Erbaulichen Reden von Anfang an vom »Einzelnen« dahingehend die Rede, als in ihnen der »Einzelne« ist, was jeder Mensch ist. »Der Ausgangspunkt der Pseudonyme ist nämlich beim Unterschied zwischen Mensch und Mensch hinsichtlich Geistigkeit, Bildung usw.; der Ausgangspunkt der erbaulichen Reden ist beim Erbaulichen, somit beim Allgemein-Menschlichen.« (GWS – 109) In systematischer Hinsicht wichtig ist der Hinweis, dass die Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift von Johannes Climacus die pseudonyme Schriftstellerei beendet. Diese Tatsache erwähnt Kierkegaard hier explizit als einen Umbruch in der Darstellung, die Nachschrift sei ein »Fragmal«, 62 womit die religiöse Schriftstellerei ihrer ästhetischen Darstellungsweise entbunden wird. »Von diesem Augenblick an hört das Aufschimmern des unmittelbaren Religiösen auf; denn nunmehr stellt sich die rein religiöse Schriftstellerei ein: ›Erbauliche Reden in verschiedenem Geist‹ ; ›Die Taten der Liebe‹ ; ›Christliche Reden‹.« (WS – 7) Das heißt: hier wird die dialektische Bedeutung des »Einzelnen« nicht mehr auf zwei Ebenen der Darstellung auseinandergehalten, sondern durch die paradoxe Darstellung der christlichen Ethik selbst zusammengehalten, was exemplarisch gelingt in den Anti-Climacus-SchrifFür Nietzsche ist die Abfassung von Also sprach Zarathustra, was hier noch einmal erhärtet werden kann, ein Umbruch in der Organisation seines Werkganzen. So heißt es in Ecce Homo, den Ort von Jenseits umreißend: »Die Aufgabe für die nunmehr folgenden Jahre war so streng als möglich vorgezeichnet. Nachdem der jasagende Theil meiner Aufgabe gelöst war, kam die neinsagende, n e i n t h u e n d e Hälfte derselben an die Reihe: die Umwerthung der bisherigen Werthe selbst, der grosse Krieg, – die Heraufbeschwörung eines Tags der Entscheidung. Hier ist eingerechnet der langsame Umblick nach Verwandten […]«. (EH – 350)

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ten. Kierkegaard fasst seine systematischen Gedanken zur Dialektik des »Einzelnen« zusammen: »Aber dies zwiefache ist eben die Dialektik ›des Einzelnen‹. ›Der Einzelne‹ kann bedeuten der Einzige von allen, und ›der Einzelne‹ kann bedeuten Jedermann«. (GWS – 109) Im Vorblick auf die grafische Darstellung des hier entworfenen Vergleichsmodells kann zusammengefasst werden: Die drei konstruktiv unterschiedenen Fassungen des Ausnahmetheorems formulieren sich in den Schriften Entweder – Oder, Die Wiederholung und Stadien auf des Lebens Weg, wobei Furcht und Zittern eine Sonderrolle zukommt, insofern in diesem Werk bereits vom Einzelnen als »Einzelnen« die Rede ist, allerdings in unverbindlich ästhetisierender Manier. 63 Der »Einzelne« soll einen Unterschied machen zu den Problemen, für die die Möglichkeit von Ausnahmen steht, und doch ist dieser Ort, worin dieser Unterschied gemacht wird, begrifflich nicht einholbar. 64 Es ist die Leistung des Pseudonyms Anti-Climacus, die hier ausgelegten zwei Momente des »Einzelnen« zusammenzuhalten, die bis zum »Fragmal« parallel nebeneinanderher liefen: der »Einzelne« im Sinne seiner typisch menschlichen Bedeutung (diese wird über das Attribut »christlich« vermittelt) und der »Einzelne« in seiner Bedeutung den natürlichen Differenzen nach bemessen. Wirft man einen Blick auf das Werkganze, dann ist der es zusammenhaltende »Geist«, so wurde metaphorisch gesagt, der »Einzelne«, so wie in Nietzsches Werk als Ganzem der »Einsame« – gelesen als ethische Moralkritik exemplarischen Denkens – tragende Bedeutung hat. Die hier verteidigte These der begrifflich unvermittelbaren Aufhebung von »Ausnahme« durch den »Einzelnen« bedeutet also nicht, dass erst mit dem Abschluss des pseudonymen Werks der »Einzelne« plötzlich auftaucht. Es wird vielmehr behauptet, dass in Anti-Climacus, der die Schriften der Erfüllung dichtet, f ü r K i e r k e g a a r d der ursprünglich an sich selbst formulierte Anspruch gelingt, nämlich Aus diesem Grund ist in der Grafik die Sigle zu Furcht und Zittern aus der Sphäre der Verlassenheit ausgelagert; dieses Werk konturiert der Möglichkeit nach, was in den Anti-Climacus-Schriften seiner Idealität nach zum Ausdruck kommt: einen allgemein-menschlichen Orientierungsmaßstab, der die Sphäre der Moral im Prinzip überbietet und also verwandelt. 64 Der Sachverhalt der begrifflich unvermittelbaren Aufhebung wird im grafisch dargestellten Vergleichsmodell durch die gestrichelte Linie markiert, die von der Peripherie des Kreises zur Sonne führt. Die Linie ist deswegen gestrichelt, da die positive Bedeutung der Sonne begrifflich unvermittelbar ist, eben utopisch bleibt. Sie bedeutet zugleich das überwinden der Zone der Verlassenheit. 63

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dichtend einen Raum zu umreißen, vor dem es keine Ausnahmen gibt, insofern kein Mensch bestimmt als »Geist« davon ausgenommen ist, sich vor Gott zu verantworten.

I.4.3.2 Der Zerfall der Isolation im »Einsamen« Das exemplarische Denken Kierkegaards und Nietzsches nimmt, so wird hier vorausgesetzt, an der Erfahrung real-gesellschaftlicher Isoliertheit Anstoß und formuliert es als sein Ziel, diese zum Zerfall zu bringen. Das gelingt bei Kierkegaard und Nietzsche weder durch die Übersetzung der Theologie in Anthropologie und die dadurch möglich seinsollende Orientierung am Wesen der »Gattung« selbst (Feuerbach), noch durch die Revolution der Gesellschaftsverhältnisse und der durch sie erwirkten Aufhebung der Herrschaft des Menschen über den Menschen (Marx). Sowohl Kierkegaard als auch Nietzsche gehen von der Ungleichheit der Menschen aus, sofern man sie bloß weltlich denkt, womit die Arbeit des Denkens ins Innere (Privilegierter) verlagert wird; und in dieser kritischen Arbeit spiegeln sich prismatisch Ahnungen von gelingendem Leben als einer Gemeinschaft im Geiste. 65 Das exemplarische Denken Kierkegaards und Nietzsches orientiert sich am Raum »einsamster Einsamkeit«, dem Raum, aus dem eine absolut inklusive Liebe, »Sonne« hervorscheint, und erfüllt sich in den Schriften, welche von dieser Idealität her dichten. Darin löst es seiner philosophischen Idealität nach ein, was als Möglichkeit bereits im Ursprung der Denkbewegung vorausgesetzt wurde, insofern in den Anti-Climacus-Schriften und im Zarathustra ein Begriff von »Geist« bemüht wird, dessen positive Bedeutung den Menschen als dieses einzelne Exemplar und den Menschen als Menschen umschließt und orientiert derart, dass es vor der ihn erfüllenden Liebe seinem idealen Sinn nach keine Ausnahmen gibt. 66 Dieser in diesen Man müsste prüfen, inwieweit der »Einzelne« und der »Einsame« als Utopien gelingenden Lebens auch politische Utopien sind. 66 Hier wird die Überzeugung vertreten, dass weder Kierkegaard noch Nietzsche Anthropologien formulieren, auch wenn sie die Frage nach dem Menschen ausreizen. Beide Denker brechen auf dem Gipfel ihrer Schaffenskraft durch einen Begriff von »Geist« vor »Gott« bzw. »Zarathustra« (vergleiche hierzu die berühmte Einleitung zu Die Krankheit zum Tode und die korrespondierenden drei Verwandlungen des Geistes (!) im Zarathustra) die Frage nach dem Menschen utopisch: Genauso wie 65

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Werken veranschlagte »Geist« ist dabei die Freilegung des ursprünglichen bzw. ursprünglich neuen allgemein-menschlichen Orientierungsmaßstabs, und damit die Überbietung der innerhalb des Kierkegaards »Christ« übermenschlichen Wesens ist, ist Nietzsches Lehrer des Übermenschen nicht von dieser Welt – womit sie sich nicht mit dem Logos dieser Welt als weltlichem festlegen lassen (vgl. für Kierkegaard insbesondere die Unterscheidung des Begriffs »Maßstab« in KzT – 113–116 und das Hintersich- und Untersichlassen alles Menschlichen im Zarathustra nach dem Kapitel Die Heimkehr und folgenden. Im Übrigen unternimmt Clayton (1985), S. 179–200 die naheliegende Analogisierung der drei Verwandlungen des Geistes (Kamel/Löwe/Kind) mit Kierkegaards Stadienlehre (Ästhetik/Ethik/Religion), wobei er der Versuchung erliegt, Kierkegaards Sphäre der Ästhetik mit Nietzsches »Kind« auf eine Ebene zu stellen, wird doch in Nietzsches Philosophie zuletzt alles über die Linse der Ästhetik gebrochen (Miles (2007), S. 453–455 kritisiert diese Umlagerung zurecht, da sie voraussetzt, was es zu erhellen gilt: was genau ›Ästhetik‹ etc. bedeutet). Diese Studie, welche sich vor allem dem Nachzeichnen der Dynamiken des exemplarischen Denkens zur Eruierung eines Vergleichsmodells verschreibt, kann keine Inhalte, die womöglich zu solchen Parallelisierungen berechtigen, voraussetzen. Während Clayton sich also animiert sieht, durch die Unterstellung inhaltlicher Differenzen die Unterscheidungen Nietzsches zu Zwecken eines inhaltlichen Vergleichs auf den Kopf zu stellen, so rüttelt der hier unternommene Vergleich nicht an der hierarchisch ausgerichteten Teleologie der Sphären bzw. Unterscheidungen und hält offen, was diese Unterscheidungen konkret bedeuten wollen. Auch unmittelbar materiell sich festlegende Äußerungen, wie sie früh schon Schrey (1971) formuliert, der mit Löwith Kierkegaard und Nietzsche vom Nihilismusproblem her parallelisiert und in seiner Gegenüberstellung von Religion auf der einen und Ästhetik auf der anderen Seite auf das Problem der »Einsamkeit« aufmerksam ist, und etwa lauten: »Wenn Kierkegaard sagt: ›Subjektivität ist die Wahrheit‹ und den Einzelnen als den Menschen in seiner Eigentlichkeit erkennt, so ist das toto coelo verschieden von dem Einsamen Nietzsches. Der Einzelne Kierkegaards steht nicht in seinem eigenen Horizont, sondern ist Einzelner vor Gott […]« (S. 104) bzw., mit dann durchschlagender Präferenz für Kierkegaard: »In der Kategorie des Einzelnen wird das Geheimnis der Erwählung sichtbar, denn durch das Herausgerufensein des Glaubenden aus der Welt wird er gerade ein Einzelner. Nietzsches Einsamer, sein Genie und sein Übermensch dagegen überwinden den Ekel und das Ressentiment nicht, weil sie zu sehr im Negativen bleiben, zu sehr sich auf der Flucht befinden, als daß sie den starken positiven Zug hätten, den Kierkegaards Einzelner trägt.« (S. 105) – derartige materielle Festlegungen erwachsen dem methodischen Selbstbewusstsein dieser Studie nicht, da in Schreys Setzungen philosophisch streng genommen vollkommen offen bleibt, was denn nun den »Einzelnen« und den »Einsamen« unterscheidet; dass der eine ein »Christ« und der andere das Gegenteil davon wäre, sind rhetorische Suggestionen, die erklären, was sich aus anschaulicher Ebene von selbst ergibt, sind die (oft pathetische) Verlagerung der Not, Begriffe zu klären, nicht die Klärung der Begriffe selbst. Freilich muss auch die vorliegende Studie sich, um zur Sache zu kommen, an spezifischen Inhalten abarbeiten, die inhaltliche Unterschiede markieren; allein, der hier entworfene, noch zu entwickelnde und schließlich zu erprobende Vergleichsmaßstab interessiert sich vorrangig für das Wie des Philosophierens. Modulationen der Einsamkeit

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Menschlichen befangenen Unterscheidungen des Menschen von sich selbst. Wenn die These sinnvoll vertreten werden kann, dass im Raum »einsamster Einsamkeit« das Wesentliche beider Denker sich zutragen soll, dann müsste wie erwähnt gerade »hier« der entscheidende Unterschied des »Einzelnen« und des »Einsamen« in den Blick kommen. Entsprechend soll vorbereitend gezeigt werden, wie das Denken vom Zerfall der Isolation her bei Nietzsche eine Umwertung der christlichen Gabeauffassung und die Aufhebung ihres über den Gott-Menschen vermittelten Wahrheits- und Erlösungsanspruchs bedeuten will, 67 wobei wie gesagt eine materielle Anti-These zu Kierkegaards »Einzelnem« in dieser Studie nicht erwogen wird. Im Folgenden wird nachgezeichnet, wie Nietzsche mit dem Namen »Zarathustra« an Narrative jüdisch-christlicher Weltauslegung andockt, um diese – nach dem ›Tod Gottes‹ – zu verwandeln. Zarathustra verlässt in seinem dreißigsten Jahr seine Heimat und den See seiner Heimat. Es werden keine Gründe genannt, weshalb Zarathustra den Ort des Herkommens verlässt. Abraham wurde von Gott berufen, den Ort seines Herkommens zu verlassen, um … Jesus von Nazareth ist dreißig Jahre alt, als er unter die Menschen geht, um … Es ist kein Gott, der Zarathustra von seiner sozialen Lebenswelt abzieht, sondern sein freiwilliger Entschluss. Und er ist 30 Jahre alt, als er die Menschen verlässt, um zehn Jahre »seines Geistes und seiner Einsamkeit« (Z – 11) zu genießen, ohne dessen müde zu werden. Zarathustra ist sich zunächst selbst genug in seinem Element »Einsamkeit«, ist hier ganz bei sich, ohne Schmerzen des Entzugs und der Entbehrung. Auch dieser Sachverhalt ist im Kern eine Umwertung ursprünglich menschlicher, religiöser wie philosophischer Grundüberzeugungen. So ist es die Einsicht desjenigen, der bei entsprechenden Religionen als Erschaffer der Welt und des Lebens gilt, dass es nicht gut sei, dass der Mensch alleine ist, wobei er ihm die Macht gibt, Tieren und Vögeln einen Namen zu geben, um Gesellschaft zu haben, die bald um die einer Gefährtin ergänzt wird. Auch Aristoteles etwa denkt den Menschen als ein ursprünglich geselliges Wesen. Die hier

Also sprach Zarathustra heißt im Untertitel »Ein Buch für Alle und Keinen« und hebt damit in die esoterische Essenz des durch Zarathustra absolut aufgewerteten »Einsamen« – strukturell besehen – auf, was Kierkegaard als die Dialektik des »Einzelnen« vorstellte, welche allein dann gelingendes Leben verbürgen können soll, sofern sie sich über ein Gottesverhältnis bestimmt.

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vorbereitete Argumentation, wollte sie nun als Antithese formulieren, dass Zarathustra diesen Sachverhalt der ursprünglichen Sozialität des Menschen umkehrt, indem er zeigt, dass es sich gerade in Einsamkeit gut leben lässt, wäre ihrerseits einem Vorurteil erlegen: dem Vorurteil, dass Zarathustra auf seiner Höhe »Mensch« ist. 68 Was Zarathustra ist, während er sich und seinen Geist und seine Einsamkeit zehn Jahre lang genießt, lässt sich nicht sagen, er ist jedenfalls kein Mensch. Er erhebt erst dann als Sprecher die menschlich vernehmbare Stimme, nachdem sich nach 10-jähriger Selbstverwandlung in und zu seliger Selbsttransparenz endlich sein Herz verwandelt hat. Es tritt ein neues Element in Erscheinung: die Sonne. Sie nötigt Zarathustra zur Rede. Dieser unterstellt der in der Philosophietradition verbindlichen Metapher für Erkenntnis, die Sonne also personifizierend – sich dabei selbsterhellend – absolute Abhängigkeit von denen und wesentliche Angewiesenheit auf diejenigen, für die sie ist: »›Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest! […]‹« (Z – 11) Aus dem Kontext dieser Ansprache wird allerdings deutlich, dass die hier angesprochenen »Die« nicht die Menschen im Allgemeinen sind, sondern zunächst nur Zarathustra und seine Tiere, Schlange und Adler. Zwischen Sonne und Mensch muss – hier liegt der noch unausdrückliche Sinn der Umwertungsszenerie – durch Zarathustra als Vermittler ein neuer Bund geknüpft werden: Gott ist tot, aber die Sonne als ursprünglich lebensbedingendes Element hört damit nicht auf, unbedingt verbindlich für den Menschen zu sein, sofern es möglich sein sollte, ihren Sinn neu auszulegen. Zarathustras unwillkürlicher Wille, »wieder Mensch werden« (Z – 12) zu wollen, entspricht – das will Nietzsche durch dieses mit Bedeutung aufgeladene Anspielungsszenario zu verstehen geben – der Motivation, wie sie Zarathustra selbstherrlich dem Tun der Sonne unterstellte. Er will, so könnte man in Anspielung auf den § 125 von Die fröhliche Wissenschaft sagen, die Erde wieder an die Sonne anbinden, nachdem die Erde, moralisch perspektiviert, von ihr losgekettet wurde. So wie die Sonne auf Zarathustra absolut angewiesen war – denn ohne ihn wäre ihr Verlauf geradezu umsonst, 68 Die hier gedichtete Idealität von »Einsamkeit«, so wie sie in Zarathustra geschildert wird, darf nicht für Nietzsches persönliche Ansicht genommen werden. Sie ist Dichtung, Umwertung einer allgemeinen, unter Umständen gravierenden und desaströsen Isolationserfahrung. Die »Apotheose« der Einsamkeit (vgl. Lämmert (1987)) ist, um die Überlegungen zurückzuspannen an das für das »moralische Interregnum« Geltende, verklärende Überbrückung einer Epoche des Übergangs.

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sinnlos, orientierungslos (so unterstellt zumindest Zarathustras Selbstherrlichkeit) –, so ist Zarathustra abhängig vom und angewiesen auf den Menschen, der ihn zu dem macht, was er ist. 69 Dass Zarathustra wieder Mensch werden will, liegt weder in der Hand Zarathustras noch im Ermessungsspielraum des Menschen, beides ist, wie der Lauf der Sonne, notwendig und geschieht unbedingt. Dass der Mensch allerdings sich begegnet, wenn er Zarathustra begegnet, ist unausweichlich gesetzt, genauso wie Zarathustra sich im eminenten Sinne begegnete in seinem solitären, ungetrübten, transparenten Selbstsein als Geistwesen, an dem er mit seinem Untergang die Menschen teilhaben lassen muss. Ein weiterer wichtiger Denkraum, in dem es um die Umwertung christlichen Ideenguts geht, ist Zarathustras Begegnung mit dem religiösen Greis im Walde, den er im Übergang zum Volk antrifft, wobei gewisse Bekanntschaft und Vertrautheit beider Charaktere vorausgesetzt wird. Der Greis, der später auch als »Heiliger« bezeichnet wird, bezeichnet die qualitative Ebene des Menschseins, zu der Zarathustra mit seinem neuen Wissen vom Menschen einen Unterschied machen soll, ohne dass sich direkt mitteilen ließe, was er ist bzw. bedeutet. 70 Zunächst erfährt man aus dieser Begegnung erstens, dass Zarathustra wieder dahin geht, woher er kam: Anders verstanden Das exemplarische Denken Kierkegaards und Nietzsches (wie gesehen bei Letzterem noch nicht in den Erstlingen) formuliert seinen Anspruch indirekt vermittelt. Kierkegaard, der noch »Gott« denkt, bezeichnet seine Methode des »indirekten Mitteilens« auch als ein Hineintäuschen in »das Wahre«. Nietzsches Form indirekten Mitteilens ist dagegen in sich gebrochen, da es »das Wahre« als die den Begriff orientierende Idee nicht mehr gibt. Die Charakterisierung seines Zarathustra als eines »Dithyrambus auf die Einsamkeit« lautet als vollständiger Satz: »Mein ganzer Zarathustra ist ein Dithyrambus auf die Einsamkeit, oder, wenn man mich verstanden hat, auf die R e i n h e i t … Zum Glück nicht auf die r e i n e T h o r h e i t . – Wer Augen für Farben hat, wird ihn diamanten nennen. –« (EH – 276) Ein »Diamant« (aus dem griech. »adámas« = »unbestechlich«, »unbezwingbar«) ist bekannt wegen seiner Härte und ist vor allem in einem negativ-utopischen, unbesonnten Raum vorzustellen als transparent, durchsichtig, ledig jeder spezifischen Farbe. Es liegt also nicht an »Zarathustra«, welche Farbtöne er widerspiegelt; deswegen die jedes spezifische Attribut aufhebende Formulierung Nietzsches: »wer Augen für Farben hat, wird ihn diamanten nennen.« In welchen Farbtönen dieses Buch den Reichtum seiner Reinheit widerspiegelt, liegt mit an den Menschen, die ihn beschauen. 70 Die Möglichkeit, dass Nietzsche sich hier mit seinem Erzieher auseinandersetzt, der trotz seines Atheismus an die Bedeutung von »Askese« glaubte und damit an die sittlich geordnete Welt, liegt auf der Hand und wird in dieser Studie nachhaltig erhärtet. 69

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würde es keinen Sinn machen, dass ihn der Heilige in folgenden Worten wiedererkennt: »Nicht fremd ist mir dieser Wanderer: vor manchem Jahre gieng er hier vorbei. […] Damals trugst du deine Asche zu Berge: willst du heute dein Feuer in die Thäler tragen?« (Z – 12) Damit und mit den folgenden Beschreibungen Zarathustras durch den Heiligen fällt indirekt, aber unwillkürlich ein liebloses Licht auf diesen. Der asketische Greis nämlich isoliert sich freiwillig von Seinesgleichen, fühlt sich den Menschen nicht verbunden, verachtet diese vielmehr als Eremit aus sicherer Distanz, wobei ihn scheinbar doch zunächst ein solides Wissen von den Dynamiken des bestehenden Allgemeinen dazu berechtigt, sich auszunehmen. 71 Anders Zarathustra: er fühlt sich seinem ursprünglichen Herkommen innerlich verbunden, und sein Wissen selbst nötigte ihn, sich von seinem überweltlichen Element zu entbinden: Zarathustra muss emanieren, er drängt zu neuer Vergemeinschaftung, er kann sich nicht bewahren. Gleichzeitig erfährt man über Zarathustra, dass sein Auge »rein« und sein Mund des Ekels bar sei, was wiederum voraussetzt, dass Zarathustra – bevor er den Ort seines Herkommens verließ – anders aussah. »Reinheit« ist ein Attribut von Heiligkeit im klassischen Sinne. Wenn nun der Heilige Zarathustra als aufgrund von 10-jähriger Einsamkeit gereinigt empfindet, dann muss man wie angedeutet davon ausgehen, dass Zarathustra einen Unterschied machen will zur herkömmlichen, über eine moralische Hinterwelt und damit über tradierte Irrtümer vermittelten Heiligkeit, ohne doch das, was sie einst zu bedeuten hatte, durchzustreichen. 72 Der Greis wird als jemand inszeniert, der aufgrund falschen Bewusstseins auf halber Strecke stehen bleibt. Seine ironische Isolierung vom bestehenden Allgemeinen ist einerseits berechtigt, andererseits fehlt ihm angesichts der Moderne die Möglichkeit, für die »Zarathustra« steht und die den Weg zurück in die Welt bahnt. Dieser Aspekt der »Doppelbewegung« ist auch für Kierkegaards Denken im Ansatz, bereits in der kritischen Auseinandersetzung mit der romantischen Ironie als zugleich wahr und unwahr, entscheidend und moduliert sich durch sein Schaffen immer wieder neu (vgl. zur systematischen Entfaltung dieser These wiederum Soderquist (2007)). 72 In Jenseits von Gut und Böse spricht Nietzsche mit eigentümlicher Ehrfurcht und nicht ironisch vom Phänomen der Heiligkeit. »Was am tiefsten zwei Menschen trennt, das ist ein verschiedener Sinn und Grad der Reinlichkeit. Was hilft alle Bravheit und gegenseitige Nützlichkeit, was hilft aller guter Wille für einander: zuletzt bleibt es dabei – sie ›können sich nicht riechen!‹ Der höchste Instinkt der Reinlichkeit stellt den mit ihm Behafteten in die wunderlichste und gefährlichste Vereinsamung, als einen Heiligen: denn eben das ist Heiligkeit – die höchste Vergeistigung des genannten Instinktes. Irgend ein Mitwissen um eine unbeschreibliche Fülle im Glück des Bades, irgend eine Brunst und Durstigkeit, welche die Seele beständig aus der 71

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Ein weiterer damit zusammenhängender Aspekt ist die Unterschiedenheit der Liebe beider Protagonisten des – im Bilde des »moralischen Interregnums« gesagt – »Übergangs« als eines »nachläufigen« von einem »vorläufigen«. Der Heilige versteht Zarathustras Rückkehr zu den Menschen nicht aufgrund einer divergierenden Auffassung von »Liebe«. Nachdem der Heilige festhält: »Wie im Meere lebtest du in der Einsamkeit, und das Meer trug dich«, drängt er Zarathustra förmlich in eine reaktive Stellung mit folgenden Fragen: »Wehe, du willst an’s Land steigen? Wehe, du willst deinen Leib wieder selber schleppen?« (Z – 12) Zarathustra, der eigentlich in diesem seinen ersten Untergang nichts lieber machen will, als die Mitmenschen endlich aus dem Schlummer ihrer Geistlosigkeit zu reißen, wird von den Anfragen des Heiligen geradezu gestellt. Entsprechend kurz und bündig, ungeduldig und klar, aber auch unklug und selbstverräterisch ist seine Antwort: »›Ich liebe den Menschen.‹« (Z – 13) An diesem Satz ist zweierlei bedeutsam: Zum einen ist nun der spezifische Sinn des Untergangs Zarathustras – allgemein-menschlich und intuitiv näher verständlich – umrissen. Der Sonne Lauf und Wirken als Metapher der Erkenntnis würde in der Tradition der Liebe zur Weisheit nicht derart verbindlich geworden sein, wenn in ihren Äußerungen und Wirkungen nicht abzulesen wäre, was auch der Natur der menschlichen Vernunft entspricht: ausnahmslos alle anzusprechen und verbindlich zu orientieren. Zum anderen ist die Tatsache bedeutsam, dass Nietzsche die Antwort Zarathustras in Anführungsstriche setzt, womit die Bedeutung des Gesagten ver- bzw. aufgeschoben wird. Das, was Zarathustra bewegt, unter Menschen zu gehen, ist nur gleichsam das, was die Menschen »Liebe« nennen, wesentlich allerdings – hier und jetzt – unnennbar. Zarathustra ist dabei, sich in die Form »Mensch« einzulassen und damit in eine spezifische Gestalt zu verhärten, wodurch der ursprünglich reine und unbedingte Impuls (»Ich liebe den Menschen«), wieder Mensch werden zu wollen, verzerrt wird. Leichtsinnigerweise direkt ausgedrückt und damit sofort verloren wird diese Antwort denn auch vom Heiligen missverstanden und – aufgrund von Erfahrungen wohl, welche dieser in Sachen zwischenmenschlicher Liebe machen musste – bestürzt abgewehrt: »Warum, sagte der Heilige, gieng ich doch in den Wald und die EinNacht in den Morgen und aus dem Trüben, der ›Trübsal‹, in’s Helle, Glänzende, Tiefe, Feine treibt –: eben so sehr als ein solcher Hang a u s z e i c h n e t – es ist ein vornehmer Hang –, t r e n n t er auch. – […]«. (JGB – 226)

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öde? War es nicht, weil ich die Menschen allzu sehr liebte? / Jetzt liebe ich Gott: die Menschen liebe ich nicht. Der Mensch ist mir eine zu unvollkommene Sache. Liebe zum Menschen würde mich umbringen.« (Z – 13) Zarathustras Setzung unbedingter Menschenliebe tritt bei seinem Alter-Ego Erinnerungen los. Das, was der Heilige unter Liebe versteht, hatte auf Dauer keinen Bestand unter Menschen. Durch Enttäuschungen verbittert, entzog er seine nach gelingender Gemeinschaft aspirierenden Affekte ihrem ursprünglichen Objekt und zog sich, mit einer – aus der Perspektive Nietzsches – exklusiven, fixen Idee im Kopf, »Gott«, in sich selbst zurück, isolierte sich – aufgrund seiner spezifischen Erfahrungen womöglich berechtigt, aber gemessen am Wissen Zarathustras – unberechtigterweise. Zarathustra sieht die Wirkung seiner Äußerung im Heiligen und verpackt, psychologisch beruhigend, den Sinn seines Tuns in andere Worte, die die Entgegnungen des Heiligen umpolen, umorientieren müssen. So erwidert Zarathustra, beschwichtigend und seinen unbedingten Anspruch semantisch zerstreuend durch die Vermittlung seines Anspruchs in die Äußerung seiner Form, bar substantieller Verheißung: »›Was sprach ich von Liebe! Ich bringe den Menschen ein Geschenk.‹« (Z – 13) In dieser Übergangsszene – die im Vorübergehen die Umwertung des christlichen Konzeptes von »Gabe« bedeutet – ereignet sich auf gedrängtem Raum sehr viel. Hatte Nietzsche sich von einem herkömmlichen Begriff von »Liebe« distanziert, indem er die Ansage Zarathustras in Anführungsstriche setzte, ohne doch exklusiv und unverständlich sein zu wollen, distanziert sich nun Zarathustra erneut von seinem Allsatz, indem er seinen Sinn, vermeintlich für den Heiligen näher verständlich, neu auslegt und ihn damit ursprünglich verwandelt. Glaubt man bei »Liebe« unmittelbar zu verstehen, was gemeint ist, so ist »Geschenk« vermittelt, sein Inhalt ist offen. 73 Auch Zarathustras als erhellende Verharmlosung gemeinte Äußerung, »Was sprach ich von Liebe! Ich bringe den Menschen ein Nietzsche hebt den über den Gott-Menschen vermittelten Anspruch auf Erlösung auf, insofern der anstehende Leidensweg Zarathustras dem »Einsamen« zeigt, wie und vor allem dass er sich selbst zu erlösen hat. Was Sommer (2013a) angesichts Der Antichrist herausarbeitet, gilt bezogen auf »Gabe« bereits für Zarathustra: »Die Buchreligion Christentum wird durch ein Buch aufgehoben.« (S. 19) Diese These kann erst im zweiten Teil dieser Studie nachhaltig entwickelt werden, und zwar dort, wo die abgründige Forderung Zarathustras, die er im Kapitel Vom Biss der Natter ausspricht: »Hütet euch, den Einsiedler zu beleidigen! Thatet ihr’s aber, nun, so tödtet ihn auch noch!« (Z – 89), interpretiert werden wird (vgl. Abschnitt II.3.1.1). 73

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Geschenk«, stößt im Heiligen Unverdautes sauer auf: »Gieb ihnen Nichts, sagte der Heilige. Nimm ihnen lieber Etwas ab und trage es mit ihnen – das wird ihnen am wohlsten thun: wenn es dir nur wohlthut / Und willst du ihnen geben, so gieb nicht mehr, als ein Almosen, und lass sie noch darum betteln!« (Z – 13) Nietzsche legt hier dem Heiligen – für ihn selbst unkonstruktiv – ein Wissen um die Psychologie des Menschlichen, Allzumenschlichen auf die Zunge, um zu zeigen, worin Zarathustras Neues im Denken des Gebens liegt. Dabei ist diese Perspektive auf den Sinn von »Schenken« eine diametral entgegengesetzte. 74 Die Entgegnung des Heiligen speist sich aus Rückschlüssen über sozialpsychologische Dynamiken. Seine Beobachtungen und die daraus resultierenden Entscheidungen (Waldeseinsamkeit als quasi innere Emigration) haben allein negativen Sinn. Der Heilige stellt sich allerdings mit folgenden Worten qualitativ auf dieselbe Ebene wie Zarathustra, unterstellt diesem sogar unverbesserliche Naivität: Der Heilige lachte über Zarathustra und sprach also: So sieh zu, dass sie deine Schätze annehmen! Sie sind misstrauisch gegen die Einsiedler und glauben nicht, dass wir kommen, um zu schenken. / Unsre Schritte klingen ihnen zu einsam durch die Gassen. Und wie wenn sie Nachts in ihren Betten einen Mann gehen hören, lange bevor die Sonne aufsteht, so fragen sie sich wohl: wohin will der Dieb? (Z – 13)

Zarathustra schont den Heiligen, indem er ihn in seinem Unwissen belässt, so, als hätte er Respekt und Sympathie für seine Wahl des einsamen Gottlobens durch Gesang. Die Frage des Heiligen, was Zarathustra ihm und den Menschen zum Geschenk bringe, ist für diesen das Signal zum Weitergehen. Zarathustra, der ›Mann‹, lässt dem Greisen aus Ehrfurcht, was er hat: »›Was hätte ich euch zu geben! Aber lasst mich schnell davon, dass ich euch Nichts nehme!‹« (Z – 13 f.) Um die hier entworfene ›Krönung‹ des Vergleichsmodells zusammenzufassen: Während Kierkegaard durch Anti-Climacus den Die Ausdeutung Nietzsches als eines Gabetheoretikers scheint in der Forschung noch vernachlässigt worden zu sein. Wollte man den Unterschied abstrakt bezeichnen, so ist der Unterschied im Denken des Gebens, auf seiner exoterischsten Ebene, der Unterschied zwischen einem unterstellten ursprünglichen, vornehmen ›Ja‹ und einem unterstellten ursprünglichen, reaktiv-sklavischen ›Nein‹ zum Leben. Ein unwillkürliches Sichgeben aus einer Überfülle, einem Überreichtum wird einem Sichbewähren durch reaktive, passive Maßnahmen – »asketische Ideale« – gegenübergestellt.

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Das Werksvergleichsmodell grafisch

Gott-Menschen in das Selbstverhältnis integriert, durch das die Möglichkeit gelingenden Lebens offengehalten wird, wobei Kierkegaard den Maßstab der Beurteilung aus der Hand gibt, so hat in Nietzsches utopischer Figurierung gelingenden Lebens Zarathustra eine analoge Funktion. Zarathustra konzipiert Zarathustra an ausschlaggebenden Stellen dieses Werks als ein den Menschen unbedingt liebendes Wesen, das selbst nicht angemessen als »Mensch« bezeichnet werden kann. Weder im Ausgangspunkt, bevor Zarathustra wieder Mensch werden will, noch ab Die Heimkehr ist Zarathustra sinnvoll als »Mensch« unter Menschen vorzustellen. Dabei wäre für das gelingende Leben das, wofür »Zarathustra« steht, in das Selbstverhältnis des »Einsamen« zu integrieren. Es ist in jedem Fall augenscheinlich, dass Zarathustra vom Zerfall der Isolation emaniert, die ursprüngliche Erfahrung der real-gesellschaftlichen Isoliertheit ist in Zarathustras Wesen aufgehoben. Das an sich, menschlich betrachtet, ambivalente Erfahren von Einsamkeit ist im Wesen Zarathustras zu vollkommener Seligkeit verklärt. Nietzsche zeigt damit den Sinn seiner philosophischen Bemühungen: der Stiftung eines neuen, allgemein-menschlich, also keine Ausnahmen generierenden Verbindlichen, welcher Sinn dynamisiert wird im Lebenslauf der Figur Zarathustra hin zu sich. Das ›Nadelöhr‹, durch das Zarathustra muss, um der zu werden, der er ist, heißt »einsamste Einsamkeit«.

I.4.4 Das Werksvergleichsmodell grafisch Im ersten Kapitel dieses ersten Teils wurde mit Adorno ein Begriff exemplarischen Denkens entworfen, der die Frage nach dem gelingenden Leben stellt und den »Einzelnen« und den Einsamen« vergleichend erwägt. Deren Bedeutung wird allein vermittelt erwogen über die je in sich konstruktiv unterschiedene Ausnahmetheorie Kierkegaards und die Einsamkeitslehre Nietzsches. Im vierten Kapitel wurden diese Anti-Lehren strukturell synthetisiert. Das hier entwickelte Vergleichsmodell kann nun in einer Grafik veranschaulicht werden. 75 Das hier grafisch dargestellte Werkvergleichsmodell hat sein Vorbild bei Metz (2009/2010), S. 296, der die Bedeutung der Philosophie als Inbegriff des Fragens bzw. Wissens vom Guten epochal für das antike, mittelalterliche und neuzeitliche Denken in Höhlengleichnis-Bildern unterscheidet und zusammenfasst. Die hier visualisierten

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Modulationen der Einsamkeit

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Zusammenführung von Ausnahmetheorie und Einsamkeitslehre

Dabei soll abschließend noch einmal klar benannt werden, dass diese normierende Form durch die pyramidale, also hierarchisierende und teleologische Ausrichtung der Grafik dem Werk bzw. dem Urteil seiner Autoren selbst entspringt.

Utopien gelingenden Lebens zeigen an, dass das Gute (bei Metz symbolisiert durch die Sonne) im Denken Kierkegaards und Nietzsches sich in den Raum »einsamster Einsamkeit« verflüchtigt, dem mit einer allgemeinen Vernunft nicht mehr beizukommen ist. Dieser Sachverhalt wird in den entsprechenden Pyramiden angezeigt durch die gestrichelten Linien: sie markieren den Umstand der begrifflich unvermittelbaren Aufhebung des Ausnahmetheorems in die Utopien gelingenden Lebens, die im »Einzelnen« und »Einsamen« Wirklichkeit wären.

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»Isolation«

Die Unterscheidung der »Liebe« im »ungewöhnlichen Menschen«

»Verlassenheit«

FZ

»Einsamste Einsamkeit« (Die »Liebe über dem Mitleiden«)

EO

WH

(PB)

(BA)

Modulationen der Einsamkeit

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Biografie

Kierkegaard

Das Leben des »Einzelnen«

WS/ GWS

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Anti-Climacus’ Bestimmung des »Geistes« (vom Zerfall der Isolation her)

Werkvergleichsmodell

SL

AUN

Interpret

Werk

Das Werksvergleichsmodell grafisch

I.4.4.1 Kierkegaard

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»Isolation«

Die Unterscheidung der »Liebe« im »ungewöhnlichen Menschen«

»Verlassenheit«

»Einsamste Einsamkeit« (Die »Liebe über dem Mitleiden«)

GT/SE

MA I

MA II

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Biografie

Nietzsche

Das Leben des »Einzelnen«

JGB

GD

GM

DD/AC

EH

Zarathustras Bestimmung des »Geistes« (vom Zerfall der Isolation her)

Werkvergleichsmodell

M

FW

Interpret

Werk

Zusammenführung von Ausnahmetheorie und Einsamkeitslehre

I.4.4.2 Nietzsche

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Teil II – Entwicklung des Werkvergleichsmodells

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II.1 Isolation – faktische Ausnahmetheorie

Der zweite Teil dieser Studie möchte das bis hierher abstrakt entworfene Werkvergleichsmodell und die zentralen Thesen, die es voraussetzt, anschaulich entwickeln. Die in den Abschnitten I.4.1, I.4.2 und I.4.3 skizzierten korrespondierenden Achsen werden durch nah am Text orientierte Analyse gestützt und konkret entwickelt. Der Abschnitt II.1 wird gerahmt von der Überzeugung, dass der Erfahrung realgesellschaftlicher Isoliertheit die faktische Ausnahmetheorie korrespondiert. Sowohl die Ausnahmetheorie Kierkegaards als auch die Einsamkeitslehre Nietzsches sind moralkritisch motiviert. Die Semantik des in diesem Abschnitt vorausgesetzten Weltbildes kann deswegen als nihilistisch bezeichnet werden, weil sie die Größe ausklammert, von der aus erfüllende Orientierung möglich wäre. Im Abschnitt II.1.4 wird die Größe eingeführt, von der aus die ethisch ausgelegte Moralkritik ihren nachhaltigen Sinn erfahren soll. Bevor die Akteure dieses Weltbildes in ihrer systematischen Bedeutung für die ethisch motivierte Moralkritik gedeutet werden, muss die bisher nur behauptete strukturelle Analogie des in sich unterschiedenen Ausnahmetheorems aus dem Werk herausgelöst werden. Der »ungewöhnliche Mensch« ist der unscheinbare Adressat exemplarischen Denkens, an ihn richtet und durch ihn verwirklicht es sich. Der Abschnitt II.1.1 zeigt, inwiefern Kierkegaard die bereits in Entweder – Oder II angelegte Mehrdeutigkeit des Ausnahmetheorems durch die Folgeschriften Die Wiederholung und Furcht und Zittern genauer fasst, indem er sie durch ausdrückliche Typisierung und Anknüpfung an exemplarische Bedeutungsträger sortiert und abgrenzt. In Nietzsches Schopenhauer als Erzieher ist auf engstem Raum – strukturell besehen – der Sinn der von Kierkegaard vorgenommenen begrifflichen Unterscheidung des Ausnahmetheorems angelegt – und zwar zu analogem Zweck: ethische Orientierung (II.1.2). Für beide Philosophen steht fest: der »Ausnahme« kommt in einer bestimmten Bedeutung ihres Seins Umwertungs- und WertsetModulationen der Einsamkeit

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Isolation – faktische Ausnahmetheorie

zungsautorität bezogen auf die Frage nach der »Güte« des Allgemeinen zu (II.1.3). Die Frage, woher diese Güte ihren Wert bezieht, klärt sich formal besehen durch eine Unterscheidung von »Liebe« (II.1.4), von deren vorausgesetzter und doch nur anti-begrifflich taxierter Bedeutung alles abhängt.

II.1.1 Kierkegaards Fassungen des »ungewöhnlichen Menschen« (EO/WH/FZ) Im Folgenden geht es um die Analyse des durchaus komplexen Begriffs »ungewöhnlicher Mensch« durch eine Interpretation der einschlägigen Passagen aus Entweder – Oder II, Die Wiederholung und Furcht und Zittern. Es geht hier um die Isolierung der theoretischen Elemente dieses Begriffs, noch nicht um den Nachvollzug seines ethischen Sinns, der dem nächsten Kapitel vorbehalten bleibt. Es soll gezeigt werden, dass die hier aus einer Meta-Perspektive darzustellende Ausnahmetheorie in Entweder – Oder theoretische Probleme inkorporiert, einer dialektischen Spannung ausgesetzt ist, die in den Folgeschriften durch spezifische Typisierungen sortiert werden. Damit soll deutlich werden, inwiefern es für Kierkegaard von nachhaltiger Bedeutung zu sein scheint, festzulegen, dass in gewisser Hinsicht jeder Mensch, faktisch, Ausnahme ist. Es ist dabei stets zu berücksichtigen, dass Kierkegaards anti-begrifflich inauguriertes exemplarisches Denken Polemik ist gegen die in die Lebenswelt einsickernde hegelsche Philosophie, die – obschon sie keine materielle Ethik formuliert – ihre Exegeten dazu veranlasst, sich als ›Einzelne‹ mit dem ›Allgemeinen‹ versöhnt zu glauben. In Entweder – Oder wird durch ein existierendes Individuum namens Wilhelm als Vertreter und Typus des Allgemeinen bestimmt, was eine »Ausnahme« bzw. ein »ungewöhnlicher Mensch« ist (vgl. EO II – 906–914). Eingeführt wird die in Briefform an A formulierte Theorie der Ausnahme mit der Beobachtung Wilhelms, dass As Leben verbunden ist mit dem Bedürfnis, »die Einsamkeit zu suchen«, welche Tendenz anzeigt, dass As Leben »nach einem ungewöhnlichen Maßstab angelegt ist«. (EO II – 907) Dieser einsame Lebensweg scheint zunächst einmal nur ein jugendlicher Hang zum Abenteuer und also verzeihlich zu sein. Er ist allerdings doch derart »gefährlich« – sofern auf Dauer und ohne angemessene Orientierung vollzogen –, dass die Möglichkeit der Selbstdestruktion besteht. Man kann näm148

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Kierkegaards Fassungen des »ungewöhnlichen Menschen« (EO/WH/FZ)

lich ohne exzentrische Maßregelung seine natürlichen Anlagen bald »derart zersplittert« haben, dass man, »statt ein ungewöhnlicher Mensch zu werden, ein defektes Exemplar von einem Menschen wird«. (EO II – 907) Nichtsdestotrotz: es steht fest, dass es »etwas in dem Allgemeinen« geben kann, was gewisse »ungewöhnliche Menschen« nicht in ihr Leben aufnehmen können (vgl. EO II – 909). Und: »Ein Mensch kann an dieser Unvollkommenheit selber schuld sein, er kann sie ohne sein Verschulden haben, aber es kann Wahrheit darin liegen, daß er das Allgemeine nicht realisieren kann.« (EO II – 909) In diesem Sinne ist man also bereits ein »ungewöhnlicher Mensch«, wenn man in gewissen Punkten ausgenommen ist von der jedem Menschen zukommenden Pflicht, das Allgemeine zu verwirklichen. Derjenige, der diese Theorie formuliert, überlässt dabei diesen ungewöhnlichen Menschen nicht schlicht sich selbst, sondern formuliert ein normatives Raster, durch das der »ungewöhnliche Mensch« als de facto Ausgenommener durch leidvolle Loslösungs- und affektive Umwertungsprozesse an sich selbst auf Distanz doch sich adäquat zum Allgemeinen verhalten kann, indem er es vermittelt verwirklicht. Erst, nachdem dieser Prozess durchlaufen ist, spricht Wilhelm von einer Ausnahme im »edleren Sinne« (EO II – 912), was eben impliziert, dass man seinen Ausnahmestatus, so viel Wahres auch an ihm ist, nicht eitel nehmen darf in dem Sinne, als einem dadurch das Leben im Allgemeinen erspart bliebe. Zwar ist man dann auch – faktisch betrachtet – ein »ungewöhnlicher Mensch«, »aber nicht in gutem Sinne«. (EO II – 908) Kierkegaard legt Wilhelm in diesem Kontext, in dem es um die Abwehr der Möglichkeit geht, Ausnahme im nicht guten Sinne zu sein, eine Definition des »wahren ungewöhnlichen Menschen« in den Mund: Der wahre ungewöhnliche Mensch ist der wahre gewöhnliche Mensch. Je mehr vom Allgemein-Menschlichen das Individuum in seinem Leben zu realisieren vermag, ein um so ungewöhnlicherer Mensch ist es. Je weniger vom Allgemeinen es in sich aufnehmen kann, desto unvollkommener ist es. Es ist dann zwar ein ungewöhnlicher Mensch, aber nicht in gutem Sinne. (EO II – 908)

Mit dieser Definition des »wahren ungewöhnlichen Menschen« wird ein neuer Begriff des »ungewöhnlichen Menschen« ins Spiel gebracht, der unversöhnlich ist mit Attributen, die im Vorfeld den »ungewöhnlichen Menschen« auszeichneten. War es zunächst ein qualitatives Merkmal, welches die Ausnahme zum »ungewöhnlichen Modulationen der Einsamkeit

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Isolation – faktische Ausnahmetheorie

Menschen« überhaupt erst stempelte – es konnte »etwas« in dem Allgemeinen geben, das die Ausnahme nicht in ihre Existenz aufheben konnte bzw. es konnte »Wahrheit« darin liegen, das Allgemeine nicht verwirklichen zu können, an welcher Wahrheit gemessen die Schuld- bzw. Unschuldfrage als moralische Bewertung des Umstands unbedeutend war –, so ist diese inkommensurable Größe in Wilhelms »Definition« des »wahren ungewöhnlichen Menschen« wieder weggeschnitten. Dieser hat sein Leben nur noch in quantitativen Bestimmungen: mehr oder weniger. Und die ihn auszeichnende Größe ist semantisch wieder ausgelagert, indem das Allgemein-Menschliche der objektive, allgemein-verbindliche Träger wird: gleichschaltender Maßstab für alle. In Wilhelms Definition fehlt so gesehen das spezifisch individuierende Merkmal. Wenn gilt: »ungewöhnlich« = »gewöhnlich«, wenn das Attribut eines individuell auszeichnenden Merkmals durch sein Gegenteil erklärt wird, dann ist dieses als unterscheidendes Kriterium wieder aufgehoben, formal betrachtet zumindest. Kierkegaard legt seinem Repräsentanten gelingenden Lebens allerdings bald folgende Worte in den Mund: »Nicht jeder Mensch nämlich, dessen Leben das Allgemeine mittelmäßig ausdrückt, ist darum schon ein ungewöhnlicher Mensch, denn das wäre ja eine Vergötterung der Trivialität; damit er in Wahrheit so heiße, muß auch nach der intensiven Kraft gefragt werden, mit der er es tut.« (EO II – 913) Hier wird nun wieder das »innere«, spezifisch individuierende Moment betont, durch welches der ungewöhnliche Mensch zum wahren ungewöhnlichen Menschen wird. Die intensive Kraft eines individuellen Wollens, das Allgemeine zu verwirklichen, generiert dieses erst für das Individuum, was voraussetzt, dass es als Anlage, als Möglichkeit in jedem Einzelnen hinterlegt ist und nur ›erzogen‹ werden muss. Doch auch bei dieser Erklärung kann man nicht stehen bleiben. Kierkegaard denkt durch seine Theorie der Ausnahme – dieser Befund wird auch bedeutend sein für Nietzsche – eine personifizierte negative Dialektik, was folgender Satz, dem voranstehenden gegenübergestellt, eindringlich veranschaulicht. Wilhelm spricht hier wiederum von der bereits erwähnten »Wahrheit« die darin liegen kann, das Allgemeine nicht realisieren zu können, und schiebt emphatisch nach: »Wenn überhaupt die Menschen mit mehr Energie sich ihrer selbst bewußt würden, so würden vielleicht weit mehr zu diesem Ergebnis kommen« (EO II – 909) – nämlich zu dem Ergebnis, das Allgemeine nicht verwirklichen zu können (vgl. EO II –

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909). 1 Es ergibt sich folgender Befund: Vorausgesetzt, dass das »[M]it mehr Energie«-sich-seiner-Bewusstwerden als Kriterium für die Einsicht, in gewissen Punkten ausgenommen zu sein von der Möglichkeit, das Allgemeine zu realisieren, gleichbedeutend ist mit jener »intensiven Kraft«, die zur Abwehr der Trivialität gefordert wurde, dann ist Wilhelms Vorstellung vom »gewöhnlichen Menschen« in sich gespalten. Auf der einen Seite ist es die intensive Kraft, mit der man das in sich hinterlegte Allgemeine generiert, auf der anderen Seite ist es die Energie des Sich-selbst-bewusst-Werdens, welche einen gerade von der Möglichkeit, das Allgemeine zu realisieren, abzieht. In der hier als Argwohn gegen Wilhelms Integrität formulierten Argumentation liegt dabei das Vorurteil aufgehoben, dass die beiden sich schneidenden Tendenzen gemünzt sind für einen Begriff des »ungewöhnlichen Menschen«. Wilhelm ist als existierender Ethiker, zumindest in Entweder – Oder noch, konzipiert als Fürsprecher der Welt und der Vielen, also auch nicht zur Philosophie tendierender Einzelner. Die selbstreflexive Ebene, die entzündet werden muss und in Einsamkeit sich selbst überlassen innerliche Brisanz empfängt, ist bei den meisten, die Gesellschaft zusammenhaltenden Individuen gleichsam nur entfernt, wenn überhaupt, dunkel träumend da und vergisst sich im Tagesgeschäft schnell. Um diese Menschen geht es in der Theorie der Ausnahme nur indirekt, nämlich insofern, als sich die bewährende Ausnahme vermittelt zu diesen und deren Vorstellung von gelingendem Leben verhalten muss. Damit ist das Problem theoretisch besehen nicht verflüchtigt: Die Ausnahme in edlerem Sinne, welche sich in Wilhelms Konzeption als solche bewiesen hätte, hat gegenüber den Menschen, die im Allgemeinen ihr Leben haben, ein Mehr-Wissen. Die Versöhnung auf Distanz dieser Ausnahme mit dem Allgemeinen hat ihren Grund in ihrer tröstlichen Einsicht, so lässt Wilhelm zuletzt wissen, »daß in gewissem Sinne jeder Mensch eine Ausnahme darstellt, und daß es gleich wahr ist, daß jeder Diesen Punkt scheint Kaehler (2003) – der Kierkegaard zutraut, den »entscheidenden Problemkern des spekulativ-systematischen Denkens tiefer erkannt und intensiver umkreist« (S. 70) zu haben als Marx und Feuerbach – im Blick zu haben, wenn er angesichts der »Ausnahme« die Grenzen des spekulativen Wahrheitsbegriffs markiert: in der existentiellen Verwirklichung der sittlichen Substanz gibt es einen Sprung, ein systematisch nicht begreifbares Moment, das die Güte des Begriffs selbst tangiert. Und in der Tat sind etwa die inszenierten Figuren A aus Entweder – Oder oder der »junge Mensch« aus Die Wiederholung konzipiert als Existierende, die nach spekulativen Prämissen leben wollen und – daran scheitern.

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Mensch das Allgemein-Menschliche ist und zugleich eine Ausnahme ist.« (EO II – 913) Der in dieser Studie dargestellte Verlauf des Ausnahmetheorems kann offenlegen, dass diese dunkle Wendung den Keim des von Anti-Climacus gedichteten Verständnisses eines christlichen Selbst birgt. 2 Dieses »zugleich« von Ausgenommensein und das Allgemein-Menschliche-Sein wird in Der Begriff der Angst durch den Begriff der »Sünde« gedeckt, durch den, wie es dort heißt, jeder Mensch zugleich als Einzelner und als Gattung/Geschlecht bestimmt ist. 3 Und in Die Krankheit zum Tode ist jene existentielle negative Dialektik vermittelt, indem kein Selbst, sofern es »christlich« gedacht wird, ausgenommen ist, sich als Sünder vor Gott zu verantworten, welcher Status – auch wenn er nicht gewusst wird – allein durch ein glaubendes Selbstverhältnis aufgehoben werden kann, worin der Einzelne sein gelingendes Leben hätte – und ansonsten sich in »Verzweiflung« verliert. Die von Wilhelm hier taxierten Vielen, die obschon sie »in gewisse[m] Sinne« alle ausgenommen sind, es aber nicht wissen, werden in Die Krankheit zum Tode als diejenigen kassiert, die sich gar nicht bewusst sind, ein Selbst zu haben, 4 vor Gott als Geist bestimmt zu sein. Perspektiviert man die in Die Krankheit zum Tode erbrachte Leistung Kierkegaards so, muss man die Frage Wo bleibt das Ethische in Kierkegaards ›Krankheit zum Tode‹ ? (Greve (1992), S. 323–341) als falsch gestellt bemängeln. Es ist für Kierkegaard da im Verfassen seiner Anti-Climacus-Schriften, performative Erfüllung seines Anspruchs an sich, der mehr bedeuten will, als er philosophisch erweisen kann, nicht als materielle Ethik. Greve beurteilt richtig, dass sich in Die Krankheit zum Tode die Ethikkritik Kierkegaards vollendet, indem sie die Früchte der Ausnahmeproblematik der Schriften nach Entweder – Oder konstruktiv in die Verzweiflungsanalyse einbindet. Exemplarisches Denken in dem in dieser Studie vorgestellten Sinn allerdings kann und will keine materielle Ethik formulieren. Es konturiert negativ einen begriffs-utopischen Raum und orientiert sich an diesem. 3 So heißt es im § 1 des ersten Kapitels unmissverständlich: »In jedem Augenblick verhält es sich so, daß das Individuum es selbst und das Geschlecht ist. Das ist die Vollkommenheit des Menschen als Zustand gesehen. Zugleich ist es ein Widerspruch; ein Widerspruch aber ist stets Ausdruck für eine Aufgabe […]«. (BA – 471) Im § 2 des zweiten Kapitels, der mit Objektive Angst überschrieben ist, heißt es über »Adam«: »Adam setzt also die Sünde in sich selbst, aber auch für das Geschlecht. Der Geschlechtsbegriff jedoch ist zu abstrakt, als daß er eine so konkrete Kategorie wie die Sünde setzen könnte, die eben dadurch gesetzt wird, daß der Einzelne selbst sie setzt als der Einzelne.« (BA – 507) Man geht nicht zu weit, wenn man die in Der Begriff der Angst formulierte Forderung nach einer zweiten Ethik (vgl. Einleitung, S. 447–466), die sich existentiell in der Formel »Widerspruch als Aufgabe« bricht, vital begründet sieht in der Bedeutung des Ausnahmetheorems. 4 Anti-Climacus nennt diese »Verzweiflung«, die Krankheit des Geistes/Selbst, die 2

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Doch bis zu den Anti-Climacus-Schriften, in welchen Kierkegaards exemplarisches Denken sich in seiner Idealität ausbuchstabiert, ist es noch weit. Wilhelm resümiert im Anschluss an jenes Zitat, in welchem die Ausnahme in »edlerem Sinne« in den Blick kam, wobei sich dieser Status auszeichnete durch eine Versöhnung mit dem Allgemeinen auf Distanz, und diese »Versöhnung« darin ihren Grund hatte, dass der ungewöhnliche Mensch im edleren Sinne nun weiß, dass jeder Mensch in gewissem Sinne eine Ausnahme und zugleich das Allgemein-Menschliche ist – Wilhelm resümiert, eine geschlossene Weltanschauung unterstellend: Hier hast Du meine Meinung darüber, was es heißt, ein ungewöhnlicher Mensch zu sein. Ich liebe das Dasein und das Menschsein viel zu sehr, um zu glauben, daß der Weg, ein ungewöhnlicher Mensch zu werden, leicht oder ohne Anfechtungen sei. Aber selbst wenn ein Mensch solchermaßen in edlerem Sinne ein ungewöhnlicher Mensch ist, so wird er doch immer wieder bekennen, daß es noch vollkommener wäre, das ganze Allgemeine in sich aufzunehmen. (EO II – 913)

Im ersten Finale der Ausnahmetheorie spalten sich die beiden heterodoxen Begriffe des »ungewöhnlichen Menschen« wieder. Wilhelms Definition des wahren ungewöhnlichen Menschen als des wahren gewöhnlichen Menschen, in dem kein Rest von Inkommensurablem übrig bleibt, der sich nicht in das Allgemeine übersetzen lassen würde, ist das abstrakte Ideal, dem sich selbst der ungewöhnliche Mensch im edleren Sinne unterwirft. Wilhelm legt dieses Ideal der Ausnahme in den Mund: zu fragen bliebe, woher die Ausnahme in edlerem Sinne weiß, dass das umfänglich ins Allgemeine aufgehobene Leben vollkommener wäre als das vermittelt mit dem Allgemeinen versöhnte, hatte sie doch nie einen direkten Einblick in die Sache; zu fragen wäre außerdem, wieso Wilhelm glaubt, dass seine Liebe zum Bestehenden, als dessen Fürsprecher er sich behauptet, ihn von seinem Wissen existentiell entbindet bzw., direkter, inwiefern seine philosophisch nirgends erwiesene Liebe zum Dasein überhaupt zusammenhängt mit seiner Einschätzung, dass ein ungewöhnlicher Mensch zu werden schwer sei. Wilhelm, Ethiker und Vertreter des individuell aktualisierbaren Allgemeinen, formuliert seine Gedanken zum »ungewöhnlichen Menschen« auf qualitativ und quantitativ zu unterscheidenden Ebedarin besteht, sich nicht darüber bewusst zu sein, ein Selbst zu haben, auch »uneigentliche Verzweiflung« (vgl. KzT – 31 ff.). Modulationen der Einsamkeit

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Isolation – faktische Ausnahmetheorie

nen. Einen zentralen Theoremstrang formuliert er dezidiert an seinen Freund A, von dem er aus unmittelbarer Anschauung weiß, dass sein Leben – da es in die Einsamkeit tendiert – nach einem ungewöhnlichen Maßstab angelegt ist. Dabei ist es Wilhelms Konzession und ursprünglich auszeichnendes Merkmal der Ausnahme, dass es etwas in dem Allgemeinen geben kann, dass jene nicht in ihre Existenz integrieren kann bzw. dass Wahrheit darin liegen kann, dies nicht tun zu können, wogegen die Frage nach der Schuld bzw. Unschuld nicht nur zweiten Ranges, sondern kategorial, qualitativ davon unterschieden ist. Gegen diese qualitativ bestimmte Theorie der Ausnahme formuliert Wilhelm seine ideale Definition des wahren ungewöhnlichen Menschen als des wahren gewöhnlichen Menschen, welche in ihrer rein graduell gedachten Dialektik gerade die Größe wegschneidet, die den Menschen ursprünglich zu einer Ausnahme erst machte, obschon sie auch qualitativ angelegt ist. Diese zweite Definition ist es, welche auch im letztgenannten Zitat die hierarchische Spitze ausmacht, in dem Sinne, als der wahre ungewöhnliche Mensch der vollkommenste ist, insofern er das ganze Allgemeine in sein Leben integrieren kann. Die Ausnahme »im edleren Sinne« wäre dagegen nur die Ausnahme, welche durch eigene leidvolle Loslösungs- und Umwertungsarbeit an sich das Allgemeine vermittelt reduplizierte und einsähe, dass in gewissem Sinne jeder Mensch eine Ausnahme darstellt. Die Versöhnung mit dem Allgemeinen wäre für den ungewöhnlichen Menschen eine Art intellektuelle Leistung: Er kompensierte seine exzentrische Position mit dem Durchblick durch die das Allgemeine konstituierenden Individualwillen, der allein deswegen möglich wird, weil alle, obschon sie es auch nicht sehen bzw. wissen, wie er aufgrund bestimmter Anlage das Allgemeine nicht verwirklichen können. In dieser negativen Gleichheit, deren quantitative Dehnbarkeit nebensächlich ist, liegt für den hier konzipierten ungewöhnlichen Menschen das versöhnliche Element. In der hier vorgelegten Analyse seiner Möglichkeit wurden die latenten Spannungen bei der Darstellung der beiden Ausnahmetheoreme mit dem »gesunden Menschenverstand« geglättet. Obschon theoretisch betrachtet alle Menschen Ausnahmen sind und zugleich das Allgemein-Menschliche, leben die wenigsten im Bewusstsein dieses Status. Und dies ist nicht weiter dramatisch, da bei den meisten ohnehin diese zweideutige Anlage aus naturgemäßer Angst vor der Einsamkeit verpufft und letztlich das Bestehende regelt. Constantin Constantius formuliert keine normative, sondern 154

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Kierkegaards Fassungen des »ungewöhnlichen Menschen« (EO/WH/FZ)

eine sozial-theoretische, deskriptive 5 Theorie der Ausnahme. Er konstatiert schlicht: »Es gibt Ausnahmen. Kann man sie nicht erklären, kann man auch das Allgemeine nicht erklären.« (WH – 436) Damit zieht Constantin Wilhelm den fliegenden Begriffsteppich unter den Füßen weg – Wilhelms Standpunkt wird als bodenlos entlarvt. Die Besprechung dieser außermoralischen Perspektive auf die Sache der Generierung von Moral folgt im Abschnitt II.13. In diesem Zusammenhang ist allein die Typisierung der Ausnahme zum Dichter bedeutend, womit dieses Theorem – umstrukturiert – an die Formulierungen aus Entweder – Oder rückgebunden wird: »Ein Dichter ist gewöhnlich eine Ausnahme. […] Der junge Mensch, den ich entstehen ließ, ist Dichter.« (WH – 436) Das erste Buch von Entweder – Oder, für welche darin exemplifizierte Lebensform allein die Theorie der Ausnahme formuliert wird, eröffnet sich mit den Diapsalmata ad se ipsum des Ästhetikers A, welche unter dem Motto stehen: »Grandeur, savoir, renommée, / Amitié, plaisir et bien, / Tout n’est que vent, que fumée: / Pour mieux dire, tout n’est rien. (EO I – 27) Der erste, monologische Eintrag der in seiner Stimmung schwankenden Selbstergießungen (»Diapsalmata ad se ipsum«) heißt: »Was ist ein Dichter? Ein unglücklicher Mensch, der tiefe Qualen in seinem Herzen birgt, dessen Lippen aber so geformt sind, daß, indem der Seufzer und der Schrei über sie ausströmen, sie klingen wie eine schöne Musik.« (EO I – 27) Diese Parallelisierung zeigt, dass A, hätte er sich dem von Wilhelm formulierten singulären Maßstab gefügt, als Ausnahme ein Dichter geworden wäre. Der Dichter steht dabei durch sein Werk in Verbindung mit der ihn umgebenden Menschheit. Und die vom Allgemeinen als solche anerkannten Werke des Dichters können nur wenige »ungewöhnliche Menschen« wirklich selbst schaffen. Dichter sind hier eben im alltagssprachlichen Sinne Ausnahmen. Als »berechtigt« erweist sich der Dichter allerdings, so wird Constantin in Die Wiederholung ausführen, erst dann, wenn er auf eine spezifische Weise durch das Allgemeine durchgegangen ist und dieses dadurch Vgl. für eine sozialtheoretische Ergründung der Ausnahmeproblematik die Ausgabe 7 (1) von Behemoth – A Journal on Civilisation (2014): Das Andere der Ordnung. Zeitgemäß beurteilt ist es ein interessanter bzw. komischer Befund – insofern die Wissenschaft Soziologie nicht mehr als verdächtig beurteilt wird –, dass sowohl Kierkegaard als auch Nietzsche die Methoden und Effekte dieser Disziplin als das eigentümlich »Böse« bzw. »Dekadente« ihrer Gegenwart beurteilen und ihren ethischen Anspruch »anti-soziologisch« vermitteln. Vgl. zu dieser Beobachtung die Abschnitte III.1.1.2 und III.1.2 dieser Studie. 5

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von sich überzeugt – wobei, und das gilt es unbedingt zu beachten, diese »Berechtigung« nicht selbst Einsicht hat in die Konstitution ihrer Voraussetzung. Derart ist es für die meisten, die nicht des Dichters Werk selbst vollbringen können, dennoch versöhnlich, sich bzw. die selbst nicht im eminenten Sinne verwirklichte Substanz des »Ungewöhnlichen« in sich im Tun des Dichters zu spiegeln, zu kontemplieren. Entscheidend ist für die hier anstehende Unterscheidung des »ungewöhnlichen Menschen« allerdings vor allem, dass Constantin seinen Begriff der »Ausnahme« hierarchisierend zuspitzt, womit der Typus Dichter zugleich als eine Figur des Durchgangs in den Blick kommt: »Eine solche Ausnahme ist ein Dichter, der den Übergang zu den eigentlichen aristokratischen Ausnahmen bildet, zu den religiösen Ausnahmen.« (WH – 436) Die Ausnahme, die sich im Typus Dichter manifestiert, ist eine Gestalt des Übergangs – sie wurde mit Nietzsche als eine Figur der Verlassenheit charakterisiert. Dagegen steht die »eigentliche«, aristokratische, religiöse Ausnahme. In ihr – so will es diese Zuspitzung – formuliert sich der Inbegriff dessen, was eine Ausnahme ist. Kann zwar auch schon der Dichter unter einer bestimmten Perspektive begriffen werden als eine »berechtigte« Ausnahme, so bleibt er doch an sich selbst insuffizient: wahres Gelingen von Ausnahmesein wird durch die Attribute Religiosität, Eigentlichkeit und Aristokratismus behauptet. Diese Attribute verweisen direkt auf die gleichzeitig von Kierkegaard via Johannes de silentio mitveröffentlichte Schrift Furcht und Zittern, in welcher der Typus Glaubens-Ritter anhand der Gestalt Abraham als direktem »Auserwählte[n] Gottes« (FZ – 194) in den Blick kommt. Freilich: Niemand ist Abraham, und doch – das will die Dialektische Lyrik von Johannes de silentio bedeuten – spiegelt sich in seinem spezifischen Tun (»Glauben«) etwas, das das Ausnahmesein realisiert und es in seiner spezifischen Traktierung zugleich aufhebt, verbindlich für jeden Einzelnen als »Einzelnen«. In dieser Schrift geht es folgerichtig zum ersten Mal innerhalb der exoterischen Schriften Kierkegaards ausdrücklich und extensiv um den Einzelnen als »Einzelnen«, dessen Sinn ist, paradoxerweise als Einzelner – unter gegebenen, teleologisch motivierten Umständen – »höher« zu stehen als das Allgemeine. Ist es nämlich nicht möglich als »Einzelner« unter Umständen »höher« zu stehen als das Allgemeine, so ist Abrahams Tun angesichts Gen 22,1–19 nicht gerechtfertigt, so muss Abraham, der Vater des Glaubens, – ethisch – als Mörder bezeichnet werden, insofern die Sphäre fehlte, die es ermöglichte, aus einem Mord eine 156

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h e i l i g e Handlung zu machen: ein Opfer. 6 Diese Konstruktion bleibt für Kierkegaards christliche Selbst-Konzeption, so wie sie sich in Die Krankheit zum Tode ausbuchstabiert, verbindlich. Hier, in dieser bildlichen Rekonstruktion des Glaubens-Ritters anhand des Musterbeispiels Abraham, fehlen allein die spezifischen begrifflichen Größen. Kierkegaards Begriff der »Ausnahme« ist qualitativ gemünzt auf – in gewisser Hinsicht – jeden Menschen. Innerhalb dieser allgemein-menschlichen Ausnahme-Struktur jedes Individuums gibt es quantitative Unterschiede, die diesem Ausnahmebegriff Kontur und Farbe geben: der Typus Dichter bildet deren Krone. Diese exklusive Figur ist in sich selbst insuffizient und verweist in dieser ihrer Insuffizienzstruktur auf den Inbegriff der Ausnahme, die wieder potentiell jeder ist.

II.1.2 Nietzsches Fassungen des »ungewöhnlichen Menschen« (SE/Z) Es wurden die theoretischen Elemente des in sich vieldeutigen Begriffs »ungewöhnlicher Mensch« bei Kierkegaard isoliert. Dabei ist es die leitende These dieses Abschnitts, dass Nietzsche in Schopenhauer als Erzieher – strukturell besehen – einen analog vielschichtigen Begriff des »ungewöhnlichen Menschen« formalisiert. Es geht also darum, die Ausnahmetheorie Nietzsches, so wie sie in Schopenhauer als Erzieher angelegt ist, durch Kierkegaards Vorlage zu präparieren. Zugleich soll bereits in diesem Abschnitt die innere Kontinuität und Verbindung zwischen Schopenhauer als Erzieher und Also sprach Zarathustra bezogen auf die in diesen Werken formulierte und die Utopie gelingenden Lebens andenkende Ausnahmetheorie vorausblickend aufgedeckt werden. Dabei ist daran zu erinnern, dass Nietzsche selbst die innere Verwandtschaft der Schriften Schopenhauer als Erzieher und Also sprach Zarathustra hervorhebt, 7 und dass Nietzsche bis zuletzt die dritte seiner unzeitgemäßen Betrach-

»Kann der Glaube es nicht zu einer heiligen Handlung machen, seinen Sohn morden zu wollen, dann möge über Abraham das gleiche Urteil ergehen wie über jedweden anderen.« (FZ – 204) 7 Vgl. hierzu den Abschnitt I.3. 6

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tungen für den Prüfstein dafür hielt, ob man seiner Persönlichkeit und damit seiner Philosophie nahe stünde oder nicht. 8 Es gibt wie bei Kierkegaard drei begrifflich zu unterscheidende Fassungen dessen, wer oder was ein »ungewöhnlicher Mensch« ist. Dieser Begriff ist durch seinen Bezug auf die Frage, ob Schopenhauer als Erzieher zur Philosophie – nur um die Erziehung zur Philosophie geht es Nietzsche hier – fruchtbar gemacht werden kann, derart dehnbar, dass zugleich konstatiert werden kann: Alle Menschen sind in gewissem Sinne ungewöhnliche Menschen, 9 manche/wenige Menschen sind ungewöhnliche Menschen 10 und niemand ist ein ungewöhnlicher Mensch. 11 Und wie bei Kierkegaard werden diese quantitativen Unterscheidungen auch qualitativ typisiert durch die Unterscheidung von Eigennamen. Die selbst eigentümlich flüssige Bedeutung des Namens »Schopenhauer« ist dabei auf jeder der jetzt zu analysierenden Ebenen der existentiell normierende und qualitativ hierarchisierende Bezugspunkt der Sache. Um bei der allgemeinsten Fassung des Begriffs »ungewöhnlicher Mensch« anzusetzen: Alle Menschen sind ungewöhnliche Menschen. Dieser Sachverhalt geht daraus hervor, dass Nietzsche, nachdem er die spezifischen Konstitutionsgefahren »Schopenhauers« als des Paradigmas des ungewöhnlichen Menschen geschildert hat – er nennt die Gefahr der Vereinsamung, die Gefahr der Verzweiflung an der Wahrheit und die Gefahr, die in der Erfahrung der eigenen Begrenztheit der Begabung und des sittlichen Wollens liegt, woraus eine sich spezifisch asozial äußernde Verknöcherung und Verhärtung des Geistes resultieren kann (vgl. SE – 351–358) –, schließt: »Jene drei Gefahren der Constitution, die Schopenhauer bedrohten, bedrohen uns Alle.« (SE – 359) Nietzsche ist daran gelegen, eine allgemeinSo heißt es in einem Brief vom 10. April 1888 an Georg Brandes aus der Feder Nietzsches: wem Schopenhauer als Erzieher »nichts P e r s ö n l i c h e s erzählt, der hat wahrscheinlich auch sonst nichts mit mir zu thun. Im Grunde steht das Schema darin, nach dem ich bisher gelebt habe: sie ist ein strenges Ve r s p r e c h e n .« (KSB 8, Nr. 1014 – S. 287) 9 Diesem Allsatz korrespondiert in der Vergleichsstruktur dieser Studie die Einsicht der Ausnahme bei Wilhelm, dass jeder in gewissem Sinne ein »ungewöhnlicher Mensch« sei, ob er es wisse oder nicht. 10 Diese Menge hat Analogie zum Typus Dichter bei Kierkegaard. 11 Niemand ist ungewöhnlicher Mensch in dem Sinne, wie »Abraham« als eigentliche, aristokratische, religiöse Ausnahme den Status Ausnahme in sich aufgehoben hat. In Nietzsches Ausnahmetheorie wird diese Funktion durch den Eigennamen »Schopenhauer« besetzt. 8

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menschliche Struktur freizulegen, die den Weg der Erziehung zur Philosophie kennzeichnet. In der Formel »Alle Menschen sind ungewöhnliche Menschen« wird ein Unterschied gesetzt zur unmittelbaren Faktizität des bloßen Daseins, dessen Wirklichkeit jeder Einzelne abrufen kann. 12 Den drei benannten allgemeinen Gefahren des ungewöhnlichen Menschen korrespondieren spezifische allgemeinmenschliche Anlagen, die jedes philosophierende Individuum auszeichnen. Nachdem Nietzsche betont hat, dass die Konstitutionsgefahren Schopenhauers uns alle betreffen, nennt er die der Gefahr der Vereinsamung korrespondierende Anlage: »Ein Jeder trägt eine productive Einzigkeit in sich, als den Kern seines Wesens; und wenn er sich dieser Einzigkeit bewusst wird, erscheint um ihn ein fremdartiger Glanz, der des Ungewöhnlichen.« (SE – 359) 13 Hiermit ist formal festgelegt: keiner ist, wenn er es will, nicht ausgenommen. Dabei ist der alle Menschen als »Menschen« inkludierende Ausdruck »productive Einzigkeit« für den Gedankengang dieser Arbeit bedeutsam, insofern im Kapitel Vom Wege des Schaffenden des ersten Buchs des Zarathustra – als eingedeutschter Titel für dieselbe Sache – Nietzsche die hier entworfene Ausnahmetheorie neu auslegt. Dort heißt es einleitend: »Willst du, mein Bruder, in die Vereinsamung gehen? Willst du den Weg zu dir selber suchen? Zaudere noch ein Wenig und höre mich.« (Z – 80) Hier werden die beiden in Schopenhauer als Erzieher noch auseinanderliegenden Momente zusammengeschnürt: die Gefahr der Vereinsamung als von »außen« kommende Bedrohung dessen, der seiner produktiven Einzigkeit als seinem ursprünglichen Wesen entsprechen möchte, indem er sich bewusst zu dieser seiner Anlage verhält. Diese »productive Einzigkeit«, Diese erste Unterscheidung des Menschseins von seiner Faktizität erinnert an Zarathustras erste Rede Von den drei Verwandlungen, in der ja das »Kamel« bereits eine Form des Geistes bedeutet, die dieser nicht unmittelbar ist: »Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kamel wird [sic!] […]«. (Z – 29) 13 Diese »productive Einzigkeit« fasst Nietzsche im Aphorismus Die Idealische Selbstsucht im Bilde der »Schwangerschaft«, welche Chiffre ist für das verborgene Wesen wahrer Produktivität, deren Leben nicht in den Kategorien sinnlicher Evidenz gedacht werden kann (vgl. M – 552). Dieser Text kann als jene bereits zitierte, positiv gemeinte »innerliche Auseinandersetzung mit dem Christentume« in der Morgenröte gedeutet werden – er ist »erbaulich« im kierkegaardschen Sinne des Wortes und kommt etwa der Wirkung sehr nahe, wie sie Kierkegaards Meditationen über den Begriff der »Geduld« erzeugt, vgl. etwa Seine Seele erwerben in Geduld (GW 5 – 57–73), Seine Seele bewahren in Geduld (GW 5 – 95–118) und Geduld in Erwartung (GW 5 – 119–139). 12

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der Weg des Schaffenden ist die jeden Einsamen als »Einsamen« individuierende Qualität, durch die, schaffte er es, deren nicht in der »kleinen Vernunft« aufgehenden Anspruch 14 in seine Biografie zu übersetzen, von gelingendem Leben gesprochen werden könnte. Im Folgenden soll es nur um die weitere Isolierung der theoretischen Elemente der anti-begrifflichen Form exemplarischen Denkens durch ihre Typisierung gehen. Nietzsche grenzt die Frage nach dem ungewöhnlichen Menschen in Schopenhauer als Erzieher des Weiteren ein durch die hierarchisierende Unterscheidung von Eigennamen, die formal an die strukturelle Dynamisierung des Ausnahmetheorems durch Constantin erinnert, der den Dichter ausnahmetheoretisch als Typus des Übergangs bestimmt zu den eigentlichen, religiösen, aristokratischen Ausnahmen. Folgender Satz macht dies anschaulich: »Unsere Hölderlin und Kleist und wer nicht sonst verdarben an dieser ihrer Ungewöhnlichkeit und hielten das Clima der sogenannten deutschen Bildung nicht aus; und nur Naturen von Erz wie Beethoven, Goethe, Schopenhauer und Wagner vermögen Stand zu halten.« (SE – 352) 15 Hier fällt auf, dass die verwendeten Eigennamen Repräsentanten von spezifischen Typen »ungewöhnlicher Menschen« sind: von Kleist, der sich durch den Freitod entscheidet, und Hölderlin, dessen Existenz in geistiger Umnachtung ausläuft, wird im Plural gesprochen, wobei außerdem mit dem »wer nicht sonst« angezeigt wird, dass es eine ganze Reihe »Kleists« und »Hölderlins« gibt; sie repräsentieren eine unbeAusgestanzt zu einem ausnahmetheoretisch durchleuchteten Appell wird dieser Gedanke in Von alten und neuen Tafeln 5 wie folgt komprimiert: »Also will es die Art edler Seelen: sie wollen Nichts u m s o n s t haben, am wenigsten das Leben. / Wer vom Pöbel ist, der will umsonst leben; wir Anderen aber, denen das Leben sich gab, – wir sinnen immer darüber, w a s wir am besten d a g e g e n geben! / Und wahrlich, diess ist eine vornehme Rede, welche spricht: ›was u n s das Leben verspricht, das wollen w i r – dem Leben halten!‹« (Z – 250) 15 Bei Kierkegaard wird – so scheint es – die Ausnahme als Dichter in Die Wiederholung nicht als eine scheiternde Fassung von Ausnahme vorgestellt. Wenn man allerdings die Zwillingsschrift Furcht und Zittern während der Lektüre von Die Wiederholung im Hinterkopf hat, erhellt, dass der Dichter als Ausnahme eine Figur ist, die als ein Rückfall in die alte Ordnung des schlechten Werdens konzipiert ist. Nietzsche hierarchisiert hier mit seinen Mitteln auf engstem Raum den »ungewöhnlichen Menschen« strukturell analog. Man stößt im Forschungskontext zu Die Wiederholung immer wieder auf die These, dass im »jungen Menschen« das, wofür »die Wiederholung« steht, erfolgreich ausgetragen wurde. Diese Interpretation verkennt die Pointe von Kierkegaards Intention. Diese These wird in den Abschnitten II.1.3.1 und II.1.3.2 durchgeführt. 14

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stimmte Anzahl »ungewöhnlicher Menschen«, die den Gefahren ihrer Anlage nicht standhalten konnten. Dagegen stehen »Naturen von Erz«, deren Anzahl deutlich geringer ist. Sie haben den Gefahren, die notwendig mit dem Status »ungewöhnlicher Mensch« zusammenhängen, getrotzt. Fragen stellen sich hier: welches Kriterium hat Nietzsche in der Hand, um zu entscheiden, wer der höherrangige »ungewöhnliche Mensch« ist, und damit zusammenhängend: was bedingt das Bestehen, was bedingt das Scheitern? 16 Außerdem entscheidend ist die Frage: hat man an seinem Bestehen oder Untergehen selbst etwas auszurichten, kann man sich frei innerhalb der Verfassung »ungewöhnlicher Mensch« entwickeln, oder ist man derart fatal in die Natur eingebunden, dass im Grunde alles feststeht. Ist es also Voraussetzung, Natur von Erz zu sein, um den Gefahren Paroli bieten zu können, die mit dem Status »ungewöhnlicher Mensch« notwendig zusammenhängen? Was macht es dann aber noch für einen Sinn, die Natur von Erz am »ungewöhnlichen Menschen« hierarchisch auszurichten, der nicht diese Natur von Erz ist? Oder erweist man sich erst im Durchgang durch die Gefahren, die mit dem Status ungewöhnlicher Menschen zusammenhängen, als eine Natur von Erz, ist das Bestehen der Gefahren eine Art Aushärtungsprozess? Was ist dann der spezifische Unterschied, das qualitativ unterscheidende Merkmal, das den einen bestehen, den anderen untergehen lässt. 17 Schon so früh gibt es offenbar – äußerlich vermessen – bei Nietzsche diesen biederbiologistischen Zug, der mit dem Augenschein seine Argumente setzt. Die hierarchisierende Unterscheidung der Eigennamen ist suggestiv, insofern sie sich einer genaueren sachlichen Charakterisierung durch eine quasi-deiktische Geste entzieht. 17 Mit diesem Fragekomplex ist ein weitreichendes Problemfeld angerissen, das Nietzsche bis zuletzt umtreibt: die Frage nach der Freiheit des Wollens (als Voraussetzung für Moralphilosophie überhaupt). Einerseits ist Nietzsche in immer neuen Anläufen energisch darauf bedacht, die Unfreiheit des Wollens zu erweisen, indem er sie als psychologische Selbsttäuschung entlarvt, wobei deren Basis auf naturkausale, physiologische Effekte heruntergespielt wird. Anderseits widerspricht dem der Stil seines Philosophierens, das moralische Pathos des »Du sollst Dein Leben ändern« an allen Ecken und Enden. Nietzsche scheint im Austragen dieser (begrifflichen) Spannungen das Ideal vorzuschweben, derart die Grenzen des (vermeintlich) freien Wollens auszuloten, die Möglichkeitsspielräume auszureizen, dass zuletzt die Biografie als ein Stück Naturfatum sich beweist. Diese paradoxale Struktur fassen eindringlich zusammen die finalen Mahnrufe in Vom neuen Götzen, welche über Von den Fliegen des Marktes, Von der Keuschheit bis hin zu Vom Freunde das gesellige Wesen des Menschen bis in seine intimsten Zonen irritieren wollen: »Frei steht grossen Seelen auch jetzt noch die Erde. Leer sind noch viele Sitze für Einsame und Zweisame, um die 16

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Offenbar geht es Nietzsche in dieser Typisierung nicht nur um die biografischen Individuen. Die hierarchisierende Abgrenzung der Eigennamen scheint vor allem heuristischen Zwecken zu dienen, um mit wenigen Worten abstrakte Sachverhalte anschaulich zu machen. In diesem Zusammenhang zitiert Nietzsche einen »neueren Engländer«, 18 der die »allgemeinste Gefahr ungewöhnlicher Menschen« schildert, »die in einer an das Gewöhnliche gebundenen Gesellschaft leben« (SE – 352). Diese »fremdartige[n] Charaktere« würden »anfänglich gebeugt, dann melancholisch, dann krank und zuletzt st[ü]rben sie«. (SE – 352) Diese Effekte der »allgemeinsten Gefahr« zeitigen sich aufgrund des Gebundenseins an eine »gewöhnliche Gesellschaft«, deren unmittelbares Normierungsraster sich (nicht intendiert böswillig notwendig) als lebensgefährdende Grausamkeit gegen die Ausnahme äußert, was einen ungewöhnlichen Maßstab zur Lebensauslegung notwendig macht. Die Bindung an eine gewöhnliche Gesellschaft berührt also das Problem der herrschenden Moral. Es ist die bestehende Ordnung von Gut und Böse im Kleinen und Großen, welche die Hölderlins und Kleists und wen nicht sonst ums Leben brachte. Analog zu Kierkegaards Eröffnung der Ausnahmetheorie ist der »ungewöhnliche Mensch« hier dadurch gekennzeichnet, sein Leben im Bestehenden nicht haben zu können, es gibt etwas in dem Allgemeinen, das er – ausgegrenzt durch die herrschende Moral selbst – nicht in sein Leben aufnehmen kann, und diese »Wahrheit« liegt jenseits von Fragen der Moral: Der »ungewöhnliche Mensch« kann nichts dafür, dass er ungewöhnlicher Mensch ist. 19 Und doch, das scheint hier die entscheidende Pointe zu sein, entscheidet sich das Leben des »ungewöhnlichen Menschen« nur im Durchgang durch die Moral. Die »productive Einzigkeit« als der Geruch stiller Meere weht. / Frei steht noch grossen Seelen ein freies Leben. […] Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Nothwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise.« (Z – 63) So auch Nietzsche in einem Brief vom 3. Februar 1888: »Der jahrelange Mangel einer wirklich erquickenden und heilenden m e n s c h l i c h e n Liebe, die absurde Vereinsamung, die es mit sich bringt, daß fast jeder Rest von Zusammenhang mit Menschen nur eine Ursache von Verwundungen wird: das Alles ist vom Schlimmsten und hat nur Ein Recht für sich, das Recht, nothwendig zu sein. –« (KSB 8, Nr. 984 – S. 242) 18 Jörg Salaquarda hat ihn als Walter Bagehot identifiziert, vgl. KSA 14 – 76. 19 Vgl. dagegen – um auf Nietzsches neinsagende Philosophie vorauszublicken – die Strategie des Typus »asketischer Priester«, welcher mit dem Machtinstrument »Moral« den Menschen eben dadurch diszipliniert, dass er ihm die Schuld an sich selbst erfolgreich einredet.

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das ursprüngliche und ursprünglich ausnehmende Wesen jedes Individuums ist zu denken als unvordenklicher, noch nicht durch eine spezifische Ordnung des Guten und Bösen festgestellter Ort, darin das Leben des Menschen zu sich entspringt. Doch ist das zum Bewusstseinkommen der »productiven Einzigkeit« erst möglich, wenn man schon innerhalb eines konkreten Gesellschaftsganzen lebt. Dieses Bewusstsein kommt notwendig zu spät. Und hier erst stellt sich die Frage, mit welcher Intensität man das Allgemeine will bzw. wollen darf, und ob der Wille, es zu verwirklichen, einen scheitern lässt oder ›erbaut‹ zu dem, was man ist. Die entscheidenden Gedanken werden von folgendem Zitat noch einmal zusammengetragen: Ein Jeder trägt eine productive Einzigkeit in sich, als den Kern seines Wesens; und wenn er sich dieser Einzigkeit bewusst wird, erscheint um ihn ein fremdartiger Glanz, der des Ungewöhnlichen. Dies ist den Meisten etwas Unerträgliches: weil sie, wie gesagt, faul sind und weil an jener Einzigkeit eine Kette von Mühen und Lasten hängt. Es ist kein Zweifel, dass für den Ungewöhnlichen, der sich mit dieser Kette beschwert, das Leben fast Alles, was man von ihm in der Jugend ersehnt, Heiterkeit, Sicherheit, Leichtigkeit, Ehre, einbüsst; das Loos der Vereinsamung ist das Geschenk, welches ihm die Mitmenschen machen; die Wüste und die Höhle ist sofort da, er mag leben, wo er will. (SE – 359) 20

Mit diesem sozial-psychologisch ätherischen 21 Befund hängt entsprechend zusammen eine Art Krebsgang des Lebensvollzugs, ein Wiederfreisetzen dessen, was vermeintlich ursprünglich war und sein soll und doch also rein sich nie äußern können wird. Die Sehnsucht eines ›Zurück zur Natur‹ ist unstillbar. Es wird hier eine neue, in sich reflektierte Ursprünglichkeit veranschlagt, 22 die den vorbegrifflichen, Es soll hier am Rande erwähnt werden, dass Nietzsches Schilderung des Effektes der Aktualisierung der Ungewöhnlichkeit sehr nah an neutestamentlichem Ideengut anlehnt, so wie es durch Kierkegaard interpretiert wird, etwa dann, wenn er nach neutestamentlichen Analogien sucht für die »Suspension des Ethischen« und sie in Versen wie Lk 14,26 zu finden glaubt (vgl. FZ – 260–271). 21 Auch Vanessa Lemm beobachtet in ihrer kritisch-konstruktiven Auseinandersetzung mit der politisch-/moralisch-perfektionistischen Lesart von Nietzsches Erziehungsschrift, zugunsten einer außermoralischen Lektüre, dieses ätherische Argumentieren Nietzsches, und zwar dort, wo Nietzsche die physiologischen Effekte seiner ersten Schopenhauer-Lektüre beschreibt, vgl. V. Lemm (2007), S. 20 f. 22 Entsprechend heißt es in Die Heimkehr aus dem zungenredenden Munde des mit sich selbst identischen Zarathustra, des Zarathustra also, der keine gemeinsame Sprache mit den Menschen, dem Bestehenden mehr hat: »Hier springen mir alles Seins Worte und Wort-Schreine auf: alles Sein will hier Wort werden, alles Werden will 20

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»reinen« Eindruck der einmaligen Persönlichkeit, die man ist, vermittelt einlöst. Das Sichbewähren als »ungewöhnlicher Mensch« muss dabei also vorgestellt werden als ein siegreiches Durchkämpfen des durch das herrschende Allgemeine bedingte Konstitutionsgefahrenreich. Die Aushärtung zu einer »Natur von Erz«, die zugleich angelegt und errungen sein will, setzt damit die erfolgreiche Überwindung der Sphäre der Moral als Problem voraus. Zuletzt soll die religiöse Fassung des »ungewöhnlichen Menschen« skizziert werden, die letztere Behauptung tragen muss. Sie formuliert sich entlang der schillernden Bedeutung des Eigennamens »Arthur Schopenhauer«. Die Analogie zur Bedeutung des Eigennamens »Abraham« als des Glaubensritters und also exemplarischen Inbegriffs gelingenden Lebens, insofern über ihn die esoterische Essenz des »Einzelnen« eingegrenzt wird, ist auf zwei Ebenen zu finden. Zum einen ist keiner »Schopenhauer«. Allerdings ist durch diesen Namen etwas verbürgt, das jeden »ungewöhnlichen Menschen« identisch auszeichnet und als ethische Aufgabe in Analogie zum Tun des Musterbeispiels zu vollziehen ist. Zum anderen liegt die strukturelle Analogie der Verwendung der Eigennamen Abraham und Schopenhauer darin, dass diese Bedeutungsträger zugleich als Figuren konzipiert sind, in denen die Durchgangssphäre Moral erfolgreich durchschritten und verwandelt wurde. Dieses Ergebnis wird allerdings nicht als positiver Ausgangspunkt der Erwägungen gesetzt, es wird allein angedeutet und bleibt unbestimmbar, obschon vorausgesetzt. hier von mir reden lernen.« (Z – 232) Auch in Kierkegaards Furcht und Zittern wird als differentia specifica zwischen dem Einzelnen als »Einzelnen« und der Ausnahme die Metapher des Zungenredens bemüht: »Sprechen kann er nicht, er spricht keine menschliche Sprache. Wenn er selbst alle Zungen der Erde verstünde, wenn auch die Geliebten sie verstünden, dennoch kann er nicht sprechen – er spricht mit einer göttlichen Zunge, er spricht mit Zungen.« (FZ – 314) Die Vorstellung einer ›zweiten‹ bzw. ›neuen Unmittelbarkeit‹ findet sich bei Nietzsche etwa im Aphorismus Fortschritt in meinem Sinne aus Götzen-Dämmerung, der folgendermaßen anhebt: »Auch ich rede von ›Rückkehr zur Natur‹, obwohl es eigentlich nicht ein Zurückgehn, sondern ein H i n a u f k o m m e n ist – hinauf in die hohe, freie, selbst furchtbare Natur und Natürlichkeit, eine solche, die mit grossen Aufgaben spielt, spielen d a r f …« (GD – 150) Um das Assoziationsspektrum abzuschließen: die vorläufige Bestimmung von »Glauben«, wie sie Kierkegaard durch Frater Taciturnus in Stadien setzt, äußert sich wie folgt: »Was an der Sündenvergebung das Schwierige ist, wenn sie nicht auf dem Papier abgemacht werden soll oder mit Versicherungen eines gesprochenen Worts, die bald in Wonne, bald in Weinen bewegt sind, entschieden sein soll, nun, das besteht darin, sich dermaßen durchsichtig zu werden, daß man weiß, man existiere an keinem einzigen Punkt in Kraft von Unmittelbarkeit […]«. (SL – 513)

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Aus den Darstellungen Nietzsches geht also hervor, dass Schopenhauer zugleich ein ethisch orientierendes Vorbild ist und in ihm eine Qualität errungen wurde, aus der – indem sie die Sphäre der Moral überbietet (»Kultur«) – nachhaltig ethische Orientierung erst entspringt. Die folgende Analyse hat zum Horizont das Telos von Nietzsches Darstellung, nämlich das Gelingen, ungewöhnlicher Mensch zu sein. Es wäre zugleich die Aufhebung des Ausnahmestatus und entspricht strukturell der religiösen Ausnahmetheorie Kierkegaards. Durch die Bedeutung 23 des Eigennamens Schopenhauer erhält die Utopie gelingenden Lebens, der »Einsame«, seine erste Prägung. Einleitend zur Schilderung der typischen Gefahren, denen ungewöhnliche Menschen ausgesetzt sind, heißt es, Schopenhauers Biografie deutend: »Es ist aber ein Wunder und nichts Geringeres, dass er zu diesem menschlichen Beispiel heranwuchs: denn er war von aussen und von innen her durch die ungeheuersten Gefahren gleichsam umdrängt, von denen jedes schwächere Geschöpf erdrückt oder Die im Grunde sympathische Lesart (Kierkegaards und) Nietzsches als moralischer Perfektionisten scheint mir allein unter Ausblendung dieser esoterischen Essenz richtig und fruchtbar zu sein (vgl. etwa Compaijen (2011), Lippitt (2000a), S. 27–46, Conant (2014)). Sie kann sich nur behaupten, indem sie die esoterische Spitze des exemplarischen Denkens beider Philosophen abbricht, welche in dieser Studie ausgewiesen wird mit dem Raum »einsamster Einsamkeit«, wie Conant und Lippitt es tun, oder das (bei Kierkegaard theologische) Problem des Paradoxes philosophisch überrücken möchte (Compaijen). Es gibt, so setzen beide Denker voraus, innerhalb des »Einzelnen« und des »Einsamen« einen durch ein Selbstverhältnis zu aktualisierenden Unterschied, dessen Bedeutung die Sphäre der Moral überragt. Auch Stegmaier (2013) bringt Nietzsches Moralkritik um ihr Wesentliches, indem er die Möglichkeit von Moralkritik methodisch allein durch eine sozialtheoretische Perspektive gerechtfertigt sieht. Im hier verteidigten Sinne zeichnet etwa auch Perrot (1989) für Kierkegaard einen scharfen Unterschied ein zwischen dem Begriff des »Exemplarischen« und dem Begriff der »Ausnahme«, so wie sie Kierkegaard in Furcht und Zittern unterscheidet: »Si Abraham n’avait pas cru l’absurde, il aurait accompli un acte digne du héros tragique: il aurait pu offrir sa vie à la place de celle de son fils. Son acte aurait eu un sens, le monde l’aurait admiré, mai il n’aurait pas fait un acte de foi. Son destin aurait été exemplaire, mais il n’aurait pas été l’Exception.« (S. 104) Und auch Perrot spitzt diesen Unterschied über den Einsamkeitsbegriff zu, so wie er für die Selbstwerdung Abrahams (und Zarathustras) zentral ist und jede ausschließlich heidnische Reminiszenz unterbricht: »Aucun homme ne peut être plus solitaire qu’Abraham montant avec Isaac sur la montagne de Morija. Alors qu’Agamemnon était soutenu par la communauté et par le monde des valeurs, Abraham est vraiment seul, car son acte n’a ni but ni sens; il part sacrifier Isaac pour rien, puisque l’exigence divine est absurde.« (Ebd., 105) Diese Schilderung lässt sich stimmig übertragen auf die absurden Zusprüche der »stillsten Stunde« an Zarathustra, der seinen ›Gipfel‹ erklimmen muss, um – für seine Freunde – der zu werden, der er ist.

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zersplittert wäre.« (SE – 351 f.) 24 Nietzsche fährt fort zu behaupten, dass einiges dafür sprach, dass Schopenhauer als Philosoph und als Mensch vor seiner Zeit hätte zu Grunde gehen müssen. Die Tatsache, dass Schopenhauer bestand, wird dabei einigermaßen schillernd erklärt. Zum einen scheint es schlicht die biologische Konstitution zu sein, welche Schopenhauer hat bestehen lassen; wäre er – so impliziert der zitierte Abschnitt – ein »schwächeres Geschöpf« gewesen, so wäre er wie die scheiternden ungewöhnlichen Menschen »erdrückt« und »zersplittert« worden. Dieses harte biologische Faktum scheint aber kein hinreichender Grund für Schopenhauers Bestehen, bzw. scheint die negativ vorausgesetzte »Stärke« Schopenhauers nicht rein biologisch-konstitutionell gemeint zu sein. Hätte sie hinreichende Erklärungsfunktion, so müsste Nietzsche nicht einräumen, dass es »ein Wunder und nichts Geringeres« sei, dass Schopenhauer die Gefahren bestand. Die »Stärke« scheint also eine überindividuelle, höchst bedingte zu sein, die sich nicht als empirisch messbarer Begriff behauptet, sondern gegeben wurde. Die veranschlagte Doppeldeutigkeit des Eigennamens Schopenhauer – zugleich ethisches Vorbild zu sein in der Sphäre des Durch- bzw. Übergangs, der Moral und gelinEs ist bemerkenswert, dass sowohl Kierkegaard als auch Nietzsche den »ungewöhnlichen Menschen« als eine derart fragile Form fassen, dass dessen unheilbare »Zersplitterung« als regelmäßiges Resultat miterwogen wird; auch Wilhelm hatte wie gesehen eben diesen Ausdruck bemüht. Dieser Sachverhalt wird in Morgenröte in der Sentenz mit dem Titel Gehen wir vorüber! verdichtet: »Schont ihn! Lasst ihn in seiner Einsamkeit! Wollt ihr ihn ganz zerbrechen? Er hat einen Sprung bekommen, wie ein Glas, in das sich plötzlich etwas zu Heisses ergoss, – und er war ein so kostbares Glas!« (M – 284) Eine »Zersplitterung« wäre zunächst zu denken als eine irreversible Verletzung. Narbenlos rückgängig gemacht werden könnte sie nur, wenn die ursprünglich zusammengesetzten Bestandteile sich aus ihrer Fragmentierung derart verflüssigen ließen bzw. selbst verflüssigen könnten, um sich in dieser verwandelten Form ihres Wesens neu zusammenzulassen. In der Tat: beide Denker markieren (wie zitiert) den Gipfel ihrer Denkbewegungen mit Metaphern des Flusses, Wassers, Meeres, und eben jener Möglichkeit, die Wunden des Geistes zu heilen, ohne Narben zu hinterlassen (vgl. für Nietzsche Stegmaier (2010)). Kierkegaard bebildert das Leben in der religiösen Sphäre in Stadien wie folgt: »Die aesthetische Sphäre ist die der Unmittelbarkeit, die ethische ist die der Forderung (und diese Forderung ist so unendlich, daß der einzelne Mensch stets Bankrott macht), die religiöse Sphäre ist die der Erfüllung, jedoch wohlzumerken, nicht einer Erfüllung wie der, daß man Gold in einen Stock oder in eine Tasche füllt, denn die Reue hat eben unendlich Raum geschafft, und daher denn der religiöse Widerspruch: zugleich auf 70000 Faden Wassers zu liegen und dennoch fröhlich zu sein.« (SL – 507) Vgl. zu diesem Sachverhalt wiederum die religionsphilosophische Studie von Kellenberger (1997), der zurecht »Joy« als den Sinn dieser Denkfiguren hervorhebt.

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gender Ausdruck des Telos dieses Kampfes zu sein – wird durch folgendes Zitat noch klarer. Nach der detaillierten Schilderung der drei konstitutionellen Gefahren des »ungewöhnlichen Menschen« erwägt Nietzsche, das »Wunder« von Schopenhauers Bestehen als einen »befremdlichen« Eindruck konservierend: Jemehr man über die geschilderten drei Gefahren nachdenkt, um so befremdlicher bleibt es, mit welcher Rüstigkeit sich Schopenhauer gegen sie vertheidigte und wie gesund und gerade er aus dem Kampfe heraus kam. Zwar auch mit vielen Narben und offnen Wunden; und in einer Stimmung, die vielleicht etwas zu herbe, mitunter auch all zu kriegerisch erscheint. Auch über dem grössten Menschen erhebt sich sein eignes Ideal. Dass Schopenhauer ein Vorbild sein kann, das steht trotz aller jener Narben und Flecken fest. Ja man möchte sagen: das was an seinem Wesen unvollkommen und allzu menschlich war, führt uns gerade im menschlichsten Sinne in seine Nähe, denn wir sehen ihn als Leidenden und Leidensgenossen und nicht nur in der ablehnenden Hoheit des Genius. (SE – 359)

Die eigentümlich zerklüftete Struktur dieses ›Argumentationsgangs‹ lässt sich auf zwei Ebenen diskutieren: erstens dem erreichten Ziel von Schopenhauers Werdegang und der durch es verbürgten Bedeutung. Sie wird einerseits assoziiert mit Gesundheit und Geradheit, nachvollziehbar positiven Qualitäten also, und andererseits gesetzt als eine das Menschliche überragende Qualität, wobei sich Nietzsche davor sträubt, sie bestimmter zu fassen denn als exklusive, vor Vereinnahmung gewappnete, ablehnende Hoheit des Genius. Die zweite, bestimmter nachvollziehbare Ebene ist dynamisch konzipiert und bedeutet die ethische Vorbildlichkeit Schopenhauers, das jeden ungewöhnlichen Menschen beispielhaft orientierende an seinem Werdegang. Bemerkenswert ist die Inkommensurabilität beider Sphären. Das lässt sich erhellen, indem man die Engführung der Begriffe »Ideal« und »Vorbild« in Nietzsches Darstellung analysiert, deren Bedeutung zwischen den Ebenen schillert. Auf der einen Seite gibt es für nach verbindlicher Orientierung Ausschau haltende »ungewöhnliche Menschen« potentiell verschiedensten Rangs äußerliche, sichtbare Anknüpfungspunkte, die Schopenhauer als exemplarischen Erzieher fruchtbar werden lassen. Diese Tatsache ermöglicht Orientierung innerhalb der moralischen Sphäre, die jeder ungewöhnliche Mensch durchschreiten muss, will er nicht vor seiner Zeit zersplittern, erdrückt werden etc. Gleichzeitig allerdings gibt es ein verborgenes Moment als das eigentliche Telos von Schopenhauers Existenzvollzug und damit letztlich prinzipiell jedes ungewöhnlichen Modulationen der Einsamkeit

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Menschen, dessen selbstreferentieller Charakter nicht mehr intersubjektiv kommuniziert werden, auf Begriffe der Moral gebracht werden kann, obschon er diese trägt. Der Name »Schopenhauer« wird hier also einerseits verwendet als normierend für die Frage nach dem Menschen, wobei hier unterstellt wird, dass Schopenhauer diese Frage bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit ausreizte, ohne doch aus ihr heraustreten zu können. Schopenhauer hat zwar die Gefahren abgewehrt, die einem »ungewöhnlichen Menschen« vor seiner Bewährung den Garaus machen können, doch steht über ihm noch sein eigenes Ideal, das ihn an die Form »Mensch« im moralischen Sinne rückbindet. Nietzsche wendet im Zitat dieses »Menschliche« an Schopenhauer allerdings ins Positive, um indirekt anzuzeigen, dass sich in Schopenhauer zugleich eine Überbietung dieses allzu Menschlichen 25 ereignet. Man kann, um des qualitativen Sprungs in Nietzsches Argumentation ansichtig zu werden, folgende Frage stellen: Ist »Schopenhauer«, der »größte Mensch«, auch der Typus »ungewöhnlichster« unter den »ungewöhnlichen« Menschen, oder ist in Nietzsches Argumentation eine neue Sphäre aufgebrochen, die diese Übertragung nicht zulässt? Von der moralischen, kämpferischen Phase des Bestehens der Gefahr, die als eine Durchgangsphase zu denken ist, in der man sich zu bewähren, zu berechtigen hat, ist das Ergebnis, das »aus dem Kampfe« Herausgekommensein, qualitativ unterschieden. Die mit dem Status »ungewöhnlich« zusammenhängenden, dynamischen Attribute heben sich auf, nachdem der Kampf mit der Moral Es ist bedeutsam, dass die Attribute »menschlich« im guten Sinne und »allzu menschlich« im pejorativen Sinne hier in dieser Konstellation auftreten; sie antizipieren den Sinn von Nietzsches Eröffnung seiner Freigeistphase, die mit dem Werk Menschliches, Allzumenschliches anhebt und als eine Invertierung bzw. Umkehrung der philosophisch-erzieherischen Strategie Nietzsches gedeutet werden muss (vgl. hierzu bereits Abschnitt I.3.1.3): Ist Nietzsches philosophische Ouvertüre überlastet von unhaltbaren Antizipationen des durch »Übermenschen« gelenkten Geschicks der Weltgeschichte, so bedeutet die mittlere Werkphase die umgekehrte Strategie seines Philosophierens. Er begegnet der allgemein-menschlichen Basis im zu überwindenden Sinne durch psychologische Begriffsarbeit, wobei er zeigt, dass eben auch die »Halbgötter« wie Beethoven (vgl. SE – 355) nicht als solche geboren wurden, sondern an sich reichlich von dem zu überwinden hatten, was allzu-menschlich ist: Nietzsche generiert in unzähligen Facetten Anknüpfungspunkte zwischen »kleinen« und »großen« Menschen (vgl. etwa MA I – 146 f.). Diesen Umbruch markiert Nietzsche wie im Abschnitt I.4.2.1 herausgearbeitet in der Vorrede von Also sprach Zarathustra, und zwar dort, wo er die Frage nach dem Menschen gegenüber einer anonymen Volkmasse einspannt in eine positive (Übermensch) und negative (letzter Mensch) Utopie seiner Möglichkeiten.

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durchkämpft worden ist. »Schopenhauer« ist hier nicht mehr als Mensch unter Menschen angesprochen, sondern als metaphysischer Ausdruck gelingender Existenz. Entsprechend fasst Nietzsche im fünften Abschnitt seiner dritten Unzeitgemäßen seine Arbeit als eine »mit unvollkommnem Ausdruck« skizzierte Schilderung eines »idealen Menschen«, »welcher in und um Schopenhauer, gleichsam als eine platonische Idee, waltet«. (SE – 376) In »Schopenhauer« drückt sich seiner idealen Bedeutung nach also nichts »Ausnahmsweises«, »Ungewöhnliches« mehr aus, vielmehr ist in ihm etwas Objektives, gewissermaßen hinter der ablehnenden Hoheit seines Genius ein neues Allgemeines hinterlegt: »Schopenhauer« bzw. dessen – an keiner Stelle von Nietzsches Betrachtung explizit thematisierte – Philosophie wird von Nietzsche veranschlagt als Ausdruck einer neuen Epoche tragischer Wahrheit. Bis hierher wurden die theoretischen Elemente des anti-begrifflichen Platzhalters der ethisch motivierten Moralkritik Kierkegaards und Nietzsches isoliert. Im »ungewöhnlichen Menschen« legt sich als seine Form die Substanz des exemplarischen Denkens aus – die »Einsamkeit« bzw. das, was sich durch sie in ihren Modulationen ereignen soll. Ausnahmefiguren kommt im eminenten Sinne – dieser Sachverhalt wurde bis hierher nur gestreift – Umwertungs- und Wertsetzungsfunktion bezogen auf die bestehende Ordnung zu.

II.1.3 Stiftung und Umwertung des Allgemeinen durch die Ausnahme (SE) Für beide Denker steht fest: der Ausnahme kommt bezogen auf die gegebene und immer neu zu aktualisierende Ordnung von Gut und Böse Wertsetzungs- und Umwertungsfunktion zu. Nietzsche formuliert in Schopenhauer als Erzieher – und das ist sachlich betrachtet der das Ausnahmetheorem einleitende Vordersatz: »Ich mache mir aus einem Philosophen gerade so viel als er im Stande ist ein Beispiel zu geben. Dass er durch das Beispiel ganze Völker nach sich ziehen kann, ist kein Zweifel […]«. (SE – 350) An Schopenhauers Beispiel, so Nietzsche weiter, lerne man, dass der Philosoph mehr zu sein habe als »›reine Wissenschaft‹«, 26 nämlich lebendiger Ausdruck seiner GeSowohl Kierkegaards als auch Nietzsches exemplarisches Denken lebt in außerordentlichem Maße von einer – allerdings substantiell motivierten – Polemik gegen

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danken, die wie bei den alten griechischen Denkern, »durch Miene, Haltung, Kleidung, Speise, Sitte mehr als durch Sprechen oder gar Schreiben« (SE – 350) sich äußere. 27 Wertsetzungs- und Umwertungsprozesse treten in ganz verschiedenen Größenordnungen zu Tage. Der hier erwogene Wertsetzungs- und Umwertungsprozess setzt auf einer globalen Ebene an: er ist nicht wirklich als ein Durchsetzen besserer Argumente zu verstehen, sondern von beiden Denkern (auch auf ihre Werke zuletzt bezogen) bald veranschlagt als Ausdruck einer tieferen, zeitlich anstehenden Wahrheit, für die dem Umwertenden selbst in letzter Instanz nur mediale Funktion zukommt. Sowohl Kierkegaard als auch Nietzsche ringen in ihrem Werk als Ganzem um die Einsicht, was eine allgemein-menschlich berechtigte von einer beliebigen, unberechtigten Wertsetzung und Umwertung durch eine Ausnahme unterscheidet. Für den jungen Nietzsche steht in seinem Erziehungsmanifest jedenfalls fest, dass Schopenhauer eine berechtigte Ausnahme ist. Wenige Denker haben in dem Maasse und der unvergleichlichen Bestimmtheit empfunden, dass der Genius in ihnen webt; und sein Genius verhiess ihm das Höchste – dass es keine tiefere Furche geben werde als die, welche seine Pflugschar in den Boden der neueren Menschheit reisst. (SE – 358) 28

Der »revolutionäre Bruch«, von dem Karl Löwith angesichts Schopenhauer und seiner radikalen Verwerfung einer systematisierbaren Güte der Vernunft spricht als dem philosophiegeschichtlichen Einbruch zwischen zwei Epochen, ist also bereits für Nietzsche sichtbar und bezogen auf die Sache seiner Philosophie Herausforderung. 29 Dadie akademische Philosophie, deren Form von Wissensgenerierung die Frage nach dem gelingenden Leben nicht adäquat stellen kann, bei gleichzeitiger Aufwertung der griechischen Philosophen als exemplarischer Denkerpersönlichkeiten. Kierkegaard polemisiert gegen die akademische Philosophie unvergleichlich etwa im Vorwort von Furcht und Zittern. Die tiefe Bedeutung dieser ›Polemik‹ stellt auf eine einnehmende Weise der bereits erwähnte Hadot (2005) dar. Auch Hartog (2012) geht über die analoge Kulturkritik beider Denker vermittelt diesem Ethikkonzept nach. 27 Die ausnahmetheoretisch ermessene Kontinuität zwischen Schopenhauer als Erzieher und Also sprach Zarathustra kann hier erneut freigelegt werden. Vgl. die Selbsteinschätzung Zarathustras in der durch Selbstverwandlungen errungenen Rolle des Typus Morallehrer seiner einsamen Bedeutung nach: »Ein Vorspiel bin ich besserer Spieler, oh meine Brüder! Ein Beispiel! T h u t nach meinem Beispiele! / Und wen ihr nicht fliegen lehrt, den lehrt mir – s c h n e l l e r f a l l e n ! –« (Z – 262) 28 Es ist sonderbar: das »Höchste« wird nur negativ, vollkommen leer bestimmt als radikaler Bruch mit der Tradition, ohne sich im Ansatz positiv behaupten zu müssen. 29 Schopenhauers Pessimismus verlieh damit bald einer lebensweltlichen Grundstim-

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bei ist der Philosoph, soll er ein gerechtes Urteil fällen bezogen auf die Frage nach dem Wert des Daseins, zwei spezifisch zu bestehenden Gefahren ausgesetzt: ungeschichtlichen »Constitutionsgefahren« – diese kamen in ihrem ausnahmetheoretischen Sinn bereits in den Blick – und »Zeitgefahren«. Bezogen auf Letztere heißt es wieder: »Denken wir uns das Auge des Philosophen auf dem Dasein ruhend: er will dessen Werth neu festsetzen. Denn das ist die eigenthümliche Arbeit aller grossen Denker gewesen, Gesetzgeber für Maass, Münze und Gewicht der Dinge zu sein.« (SE – 360) Mit der Grundüberzeugung, dass das Bewusstsein das Sein determiniert, fährt Nietzsche fort zu deklarieren, dass es entsprechend für den Philosophen Schopenhauer eine unsäglich schwere Aufgabe gewesen sein müsse, den Wert des Daseins gerecht zu bestimmen, insofern seine Jetzt-Zeit »eine schwächliche und von Würmern zerfressene Frucht« (SE – 360) war. So ist die Aufgabe für den Ausnahmedenker als Neuabwäger des Daseinswertes, die durch die Umwelt in ihn hineinströmende mung ihre philosophische ›Würde‹. Nietzsche drückt den Einschnitt, den Schopenhauer epochal bedeutet, neben hier zur Debatte stehenden Auszügen außerdem auch klar aus in Jenseits von Gut und Böse: im § 204 diskutiert Nietzsche die Frage der »Rangordnung«, die es unter Gelehrten zu geben hat vor dem Hintergrund, dass in der gegenwärtigen Welt des Geistes (aufgrund des normierende Qualitäten nivellierenden demokratischen Wesens) keine qualitativen Differenzen zwischen Denker und Denker anerkannt werden. Einen Hauptgrund für diese Anarchie in der Welt der »jungen Gelehrten« sieht Nietzsche – mittlerweile – allerdings in Schopenhauer angelegt: er »hat es mit seiner unintelligenten Wuth auf Hegel dahin gebracht, die ganze letzte Generation von Deutschen aus dem Zusammenhang mit der deutschen Cultur herauszubrechen, welche Cultur, Alles wohl erwogen, eine Höhe und divinatorische Feinheit des historischen Sinns gewesen ist: aber Schopenhauer selbst war gerade an dieser Stelle bis zur Genialität arm, unempfänglich, undeutsch.) Überhaupt in’s Grosse gerechnet, mag es vor Allem das Menschliche, Allzumenschliche, kurz die Armseligkeit der neueren Philosophen selbst gewesen sein, was am gründlichsten der Ehrfurcht vor der Philosophie Abbruch gethan und dem pöbelmännischen Instinkte die Thore aufgemacht hat. Man gestehe es sich doch ein, bis zu welchem Grade unsrer modernen Welt die ganze Art der Heraklite, Plato’s, Empedokles’, und wie alle diese königlichen und prachtvollen Einsiedler des Geistes geheissen haben, abgeht; und mit wie gutem Rechte Angesichts solcher Vertreter der Philosophie, die heute Dank der Mode ebenso oben-auf als unten-durch sind – in Deutschland zum Beispiel die beiden Löwen von Berlin, der Anarchist Eugen Dühring und der Amalgamist Eduard von Hartmann – ein braver Mensch der Wissenschaft sich besserer Art und Abkunft fühlen darf.« (JGB – 130 f.) Dass dieser Text in substantiellem Zusammenhang mit der hier besprochenen Passage der dritten Unzeitgemäßen steht, belegt der Verweis auf die Griechen als exemplarische Denker, mit dem Unterschied eben, dass hier nun »Nietzsche als Erzieher« spricht und Schopenhauer diese Bedeutung entzogen wurde. Modulationen der Einsamkeit

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Menschheit in sich von ihren unwesentlichen Bestandteilen zu reinigen, indem er die Gegenwart in ihrer zufälligen Aktualität in sich überwindet. Nun aber ist alles Gegenwärtige zudringlich, es wirkt und bestimmt das Auge, auch wenn der Philosoph es nicht will; und unwillkürlich wird es in der Gesammtabrechnung zu hoch taxirt sein. Deshalb muss der Philosoph seine Zeit in ihrem Unterschiede gegen andre wohl abschätzen und, indem er für sich die Gegenwart überwindet, auch in seinem Bilde, das er vom Leben giebt, die Gegenwart überwinden, nämlich unbemerkbar machen und gleichsam übermalen. Dies ist eine schwere, ja kaum lösbare Aufgabe. (SE – 361)

Doch Schopenhauer scheint dieser Prozess auf eine eigentümliche Weise gelungen zu sein. Als objektiver »Spiegel der Zeit« 30 kann Schopenhauer deswegen gelten, weil er in sich gleichsam alles Unzeitgemäße überwand. Die Sehnsucht nach starker Natur, nach gesunder und einfacher Menschheit war bei ihm eine Sehnsucht nach sich selbst; und sobald er die Zeit in sich besiegt hatte, musste er auch, mit erstauntem Auge, den Genius in sich erblicken. Das Geheimniss seines Wesens war ihm jetzt enthüllt, die Absicht jener Stiefmutter Zeit, ihm diesen Genius zu verbergen, vereitelt, das Reich der verklärten Physis war entdeckt. (SE – 362 f.)

Es geht hier nicht um die Bewertung dieser Einschätzungen. Es soll allein konstatiert werden, dass er davon überzeugt zu sein scheint, dass sich in Schopenhauers Werk eine neue, tragische Philosophie austrägt, die ›an der Zeit‹ und an der sich zu orientieren geboten ist, will man mehr sein als nur »reine Wissenschaft« oder bloßer, ›die Wahrheit‹ gar nicht tangierender Gelehrter – nämlich Philosoph im griechischen Sinne, der, so wurde gesagt, ganze Völker nach sich ziehen kann. Die hier gesetzten, ausnahmetheoretisch ausgewerteten Thesen formalisieren das Denkanliegen Nietzsches; sie haben ihren Nachhall in dem Selbstbewusstsein, durch Der Anti-Christ. Fluch auf das Christentum die Umwertung aller Werte vollzogen zu haben. 31 So muss auch

Es ist beachtlich, dass auch Kierkegaard in seiner späten Lektüre Schopenhauers diesen als ein »bedenkliches Zeichen der Zeit« deutet. Das Attribut »bedenklich« ist pejorativ gemeint, was impliziert, dass Kierkegaard das Problem der Moderne, von dem auch er ausging – »[…] ich stecke den Finger ins Dasein – es riecht nach nichts […]« (WH – 410) –, anders, besser bewältigt hat. 31 Vgl. hierzu die eingehende Rekonstruktion bei Sommer (2012), S. 3 ff. 30

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an die Bedeutung von Also sprach Zarathustra erinnert werden als dem leidenschaftlich suchenden Ausdruck für die Frage nach der Möglichkeit, den Wert des Daseins neu abzuwägen. 32 Nietzsches Einschätzung seiner Zeit, gegen die er durch Schopenhauer als Paradigma erziehen will, wird vorgestellt als eine Welt des schlechten Werdens, 33 der menschlich nachhaltige Orientierung ermangelt. 34 Es bedarf kaum der Erwähnung, dass auch Zarathustra noch an dieser Erfahrung ›zu beißen‹ haben wird. Auch wenn die Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen ihrem Inhalt nach nicht Gegenstand dieser Studie ist, steht doch fest, was sie bedeuten will: einen qualitativen Unterschied zu einem nihilistischen Zeitgeist, der durchdrungen ist von der Annahme, es gäbe keine Instanz, welche berechtigt wäre, orientierende Horizonte zu stiften. Kierkegaards exemplarisches Denken hat im Gegensatz zu Nietzsches noch einen außer-menschlichen Maßstab zur Orientierung, den Gott-Menschen, und will – nachdem es vergessen wurde – wieder freilegen, was es bedeutet, sich an ihm zu orientieren. Gleichwohl ist Kierkegaard dadurch nicht von der philosophisch drängenden Frage entbunden, welVgl. hierzu Von alten und neuen Tafeln des Zarathustra, das direkter Ausdruck des Versuchs einer Wertneubestimmung des menschlichen Lebens ist. In Von den drei Bösen heißt es einleitend: »Im Traum, im letzten Morgentraume stand ich heut auf einem Vorgebirge, – jenseits der Welt, hielt eine Wage und w o g die Welt.« (Z – 235) 33 »Die ungeheure Bewegtheit der Menschen auf der grossen Erdwüste, ihr Städteund Staatengründen, ihr Kriegeführen, ihr rastloses Sammeln und Auseinanderstreuen, ihr Durcheinander-Rennen, voneinander Ablernen, ihr gegenseitiges Überlisten und Niedertreten, ihr Geschrei in Noth, ihr Lustgeheul im Siege – alles ist Fortsetzung der Thierheit: als ob der Mensch absichtlich zurückgebildet und um seine metaphysische Anlage betrogen werden sollte, ja als ob die Natur, nachdem sie so lange den Menschen ersehnt und erarbeitet hat, nun vor ihm zurückbebte und lieber wieder zurück in die Unbewusstheit des Triebes wollte.« (SE – 378 f.) Diese fatalistische Weltinterpretation hat ihre bedeutende Analogie bei Kierkegaard (sie wurde bereits zitiert im Abschnitt I.2.4). Dieses Weltbild ist in eminenten Sinne »nihilistisch« deswegen, weil hypothetisch abgesehen wird von der Möglichkeit, dass es eine allgemein-menschlich verbindliche Orientierung geben könne. 34 »Die Gewässer der Religion fluthen ab und lassen Sümpfe oder Weiher zurück; die Nationen trennen sich wieder auf das feindseligste und begehren sich zu zerfleischen. Die Wissenschaften, ohne jedes Maass und im blindesten laisser faire betrieben, zersplittern und lösen alles Festgeglaubte auf; die gebildeten Stände und Staaten werden von einer grossartig verächtlichen Geldwirthschaft fortgerissen. Niemals war die Welt mehr Welt, nie ärmer an Liebe und Güte. Die gelehrten Stände sind nicht mehr Leuchtthürme oder Asyle, inmitten aller dieser Unruhe der Verweltlichung; sie selbst werden täglich unruhiger, gedanken- und liebeloser. Alles dient der kommenden Barbarei, die jetzige Kunst und Wissenschaft mit einbegriffen.« (SE – 366) 32

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cher Maßstab wiederum ihn zu diesem einen Einblick in ›die Wahrheit‹ voraussetzenden Tun berechtigt (was hier nur erwähnt sein soll). Kierkegaards Schrift Die Wiederholung formuliert eine Ausnahmetheorie, deren Resultat – der Typus Dichter seiner sozialen Bestimmung nach – eine Welt des schlechten Werdens perpetuiert. Im Folgenden soll diese Ausnahmetheorie besprochen werden, insofern deren Dynamiken quasi-naturgesetzlichen Mechanismen gehorcht. Bevor deutlich wird, inwiefern der Ausnahme im Sinne Constantins Wertsetzungs- und Umwertungsautorität bezogen auf die herrschende Ordnung zukommt, soll die sozialtheoretisch konzipierte, agonale Dialektik zwischen Ausnahme und Allgemeinem konkret am Text besprochen werden. In ihr wird das ursprünglich veranschlagte Moment ausgeblendet, das den Menschen als Menschen orientiert und das Tun der Ausnahme womöglich berechtigt.

II.1.3.1 Agon: Die Ausnahme und das Allgemeine (WH) Nachdem Constantin abgründige Voraussetzungen für das Verständnis des dialektischen Kampfes der Ausnahme mit dem Allgemeinen festgelegt hat – die Nachzeichnung dieses Kampfes sei schließlich »mit einem Wort ebenso schwierig, wie einen Mann tot zu schlagen und ihn am leben zu lassen« (WH – 435) –, fährt er doch fort, den Konflikt zu erhellen. Auf der einen Seite steht die Ausnahme, auf der anderen das Allgemeine, und der Streit selbst ist ein wunderlicher Konflikt zwischen dem Zorn und der Ungeduld des Allgemeinen angesichts des Spektakels, den die Ausnahme bewirkt, und ihrer [seiner!, R. R.] zärtlichen Vorliebe für die Ausnahme; denn das Allgemeine freut sich zu guter Letzt doch ebensosehr über eine Ausnahme wie der Himmel über einen Sünder, der sich bekehrt, mehr als über neunundneunzig Gerechte. (WH – 435)

In diesem – durch Constantins spezifischen Blick auf die Sache sozialpsychologisierten – Agon gibt es abstrakt betrachtet zwei Fronten, die von je spezifischen inter- bzw. intrasubjektiven (Innen-)Dynamiken des Allgemeinen und der Ausnahme ausgerichtet werden. Der ›innere‹ Konflikt des hier subjektivierten Allgemeinen zeichnet sich aus durch die Spannung zwischen Zorn und Ungeduld wider die Ausnahme auf der einen und einer Vorliebe für die Ausnahme auf der ande174

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ren Seite. Das Allgemeine steht der Ausnahme entsprechend sowohl antipathisch als auch sympathisch gegenüber. Constantin scheint hier hervorheben zu wollen, dass die Reaktion des Allgemeinen gegenüber der Ausnahme zunächst »Zorn« und »Ungeduld« ist im Sinne von ›was bildet der sich ein‹, ›da will sich jemand wichtig nehmen‹. Auf dieses Ärgernis folgt dann »zu guter Letzt« eine Art Versöhnung, hegt doch das Allgemeine eine Vorliebe für die Ausnahme. Der Ausdruck »Vorliebe« ist hier von theoretischer Bedeutung. Wenn von Vorliebe gesprochen wird, muss es etwas geben, was weniger geliebt wird. In »Vorliebe« überwiegt die quantitative Bestimmung von »Liebe«, sie ist damit bedingt und exklusiv. Es scheint der Schluss nahezuliegen, dass das Allgemeine aus sich heraus keine ausreichende Liebe zu sich selbst etablieren kann, wenn es nicht auch die Ausnahme gibt, die es seiner versichert. Das Allgemeine ist als Funktionierendes, solange es unhinterfragt, »blind« funktioniert. Sobald allerdings das Allgemeine – durch einen Ausnahmefall – über sich selbst stolpert, wird es wider Willen aufgeschreckt, ohne doch an sich selbst Orientierung zu finden, insofern es quasi blind ist ohne die Ausnahmen, die es auslegt. Daraufhin findet eine Neuorientierung an der es überblickenden Ausnahme statt, was dem Allgemeinen dann allmählich wieder erlaubt, sich in Selbstvergessenheit zu wiegen. Das neutestamentliche Bild vom Himmel, der sich mehr freut über einen bekehrten Sünder als über 99 Gerechte, unterstützt diese Interpretation. Der »Himmel« ist hier quasi die Substanz und Güte des Allgemeinen, welche immer wieder neu über einen exzentrischen Standpunkt von sich selbst über sich selbst klar werden muss. Die Ausnahme wird hier dynamisch verstanden als der Unterschied zum Allgemeinen, der vom Allgemeinen gesetzt wird (»Ungeduld« und »Neid«) und zuletzt von diesem Allgemeinen wieder aufgehoben wird, indem dieses sich in der Ausnahme erkennt. Auf der anderen Seite trägt sich der Konflikt innerhalb der Ausnahme selbst zu. Dort […] kämpfen der Ausnahme Aufsäßigkeit und Trotz, ihre Schwäche und Kränklichkeit. Das Ganze ist ein Ringen, in dem das Allgemeine mit der Ausnahme ringt, im Kampf damit ringt, und sie durch dies Ringen bestärkt. Kann die Ausnahme die Not nicht durchstehen, so hilft ihr das Allgemeine nicht, ebensowenig wie der Himmel einem Sünder hilft, der den Schmerz der Reue nicht durchstehen kann. (WH – 435)

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Diese Beschreibung des Konflikts innerhalb der Ausnahme unterstellt eine eigentümliche Dialektik von psychischer Aktivität und physischer Passivität, ein eigensinniges Wollen (»Aufsässigkeit«/ »Trotz«) und ein physisches, ohnmächtiges Ausgesetztsein und Erleiden (»Schwäche«/»Kränklichkeit«). Ausnahmesein wird hier zugleich als eine spezifische Selbstsucht und ein naturgemäßes Geschick gedeutet, für das die Ausnahme offensichtlich nicht verantwortlich gemacht werden kann. In der berechtigten Ausnahme wirken also verfügbare und unverfügbare Größen zusammen. Constantins Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse gleicht dem eines nüchternen, Data sammelnden Sozialtheoretikers. Er interessiert sich entsprechend zunächst wenig für ethische Fragen, muss diese aber eben doch, da die Moral – nicht innerhalb ihrer eigenen Sphäre, der Freiheit, gedacht, sondern schlicht als begrifflich-motivierender Treibstoff des Theatrum mundi – jederzeit durch seine Forderungen spezifische Effekte zeitigt, voraussetzen. In der Ausnahme wird das Allgemeine eigentümlich verdoppelt, selbstreferentiell (»in dem das Allgemeine mit der Ausnahme ringt, im Kampf damit ringt«) und ist also zugleich Objekt und Subjekt des Konflikts in dem Sinne, als es sowohl als das Aussondernde als auch als das das Aussondernde Bekämpfende vorgestellt werden muss: das Allgemeine kämpft in der Ausnahme zugleich gegen die Ausnahme und gegen sich selbst. Die Not dieses Kampfes wird auch hier wiederum mit biblischem Stoff erhellt. Sie entspricht dem Schmerz der Reue des Sünders. Dieser muss aus sich selbst – ohne Rücksicht auf Hilfe ›von oben‹ – einen Grund setzen bzw. auf einen Grund stoßen, indem er sich in sich selbst vertieft, verinnerlicht. Allerdings ist dieser Schmerz als Schmerz noch verwoben mit dem Allgemeinen, nicht schon Beleg für eine potentielle »Berechtigung«. Hier geht es um eine Abschnürung vom Allgemeinen unter Einkapselung, Isolierung seines Wesens, welches sich durch diese Distanzierung bzw. Anspannung neu bündelt und komprimiert, um dann gereinigt und durchsichtig vor sein eigenes Bewusstsein zu kommen. »Die energische und geschlossene Ausnahme, die, obgleich im Streit mit dem Allgemeinen, doch einen Schößling davon darstellt, bewahrt sich.« (WH – 435)

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II.1.3.2 Die Ausnahme als Umwertungsautorität (WH) Die »berechtigte Ausnahme«, so wie sie in Constantins Die Wiederholung konstruiert wird, hat qualitativen Vorrang gegenüber dem, wovon sie ausgenommen ist in dem Sinne, als sie dem Allgemeinen ursprünglich überhaupt erst seine konkrete Selbstauslegungsmöglichkeit stiftet und diese immer wieder neu moduliert. Indem die Ausnahme sich selbst durchdenkt, denkt sie zugleich an das Allgemeine, indem sie sich selbst durchwirkt, wirkt sie für das Allgemeine, indem sie sich selbst erklärt, erklärt sie das Allgemeine. Die Ausnahme erklärt also das Allgemeine und sich selbst, und wenn man das Allgemeine recht studieren will, braucht man sich bloß nach einer berechtigten Ausnahme umzusehen; sie tut das Allgemeine bei weitem deutlicher dar als das Allgemeine selbst. (WH – 435)

Die substantielle Einheit von Ausnahme und Allgemeinem sticht hier besonders ins Auge. Das Allgemeine, als solches und für sich isoliert betrachtet nur Spielraum von ethischen Orientierungsmöglichkeiten, ist ohne die Ausnahme gar nicht da, tritt als solches nicht in das Bewusstsein. Erst in der Ausnahme individuiert sich das Leben des Allgemeinen durch die einsame Isolation seiner Substanz zu einem besonderen, exemplarischen Entwurf konkreter Handlungsmöglichkeit, welcher für eine spezifische Dauer Leitsternfunktion hat, indem die Ausnahme sich »durchdenkt«, »durchwirkt« und »erklärt«. Die Stifterfunktion der Ausnahme und ihr qualitativer Vorrang gegenüber dem Allgemeinen werden auch im folgenden Zitat zum Ausdruck gebracht, insofern die Ausnahme dem Allgemeinen gegenüber immer einen Schritt voraus ist. Sie hat einen dauerhaft, aber latent im Tiefenbewusstsein des Allgemeinen angelegten Konflikt zu Gesicht bekommen und diesen siegreich ausgetragen, während das Allgemeine selbst sich aufgrund dieser kontinuierlichen Verdrängungsleistung nur »polemisch«, das heißt hier: aufgrund eines uneingeständigen Sinndefizits und -vakuums, aggressiv exkludierend und verleumdend verhalten kann. Die berechtigte Ausnahme ist im Allgemeinen versöhnt; das Allgemeine ist von Grund auf polemisch der Ausnahme gegenüber; denn es will sich seine Vorliebe dafür nicht merken lassen, bevor die Ausnahme es gleichsam zu diesem Eingeständnis zwingt. Hat die Ausnahme nicht die Macht dazu, ist sie nicht berechtigt, und daher ist es vom Allgemeinen sehr klug, sich nicht zu früh etwas merken zu lassen. Wenn der Himmel einen Sünder mehr

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liebt als neunundneunzig Gerechte, dann weiß der Sünder dies von Anfang an gewiß nicht; er hingegen vernimmt bloß des Himmels Zorn, bis er zuletzt den Himmel gleichsam nötigt, mit der Sprache herauszurücken. (WH – 435 f.)

An diesem Punkt des »Ringens« wird eine zeitliche Asymmetrie unterstellt. Die Ausnahme ist mittlerweile mit dem Allgemeinen – auf Distanz allerdings – versöhnt, indem sie ihren Standpunkt für sich behaupten konnte. Das Allgemeine allerdings ziert sich, verwahrt sich davor, die Ausnahme durch einen unmittelbaren Zuspruch als berechtigt zu sanktionieren. Es darf sich vor sich selbst nicht eingestehen, in welchem Angewiesenheits- und Abhängigkeitsverhältnis es gegenüber der Ausnahme steht, weil sonst – zutiefst, ja abgründig beschämend –, mit Nietzsche zu reden, seine schlechte Liebe zu sich selbst offenbar würde. 35 An diesem Zitat wird deutlich, dass sich Constantins Erwägungen gewissermaßen schon auf nietzscheschem Boden bewegen. Die Macht, welche die Ausnahme über das Allgemeine hat und die wie ein quasi naturkausaler Effekt auf es wirkt, die es »zwingen« kann, sich an ihm auszurichten, erweist die Ausnahme als »berechtigte«, wobei diese moralische Formel in einem außermoralischen, immoralistischen Sinne verwendet wird. Die behauptete errungene Versöhnung der Ausnahme mit dem Allgemeinen enthält sich ja jeder konkreten Äußerung, welche Güte unter Ausschluss von welchem Bösen sich hier manifestiert. Von zentralem Interesse für Constantin sind alleine die innerweltlichen Dynamiken, unterschiedslos gedacht. Constantin hält hier die lückenlose Verwobenheit der Ausnahme mit dem Allgemeinen aufrecht, indem er – wieder eine Art organischen Mechanismus unterstellend – behaupten kann, dass jede Ausnahme, die das Allgemeine nicht von sich überzeugen, dem Allgemeinen nicht seine Wertneuauslegung überstülpen kann, sich als nicht-berechtigt erweist. Dabei wird das Allgemeine wieder durch menschlich-subjektive Merkmale personifiziert; es sei »klug« von ihm, sich nicht zu früh etwas anmerken zu lassen. Dem Allgemeinen wird eine passive, reaktive, »weibliche« Macht des Hinhaltens zu-

Auch Nietzsche scheint etwa im Kapitel Von der Nächstenliebe des Zarathustra einen analog entzaubernden Blick auf die Konstitution der herrschenden Moralvorstellungen zu haben. So kann der hier vorgestellten Psychologie der Ausnahme-Allgemeines-Dialektik folgender Satz an die Seite gestellt werden: »Ihr haltet es mit euch selber nicht aus und liebt euch nicht genug: nun wollt ihr den Nächsten zur Liebe verführen und euch mit seinem Irrthum vergolden.« (Z – 77)

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gesprochen in diesem quasi erotischen Liebes-Spiel 36 zwischen sich und der Ausnahme. Es darf sich nicht zu früh anmerken lassen, dass es immer schon eingenommen ist von der Ausnahme und letzten Endes der Spannung, dem Druck, welche diese erzeugt, nachgeben muss, beharrt die Ausnahme nur lange genug auf dem Ihrigen. Refrainartig kehrt – den abstrakten Stoff der Wertsetzungs- und Umwertungsarbeit der Ausnahme analogisch, im Bilde erhellend – der Verweis auf den neutestamentlichen Vers Luk 15,17 wieder. Durch diese Repetition des neutestamentlichen Verses in seinen scheinbar beliebig variierbaren Auslegungsmöglichkeiten wird der Konflikt unterschwellig geschürt und der modernen, durch »Hegel« mit der Welt versöhnten Christenheit ein Hieb verpasst. Constantin legitimiert seine Theorie der Ausnahme mit neutestamentlichem Stoff, der bereits das naive Moralverständnis der Vielen, der Guten und Gerechten, im Ansatz unterläuft: Schließlich ist der bekehrte Sünder, der dem Himmel »lieber« ist, Ausdruck für die Ausnahme und die 99 Gerechten, die dem »Himmel« weniger lieb sind, das Allgemeine. Gleichzeitig muss aber – hier spricht Constantin Constantius, nicht Kierkegaard, und man hat aus seinem Text erfahren, dass er in Sachen Religiosität ernüchtert ist, sich aus dieser Sphäre nichts erhofft, er glaubt nicht mehr an »die Wiederholung« als transzendenten Ausgangspunkt für seinen Existenzvollzug und es widerspricht seiner Natur als Beobachter und Experimental-Psychologe überhaupt jede religiöse Bewegung –, gleichzeitig muss deutlich sein, dass Constantius in seiner unbekümmerten Analogisierung das Christliche zugleich travestiert und pervertiert, indem er es in die selbe Immanenz zwingt, von der er sich abkehren wollte. Im obigen Zitat wird sachlich die Pervertierung des Christlichen und damit letzten Endes der Grund für das notwendige Scheitern des constantinschen VerDieser Ausdruck ist mit Bedacht gewählt. Kierkegaard will hier durch die Maske des unbekümmerten Psychologen mit seinem abgeschmackten Tatsachensinn die Substanz des Allgemeinen, die Moral, in ihrem autosuffizienten Selbstbewusstsein versehren, indem er aufweist, dass es sein Leben im Grunde einer Größe verdankt, der es prinzipiell – weil es ihrem eigenen Selbstverständnis widerspricht – nichts verdanken dürfte: der Unterschiede zwischen den Individuen setzenden »Erotik« bzw. der »Ästhetik«. War es Aufgabe Wilhelms, A zu unterstellen, dass seine Lebensform Selbstdistraktion und Verzweiflung sei, so ist es Constantins Funktion, »Wilhelm«, als der ethischen Lebensanschauung im Sinne Kierkegaards, zu zeigen, dass sie einen blinden Fleck hat und ihre Kraft aus einer Quelle bezieht, die sie kaum rechtfertigen kann. So hält in diesem Sinne Scheier (2012), S. 74 lakonisch fest, dass das Ethische Wilhelms das Ästhetische sei, nur »spiegelverkehrt«.

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suchs einer Wiederholung dadurch ersichtlich, dass die Analogie zwischen Ausnahme und Allgemeinem auf der einen und dem Himmel und dem Sünder auf der anderen Seite das erotische Element redupliziert, und somit eine Kontinuität zwischen »ethnischer« (erotischer) und »moderner« (christlicher) Auffassung von Liebe unterstellt wird, womit der Lehre des Christentums seine zentrale Spitze abgebrochen wird. Kehrte man die Analogie zwischen der Ausnahme-Allgemeines-Dialektik und der Himmel-Sünder-Dialektik um, dann ließe sich mit demselben Recht sagen, dass der Himmel dem verführerischen, pikant-boshaften Charme und dem erotischen, unbeirrbaren Eroberungswillen und Ehrgeiz des Sünders bald erliegt und ihn dadurch zu sich erhöht. Die Pointe gegen die lebensweltlich sich als Christenheit manifestierende Spekulation Hegels lässt sich in folgendem Satz zusammendrängen: Die Spekulation behauptet den Himmel auf Erden durch die Vergöttlichung des Bestehenden, und sanktioniert also des Teufels Küche. 37 Diese Zuspitzung mündet in dem im Abschnitt I.II.1 bereits zitierten Diktum: Im Lauf der Zeit wird man des ewigen Geschwätzes vom Allgemeinen und Allgemeinen überdrüssig, das bis zur langweiligsten Fadheit wiederholt wird. Es gibt Ausnahmen. Kann man sie nicht erklären, kann man auch das Allgemeine nicht erklären. Gewöhnlich wird man die Schwierigkeit nicht gewahr, weil man nicht einmal mit Leidenschaft an das Allgemeine Um die von Kierkegaard bewusst dargestellte immanente Dramatik und Abgründigkeit dieser Theorie hier klar zu benennen und in das Bewusstsein zu bringen: Es gibt innerhalb der Ausnahmetheorie Constantins keinen Maßstab, um beispielsweise zwischen den, mit Max Weber gesprochen, charismatischen Ausnahmeerscheinungen Dieter Bohlen und Jascha Heifetz unterscheiden zu können. Gut und Böse sind in diesem Kontext – durch diese konsequent isolationistische Perspektive auf die Sozialwelt – schlicht und ergreifend auswechselbare Begriffe. Constantin ist neben Johannes de silentio, der die Möglichkeit der Suspension des Ethischen erwägt, mit Abstand das unverantwortlichste aller Pseudonyme Kierkegaards. Johannes de silentio, der sich den Mut zuspricht, nahezu jeden Gedanken zu denken (vgl. FZ – 205), hätte von Abraham als der religiösen Ausnahme par excellence geschwiegen, sofern er ergründet hätte, dass Abraham ein Mörder wäre, als den man ihn bezeichnen muss, wenn es nicht denkbar ist, dass der »Glaube«, welcher den Einzelnen über das Allgemeine erhebt, einen Mord zu einer heiligen Handlung macht. Hier wird die Sache noch einmal zugespitzt und paradox gebrochen: Johannes hätte wohlgemerkt geschwiegen deswegen, weil er dem Allgemeinen keinen Schrecken einjagen will, der auf der Abgründigkeit seiner Voraussetzungen beruht. Lieber soll das Allgemeine glauben, dass Abraham der Vater des Glaubens ist, ohne auch nur im Geringsten zu ahnen, was dies bedeutet.

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denkt, sondern mit unvergleichlicher Oberflächlichkeit. Die Ausnahme hingegen denkt das Allgemeine mit energischer Leidenschaft. Tut man dies, dann entsteht eine neue Rangordnung, und die arme Ausnahme, wenn sie im übrigen zu etwas taugt, gelangt, wie das stiefmütterlich vernachlässigte Mädchen im Märchen, wieder zu Ruhm und Ehre. (WH – 436)

Diese aggressive, in herablassendem Ton formulierte Setzung bezieht ihre Berechtigung aus dem gesunden Menschenverstand eines wachen Beobachters, der einen unsentimentalen Blick auf die (Geschichte der) menschlichen, sozialen und politischen Verhältnisse wirft. Es gibt Ausnahmen. Und diesen Ausnahmen kommt nichts weniger zu als Wertsetzungs- und Umwertungsautorität bezogen auf das Allgemeine, das als eine dynamische, sich im Fluss befindliche Größe vorgestellt wird. Indem nämlich die Ausnahme – und das tut sie notwendig – das Allgemeine mit Leidenschaft bedenkt, etabliert sie durch sich eine »neue Rangordnung«, oder, um mit Nietzsche zu reden, setzt neue Werte. 38 »Ehre« und »Ruhm« sind der entsprechende Tribut, welche das Allgemeine der Ausnahme zollt und welche schlussendlich »Gerechtigkeit« zu Wege bringen, allerdings nur in einem weltlichen, allzu-weltlichen Sinne. Endlich hält Constantin fest – die abgründigen, etwa politischen Konsequenzen 39 seiner Theorie der Karl Löwith unterschätzt Kierkegaard, wenn er (mit angeeignetem Adorno) festhält, dass der »›Einzelne‹ Kierkegaards […] das Resultat einer Ve r- einzelung, nämlich aus dem A l l g e m e i n e n der Zeit« ist, womit »auch der Nihilismus dieser auf sich vereinzelten Existenz säkular« wäre, als »durch den allgemeinen Charakter der Weltzeit bedingt«, wobei Kierkegaard damit, so unterstellt Löwith, »[w]ider Willen« »H e g e l s kritische Ansicht von der entscheidenden Bedeutung der moralischen ›Subjektivität‹« bestätige, insofern diese – so referiert Löwith Hegel – »nämlich selber erst eine ›entscheidende‹ wird, wenn der Mensch nicht mehr ›positiv‹ in etwas A n d e r e m , im Verhältnis zur Welt, ›bei sich‹ oder ›frei‹ ist, sondern nur noch ›negativ‹frei v o n der Welt bei sich selber ist, weil es ihm an substantiellen Gehalten fehlt, worin er sich positiv einlassen könnte«. (1933, S. 9) Indem Löwith den »Einzelnen« nicht scharf unterscheidet von der »Ausnahme«, auf die allein Löwiths Umschreibung zutrifft, wobei gerade die »Ausnahme«, so wie sie in Die Wiederholung gedacht wird, Ausdruck der Aufmerksamkeit Kierkegaards auf ihre soziologischen Bedingungen und historische Bedingtheit ist und sich mit Hegels kritischer Ansicht der moralischen Subjektivität deckt, verkennt er, wie Kierkegaard gerade durch die »Ausnahme« Hegel den blinden Fleck seines absoluten Idealismus spiegelt, der allein – soll die Güte des Allgemeinen Wirklichkeit haben – durch den »Einzelnen« getilgt werden kann als ein über »Gott« vermitteltes Selbstverhältnis. Diese hegelkritische Pointe hat Klaus Erich Kaehler (2003) im Blick. 39 Man stellt, eignet man sich Kierkegaard als einen Theoretiker der Ausnahme an unter Auslassung der Pointe dieser Konzeption, dessen Intention auf den Kopf. Wenn es bei Carl Schmitt, ein paar Zeilen aus Die Wiederholung ummünzend, heißt: »Das 38

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Ausnahme wieder auf den Typus des Dichters einziehend und damit verklärend –, dass er in seinem »psychologischen Experiment«, weil man sich an den Hervorbringungen eines Dichters für gewöhnlich erfreut, sich vornahm, einmal einen Dichter »entstehen« zu lassen.

II.1.4 Die unterschiedene Forderung der »Liebe« in der Ausnahme Der Ausnahmetheorie beider Denker korrespondiert ein in sich unterschiedener Begriff von »Liebe«, der zwischen die Pole selbstsüchtiger erotischer Lust und reiner geistiger Liebe gespannt wird und die Welt des schlechten Werdens seiner positiven Möglichkeit nach unterlaufen können soll. Er wird hier eingehender erörtert, da durch ihn erneut das Werkganze beider Philosophen durch sie selbst unter eine konsistente Perspektive gebracht wird und also nachvollzogen werden kann. Nicht zuletzt wird durch ihn der moralkritische Sinn des Ausnahmetheorems im Blick auf das Werkganze erfassbar. In den das Ausnahmetheorem initiierenden Werken wird ein einfältiger, inklusiver Liebesbegriff in den »ungewöhnlichen Menschen« vorausgesetzt und gegen einen als schlecht konnotierten, erotisch-romantischen Liebesbegriff abgegrenzt. Der »ungewöhnliche Mensch« ist der anti-begriffliche Austragungsort dieser in sich unterschiedenen Liebe, im – begrifflich unvermittelbar – aus ihm hervorgehenden »Einzelnen« und »Einsamen« als Utopien gelingenden Lebens fände jener inklusive Liebesbegriff seine Erfüllung. Von seiner ursprünglichen Setzung in Entweder – Oder und Schopenhauer als Erzieher bis hin zu seiner Neuauslegung in den Anti-ClimacusSchriften und Also sprach Zarathustra wird er angereichert, moduliert und ausgehärtet. Diesen Befund redupliziert die Anlage der folgenden Kapitel. Indem dem »ungewöhnlichen Menschen« diese Liebe inkorporiert wird, beginnt er, die Erfahrung der Isolation zu unterlaufen und betritt den Raum der Verlassenheit, in welchem die Forderung jener Liebe vermittelt an den »ungewöhnlichen Menschen« Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme. In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik« (zit. nach Hofmann (1967), Sp. 668), dann tritt er Kierkegaards Versuch der Abwendung der schlechtesten aller möglichen Welten mit Füßen (vgl. zu einer Unvereinbarkeit Kierkegaards mit politischer Theologie Tatár (2011)).

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ergeht. Sachlich kommt dies zum Vorschein in der normativen Ausnahmetheorie, welche einen Unterschied setzt und lebt zur unmittelbaren Ordnung bei gleichzeitiger Aktualisierung eines neuen Guten auf Distanz. Die Zone der Verlassenheit ist wie herausgestellt eine des Durchgangs. Das exemplarische Denken Kierkegaards und Nietzsches peilt einen Ort an, von dem aus erst die Güte des Guten und Bösen bestimmt werden könnte. Die entscheidende Pointe der Moralkritik beider Denker und vermutlich der wichtigste, das Leben des »Einzelnen« bzw. »Einsamen« bannende Gedanke scheint also der zu sein, dass innerhalb der auto-referentiellen Generierung der moralischen Substanz durch die Ausnahme jene sich derart aufreibt, dass der Ausnahme in gesteigerter Einsamkeitserfahrung aufgeht, aus Moral kein Kriterium ihrer Valenz beziehen zu können. Bei beiden Philosophen drückt sich dieser Befund aus in der Tatsache, dass in zentralen Inszenierungen ihrer Philosophie der Ausnahme es gerade das »Mitleid« als des zeitgenössischen Amalgams von »Liebe« und »Moral« ist, welches ihren paradigmatischen Denkfiguren beinahe das Leben kostet. Dem korrespondiert die textuelle Inszenierung eines Sprunges in den jeweiligen Liebeskonzeptionen, der in der Erfüllung ihrer Philosophie (Anti-Climacus-Schriften/Zarathustra) dadurch zum Ausdruck kommt, dass die ursprüngliche Unterscheidung der Liebe (Entweder – Oder/Schopenhauer als Erzieher) in eine behauptete, einfältige reine und in eine zu verwerfende egomanisch sinnliche – während diese erst im Unterwegs wirklich ›entdeckt‹ und entsprechend ausgereizt wurde – neu, vermittelt durch den Geist des Werks selbst, bewährt wird, was beide Denker durch die Strategie indirekten Mitteilens anzeigen. Die hier nun in den Blick zu bringende Unterscheidung von »Liebe« wird an verschiedenen Etappen dieser Studie in ihrer Bedeutung für den »ungewöhnlichen Menschen« an plastischer Gestalt gewinnen.

II.1.4.1 Kierkegaard (EO) Es soll gezeigt werden, wie Wilhelm einen positiv besetzen Begriff inklusiver Liebe abgrenzt von »Liebe« als romantischer Aufwertung der »Sinnlichkeit«. 40 Die hier gefällte Unterscheidung Wilhelms ist Dieser Begriff rahmt ein weites Spektrum an Bedeutungen, welches hier nicht philosophiegeschichtlich stabilisiert werden kann.

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von systematisch nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Werkentwicklung Kierkegaards insgesamt, insofern die normative Ausnahmetheorie von einer spezifischen Askese ihre nachhaltige, obschon begrifflich nicht durchdrungene, Bedeutung erfahren soll und nachweislich die religiöse Ausnahmetheorie bedingt. 41 Diese Unterscheidung ist philosophiegeschichtlich auch deswegen spannend, insofern Nietzsche explizit die Bedeutung asketischer Ideale in Frage stellen wird, ohne sie doch einfach durchzustreichen – es scheint ihm vielmehr um eine Rehabilitierung dieser Belange jenseits moralischer Kategorien zu gehen. Die auch bei Nietzsche vollzogene Unterscheidung der Liebe bereitet wie erwähnt implizit zugleich eine Prämisse vor, ohne welche die Moral- bzw. Mitleidskritik beider Denker keinen orientierenden Halt hätte. Wilhelm leitet seine in Briefform an seinen »Freund« A, der nicht im vollgültigen Sinne dieses Wortes als ein solcher bezeichnet werden kann, 42 formulierten Gedanken zur Ausnahme mit einer Gewissensfrage ein vor dem erklärenden Hintergrund, dass A – so eröffnet Wilhelm – für einen Streit in seiner Ehe verantwortlich ist. Im Unheimlichen verborgen ist dem Ehepaar an A der Grund seiner zynisch-ironischen Haltung gegenüber den Menschen: Ist das Maß an Weiblichkeit, das A fehle und sich in seinem Stolz und dem Mangel an Hingebungsbereitschaft ausdrücke, bedingt durch die Verachtung alles Menschlichen (so urteilt die Gattin Wilhelms), oder verhält es »sich doch nicht ganz so« (EO II – 906) – ist vielmehr im solitären Trachten nach dem »Unendlichen« allgemeine Menschenliebe aufDas hier noch nicht vertieft zu deutende, entscheidende Zitat lautet: »Es sollte die Leute deshalb nicht danach gelüsten, ungewöhnliche Menschen zu werden; denn daß man es ist, hat etwas anderes zu bedeuten als eine launenhafte Befriedigung unserer willkürlichen Lust.« (EO II – 912) 42 A ist deswegen nicht Bs Freund im vollgültigen Sinne, so unterstellt B, weil zu gelingender Freundschaft das Teilen einer Lebensanschauung gehört (vgl. EO II – 913). Vgl. zum Konzept der »Freundschaft« Smith (2011), der ausgehend von den antiken Freundschaftskonzeptionen bei Platon und Aristoteles die Umbrüche und modernen Transformationen nachvollzieht. Dabei zeigt Smith überzeugend, dass die hier (nicht weiter zu besprechende) vorgestellte Konzeption der Freundschaft durch Wilhelm von Aristoteles profitiert, allerdings eben unbedingt unterschieden werden muss vom Konzept des »Nächsten«, so wie ihn Kierkegaard im eigenen Namen in Taten der Liebe konzipiert. Jede »Freundschaft« birgt in seinem ihm exklusiven und auf schwankenden Leidenschaften beruhenden Begriff der »Vorliebe« notwendig heidnische Reminiszenzen und nährt dadurch die Krankheit zum Tode (vgl. ebd., S. 79–128). 41

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gehoben (wie Wilhelm wähnt)? Fände A im »einsamen Gelächter«, so argumentiert der Ethiker, seine »Befriedigung« (EO II – 906), so schlösse er sich aus von der Möglichkeit, in edlerem Sinne ein ungewöhnlicher Mensch zu werden. 43 [Z]war ist die Entwicklung Deines Lebens von der Art, daß Du wohl das Bedürfnis empfinden magst, die Einsamkeit zu suchen, nicht aber, soweit ich es beurteilen kann, das Bedürfnis zu lachen. Schon die flüchtigste Beobachtung zeigt, dass Dein Leben nach einem ungewöhnlichen Maßstab angelegt ist. (EO II – 907)

Dem potentiell in gutem Sinne ungewöhnlichen Menschen, dem notwendig ein ungewöhnlicher Maßstab 44 zur Auslegung seines notwendig einsamen Lebenswegs korrespondiert, der also nicht seine »Befriedigung« darin findet, den »öffentlichen Straßen« zu folgen, muss – damit sein jugendlicher Hang zur Abenteuerlichkeit nicht in die Irre geht und er sich nicht derart »zersplittert«, dass er, »statt ein ungewöhnlicher Mensch zu werden, ein defektes Exemplar von einem Menschen wird« (EO II – 907) – prinzipiell Liebe zum Menschlichen überhaupt unterstellt werden dürfen, wollte er im guten Sinne ein ungewöhnlicher Mensch werden. 45 Kierkegaard vertieft diesen Aspekt indirekt, indem er abgrenzend auf das mittelalterliche Klosterwesen zu sprechen kommt und die Entscheidung für das Kloster deutet als eine den Status »ungewöhnlicher Mensch« vermeintlich unmittelbar, da nur äußerlich sanktionierende. Der interessante Punkt ist hier, dass Wilhelm die Entscheidung für das Kloster nicht Mit dem Bild des einsamen Lachens als Inbegriff des Menschenhasses, so informiert Niels Thulstrup in seinem Kommentar, knüpft Kierkegaard an eine Anekdote aus Diogenes Laertius an (in EO II – 1022 f.). 44 Nietzsche wird für diesen Sachverhalt in seiner Freigeistperiode den Ausdruck »Singuläres Werthmaaß« prägen. Vgl. hierzu Hanza (1999). 45 Diese – aus Menschenliebe – prinzipielle Abwehr einer verächtlichen, wesentlich zynischen Grundhaltung gegenüber dem Menschenpark bringt auch Zarathustra eindringlich ins Wort, die dritte »Constitutionsgefahr« des ungewöhnlichen Menschen, wie sie in Schopenhauer als Erzieher benannt wird als eine Verhärtung des Geistes aufgrund der Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit, aufgreifend: »Ach, ich kannte Edle, die verloren ihre höchste Hoffnung. Und nun verleumdeten sie alle hohen Hoffnungen. / Nun lebten sie frech in kurzen Lüsten, und über den Tag hin warfen sie kaum noch Ziele. / ›Geist ist auch Wollust‹ – so sagten sie. Da zerbrachen ihrem Geiste die Flügel: nun kriecht er herum und beschmutzt im Nagen. / Einst dachten sie Helden zu werden: Lüstlinge sind es jetzt.« (Z – 53 f.) Für eine komplexere Einordnung des Zynismus in die Hierarchie gemeinerer und vornehmerer Seelen vgl. JGB – 43–45. 43

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als solche verurteilt, sondern vielmehr die hinter dieser Entscheidung liegende Gesinnung. Und der entscheidende Punkt ist letztlich, dass Wilhelm das, was er als »Klostertheorie« vorträgt, in seiner Gegenwart, in der »das Klosterleben im Preis gefallen« (EO II – 908) zu sein scheint, dennoch aufgrund seiner feineren Menschenkenntnis in einzelnen Individuen als analoge Irrlehre wiederfindet. Anschließend parallelisiert er nämlich die Klostertheorie, die noch im Kopf vereinzelter Individuen spuken könnte, für die Gegenwart mit einer »ganz analogen ästhetischen Betrachtung« (EO II – 909), ohne deren Gehalt konkreter zu machen. Und doch wird klar: Kierkegaard konzipiert durch den Ausdruck »Klostertheorie« eine heuristische Idealität, um die zeitgenössische Tendenz der ausufernden Ästhetisierung der Lebenswelt einzudämmen. Dabei geht Kierkegaard durch Wilhelm den Umweg über das mittelalterliche Klosterwesen deswegen, um den Begriff der »Liebe« zum Menschlichen zu unterscheiden, welche Liebe im guten Sinne die Ausnahme auf ihrem einsamen Lebensweg zu normieren hat. In der Konstruktion Wilhelms sind nun die Mönche – analog dem Heiligen im Walde in Zarathustra’s Vorrede – Sinnbild für ungewöhnliche Menschen im unberechtigten Sinne, weil der Bruch mit der Welt und die Hinwendung zu Gott von scheinbaren Maximen geleitet werden. [V]on der Höhe des Klosters blickte man stolz, fast mitleidig auf den gewöhnlichen Menschen herab. Was Wunder, daß man scharenweise ins Kloster ging, wenn man so leichten Kaufs ein ungewöhnlicher Mensch wurde? Die Götter aber verkaufen das Ungewöhnliche nicht zum Spottpreis. (EO II – 908) 46

Hier wird also bereits – zentral für Kierkegaards weiteren Denkweg und vor allem für die Entwicklung seines Ausnahmetheorems, das er in den »Einzelnen« verflüchtigen möchte – implizit eine Kritik des Mitleids formuliert, deren Stoßrichtung gegen eine Ästhetisierung Dieses Zitat hätte eine Erwähnung in Käte Hamburgers Studie zum Mitleid verdient, in der Kierkegaard, dessen Mitleidsphilosophie und -kritik noch längst nicht gebührend erforscht ist, keine Erwähnung findet, und zwar im Kapitel Bedeutungsveränderung des Mitleids, indem es ihr um den Nachweis geht, dass »Mitleid« im Übergang der Neuzeit zur Moderne zunehmend die rein positive Bewertung als »gefühlige[] Teilnahme« (Hamburger (1985), S. 81) einbüßt und negative Konnotationen absorbiert: Es kristallisiert sich hier substantiell heraus »[e]in Mitleid also, das den äußersten Gegensatz zu jenem bildet, dessen traditionellste Begründung die Liebe ist, ein Mitleid, das in Überheblichkeit über den Bemitleideten gegründet und nahezu identisch mit dessen moralischer Verurteilung ist«. (Ebd., S. 84)

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Die unterschiedene Forderung der »Liebe« in der Ausnahme

der Lebenswelt gerichtet ist und die ein kritisches Gegenmodell zu Schopenhauers Mitleidsethik – wie herausgearbeitet werden wird – darstellt. Kierkegaard unterscheidet hier also zwischen zwei Begriffen von »Liebe«, einen äußerlichen von einem innerlichen, einen scheinbaren von einem substantiellen, einen leeren von einem erfüllten, und erhellt diese Distinktion implizit über eine Theorie des Scheins, der Sichtbarkeit. Die Mönche – in der Darstellung Wilhelms – wollten als »ungewöhnliche Menschen« gelten, welchen Status sie sich sicherten durch die ihre Eitelkeit auftürmenden, staunenden Blicke der (inkorporierten) sozialen Anderen. Der unberechtigte ungewöhnliche Mensch zeichnet sich hier also aus durch den Ehrgeiz, als »ungewöhnlicher Mensch« auch zu er-scheinen, diesen Status gesellschaftlich zu repräsentieren. 47 Wären die, welche sich aus dem Leben zurückzogen, ehrlich und aufrichtig gegen sich und andere gewesen, hätten sie vor allem das Menschsein geliebt, hätten sie mit Begeisterung all das Schöne empfunden, das darin liegt, wäre ihrem Herzen das wahre, tiefe Humanitätsgefühl nicht unbekannt gewesen, so hätten sie sich vielleicht auch in die Einsamkeit des Klosters zurückgezogen, aber sie hätten sich nicht törichterweise eingebildet, ungewöhnliche Menschen geworden zu sein, es sei denn in dem Sinne, daß sie unvollkommener seien als andere; sie hätten nicht mitleidig auf die geEine zentrale Komponente der kritischen Auseinandersetzung Nietzsches mit Wagner hat in dieser Beobachtung ihren Ursprung und formuliert sich in einer immer wieder neu aktualisierten Kritik des »Schauspielers«. Vgl. hierzu das zentrale Kapitel Von den Fliegen des Marktes aus Zarathustra, wo es unter anderem heißt: »Wo die Einsamkeit aufhört, da beginnt der Markt; und wo der Markt beginnt, da beginnt auch der Lärm der großen Schauspieler und das Gewirr der giftigen Fliegen. […] Um die Erfinder von neuen Werthen dreht sich die Welt: – unsichtbar dreht sie sich. Doch um Schauspieler dreht sich das Volk und der Ruhm: so ist es der Welt Lauf. / Geist hat der Schauspieler, doch wenig Gewissen des Geistes […]«. (Z – 65) »Aber die Stunde drängt sie: so drängen sie dich. Und auch von dir wollen sie Ja oder Nein. Wehe, du willst zwischen Für und Wider deinen Stuhl setzen? / Dieser Unbedingten und Drängenden halber sei ohne Eifersucht, du Liebhaber der Wahrheit!« (Z – 66) Zur aphoristischen Vertiefung dieser Verse vgl. Vom Probleme des Schauspielers aus dem fünften Buch von Die fröhliche Wissenschaft als zentrale Einordnung dieses Phänomens in Nietzsches Philosophie insgesamt (FW – 608 f.) und dessen Besprechung bei Stegmaier (2012), S. 305–351. Es ist von systematischer Relevanz für diese Studie, dass Nietzsche im oben besprochenen (Abschnitt I.3.1.3) Aphorismus Verkehr mit dem höheren Selbst aus Menschliches, Allzumenschliches I schon einen Bruch zwischen »Wagner« und sich einzeichnet. Zur Kritik an diesem bei Nietzsche nicht durchgehend problematisierten Pathos der »Ächtheit« vergleiche wiederum Adorno (2003), S. 173 ff.

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wöhnlichen Menschen herabgesehen, sondern sie teilnahmsvoll betrachtet, in wehmütiger Freude darüber, daß es ihnen gelungen ist, das Schöne und Große zu vollbringen, zu dem sie selber nicht fähig waren. (EO II – 908)

Um die Analysen zusammenzufassen: vorausgesetzt wird also ein Liebesbegriff, der sich auszeichnet durch Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, Einfalt und Redlichkeit gegen den ihn Erlebenden im Umgang mit anderen; er wird als Empfinden eines umfänglichen, wahren und tiefen Humanitätsgefühls umschrieben und als inklusive Teilnahme am gelingenden Leben der Mitmenschen, während er abgegrenzt wird von einem exklusiven, vornehmen und eitel sich ausnehmenden Begriff des »Mitleids«, der allein ›lebendig‹ ist deswegen, weil er sich abgrenzt gegen eine in ihm angelegte, zwischenmenschliche Verbindlichkeit, die er vorgeblich verbürgt. 48 Liebe gegen Liebe also, wahre menschliche Teilnahme als verbindliche Verbundenheit der Menschen untereinander gegen ein wegwerfendes »nur Mitleid«. 49 Kierkegaard inszeniert durch Wilhelm – das sei hier der Überleitung zu Nietzsche wegen zitiert, da er bei ihm eine Analogie hat – den Unterschied zwischen Ausnahme im unberechtigten und Ausnahme im edleren Sinn mit einem Vergleich aus dem Tierreich. Wenn nun jemand bei der jedem gestellten Aufgabe, das AllgemeinMenschliche zu realisieren, auf Schwierigkeiten stößt und, so setzt Wilhelm, in seinem Kopf die »Klostertheorie« spukt oder eben ein modernes Pendant als »ganz analoge ästhetische Betrachtung« (EO II – 909) – so wird er froh, er fühlt sich dann gleich vom ersten Augenblick an in all seiner Vornehmheit als eine Ausnahme, als ein ungewöhnlicher Mensch, er wird eitel darüber, auf ebenso kindische Weise, wie wenn eine Nachtigall, die eine rote Feder in ihrem Flügel hätte, sich darüber freuen würde, daß es keine andere Nachtigall gebe, die eine solche habe. (EO II – 909)

Dieser frivolen, da das Zufällige zu neuer Allgemeinheit aufbauschenden Vorstellung des Ausnahmeseins wird hier wiederum entgegengesetzt: »Ist dagegen seine Seele durch die Liebe zum Allgemeinen veredelt, liebt er das Dasein des Menschen in dieser Welt […]«. (EO II – 909)

In dieser Argumentation ist angelegt, was Käte Hamburger als die »Distanzstruktur des Mitleids« exponieren wird (vgl. Hamburger (1985), S. 106–109). 49 Vgl. zu dieser verächtlich-exklusiven Komponente des Mitleidsaffekts wiederum Hamburger (1985), S. 81 ff. 48

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Die unterschiedene Forderung der »Liebe« in der Ausnahme

II.1.4.2 Nietzsche (SE) In diesem Abschnitt wird dargestellt, wie auch Nietzsches Ausnahmetheorem von einer Unterscheidung des Liebesbegriffs lebt. Die anstehenden Analysen können die in Teil I entworfenen Säulen des Vergleichsmodells stärken, insofern im Kontext der Unterscheidung des Liebesbegriffs das »höhere Selbst« bemüht wird als Ausdruck eines jedem Individuum zukommenden, allgemein-menschlichen Orientierungsmaßstabs. Während bei Kierkegaard in Hinsicht auf das Werkganze das Konzept der »Freundschaft« aufgrund seiner ›heidnischen‹ Reminiszenzen nicht als Form gelingender Liebe aufgefasst werden konnte, diese vielmehr immer entschiedener gegen das Konzept des »Nächsten« abgegrenzt wird, wird bei Nietzsche in Schopenhauer als Erzieher eine Freundschaftskonzeption geprägt, die sich als Form für gelingende Liebe bis hinauf zum Zarathustra und darüber hinaus halten wird. Es fällt bei der Analyse der folgenden Passagen auf – was für den Vergleich zwischen Kierkegaard und Nietzsche von besonderer Brisanz ist –, dass Nietzsche in seinen Darstellungen mit Formeln operiert, die als in den Gegenwartsdiskurs eingesickerte, ethisch vulgär adaptierte Hegelphrasen identifiziert werden können. 50 Bei diesem ethischen Ernstnehmen des vulgär erfassten Gedankens, sich als Individuum in die bürgerliche Gesellschaft zu übersetzen, wird auch bei Nietzsche etwas sichtbar, was in den Darstellungen Wilhelms als ›existentielle negative Dialektik‹ bezeichnet wurde. 51 Folgendes Zitat nimmt strukturell betrachtet den letzten Gedankengang Wilhelms wieder auf; es lotet die Möglichkeiten des erzieherischen Vorbilds »Schopenhauer« aus: [W]ie erhält dein, des Einzelnen Leben den höchsten Werth, die tiefste Bedeutung? Wie ist es am wenigsten verschwendet? Gewiss nur dadurch, dass du zum Vortheile der seltensten und werthvollsten Exemplare lebst, nicht aber zum Vortheile der Meisten, das heisst, der, einzeln genommen, werthlosesten Exemplare. (SE – 384 f.) 52 Diese vermittelte Auseinandersetzung mit Hegel ist manifest durch die Abfassung der ersten unzeitgemäßen Betrachtung, David Strauss der Bekenner und Schriftsteller. 51 Vgl. Abschnitt II.1.1, II.1.3.1 und bereits I.1.3. 52 Dieser Textausschnitt wurde eingehend interpretiert im Zusammenhang mit der Frage, ob Nietzsche für einen politischen bzw. moralischen Perfektionismus fruchtbar gemacht werden kann bzw. ob es überhaupt sinnvoll ist, Nietzsche als Perfektionisten 50

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Nietzsche will mit dieser Frage zur philosophischen Orientierung auf des Lebens Weg beitragen, wobei hier ein tiefer Begriff von Kultur entworfen wird als Horizont, dessen Bedeutung nicht in der bestehenden politischen Ordnung von Gut und Böse sein Telos hat. 53 Die Unterscheidung des Liebesbegriffs bei Wilhelm und das hier in Schopenhauer als Erzieher Formulierte erhellen sich wechselseitig. Liest man das Nietzsche-Zitat als die Suche nach Orientierung für Jedermann, indem es die Frage nach dem Menschen offen hält, legt sich folgende Auslegung nahe. Die »wertvollsten« Exemplare sind – obschon die seltensten – die, welche das spezifisch Menschliche am umfänglichsten repräsentieren, während die »wertlosesten Exemplare« bei Nietzsche das meinen, was im Bilde Wilhelms die Auszeichnung der Nachtigall durch ihre rote Feder bedeutet. Es geht Nietzsche in seinem Beispiel ganz ausdrücklich um einen beliebigen Einzelnen, der nicht selbst das höchste Exemplar repräsentiert, und um die Frage, wie dieser beliebige Einzelne seinem Leben den höchsten Wert und die tiefste Bedeutung verleihen kann. Dies gelingt nicht, indem er bei sich und anderen nach »roten Federn« stöbert und damit einen unhaltbaren, desorientierenden Liebesbegriff perpetuiert, sondern indem er auf das sich in ausgewählten und ausgezeichneten Einzelnen typisierende spezifisch Menschliche blickt, um sich darauf – aus in jedem Einzelnen eben vorausgesetzter Liebe zu sich selbst und also veredelt durch seine Liebe zu einem höheren Allgemeinen (hier genannt »Kultur«) – beschämt vom geschauten Ideal abzuwenden, obschon er sich in dieser seiner Selbstverarbeitung dennoch genötigt sieht zu sagen: so muss es sein. 54 Dieses Kultur generierende Verhalzu lesen (vgl. für eine detaillierte Besprechung Lemm (2007)). Zum Begriff des »Exemplarischen«, den Nietzsche einer Auseinandersetzung mit Ralph Waldo Emerson verdankt, vgl. Conant (2014), S. 363–389. An anderer Stelle bettet Conant »Exemplar« und das Adjektiv »exemplarisch« ein in die Geschichte der philosophischen Erörterungen des »Geniebegriffs«, wobei er den Einfluss von Kants Genietheorie aus Kritik der Urteilskraft als maßgeblich herausarbeitet (vgl. Conant (2014), S. 74–85). 53 Vgl. zu dieser Einschätzung auch Lemm (2007), S. 11. 54 Vgl. hierzu Hegel in § 15 zu seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts, Zusatz 2: »Der gewöhnliche Mensch glaubt, frei zu sein, wenn ihm willkürlich zu handeln erlaubt ist, aber gerade in der Willkür liegt, daß er nicht frei ist. Wenn ich das Vernünftige will, so handle ich nicht als partikulares Individuum, sondern nach den Begriffen der Sittlichkeit überhaupt: in einer sittlichen Handlung mache ich nicht mich selbst, sondern die Sache geltend. Der Mensch aber, indem er etwas Verkehrtes tut, läßt seine Partikularität am meisten hervortreten. Das Vernünftige ist die Landstraße,

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ten nennt Nietzsche »das Kind der Selbsterkenntniss jedes Einzelnen und des Ungenügens an sich«. (SE – 385) Diese Verquickung von Selbsterkenntnis und Selbstverachtung hat ihren Sinn eben darin, dass der kritisch gegen einen selbst gewandte Blick das Einzelne an einem selbst bloßstellt, womit eine Bewegung der Selbstüberwindung hin zu etwas menschlich Allgemeinerem eingeleitet wird. Nietzsche legt den sich zur Kultur Bekennenden folgenden Leitsatz in den Mund: ›ich sehe etwas Höheres und Menschlicheres über mir als ich selber bin, helft mir alle, es zu erreichen, wie ich jedem helfen will, der Gleiches erkennt und am Gleichen leidet: damit endlich wieder der Mensch entstehe, welcher sich voll und unendlich fühlt im Erkennen und Lieben, im Schauen und Können, und mit aller seiner Ganzheit an und in der Natur hängt, als Richter und Werthmesser der Dinge.‹ (SE – 385)

Das ist der Effekt, den jeder Einzelne an sich erleben kann, wenn er die ihm ursprünglich und ihm allein zukommende »productive Einzigkeit« aktualisiert, indem er seine Existenz orientiert an den wertvollsten Exemplaren. An dieser Stelle wird nun die eigentümliche Dialektik des Begriffs der »Liebe« virulent. So ist es schwer, Jemanden in diesen Zustand einer unverzagten Selbsterkenntniss zu versetzen, weil es unmöglich ist, Liebe zu lehren: denn in der Liebe allein wo jeder geht, wo niemand sich auszeichnet.« Hegel fährt fort, das eitle Selbstmissverständnis des gewöhnlichen Menschen auf Ausnahme-Menschen zu beziehen, die scheinbar nicht auf der Landstraße der Vernunft gehen: »Wenn große Künstler ein Werk vollenden, so kann man sagen: so muß es sein; das heißt, des Künstlers Partikularität ist ganz verschwunden und keine Manier erscheint darin.« (S. 37) Der große Künstler ist natürlich auch bei Hegel in gewissem Sinne eine Ausnahme, weil er kann, was viele nicht können; und dennoch verwirklicht er in seinen Werken etwas, was jeder Menschen als Mensch für gut befinden muss. Diese Deutung des Hegelzitats muss hier problematisiert werden durch die Frage, wie sich philosophisch bei Hegel die Güte dieses (vermeintlich) unmittelbar evidenten Guten bewährt. Kaehler (2003), wie hier noch einmal zugespitzt werden kann, pointiert (streckenweise den Einwänden Adornos von Minima Moralia analog), dass das Problem der »Ausnahme« »tief in die innersten Überzeugungen des spekulativen Denkens« hineinreicht und sich als prinzipielles Problem herausschält für Hegels das Ganze erfassende System des absoluten Idealismus, insofern das von Hegel gedachte Kontingente in Natur und Geist ontologisch notwendige Bedingung für die »Ausnahme« ist, welche die systematisch nicht einholbare Form darstellt des Subjektivwerdens der sittlichen Substanz im Sinne einer existentiellen Vereinzelung und damit die Grenze des spekulativen Wahrheitsbegriffs markiert. Indem Kaehler in seiner immanenten Kritik Hegels Kierkegaards »Einzelnen« im Blick hat, nimmt er dessen Selbstbezeichnung als ein »Korrektiv« zur Spekulation ernst. Modulationen der Einsamkeit

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gewinnt die Seele nicht nur den klaren, zertheilenden und verachtenden Blick für sich selbst, sondern auch jene Begierde, über sich hinaus zu schauen und nach einem irgendwo noch verborgnen höheren Selbst mit allen Kräften zu suchen. (SE – 385)

Nietzsche bemüht hier einen Liebesbegriff, durch dessen Aktualisierung auszeichnend Menschliches wirklich würde. Gleichzeitig wird die Bedeutung dieser Liebe nicht bestimmt, sie scheint sich vor direkter Kommunikation zu sträuben, ist nicht auf den Begriff zu bringen. Es ist unmöglich, Liebe zu lehren, 55 was heißt, ihr Wesen auf den Begriff menschlichen Verstandes zu bringen. Es muss gewissermaßen ursprünglich klar sein, was Liebe ist, fordert, bewirkt – und Nietzsche setzt sich hier unverhohlen als jemand, der in deren verbindliche Geheimnisse eingeweiht ist und sie in seinen Gedanken zur Erziehung voraussetzen darf. 56 Auch wenn der positiv konnotierte Liebesbegriff bei beiden In Analogie hierzu hält bereits Platon im siebten Brief diesen Punkt fest: Der Funke der Philosophie muss überspringen, gelehrt werden kann er nicht (vgl. Perkins (1993), S. 5). 56 Hier kann wieder an den Versuch erinnert werden, Stegmaiers Konzept der »AntiLehre« zu erden, über die »Einsamkeitslehre« Nietzsches ethisch zu konkretisieren, was mit dem verbindlichen »Gegen-Begriff« »Liebe« – theoretisch – vorzüglich gelingt. Sie soll hier jedenfalls ein neues Allgemeines verbürgen, wobei sie sich in diesem Sinne in der Ringkomposition der ersten drei Bücher des Zarathustra dichterisch bewährt. Stegmaier (1994), S. 214 schreibt: »Inter-individuelle Orientierung [, worum es bei Sokrates, Platon, Nietzsche, Derrida je besonders ginge, R. R.] bedeutet, daß alles Allgemeine ein Allgemeines bleibt, das von Individuen vorgetragen wird und von ihnen verantwortet werden muß. Das Allgemeine wird nicht zu etwas erhoben, das selbstständig, unabhängig vom Diskurs der Individuen bestünde. Es wird lediglich als ein Mittel gedacht, durch das ein Individuum ein anderes interpretiert, oder als ein Zeichen, das es einem andern gibt. Dabei ist eingeräumt, daß das andere Individuum als anderes Individuum die Zeichen notwendig auf andere Weise versteht. Das gilt auch für das Verstehen der Andersheit selbst: Auch hier kann es dann kein überindividuelles Allgemeines geben, das Maßstab für die Andersheit des Verstehens wäre.« Dieser These muss angesichts der hier erörterten Passagen widersprochen werden, insofern die hier vorausgesetzte »Liebe« jenseits ihrer Diskursivierbarkeit und also Lehrbarkeit liegt. Auch dem Satz: »Zarathustra scheitert mit dem Versuch, zu lehren, weil er niemanden findet, der ihn verstehen könnte, und Nietzsche führt dieses Scheitern vor (vielleicht ist das sogar das eigentliche Thema des Zarathustra)« (S. 228), den Stegmaier (2000), S. 191–224 exponiert, muss entgegengehalten werden, dass Zarathustra doch vor seinem ersten Untergang zu den Menschen und nach Die Heimkehr eindeutig als überindividuelles Sein vorgestellt wird; er scheitert als Mensch unter Menschen, mit seinen Lehren durchzukommen, wie Stegmaier überzeugend herausarbeitet. Aber dies als den Sinn von Nietzsches philosophischer Aussage zu behaupten, stellt doch den tragischen Gehalt geradezu auf den Kopf. 55

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Denkern in den hier interpretierten Passagen nahezu jeder inhaltlicher Klärung entbehrt, wird er doch durch eine – quasi intuitive – Metapher gerahmt. Es geht hier um die Aspiration zu einer höheren Form von »Gemeinschaft«, einer Form von gelebter Kommunität, die sich real-politisch nie wird verwirklichen lassen, es sei denn eben durch ›geistige‹ Vermittlung. Der durch Schopenhauer als Erzieher orientierte »ungewöhnliche Mensch« muss von jener vorbegrifflichen Liebe geführt sein, um womöglich vermittelt eine »mächtige Gemeinsamkeit« zu aktualisieren, welche Nietzsche im Ausgang von Schopenhauer kulturphilosophisch neu begründen will: Hier bin ich bei der Beantwortung der Frage angelangt, ob es möglich ist, sich mit dem grossen Ideale des Schopenhauerischen Menschen durch eine regelmässige Selbstthätigkeit zu verbinden. Vor allen Dingen steht dies fest: jene neuen Pflichten sind nicht die Pflichten eines Vereinsamten, man gehört vielmehr mit ihnen in eine mächtige Gemeinsamkeit hinein, welche zwar nicht durch äusserliche Formen und Gesetze, aber wohl durch einen Grundgedanken zusammengehalten wird. Es ist dies der Grundgedanke der K u l t u r […]. (SE – 381 f.)

Die »productive Einzigkeit« als das den »ungewöhnlichen Menschen« ursprünglich ausnehmende Element muss also verbindlich durch die inklusive »Liebe« kanalisiert werden, nachdem diese in der gegeben Ordnung keinen Raum zum Atmen und also Leben hat. Wilhelms positiver Liebesbegriff wurde in aller Einfalt als ein tiefes Verbundenheitsgefühl mit dem Glück der Menschheit umschrieben und gegen »eine launenhafte Befriedigung unserer willkürlichen Lust« (EO II – 912) gesetzt. Analog wird in Nietzsches Schopenhauer als Erzieher der hochtaxierte, kulturgenerierende Liebesbegriff personalisiert und über ein einigermaßen aporetisches Konzept von »Freundschaft« vermittelt, das hier umrisshaft in den Blick genommen werden kann. 57 Es kommt in den anstehenden Analysen in den Blick jene existentielle, negative Dialektik, die sich daraus zu ergeben scheint, dass ein in das öffentliche Bewusstsein gedrungener »Hegel« auf seine ethische Bedeutung hin erprobt wird. Während es Kierkegaards ausgemachtes Ziel ist, die Vermittlung von Einzelheit und Allgemeinheit ad absurdum zu führen, indem er sie ethisch wendet, so scheint auch Nietzsche sich mit dem ›in der Luft liegenden‹ Hegel auseinanderÜber das Konzept der »Freundschaft« bei Nietzsche vgl. wiederum Smith (2011), S. 129–186. Siehe außerdem van Tongeren (2000).

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zusetzen. Nietzsche schildert hier das Innenleben Schopenhauers im Zusammenhang mit der Gefahr der Vereinsamung, die jedem ungewöhnlichen Menschen, sofern er sich bewusst zu seiner produktiven Einzigkeit zu verhalten beginnt, notwendig zukommt. Die Gefahr der Vereinsamung hat genauer besehen ihren Grund eben in einer unversöhnlichen Dialektik zwischen Innen- und Außenleben des ungewöhnlichen Menschen. Nietzsche schildert die peinlichen, da Schopenhauers charakterliche Integrität unterlaufenden Wirkungen des Anerkennungsentzugs auf seinen Erzieher vorsichtig: so quälte ihn die Sorge, sein kleines Vermögen zu verlieren und vielleicht seine reine und wahrhaft antike Stellung zur Philosophie nicht mehr festhalten zu können; so griff er in seinem Verlangen nach ganz vertrauenden und mitleidenden Menschen oftmals fehl, um immer wieder mit einem schwermüthigen Blicke zu seinem treuen Hunde zurückzukehren. (SE – 353) 58

Dieser Gefahren-Beschreibung folgt eine aus einsamkeitstheoretischer Perspektive bemerkenswerte Schilderung Schopenhauers als Eremit, der das Thema »Freundschaft« anvisiert: Er war ganz und gar Einsiedler; kein einziger wirklich gleichgestimmter Freund tröstete ihn – und zwischen einem und keinem liegt hier, wie immer zwischen ichts und nichts, eine Unendlichkeit. Niemand, der wahre Freunde hat, weiss was wahre Einsamkeit ist, und ob er auch die ganze Welt um sich zu seinen Widersachern hätte. – Ach ich merke wohl, ihr wisst nicht, was Vereinsamung ist. (SE – 353)

Bemerkenswert ist diese Schilderung, die über einen Umweg in eine direkte Anrede quasi pastoraler Deklamation mündet, aus mehreren Gründen. Bereits hier wird »Freund« in jenem idealen Sinne gebraucht, wie er im Zarathustra-Kapitel Vom Freunde geschildert wird. 59 Nietzsche meint mit »Freunden« nicht Mitmenschen, durch Ein wohlwollender Interpret kann hinter dieser kitschigen Umschreibung bereits Nietzsches Böswilligkeit erahnen. 59 Vom Freunde, darin »Freundschaft« ausschließlich für die Selbstregulierung und -überwindung für den »Einsamen« in den Blick kommt, endet in dem nüchternen Befund: »Es giebt Kameradschaft: möge es Freundschaft geben!« (Z – 73) Es ist die hier vertretene Überzeugung, dass Zarathustra als Buch die Verwirklichung des positiven Freundschaftskonzeptes ist, das in Schopenhauer als Erzieher noch unbeholfen sich artikuliert. Diese Lesart, welche bestärkt wird durch Aus hohen Bergen. Nachgesang (JGB – 241–243), in welchem Gedicht, das Jenseits beschließt, Nietzsche eindeutig einen Umschlagspunkt in seinem Denken über Freundschaft als vollzogen 58

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deren Kontakt man sich von sich erleichtert, zerstreut in irgendeinem Sinne. Der »gleichgestimmte«, »wahre Freund« ist hier vielmehr auf einer kategorial anderen Ebene zu verorten, utopisch veranschlagt als der einzig denkbare Erlöser von »wahrer Einsamkeit«, die hier angesichts des Freundschaftsideals als ein zu überwindender, als ein bedrohlicher und absolut nichtseinsollender Zustand beschrieben wird, wobei davon auszugehen ist, dass man im Verhältnis zu seinem »Freund« sich zugleich adäquat zu sich selbst verhält. 60 In diesem utopischen Begriff von »Freundschaft«, bei dem man zugleich bei sich und bei dem anderen ist, wird begrifflich vorausgesetzt die mögliche Selbsttransparenz ohne Abzug vor einem sozialen Anderen. 61 Im hier markiert, macht Jaques Derridas Deutung von Nietzsches Freundschaftskonzeption wiederum interessant, von der van Tongeren (2000) nur polemisch ausgeht. 60 Van Tongeren (2000), S. 218 ff. ist darauf aufmerksam, dass für Nietzsches Freundschaftskonzeption »Einsamkeit« eine zentrale Rolle spielt, insofern in ihr allein das agonale, geistige Selbstverhältnis, das jeder Einzelleib ist, zur Austragung kommt. Indem er allerdings die hier besprochene Stelle nicht miteinkalkuliert, erliegt er der Versuchung, Nietzsches Konzept der »Freundschaft« biografisch zu brechen, indem er betont, dass dessen Thematisierung mit zunehmender Vereinsamung zunimmt (S. 218). Stellt man allerdings anhand des hier gegebenen textlichen Befunds das unversöhnliche Nebeneinander fest als intendiert, so ließe sich ein »tragischer« Zug in Nietzsches Denken von »Freundschaft« auszeichnen. Auf diesen ist van Tongeren (2002) selbst in einer späteren Studie zum Verhältnis »Selbsterkenntnis«, »Einsamkeit« und »Freundschaft« aufmerksam. Es ginge dann darum zu erweisen, dass allein das, was wahre Freundschaft ermöglichte, ein geistiges Sichverstehen ohne Abzug, durch die relationale, selektive, notwendig einseitig ausrichtende Form direkter Kommunikation verunmöglicht wird. Zarathustra wird von Nietzsche auch bezeichnet als ein »Dithyrambus auf die Einsamkeit« (EH – 276) und die Rückverwandlung Zarathustras zu sich als nicht mehr an die Form Mensch gebundenes Wesen, nach dem Durchschreiten der nur für ihn bestimmten Passage »einsamste Einsamkeit« wird begleitet von dieser tragischen Einsicht: »Wie lieblich ist es, dass Worte und Töne da sind: sind nicht Worte und Töne Regenbogen und Schein-Brücken zwischen EwigGeschiedenem? / Zu jeder Seele gehört eine andre Welt; für jede Seele ist jede andre Seele eine Hinterwelt. / Zwischen dem Ähnlichsten gerade lügt der Schein am schönsten; denn die kleinste Kluft ist am schwersten zu überbrücken.« (Z – 272) 61 Diese ist wie gesehen im Zarathustra für »Zarathustra«, als der dynamisierte Sinn des neuen Allgemeinen Nietzsches, die Einsamkeit selbst. So heißt es in Die Heimkehr: »Hier springen mir alles Seins Worte und Wort-Schreine auf: alles Sein will hier Wort werden, alles Werden will hier von mir reden lernen.« (Z – 232) Auch Bennholdt-Thomsen (1974), so geht aus der dichten Darstellung Zittels (2011), S. 218 hervor, betont, dass »Zarathustra« durch gesteigerte Einsamkeit als Chiffre der Selbstidentität den Raum gelingender Kommunikation und also Freundschaft, die sich durch Missverständnislosigkeit auszeichnet, neu begründet. Dass Kierkegaards Definition des »Glaubens«, welche Leistung ein sensibles Wechselverhältnis zum Ausdruck bringt, in dem man nicht durch soziale Andere abgezogen wird von der VerModulationen der Einsamkeit

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ideal umschriebenen Verhältnis zum Freund – das durch die Abfassung von Büchern performativ sich erfüllt – sind beide Parteien miteinander und dennoch sich selbst gleich. 62 Der hier beschriebene Befund ist also buchstäblich abgründig, insofern es begrifflich keine Schnittfläche, keine Brücke zu geben scheint zwischen Ich und Du. Und indem Nietzsche verrät – angezeigt durch den stilistischen Bruch und die direkte, seufzende Anrede an den Leser »– Ach ich merke wohl, ihr wisst nicht, was Vereinsamung ist« –, auf welcher Seite er sich befindet, misst er bereits im Ursprung seiner Denkbewegung jenes tragische Begriffsgrab aus, das er letztlich im Dionysos Dithyrambus Zwischen Raubvögeln selbst ist und sein will. 63 Diese düstere antwortung, sich zugleich und zuerst zu »Gott« zu verhalten, auch mit »Transparenz« in den Blick kommt, wobei der essentielle Durchblick durch das Selbst eben allein jener Macht überlassen wird, die das Selbst ursprünglich setzte und also für den nicht an eine höhere Macht rückgekoppelten Menschen notwendig undurchsichtig bleibt, ist hier nur zu erwähnen. 62 Auch Kierkegaard denkt wie erwähnt den Raum des Ohne-Abzug-man-selbst-seinKönnens, wobei die dort erlangte Transparenz allein durch ein Gottesverhältnis erwirkt werden kann, als einen Raum gelingender Kommunikation, die unmittelbar zwischenmenschlich unmöglich ist. Kierkegaard macht sich in Beilage. »Der Einzelne«. Zwei »Noten« betreffs meiner Wirksamkeit als Schriftsteller des Gesichtspunktes Gedanken zum Begriff des »Praktischen« und perspektiviert ihn einmal »politisch« und dann heidnisch-philosophisch anhand Sokrates und, christlich, anhand des Vorbildes, dessen Standpunkte dem Ersteren als »unpraktisch« erscheinen müssen. Er kommentiert die Dialektik der Perspektiven wie folgt: »Indes wiewohl ›unpraktisch‹, dennoch, das Religiöse ist der Ewigkeit verklärte Wiedergabe des schönsten Traumes der Politik. Keine Politik hat es vermocht, keine Politik vermag es, keine Weltlichkeit hat vermocht, keine Weltlichkeit vermag, bis in die letzte Folge hinein diesen Gedanken durchzudenken oder zu verwirklichen: das Menschlichkeit Menschgleichheit ist. Vollkommene Gleichheit verwirklichen im Medium der Weltlichkeit, Weltgleichheit, d. h. in dem Medium, dessen Wesen Unterschiedlichkeit ist, und sie weltlich, weltgleich, d. h.: Unterschied schaffend verwirklichen, das ist ewig unmöglich, das kann man aus den Kategorien ersehen. Denn wollte man vollkommene Gleichheit erreichen, so müßte ›Weltlichkeit‹ rein fort, und wenn vollkommene Gleichheit erreicht ist, so hat ›Weltlichkeit‹ aufgehört; aber ist es dann nicht doch eine Art Besessenheit, daß ›Weltlichkeit‹ auf die Idee verfallen ist vollkommene Gleichheit erzwingen zu wollen, und weltlich, weltgleich sie erzwingen zu wollen – in Weltlichkeit, Weltgleichheit! Nur das Religiöse kann vermöge der Hilfe des Ewigen bis ins Letzte Menschgleichheit, Menschlichkeit durchführen, die gottgemäße, die wesentliche, die nichtweltliche, die wahre, die einzig mögliche Menschgleichheit, Menschlichkeit; und darum ist auch – es sei gesagt zu seiner Verherrlichung – das Religiöse die wahre Menschlichkeit.« (GWS – 97) 63 Nietzsche hat in diesem Kontext schon die Worte parat, deren lebendigem Geist er in Zwischen Raubvögel sich überlässt. So heißt es gleich zu Beginn der unzeitgemäßen Betrachtung bezogen auf die Gefahr jeder Selbsterkenntnis: Es ist »ein quäle-

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Aussicht hat hier allerdings noch nicht das letzte Wort. Die hier angelegte Forderung nach der Liebe eines Freundes zur einzig möglichen Überbrückung der Einsamkeit und also Erlösung von ihr, bleibt im fortlaufenden Text vorausgesetzt, wobei Nietzsche fortfährt, das Schwergewicht der Argumentation auf die Welt als Widersacher gegen den Einsamen zu verlagern, als die Instanz, welche den Philosophen aufgrund ihrer Lieblosigkeit erzwingt. Nach der aporetischen Schilderung des utopischen Verhältnisses von »Einsamkeit« und »Freundschaft« als einzig möglicher Überwindung der Einsamkeit folgt wiederum eine verblüffend allgemeine Setzung: »Wo es mächtige Gesellschaften, Regierungen, Religionen, öffentliche Meinungen gegeben hat, kurz wo je eine Tyrannei war, da hat sie den einsamen Philosophen gehasst«. (SE – 353) Schopenhauers Problem war nach Nietzsches empfindlicher Einschätzung, ganz allgemein gesprochen, die Gesellschaft, in der er lebte. Er hatte die ganze Welt zu seinen Widersachern, weil etwas in ihm war, das sich als inkommensurabler Rest nicht in sie aufheben lassen wollte – es gab etwas in dem Allgemeinen, das Schopenhauer nicht in seine Biografie übersetzen konnte, mit Wilhelm zu reden: es lag »Wahrheit« darin, dass er das Allgemeine nicht verwirklichen konnte, wobei die gegebene Ordnung von Gut und Böse diese Wahrheit nicht tangierte. Es war seine Philosophie selbst, seine Wahrheitsliebe eben selbst, die dabei diesen inkommensurablen Rest bedeutete, eine substantielle Verborgenheit gegenüber dem Allgemeinen, dem Bestehenden, seiner Zeit. Nietzsche beschreibt hier die Dynamiken eines Prozesses in seiner abstrakten Dialektik, der oben als die Ausnahmetheorie von Die Wiederholung vorgestellt wurde. Der Hass (bzw. jene »Polemik«) des Bestehenden gegen den »einsamen Philosophen« nährt sich aus der Erfahrung dieses nichtassimilierbaren Ausnahmeseins, diesem Asyl als einer »Höhle des Innerlichen«, als »Labyrinth der Brust«, wohin die (hier noch unausdrücklichen und nicht affirmierten) politischen risches gefährliches Beginnen, sich selbst derartig anzugraben und in den Schacht seines Wesens auf dem nächsten Wege gewaltsam hinabzusteigen. Wie leicht beschädigt er [der sich selbsterkennende Mensch, R. R.] sich dabei so, dass kein Arzt ihn heilen kann.« (SE – 340) Korrespondierend heißt es in Zwischen Raubvögeln: »Ein Kranker nun, / der an Schlangengift krank ist; ein Gefangner nun, / der das härteste Los zog: / im eignen Schachte / gebückt arbeitend, in dich selber eingehöhlt, dich selber angrabend, / unbehülflich, / steif, / ein Leichnam –, von hundert Lasten überthürmt, / von dir überlastet, / ein W i s s e n d e r ! / ein S e l b s t e r k e n n e r ! / der w e i s e Z a r a t h u s t r a ! …« (GD – 391) Modulationen der Einsamkeit

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Willen zur Macht einer »Tyrannei« nicht gelangen können. Nietzsche schildert den prekären Status des einsamen Philosophen weiterführend wie folgt: »Dort [in der Höhle des Innerlichen etc., R. R.] verbergen sich die Einsamen: aber dort auch lauert die grösste Gefahr der Einsamen.« (SE – 354) Diese größte Gefahr des Einsamen, der seine »Freiheit in das Innerliche geflüchtet« (SE – 354) hat, welche ja schon als eine Reaktion auf die »äußeren«, politischen Gefahren gedeutet werden muss, beschreibt der junge Nietzsche als ein »auch äusserlich leben«, »sichtbar werden«, »sich sehen lassen« »müssen«, und muss als eine »geistige«, reflexive Potenzierung der ersten, »sinnlichen« Gefahr gedeutet werden, der Flucht vor der Tyrannei im weitesten Sinne des Wortes. 64 Die »Einsamen« stehen durch Natur-, Gesellschafts- und Geschichtsverhältnisse zwangsläufig in einem sie verstellenden Verhältnis zu einem Außen, das Meinungen bei Ihnen voraussetzt, nur weil sie herrschen und nur weil sie sich nicht eindeutig Die Wendung, dass Philosophen ihre Freiheit in das Innerliche flüchten, wird hier empfunden als eine kritische Übernahme eines geflügelten Wortes, das aus der Feder Hegels stammt. Sie erinnert stark an Hegels Rede davon, dass der christliche Glaube sich in den Begriff seiner spekulativen Philosophie geflüchtet hätte (vgl. hierzu Metz (2009/2010), S. 234 f.). Kritisch deswegen, weil Nietzsche (und Kierkegaard) Philosophie ethisch konkretisieren. »Schopenhauer« ist nun, das beeindruckt den jungen Nietzsche offenbar pro domo, ein Denker im griechischen Sinne, nicht »›reine Wissenschaft‹« (SE – 352). Früh schon stellt W. Anz erstaunt fest: »Kierkegaard mutet im Ernst der empirischen Subjektivität das zu, was Hegel mit Hilfe der transzendentalen Subjektivität des Geistes zu erreichen suchte: dem geschichtlichen Leben Sinn und Wahrhaftigkeit zu schaffen … Später wird Nietzsche dieselbe Aufgabe allein aus der Kraft des Übermenschen als des mächtigsten Lebens zu lösen versuchen …« (zitiert nach Grau (1963), S. 300). Korrigierend muss hier auch im Ausblick auf das noch zu Leistende gesagt werden, dass nicht »Kierkegaard« dies zu leisten versucht (gemeint ist eben das Ausnahmetheorem), sondern seine Pseudonyme bis Frater Taciturnus. »Der Einzelne« steht eben zugleich für das Scheitern dieses Anspruchs und inkorporiert das unvordenkliche Angewiesenheitsverhältnis, dem die Ausnahme bis zuletzt entgegenarbeitet. Analoges gilt für Nietzsches »Einsamen«, der durch die über »Zarathustra« gezeigte Selbstidentität mit seinem Wesen vom (politischen) Willen zur Macht suspendiert ist; das »Leben« Zarathustras gibt sich ihm zuletzt versöhnlich. So sehr der von Grau (mit Anz) geschichtsphilosophisch hervorgehobenen Kontinuität zwischen Kierkegaard und Nietzsche zugestimmt wird angesichts der hier besprochenen Passagen, muss doch auch hier wieder ein Unterschied gemacht werden: »der Übermensch« kann mit Stegmaier gegen seine Substantialisierung als ein Anti-Begriff gefasst werden, insofern Zarathustra die Lehre vom Übermenschen in seinem Zusichkommen wieder einzieht. Und doch muss wiederum gegen Stegmaier hervorgehoben werden, dass dieser Einzug nur möglich ist, weil auf ein vorausgesetztes Allgemeines, das die Sphäre des Begriffs als ohnmächtig bloßstellt, ›gebaut‹ werden kann und wird.

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und impulsiv dagegen positionierten (vgl. SE – 354). Sie stehen damit unwillkürlich in einem Verkennungszusammenhang. Diese »Einsamen und Freien im Geiste« wissen, »dass sie fortwährend irgend worin anders scheinen als sie denken: während sie nichts als Wahrheit und Ehrlichkeit wollen, ist rings um sie ein Netz von Missverständnissen.« (SE – 354) Nietzsche ist in Schopenhauer als Erzieher merklich noch nicht auf der Höhe seiner Dialektik. In aller Einfalt und allen Ernstes fingiert Nietzsche das Wesen seines einsamen Philosophen jeglichen sozialen Wechselzusammenhangs enthoben, bzw. behauptet, (unter Freunden, wie immer auch das vorstellbar wäre) unverstellt man selbst sein zu können als das Ideal seiner Philosophie: 65 auf der einen Seite die böse Gesellschaft und auf der anderen Seite der Philosoph, der sich doch nur seiner Wahrheitsliebe hingeben will. Ein entscheidender, die Sache allerdings nicht eben erhellender Zusatz in der ambivalenten Schilderung des Lebensraumes – er ist zugleich Rettung der Freiheit und eine große Gefahr – des einsamen Philosophen, der notwendig, aber doch unfreiwillig an eine Gesellschaft gebunden ist, ist sein »heftiges Begehren«, das diesem als Attribut notwendig zukommt. Sie wissen, diese Einsamen und Freien im Geiste – dass sie fortwährend irgend worin anders scheinen als sie denken: während sie nichts als Wahrheit und Ehrlichkeit wollen, ist rings um sie ein Netz von Missverständnissen; und ihr heftiges Begehren kann es nicht verhindern, dass doch auf ihrem Thun ein Dunst von falschen Meinungen, von Anpassung, von halben Zugeständnissen, von schonendem Verschweigen, von irrthümlicher Ausdeutung liegen bleibt. Das sammelt eine Wolke von Melancholie auf ihrer Stirne: denn dass das Scheinen Nothwendigkeit ist, hassen solche Naturen mehr als den Tod; und eine solche andauernde Erbitterung darüber macht sie vulkanisch und bedrohlich. (SE – 354) 66 Adorno, der es an anderen Stellen besser weiß, kritisiert mit Schopenhauer (und Hegel) Kierkegaard und Nietzsche angesichts dieses hohlen Pathos, der Identifikation von Echtheit und Wahrheit, zurecht. In Goldprobe heißt es, dieses Ethos genealogisch entwirrend: »Unter den Begriffen, in welche die bürgerliche Moral nach der Auflösung ihrer religiösen und der Formalisierung ihrer autonomen Normen sich zusammenzieht, rangiert Echtheit obenan. Wenn nichts mehr verbindlich vom Menschen gefordert werden könne, dann wenigstens, daß er ganz und gar das sei, was er ist. In der Identität jedes Einzelnen mit sich selber wird das Postulat unbestechlicher Wahrheit sowohl wie die Glorifikation des Faktischen von der aufgeklärten Erkenntnis auf die Ethik übertragen.« (Adorno (2003), S. 173) 66 Auch hier lässt sich wieder ein umgemünztes, existentiell gebrochenes Hegelwort 65

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Das »heftige Begehren« als notwendiges Kriterium der »Einsamen und Freien im Geiste« ist schwierig zuzuordnen. Es bieten sich mehrere Möglichkeiten an, dieses »heftige Begehren« zu deuten. Einerseits ist der Philosoph im Sinne Nietzsches ein ziemlich sinnlicher Mensch und impulsiven Wesens. Gleichzeitig hängt an diesem heftigen Begehren eine gewisse »Schuld« an der spannungsreichen Konstitution des Philosophen, die ihn nicht schlicht an und für sich sein lässt. Festgehalten werden kann, 67 um diese Analysen wieder in den Gedankengang einzuordnen, dass Nietzsche eine negative, unversöhnliche Dialektik behauptet, die bei den Analysen zum ungewöhnlichen Menschen bei Kierkegaard in Entweder – Oder schon zum Vorschein kam. Auch dort schon wurde ersichtlich, dass gerade die intensive Kraft, mit der man das Allgemeine ausdrücken wollte, von der Möglichkeit abzog, es zu verwirklichen. Bei Nietzsche mündet die Beschreibung dieser tragischen Flucht der Liebe zum Menschen in die Einsamkeit in einer Drohung. Jene negative Dialektik zwischen Innen und Außen zieht Verbitterung nach sich, welche diese Denker »vulkanisch und bedrohlich« macht. Von Zeit zu Zeit rächen sie sich für ihr gewaltsames Sich-Verbergen, für ihre erzwungene Zurückhaltung. Sie kommen aus ihrer Höhle heraus mit schrecklichen Mienen; ihre Worte und Thaten sind dann Explosionen, und es ist möglich, dass sie an sich selbst zu Grunde gehen. (SE – 354) 68 identifizieren: in Phänomenologie des Geistes wird betont, dass das Scheinen zum Wesen der Wahrheit gehöre. 67 Die Analyse von »heftiges Begehren« wäre weiter auszubauen, was an anderer Stelle dieser Studie ansatzweise eingelöst wird, indem auf die »Sinnlichkeit« des »ungewöhnlichen Menschen« näher eingegangen wird. Womöglich antizipiert »heftiges Begehren« bereits andeutungsweise das, was später als »Leidenschaft der Erkenntnis« explizit gemacht wird. Das geht vermittelt aus der Schilderung der zweiten Gefahr – der Verzweiflung an der Wahrheit – hervor, in deren Schatten Schopenhauer heranwuchs. Diese Gefahr, so heißt es dort, »begleitet jeden Denker […], vorausgesetzt dass er ein kräftiger und ganzer Mensch in Leiden und Begehren sei und nicht nur eine klappernde Denk- und Rechenmaschine«. (SE – 355) Gleichzeitig ist diese Anlage eben selbst-widersprüchlich, tragisch in gewissem Sinne. »Schopenhauers« Natur war eine »seltsame und höchst gefährliche Doppeltheit« (SE – 358). Die »eine Hälfte seines Wesens« war, sich seiner Leistung bewusst, »gesättigt und erfüllt, ohne Begierde«. Andererseits lebte in »der andern Hälfte« seines Wesens »eine ungestüme Sehnsucht«. (SE – 358) 68 Nietzsche wird – das sei nur im Vorübergehen angemerkt – durch eine öffentliche Besprechung seines Werks an seine ursprüngliche Natur erinnert (vgl. Sommer (2012), S. 508) apropos »Explosionen« im Ecce Homo sagen (vgl. EH – 365), er sei kein Mensch, sondern Dynamit, und das freiwillige Zugrundegehen als notwendigen

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Die unterschiedene Forderung der »Liebe« in der Ausnahme

Die unversöhnliche Spannung zwischen einsamem Denker und Gesellschaft kulminiert in den Formeln »ihr gewaltsames Sich-Verbergen« und »ihre erzwungene Zurückhaltung«, welche das in sich verschlungene Passions- und Aktionsverhältnis des »einsamen Philosophen« gegenüber seiner Gesellschaft als einen zu überwindenden Zustand schildern, wobei dieses Aktionspotential hier nur seinen negativen Ausdruck findet: als Rache 69 an der sie notwendig verkennenden sozialen Umgebung, wobei diese Drohung zugleich eigentümlich ohnmächtig wirkt: Schließlich ist das Resultat dieser Rache zunächst nur der Untergang des Philosophen selbst. Die Formel »ihr gewaltsames Sich-Verbergen« erinnert nur im abgründigen Kontrast an Epikurs »lathe biosas«, dessen Aufruf zu solitärer Zurückgezogenheit unter Seinesgleichen keine Spur einer »Gewaltsamkeit« trägt. Nietzsches »einsamer Denker« muss sich aber aktiv Gewalt antun in seinem verborgenen Lebenslauf, ist höchst unfreiwillig verborgen. Und dies aufgrund einer »erzwungenen Zurückhaltung« als des passiven, ohnmächtigen Moments seiner Verwobenheit in eine Gesellschaft. Feststeht bei alledem, und hier kommt das Moment der Einfalt ins Spiel, das diese Erörterung zurückspannt an Wilhelms Unterscheidung einer einfältigen, wahren Liebe von einer ehrgeizig ambitionierten und an Nietzsches »Ach ich merke wohl, ihr wisst nicht, was Vereinsamung ist« erinnert: »Gerade solche Einsame bedürfen Liebe, brauchen Genossen, vor denen sie wie vor sich selbst offen und einfach sein dürfen, in deren Gegenwart der Krampf des VerBestandteil in die tragische, hier ethisch verstandene Lehre vom Übermenschen integrieren. Das ist nicht nur so daher gesagt: auch Kierkegaard assoziiert die in seinem Werk aufgehobene Leistung mit einer »Bombe«, die jederzeit – bei falschem Umgang mit dem darin aufgehobenen Geist – hochgehen kann. So zitiert Emil Boesen aus einem Gespräch der letzten Tage, wobei Kierkegaard reagiert auf Boesens Einschätzung, dass seines Freundes Einschätzung des Christlichen überspannt streng sei: »›So muß es auch sein, sonst hilft es nichts; ich glaube allerdings, wenn die Bombe platzt, muß es so sein! Meinst Du etwa, ich sollte es verfärben, erst zur Erweckung sprechen und dann zur Beruhigung, warum willst Du mich darin verwirren.‹« (GW 25 – 269) Diese Denker waren – an die wirklichkeitsprägende Macht des Geistes glaubend – sich (vielleicht nicht in jedem Moment) über die soziale Verantwortung bewusst, die es bedeutet, Bücher zu schreiben, in denen es um ›die Wahrheit‹ geht. Direkter Ausdruck dieser Verantwortung ist das Ausnahmetheorem und der Versuch, es aufzuheben. 69 Diese Schilderungen sind der Keim dessen, was Nietzsche als das Rache-am-Zeugen-Motiv ausloten wird (vgl. hierzu den Abschnitt III.3.3). Modulationen der Einsamkeit

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schweigens und der Verstellung aufhört.« (SE – 354) 70 Das ist nur ein Postulat, wie Wilhelms Forderung nur Postulatcharakter hatte, obschon der oben gesetzte ideelle Liebesbegriff vorausgesetzt bleibt. Und es klingt wie gesagt wie eine Drohung, wenn Nietzsche schließt: Nehmt diese Genossen hinweg und ihr erzeugt eine wachsende Gefahr; Heinrich von Kleist ging an dieser Ungeliebtheit zu Grunde, und es ist das schrecklichste Gegenmittel gegen ungewöhnliche Menschen, sie dergestalt tief in sich hinein zu treiben, dass ihr Wiederherauskommen jedesmal ein vulkanischer Ausbruch wird. (SE – 354)

Es wurde dargestellt, dass Zarathustra vor seinem ersten Untergang zu den Menschen als überindividuelles, selbstidentisches Wesen vorgestellt werden muss. In diesen, anhand von »Schopenhauer« mehr oder weniger unhaltbar entwickelten Erwägungen hat die Utopie »Zarathustra«, in Einsamkeit daheim zu sein, ihren verhaltenen Ursprung. Hier ist es noch nicht Nietzsches Ambition, durch seinen Zarathustra vom dann allgegenwärtigen Geiste der Rache zu erlösen, den ›die Moral‹ bedeutet. Die sachlichen Äußerungen des einsamen Denkers werden hier nicht weiter bestimmt, allein negativ, (selbst-) destruktiv gedacht. Auf seinen Werken lässt sich nichts bauen, wobei die Frage, für wen der Ausbruch des in sich hineingetriebenen Denkers eine Gefahr ist, eigentümlich schillert. Einerseits vermitteln die Metaphern rund ums Explosive, dass vor allem der umliegenden Gesellschaft die Gefahr droht. Andererseits läuft diese als Drohung formulierte Sprengsatznatur des einsamen Denkers augenscheinlich zunächst »nur« in einer Autodestruktion aus. Diese zieht, im Werk als Spur hinterlassen, womöglich auch das soziale Umfeld, sofern es sich über jenes auslegt, nach sich. Es konnte nachvollzogen werden, wie Nietzsche über einen vertrackten Umweg zwei Begriffe von »Liebe« unterscheidet, welche indirekt erzwungen wurden mittels der Erläuterung dessen, was »Vereinsamung« bedeutet. Sie bedeutet – das kann als Ergebnis fest-

Auch hier kann wieder durch ein Zitat gezeigt werden, inwiefern Zarathustra die ideale Erfüllung des exemplarischen Denkens Nietzsches ist. So heißt es analog zur zitierten Stelle in Die Heimkehr: »Hier aber bist du bei dir zu Heim und Hause; hier kannst du Alles hinausreden und alle Gründe ausschütten, Nichts schämt sich hier versteckter, verstockter Gefühle. […] / Oh Einsamkeit! Du meine Heimat Einsamkeit! Wie selig und zärtlich redet deine Stimme zu mir! / Wir fragen einander nicht, wir klagen einander nicht, wir gehen offen mit einander durch offne Thüren.« (Z – 231 f.) 70

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gehalten werden – einen selbst- und fremdgefährdenden Prozess der Verteidigung der Möglichkeit wahrer, das heißt ideal haltbarer und verbindlicher Liebe. »Ach ich merke wohl, ihr wisst nicht, was Vereinsamung ist« war der resignierte Aufhänger für diesen Gedankengang gewesen. »Vereinsamung« wurde vielschichtig moduliert als durch die allgemeine Lieblosigkeit und spezifische Ungeliebtheit bedingte Erfahrung eines ungewöhnlichen Menschen, unbedingt von dieser Erfahrung als Zustand (»wahre Einsamkeit«) erlöst sein zu wollen, im Bewusstsein dessen, dass zur Überwindung dieser Erfahrung ein anderer notwendig wäre, vor dem man einfach und offen sein könnte, von dem man geliebt wäre (der »wahre Freund«), obschon sich in diesem »idealen Wissen« zugleich die Erfahrung lostritt, dass diese Liebe unmöglich ist, was wiederum mit jenem »heftigen Begehren« in Zusammenhang zu stehen scheint. Die herrschende, allgemeine Lieblosigkeit, vertreten durch die »Bildungsphilister« (SE – 352) und überhaupt durch »Gesellschaften, Regierungen, Religionen, öffentliche[] Meinungen« (SE – 353) als jeder wahren Liebe den Garaus machenden »Tyrannen«, insofern diese notwendig das Innen und Außen des Selbst verzerren, erzwingen die Flucht des Philosophen in die Einsamkeit als Raum, in dem die wahre Liebe zum Menschen sich bewahrt. Das Phänomen der »Gesellschaft« schillert hier eigentümlich: jede konkrete, politische Gesellschaft als auf verschiedenen Ebenen zu denkender Interaktionszwang wird einer idealen Gesellschaft unversöhnlich gegenübergestellt, die der »wahre Freund« allein verbürgt – als Postulat; seine politische Realität kann aus der Anlage des Textes nicht gedacht werden, sein Wesen ist über das philosophische Werk vermittelt. Auch die Äußerungen Wilhelms zu jener positiven Liebe, die in der »Ausnahme« vorausgesetzt wurde, hatte Postulatcharakter. Und so überlastet und leer dieser Begriff auch angelegt scheint, so ist er doch in seinem »So soll es sein«-Charakter, in konstruktiver Verzahnung mit der Erfahrung eines »So soll es nicht sein«, verbindlich für die weiteren Stadien der Denkbewegung des exemplarischen Denkens beider Philosophen in dem Sinne, als nur durch ihn die Welt des schlechten, unendlichen Werdens abgewehrt werden kann, welche von Constantin theoretisiert wurde als eine agonale Dialektik zwischen Ausnahme und Allgemeinem, in welcher eben jener Begriff der »Liebe« ausgemerzt ist. Hatte Constantin ein weltliches Szenario entworfen aus einer außermoralischen Perspektive, welches in seiner naturgeschichtlichen Dynamik von Johannes de silentio als Verzweiflungsstruktur des Selbst- und WeltModulationen der Einsamkeit

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verhältnisses entschleiert wurde, so bezieht Wilhelms Ausnahmetheorie ihre Brisanz aus der moralischen Substanz des Menschen, die über einen allgemein-menschlich verbindlichen Liebesbegriff verbürgt wird. Sie, die unmittelbar moralische Substanz des Menschen, darin jeder Mensch qua Gesellschaftswesen sein Leben hat, muss jetzt bestimmter ins Visier genommen werden. Denn allein im Durchgang durch die notwendig moralisch konstituierte Sozialwelt kommt der »Einzelne« bzw. »Einsame« zu sich, obschon es gerade die sozial determinierte »Moral« an ihnen ist, die sie nicht bei sich verweilen lässt.

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II.2 Verlassenheit – normative Ausnahmetheorie

In diesem zweiten Kapitel des Hauptteils wird die Zone der Verlassenheit betreten und damit das Ausnahmetheorem seiner normativen Fassung nach analysiert. Damit ist nicht der Betrachtungsgegenstand ein anderer, sondern die Weise seiner Thematisierung: während im ersten Kapitel die theoretischen Elemente des »ungewöhnlichen Menschen« deskriptiv isoliert wurden vor dem Horizont eines nihilistischen Weltbildes, soll im Folgenden das prekäre Innenleben der Ausnahme nachvollzogen werden. Im Blick zu behalten ist, wie die Durchgangssphäre der Verlassenheit mit einem Begriff von »Sinn« operiert, der durch die ursprüngliche Inkorporierung der unterschiedenen Forderung der Liebe garantiert ist.

II.2.1 Der Typus Dichter Zentrales Anliegen dieser Studie ist es nachzuvollziehen, dass die im Zarathustra vollzogene Selbstunterscheidung von »Einsamkeit« in »Isolation«, »Verlassenheit« und »einsamste Einsamkeit« formal betrachtet der faktischen, normativen und religiösen Fassung des Ausnahmetheorems korrespondiert. Dabei wurde herausgestellt, dass Zarathustra von der ihn über seinen Leidensweg aufklärenden Einsamkeit unter anderem dort als »verlassen« bezeichnet wird, wo er sinnvollerweise als Typus Dichter seiner sozialen Bestimmung nach angesprochen werden kann. Die Innsuffizienz des Ausnahmetheorems in der Figuration des Typus Dichter seiner sozialen Bestimmung nach soll in den nächsten beiden Abschnitten auf zwei Ebenen genauer erfasst werden. Zum einen soll durch Analyse der einschlägigen Texte gezeigt werden, warum die Wertsetzungen des Typus Dichter unverbindlich bleiben müssen (II.2.1.1). Es ist die Leistung der Schrift Die Wiederholung, im Sinne Nietzsches den Wert jener Wertsetzungen selbst in Frage zu Modulationen der Einsamkeit

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stellen, indem sie die Frage der »Berechtigung« des Typus Dichter de facto in einem außermoralischen Sinne bearbeitet bzw. zeigt, dass die Frage der Berechtigung nicht selbst aus der Moral entspringt und entspringen kann, sofern sie sich qualitativ behaupten soll. 1 Der Abschnitt II.2.1.2 schwenkt dann von der nah am Text orientierten Interpretation der folgenden Überlegungen um auf eine den Flusscharakter des exemplarischen Denkens herausstellende Metaperspektive. Dies vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Kritik am Typus Dichter seiner sozialen Bestimmung nach getragen wird von dem Anspruch, zu der von ihm sanktionierten Wirklichkeit einen Unterschied denken und leben zu können.

II.2.1.1 Die prekäre Haltlosigkeit seines Anspruchs (WH/Z) Wenn im Folgenden die intrasubjektiven Dynamiken der Verlassenheit bei Kierkegaard und Nietzsche eingehender diskutiert werden, geht es nicht primär darum, hartes haltbares Wissen zu sichern, so als gerönnen und behaupteten die Beschreibungen Constantins bzw. die lyrischen Ergießungen Zarathustras ein begriffliches Fundament für eine analytisch transparente Moralkritik. Eben das ist – betrachtet man den nach-idealistischen Boden, aus dem die Begriffe exemplarischen Denkens erwachsen – »Verlassenheit«, dass anti-metaphysisch konzipiertes Denken für die Orientierung im Leben der Wirklichkeit nicht die Konturen einprägen kann, anhand derer ein gelingender Lebensweg sich nachhaltig ausrichten könnte. Die existentiell aufreibende Ohnmacht des Begriffs bezogen auf die ihm zugemutete Aufgabe, einen Ausgangs- und Orientierungspunkt zu stiften – eben das meint hier »Verlassenheit«. Constantin bietet im Finale seiner Schrift Die Wiederholung das abstrakte Schema der Selbstkonstitution eines Dichters, dessen Stationen veranschaulicht werden in den Briefen des jungen Freundes an Constantin, in denen jener sein Geschick in der Gestalt des Hiob spiegelt. Soll der Dichter eine berechtigte Ausnahme sein, so steht für

1 Es ist wichtig zu konstatieren, dass Wilhelm aus Entweder – Oder streng genommen nicht nach der »Berechtigung« fragt; er formuliert einen Maßstab, durch den man ein ungewöhnlicher Mensch in »edlerem Sinne« wird. Wenn Constantin dieses Kriterium festsetzt und verbal ausreizt, dann geschieht dies in moralkritischer Absicht.

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Constantin folgende Voraussetzung unbedingt fest: »Eines Dichters Leben hebt im Streit mit dem ganzen Dasein an, es gilt, eine Beruhigung oder eine Berechtigung zu finden; denn in jenem ersten Streit muß er immer verlieren, und will er sofort siegen, dann ist er nicht berechtigt.« (WH – 437) Hier wird eine Unterscheidung vollzogen zwischen »berechtigter« und »unberechtigter« Ausnahme des Typus Dichter, wobei diese Unterscheidung gestützt zu sein scheint durch das ausschließende Entweder – Oder zwischen »Berechtigung« und »Beruhigung«. 2 Beiden gemeinsam ist die totale Erschütterung ihres Daseins, die als Bruch mit ihm dazu nötigt, sich bewusst zu ihm auf die eine oder andere Weise zu verhalten. Die nicht berechtigte Ausnahme versucht die Erfahrung, die den Bruch mit dem Dasein bewirkte, zu vergessen, mindestens auf sich beruhen zu lassen, zu verdrängen, um sich also zu beruhigen. Diese »Beruhigung« wird hier mit einem unvermittelten »Sieg« durch Kapitulation assoziiert; die Wunde vernarbt, noch ehe die Ursache der Wunde begriffen wurde, die Entzündung durch ›Geist‹ wurde abgewehrt. Soll der Dichter also eine berechtigte Ausnahme sein, so muss er im Streit mit seinem ganzen Dasein zunächst unterliegen, gründlich »verzweifeln«, würde Wilhelm aus Entweder – Oder formulieren. Das »Dasein« bestimmt als das, worin man unmittelbar sein Leben hat, wurde in der Theorie der berechtigten Ausnahme von Constantin näher bestimmt als das Verhältnis der Ausnahme zum Allgemeinen als dem zunächst unhinterfragten, aber immerhin lebensausrichtenden Sinnhorizont. Dieser Streit mit dem ganzen Dasein kann hier entsprechend als eine Empörung wider das Allgemeine als solchem gelesen werden, als fundamentale Irritation des ursprünglich unhinterfragten Selbstauslegungshorizonts. 3 Den Bruch mit dem ganzen Dasein vorausgesetzt, fährt Constantin fort, sein psychologisches Experiment näher zu bestimmen: »Mein Dichter findet nun eine Berechtigung eben dadurch, dass das Es ist nicht ausgeschlossen, dass Constantin mit der Alternative »Beruhigung« seinen eigenen Werdegang bezeichnet, insofern er nicht mehr an »die Wiederholung« als einen transzendenten Ausgangspunkt für den Lebensvollzug glaubt: »Ein Glück ist, daß er bei mir keine Erklärung sucht; denn ich habe meine Theorie aufgegeben, ich faulenze.« (WH – 396) 3 Zur Veranschaulichung des Sachverhalts, der letzten Endes wirklich nur »da« ist in seiner pathetischen Inszenierung durch lebensechte Narrationen, lohnt es sich, etwa den zweiten und dritten Brief des jungen Freundes an seinen »stillen Mitwisser« zu konsultieren (vgl. WH – 407–414). 2

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Dasein ihn in dem Augenblick absolviert, als er sich gleichsam selber zunichte machen will.« (WH – 437) Diese Passage verweist auf die Kulmination des Kampfes zwischen der Ausnahme mit dem Allgemeinen, die eine Erlösung gleichsam erzwingt, weil ein weiteres In-die-Tiefe-Treiben des Konflikts in eine Selbstzerstörung 4 münden müsste. Das »Dasein« – ein nirgends eingehend geklärter Begriff, hier allerdings als das Subjekt der Absolvierung taxiert – »absolviert« den jungen Freund, das heißt, es erlöst ihn von seiner Prüfung und gibt ihm ›Antwort‹, eine ›Erklärung‹ für sein namenloses Leid, dem doch Sinn unterstellt werden musste. Entscheidend ist, dass dieser Kampf und die anschließende Absolvierung ein innerlich-untergründiges, nicht eindeutig zu verstehendes Geschehen ist. Das in der Darstellung Constantins vorausgesetzte Allgemeine, so wurde bereits herausgearbeitet, hat zwei Seiten: es ist zum einen schlicht ›da‹, es liegt in der Luft als abstraktes Orientierungsraster in der Sozialwelt, im Umgang mit konkreten Mitmenschen in einer gegebenen Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit, und zum anderen – das ist hier entscheidend und gemeint – ist das Allgemeine auch inkorporierte Überzeugung und Anschauung, mit der sich die Ausnahme in sich selbst auseinanderzusetzen hat. Das an obigem Zitat wichtigste Wort ist, die Unterscheidung der berechtigten Ausnahme als Dichter und der eigentlichen berechtigten Ausnahme, der aristokratischen Ausnahme als religiöser Ausnahme indirekt anzeigend, der unbestimmte Artikel »eine«. Der »junge Mensch« erhält »eine« Berechtigung durch seinen Kampf mit dem Allgemeinen, ein anderer Dichter naturgemäß, aufgrund seiner »natürlichen Differenzen« und seiner Auseinandersetzung mit dem Allgemeinen in sich, eine andere. Diese Berechtigung ist also als Berechtigung kontingent und kann lediglich weitere Impulse, »neue Rangordnungen« im an sich sinnlosen Agon zwischen Ausnahme und Allgemeinem bewirken, aber keinen allgemeinverbindlichen Unterschied im Ganzen setzen. Der Sachverhalt des unbestimmten Artikels wird theoretisch weiter expliziert. Die Seele des jungen Freundes gewinnt nach der Absolvierung durchs Dasein »einen religiösen Anklang«, eine »religiöse[] Stimmung« (WH – 437). Diese Attribute sind die ihn tragende Kraft, wobei sie also in ihm unverbindlich, zweideutig angelegt sind; dieser Anklang und die religiöse Stimmung geEine Vorstufe des Finales von Die Wiederholung endete mit dem Selbstmord des Jünglings.

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langen nie »zum Durchbruch« und bleiben »eine Innerlichkeit« (WH – 437). An dieser Stelle ist der für das kierkegaardsche Denken wichtige Begriff »Innerlichkeit« nicht in seiner positiven Konnotation eingesetzt; vielmehr verweist der wiederkehrende unbestimmte Artikel »eine« wiederum auf die Beliebigkeit und Auswechselbarkeit dieser Innerlichkeit als einer bloßen, Schwankungen unterliegenden Gestimmtheit. 5 Constantin macht in diesem Zusammenhang auf den letzten Brief des jungen Freundes aufmerksam, dessen »dithyrambische Freude« (WH – 437) für ihn klar anzeigt, dass eine vollständige religiöse Bewegung, welche die der Wiederholung gewesen wäre, nicht vollzogen wurde. Der bacchantische Taumel – evoziert durch die Verheiratung seiner unglücklich Geliebten mit einem anderen –, der eine Parodie der vermeintlich vollzogenen Wiederholung bedeutet, wird folgendermaßen eingeleitet: Der berauschende Becher wird mir wieder gereicht, schon atme ich seinen Duft ein, vernehme schon seine schäumende Musik – doch zuerst eine Libation für sie, die eine Seele gerettet hat, welche in der Einsamkeit der Verzweiflung hockte: gepriesen sei weibliche Großmut! – (WH – 432)

Die ›berechtigte‹ Ausnahme Dichter bleibt auf halber Strecke stehen. Die dithyrambische Freude ist nichts anderes als ein Rückfall in das unerschöpfliche Reich des Möglichen, das als solches nicht im Ernst existenzausrichtend sein kann. Es ist oben von »einer« Innerlichkeit die Rede gewesen; dieser unbestimmte Artikel kann als Chiffre gelesen werden für das Wort »Möglichkeit« überhaupt. Der parodierende Charakter der Erlösungserfahrung wird vollends evident, wenn der junge Freund die »weibliche Großmut« anpreist, die »eine Seele« gerettet hat: der Dichter kann nicht im strengen Sinne »ich« zu sich sagen. Entsprechend ist des »jungen Menschen« Selbstverhältnis diffus: »Er behält eine religiöse Stimmung wie ein Geheimnis, das er nicht erklären kann, indes dies Geheimnis ihm dazu verhilft, die Wirklichkeit zu erklären.« (WH – 437) 6 Indem er sich in seiner reliIn diesem Sinne unterscheidet Kierkegaard in der Rede An einem Grabe (GW 8 – 173–204) die bloße »Stimmung« vom »Ernst«, welcher allein angesichts des eigenen Todes die Selbstauslegung kanalisiert, indem er das soziale Umfeld ausblendet, als Zerstreuung marginalisiert und im Gegenzug die Persönlichkeit absolut vereinsamt, indem sie sich ihrem Ende öffnet und also stellt. 6 In Analogie zu diesem Gedanken heißt es in der Zwillingsschrift Furcht und Zittern, Mt 12,24 paraphrasierend: »[…] [E]in Dichter erkauft diese Macht des Wortes, aller 5

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giösen Stimmung nicht selbst transparent werden kann, kann er auch nicht in ein – nichtverzweifeltes – existenzausrichtendes Selbst- und Weltverhältnis treten. Dieses Geheimnis ist gewissermaßen der zugleich blinde und schöpferische Fleck seines Selbstbezuges, der sich auf die Wirklichkeit überträgt und somit sich selbst verzerrt widerspiegelt. »Er erklärt das Allgemeine als die Wiederholung, und doch versteht er selber die Wiederholung auf eine andere Weise; denn während die Wirklichkeit zur Wiederholung wird, wird für ihn die zweite Potenz seines Bewußtseins zur Wiederholung.« 7 (WH – 437) Hier wird nicht der Grund für die Selbstwidersprüchlichkeit (der Typus Dichter hängt schlicht auf eine spezifische Weise an der Welt) genannt, sondern eine Wirkung: Das Allgemeine, hier zu verstehen als die empirische Wirklichkeit, wird – aufgrund des falsch verklärenden Blicks seiner religiösen Gestimmtheit – als Wiederholung bezeichnet, obschon eben das nicht die Wiederholung sein kann, die als religiöse Bewegung sich nicht in der konkreten Erfahrungswelt manifestiert. Dieses Missverständnis der Wiederholung hat seine konkrete Spiegelung im positiven Resultat der Prüfung, anhand derer sich der junge Freund auslegt: Hiob erhält Hab und Gut wieder, der »junge Mensch« seine Freiheit, da sich seine Geliebte in ihrer »weiblichen Großmut« mit einem andern vermählt. In diesem Wechselverhältnis regiert der Zufall: Die subjektive Disposition des »jungen Menschen«, seine Affinität zum Religiösen bei gleichzeitigem Hängen am Allgemeinen, schnappt bei dem zufälligen Ereignis, das im Grunde zu seiner Wirklichkeit keinen Bezug hat, über, insofern er die Wiedervermählung seiner Geliebten als notwendig mit seiner Disposition korrelierende Größe deutet. Aber sein Bewusstsein ist, als zeitliches bestimmt, letzten Endes nicht in der Lage, das Ereignis der Neu-Vermählung richtig zuzuordnen, da es sich im Raum des Möglichen bewegt und also keinen ›wirklichen‹ Maßstab hat für die Wirklichkeitsauslegung. Seine zweideutige Verliebtheit hat zwar eine »Idealität« hinterlassen; dieser kann er aber »jeden beliebigen Ausdruck ge-

anderen schwere Geheimnisse auszusprechen, für ein kleines Geheimnis, das er nicht aussprechen kann, und ein Dichter ist kein Apostel, er treibt nur Teufel durch Macht des Teufels aus«. (FZ – 246) 7 E. Hirsch übersetzt diese schwierige Stelle wie folgt: »Er erklärt das Allgemeine als die Wiederholung, und versteht dennoch seinerseits die Wiederholung auf eine andere Art; denn während die Wirklichkeit die Wiederholung wird, wird für ihn die zweite Potenz seines Bewußtseins die Wiederholung.« (GW 4 – 95)

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ben […], aber immer [nur, R. R.] durch Stimmung, weil er keine Faktizität besitzt«. (WH – 438) Das Wirkliche (als das unmittelbare Bewusstsein seiner Selbst als Bewusstsein erster Potenz) und das Mögliche (als vermitteltes Bewusstsein seiner Selbst als ›zweite Potenz‹ seines Bewusstseins) verwirren sich zu einem unterschiedslosen Einerlei. Sein »Bewusstsein-Faktum« ist gleichsam keines, weil es sich jederzeit in bestimmungslose »dialektische Elastizität« (WH – 438) auflöst, deren Bewegung kein Zentrum hat, von dem aus es sich hin zu sich selbst bewegt. Sein Selbstverhältnis ist reine dichterische Produktivität in Stimmung, jene zentrumslose »dithyrambische Freude«, die ihren äußerlichen Anstoß in etwas »unaussprechlich Religiösem« (WH – 438) hat. Der Dichter als berechtigte Ausnahme, so wurde bemerkt, bildet den Übergang zu den eigentlichen aristokratischen Ausnahmen, den religiösen Ausnahmen. Die Unterscheidung dieser beiden Ausnahme-Typen hat ihren Grund in der »Bewegung« 8 ihres innerlichen Existenzvollzugs. So war die Bewegung in den früheren Briefen, insbesondere in einzelnen davon, einem eigentlich religiösen Ausgang weit näher, aber in dem Augenblick, wo die zeitweilige Suspension aufgehoben wird, bekommt er sich selber wieder, aber als Dichter, und das Religiöse geht zugrunde: bleibt als unaussprechlicher Untergrund. (WH – 438)

Die berechtigte Ausnahme als Dichter bleibt innerhalb ihrer »Entwicklung« gleichsam auf halber Strecke stehen, der nähere Grund wird nicht benannt, nur indirekt, indem gesagt wird, dass, hätte der »junge Mensch« »einen tieferen religiösen Hintergrund besessen« (WH – 438), er dann nicht Dichter geworden wäre. Wichtig ist vor allem der zitierte Gedanke der Aufhebung der zeitweiligen Suspension, der Suspension der Suspension als des konvertierenden Ereignisses, des ›Kreuzwegs‹ des Existenzvollzugs. Der Ausdruck hat hier, wie in Furcht und Zittern, die Bedeutung der Suspension vom Ethischen und erfährt im Begriff der »Prüfung« seine Konkretisierung. Diese Aufhebung der zeitweiligen Aufhebung (Prüfung) ist vorzustellen als der ›Ort‹, an dem sich der weitere Verlauf der »Bewegung« entscheidet, als der Umschlagspunkt zwischen Ausnahme und Ausnahme – die anti-begrifflich zugespitzte »ein-

Der Begriff der »Bewegung« ist in diesem Kontext zentral; er wird in Furcht und Zittern unterschieden, insofern sein Gelingen in »Abraham«, der die Bewegung des Glaubens gemacht hat, vorausgesetzt wird.

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samste Einsamkeit«. Dem Dichter ist nun innerhalb der hier unterbreiteten Psychologie seines Geschicks beschieden, einen Rückfall in das Allgemeine zu erleiden, er bleibt, wie oben ja auch schon ausgebreitet, der Dialektik zwischen sich und dem Allgemeinen unterstellt. In einer Reihe konjunktivischer Formulierungen erwägt Constantin schließlich, was geschehen wäre, wenn der »junge Mensch« tiefere religiöse Voraussetzungen gehabt hätte, den ein weiteres Bewusstseins-Faktum auszeichnete, das jede Zweideutigkeit unterliefe, »weil es kraft eines Gottesverhältnisses durch ihn selber gesetzt worden wäre«. (WH – 438 f.) Die Erfahrung der »eigentlichen Wirklichkeit« als des Allgemeinen wäre durch sein religiöses Selbstverhältnis vergleichgültigt worden. Er hätte dann religiös alles ausgeschöpft, was an entsetzlicher Konsequenz in jenem Ereignis lag. Wenn die Wirklichkeit sich anders gezeigt hätte, hätte ihn dies wesentlich nicht verändert, ebensowenig wie, wenn das Schlimmste eingetroffen wäre, dies ihn wesentlich mehr entsetzt haben würde, als es schon getan hatte. Er würde dann mit religiöser Furcht und Zittern, aber auch mit Glauben und Vertrauen verstehen, was er von Anfang an getan hatte, und was er in Konsequenz davon später zu tun verpflichtet war, selbst wenn diese Verpflichtung das Absonderliche veranlassen sollte. (WH – 439)

Wie bei Kierkegaard wird bei Nietzsche dieser Typus vor allem durch zwei ihn wesentlich bestimmende Charakteristika immanent kritisiert, was folgender Ausschnitt aus Das Grablied schön veranschaulicht: Oh ihr, meiner Jugend Gesichte und Erscheinungen! Oh, ihr Blicke der Liebe alle, ihr göttlichen Augenblicke! Wie starbt ihr mir so schnell! Ich gedenke eurer heute wie meiner Todten. / Von euch her, meinen liebsten Todten, kommt mir ein süsser Geruch, ein herz- und thränenlösender. Wahrlich, er erschüttert und löst das Herz dem einsam Schiffenden. / Immer noch bin ich der Reichste und Bestzubeneidende – ich der Einsamste! Denn ich hatte euch doch, und ihr habt mich noch: sagt, wem fielen, wie mir, solche Rosenäpfel vom Baume? (Z – 142)

Einerseits ist der hier vorgestellte Dichter als eine Figur konzipiert, die fatalerweise keinen Zugriff mehr hat auf das sie prägende Element. Eine einst erfahrene selbst- und weltrechtfertigende Begeisterung ist allein noch im schmerzenden Entzug der Erinnerung da, belebt allerdings als solche die Lebensauslegung nicht mehr in jenem

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all-umfassenden Sinn. 9 Andererseits ist das Subjekt dieses Umstands dunkel: 10 die Frage nach dem »Wer« tritt nur innermoralisch als na-

Dieser Befund ist auch deswegen problematisch für den Fortgang der Existenz, weil die aus diesem selbsterfüllenden Element zurückkehrende Seele gewissermaßen überdehnt wurde, ihre ›Haut‹ liegt faltig auf der sie bedeutenden Realität. Da nun jene göttliche Begeisterung unwiederbringlich erloschen ist, ist eine Art negative Kompensation der regelmäßige Umgang mit der Erfahrung des Entzugs. Tendenziell kippt er – das ist die physiologische Konsequenz jedes ›Rauschs‹ – eher in Lebensäußerungen seines qualitativen Gegenteils: Ironie, Zynismus, Spottsucht, Spießbürgerlichkeit, habituelle Rachsucht gegen sich selbst und damit vermittelt gegenüber anderen etc. Man unterliegt also ständig der Gefahr, sich an ›sich‹ zu vergehen, insofern von einer immer noch anwesenden, aber nicht mehr nährenden Erfahrung von Sinnhaftigkeit Verbindlichkeiten ausgehen, denen nicht mehr entsprochen werden kann. Aufgrund dieser allgemein-menschlichen, formal-psychologischen, negativen Konstitution des menschlichen Selbst – so könnte man mutmaßen – bezieht die Schrift Die Krankheit zum Tode ihre maßgebliche Kraft – und schlägt auch ›atheistische‹ Interpreten in ihren Bann. Dabei ist es Kierkegaards List, dieses sich in verschiedenen Graden äußernde, habituelle und kontinuierliche Selbstmissverhältnis als Verzweiflung/»Sünde« zu begreifen. 10 Bei Constantin entsprach dieser Größe »das Dasein«, das immer wieder auch losefrivol mit »Gott« assoziiert wird. So heißt es etwa in der vorläufigen Einschätzung der Briefe: »Was ich so oft als Wahrheit empfunden habe, das mußte ich hier wiederum als Wahrheit empfinden: ›Das Dasein ist doch unendlich tiefsinnig, und seine lenkende Macht versteht ganz anders zu intrigieren als sämtliche Dichter in uno.‹ Der junge Mensch war so konstruiert und so von Natur begabt, daß ich darauf gewettet hätte, er hätte sich nicht im Garn der Liebe verfangen.« (WH – 392) Und etwas später: »Das Mädchen hat eine ungeheure Bedeutung, er wird es niemals vergessen können; aber das, wodurch sie Bedeutung hat, ist nicht sie selbst, sondern das Verhältnis zu ihm. Sie ist gleichsam die Grenze seines Wesens; aber ein solches Verhältnis ist nicht erotisch. Religiös gesprochen könnte man sagen, es sei, als habe sich Gott selber dieses Mädchens bedient, um ihn damit zu fangen, und doch ist das Mädchen selber keine Wirklichkeit, sondern den Flor-Fliegen gleich, die man an einem Angelhaken anbringt.« (WH – 394 f.) Man vergleiche hierzu das Bild aus Das Tanzlied, in dem Nietzsche Zarathustra »Gottes Fürsprecher […] vor dem Teufel: der aber ist der Geist der Schwere« (Z – 139) sein lässt: »In dein Auge schaute ich jüngst, oh Leben! Und in’s Unergründliche schien ich mir da zu sinken. / Aber du zogst mich mit goldner Angel heraus; spöttisch lachtest du, als ich dich unergründlich nannte. / ›So geht die Rede aller Fische, sprachst du; was s i e nicht ergründen, ist unergründlich.« (Z – 140) Niemeyer (2007) – hierauf sei nur am Rande hingewiesen – favorisiert in seinem Kommentar zum Zarathustra insgesamt und auch bei der Analyse von Das Grablied eine autobiografische Lesart. Während Niemeyers Strategie zu sein scheint, den philosophischen Gehalt dieser offenbar in Nietzsches persönlichem Erleben entspringenden Schilderungen abwürgen zu wollen, indem er ihn niederzwingt vor dem Horizont der Frage »Geht es aber wieder einmal um die Lou-Affäre?« (S. 51), so soll hier das Schwergewicht gelegt werden auf den allgemein-menschlichen Charakter, der in der9

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menloser Schuldverweisungszusammenhang auf, obschon ihr so perspektiviert keine haltbare Antwort gegeben werden kann. 11

II.2.1.2 Durchgangsfigur exemplarischen Denkens (EO/WH/Z) Es wurde gezeigt, wie Kierkegaard und Nietzsche analog den Mangel des Typus Dichter seiner sozialen Bestimmung nach aufweisen. In diesem Abschnitt soll von der materiellen Analyse auf eine Metaperspektive umgeschwenkt werden. Durch die Zusammenführung korrespondierender Passagen aus Entweder – Oder und Die Wiederholung bzw. die Übertragung von in Das Grablied verhandelten Motiven auf Nietzsches Denkweg als Ganzem soll der Flusscharakter des exemplarischen Denkens unter eine konsistente Perspektive gebracht werden. In der Ouvertüre gesetzte Denkformen werden ›unterwegs‹ immer wieder aufgeglüht und neu konfiguriert, um den in der Zeit fortlaufenden Ansprüchen der Existenz beizukommen. ›Inart vermeintlich exklusiv-individuellen Erfahrungen liegt. Dies gelingt, wenn man Nietzsches Verhältnis zu Lou von Salomé nicht primär als ein erotisches deutet. »[…] und es war nichts in dieser Liebe, was zur Erotik gehört. Höchstens hätte ich den lhiebeni Ghotti eifersüchtig machen können.« (KSB 6, Nr. 353 – S. 301) Nietzsche hatte in dieser Person eine philosophische Schülerin gesehen – und der Akzent der philosophischen Exegese des euphorischen Ausdrucks, der sich Nietzsche in der Korrespondenz mit Paul Rée in Bezug auf Salomé ergab – »ich bin nach dieser Gattung von Seelen lüstern« (KSB 6, Nr. 215 – S. 185) – sollte primär auf »Gattung von Seele«, nicht auf »lüstern« gelegt werden (gegen Niemeyer (2005), S. 109 f.). 11 In den folgenden Reflexionen des »jungen Menschen« in Die Wiederholung wird eine strukturell analoge Situation beschrieben: »Wenn ein Mensch glaubt, ein Unglück treffe ihn seiner Sünden wegen, so kann das schön und wahr und demütig sein; aber es kann auch darum sein, weil er Gott dunkel als Tyrannen begreift, was der Mensch auf sinnlose Weise solchermaßen ausdrückt, daß er ihn im gleichen Augenblick ethischen Bestimmungen unterwirft.« (WH – 418) Hier wird in intensivster Verdichtung der moralkritische Impetus exemplarischen Denkens zusammengefasst. Der ideal besehen absolute Anspruch der Moral bleibt, immanent perspektiviert, unverbindlich, der sich durch sie auslegende Einzelne verstrickt in andere Möglichkeiten ihrer Bedeutung und damit desorientiert. Während der »junge Mensch« »Gott« aus der Sphäre der Moral auslagert, um seiner Selbstbe- und Selbstverurteilung zumindest hypothetisch einen transzendenten Anknüpfungspunkt zu gewährleisten, so hält auch Nietzsche im Aphorismus Die Rache am Geist und andere Hintergründe der Moral diesen Raum offen, wobei in diesem letztlich von religiöser Semantik zusammengehaltenen Text »Geist« als lebenstragender Begriff gedacht bzw., richtiger, gesetzt wird, der die psychologische Verstandesdialektik, innerhalb derer Moralkritik allein ihre Bedeutung und ihren Halt hat, überbietet (vgl. FW – 605–607).

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konsistenzen‹ und ›Widersprüche‹ zwischen den durch dieses Denken angebotenen Konzepten können insofern umwunden werden, wenn man – die Denkentwicklung zu Zwecken eines Werkvergleichs formalisierend – »Einsamkeit« in der vorgestellten Unterscheidung als die quasi dahinterliegende anti-begriffliche, sinngebende und teleologisch hierarchisierende ›Substanz‹ des exemplarischen Denkens ausweist. Folgender, bereits zitierter Passus aus dem letzten Brief des jungen Freundes markiert für Constantin den ›Rückfall‹ in das Allgemeine: Der berauschende Becher wird mir wieder gereicht, schon atme ich seinen Duft ein, vernehme schon seine schäumende Musik – doch zuerst eine Libation für sie, die eine Seele gerettet hat, welche in der Einsamkeit der Verzweiflung hockte: gepriesen sei weibliche Großmut! – (WH – 432)

Er ist damit eine Modulation eines Stoffs der Diapsalmata ad se ipsum des Ästhetikers aus Entweder – Oder. Hier sinniert A über die Mattigkeit und Kraftlosigkeit seiner Seele und die ausbleibende Wirkung des Weins auf sein Gemüt: Einsam bin ich, bin es je und je gewesen; verlassen, nicht von den Menschen, das würde mich nicht schmerzen, sondern von den glücklichen Genien der Freude, die mich in zahlreicher Schar umringten, die überall Bekannte trafen, überall eine Gelegenheit mir zeigten. […] Sollte ich mir etwas wünschen, so wünscht’ ich mir nicht Reichtum oder Macht, sondern die Leidenschaft der Möglichkeit, das Auge, das allenthalben ewig jung, ewig brennend die Möglichkeit erblickt. (EO I – 52 f.)

Dieses in sich abgeriegelte, auto-symposiale Ambiente ist das Lebenselement des Dichters und artikuliert sich über eine spezifische Selbsterfahrung in Einsamkeit. Diese vermeintliche Einsamkeit lässt sich eben deshalb im Sinne Nietzsches als »Verlassenheit« begreifen, weil diese Entzugserfahrung über ein spezifisches Verhältnis zur sozialen Wirklichkeit determiniert ist. Die im ersten Zitat veranschlagte »weibliche Großmut« wurde oben bereits diskutiert als die Suspension der Suspension im schlechten Sinne, einer Wiederholung, die keinen qualitativen Unterschied zu setzen vermochte im Verhältnis zum Allgemeinen. Auch A fühlt sich verlassen von eben dem Element, das dem »jungen Menschen« aus Die Wiederholung wieder eingehaucht ward. Dabei wird es ein Hauptkritikpunkt Wilhelms sein, dass er sich selbst in seinem Willen zum »Versteck«, zur »Einsamkeit« radikal missversteht. Modulationen der Einsamkeit

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Das Leben sei eine Maskerade, erklärst Du, und das ist Dir ein unerschöpflicher Stoff zum Vergnügen, und noch ist es niemandem gelungen, Dich zu erkennen; denn jede Offenbarung ist immer eine Täuschung, so nur kannst Du atmen und verhindern, daß die Leute auf Dich eindringen und die Respiration beeinträchtigen. Darin hast Du Deine Tätigkeit, Dein Versteck zu bewahren, und das gelingt Dir, denn Deine Maske ist die rätselhafteste von allen; Du bist nämlich nichts und bist immer nur im Verhältnis zu andern, und was Du bist, bist Du durch dies Verhältnis. (EO II – 706 f.) 12

In Entweder – Oder wurde es zuletzt zur Disposition gestellt, ob A sich als Ausnahme im edleren Sinne bewähren könnte, wobei zentrale Voraussetzung der Ausschluss einer exklusiven Lieblosigkeit gegenüber dem Menschlichen war. Sieht man sich allerdings den Auszug aus den Diapsalmata an, so scheint es, dass Wilhelm den Streit mit seiner Frau verloren hat. 13 Im »jungen Menschen« aus Die Wiederholung wird nun Liebe zum Menschlichen vorausgesetzt; hier ist es

Wollte man diese Verlassenheit von sich selbst in einem Bild veranschaulichen, so ließe sich die Existenz des Dichters mit dem Dasein einer Fledermaus vergleichen (dieses Bild verdanke ich Miriam Laura Rauh): Fledermäuse orientieren sich im Flug dadurch, dass sie an sich leere, bedeutungslose Signale in den Raum ihres hektischen Lebenswegs entsenden, um dann anhand der akustischen Reflexion dieser Signale ihre Flugbahn anzupassen (Echolot) – entsprechend zackig, ruhelos und gespenstisch wirkt deren Flugbahn. Wenn Wilhelm betont, dass A »nichts« sei, seine Orientierung immer nur durch das Verhältnis zu anderen gefunden wird, dann ist hier ein analoger Sachverhalt auf den Punkt gebracht. 13 Diesen Hinweis fortdenkend ließe dich behaupten, dass Kierkegaard in Entweder – Oder den Standpunkt Wilhelms, der das Offenbarwerden im Allgemeinen als den Inbegriff des Ethischen setzt, immanent untergräbt. Wilhelm bekommt die dem Menschen wesentliche Bedeutung der Bosheit nicht in den Blick. Die verborgene Wirklichkeit von Bosheit ist ihm buchstäblich unbegreiflich. Um diesem Sachverhalt ein philosophiegeschichtliches Gesicht zu geben: von der »Banalität des Bösen« kann nur die Dummheit des Guten sprechen, weil er seine eigene Berechenbarkeit maßlos unterschätzt. Das unmittelbar als »gut« Befundende ist aus der Perspektive des »Bösen« berechenbar, also auch instrumentalisier- und manipulierbar. Dies veranschaulicht Kierkegaard eindringlich in Das Tagebuch des Verführers, vgl. EO I – 351–521. Dass A selbst die Autorenrolle dieses Machwerks verleugnet, ist vor dem Hintergrund des benannten Sachverhalts kaum irrelevant, im Gegenteil: dass es schlicht urheberlos da ist, macht die Sache unendlich gravierender. Vor diesem Hintergrund muss Liessmann (1991) als eine Entstellung der Intention Kierkegaards kritisiert werden, die Verpflichtung Kierkegaards auf seinen Horror vacui. Es kann eben nur dann davon die Rede sein, dass Kierkegaard erst im Nachhinein versucht hat, die Konsequenzen seiner Theorien des Ästhetischen zu unterminieren (vgl. Liessmann (1991), S. 97 f.), wenn man sie nicht bereits im Ansatz als abgewehrt aufdeckt. Diese Freiheit mutet Kierkegaard seinen Interpreten zu. 12

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im Gegenteil er, der seinem Experimentator 14 die Disposition zur Menschenverachtung unterstellt (vgl. WH – 402), welche dieser wiederum abblockt mit dem Argument, dass er sich nur kalt stellen musste, um den »jungen Menschen« »entstehen« zu lassen (vgl. WH – 436). Verbunden sind die Schriften durch den Typus Dichter als einer Ausnahmeerscheinung, wobei seine Bedeutung moralisierend und außermoralisch in den Blick gebracht wird. Kierkegaard ändert hier seine Strategie: Er serviert nicht einfach durch die richtende Gebärde Wilhelms den Dichter als verzweifelt ab, um zuletzt die Möglichkeit offen zu halten, dass dieser sich womöglich in einem edleren Sinne als Ausnahme hinstellen könne, sondern vertieft sich durch den sozialpsychologischen Blick Constantins in seinen Seelenhaushalt. Die positive Bedeutung der Wiederholung – die Stiftung eines transzendenten Ausgangspunktes für den Lebensvollzug – wird allein negativ thematisch durch ihre Parodierung und wird als erfüllt unterstellt in der Gestalt des Glaubensritters. Der von Wilhelm beobachtete und gerichtete Selbstwiderspruch As mit sich selbst 15 wird hier aufwendiger inszeniert in der aus Constantins Feder stammenden Selbstbeschreibung des »jungen Men-

Das ergibt eine konzeptuell besehen spannungsreiche Situation: Der Jüngling klagt seinen stillen Mitwisser an, obwohl dieser doch quasi der Schöpfer des »jungen Menschen« ist. So klagt sich, nicht gewusst wie, der Experimentator durch sein eigenes Produkt an, der Schöpfer durch sein Geschöpf. Wollte man dieser widersinnigen Konstellation philosophische Bedeutung zusprechen, so ließe sich verteidigen, dass Kierkegaard die dem experimental-psychologischen Standpunkt eigentümliche Gewalttätigkeit gegenüber seinem Gegenstand thematisieren will (vgl. zu dieser These, dass Ästhetik, unter welche Kategorie im kierkegaardschen Denken Experimental-Psychologie fällt, wesentliche Affinität zur Gewalt hat, insofern sie nichts Verborgenes unscheinbar sein lassen kann, im weiteren Sinne auch Pattison (2012), S. 47–66). Der folgende Satz, den Constantin kurz vor der Herausgabe der Briefe des Jünglings an ihn formuliert und der die komplexe Verwobenheit des Pseudonyms in sein eigenes Experiment anzeigt, erhärtet diese Möglichkeit der Interpretation. So kommentiert Constantin die Anlage seines jungen Freundes: »Aber vielleicht verstehe ich ihn nicht ganz, vielleicht verbirgt er etwas, vielleicht liebt er in Wahrheit dennoch. Dann wird das Ende der Geschichte wohl sein, daß er mich einmal dafür totschlägt, daß er mir das Allerheiligste anvertraut hat.« (WH – 395) In diesen Selbstreflexionen des Experimentators liegt eine Hypothese zum »Gottesmord« aufgehoben. Diese wird von beiden Denker analog als moralkritisches Motiv einer »Rache am Zeugen« exponiert (vgl. hierzu den Abschnitt III.3.3). 15 »Dein ganzes Wesen widerspricht sich selbst. Aus diesem Widerspruch aber vermagst Du einzig durch ein Entweder – Oder herauszukommen […]«. (EO II – 711) 14

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schen« durch die Gestalt Hiob. Hatte Kierkegaard versucht, in Entweder – Oder dadurch die Philosophie der Vermittlung ad absurdum zu führen, indem er A auftreten ließ als einen, der nach ihr lebte samt allen Konsequenzen, welche die Aufhebung des Satzes vom Widerspruch lebenspraktisch haben muss, 16 so wird in Die Wiederholung ebendiese Strategie weiterverfolgt, wobei die Alternative, das Dritte zu einer religiösen Erklärung hin tendiert. Wurde in Entweder – Oder das letzte Wort durch Ultimatum zum Ausdruck gebracht, darin ein Landpfarrer vom Erbaulichen spricht, dass darin liegen soll, dass wir gegen Gott immer Unrecht haben, so gibt es in Die Wiederholung eine Reihe von Querverweisen auf die gleichzeitig mit herausgegebene Schrift Furcht und Zittern, darin Abraham als Glaubensritter ins Bild gebracht wird. Auch im Falle Nietzsches soll nun gezeigt werden, wie man sein exemplarisches Denken unter eine konsistente Perspektive bringen kann im Nachvollzug der Modulationen des durch das Ausnahmetheorem verbürgten Stoffs. Auf dem idealen Höhepunkt seines Schaffens konzipiert Nietzsche seinen Zarathustra als eine Figur des Durchgangs, nämlich in den Liedern des zweiten Buchs, in denen Zarathustra als Dichter erscheint. Dadurch markiert Nietzsche einen Unterschied zu einer Phase seines exemplarischen Denkens, die durch die Insuffizienz dieses Typus gezeichnet ist und zu der ein qualitativer Unterschied gesetzt werden muss. Es ist vorab an die These zu erinnern, dass die oben zugeordnete Wirklichkeit eines »höheren Selbst«, obschon sie sich als Ausdruck in Nietzsches mittlerer Werkphase zu verlieren scheint, doch in ihr angelegt bleibt und zuletzt im Zarathustra neu konzipiert in Form gebracht wird. Das Grablied, so lässt sich in diesem Sinne behaupten, inszeniert performativ jene Phase des Entzugs vom »höheren Selbst«. 17 In Schopenhauer als Erzieher (und Richard Wagner in Vgl. hierzu den Vorwurf Wilhelms gegenüber A: »Das polemische Resultat nämlich, von dem alle Deine Siegeshymnen über das Dasein wiederklingen, hat eine merkwürdige Ähnlichkeit mit der Lieblingstheorie der neueren Philosophie, daß der Satz des Widerspruchs aufgehoben sei. […] Du bist auf dem Gebiet der Tat, sie auf dem der Kontemplation. Sobald man sie daher auf die Praxis übertragen will, muß sie zu demselben Ergebnis kommen wie Du, mag sie sich auch nicht so ausdrücken. Du mediierst die Gegensätze in einem höheren Widersinn, die Philosophie in einer höheren Einheit.« (EO II – 719 f.) Diese Kritik Kierkegaards an Hegel ist vermutlich die schlechthin entscheidende; es geht schlicht um die Beobachtung, dass ›die Spekulation‹ lebensweltlich Früchte trägt und zugleich im Prinzip ›ethikvergessen‹ ist. 17 Die systematische Einbettung des Ausdrucks »höheres Selbst« wurde oben geleis16

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Bayreuth 18) wurde dieser Ausdruck initiiert. In seiner ersten Prägung muss die Bedeutung dieses Ausdrucks scheitern und dessen verwandelte Einlösung durch seine Dynamisierung äußerlich – obschon sein Zuspruch auf Ewigkeit gebaut schien (»Trauung«) – als Untreue erscheinen. Ach, wir waren gemacht, einander nahe zu bleiben, ihr holden fremden Wunder; und nicht schüchternen Vögeln gleich kamt ihr zu mir und meiner Begierde – nein, als Trauende zu dem Trauenden! / Ja, zur Treue gemacht, gleich mir, und zu zärtlichen Ewigkeiten: muss ich nun euch nach eurer Untreue heissen, ihr göttlichen Blicke und Augenblicke: keinen andern Namen lernte ich noch. / Wahrlich, zu schnell starbt ihr mir, ihr Flüchtlinge.

tet (vgl. Abschnitt I.3.1.3). Dort wurde die formale These bewährt, dass Nietzsche durch diesen Ausdruck das metaphysische Frühwerk mit der Freigeistepisode verknüpft. Gesichert wurde außerdem, dass dieser Ausdruck eine allgemein-menschliche Erfahrung verbürgen soll, von der ethische Orientierung ausgeht. Allein im Zarathustra gelingt es Nietzsche, den Anspruch jener idealen Wirklichkeit neu und endgültig in Form zu bringen. So kann »Zarathustra« als der Name begriffen werden, welcher diese Erfahrung verbürgt und sie durch die Selbstunterscheidungen von »Einsamkeit« in Form bringt. Diese Lesart muss gegen Zittel (2011), S. 218 verteidigt werden, der – mit Rauh (1969) – im Blick auf das vierte Buch, das ohnehin in Form und Gehalt im Verhältnis zu den ersten drei Büchern merklich nachlässt, hervorhebt, dass dort »das Scheitern aller Versuche, der Einsamkeit zu entrinnen, und damit ihre Ausweglosigkeit vorgeführt (Zittel 2000) [= Das ästhetische Kalkül von Friedrich Nietzsches ›Also sprach Zarathustra‹, R. R.]« werde. Wider seine eigene Einsicht, die biografische Einsamkeit Nietzsches von seiner philosophischen Auffassung dieses Phänomens unterscheiden zu müssen (vgl. ebd.), autobiografisiert Zittel unterschwellig diesen Begriff und verkennt dessen Aufhebung durch Nietzsches Schaffen seines Also sprach Zarathustra, welches Werk vom Zerfall der Isolation her seinen Ausgangspunkt nimmt als der Erfüllung seiner Philosophie für ihn, und in diesen Zarathustra wieder einkehren lässt durch »einsamste Einsamkeit«. 18 Vgl. SE – 385 und WB – 445. Es ist bekannt, dass der ältere Nietzsche davon spricht, dass in diesen beiden unzeitgemäßen Betrachtungen weniger von den Namensgebern, als vielmehr von ihm ›der Möglichkeit nach‹ die Rede ist (vgl. etwa KSB 6, Nr. 471 – S. 450 ff.). Das folgende Zitat aus Richard Wagner in Bayreuth belegt dies direkt: »Und gerade als Philosoph gieng er nicht nur durch das Feuer verschiedener philosophischer Systeme, ohne sich zu fürchten, hindurch, sondern auch durch den Dampf des Wissens und der Gelehrsamkeit, und hielt seinem höheren Selbst Treue, welches von ihm G e s a m t t h a t e n s e i n e s v i e l s t i m m i g e n W e s e n s verlangte und ihn leiden und lernen hiess, um jene Thaten thun zu können.« (WB – 445 f.) Sowohl der Aspekt der »Treue« als auch die Metapher des »Dampfes« werden – wie gleich noch zu hören sein wird – in Das Grablied bezogen auf Zarathustras Werdegang und also jene Einschätzung Nietzsches eingelöst, insofern der Name »Zarathustra« in seiner doppelten Funktion »Schopenhauer« (und hier auch »Wagner«) ersetzt. Modulationen der Einsamkeit

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Doch floht ihr mich nicht, noch floh ich euch: unschuldig sind wir einander in unsrer Untreue. (Z – 142 f.)

Im Folgenden wird deutlich, inwieweit Zarathustra einem anonymen »Man« bzw. einer nicht näher bezeichneten »Ihr-Gruppe« die Schuld zuschreibt für die existentielle Zerfahrenheit, in der er sich in Bezug auf Vergangenes, erinnernd, befindet, durch die er außerdem derart aufgerieben wird, dass ein endgültiger Bruch im Sinne eines unversöhnlichen Risses mit seiner Vergangenheit droht. Die Rache an der Zeit und ihr »es war« ist hier Motiv und soll die Ohnmacht des dialektisch elastischen »Standpunkts« des Dichters als eines der Zeitlichkeit ausgesetzten zur Station des Durchgangs münzen. 19 Also sprach zur guten Stunde einst meine Reinheit: ›göttlich sollen mir alle Wesen sein.‹ / Da überfielt ihr mich mit schmutzigen Gespenstern; ach, wohin floh nun jene gute Stunde! / ›Alle Tage sollen mir heilig sein‹ – so redete einst die Weisheit meiner Jugend: wahrlich, einer fröhlichen Weisheit Rede! / […]. Ach, wohin floh da meine zärtliche Begierde? / Allem Ekel gelobte ich einst zu entsagen: da verwandeltet ihr meine Nahen und Nächsten in Eiterbeulen. Ach, wohin floh da mein edelstes Gelöbniss? / […] Meiner Mildthätigkeit sandtet ihr immer die frechsten Bettler zu; um mein Mitleiden drängtet ihr immer die unheilbar Schamlosen. So verwundetet ihr meine Tugend in ihrem Glauben. / Und legte ich noch mein Heiligstes zum Opfer hin: flugs stellte eure ›Frömmigkeit‹ ihre fetteren Gaben dazu: also dass im Dampfe eures Fettes noch mein Heiligstes erstickte. (Z – 143 f.) 20

Der Einleitungspassus ist eine Reminiszenz an das Motto, welches den Eingang zu Die fröhliche Wissenschaft macht, und stammt von Emerson: »Dem Dichter und Weisen sind alle Dinge befreundet und geweiht, alle Erlebnisse nützlich, alle Tage heilig, alle Menschen göttlich.« (zitiert nach FW – 343) Auch der »junge Mensch« aus Die Wiederholung wird von seinem Schöpfer derart prekär charakterisiert: »Er erwartet vielleicht sogar die Verpfuschung seiner Persönlichkeit; aber das ist nichts, wenn er sich nur gleichsam am Dasein rächen kann, das seiner gespottet hat, indem es ihn schuldig machte, wo er unschuldig war […]«. (WH – 395) 20 Nach hier nicht zu diskutierenden, schlimmen Turbulenzen persönlicher Natur im Jahre 1882, also vor der Abfassung des Zarathustra, formuliert Nietzsche in einem Brief an den Freund Overbeck: »Wenn ich nicht das Alchemisten-Kunststück erfinde, auch aus diesem – Kothe G o l d zu machen, so bin ich verloren. – Ich habe da die a l l e r s c h ö n s t e Gelegenheit zu beweisen, daß mir ›alle Erlebnisse nützlich, alle Tage heilig und alle Menschen göttlich‹ sind!!!! / Alle Menschen göttlich. –« (KSB 6, Nr. 365 – S. 312) 19

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Ungeredet und unerlöst blieb mir die höchste Hoffnung! Und es starben mir alle Gesichte und Tröstungen meiner Jugend! / Wie ertrug ich’s nur? Wie verwand und überwand ich solche Wunden? Wie erstand meine Seele wieder aus diesen Gräbern? / Ja, ein Unverwundbares, Unbegrabbares ist an mir, ein Felsensprengendes: das heisst mein Wille. Schweigsam schreitet es und unverändert durch die Jahre. / In dir lebt auch noch das Unerlöste meiner Jugend; und als Leben und Jugend sitzest du hoffend hier auf gelben Grab-Trümmern. Ja, noch bist du mir aller Gräber Zertrümmerer: Heil dir, mein Wille! Und nur wo Gräber sind, giebt es Auferstehungen. – (Z – 145)

Diese hier in Das Grablied eingeflochtene Reminiszenz indiziert indirekt, dass hier ein Versprechen eingelöst wird. Schließlich endet Das Grablied ja mit rhetorischen Rückfragen, die Gelingen anzeigen, die anzeigen, dass die in gewisser Hinsicht endgültig weggestorbenen Genien der Jugend sich doch transformiert erhalten haben. 21

II.2.2 Die moralische Bedeutung der Vereinsamung In diesem Kapitel soll das ›Lebensproblem‹ des ungewöhnlichen Menschen genauer in den Blick gebracht werden, die herrschende Ordnung von Gut und Böse. Obschon diese daran ›Schuld‹ hat, dass der ungewöhnliche Mensch seinen Lebensweg einsam zubringen muss, weil er in ihr keine haltbare Orientierung findet, so wird der Ausnahme doch zunächst die Pflicht auferlegt, in Auseinandersetzung mit der herrschenden Moral sich zu bilden. Jene oben herausgestellte Liebe muss als das Element vorgestellt werden, welche die leidvolle Auseinandersetzung der Ausnahme mit dem Allgemeinen (in sich) bedeutend macht, womit vermittelt eine zweite Ordnung von Gut und Böse aktualisiert wird. Zur Erhellung dieser Umstände kann die Ausnahmetheorie Wilhelms aus Entweder – Oder vertieft analysiert werden. Im Anschluss daran werden Auszüge aus Schopenhauer als Erzieher mit dem Zarathustra-Kapitel Vom Wege des Schaffenden kurzgeschlossen und in deren Forderungscharakter ausgewertet.

Angehrn (2015) ist vor der hier von Nietzsche dichterisch dargestellten Verwobenheit von erinnerter unerlöster Vergangenheit und Hoffnung als darin aufgehobenem Glücksversprechen theoretisch äußerst aufschlussreich.

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II.2.2.1 Kierkegaard (EO) Wenn also jemand erleben muss, dass es etwas in dem Allgemeinen gibt, das er nicht in seine Existenz übersetzen kann, und »ist seine Seele durch die Liebe zum Allgemeinen veredelt, liebt er das Dasein des Menschen in dieser Welt, was tut er dann?« (EO II – 909) Er muss prüfen, ob es wahr ist – welche Wahrheit sich, wie es bis hierher schien, jenseits von Schuld und Unschuld zu verorten hätte. Um diese zu ergründen, hat sich der ungewöhnliche Mensch einer Art entlarvungspsychologischem Selbstverhör zu unterstellen. Er wird […] wissen, daß Trägheit und Feigheit einem Menschen dergleichen [gemeint ist, das Allgemeine nicht verwirklichen zu können, R. R.] einbilden und den Schmerz zu einer Belanglosigkeit machen können, wenn er das Allgemeine in das Einzelne verwandelt und im Verhältnis zum Allgemeinen eine abstrakte Möglichkeit konserviert. Das Allgemeine ist nämlich nirgends als solches da, und es liegt an mir, an der Energie meines Bewußtseins, ob ich in dem Einzelnen das Allgemeine sehen will oder nur das Einzelne. (EO II – 909)

Die Wahrheit, die darin liegt, das Allgemeine nicht verwirklichen zu können, ist charakterisiert durch einen spezifischen Schmerz, wobei Feigheit und Trägheit hier die Wahrheit, die es an sich bedeutete, das Allgemeine wirklich nicht verwirklichen zu können, zu einer Lappalie verdrehen. Das Allgemeine ist als Bestand nirgends da, nur die Energie des Bewusstseins, des bewussten Wollens generiert es – es obliegt offenbar der un- bzw. vorbewussten Setzung jedes Individuums. Der Argumentation ist, wie oben bereits betont, abgründig, wobei dieser Umstand als ›negativ dialektisch‹ bezeichnet wurde: es ist nämlich fraglich, wie zugleich behauptet werden kann, dass das Allgemeine einerseits nirgends da ist, sondern allein durch die Energie des Bewusstseins gesetzt wird, wobei andererseits vorausgesetzt wird, dass das Allgemeine als außerindividueller Bestand gegeben sein muss, da ansonsten die Rede, dass es etwas in dem Allgemeinen gibt, dass die Ausnahme nicht verwirklichen kann, keinen Sinn machen würde. Der »Schmerz« ist der vorbegriffliche Platzhalter in dieser Argumentation. Faulheit, Trägheit, Feigheit etc. 22 können bewirken, dass er als Auch Nietzsche betont in Schopenhauer als Erzieher bereits, wie habituell gewordene Charakterschwächen – durch die herrschende Moral sanktioniert – den Weg der Selbstsuche unterminieren: »Im Grunde weiss jeder Mensch recht wohl, dass er nur einmal, als ein Unicum, auf der Welt ist […]: er weiss es, aber verbirgt es wie ein böses

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negativer Bürge für das Allgemeine seine Bedeutung verliert. Unter herausfordernden Umständen ist er die »Wahrheit«, deren Vernunft keinen Ausdruck findet im bestehenden Vernünftigen, dem Allgemeinen. Das Zitat setzt kaum vernehmbar voraus, dass die »Wahrheit«, die darin liegt, dass Allgemeine nicht realisieren zu können, dennoch eine Verbindlichkeit, Verantwortlichkeit nach sich zieht, selbst wenn sie den Raum des gegebenen Allgemeinen gezwungenermaßen verlässt bzw. immer schon verlassen hat. Es ist eine moralische Forderung, den Schmerz des Entzugs = »Wahrheit« nicht zu etwas Einzelnem umzuwerten, sondern selbsttätig jederzeit als den Schmerz des Entzugs vom Allgemeinen zu deuten, wobei der Begriff des »Allgemeinen« zerklüftet ist, insofern es sich nur im vorrationalen Raum negativ äußert: durch den Schmerz des Entzugs. Die »Konservierung« einer »abstrakten Möglichkeit« gegenüber dem Allgemeinen meint wohl eine unentschiedene Stagnation im Selbstvollzug, eine andauernde Auslagerung des Entschlusses in dem Sinne, als man weder durch die wie auch immer näher zu bestimmende Tat erweist, dass man ein ungewöhnlicher Mensch in edlerem Sinne ist, noch dass man dem Allgemeinen seine Rechte widerfahren lässt, indem man sich ermannt, es durch ein energisches Bewusstsein zugleich zu setzen und zu realisieren. Die weiteren Erwägungen Wilhelms bezogen auf die potentielle Ausnahme bleiben dunkel. Wilhelm schildert, wie die Ausnahme einen weiteren, wiederholten Versuch wagt, das Allgemeine zu realisieren. Falls auch dieser Versuch scheitert, wird der Ausnahme die Wahrheit umso nachdrücklicher eingeschärft, wobei eine Selbstbemitleidung, ein »sich selber [H]ätscheln« besser unterlassen werden sollte, »da er sonst einen tieferen Schmerz empfinden wird denn je. Er wird wissen, daß nichts Einzelnes das Allgemeine ist. Wenn er sich also nicht selbst täuschen will, wird er das Einzelne in das Allgemeine verwandeln. Er wird in dem Einzelnen viel mehr sehen, als was an sich darin liegt; für ihn ist es das Allgemeine.« (EO II – 909 f.) 23 Damit scheint gemeint zu sein, dass man durch psychoGewissen – weshalb? Aus Furcht vor dem Nachbar, welcher die Convention fordert und sich selbst mit ihr verhüllt. Aber was ist es, was den Einzelnen zwingt, den Nachbar zu fürchten, heerdenmässig zu denken und zu handeln und seiner selbst nicht froh zu sein? Schamhaftigkeit vielleicht bei Einigen und Seltnen. Bei den Allermeisten ist es Bequemlichkeit, Trägheit, kurz jener Hang zur Faulheit […]« (SE – 337), von dem ein mysteriöser Reisender sprach. 23 Auch der »junge Mensch« aus Die Wiederholung setzt (verzweifelt): »Meine BeModulationen der Einsamkeit

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logisch sezierende Innenschau nicht zu einem nachhaltigen Ergebnis kommt. Man muss – um jegliche Form des Selbstbetrugs im Keim zu ersticken – aktiv alles Einzelne an sich aufwerten zum Allgemeinen. Das Einzelne wird im Modus des »Als ob« traktiert, als sei es das Allgemeine (welcher Güte auch immer), schöpferisch auf- und umgewertet zum Allgemeinen. Durch diese selbstschöpferische Verdopplung der Wirkweise des Allgemeinen wird verhindert, dass das Leiden äußerlich bleibt– es muss persönlich angeeignet werden. »[E]r wird sich nicht durch das sonderbare Mißverständnis distrahieren lassen, daß das Einzelne an ihm einen größeren Freund habe als an sich selbst. Wenn er dies getan hat, so wird er dem Schmerz getrost entgegengehen; wird sein Bewußtsein auch erschüttert, es wankt nicht.« (EO II – 910) Wilhelm unterstellt, in dem er es subjektiviert, dem Einzelnen im Sinne des naturhaft Differenzierenden unter den Individuen eine gewissermaßen böse, ›diabolische‹ Verführungskraft. Allerdings sichert die Ausnahme eben gerade dann die »Wahrheit« an sich, wenn sie die »Selbstsucht« des Einzelnen als solche erkennt und sich nicht von ihr zerstreuen lässt. Die Ausnahme hält an dem sich durch sie stiftenden Allgemeinen fest, indem sie das Einzelne zum Allgemeinen aufwertet, womit sie jederzeit Erklärungen ihrer Leiderfahrung als Abwege abwertet. 24 Schließlich stellt Wilhelm Ergebnisse dieser Auseinandersetzung vor: trachtungen sind, menschlich gesprochen, die knappste Diät, die man sich vorstellen kann, und doch empfinde ich eine Befriedigung dabei, mich so in all meiner Mikrokosmischheit so makrokosmisch wie möglich zu gebärden.« (WH – 413) 24 Diese Passagen sind insgesamt schwer deutbar. Umso überraschender ist es, dass Nietzsche sein exemplarisches Denken aus analogen Selbstverpflichtungen heraus zu konstruieren scheint. Vgl. hierzu Nietzsches reife Selbst-Thematisierung in der neuen Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches II, in welcher Schaffensphase Nietzsche »erst jenes einsiedlerische Reden« (MA II – 374) lernte, das seinem Werdegang wesentlich eigne: »Einsam nunmehr und schlimm misstrauisch gegen mich, nahm ich, nicht ohne Ingrimm, dergestalt Partei g e g e n mich und f ü r Alles, was gerade m i r wehe that und hart fiel: – so fand ich den Weg zu jenem tapferen Pessimismus wieder, der der Gegensatz aller romantischen Verlogenheit ist, und auch, wie mir heute scheinen will, den Weg zu ›mir‹ selbst, zu m e i n e r Aufgabe. Jenes verborgene und herrische Etwas, für das wir lange keinen Namen haben, bis es sich endlich als unsere A u f g a b e erweist, – dieser Tyrann in uns nimmt eine schreckliche Wiedervergeltung für jeden Versuch, den wir machen, ihm auszuweichen oder zu entschlüpfen, für jede vorzeitige Bescheidung, für jede Gleichsetzung mit Solchen, zu denen wir nicht gehören, für jede noch so achtbare Thätigkeit, falls sie uns von unsrer Hauptsache ablenkt, ja für jede Tugend selbst, welche uns gegen die Härte der eigensten Verantwortlichkeit schützen möchte. Krankheit ist jedes Mal die Antwort, wenn

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Trifft es sich nun so, daß das Allgemeine, das er nicht realisieren kann, eben das wäre, wonach es ihn gelüstet, so wird er, falls er ein großmütiger Mensch ist, sich in gewissem Sinne darüber freuen. Er wird dann sagen: ich habe unter so ungünstigen Bedingungen wie nur möglich gekämpft. Ich habe gegen das Einzelne gekämpft, ich habe mein Verlangen auf die Seite des Feindes verlegt, ich habe, um die Sache komplett zu machen, das Einzelne zum Allgemeinen gemacht. (EO II – 910)

Auch wenn dieser Leidensweg die Niederlage umso schlimmer macht, so verleiht sie dem Bewusstsein doch zugleich »Energie und Klarheit« (EO II – 910). 25 Die Konsequenz dieses durch die entzogene Liebe zum Allgemeinen angeschürten, durchaus auch (im ›guten‹ Sinne) »selbstsüchtigen« 26 Umwertungsprozesses ist eine Emanzipation vom Allgemeinen, was allerdings als eine Niederlage, der man ex post Bedeutung verliehen hat, beschrieben wird. Wilhelm unterstellt, dass die bis hierher gekommene Ausnahme – als vom Allgemeinen emanzipiert – »keinen Augenblick darüber im unklaren sein« wird, »was ein solcher Schritt zu bedeuten hat«, um dann – nicht die positive Bedeutung genauer zu erhellen, sondern das Bedeutete wieder ins dunkle Innenleben der Ausnahme zu verflüchtigen – »denn eigentlich hat doch er selber die Niederlage vollständig gemacht und ihr Bedeutung verliehen; denn er wußte, wo und wie er verwundbar war, und er hat sich selbst die Wunde beigebracht, die das Einzelne als solches ihm nicht hätte beibringen können«. (EO II – 911) Der »ungewöhnliche wir an unsrem Rechte auf u n s r e Aufgabe zweifeln wollen, – wenn wir anfangen, es uns irgendworin leichter zu machen. Sonderbar und furchtbar zugleich! Unsre E rl e i c h t e r u n g e n sind es, die wir am härtesten büssen müssen! Und wollen wir hinterdrein zur Gesundheit zurück, so bleibt uns keine Wahl: wir müssen uns s c h w e r e r belasten, als wir je vorher belastet waren …« (MA II – 373 f.) Kierkegaard war Nietzsche so gesehen in Sachen »einsiedlerisches Reden« einen Schritt voraus: »Victor Eremita« heißt der Herausgeber von Entweder – Oder. 25 Dieser Selbstverwandlungsprozess mit dem Ergebnis gestärkten, ausgehärteten Bewusstseins in Energie und Klarheit – so ließe sich, um wieder den Flusscharakter des exemplarischen Denkens in Erinnerung zu rufen, mutmaßen – hat seine Fortführung in Furcht und Zittern, wo er ›terminologisch‹ als »unendliche Resignation« neu ausgerollt wird. 26 »Er wird über sich selbst wachen, daß keine Verwechslung stattfindet, daß nicht etwa das Einzelne ihn verletzt; denn die Wunde, die dieses ihm zufügt, wäre zu leicht, und er wird sich selbst zu ernstlich lieben, als daß ihm besonders daran gelegen sein sollte, eine leichte Wunde zu erhalten […]«. (EO II – 910) Es stehen sich hier bei dem Versuch, der Wahrheit der Bedeutung des Ausgenommenseins Bedeutung zu geben, zwei Formen von »Selbstsucht« gegenüber. Dieser Unterscheidung wird vertieft nachgedacht im Abschnitt III.1.1.1. Modulationen der Einsamkeit

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Mensch« wird sich die »Überzeugung« errungen haben, »daß er einiges von dem Allgemeinen nicht realisieren kann«. (EO II – 911) Es wird deutlich, dass die Bedeutung der Loslösungs- und Umwertungsarbeit des ungewöhnlichen Menschen nicht durch klar gemünzte Begriffe, sondern durch Pathos erwogen wird, das auf der Erfahrung starker Affekte gründet. Folgende nächste Stufe der Charakterisierung des normativen Gefüges, welches den »ungewöhnlichen Menschen« womöglich veredelt, macht dies noch anschaulicher: »Er wird sich über die anderen freuen, denen es vergönnt war, es zu vollbringen, er wird vielleicht besser als sie selbst erkennen, wie schön es ist; er selbst aber wird trauern, nicht feige und verzagt, sondern tief und freimütig; denn er wird sagen: ich liebe doch das Allgemeine.« (EO II – 911) Die anderen haben im Gegensatz zur Ausnahme das glückliche Los, vom Allgemein-Menschlichen zu zeugen, in dem sie es realisieren. Die Ausnahme zeugt im Medium des Entzugs von ihm. Durch jene »Trauer« legt die Ausnahme negativ Zeugnis ab vom Allgemein-Menschlichen, und je tiefer ihre Trauer ist, desto »bedeutsamer« (EO II – 911) ist ihr Zeugnis. »Und diese Trauer ist schön, ist selbst ein Ausdruck des Allgemein-Menschlichen, eine Regung von dessen Herzen in ihm, und wird ihn mit diesem versöhnen.« (EO II – 911) Das Ergebnis ist mittlerweile die Selbsteinsicht in den Status »Ausnahme«, der mit dem Gefühl verbunden ist, »sich selbst eine große Verantwortung auferlegt« (EO II – 911) zu haben. Der neue Inhalt der Verantwortung wird wiederum nur negativ eingegrenzt. Er sei bedingt durch die exzentrische Position zum Allgemeinen und näher durch die Beraubung »all der Anleitung, der Sicherheit und Beruhigung« (EO II – 911), welche dieses Allgemeine den in ihm Lebenden gewährt. Wilhelm legt der Ausnahme folgende Selbsterkenntnis in den Mund: »ich stehe allein, ohne Teilnahme, denn ich bin eine Ausnahme« und kommentiert: »Aber er wird nicht feige und trostlos sein, er wird mit Sicherheit seinen einsamen Weg gehen, er hat ja den Beweis für die Richtigkeit seines Tuns erbracht, er hat seinen Schmerz.« (EO II – 911) Dieser Schmerz als ein Beweis für die Richtigkeit des Tuns wird als Freiwilligkeit des Leidens, die der Liebe zur Wahrheit eignet, Kierkegaards Denkweg verbindlich bestimmen. 27 »Ohne Teilnahme« allein zu stehen ist wiederum indirekt Dieser Sachverhalt, obschon er es verdiente, kann hier nicht weiter ausgebaut werden. Es ist jedenfalls ein sonderbares philosophisches Verfahren, »Leid« als stellvertretenden Platzhalter für Argumente ethisch bedeutsam zu machen (vgl. zu dieser

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Anzeichen dafür, dass die Verbundenheit zum Allgemeinen gekappt wurde, die Fühler des Mitleids des Allgemeinen binden die Ausnahme nicht mehr rück an das bestehende Vernünftige, wobei in der Ausnahme – so fordert Wilhelm – diese Verbindung zum Allgemeinen selbstreferentiell generiert wird. Jene neue Verantwortung allerdings hat keinen konkreten, normativen Inhalt gegenüber dem Allgemeinen; sie kann dieses nur irritieren, insofern es ihm seine Haltlosigkeit an ihm selbst vorführen müsste. Im Gegensatz dazu ist der Schmerz des Entzugs Anzeichen dafür, dass das Allgemeine, das ja keinen Maßstab hat, die Ausnahme gerecht zu traktieren, diese notwendig verkennen und also ungerecht behandeln muss – das Allgemeine muss ihr teilnahmslos gegenüberstehen. 28 So gesehen läge die Verantwortung darin, eigenmächtig die Verbindung zum Allgemeinen nicht aufzugeben, obschon eine verächtliche Abkehr vom Allgemeinen, die Auflösung jeglicher Verbundenheit bei gleichzeitiger Verhärtung die naturgemäß ›menschlichste‹ Reaktion wäre. 29 Skepsis auch Hühn (2007), S. 113–133). Kierkegaard wird angesichts des Gott-Menschen ›bessere‹ Argumente finden, wieso die Liebe zur Wahrheit leiden müsse. Nietzsches Aufwertung des »Leids« ist ursprünglich tragisch motiviert und wird derart auch in die Freigeistphase übernommen, insofern der Trieb zur Wahrheit am Leben zehrt (vgl. hierzu insbesondere den im Abschnitt I.3.1.2 kommentierten Aphorismus Ursprung der Erkenntniss). 28 Im unten eingehender zu analysierenden Kapitel Vom Wege des Schaffenden heißt es hierzu durch Zarathustra, der den Vereinsamenden Rückhalt geben will, ganz entsprechend: »Du zwingst Viele, über dich umzulernen; das rechnen sie dir hart an. Du kamst ihnen nahe und giengst doch vorüber: das verzeihen sie dir niemals. / Du gehst über sie hinaus: aber je höher du steigst, um so kleiner sieht dich das Auge des Neides. Am meisten aber wird der Fliegende gehasst. / ›Wie wolltet ihr gegen mich gerecht sein! – musst du sprechen – ich erwähle mir eure Ungerechtigkeit als den mir zugemessnen Theil.‹ / Ungerechtigkeit und Schmutz werfen sie nach dem Einsamen: aber, mein Bruder, wenn du ein Stern sein willst, so musst du ihnen desshalb nicht weniger leuchten!« (Z – 81 f.) 29 Wilhelms Ausnahmetheorie hob ja an mit der offenen Frage, ob As einsamer Lebensweg bedingt sei durch Menschenverachtung als naheliegender Reaktion des »ungewöhnlichen Menschen« gegenüber seinem sozialen Umfeld. Hierher gehören auch die Worte Nietzsches – der bekanntlich immer eindringlicher versuchen wird, ›der Moral‹ (des Juden- und Christentums) einen Strick zu drehen aus seiner prinzipiellen Rache gegenüber ›dem Leben‹ – aus einem Brief vom 20. Januar 1883 an seinen Freund Franz Overbeck: »Ich verstehe jetzt, welchen Werth für alle Einsiedler der Menschenhaß gehabt hat. Leider bin ich zum Gegentheil geartet. Auch wünschte ich, ich hätte einen felsenfesten Glauben an mich selber: aber dazu bin ich noch weniger angelegt.« (KSB 6, Nr. 369 – S. 318) Die Liebe zum Menschen steht in der Ausnahme auf Messers Schneide. Modulationen der Einsamkeit

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Er wird fühlen, daß die Erziehung, die ihm zuteil wird, schwer ist, denn das Allgemeine ist ein gestrenger Herr, wenn man es außer sich hat; es hält ständig das Richterschwert über ihm und sagt: warum willst Du abseits stehen, und mag er auch sagen: es ist nicht meine Schuld, das Allgemeine rechnet es ihm doch zu und fordert sich selbst von ihm. (EO II – 912)

Diese eigentümlich harte »Erziehung« durch das Allgemeine bedingt sich durch die Einsamkeit, in der unwillkürlich die unmittelbaren Verbindlichkeiten, die man kaum zu spüren bekommt, wenn man eingehegt im Allgemeinen sein Leben hat, gestrafft und strapaziert werden. Glaubt bzw. weiß sich die Ausnahme auch unschuldig, das Allgemeine in ihr als Verbundenheit zu ihm hat keine andere Wahl: es muss der Ausnahme Schuld an sich vorwerfen. Als Ergebnis dieser Analyse kann festgehalten werden, dass Kierkegaard mit einem schwer deutbaren, negativen Begriff von »Bedeutung« operiert. Der ungewöhnliche Mensch ist angehalten, durch leidvolle Umwertungsarbeit und Loslösungsprozesse eine Sinnebene zu stiften, die seinen Lebensweg orientiert und zugleich den des Allgemeinen sanktioniert. Was es für den »ungewöhnlichen Menschen« zuletzt bedeutet, ungewöhnlicher Mensch zu sein, wird nicht gesagt. Folgendes Zitat grenzt den Möglichkeitsspielraum immerhin wiederum negativ ein: »Es sollte die Leute deshalb nicht danach gelüsten, ungewöhnliche Menschen zu werden; denn daß man es ist, hat etwas anderes zu bedeuten als eine launenhafte Befriedigung unserer willkürlichen Lust.« (EO II – 912) 30 Nietzsche stellt vor dem umfänglichen Horizont der Infragestellung des Wertes der Werte die Frage: Was bedeuten asketische Ideale. Sie bedeuten bei Nietzsche – was hier provisorisch gesagt werden kann – modern, »physiologisch« nachgerechnet, nichts, was bei verschiedenen Typen Mensch (Künstler, Philosophen, Priester etc.) über einen innerweltlichen, materiellen Sinn hinausreichte. Nietzsche als biografische Person und der Philosoph, wie er ihn durch sich mutmaßlich erstmals ermöglicht sieht (vgl. GM – 351–361), war/ist allerdings selbst – hierüber sollte man sich nicht täuschen – höchst asketisch veranlagt. Entsprechend identifiziert er in einem Brief an Franz Overbeck zur Zeit der Abfassung des ersten Buchs Zarathustra, am 31. Dezember 1882 verfasst, seine Selbstüberwindungsleistungen als »Askese«. »Selbst meine ›Leistungen‹ (und namentlich die seit 1876) gehören unter den Gesichtspunkt der Askese. Askese sieht natürlich bei diesem Menschen etwas anders aus als bei dem andern. (Auch der Sanctus Januarius ist das Buch eines Asketen […]«. (KSB 6, Nr. 366 – S. 314) In einem anderen Brief aus diesem Zeitraum heißt es gar: »So ein ›wunderlicher Heiliger‹ wie ich, der die Last einer freiwilligen Ascese (einer schwer verständlichen Ascese des Geistes) zu allen seinen übrigen Lasten und erzwungenen Entsagungen hinzugenommen hat, ein Mensch, der in Bezug auf das Geheimniß seines Lebenszieles keinen Mitwisser hat […]«. (KSB 6, Nr. 367 – S. 314)

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Bevor dieser ›asketische‹ Zug des ungewöhnlichen Menschen genauer gedeutet wird, soll nun zu Nietzsche umgeschwenkt werden. Auch bei ihm erhält das Leben des ungewöhnlichen Menschen dadurch seine besondere Bedeutung, dass es sich dem in der Einsamkeit äußernden Schuldvorwurf stellt und sich durch ihn bewährt.

II.2.2.2 Nietzsche (SE/Z) Es wurde die hier noch zu vertiefende Einsicht herausgearbeitet, dass die Ausnahmetheorie in Schopenhauer als Erzieher eine verdichtete Wiederaufnahme hat im Kapitel Vom Wege des Schaffenden des Zarathustra. Was allerdings ursprünglich durch den zweideutigen Eigennamen »Schopenhauer« verbürgt werden sollte, wird mittlerweile durch den Eigennamen »Zarathustra« ersetzt und eingelöst. Die ersten Worte des Kapitels Vom Wege des Schaffenden lauten: »Willst du, mein Bruder, in die Vereinsamung gehen? Willst du den Weg zu dir selber suchen? Zaudere noch ein Wenig und höre mich.« (Z – 80) Diese Rückfragen setzen zum einen »Verwandtschaft« mit Zarathustra voraus (der innerste Kern jedes Menschen wurde in Schopenhauer als Erzieher als produktive Einzigkeit gefasst; unter dieser Perspektive ist Zarathustra jedes Menschen Bruder) und behaupten zum anderen, dass der Weg der Selbstsuche, »Selbsterkenntnis« identisch ist mit einem Vereinsamung genannten Prozess. Dieser wiederum scheint gefährlich zu sein, Zarathustra warnt vor ihm. Diese Gefahren wurden in Schopenhauer als Erzieher näher als die drei Konstitutionsgefahren des ungewöhnlichen Menschen gesetzt. 31 Dabei ist nicht zu verkennen, dass die Fragen Zarathustras als In einem Brief an Erwin Rohe, verfasst Mitte Juli 1882, formuliert Nietzsche: »Ohne ein Ziel, welches ich nicht für unaussprechlich wichtig hielte, würde ich mich nicht oben im Lichte und über den schwarzen Fluthen gehalten haben! Dies ist eigentlich meine Entschuldigung für die Art Litteratur, wie ich sie seit 1876 mache: es ist mein Recept und meine selbstgebraute Arzenei gegen den Lebens-Überdruß. Welche Jahre! Welche langwierigen Schmerzen! Welche innerlichen Störungen, Umwälzungen, Vereinsamungen! […]. Mihi ipsi scripsi – dabei bleibt es; und so soll Jeder nach seiner Art für sich sein Bestes thun – das ist meine Moral: – die einzige, die mir noch übriggeblieben ist. […] Ich war in allen Punkten mein eigener Arzt; und als einer, der nichts Getrenntes hat, habe ich Seele Geist und Leib auf Ein Mal und mit denselben Mitteln behandeln müssen. Zugegeben, daß Andere an meinen Mitteln z u G r u n d e gehen könnten: dafür thue ich auch nichts eifriger als v o r m i r z u w a r n e n .« (KSB 6, Nr. 267 – S. 226 f.)

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eine Forderung zu nehmen sind, die aus schon gehörten Reden sich aufdrängt. Sechs Kapitel vor Vom Wege des Schaffenden steht das Kapitel Vom neuen Götzen, dem Von den Fliegen des Marktes, Von der Keuschheit und Vom Freunde folgen. Man kann diese Staffelung als eine Perspektivverschiebung von einer Makro- (Staat), über eine Meso- (»Markt«) hin zu einer Mikroebene (sinnliche bzw. selbstbezügliche Interaktion mit anderen) beschreiben, wobei auf allen Ebenen über eine Dichotomisierung von »Einsamkeit« und »Gesellschaft« das gesellige Wesen des Menschen, also das, darin er unmittelbar sein Leben hat, fundamental irritiert wird. Die moralisches Donnerwetter beschwörenden Phrasen, welche Zarathustra seinem Bruder um die Ohren schlägt, um die Herde um und in ihm aufzuscheuchen und zu zerstreuen, behaupten etwa, dass der Staat das »kälteste aller kalten Ungeheuer« (Z – 61) sei, wobei ihm zu dienen der freiwilligen Entkopplung vom schaffenden Willen gleichkomme und damit den »langsame[n] Selbstmord Aller« (Z – 62) bedeute. 32 Allerdings: »Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Nothwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise.« (Z – 63) 33 Dieser hier nicht weiter zu analysierenden negativen »Staatstheorie«, 34 die schroff gegenüber der sich im Staatsdienst äußernden sozialen Natur des Menschen als einzig haltbare die der solitären Natur behauptet und mit einem formalen »Entweder Oder« absetzt, folgt im darauf folgenden Kapitel: »Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit! Ich sehe dich betäubt vom Lärme der grossen Männer und zerstochen von den Stacheln der kleinen.« (Z – 65) Nicht eine bestimmte »Gesellschaft« ist das Problem, sondern das »Gesellschaftliche« überhaupt. Denn: »Wo die Einsamkeit aufhört, da beginnt der Markt; und wo der Markt beginnt, da beginnt auch der Lärm der grossen Schauspieler und das Geschwirr der giftigen Fliegen.« (Z – Bereits in Schopenhauer als Erzieher ging es Nietzsche darum, einen Typus Philosoph zu konzipieren, dessen Leben von allem Staatsdienst entbunden ist (vgl. SE – 411 ff.). 33 »Jener erziehende Philosoph«, heißt es in Schopenhauer als Erzieher, »den ich mir träumte, würde wohl nicht nur die Centralkraft entdecken, sondern auch zu verhüten wissen, dass sie gegen die andern Kräfte zerstörend wirke: vielmehr wäre die Aufgabe seiner Erziehung, wie mich dünkte, den ganzen Menschen zu einem lebendig bewegten Sonnen- und Planetensysteme umzubilden und das Gesetz seiner höheren Mechanik zu erkennen.« (SE – 343) 34 Vgl. zur (Un-)möglichkeit mit Nietzsche eine politische Theologie zu denken die Beiträge in Gerhardt und Reschke (Hrsg.) (2010), S. 151–225. 32

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65) Der Angesprochene, der vor den gewissenlosen Schauspielern der Wahrheit in seine Einsamkeit zu fliehen hat, wird diesen gegenüber absolut aufgewertet. Dabei scheint der angesprochene Freund nicht identisch zu sein mit jenem dubiosen »Kraftmenschen«, der die Vorstellungswelt des Forschungsdiskurses prädominiert. Der, der hier zur Rettung seiner selbst in die Einsamkeit zu fliehen hat, scheint sensiblen, fragilen, schnell durch dumme Umstände zersplitter- und zerstörbaren Wesens zu sein. Im nächsten Kapitel heißt es einleitend, das Gesellschaftliche noch direkter unter die Lupe nehmend: »Ich liebe den Wald. In den Städten ist schlecht zu leben: da giebt es zu Viele der Brünstigen.« (Z – 69) Auch hier wird wieder feinsäuberlich getrennt: »Wald« als Chiffre für »Einsamkeit«, darin ein adäquates, »unschuldiges« Verhältnis zur eigenen Sinnlichkeit möglich sein soll, auf der einen Seite, »Stadt« als Chiffre für lärmende und sinnliche Gesellschaft, darin man sich durch sinnlose Verschleuderung seiner Kraft entselbstet, auf der anderen Seite. Zuletzt, in Vom Freunde, ist »Einsamkeit« nicht mehr als Fluchtraum unbedingt nahegelegt, vielmehr schon das Innenleben des »Einsamen« selbst ins Zentrum gerückt, der ohne den Freund in der sich bald entkonturierenden Selbstwiderrede den Boden unter den Füßen verlieren müsste: ›Einer ist immer zu viel um mich‹ – also denkt der Einsiedler. ›Immer Einmal Eins – das giebt auf die Dauer Zwei!‹ / Ich und Mich sind immer zu eifrig im Gespräche: wie wäre es auszuhalten, wenn es nicht einen Freund gäbe? / Immer ist für den Einsiedler der Freund der Dritte: der Dritte ist der Kork, der verhindert, dass das Gespräch der Zweie in die Tiefe sinkt. / Ach, es giebt zu viele Tiefen für alle Einsiedler. Darum sehnen sie sich so nach einem Freunde und nach seiner Höhe. (Z – 71)

Dieser Abriss einer moralisch geforderten »Einsamkeit« als Raum der Selbsterschaffung mit finalem, sprunghaftem Umschwung der Perspektive, dem prekären Innenleben des Einsamen, die ihre Bedeutung aus einer absoluten Kritik des Allgemeinen auf allen Ebenen seiner unmittelbaren Verwirklichung (Staat/Institutionen/real sinnliche und ideelle Interaktion) bezieht, soll genügen, um nun – in der richtigen Stimmung sozusagen – die normative Dialektik zwischen Einsamem/Ausnahme und Allgemeinem/Herde und die darin verorteten Wertsetzungs- und Umwertungsprozesse zu analysieren. Die ersten Worte aus Vom Wege des Schaffenden lauteten: »Willst du, mein Bruder, in die Vereinsamung gehen? Willst du den Weg zu dir selber suchen? Zaudere noch ein Wenig und höre mich« Modulationen der Einsamkeit

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(Z – 80) und wurden von Zarathustra nahegelegt durch eine radikale Verunsicherung der konkret gesellschaftlichen Anteile im »Einsamen«. Mit dem an dieses Zitat anschließenden Befund: ›Wer sucht, der geht leicht selber verloren. Alle Vereinsamung ist Schuld‹ : also spricht die Heerde. Und du gehörtest lange zur Heerde. Die Stimme der Heerde wird auch in dir noch tönen. Und wenn du sagen wirst ›ich habe nicht mehr Ein Gewissen mit euch‹, so wird es eine Klage und ein Schmerz sein. / Siehe, diesen Schmerz selber gebar noch das Eine Gewissen: und dieses Gewissens letzter Schimmer glüht noch auf deiner Trübsal (Z – 80)

kann erneut eine Verknüpfung zu Schopenhauer als Erzieher hergestellt werden, wo der Schuldvorwurf an der Vereinsamung seinen ersten, doppeldeutigen Ausdruck findet. Nietzsche charakterisierte in seiner Frühschrift die Entwicklung Schopenhauers hin zu dem, was er war, als ein »Wunder und nichts Geringeres«: »denn er war von aussen und von innen her durch die ungeheuersten Gefahren gleichsam umdrängt, von denen jedes schwächere Geschöpf erdrückt oder zersplittert wäre.« (SE – 352) Einen »neueren Engländer« zitierend fuhr Nietzsche fort die »allgemeinste Gefahr« zu erläutern, welcher »ungewöhnliche[] Menschen« ausgesetzt wären, die gezwungen sind »in einer an das Gewöhnliche gebundenen Gesellschaft [zu] leben« (nach einer Beugung ihres Charakters folgte unwillkürlich Melancholie, Krankheit und schließlich der Tod) (vgl. SE – 352), um dann umzuschwenken zu »Naturen von Erz wie Beethoven, Goethe, Schopenhauer«, die allein »das Clima der sogenannten deutschen Bildung« (SE – 352) ausgehalten haben. Soviel ist bereits erarbeitet. Dabei fährt Nietzsche nun fort, die sinnentstellende Manipulation dieser Schicksale durch die »Bildungsphilister« zu brandmarken, welche Persönlichkeiten wie Goethe als die glücklichsten auswiesen »– mit dem Hintergedanken, dass es keinem zu verzeihen sei, wenn er sich unter ihnen unglücklich und einsam fühle. Daher haben sie [die Bildungsphilister, R. R.] sogar mit grosser Grausamkeit den Lehrsatz aufgestellt und praktisch erläutert, dass in jeder Vereinsamung immer eine geheime Schuld liege«, wobei des »arme[n] Schopenhauer[s]« »geheime Schuld« gewesen sei, seine Philosophie mehr zu schätzen als seine Zeitgenossen (vgl. SE – 352 f.). 35 Das Allgemeine, hier typisiert durch die Bildungsphilister als Diese Schilderung richtet sich wieder gegen eine Denkfigur Hegels (vgl. hierzu besonders eindringlich in Grundlinien der Philosophie des Rechts das Kapitel Das Gute und das Gewissen, § 139), die in konkreter Lebenswelt als moralische Vorstel-

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Vertreter eines selbstgenügsamen weltlich-hedonistischen Ideals, 36 hegt naturgemäß Argwohn gegen die Integrität des Einsamen. Der Blick der Bildungsphilister auf Goethe ist unmittelbar umwertend, insofern seine Größe, die Effekt ist davon, den Gefahren ungewöhnlicher Mensch zu sein getrotzt zu haben, als Sanktionierung der eigenen Vorstellung gelingenden Lebens benutzt wird, wobei die Kehrseite der Medaille, der Kampf mit dem Allgemeinen selbst, wegreduziert wird, obschon er allein die herausragende Persönlichkeit Goethes bedingt. 37 Der wertende und maßgebliche »Hintergedanke« lung Wurzeln schlägt. D. F. Strauss wäre eine Option für einen Bildungsphilister, gegen die auch Kierkegaards Pfeile gerichtet sind. 36 »Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit. / ›Wir haben das Glück erfunden‹ – sagen die letzten Menschen und blinzeln. –« (Z – 20) 37 Das exemplarische Denken geht hier davon aus, dass jedes Individuum innerhalb des Spektrums seiner Anlagen kann, was und wie jenes Denken fordert, und dass nur Feigheit, Faulheit, Wankelmut etc., also prinzipiell der Selbstüberwindung fähige Anlagen die bessere Wahl unterminieren. »Ein solcher heroischer Lebenslauf, sammt der in ihm vollbrachten Mortification, entspricht freilich am wenigsten dem dürftigen Begriff derer, welche darüber die meisten Worte machen, Feste zum Andenken grosser Menschen feiern und vermeinen, der grosse Mensch sei eben gross, wie sie klein, durch ein Geschenk gleichsam und sich zum Vergnügen oder durch einen Mechanismus und im blinden Gehorsam gegen diesen innern Zwang: so dass der, welcher das Geschenk nicht bekommen habe oder den Zwang nicht fühle, dasselbe Recht habe, klein zu sein, wie jener gross. Aber beschenkt oder bezwungen werden – das sind verächtliche Worte, mit denen man einer inneren Mahnung entfliehen will, Schmähungen für jeden, welcher auf diese Mahnung gehört hat, also für den grossen Menschen; gerade er lässt sich von allen am wenigsten beschenken oder zwingen – er weiss so gut als jeder kleine Mensch, wie man das Leben leicht nehmen kann und wie weich das Bett ist, in welches er sich strecken könnte, wenn er mit sich und seinen Mitmenschen artig und gewöhnlich umginge: sind doch alle Ordnungen des Menschen darauf eingerichtet, dass das Leben in einer fortgesetzten Zerstreuung der Gedanken nicht gespürt werde.« (SE – 373) So heißt es auch in Stadien durch Wilhelm – Pathos ist der normativen Ausnahmetheorie wesentlich: »[D]as Inhumane [im Sichetablieren der potentiell berechtigten Ausnahme, R. R.] liegt nicht darin, daß man das Höchste will; das ist ganz und gar nicht inhuman, und Proklamationen und Bannflüche aus einem weltlich wohlhabenden, aber geistig zerlumpten Asyl, dessen man würdig ist, wenn man ist wie die Leute meist sind, und in dem noch fort und fort der Neid des Ostrakismus und das Argument der Tonscherben gegen jeden Besseren gebraucht werden, die bedeuten hier ganz und gar nichts. Das Inhumane liegt auch nicht darin, dass man etwa seine Lebensanschauung auf eine Zufälligkeit gründete, durch die viele ausgeschlossen werden, denn er, die Ausnahme, leugnet ja nicht, daß jedermann tun kann wie er, und alles Gerede, es sei freilich etwas Großes, doch jedermann könne es nicht tun, was solle denn sonst aus der Welt werden, – alles solches Gerede stammt aus dem Asyl, der ›Lumpenburg‹, allwo man es nicht verstehen kann und verstehen Modulationen der Einsamkeit

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der Bildungsphilister verteidigt ein abstraktes Prinzip, wobei der Einsame deswegen moralisch stigmatisiert wird, weil durch ihn die beruhigende Abschirmung des Allgemeinen, seine »Selbstrücksicht« 38 angeätzt und untergraben wird. Die Bedingtheit und die Verbundenheit des Allgemeinen durch und mit seinen es umschirmenden ungewöhnlichen Menschen ist als nackte Tatsache aus der Perspektive des Allgemeinen nicht trag- und haltbar, weil der darin angelegte normative Apell die eigene behagliche Integrität unterläuft. Das Allgemeine verzeiht dem Einsamen seine Einsamkeit nicht, weil in dieser nicht assimilierbaren Größe sich das schlechte Gewissen an sich selbst objektiviert, das mahnt, auch anders zu können und zu sollen. Und das vermeintlich sterile Besteck, mit dem sich das Allgemeine die organische Verbundenheit mit der Ausnahme abschnürt und lahmgelegt vom Leibe hält, ist – »darauf darf man wetten« (FW – 606) – die Moral. Einen Schuldvorwurf an der Vereinsamung zu formulieren ergibt nur dann einen Sinn, wenn ein freier Wille unterstellt wird mit der Voraussetzung, auch anders zu können. Der Einsame, so das Allgemeine – wenn auch unausdrücklich – könnte anders »wollen«: es wird hier also von der Moral des Allgemeinen eine Freiheit unterstellt, auch anders zu können, einzustimmen, transparent werden zu können und damit auch zu müssen in dem, darin die meisten ihr Leben haben. Die Beurteilung dieses Urteils als einer großen Grausamkeit erhält allerdings allein dadurch Gewicht, wenn Freiheit unterstellt wird, wo immerhin partiell Notwendigkeit herrscht, eine ursprünglicher ausnehmende Größe in einem, die sich ihrer direkten Übersetzung ins Allgemeine widersetzt. Die zentrale Pointe ist nun allerdings eben die, dass – auch schon in Schopenhauer als Erzieher – dieser Schuldvorwurf ins Produktive gewendet wird und gewendet werden muss für die allein negativ bestimmte Normierung des einsamen Lebenswegs selbst. Nachdem Nietzsche Bedingungen genannt hat, unter denen der »philosophische Genius« trotz der widrigen Zeitumstände entstehen kann – deren Essenz dreht sich um »Freiheit und immer wieder Freiheit« (SE – 411), welche zugleich als »wunderbare[s] und gefährliche[s] Elewill: wenn etwas richtig ist, so muss man Gott das Übrige überlassen […]«. (SL – 183) Vgl. zur Motivation dieser Kritik auch Conant (2014), S. 374 ff., der anhand einer Nachlassstelle den hier gemeinten Sachverhalt analog rekonstruiert. 38 Dieser Begriff ist zentral für Kierkegaards Mitleidskritik, so wie er sie in seiner intensivsten und umfassendsten Weise in Einübung im Christentum darstellt. Vgl. zur Analyse dieses Zusammenhangs den Abschnitt III.3.2.

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ment« beschrieben wird, »in welchem die griechischen Philosophen aufwachsen durften« –, konzediert er: Jene Freiheit ist wirklich eine schwere Schuld; und nur durch grosse Thaten lässt sie sich abbüssen. Wahrlich, jeder gewöhnliche Erdensohn hat das Recht, mit Groll auf einen solchermaassen Begünstigten hinzusehn: nur mag ihn ein Gott davor bewahren, dass er nicht selbst so begünstigt, das heisst so furchtbar verpflichtet werde. Er ginge ja sofort an seiner Freiheit und seiner Einsamkeit zu Grunde und würde zum Narren, zum boshaften Narren aus Langeweile. – (SE – 412)

Von der schreienden Ungerechtigkeit und der großen Grausamkeit ist hier keine Rede mehr. Nietzsche spricht – seinen Standpunkt verblüffend wechselnd – selbst moralisch, als Anwalt des Allgemeinen, selbst das Ressentiment des gewöhnlichen Erdensohnes verteidigend, indem er warnt vor der Tatsache, sich als ungewöhnlicher Mensch ernst zu nehmen. Der Schuldvorwurf an der Vereinsamung hat also schon in Schopenhauer als Erzieher seine dialektische Bedeutung. Einerseits drückt er ein schreiendes Unrecht aus, gleichzeitig ist es Aufgabe des »ungewöhnlichen Menschen«, dieses Unrecht zu verarbeiten und produktiv zu wenden. Die entscheidende, komprimierte Reminiszenz in Vom Wege des Schaffenden wurde zitiert und soll hier zusammenfassend erläutert werden. »Die Stimme der Heerde wird auch in dir noch tönen. Und wenn du sagen wirst ›ich habe nicht mehr Ein Gewissen mit euch‹, so wird es eine Klage und ein Schmerz sein.« (Z – 80) In Sinn unterstellender Umkehr des leidanschürenden Schuldvorwurfs an der Vereinsamung, der sich im Vereinsamenden selbst artikuliert, wird die beredte pathische Substanz 39 näher in den Blick genommen. 40 Hatte Wilhelm der Ausnahme unterstellt, dass ihr spezifischer Schmerz des Entzugs gleichsam als Beweis für ihr exzentrisches Richtiggestelltsein diene, so wird auch hier eine vorbegriffliche Größe in die Argumentation mit einbezogen, um den Vereinsamung genannten Prozess zu sanktionieren. 40 Wie im Abschnitt I.3 dargestellt, ist die mittlere Werkphase durchsetzt von Aphorismen zum Einsamkeitsphänomen. Die hier besprochenen Verse Zarathustras sind eine Fortführung der moralkritischen Gedanken, so wie sie in Das Argument der Vereinsamung (FW – 415) entwickelt werden. Nietzsche will in diesem Text darauf hinaus, dass der »Heerden-Instinct« im Einzelnen eine ursprünglicher normierende Kraft ist als das »Gewissen« (vgl. hierzu auch Z – 75 f.), welches bereits eine kulturelle und also weit äußerlichere Kodierung der Selbstauslegungsmöglichkeiten darstellt. Das Argument des »Heerden-Instincts« als des ursprünglich sozialen Anteils im Einzel-Leib setzt also an vorbewussten, seiner animalischen Natur entspringenden Schichten des Einzelnen an und versetzt ihn in Furcht und Zittern. »Was wird da 39

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In Nietzsches Darstellung des Vereinsamung genannten Phänomens überwiegt zunächst der Aspekt der Passion: Der Ausnahme widerfährt Ungerechtigkeit, wenn ihr ein Schuldvorwurf durch das Allgemeine nachgetragen wird, und diese Ungerechtigkeit ist eine lebensbedrohliche Gefahr. Der sich also Loslösende, mit Constantins außermoralischer Wendung moralisch zu reden, ein »Schößling« des Allgemeinen/der Herde, fühlt sich unwillkürlich als Verräter. Der Vereinsamende verliert sich zunächst beim Verlassen seines Herkommens als unmittelbar moralisch sinngebender Ordnung, wobei dieser Selbstverlust als in einem komplexen und unterscheidbaren Sinne leidvoll zu denken ist, weil eine komplexe Vielheit an orientierenden Sinnhorizonten kollabiert. 41 Auch deswegen ist dieser Prozess leidvoll, weil die Vereinsamung naturgemäß negativer Ausdruck ist der Aspiration nach gelingender Gemeinschaft, die unmittelbar keine Wirklichkeit hat. 42 Noch ist der sich Vereinsamende also ›organisch‹ eins mit seinem Herkommen. So perspektiviert – um an das bereits Erarbeitete anzuknüpfen – ist der ungewöhnliche Mensch wie in den Darstellungen Constantins nur ein großer Mensch, welcher die bestehende Ordnung umwertet, aber keinen qualitativen Unterschied setzen kann zur an sich verfänglichen Ordnung der Moral selbst. Zarathustra scheint aber auf mehr hinaus zu wollen. Im Schmerz der Los-

eigentlich gefürchtet? Die Vereinsamung! als das Argument, welches auch die besten Argumente für eine Person oder Sache niederschlägt! – So redet der Heerden-Instinct aus uns.« (FW – 415) Es darf nicht übersehen werden, dass hier ein aufklärerischer Appell aufgehoben liegt: Die – ›vernünftig‹ besehen – besten Argumente für eine Person oder Sache werden aufgrund der tierischen Natur des Menschen unterminiert. 41 Diesen Effekt kann man wie folgt bestimmter erfassen. Durch anhaltende Einsamkeit entgleiten – physiologisch gesprochen – jene ›Triebkompensationsraster‹ (womit hier die unhinterfragten Semantiken bestehender Ordnung, welche für die gelingende »Koregulation« des Menschen mit seiner sozialen Umwelt sorgen, gemeint sind), womit der Triebhaushalt Vereinsamender anarchisch aufgewiegelt wird. »Koregulation« ist ein Terminus aus der (populärwissenschaftlich aufbereiteten) »sozialen Neurowissenschaft« (vgl. Cacioppo und Patrick (2011)). 42 In diesem Kontext kommt jener Begriff der »Liebe« zum Tragen, der verbürgen soll, dass der »ungewöhnliche Mensch« kein unbekümmerter Individualist ist im herkömmlichen Sinne des Wortes. Das Telos der von Zarathustra hier unterbreiteten normativen Ausnahmetheorie könnte man so gesehen als ›über-sozial‹ bezeichnen, wobei zur Stützung dieser ideell gemeinschaftlichen Umschirmung der Vereinsamung der Aphorismus Warum das Nächste uns immer ferner wird (M – 269) herangezogen werden kann.

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lösung wird angezeigt, dass es anders werden könnte. Dies geht indirekt hervor aus folgendem Zitat: »Siehe, diesen Schmerz selber gebar noch das Eine Gewissen: und dieses Gewissens letzter Schimmer glüht noch auf deiner Trübsal.« (Z – 80) Zarathustra lässt wissen, dass das empfundene Leid und die Trauer der Loslösung, der Vereinsamung, selbst noch überwunden werden müssen, insofern sie den Schaffenden verfänglich rückbeziehen an das, wovon es sich vollends zu lösen gilt. Mit diesen Erwägungen bricht sachlich betrachtet auch bei Nietzsche das religiöse Ausnahmetheorem auf.

II.2.2.4 Zusammenfassung und Übergang An dieser Stelle ist ein zusammenfassender Rückblick sinnvoll für eine fokussierte Inblicknahme des weiteren Gedankenverlaufs. Mit dem Betreten der Zone der Verlassenheit als eines Raums des Durchbzw. Übergangs ist die normative Ausnahmetheorie in den Blick gekommen, deren Verbindlichkeit aus einer in der Ausnahme vorausgesetzten Unterscheidung von »Liebe« entspringen soll. Der Typus Dichter seiner sozialen Bestimmung nach ist als Figur konstruiert, welche die Sphäre der Moral in sich umstrukturiert. Dabei bleibt an ihm die Frage nach der Güte dieses Tuns selbst vollkommen offen. Der in diesen Typus inkorporierte Vorwurf des exemplarischen Denkens ist, dass er keinen qualitativen Unterschied setzen kann, vielmehr die Erfahrung schlechten, unterschiedlosen Werdens perpetuiert. Nach den ›inhaltlichen‹ Analysen dieses Umstands wurde im Abschnitt II.2.1.2 herausgearbeitet, wie sowohl bei Kierkegaard als auch bei Nietzsche dieser Typus als eine Figur des Durchgangs konzipiert ist. Dies zeigt an: die Sphäre der Moral muss, um deren Güte nachhaltig zu etablieren, insgesamt überboten werden durch eine Sphäre, deren Element entschlackt ist von menschlichem, allzu menschlichem Urteil. Im Kapitel II.2.2 wurde in hinreichenden Zügen nachvollzogen, wie bei beiden Denkern – strukturell analog – der ungewöhnliche Mensch der Sphäre der Moral zugleich ihr Recht widerfahren zu lassen und sie auszureizen hat derart, dass die Möglichkeit, die Frage nach dem gelingenden Leben nicht durch sie begründen zu können, Bedeutung hat. Festzuhalten war die Beobachtung, dass beide Denker mit dunklen, vorrationalen Affekten und Begriffen arbeiten. Ab einem gewissen Punkt der Entwicklung des exemplarischen Denkens – seiner in dieser Studie konstruktiv entModulationen der Einsamkeit

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wickelten idealen Struktur nach – wird in die Durchgangsphäre »Moral« begrifflich ein Keil getrieben dadurch, dass diese Sphäre durchsetzt wird mit Größen und Dynamiken, die sie durch sich selbst – immanent – nicht assimilieren kann. Durch die Integrierung der »Bosheit« in den Lebensweg des ungewöhnlichen Menschen wird – wiederum via negationis – das religiöse Ausnahmetheorem aufgebrochen. Denn jener Bosheit korrespondiert eine Güte über-begrifflichen Elements, durch deren utopisches Antlitz der ungewöhnliche Mensch Orientierung findet. Dies gilt es jetzt bestimmter herauszuarbeiten.

II.2.3 Einsamkeit und Bosheit Es wurde bereits gezeigt, wie in Entweder – Oder und in Schopenhauer als Erzieher jeweils zwei Begriffe von »Liebe« unterschieden wurden: auf der einen Seite stand – als Postulat – ein einfältiger Liebesbegriff als inklusives Verbundenheitsgefühl zu den Menschen (Kierkegaard) bzw. das Verlangen, vor einem anderen offen und einfach, man selbst ohne Abzug, transparent sein zu dürfen (Nietzsche). Diesen einfältigen Vorstellungen von Liebe wurden antithetisch negative Begriffe von »Liebe« gegenübergestellt. Bei Kierkegaard das »nur Mitleid« der Mönche, das seine »Güte« bezog aus einer vornehmen Reserviertheit gegen die Mitmenschen und sich allein im Schein durch Exklusion anderer bewährte, dem in der ganz analogen ästhetischen Betrachtung der Moderne eine »launenhafte Befriedigung einer willkürlichen Lust« entsprach. Bei Nietzsche ein unwillkürlich mit der allgemeinen Lieblosigkeit der Welt verquicktes »heftiges Begehren«, das – konstituierend für den Philosophen, um den allein es Nietzsche geht – Anteil daran zu haben schien, dass der ungewöhnliche Mensch, der es mehr als den Tod hasste, dass das Scheinen in Sachen Zwischenmenschlichkeit Notwendigkeit ist, in ein Netz von Missverständnissen eingespannt ist, das als ein »gewaltsames SichVerbergen«, als eine »erzwungene Zurückhaltung« empfunden wurde. Im Folgenden kommt – offenbar mit dem Liebesbegriff verquickt – »Bosheit« zum Tragen, die eine negative Bestimmung des »Menschen« und vermittelt die religiöse Sphäre exemplarischen Denkens trägt. In der Einsamkeit allein ›entdeckt‹ der »ungewöhnliche Mensch« seine Bosheit, hier allein wird die Wirklichkeit der 238

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Bosheit 43 freigelegt, die – obschon sie davon nur in Ausnahmefällen Wind bekommt – die Tiefenstruktur auch der herrschenden Ordnung mitbedingt. Obschon der Umgang mit diesem Umstand bei beiden Philosophen denkbar verschieden ist, insofern die Bedingung der Bewältigung dieser Entdeckung jeweils von verschiedenen Begriffen abhängt, so ist doch die strukturelle Analogie (um die es in dieser Studie vornehmlich geht) unverkennbar: Der Bosheit korreliert jene Liebe versöhnlich, welche ihr Wesen dem Begriff versagt. Ausgehend von diesen Prämissen ergeben sich folgende Schritte: zunächst muss dargestellt werden, wie Bosheit im »Einzelnen« bzw. »Einsamen« gesetzt wird als eine Realität. An die Registrierung dieses Sachverhalts anschließend kann gezeigt werden, wie beide Denker diesem Bösen korrespondierend einen Begriff des »Guten« (der nur im »Einzelnen« bzw. »Einsamen« Realität hat) voraussetzen, der selbst übermoralischer Natur ist und somit jenes ideelle Verbrechen am Allgemeinen rechtfertigt, ja gar fordert, insofern dieses im Prozess der Vereinsamung der Ausnahme sich in seiner Haltlosigkeit offenbart. Die in den folgenden beiden Abschnitten dargestellten Gedanken werden zuletzt punktuell philosophiegeschichtlich zugeordnet.

II.2.3.1 Die Wirklichkeit der Bosheit (FZ/M) Kierkegaard formuliert seine Ausnahmetheorie initial durch einen Ethiker für einen Ästhetiker, der sich unter Umständen hätte veredeln können, wenn es ihm gelungen wäre, seiner in Einsamkeit nicht nachhaltig eingebetteten Sinnlichkeit Zügel anzulegen. Es ist bemerkenswert, dass Kierkegaard das romantische Erbe im Liebesdiskurs der Moderne mit dem mittelalterlichen Mönchswesen assoziiert, das doch dafür steht, sich von weltlicher Zerstreuung zu entbinden, um Schätze anderen Elements zu sammeln. Allerdings entwürdigte Wilhelm nicht per se die Entscheidung für das Kloster, sondern mutmaßte, dass mit der Gesinnung vieler, die sich im Mittelalter dafür entschieden, etwas nicht stimmte, insofern sie als ungewöhnliche Zugespitzt gesagt: die Frage Wie kommt das Böse in die Welt? (Hogrebe (2003), S. 301–311) löst sich in der anhaltenden »Einsamkeit« des »ungewöhnlichen Menschen« von selbst in lauter Antworten auf, Antworten allerdings, die sich nur schwer kommunizieren lassen.

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Menschen gelten wollten, obschon sie die Bedingung ihres Status, die exkludierten Anderen, verachteten. Und eben diese Haltung feiert, so Wilhelm, substantiell eine eigentümliche Renaissance in den Moosbetten der Waldeinsamkeit. Dieser Gedanke hat seinen atheistisch invertierten Widerhall im Aphorismus Nicht entsagen! aus der Morgenröte. Auf die Welt verzichten, ohne sie zu kennen, gleich einer Nonne, – das giebt eine unfruchtbare, vielleicht schwermüthige Einsamkeit. Diess hat Nichts gemeinsam mit der Einsamkeit der vita contemplativa des Denkers: wenn er sie wählt, will er keineswegs entsagen; vielmehr wäre es ihm Entsagung, Schwermuth, Untergang seiner selbst, in der vita practica ausharren zu müssen: auf diese verzichtet er, weil er sie kennt, weil er sich kennt. So springt er in sein Wasser, so gewinnt er seine Heiterkeit. (M – 269)

Kierkegaard lässt also die Entscheidung zur Einsamkeit – genauso wie Nietzsche – gelten, hebt sie allerdings durch seine Ausnahmetheorie auf das Niveau einer zwischenmenschlich verbindlichen Ebene. Dabei zeigt Kierkegaards Ausnahmetheorie im Ursprung bereits implizit an, dass mit der Entscheidung bzw. dem Hang zur Einsamkeit nicht schon Asexualität verbucht werden kann. Im Gegenteil: auch der Einsame hat, um es modern auszudrücken, Sexualität. In gewissem Sinne hat gerade der Einsame Sexualität, wird bedingt durch seine sich von ihm fordernde Sinnlichkeit im umfassenden Sinn, weil die Möglichkeiten ihrer gesellschaftlich akzeptierten Kanalisierung unterlaufen werden. 44 Bei beiden Denkern wird die Sinnlichkeit, die nicht unmittelbar ihr Leben haben kann im gesellschaftlichen Raum, als eine Form der Selbstsucht mit Bosheit assoziiert. In der Dialektischen Lyrik des Johannes de silentio 45 wird dieser Punkt bereits tiefer ausgelotet, indem abermals die Frage nach dem Es muss hier (kaum) erwähnt werden, dass, im Gegensatz zu unseren Tagen, in welchen ein relativ lockeres Verhältnis zur einsamen Sexualität besteht, das ›Hand an-(sich)-legen‹ im von Immanuel Kant defavorisierten Sinne nicht die Regel war. Im Gegenteil: Masturbation wurde seinerzeit medizinisch, pädagogisch, wissenschaftlich eminent problematisch aufgefasst (vgl. wiederum Foucault/Sennett (2000)). 45 Jones-Cathcart (2005) liest Furcht und Zittern als ein Experiment zur Selbsterkenntnis des Bösen. Dabei unterscheidet er zwei Begriffe des »Bösen«, wobei ersterer schlicht das willentliche Fehlverhalten gegen eine moralische Pflicht meint, wogegen der andere, interessantere Begriff die »Bosheit« meint, die unbewusst aufgrund von »unschuldiger« Selbsttäuschung, unter dem Siegel guter Absichten, in die Wirklichkeit eingreift und ihren Grund hat in der Unmöglichkeit, sich selbst vollends transparent werden zu können. 44

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Wert einer Entscheidung für das Kloster diskutiert wird. Johannes de silentio fragt – selbst der Meinung wie seine Zeitgenossen allerdings, dass die Entscheidung für das Kloster in der Moderne nicht das Maß aller Dinge sein kann –: Wie viele haben in unserer Zeit Leidenschaft genug, diesen Gedanken [in das Kloster zu gehen, R. R.] zu denken und sich dann aufrichtig selbst zu beurteilen. Allein die Vorstellung davon, solchermaßen die Zeit auf sein Gewissen zu nehmen, ihm Zeit zu geben, in seiner schlaflosen Unermüdlichkeit jeden heimlichen Gedanken zu erforschen, so daß man, wenn man nicht jeden Augenblick kraft des Edelsten und Heiligsten in einem Menschen die Bewegung macht, mit Angst und Grauen jenes dunkle Rühren entdecken und wenn nicht anders, dann durch Angst hervorlocken kann, das sich doch in jedem Menschen verbirgt, während man, in Gemeinschaft mit anderen lebend, so leicht vergißt […] – allein diese Vorstellung, mit gehöriger Ehrerbietung aufgefaßt, könnte, dächte ich, eine Zuchtrute für manchen Einzelnen in unserer Zeit darstellen, der schon zum Höchsten gelangt zu sein wähnt. (FZ – 297)

Johannes de silentio setzt nach dem Wort »entdecken« im Zitat eine Fußnote, in der er auf das »seinem Wesen gemäß« »leichtsinnigere[]« und »weniger durchreflektierte[] Heidentum« zu sprechen kommt, in dem allerdings auch die »beiden eigentlichen Repräsentanten der griechischen Anschauung« der Selbsterkenntnis, Sokrates und Pythagoras, »jeder auf seine Art angedeutet haben, daß man durch Vertiefung in sich selbst vor allem die Disposition zum Bösen entdeckt«. (FZ – 296 f.) Der Befund – dass durch Selbstvertiefung in Einsamkeit die Disposition zum Bösen sich freilegt, was eine redliche Lebensbewältigung komplizierter erscheinen lässt und als Herausforderung für das exemplarische Denken sich aufdrängt – wird in der Ausnahmetheorie, wie sie Wilhelm in Stadien formuliert, komplex normiert und paradox gebrochen durch eine neu inszenierte Unterscheidung von »Liebe«. Nietzsche ist der natürlichen Bosheit des Menschen komprimiert eingedenk im erzählstrategisch listig gebrochenen Aphorismus Der Böse. ›Nur der Einsame ist böse,‹ rief Diderot: und sogleich fühlte sich Rousseau tödtlich verletzt. Folglich gestand er sich zu, dass Diderot recht habe. In der That hat jeder böse Hang inmitten der Gesellschaft und Geselligkeit so viel Zwang sich anzuthun, so viel Larven vorzunehmen, so oft sich selbst in das Prokrustes-Bett der Tugend zu legen, dass man recht wohl von einem Märtyrerthum des Bösen reden könnte. In der Einsamkeit fällt dies alles dahin. Modulationen der Einsamkeit

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Wer böse ist, ist es am meisten in der Einsamkeit: auch am besten – und folglich für das Auge Dessen, der überall nur ein Schauspiel sieht, auch am schönsten. (M – 293)

In dieser außermoralischen Betrachtung amalgamiert Nietzsche Einsamkeit und Bosheit als zusammengehörig. Die menschliche Gesellschaft sei es – in ironischer Umkehr Rousseaus, der den einsamen, natürlichen Menschen jenseits seiner Vergesellschaftung als gut setzt –, die den Hang zur Bosheit kanalisiere und damit in seiner Bedeutung verzerre. Die Bosheit des Menschen hat ihr Leben nur vollgültig in Einsamkeit, je mehr Rückzug aus der Gesellschaft, desto mehr Bosheit, und muss sich, so will es die ›Güte‹ jeder Gesellschaft, opfern für das Bestehen gelingender Zwischenmenschlichkeit. Das Bild des Prokrustes-Betts findet als Bild der Gewaltsamkeit des Allgemeinen und Grund der »Verpfuschung der Persönlichkeit« auch in Die Wiederholung seine Verwendung. Als »junger Mensch« den Sanktionen des Allgemeinen zu nachhaltig verpflichtet, hatte er nicht die Kraft, die Etikettierungen seines Tuns durch das Allgemeine der Entwicklung seiner Persönlichkeit im vollgültigen Sinne zu opfern. So heißt es, dramatisch sich selbst missverstehend: Was soll das Gewitter [auf das der junge Mensch wartet zu seiner »Erlösung«, R. R.] bewirken? Es soll mich tauglich machen, Ehemann zu sein. Es wird meine ganze Persönlichkeit zerschmettern […]. Ich sitze und beschneide mich selbst, nehme all das Inkommensurable fort, um kommensurabel zu werden. (WH – 424 f.) 46

Auch in Stadien wird Kierkegaard erneut den mitunter »grausamen« Anspruch des Allgemeinen gegenüber der Ausnahme indirekt geltend machen, indem er Wilhelm als existierenden Repräsentanten

46 In diesem Zusammenhang kann auch an das Kapitel Vom Baum am Berge gedacht werden, in dem Zarathustra einem »Jüngling« begegnet – dem Hoffnungsträger exemplarischen Denken par excellence. Dieser Jüngling hält sich außerhalb der Stadt auf, um den verstörenden Einfluss der Reden Zarathustras auf sich wirken zu lassen. Dort begegnet ihm Zarathustra wunderlicherweise – »›ich höre Zarathustra und eben dachte ich an ihn.‹ Zarathustra entgegnete: / ›was erschrickst du desshalb? – […]« (Z – 51) –, wobei die Frage hier offen gelassen werden kann, ob Nietzsche mit dieser Koinzidenz zugleich eine Selbstbegegnung des Jünglings mit seinem »höheren Selbst« anzeigen will. Im Gleichnis erläutert Zarathustra das Menschenleben mit dem Leben eines Baumes: »Je mehr er hinauf in die Höhe und Helle will, um so stärker streben seine Wurzeln erdwärts, abwärts, in’s Dunkle, Tiefe, – in’s Böse.‹« (Z – 51)

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eines abstrakten Prinzips – der sich selbst naturgemäß nicht für grausam hält – fordern lässt: [E]r soll darin [im Allgemeinen, R. R.] bleiben wollen um seiner selbst willen und soll es wollen um derentwillen, für die das Leben zu opfern er bereit wäre, während er nun doch ihr Elend sehen muß, gleich einem, dem man Arme und Beine abgehauen, und aus dessen Munde man die Zunge gerissen hat, d. h. ohne ein einziges Mittel der Mitteilung zu besitzen. (SL – 190)

Höchst bedeutsam ist hier wiederum, dass das Tun des Prokrustes mit dem »Sehenmüssen« des fremden Leids assoziiert wird. Hier wird erneut ersichtlich, dass beide Denker sich durch ihre Philosophie gegen die Tendenz stemmen, das ›Wesen‹ des Menschen restlos in seine wissenschaftlich-operationalisierbare Sichtbarkeit zu zerren. Für beide Denker steht also fest, dass der einsame Lebenswandel unwillkürlich Bosheit an einem selbst freilegt, da sie ihr bedeutsames ›Leben‹ – für eine »Persönlichkeit« im eminenten Sinne des Wortes, wie zu ergänzen ist – vollgültig nur in einem a-sozialen, nicht spezifisch normierten Raum verwirklichen kann. Jene »Persönlichkeit« kann sich eben nur über ein spezifisches Selbstverhältnis bewähren und zu sich aushärten. Dabei ist natürlich die Frage bedeutsam, wem die Definitionsvollmacht von »gut« und »böse« in die Hand gegeben wird. Wer oder was – ist die Frage im Grunde – berechtigt die Ausnahme? Wer oder was ist das Subjekt der Ausnahme? Mit diesen Fragen mündet diese Untersuchung unwillkürlich in den schwierigen Punkt einer erneuten Unterscheidung der Sinnlichkeit in sich, die beide Denker in ihrem Werk zu vollziehen trachten, wobei die die Sinnlichkeit der Ausnahme berechtigende Normierung allein »Gott« bzw. »Zarathustra« überantwortet wird. Bevor diese Fragen entwickelt werden, muss noch verstanden werden, welche Überzeugung den grenzgängerischen Drahtseilakt ausbalanciert.

II.2.3.2 Die Voraussetzung des Guten (EC/SE) Das vorausgesetzte Gute im exemplarischen Denken Kierkegaards und Nietzsches, das sich jeder begrifflichen Erfüllung entzieht und alleine als Entzugsbegriff seine komprimierte und doch offene BedeuModulationen der Einsamkeit

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tung erhält, kann ausgehend von einschlägigen Passagen aus Schopenhauer als Erzieher und Einübung im Christentum vorgestellt werden. Ein Blick auf die Grafik, die das hier entwickelte Vergleichsmodell veranschaulicht, soll daran erinnern, ›wo‹ sich beide Denker zur Abfassung dieser Schriften bezogen auf die Aufgabe ihres exemplarischen Denkens befinden. Im vierten Paragraphen von Schopenhauer als Erzieher formuliert Nietzsche die überraschende These, dass es nötig wäre, »dass wir einmal recht böse werden, damit es besser wird«. (SE – 371) Diese Ermutigung zum Bösewerden, die offenbar ein Gutes voraussetzt, hat als den sie legitimierenden Hintergrund die Schilderung der Jetztzeit als eine des Übergangs, in der die substantielle Auflösung alter Strukturen der Gesellschaft nicht aufgehalten werden kann, weil hinter ihren Erscheinungsformen ein neues »Leben« sich zur Geltung bringen will. 47 Nietzsche kann hier allein aus einem sich selbst noch In diesem Zusammenhang ist ein philosophiegeschichtlicher Blick auf die nachidealistischen Denker erhellend. Die epochemachenden nachhegelschen Philosophien wie etwa die feuerbachsche und die marxsche gingen davon aus, dass sich (vermittelt über deren Philosophien) das Antlitz der Welt radikal verändern würde, welche Stimmung dem Zeitgeist entsprach und von Kierkegaard und Nietzsche wie folgt aufgefasst wurde. Einerseits tendieren sie dazu, die modernen Entwicklungen als vollkommen desorientierte ausbremsen zu wollen, ihrem Denken sind radikal antimoderne Züge eigen. Gleichzeitig ist ihren Philosophien ein radikal progressiver Zug wesentlich. Der »Einzelne« und der »Einsame« sind hier zu denken als Formen, in denen sich »das Leben« selbst neu auslegt. In einem erziehungsstrategisch ironisch gebrochenen Abschnitt in Jenseits von Gut und Böse heißt es bezogen auf die Überwucherungen alter Moralen durch jenes ›neue Leben‹ : »Der gefährliche und unheimliche Punkt ist erreicht, wo das grössere, vielfachere, umfänglichere Leben über die alte Moral hinweg lebt; das ›Individuum‹ steht da, genöthigt zu einer eigenen Gesetzgebung, zu eigenen Künsten und Listen der Selbst-Erhaltung, Selbst-Erhöhung, Selbst-Erlösung. Lauter neue Wozu’s, lauter neue Womit’s, keine gemeinsamen Formeln mehr, Missverständniss und Missachtung mit einander im Bunde, der Verfall, Verderb und die höchsten Begierden schauerlich verknotet, das Genie der Rasse aus allen Füllhörnern des Guten und Schlimmen überquellend, ein verhängnissvolles Zugleich von Frühling und Herbst, voll neuer Reize und Schleier, die der jungen, noch unausgeschöpften, noch unermüdeten Verderbniss zu eigen sind.« (JGB – 216) Und auch Kierkegaard formuliert noch in einer Ausgabe von Der Augenblick, dass es ein Verbrechen der Staatskirche wäre, das sich neu auslegende, dem wahren Christentum dienende ›Leben‹ im Keim zu ersticken. »Und ›der Pfarrer‹ ist geldlich daran interessiert, daß es dabei bleibt [i. e. leichtfertig vom Christentum zu denken, R. R.], während man den Namen von Christen annimmt, die Menschen nicht erfahren zu lassen, was Christentum in Wahrheit heißt, denn sonst ginge ja die ganze Maschinerie mit den 1 000 königlichen Amtsstellen und die Macht des Standes flöten – aber nichts ist für das wahre Christentum gefährlicher, nichts dessen Wesen mehr entgegen, als

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nicht vollends transparenten Redlichkeitspathos zur Bosheit ermutigen. In dieser Frühschrift wie auch noch im Zarathustra geht Nietzsche davon aus, dass sich ein nachhaltig Gutes einstellen, hervortreten muss, wenn das destruierende Wüten des Philosophen Raum dazu geschaffen hat. Die strukturelle Analogie zu Anti-Climacus’ Beschreibung idealen Christentums in Einübung im Christentum sticht hier besonders ins Auge. Der Christ hätte, heißt es dort, sich durch freiwilliges Leid auszuzeichnen, da – zwar nicht die Wahrheit, aber – die Liebe zur Wahrheit (»Philosophie«) 48 Leiden unwillkürlich bedeutete, und damit indirekter Ausdruck ist für die das Leid verklärende Tatsache: es existiert etwas Absolutes. Das Leiden des Christen ist spiegelbildlicher Ausdruck 49 der Liebe Gottes zu den Menschen, welche sich in der Welt nur äußern kann negativ: Das Reich Gottes ist nicht von dieser Welt. So heißt es in Einübung:

(welch ein Verbrechen gegen das keimende Leben), als zu veranlassen, daß es dabei sein Bewenden hat, den Namen von Christen anzunehmen.« (A – 100) 48 »Also geängstigt von der Sorge um das eigene Seelenheil, oder während man von Selbstanklagen bedrängt wird, die Entdeckung machen zu müssen – zwar nicht, daß ›die Wahrheit‹ selber leiden muß [denn von keinem Christen kann man in Wahrheit sagen, daß er diese Entdeckung gemacht habe, indem nur der Gott-Mensch, der die Wahrheit war, sie machen konnte], doch aber daß die Liebe zur Wahrheit leiden muß: das ist die höchste Qual.« (EC – 209) 49 »Die Erniedrigung des wahren Christen ist nicht schlecht und recht Erniedrigung, sie ist bloß das Spiegelbild der Herrlichkeit, aber das Spiegelbild in dieser Welt, wo sich die Herrlichkeit umgekehrt als Geringheit und Erniedrigung zeigen muß. Ein Stern steht in Wahrheit hoch am Himmel und steht ebenso hoch am Himmel, wie er, im Meeresspiegel gesehen, tief unter der Erde zu stehen scheint; und so ist das Christ-Sein die höchste Erhöhung, wenn sie sich auch im Spiegelbild dieser Welt als die tiefste Erniedrigung zeigen muß. In einem gewissen Sinne ist also die Erniedrigung die Herrlichkeit; sobald du die Welt wegnimmst, das trübe Element, das durch seine Widerspiegelung verwirrt, sobald der Christ stirbt, ist er in der Herrlichkeit, wo er schon vorher war, was aber hier, von der Welt aus gesehen, nicht entdeckt werden konnte – genauso wenig, wie jemand, der seinen Kopf nicht erheben, und also den Stern nur tief unten auf dem Grunde des Meeres sehen könnte, darauf kommen würde, daß dieser Stern eigentlich in der Höhe stände.« (EC – 209 f.) Dieses sprechende Gleichnis vertuscht ein philosophisch ernst zu nehmendes Problem: nämlich wie aus (hier bildlich inszenierten) formalen Gegensätzen materielle Qualitäten und von ihnen Anknüpfungspunkte für ethische Orientierung entspringen sollen. Exemplarisches Denken im hier vorgestellten Sinne kann – sozusagen – die utopische Voraussetzung seines Anspruchs nicht auf einen ›Punkt‹ bringen, dessen ›Standort‹ für intersubjektive Verständigung präzise lokalisierbar ist. Modulationen der Einsamkeit

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Aber zu einem Menschen [das wahre Christsein fordernd im Gegensatz zur Orientierung an einem rein menschlichen Maßstab, R. R.] zu sagen: Geh nun in die Welt hinaus, und da wird es dir folgendermaßen gehen: jahrelang wirst du verfolgt werden, und schließlich endet es damit, daß du auf irgendeine schreckliche Weise ums Leben kommst – dazu sagt der Verstand: Wozu dient das? Ja, das dient zu nichts, es ist der Ausdruck dafür, daß etwas Absolutes existiert. (EC – 141 f.)

Wenn man nun fragt, was Nietzsches Aufforderung zur Bosheit animiert, so steht auch bei ihm freiwilliges Leiden aufgrund von Wahrhaftigkeit im Vordergrund: »D e r S c h o p e n h a u e r i s c h e M e n s c h n i m m t d a s f r e i w i l l i g e L e i d e n d e r Wa h r h a f t i g k e i t a u f s i c h , und dieses Leiden dient ihm, seinen Eigenwillen zu ertödten und jene völlige Umwälzung und Umkehrung seines Wesens vorzubereiten, zu der zu führen der eigentliche Sinn des Lebens ist.« (SE – 371) »Böse« ist der Mensch, der das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit auf sich nimmt, nur aus der Perspektive derjenigen, welche »die Conservirung ihrer Halbheiten und Flausen für eine Pflicht der Menschlichkeit« (SE – 371) halten. Nietzsche geht es in diesem Werk allerdings um die Ermutigung zu einer lebensbejahenden Bosheit, welche »Ausfluss jener mächtigen Sehnsucht nach Heiligung und Errettung ist, als deren erster philosophischer Lehrer Schopenhauer unter uns entheiligte und recht eigentlich verweltlichte Menschen trat«. (SE – 372) Das Telos der Argumentation ist – strukturell besehen – identisch; es ist die Überzeugung, dass etwas Absolutes existiert. wahrhaftig sein heisst an ein Dasein glauben, welches überhaupt nicht verneint werden könnte und welches selber wahr und ohne Lüge ist. Deshalb empfindet der Wahrhaftige den Sinn seiner Thätigkeit als einen metaphysischen, aus Gesetzen eines andern und höhern Lebens erklärbaren und im tiefsten Verstande bejahenden: so sehr auch alles, was er thut, als ein Zerstören und Zerbrechen der Gesetze dieses Lebens erscheint. (SE – 372) 50

Zusammenfassend soll die ethische Dimension des nachidealistischen exemplarischen Denkens noch einmal philosophiegeschichtlich be-

Diese Studie entwirft eine ganzheitliche und narrativ konsistente Perspektive auf den Denkweg beider Philosophen. Jene berühmte Formel aus Zur Genealogie der Moral, dass der Wille lieber das Nichts als nicht wolle, ist – nun gegen den Denkanstoß Nietzsches gemünzt – das in die weltliche Immanenz invertierte Destillat jener zitierten Verheißung.

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trachtet werden. Hogrebe betont in seinem Essay über das Böse, 51 dass bereits der späte Immanuel Kant (in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft) auf die Abgründe der menschlichen Natur aufmerksam ist, die nach Kant – sein »radikal Böses« näher erklärend – darin bestehen, »unsere egoistische[n] Energien trotz unserer gewußten Verpflichtung auf Allgemeinheitsfähigkeit auszuagieren«. 52 Kant denkt hier, folgt man Hogrebes Darstellung, bereits im Sinne Kierkegaards und Nietzsches ›entlarvungspsychologisch‹ : Er mache das Böse an einem unvordenklichen Ort fest, womit »unser Egoismus wie ein Bazillus auch alle dann bloß simulierten allgemeinheitsfähigen Entscheidungen infiziert, so daß wir tugendhaft bloß aus Gründen unseres Ego-Stolzes sind«. 53 Kant nennt diese Möglichkeit die »Verkehrtheit des Herzens«, den »faule[n] Fleck unserer Gattung«. 54 Gleichzeitig betont Hogrebe, dass Kant vor diesen Abgründen zurückgeschreckt ist und mit dem Etikett der Unerforschlichkeit stigmatisierte. Hogrebe geht damit über zu Schellings Schrift Über das Wesen der menschlichen Freiheit, welcher der Sache tiefer nachgedacht hat. In dieser Schrift finden sich – das ist hier das für den weiteren Gang dieser Studie Entscheidende – Formulierungen, die thematisieren, was bei Kierkegaard und Nietzsche das religiöse Ausnahmetheorem existentiell bewältigen können soll. Das Böse wird bei Schelling als das Überhandnehmen der »Selbstsucht« gefasst, die zwar als Basis des Allgemeinen anerkannt ist, allerdings als strukturell entkoppelte sich in sich selbst auftürmt und damit »Schrecken und Horror erzeugt«. 55 Folgende Überlegungen Schellings können als die Negativfolie gedeutet werden, vor der Kierkegaard und Nietzsche die »Ausnahme«, ohne die das Allgemeine keinen Halt hätte, in den »Einzelnen«, der in sich selbst über ein Gottesverhältnis womöglich versöhnlich vermittelt ist bzw. sich als »Einsamer« selbst vergöttlicht, aufheben. Sie stellen also die kontemplierte Folie jener Ausnahme-Allgemeines-Dialektik dar, welche Kierkegaard und Nietzsche ethisch im »Einzelnen« und »Einsamen« zu unterbrechen können glauben. So heißt es bei Schelling:

51 52 53 54 55

Vgl. Hogrebe (2003). Ebd., S. 308. Ebd. Zitiert nach ebd., S. 309. Zitiert nach ebd., S. 310.

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[I]n der Welt, wie wir sie jetzt erblicken, [ist] alles Regel, Ordnung und Form; aber immer liegt noch im Grunde das Regellose, als könnte es einmal wieder durchbrechen, und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden. Dieses ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen läßt, sondern ewig im Grunde bleibt. Aus dem Verstandlosen ist im eigentlichen Sinne der Verstand geboren. 56

Der folgende Abschnitt soll eingehender darstellen, wie Kierkegaard und Nietzsche diese hier allein deskriptive Darstellung der Dialektik zwischen Regel und Regellosem existentiell auskosten. Bei beiden Denkern wird die Erfahrung der individuellen, in der Geschlechtlichkeit entspringenden Bosheit normiert und potentiell überwunden, indem die Ausnahme ein Keuschheitsgelübde abzulegen hat, dessen Bedeutung von einer Instanz getragen wird, welche die Sphäre der Moral kategorial überbietet. Innerhalb dieser moralkritischen Ausreizung der Frage nach dem Menschen handeln sich beide Denker ein begriffliches Problem ein: Das vorausgesetzte ›Gute‹, Substanz jener Liebe, die einen haltbaren Unterschied zum Bestehenden setzen und verbürgen soll, kann nur in der Sprache kommuniziert werden, von deren Semantiken sie sich entbinden will. Diese Problematik führt zu einer metaphorischen Normierung der Sinnlichkeit durch übersinnliche Bedeutungsträger. Diese ›reine Liebe‹ kann eine immanente Perspektive auf Moral nicht stiften. Das exemplarische Denken nimmt auf dieser Ebene den idealen Anspruch der Moral, wenn man so möchte, bösartig und überspannt ernst, um die in ihm angelegte, selbstgenügsame Abgeschmacktheit zu unterlaufen. Es geht – so wird dieser Sachverhalt dann inszeniert – um Sein oder Nicht-Sein der Ausnahme selbst, die am Anspruch der Moral zu Grunde zu gehen droht. Plastisch nachvollziehen lässt sich dieses Szenario jener drama kings an der Kritik des für eine Moralphilosophie ausgeloteten Mitleids.

II.2.4 Geist – Mensch – Einsamkeit Es geht um die Entwicklung und Erprobung eines Vergleichsmodells, das das Gesamtwerk Kierkegaards und Nietzsches mit Adorno perspektiviert als Fragen nach dem gelingenden Leben (»exemplarisches 56

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Wiederum zitiert nach ebd., S. 310 f.

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Denken«). Dabei wird behauptet, dass man durch die Verzahnung der Anti-Begriffe »Ausnahme« und »Einsamkeit« die Werkentwicklung unter eine konsistente Perspektive bringen kann, die von ihren Urhebern selbst als diese angezeigt wird. Das Telos dieser Entwicklung mündet bei Kierkegaard in der Utopie des »Einzelnen« und bei Nietzsche in der Utopie des »Einsamen«, in welchen Denkfiguren die realgesellschaftliche Isolation, von der das Werk seinen negativen Denkanstoß nahm, als ›zerfallen‹ vorzustellen ist. Wie im Vorhergehenden so dienen auch im Folgenden die spezifisch inhaltlichen Analysen vor allem dem Zweck, die Werkentwicklung aus der Perspektive ihrer Autoren nachvollziehbar zu machen. Eine leitende These dieser Studie ist, dass der »Einzelne«, der seinen letztgültigen Ausdruck in den Anti-Climacus-Schriften findet, die begrifflich unvermittelbare Aufhebung des Ausnahmetheorems ist. Die Verknüpfung von Stadien als der Ausreizung des Ausnahmetheorems mit dem Zenit des exemplarischen Denkens bei Kierkegaard gelingt durch den jetzt zuzuordnenden Befund, dass bereits in Stadien das durch Wilhelm formulierte Ausnahmetheorem an einen Begriff von »Geist« geknüpft wird. In der Ausnahmetheorie Wilhelms in Stadien vollzieht sich eine Metamorphose seines ursprünglichen Standpunktes aus Entweder – Oder: Er kennt mittlerweile ein höheres Leben als das Eheleben. Diese neu formulierte Ausnahmetheorie sucht nach einem adäquaten Ausdruck religiöser Lebensform. Die berechtigte Ausnahme wäre eine Geistexistenz, die schrittweise durch eine Reihe von bewältigten Widerfahrnissen und erzwungenen Umwertungspraktiken hindurch – die von Wilhelm formal als psychologisch rekonstruierte, notwendige Kriterien für den potentiellen Status »berechtigt« angeführt werden – ihr Dasein umschaffte und ihre Verknüpfung mit dieser Welt verklärte (vgl. SL – 178). Wilhelm stellt zwei Begriffe von »Geist« nebeneinander: einen »reinen Geist« Gottes und einen menschlichen »Geist« (vgl. SL – 178). Als unberechtigt erweist sich die Ausnahme sofort dann, wenn sie die Forderungen des »Menschlichen« an sich, die sich allein in der Sphäre des Ethischen zutragen, umgehen will, wenn sie vergisst, dass sie »auch Mensch« (SL – 178) ist. Die berühmte, anti-begriffliche ›Definition‹ des Menschen in Die Krankheit zum Tode knüpft an die hier ausgereizten Errungenschaften des Ausnahmetheorems an. Der Mensch ist Geist. Aber was ist Geist? Geist ist das Selbst. Aber was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder

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ist das im Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält. (KzT – 31)

Die in Stadien vorausgesetzten Bedingungen zur Berechtigung werden also an einen Begriff von »Geist« geknüpft, der seiner Möglichkeit nach die Wirklichkeit des christlichen »Geistes« aus Die Krankheit zum Tode schon umschließt, ohne – das ist der entscheidende Unterschied – sich durch den Begriff »Sünde« qualitativ von der Sphäre des Begriffs und also der Moral auslagern zu können. Jene teleologische Suspension jeder unmittelbar verbindlichen Moral, die anhand des Abraham-Narratives als punktuelles Ereignis vorzustellen war, wird hier in den Existenzverlauf der Ausnahme eingezogen und auf Dauer gestellt derart, dass die Sphäre, die den Lebensweg der Ausnahme allein sinnhaft orientiert, der philosophischen Einsicht in sie ausgelagert bleibt. 57 Auch Nietzsche knüpft auf dem Zenit seines Schaffens sein Fragen nach positiver Bestimmung des Menschen, wie bereits hervorgehoben wurde, an einen Begriff von »Geist«, was die erste Rede Zarathustras Von den drei Verwandlungen verbürgt: »Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kameele wird, An folgenden Zitaten erkennt man sehr schön, wie sich ›hier‹ der inhaltliche Anspruch des exemplarischen Denkens von seiner ursprünglichen Form löst und in einen begriffs-utopischen Raum verflüchtigt wird. Der Quidam der Leidensgeschichte ist die Probe auf Wilhelms Ausnahmetheorie. Er reflektiert in einer Tagebuchaufzeichnung auf sich selbst und bezeichnet sich darin als einen »Probemenschen«, der »weit davon [ist], paradigmatisch zu sein«. Als solcher kann er »mit ziemlicher Genauigkeit die Temperatur jeder Stimmung und Leidenschaft« angeben. »Jedoch im Sinne des Humanen«, so schätzt sich Quidam selbst ein, »kann niemand sich nach mir bilden, und noch weniger bin ich in historischem Sinne für irgend einen Menschen Prototyp. Ich bin eher so wie man etwa in einer Krisis einen Menschen nötig hätte, ein Probestück, welches vom Dasein gebraucht wird, um sich vorzufühlen.« (SL – 388) Vgl. hierzu auch einen Brief Nietzsches an Heinrich Köselitz von Ende August 1881, der kurz nach der Fertigstellung der Morgenröte entstanden ist. In Absetzung auf eine große Lobrede auf das Schaffen seines Freundes Köselitz klagt Nietzsche über die Scham, die ihn wegen seiner fertiggestellten Werke befällt, offenbar tief verunsichert durch die rabiate Ansage seines Verlegers Schmeitzner, der Nietzsche wissen ließ, dass seine »Leser keine Aphorismen mehr« von ihm lesen wollten: Seine Werke seien, so Nietzsche in frappierender Analogie zum Quidam, »Abbilder eines leidenden unvollständigen, der nöthigsten Organe kaum mächtigen Geschöpfs – ich selber als Ganzes komme mir so oft wie der Krikelkrakel vor, den eine unbekannte Macht über’s Papier zieht, um eine neue Feder zu probiren.« (KSB 6, Nr. 143 – 121 f.) Für weitere Analogien bei Kierkegaard zu diesem Briefpassus vgl. Jaspers (1960), S. 31 f. 57

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und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe.« (Z – 29) Bemerkenswert ist hier allein der Übergang vom Tier (Kamel/Löwe) zum Menschen seiner neuen Möglichkeit nach (= Kind). Dieser Übergang vom Tier zum Menschen, der sich hinter der Verwandlung vom Löwen zum Kind ergibt, ist eine Wiederaufnahme einer markanten Fragestellung aus Schopenhauer als Erzieher, in welcher Nietzsche zu verstehen versucht, aus welchen Gründen »tiefere Menschen« Mitleid mit den Tieren haben. Seine These ist, dass es im tiefsten Grunde empört, sinnloses Leiden zu sehen. Es sei ›die Natur‹ selbst, die sich zum »Menschen« hindränge, weil dieser zur Erlösung vom Fluche des Tierlebens nötig sei. Im Menschen, so Nietzsche in seiner unzeitgemäßen Betrachtung, hält »das Dasein sich einen Spiegel vor[], auf dessen Grunde das Leben nicht mehr sinnlos, sondern in seiner metaphysischen Bedeutsamkeit erscheint.«. (SE – 378) Nietzsche gibt diesen Erwägungen eine scharfe Pointe. »Doch überlege man wohl: wo hört das Thier auf, wo fängt der Mensch an! Jener Mensch, an dem allein der Natur gelegen ist! (SE – 378) Es liegt auf der Hand, dass das Verwandlungs-Kapitel des Zarathustra die Wiederaufnahme jenes Fragens nach dem Menschen ist.

II.2.4.1 Die Pointe des Ethischen: die Verzahnung von Sinnlichkeit und Geist In diesem Abschnitt wird durch Analyse einschlägiger Auszüge aus Stadien und Zarathustra vertieft bedacht werden, in welchem Sinne das exemplarische Denken Kierkegaards und Nietzsches als eine Philosophie der Askese gedeutet werden muss, die den Anspruch erhebt, jene Anlage zur Bosheit konstruktiv als Aufgabe für die eigene Biografie auszulegen. Der spezifische Umgang mit dieser Thematik kann durch eine Gegenüberstellung mit Schopenhauers Metaphysik der Geschlechtsliebe bestimmter konturiert werden. Die Darstellung Letzterer ist auch deswegen von Belang, weil sie die Pointe der Mitleidskritik der exemplarischen Denker vorbereitend einleuchtend macht. Der religiös-asketische Zug des Ausnahmetheorems, so wie es sich in Stadien formuliert, lässt sich aus dessen Zusammenfassung ersehen: Ich wiederhole die wesentlichsten Punkte: er [gemeint ist immer der sich Ausnehmende, R. R.] soll sich nicht höher als das Allgemeine fühlen, son-

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dern geringer, er soll um jeden Preis darin bleiben wollen, weil er wirklich verliebt ist und, was mehr ist, Ehemann ist, er soll darin bleiben wollen um seiner selbst willen und soll es wollen um derentwillen, für die das Leben zu opfern er bereit wäre, während er nun doch ihr Elend sehen muß, gleich einem, dem man Arme und Beine abgehauen, und aus dessen Munde man die Zunge gerissen hat, d. h. ohne ein einziges Mittel der Mitteilung zu besitzen. Er soll sich also fühlen als den elendesten unter allen Menschen, als ein Fegefeuer der Menschheit und soll es zwiefach fühlen, eben weil er nicht im Abstrakten, sondern im Konkreten weiß, was das Schöne ist. So siecht er denn dahin, in allem seinem Elend verzweifelt, wenn jenes einzige Wort, das letzte, das ferneste, so ferne, daß es jenseits der menschlichen Sprache liegt, ausbleibt, wenn das Zeugnis nicht bei ihm ist, wenn er die versiegelte Depesche nicht aufreißen kann, die erst dort oben geöffnet wird, und welche die Order von Gott enthält. Dies ist der Anfang dazu, eine Ausnahme zu werden, wenn anders es eine solche gibt; ist dies alles nicht vorhanden, so ist er ein Nichtberechtigter. (SL – 189 f.)

Viele Aspekte sind bereits bekannt und in milderem Aufguss bereits in Entweder – Oder formuliert worden. Dass die Ausnahme sich geringer fühlen solle als das Allgemeine, dass der exzentrische Standpunkt zum Allgemeinen nicht in Menschenverachtung umschlagen dürfe, dass also die Liebe zum Menschlichen aufrechterhalten werden müsse, dass innerhalb der exzentrischen Positionalität leidvolle Umwertungsarbeit geleistet werden müsse – dies sind letztlich bekannte Forderungen. Zwei Berechtigungskriterien sind neu und bedeuten die ausschließliche Zuspitzung hin zum Religiösen: der sich Ausnehmende soll erstens »Ehemann« sein und der sich Ausnehmende darf zweitens nie ein »Wissen« haben von sich als Ausnahme, muss im Zustand absoluter Zerrissenheit sich als »der elendste unter allen Menschen« fühlen, wobei das womöglich erlösende Wort als seine Berechtigung erst »dort oben« gesprochen wird – also nicht in dieser Welt und in diesem Leben. Berechtigung findet der sich Ausnehmende also durch einen religiösen Lebensweg allein, welcher an einen Begriff von »Geist« geknüpft wird. Dabei ist der sich als Geistwesen auslegende Einzelne sofort dadurch ausgeschlossen von seiner potentiellen Berechtigung, dass er über seine Bestimmung als Geistwesen vergisst, »auch Mensch« zu sein (vgl. SL – 178). Was in diesem Kontext mit »Mensch« bezeichnet ist, wird indirekt erhellt durch den weiteren Gedankengang, der wiederum als eine Kritik der historisch in die Welt des Indi-

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viduums eindringenden hegelschen Spekulation verstanden werden muss. Wie schon in Entweder – Oder wird hier das mittelalterliche Mönchswesen als historisch-heuristisches Konstrukt herangezogen, um die moderne Situation individueller Lebensauffassungen indirekt zu markieren. Die Verschmähung der »Ehe« im mittelalterlichen Mönchswesen aus »dogmatischen und supermoralischen Gründen« hat ihre Entsprechung in der Moderne, welche aus einer übersteigerten »Intellektualität«, einer »Gewaltsamkeit des Geistes« die Ehe verneint (SL – 178). Hier sind allerdings nicht mehr die Romantiker Gegenstand der Kritik, sondern »Freigeister« wie Ludwig Börne, David F. Strauss und vor allem Ludwig Feuerbach. Dieser Analogie-These entspricht in der Darstellung Wilhelms ein empirischer Befund: Ein entsprechender äußerster Gegensatz zeichnet sich bereits ab; denn eben weil die aufgeblasene Intellektualität die Pointe des Ethischen verfehlt hat, kann sie die Vergötterung des Fleisches predigen, die Vergötterung des Fleisches aber ist ein Ausdruck dafür, daß das Fleisch im Verhältnis zur Intellektualität indifferent geworden ist. (SL – 178) 58

Diese komplexe Argumentation unterstellt, dass die Frage nach dem »Menschen« allein durch die Ethik bestimmt werden kann; und die implizit normative Argumentation setzt voraus, dass das Verhältnis von Intellektualität und Fleisch »indifferent« nicht sein darf und weDieser Angriff richtet sich augenscheinlich gegen Ludwig Feuerbachs Anliegen, Theologie in Anthropologie zu übersetzen. Damit – das ist der Vorwurf hier – wird der theozentrische Standpunkt der Spekulation wiederholt, indem er das Wesen des Menschen in einer für damalige Verhältnisse unüberbietbaren Aufwertung der Sinnlichkeit durch seine Gattungszugehörigkeit, vollkommen abstrakt also immer noch, bestimmt (vgl. zu Kierkegaards (sich in Grenzen haltender) Feuerbach-Rezeption Istiván (2001)). Auch Frater Taciturnus wird später Feuerbach als denjenigen charakterisieren, welcher dem »Gesundheitsprinzip huldigt« (SL – 490). Dass Feuerbach verheiratet war, spielt hier keine Rolle, sind die Polemiken des exemplarischen Denkens nie im strengen Sinne gegen biografische Einzelne gerichtet, sondern gegen Tendenzen des sich in ihnen bündelnden »Zeitgeistes« als Ganzem. So analog bei Nietzsche: seine beißenden Polemiken gegen konkrete Einzelne – wohl auch die gegen David F. Strauss – sind stets sachlich motiviert (vgl. EH – 275). Dass Wilhelms kritische Zeitdiagnose auch auf die Philosophie Schopenhauers übertragen werden kann, wird im Abschnitt II.2.4.2 dargestellt. Dass sich außerdem dieser Vorwurf der »Gewaltsamkeit des Geistes« und der »übersteigerten Intellektualität« zuletzt rückbeziehen lässt gegen den, der die Ausnahmetheorie formuliert, liegt bei all dem martialischen Pathos, das sie inszeniert, auf der Hand. Kierkegaard legt Wilhelm bei seiner Formulierung der Ausnahmetheorie derart einen Stil der Übertreibung in den Mund, dass die Ausnahmetheorie selbst ins Lächerliche tendiert, ad absurdum geführt wird. Die Geschmeidigkeit des Stils, welche Anti-Climacus beherrscht, ist Wilhelm nicht zu eigen.

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sentlich nicht ist. So wird in der Moderne die »Pointe« des Ethischen gewissermaßen systematisch unterboten, indem sie die allein im Ethischen adäquat zum Ausdruck zu bringende Spannung zwischen Sinnlichkeit und Geist als zwei dem »Menschen« notwendig zukommenden Attributen verkennt. Die »Vergötterung des Fleisches« ist Resultat einer abstrakten, quasi zombiesken Bestimmung des »Menschen«, der nur adäquat bestimmt werden kann durch den Widerspruch, zugleich Geist und endlich, an die Zeitlichkeit gebunden, ein sinnliches Wesen zu sein. Der entgegengesetzte Ausdruck [davon, dass das Fleisch im Verhältnis zur Intellektualität indifferent gesetzt ist, R. R.] ist, daß das Fleisch ganz und gar annulliert wird, daß die Geistigkeit sich nicht bekennen will zu dem vergänglichen Leibe, in welchem sie lebt, zu dieser Zeitlichkeit, darin sie ihre Wohnung hat, ihre bloße vorübergehende Statt, zu diesem Stückwerk, aus dem sie sich sammeln soll. (SL – 178)

Jener »äußerste Gegensatz« wird also – empirisch feststellbar – durch folgende Gegensätze bezeichnet: Eine »Gewaltsamkeit des Geistes« und »aufgeblasene Intellektualität«, die die »Vergötterung des Fleisches« predigt, ist Ausdruck für das Indifferentsetzen des Verhältnisses von Geist und Fleisch und damit zugleich die Aufhebung des Ethischen. Dem entspricht – paradoxerweise – die Verleugnung des Fleisches als Substrat des Geistes durch diesen selbst; der Geist verdrängt sein Herkommen als ein endliches und zeitliches, lässt leidenschaftslos und unbekümmert sein zeitliches Leben an sich vorüberziehen. 59 Nach jener Polemik gegen die Exzentrizität des lebensweltlich wirksam werdenden spekulativen Geistes als eines theozentrischen werden die Dynamiken der Vergötterung der Intellektualität – interessanterweise affirmativ – auf die Ausnahme hin zugespitzt: Macht man hingegen Ernst mit der Vergötterung der Intellektualität, hat der betreffende Mensch dämonische Idealität genug, um seine ganze Existenz entsprechend seinem experimentierenden Entschluß umzubilden, auf

In dieser sehr kompakten Modernitätsanalyse Kierkegaards durch die Maske Wilhelms bündeln sich Problemfelder, die für das Geschick der Epoche »Moderne« von enormer Bedeutung sein werden: Neben einer Verdrängung und Abschiebung des Todes und der Aufwertung der »Sexualität« bzw., mit Foucault gesprochen, dem Anheizen eines biopolitisch motivierten Willens zum Wissen als einem Machtspiel, dessen Treibstoff das Sexualitätsdispositiv ist, schwingt in der Metapher der »Gewaltsamkeit des Geistes« die Kritik an einer sich durch die rasant technisierende Lebenswelt etablierenden instrumentellen Vernunft mit.

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die Art in der ein Ehemann dies entsprechend seinem guten Entschluß tut, in dem Sinne nämlich, daß jeglicher Einwand, jegliches Gegenargument des Daseins als Anfechtung betrachtet wird, so hat er, was in seinem Vermögen stand, getan, um sich als Ausnahme hinzustellen. (SL – 179)

Hier wird deutlich, was die voranstehenden Analysen bezweckten. Hat im Ethischen, zumal in der Ehe, das Verhältnis von Geist und Fleisch seine adäquate Entsprechung in dem Sinne, als die reine Sinnlichkeit und Natürlichkeit kultürlich vermittelt, naturgemäß kompensiert wird (das wäre der »gute Entschluss«), wird sie in der Ausnahme in einem »experimentellen Entschluss« einsam redupliziert. Die Vergötterung der Intellektualität ist nur im Ernst möglich, wenn sie in ein brisantes, prekäres Verhältnis zum Fleisch gesetzt wird, was in »Einsamkeit« unwillkürlich geschieht. Interessant ist, dass die Verkennung der »Pointe des Ethischen«, wie sie sich in der Verschmähung der Ehe sowohl im Mittelalter (aus dogmatischen und supermoralischen Gründen) als auch in der Moderne (aus einer Gewaltsamkeit des Geistes heraus und aufgeblähter Intellektualität) in der Ausnahme auf die Probe gestellt wird, in der sie ihren einzig adäquaten Ausdruck findet im Gegensatz zur verkappt theozentrischen Auslegung des Selbst- und Weltverhältnisses durch die Freigeister. Interessant ist dieser Befund vor allem auch deswegen, weil damit ein modernes Mönchswesen affirmativ gesetzt wird. So hält Wilhelm bald fest: Seht hier einen Kandidaten für das Kloster, der sich nicht mit des Mittelalters Gunsterweisungen schmeicheln darf, sondern, dem Bewußtsein seiner Zeit fremd, das teuerste Leiden um den teuersten Preis kauft. Meine Schilderung ist gleichsam ein fertiggenähtes Kleid, das heißt das Bußhemd der Leiden, welches die Ausnahme tragen muß – ich glaube nicht, daß jemand aus mißverstandener Lust sich in diese Tracht verlieben wird. (SL – 191)

Es drängt sich hier, verhaltener, wieder die Frage nach der »Bedeutung« von Ausnahme auf. In Entweder – Oder hieß es hierzu: »Es sollte die Leute deshalb nicht danach gelüsten, ungewöhnliche Menschen zu werden; denn daß man es ist, hat etwas anderes zu bedeuten als eine launenhafte Befriedigung unserer willkürlichen Lust.« (EO II – 912) Hier nun wird von der Ausnahme affirmativ asketische Praxis abverlangt. 60 Die Frage der Bedeutung wird nun von Wilhelm eigenVorher wurde eindeutig gefordert, dass die Ausnahme der Welt zu entsagen und ein Keuschheitsgelübde abzulegen hätte (vgl. SL – 180).

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tümlich getrübt. Zum einen betont er immer wieder, dass er nicht wisse, was die Ausnahme zu ihrem Entschluss motiviere, dass er nur die »psychologischen Voraussetzungen« des Status »Ausnahme« umreißen wollte. 61 Zum anderen ist es ein notwendiges Kriterium der potentiell berechtigten Ausnahme, bis zuletzt nicht wissen zu können, ob sie berechtigt ist. 62 Die Frage der Bedeutung von Ausnahme überlastet den innerethischen Standpunkt, obschon sie aus ihm – und dem Geist seines Widerspruchs 63 – geboren wird. Auch im Zarathustra wird, etwa in Vom Lande der Bildung, die geistige Situation der Gegenwart umschrieben, wobei die »Gegenwärtigen« durchaus wie bei Wilhelm mit den Freigeistern und Positivisten identifiziert werden können. Zarathustras Musterungen lassen sich wie folgt vernehmen: »Wer von euch Schleier und Überwürfe und Farben und Gebärden abzöge: gerade genug würde er übrig behalten, um die Vögel damit zu erschrecken.« (Z – 154) Dabei wird interessanterweise der Geist der Gegenwart als hohl deswegen bezichtigt, insofern er in kein glaubendes, fruchtbares, schaffendes Verhältnis zu sich selbst treten kann: Diess, ja diess ist Bitterniss meinen Gedärmen, dass ich euch weder nackt, noch bekleidet aushalte, ihr Gegenwärtigen! / Alles Unheimliche der Zukunft, und was je verflogenen Vögeln Schauder machte, ist wahrlich heimlicher noch und traulicher als eure ›Wirklichkeit‹. / Denn so sprecht ihr: ›Wirkliche sind wir ganz, und ohne Glauben und Aberglauben‹ : also brüstet ihr euch – ach, auch noch ohne Brüste! / […] / Wandelnde Widerlegungen seid ihr des Glaubens selber, und aller Gedanken Gliederbrechen. Unglaubwürdige: also heisse ich euch, ihr Wirklichen! (Z – 154)

Im darauf folgenden Kapitel Von der unbefleckten Erkenntniss wird bestimmt nicht zufälligerweise die Verflechtung von Geist und SinnExemplarisch etwa so: »Ich habe mich nicht darauf einlassen wollen, was wohl einen Menschen bestimmen könne, solchermaßen zu verzweifeln, der Gottheit den Geist ablisten zu wollen […], oder wieso ein Mensch einer göttlichen Vorliebe ausgesetzt sein könne […], ich habe lediglich die psychologischen Voraussetzungen umreißen wollen.« (SL – 191) 62 »Ich weiß nicht, ob es eine berechtigte Ausnahme gibt, und wenn es eine solche gibt, so weiß der betreffende Mensch es auch nicht, noch nicht einmal in dem Augenblick, da er dahinsinkt, denn ahnt er auch nur das Geringste, so ist er nicht berechtigt.« (SL – 190 f.) 63 Wilhelm leitet ja das Ausnahmetheorem ein mit der Konzession, dass er ein höheres Leben als das Eheleben kenne (vgl. SL – 178). Zu letzterer These vgl. den Abschnitt II.2.5. 61

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lichkeit näher erwogen, wobei die »Rein-Erkennenden«, die »empfindsamen Heuchler« mit dem schüchternen, lüsternen, mönchischen, eifersüchtigen Werdegang des Mondes assoziiert werden. Zarathustra bündelt seine Charakterisierungen schließlich wie folgt: »Euch heisse ich – Lüsterne!« (Z – 156) Nietzsche versucht hier, den Trieb zur Erkenntnis in der Sinnlichkeit des Erkennenden zu verwurzeln und diffamiert in nächster Nähe zu Wilhelm die, welche die Sphäre des Geistes von der der Sinnlichkeit abschnüren, indem sie sie vermittlungslos und also unfruchtbar nebeneinanderher laufen lassen. Dass Nietzsche die verlogenen, da im Grunde, aber uneingeständig lüsternen »Rein-Erkennenden« mit schopenhauerischem Begriffs-Inventar chiffriert, weist den Weg für den weiteren Existenzvollzug der Ausnahme: ›Das wäre mir das Höchste – also redet euer verlogner Geist zu sich – auf das Leben ohne Begierde zu schaun und nicht gleich dem Hunde mit hängender Zunge: / ›Glücklich zu sein im Schauen, mit erstorbenem Willen, ohne Griff und Gier der Selbstsucht – kalt und aschgrau am ganzen Leibe, aber mit trunkenen Mondesaugen!‹ / ›Das wäre mir das Liebste, – also verführt sich selber der Verführte – die Erde zu lieben, wie der Mond sie liebt, und nur mit dem Auge allein ihre Schönheit zu betasten. (Z – 157) 64

Es ist deutlich geworden, wie das exemplarische Denken den menschlichen Geist durch seine Verankerung in der Sinnlichkeit bedingt sieht und diese Spannung als Aufgabe für den Lebenslauf der Ausnahme veranschlagt. Es soll nun genauer hingesehen werden, wie die Normierung des exzentrischen Lebenswegs vorzustellen ist.

II.2.4.1.1 Kierkegaard Der Weg durch das Menschliche hindurch hin zur Geistexistenz, der alle entscheidenden Kriterien berücksichtigt, um sich zu berechtigen, Im Gegensatz zum Mond, der nur ein passiv-kontemplierendes Erkenntnisverhältnis zur Erde und ihrer Wirklichkeit hat, steht die Sonne, die ein aktiv-zugreifendes Verhältnis zur Erde hat, sie will etwas von der Welt: »[…] schon kommt sie, die Glühende, – ihre Liebe zur Erde kommt! Unschuld und Schöpfer-Begier ist alle SonnenLiebe! / Seht doch hin, wie sie ungeduldig über das Meer kommt! Fühlt ihr den Durst und den heissen Athem ihrer Liebe nicht? / Am Meere will sie saugen und seine Tiefe zu sich in die Höhe trinken: da hebt sich die Begierde des Meeres mit tausend Brüsten. / Geküsst und gesaugt will es sein vom Durste der Sonne; Luft will es werden und Höhe und Fusspfad des Lichts und selber Licht!« (Z – 158 f.)

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geht – das wird wie gesagt als eine zentrale begriffliche Neuerung und Komprimierung eingeführt – durch die »Ehe« hindurch. 65 Das Kriterium, dass die Ausnahme »Ehemann« gewesen sein muss, unter welcher Bestimmung der Geist der Ausnahme an diesem Ort sein Gesicht erhält, ist einigermaßen vertrackt. 66 Wie kommt es zu dieser absurden Forderung? Es wurde gezeigt, dass weder das Mittelalter noch die Moderne aus der Perspektive Wilhelms gute Gründe gegen die Ehe formulieren konnten, dass die jeweiligen Zurückweisungen der Ehe als verbindlicher Institution des Allgemeinen aus entsprechenden Verkennungen der Pointe des Ethischen resultierten. Eingeleitet wurde das Ausnahmetheorem durch den Ehemann Wilhelm mit der Konzession, dass er ein höheres Leben als das Eheleben kenne. Wenn er nun fordert, dass die Ausnahme »Ehemann« sein muss, kann diese Forderung nur gleichsam, metaphorisch gemeint sein, insofern die Ausnahme in ihrem einsamen Lebenswandel all jene Verbindlichkeiten eines Ehelebens ideell redupliziert, denen ein echter Ehemann unterstellt ist. Es ist, als wollte Wilhelm sagen: ›Mittelalter und Moderne lieferten schlechte, sich aus der Sache des Menschen nicht naturgemäß ergebende Gründe gegen die Ehe; es wäre zu Oben wurde im Abschnitt I.4.3.1 gezeigt, dass Kierkegaard den »Einzelnen« als eine Art normatives Korsett für das kommende Zeitalter behauptete, dass »durch ihn hindurch« gegangen werden müsse, soll die Sache des »Menschen«, die sich allein »christlich« behaupten können wird, nicht verloren sein. Dieses Motiv hat seine konkrete Vorgeschichte in der noch auszulegenden und merkwürdigen Forderung, die Ausnahme müsse »Ehemann« (gewesen) sein. Diese Verknüpfung wirft ein schräges Licht auf die Darstellung des Ausnahmetheorems in den »Schriften über sich selbst«, wo behauptet wurde, dass in den pseudonymen Werken der »Einzelne« nur im Sinne des großen Menschen vorkomme, nicht im Sinne des Menschlich-Allgemeinen. 66 Es kann hier am Rande Erwähnung finden, dass sowohl Abraham als auch Hiob, durch welche exemplarischen Gestalten des Alten Testaments das Ausnahmetheorem durchgeführt wird, Ehemänner waren. Je konturierter Kierkegaards Ideal des »Christentums« sich aus seinem Denken herausschält, desto deutlicher verabschiedet er diese Verbindlichkeit als eine politisch konkrete, wobei er neutestamentlichen Rückhalt hat: Dem Christentum seinem idealen Begriff nach, so wird regelmäßig betont, ist der ehelose Stand lieber als die Ehe. Das dezidiert als »christlich« gedichtete »Selbst« aus Die Krankheit zum Tode hat als solches die »Sünde« im Unterleib seines begrifflichen Entspringens, womit eine neue, unvordenkliche Achse in Kierkegaards Denken integriert ist, und den »Einzelnen« als »Christen« in Kierkegaards Sinne bewirkt. Vom ursprünglichen Verworfensein des Selbst erlöst zu werden gelingt im philosophisch nicht benennbaren Raum »einsamster Einsamkeit«, worin jede wirkliche Ehe durch die Idealität des Anspruchs erstickt wird mit dem Vorwurf ihrer heidnischen Reminiszenz als einer »Vorliebe«, einer Liebe, die dieser Welt, nicht Gottes ist (vgl. etwa Mt 16,23). 65

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prüfen, ob ich mit meiner Theorie der Ausnahme offen halten kann, dass es gute Gründe gegen die Ehe gibt.‹ Jedenfalls muss die Ausnahme jeder Verbindlichkeit, die einem Eheleben entspringt, ideell entsprechen. Mit dieser Forderung bündelt und strukturiert Kierkegaard nicht zuletzt zwei Elemente um, die in den Ausnahmetheorien von Entweder – Oder und Die Wiederholung auseinanderklafften: die Normierung der ›enterotisierten‹ Sinnlichkeit auf Distanz bei Beibehaltung der Liebe zum Allgemeinen und den Rückfall des als Ausnahme berechtigten Dichters in die Welt des unterschiedslos gedachten Allgemeinen, dem ein quasi-erotisches Agon vorausgegangen war. Dabei wurde der Rückfall deswegen erzwungen, weil der »junge Mensch« als junger Mensch sich nötigte bzw. innerhalb der experimental-psychologischen Anordnung, in der eo ipso kein Unterschied zur Welt gedacht werden kann, genötigt wurde, zum Ehemann sich zu formen. Mittlerweile ist offenbar bzw. scheinbar die begriffliche Größe vorausgesetzt, die das Leben und die Liebe der Ausnahme zum Allgemeinen dauerhaft garantiert. Zunächst fordert Wilhelm von der Ausnahme, dass sie hinreichend welterfahren 67 zu sein hat, mithin eine »Verliebtheit« empfunden haben muss, deren Auswirkungen sie unwillkürlich verpflichteten; sie bindet die Ausnahme an das Allgemeine und soll verhindern, dass sie – gleich den Ästhetikern im ersten Drittel der Stadien – menschverachtend, frivol, wider das Dasein spröde wird (vgl. SL – 185). Aus der Erfahrung einer Verliebtheit wird die Ausnahme entweder durch ein Widerfahrnis herausgerissen oder sie zerreißt selbst, nicht gewusst warum, die Verliebtheit – es muss einen radikalen Einschnitt in der Existenzbewegung geben, wobei diesseits des Bruchs, in der Ausnahme, deren Lebensverhältnisse bis in ihre Grundfesten irritiert sind, der Eindruck der Verliebtheit angelegt bleibt. Nach einer pathetischen Schilderung, welche leidvollen Konsequenzen die (un) willkürliche Zerstörung der Verliebtheit nach sich zieht, fordert WilWilhelm bespricht im Vorfeld zwei Formen unberechtigter Ausnahmen: die eine Form will sich, indem sie die Welt des Allgemeinen ignoriert, unmittelbar zu Gott verhalten. Hierzu heißt es lapidar: »Inhuman sein gegen Menschen heißt zugleich zudringlich sein gegen Gott.« (SL – 183) Die andere Form ist, wenn die Ausnahme das Allgemeine unterbieten will, dies allerdings mehr oder weniger aus eitlen Flausen, denn aus demütiger Einsicht in die Sache. Beide Formen jedenfalls sprechen abstrakt vom Allgemeinen, obschon sie als berechtigte Ausnahmen ein konkretes Wissen von der Schönheit haben müssen, die es bedeutetet, im Allgemeinen sein Leben haben zu können. Hier fällt das Stichwort der »Welterfahrenheit«.

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helm prompt: »Sodann fordere ich, daß er Ehemann sei. […] Ja, falls er nicht dergestalt gebunden ist, kann er unmöglich die Ausnahme werden, wenn anders es eine solche gibt […].« (SL – 186) Merkwürdigerweise legt Kierkegaard Wilhelm mit dieser Forderung nur noch gewaltigere Worte in den Mund bezogen auf das Leid der Ausnahme – also nur eine Steigerung nach dem Grade, quantitative Bestimmungen. »Das ist es, das schrecklicher als die Ehre zu verlieren ist, und der Vaterlosen Schreie tönen lauter als alle Schmähungen der Unehre; und schrecklicher als des betrogenen Mädchens Einsamkeit ist der Gattin, der Mutter tausendzüngiges Elend, wenn sie verlassen ist.« (SL – 186) Was bedeutet es, dass die Ausnahme »Ehemann« sein muss, neben der Tatsache des »mehr Leid«? Oberflächlich betrachtet soll dadurch das Ausnahmetheorem eine ausschließlich religiöse Existenzform verbürgen: »Möge es zweifelhaft sein, ob die Verliebtheit von Gott ist, möge denn eine Verliebtheit eine religiöse Deutung noch nicht voraussetzen, die Ehe ist ganz unbedingt religiöser Herkunft.« (SL – 187) Es wird versucht, unterschwellig einen Unterschied in den Begriff der »Liebe« einzutragen. Was durch den Vorlauf streng genommen noch nicht möglich war, indem das Zerreißen einer Ehe nur mehr Leid bedeutete gegenüber dem Zerreißen einer Verliebtheit, wird nun schlicht vorausgesetzt: der religiöse Ursprung der Institution »Ehe«, der bei bloßer »Verliebtheit« nicht naheliegt. 68 Wenn man sich fragt, welche ethischen Attribute an die Ehekonzeption geknüpft sind und man die Stadien im Ganzen konsultiert, fällt auf, dass sie vor allem in den Selbstbeschreibungen des Quidam – als des lebendigen Ausdrucks der ›Theorie‹ der Ausnahme Wilhelms – zum Ausdruck gebracht werden. »Ehe« setzt zum einen voraus die Möglichkeit des gegenseitigen Verständnisses der Ehepartner, für welchen Sachverhalt die Trauung als ein Versprechen vor Gott steht; 69 außerdem »Treue« zum Entschluss bis zuDie Argumente Wilhelms sind auffällig schwach und selbst-widersprüchlich, Pathos übertönt die sachlichen Mängel. Es ist die hier vertretene Überzeugung, dass Kierkegaard in Stadien ganz bewusst in die Figur Wilhelm die Mängel eines immanent ethischen Standpunktes implementiert und lebensweltlich auftreten lässt. Vgl. hierzu eingehender den Abschnitt II.2.5. 69 Vgl. die Schilderung Quidams vom Morgen des 30. Mai: »Zu einer Ehe gehört eine Trauung. Was ist eine Trauung? Es ist die Ablegung eines Eides, die gegenseitig verpflichtet. Zu einer gegenseitigen Verpflichtung aber ist doch wohl gegenseitiges Verstehen nötig. Aber sie versteht mich schlechterdings nicht. Was wird somit mein Eid? 68

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letzt; 70 und schließlich ein Begriff von »Liebe«, der als »religiöser« von bloß heidnischer, erotischer Liebe unterschieden zu sein hat. Ein Verbindlichkeitsmuster erster Ethik wird damit in eine »höhere«, allerdings begrifflich – aus dem Standpunkt Wilhelms – nicht einholbare Sphäre übermittelt. Die sich berechtigende Ausnahme zieht wie einen Schleier Verbindlichkeiten nach sich, die der Sphäre der Verbindlichkeiten des Ehelebens analog sind und verklärt damit deren heidnische Reminiszenzen in ihrem Streben nach Geistexistenz. Im Folgenden soll allein der ethische Sinn in den Blick gebracht werden, den die Forderung, die Ausnahme müsse »Ehemann« sein, bezogen auf ihre Sinnlichkeit hat. Folgende Beschreibung der Ausnahme im Verhältnis zu sich betont die Spannung von Sinnlichkeit und Geist in Einsamkeit. Er ist ein Empörer wider das Irdische; und die Sinnlichkeit, welche bei freundwilligem Einvernehmen mit dem Geistigen Stab und Stütze ist, ebenso wie die Zeit es ist, sie hat er sich zur Feindin gemacht; denn die Sinnlichkeit ist ihm geworden zur Schlange und die Zeit zum Augenblick des bösen Gewissens. (SL – 189) 71 Unsinn. Ist das eine Trauung? Nein, es ist eine Profanierung.« (SL – 377) Auch für Nietzsche steht fest, dass gelingende Kommunikation im Sinne eines wirklichen Verständnisses, Offenbarseins vor einem konkreten sozialen Anderen unmöglich ist, obschon es, wie der affirmative Liebesbegriff aus der Isolationszone nahelegte, das Ideal darstellt. Die tragische Einsicht Zarathustras nach seinem Durchgang durch die »Verlassenheiten« kann hier noch einmal in Erinnerung gerufen werden: »Wie lieblich ist es, dass Worte und Töne da sind: sind nicht Worte und Töne Regenbogen und ScheinBrücken zwischen Ewig-Geschiedenem? / Zu jeder Seele gehört eine andre Welt; für jede Seele ist jede andre Seele eine Hinterwelt. / Zwischen dem Ähnlichsten gerade lügt der Schein am schönsten; denn die kleinste Kluft ist am schwersten zu überbrücken.« (Z – 272) 70 So heißt es in der Mitternachtsaufzeichnung vom 4. Juli: »Mein Entschluß ist, in Treue gegen sie der Idee und meiner geistigen Existenz treu zu bleiben mit äußerster Kraft, auf daß ich auf grund von Erfahrung dessen gewiß sei, es sei der Geist, der da lebendig macht, und es könne der äußerliche Mensch verschmachten und der Geist siegen […].« (SL – 421) Vor diesem Hintergrund ist die Bezeichnung Kierkegaards als eines »Troubadours« durch Georg Lucács (1971), S. 52–55 stimmig. Dass auch Nietzsche seine »gaya scienza« nach dieser Lebensform modellierte, ist bekannt. 71 Es ist die Frage, ob es nur eine akustische Täuschung ist, oder ob Kierkegaard und Nietzsche den Geist nah verwandter Erbauungsschriften verarbeiten, wenn man folgenden Befund gegen Wilhelms Schilderung hält. Im letzten Kapitel des ersten Buchs des Zarathustra, Von der schenkenden Tugend, das als eine Umwertung der jüdischchristlichen Gabeauffassung gedeutet werden muss, bekommt Zarathustra, dessen Mission es ist, gegen den Geist der Rache zu opponieren – »Diess, ja diess allein ist Modulationen der Einsamkeit

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Der sich Ausnehmende steht in einem unversöhnlichen, ja aufreibenden Verhältnis zu sich und seiner Sinnlichkeit, der Welt und ihren Reizen. Innerhalb der Verliebtheit der Ehe sind dagegen Einsichten undenkbar, wie sie jener Empörer an sich erfährt, da die Sinnlichkeit im ihr entsprechenden sozialen Raum lebt und nur eine Seite ihres an sich janusköpfigen Gesichts zum Ausdruck bringt. Wilhelm fährt fort, die Bedeutung der »Sinnlichkeit« zu untermauern, indem er ihre Wirkung näher beschreibt: Man meint, es sei so leicht, über die Sinnlichkeit zu siegen, ja, es verhält sich auch so, wenn man sie nicht erhitzt durch den Willen, sie zu vernichten. Von dergleichen spricht man zu Liebenden nicht, denn die Verliebtheit hält Liebende in Unwissenheit über jene Gefahren, welche allein der Empörer entdeckt, die Verliebtheit weiß nicht, wozu die Ehe gestiftet ist, aber eine ernste Rede weiß doch, daß sie gestiftet ist zu gegenseitigem Beistand, zur Fortpflanzung und zur Vermeidung der Hurerei […], und die Erfahrungen der Klöster könnten zu diesem Texte schreckliche Erläuterungen geben. (SL – 189)

Dass Wilhelm hier seinen eigenen Stand verhältnismäßig geistlos, ohne an einer religiösen Idee orientiert zu sein also, verteidigt, indem er materialistisch festhält, die Ehe wäre innerhalb einer ernsten Betrachtung zu gegenseitigem Beistand, zur Fortpflanzung und zur Vermeidung der Hurerei da, springt ins Auge. Dass von der sich berechtigenden Ausnahme »Keuschheit« gefordert wird, kann hier noch einmal in Erinnerung gerufen werden: R a c h e selber: des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ›Es war.‹ / Wahrlich, eine grosse Narrheit wohnt in unserm Willen; und zum Fluche wurde es allem Menschlichen, dass diese Narrheit Geist lernte!« (Z – 180) – einen »Stab« geschenkt, »an dessen goldnem Griffe sich eine Schlange um die Sonne ringelte. Zarathustra freute sich des Stabes und stützte sich darauf; dann sprach er also zu seinen Jüngern. / Sagt mir doch: wie kam Gold zum höchsten Werthe? Darum, dass es ungemein ist und unnützlich und leuchtend und mild im Glanze, es schenkt sich immer.« (Z – 97) Das Bild der sich um die Sonne ringelnden Schlange erfasst, was Nietzsche des Öfteren im Begriff der »Selbstsucht« unterscheidet, deren einer Ausdruck »siech« ist, wobei deren anderer, nietzschescher Ausdruck »gesund« ist (vgl. etwa das Kapitel Von den drei Bösen im Z – 235–240; zu einer analogen Unterscheidung der »Selbstsucht« vgl. bereits Aristoteles’ Erläuterungen in der Nikomachischen Ethik (Buch IX, Kapitel 8)). Feststeht, dass Nietzsches Zarathustra auf seinem Leidensweg hin zu sich an einem Feind besonders zu beißen haben wird – seinem Widerwillen gegen die Zeit und ihr ›es war‹. Dass der Wille nicht zurück-wollen kann und sich darob an sich als Lebensmedium rächt, letzten Endes lebensverneinende Werte setzt, werden in diesem Zusammenhang Durchgangserfahrungen Zarathustras sein hin zu seiner Selbst-Erlösung durch eine umgewertete Zeiterfahrung.

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Sobald der der Welt Entsagende und das Keuschheitsgelübde Ablegende einen religiösen Hintergrund hat, gewinnt die unendliche Abstraktion [des experimentellen Entschlusses, R. R.] einen Zufluchtsort hinter ihr, die Begeisterung für das Vernichtigtwerden ist lediglich ein kleines Wagnis im Verhältnis zu dem was zu gewinnen ist. (SL – 180)

Hier ist weniger interessant, dass von der Ausnahme »Keuschheit« gefordert wird, sondern wie Wilhelm sie ermöglicht sieht, ist doch die Ausnahme gleichsam »Ehemann«. Im Zitat geht es Wilhelm um die Unterscheidung der rein quantitativ bestimmten Ausnahme, die in einem gewissen Sinne, wegen ihrer Selbstsucht/Bosheit und damit gesteigerten Willenskraft, Ausnahme war, von ihrem qualitativen Pendant, welches einen wirklichen religiösen Hintergrund besitzt. Es ist aus der Warte Wilhelms der Status des sich Ausnehmenden als gleichsam »Ehemann«, der der Keuschheit ihren Sinn gibt, wobei ein religiöser Hintergrund unbedingte Voraussetzung für die Berechtigung ist, die allerdings innerhalb dieses Lebens nie als Wissen aufgedeckt wird. Die Ausnahme peitscht – gerade durch den Willen, sie zu vernichten, so hat es oben geheißen – die Sinnlichkeit auf; die »Erfahrungen der Klöster« gäben zu diesem Text »schreckliche Erläuterungen«. Allerdings glaubt Wilhelm nun durch seinen analogischen Begriff von »Ehe« einen argumentativen Trumpf in der Hand zu haben, der die Keuschheit der Ausnahme nicht selbstvernichtend ins Leere laufen lässt, sondern diese normiert: Wehe dem, welcher auf diese Art einsam ist! Er ist vom ganzen Dasein verlassen, jedoch nicht ohne Wegleitung; denn jeglichen Augenblick beschwört eine geängstete Erinnerung, in der alle Leidenschaft des Mitgefühls verzehrend lodert, in ihm Bilder von dem Elend der Vernichteten, und jeden Augenblick kann das Plötzliche mit seinem Schrecken über ihn kommen. (SL – 189)

Psychologisch richtig, heißt es voranstehend, bildet man mit diesem Sachverhalt die Katastrophe über Faust, der, weil er »reiner Geist« sein will, der Sinnlichkeit letztlich erliegt. Die möglicherweise berechtigte Ausnahme, die ja auch »reiner Geist« sein will, aber darüber nicht zu vergessen hat, dass sie auch Mensch ist, hat allerdings gegenüber Faust auf der einen Seite ihre eheliche Verbindung in der Hand, welche ihr hinreichend »Welt« infiltriert, um sich nicht den Vorwurf gefallen lassen zu müssen, unberechtigt um das Allgemeine herumgegangen zu sein, und welche in ihrem gleichzeitigen der Welt Entschwinden auf der anderen Seite ein Gottesverhältnis setzt. Diese geModulationen der Einsamkeit

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ängstete Erinnerung, die nach dem Bruch mit dem Allgemeinen bleibt, und Verbindlichkeiten erster Ordnung selbstreferentiell ummünzt, ist der konservierte ursprüngliche erotische Eindruck, ohne dessen implizite Verbindlichkeiten nichts geht und der hier ganz allgemein religiös ausgedeutet wird. 72 Dem Entschwinden dieser Welt, das als eine Mortifikation des Lebenswillens vorzustellen ist, korrespondiert der Anblick der Vernichteten, der »Ermordeten«, der als solcher die Richtung weisen soll, weil in ihm alle Leidenschaft des Mitgefühls verzehrend lodert. Aber gerade letzteres, hier von Wilhelm positiv als Wegleitung beschriebene umfängliche Lodern der Leidenschaft des Mitgefühls ist ein Manko, das die Ausnahme bindet an das, wovon sie erlöst werden will, da sie sonst ausbrennt, ohne neues Leben gestiftet zu bekommen. Diese Schranke des Bewusstseins ist dem weltlichen Standpunkt Wilhelms wesentlich, und Kierkegaard bedeutet indirekt ihren Mangel, indem er Wilhelm glauben lässt und in den Mund legt, die Leidenschaft des Mitgefühls sei Wegleitung, während sie – im Gegenteil – der Grund für die Verlassenheit vom ganzen Dasein ist, die absolute Komprimierung, nicht der Zerfall der Isolation. 73 Auf diesen Punkt wird der sein Experiment überschauende Frater Taciturnus nachdrücklich seinen Finger legen, indem er vom Begriff der »Reue« eine Grundlegung des »Selbst« in Gott erwartet, wodurch es aus den Zwängen und verzweifelten Dynamiken menschlichen Mitleids und den damit zusammenhängenden innerweltlichen Verstrickungen freigeschlagen werden soll. Inwieweit er auch noch für die christliche Philosophie von Gewicht bleibt, kann hier nicht geklärt werden. Es soll lediglich der Verdacht geäußert werden, dass Kierkegaard Schwierigkeiten hat, begrifflich plausibel den heidnischen Eros von ausschließlich christlicher Liebe zu unterscheiden; nur die unterschiedene Darstellung jedenfalls (die etwa in der Polarität Climacus vs. Anti-Climacus zum Ausdruck gebracht wird, während Ersterer die Liebe innerhalb eines Stufenleiter-Modells und einer Zuspitzungsdynamik à la Platon fasst und sein Antipode Liebe darstellerisch paradox bricht) macht keinen Unterschied in der Sache, könnte man als Einwand formulieren (vgl. zu dieser Kritik auch Adornos Erste Beilage zu Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, Kierkegaards Lehre von der Liebe (2003), S. 217–239 und McDonalds (2003)). 73 Die Tatsache der Verlassenheit ›vom ganzen Dasein‹ wird durch den entsprechenden Affekt der Verlassenheit zum Ausdruck gebracht, dem »Mitgefühl«, das hier nicht mehr bzw. nur noch in einer aporetischen Inversion die positive Bedeutung hat, die in Entweder – Oder noch als umfängliches und inklusives Humanitätsgefühl gesetzt wurde. 72

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II.2.4.1.2 Nietzsche Es ist bei der Besprechung der Unterscheidung der Sinnlichkeit, wie sie Kierkegaard in Stadien vertieft denkt, um sein Ausnahmetheorem verbindlich in die religiöse Sphäre zu öffnen, zuletzt aufgegangen, wie die Ausnahme, soll sie sich berechtigen, durch die Forderungen des Allgemeinen – »Mitgefühl« – gewissermaßen auszehrt bzw. ausgezehrt wird. Auch für Nietzsche wird die Ausnahme bedingt – im Guten wie im Bösen – durch Mitgefühl. Bevor dieser Sachverhalt näher ausgelotet wird mit seiner Tendenz zur Selbstaufhebung des Ausnahmetheorems als eines Theorems der Verlassenheit, welche Eigenschaft ihm wesentlich zukommt aufgrund der Frage nach der Bedeutung von Ausnahme überhaupt, soll nun im Falle Nietzsches genauer hingesehen werden, wie er innerhalb seines umwertungsorientierten Ausnahmetheorems »Sinnlichkeit« unterscheidet. Es wurde gesehen, dass Wilhelms drohende Umschreibung der einsamen Sinnlichkeit in ihrer Metaphernauswahl – die Ausnahme wäre ein Empörer wider das Irdische und »die Sinnlichkeit, welche bei freundwilligem Einvernehmen mit dem Geistigen Stab und Stütze ist, ebenso wie die Zeit es ist«; diese allerdings hat sich die Ausnahme »zur Feindin gemacht«, wobei damit die »Sinnlichkeit« zur »Schlange« wurde und »die Zeit zum Augenblick des bösen Gewissens« (SL – 189) – nah an die Bilder heranreicht, die Nietzsche seinem Zarathustra in Von der schenkenden Tugend in den Mund legt. Erinnert man sich hier am Rande, wie Nietzsche die Entstehung der »Seele« und des »schlechten Gewissens« in Zur Genealogie der Moral fasst, dann dürfte für die bilderwütige Sprache und Setzung unvordenklicher Ereignisse als wirklicher Geschichte in Genealogie vor allem eines der Erkenntnisantrieb gewesen sein: Selbstbeobachtung in Einsamkeit. So heißt es etwa im § 16 der zweiten Abhandlung aus Genealogie zum »Ursprung des ›schlechten Gewissens‹«: Ich nehme das schlechte Gewissen als die tiefe Erkrankung, welcher der Mensch unter dem Druck jener gründlichsten aller Veränderungen verfallen musste, die er überhaupt erlebt hat, – jener Veränderung, als er sich endgültig in den Bann der Gesellschaft und des Friedens eingeschlossen fand. […] Ich glaube, dass niemals auf Erden ein solches Elends-Gefühl, ein solches bleiernes Missbehagen dagewesen ist, – und dabei hatten jene alten Instinkte nicht mit Einem Male aufgehört, ihre Forderungen zu stellen! Nur war es schwer und selten möglich, ihnen zu Willen zu sein: in der Hauptsache mussten sie sich neue und gleichsam unterirdische BefriediModulationen der Einsamkeit

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gungen suchen. Alle Instinkte, welche sich nicht nach Aussen entladen, w e n d e n s i c h n a c h I n n e n – dies ist das, was ich die Ve r i n n e rl i c h u n g des Menschen nenne: damit wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine ›Seele‹ nennt. Die ganze innere Welt, ursprünglich dünn wie zwischen zwei Häute eingespannt, ist in dem Maasse aus einander- und aufgegangen, hat Tiefe, Breite, Höhe bekommen, als die Entladung des Menschen nach Aussen gehemmt worden ist. (GM – 321 f.) 74

»Genealogie« ist bei Nietzsche ein Forschungsprojekt, dass sich äußerlich durch historische Ereignisse mit einiger Evidenz behaupten kann, aber vor allem auf vertiefter Selbstbeobachtung beruht und Innendynamiken des eigenen Erlebens mit suggestiver 75 Rhetorik auf geschichtliche Stationen p r o j i z i e r t , also bildnerisch wirklich werden lässt, auf unvordenkliche Ereignisse (die Entstehung der Seele etwa) und pseudokonkrete Geschicke (die gewaltvolle Domestizierung eines Tiers, aus der sich der Mensch ergibt). 76 Nietzsches Moralkritik Zittel (1995), S. 51–56 analogisiert überzeugend in einem Exkurs »Nietzsches Theorie der Selbstzerstörung der Kultur durch Vertiefung der Grausamkeit seitens ihrer Mittel« mit Sigmund Freuds Gedanken aus Das Unbehagen in der Kultur. Man kann diesem Vergleich ein philosophisches Mehrgewicht geben dadurch, dass man mit Foucault und Sennett diese Verbindung eigens auf ihre diskursiven Entstehungsbedingungen durchleuchtet und also perspektiviert. »Eine Machtbeziehung ist in diesen [genetisch mit »christlicher« Weltauslegung konspirierenden und die Einsamkeit der Differenz konstituierenden, R. R.] Knoten aus Wahrhaftigkeit, Sexualität und persönlicher Selbsterkenntnis hineingeknüpft. Der Knoten ist so verwickelt, daß die Person eine äußere Autorität braucht, um ihn aufzuräufeln: der Christ beichtet dem Priester, wir gehen zum Arzt. Nicht zur Stützung der Sexualrepression ist die viktorianische Medizin zu den christlichen Wurzeln der Kultur zurückgekehrt, sondern zur Bestätigung der psychologischen Wichtigkeit, die der Erkenntnis seiner selber vermittelst des Rates und der Kontrolle eines anderen, mehr wissenden Menschen zugeschrieben wird.« (Foucault/Sennett (2000), S. 52) Den Aufsatz beschließt Sennett, eine moralkritische Grundfigur Nietzsches in die Postmoderne verlängernd, wie folgt: »Die Privilegierung des Begehrens ist eine christliche Erbschaft. Wir sind heute längst nicht fähig, mit dem fertig zu werden, was wir geerbt haben.« (Ebd., S. 53) 75 Nietzsche hält sich die Einschätzung Taines – »infiniment suggestif« –, die dieser dem Autor gegenüber äußerte, bemerkenswerterweise zugute (vgl. die Briefe an Franz Overbeck vom 27. Oktober 1886 (KSB 7, Nr. 769 – S. 272) und vom 12. Februar 1887 (KSB 8, Nr. 798 – S. 21). 76 In diesem Sinne zitiert Stegmaier (2012) – um seine Anti-Lehre-Konzeption erneut zu festigen – ein Nachlasswort, das als eine komprimierte psychologische Selbsteinschätzung des Philosophen gedeutet werden darf. »Ich habe[, so Nietzsche, R. R.] diese starken Gegen-Begriffe nöthig, die L e u c h t k r a f t dieser Gegen-Begriffe, um in jenen Abgrund von Leichtfertigkeit und Lüge hinabzuleuchten, der bisher Moral hieß.« (zitiert nach Stegmaier (2012), 17 f.) 74

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hat, das kann man heute nüchtern abwägen, vor allem auch existentielles Interesse für den sie Entwerfenden. 77 Nietzsches den Geist einer Epoche unendlich vielschichtig mitreißendes Genealogie-Projekt bezieht – lässt sich mutmaßen – seine zugleich abstoßende und anziehende, quasi erotische Kraft aus Erfahrungen, wie sie von Constantins Ausnahmetheorem abstrakt systematisiert wurden, ohne dass sie – wie bei Nietzsche – textlich ›angewandt‹ wurden und dem verbunden bleiben, das sie gerade diffamieren, bloßstellen wollen. 78 Nietzsche hat für diese Institution immerhin einen ausnahmetheoretisch bedenkenswerten Scherz übrig, wie die Sentenz Aristoteles und die Ehe vermittelt: »Bei den Kindern der grossen Genie’s bricht der Wahnsinn heraus, bei den Kindern der grossen Tugendhaften der Stumpfsinn – bemerkt Aristoteles. Wollte er damit die Ausnahme-Menschen zur Ehe einladen?« (M – 204) Angesichts solcher pointierten Phrasen darf nicht übersehen werden, dass auch Nietzsche vor allem in Zarathustra »Ehe« als Metapher für gelingendes Lieben/Leben inszeniert. 79 Für Nietzsche übernimmt das utopisch anMichel Foucault und Richard Sennett exponieren »Einsamkeit« als den Begriff einer spezifisch christlichen Selbstkonstitution und unterscheiden diese von einer heidnischen, »geselligen« und politischen Selbstauslegung, wobei sie hierfür Texte von Augustinus und Artemidor gegenüberstellen, in denen Selbsterfahrungen in Träumen thematisch sind (vgl. Foucault/Sennett (2000), S. 40–45). Nietzsche selbst gibt zu diesem Projekt in einem kleinen Aphorismus mit dem Titel Wer ist denn je allein! den entscheidenden Wink: »Der Furchtsame weiss nicht, was Alleinsein ist: hinter seinem Stuhle steht immer ein Feind. – Oh, wer die Geschichte jenes feinen Gefühls, welches Einsamkeit heißt, uns erzählen könnte!« Vgl. hierzu Saar (2007), der diesen Verbindungen bezogen auf die moderne Subjektkonstitution nachgeht. 78 Sommer (2005) lässt es, in einem anderen Kontext mit demselben Befund hadernd, vorsichtig offen, ob Nietzsche diese Selbstverstrickungen bewusst vorführt oder ob er ihnen erliegt (hier vor allem S. 143–145). 79 Hier muss beispielsweise an Die sieben Siegel. (Oder: das Ja- und Amen-Lied.) gedacht werden, in dem sich Zarathustras Werdegang feierlich beschließt und jeder der sieben Abschnitte der »Ehelichung« der Ewigkeit so besiegelt wird: »[O]h wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach dem hochzeitlichen Ring der Ringe, – dem Ring der Wiederkunft! / Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, es sei denn dieses Weib, das ich liebe: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit! / D e n n i c h l i e b e d i c h , o h E w i g k e i t !« (Z – 287) Außerdem wäre zu denken an das dezidiert umwertungsorientierte Kapitel Von den drei Bösen, in dem »Wollust«, innermenschlich abgegrenzt, aufgewertet wird, wobei – analog zum Wilhelm der Stadien – »Ehe« als Metapher zur Überbietung ihrer rein biologischen Seite verwendet wird: »Wollust: für die freien Herzen unschuldig und frei, das GartenGlück der Erde, aller Zukunft Dankes-Überschwang an das Jetzt. / Wollust: nur dem Welken ein süsslich Gift, für die Löwen-Willigen aber die grosse Herzstärkung, und 77

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gelegte Konzept der »Freundschaft« 80 einen vergleichbaren Rang wie die Ehe bei Kierkegaard. Dabei fällt auf, dass Nietzsche, zumal sein Zarathustra, ein großes Faible für ungewöhnliche Menschen hat. Es fehlt unter den Europäern von Heute nicht an solchen, die ein Recht haben, sich in einem abhebenden und ehrenden Sinne Heimatlose zu nennen, ihnen gerade sei meine geheime Weisheit und gaya scienza ausdrücklich an’s Herz gelegt! Denn ihr Loos ist hart, ihre Hoffnung ungewiss, es ist ein Kunststück, ihnen einen Trost zu erfinden – aber was hilft es! (FW – 628)

Dieses Zitat stammt aus dem 5. Buch von Die fröhliche Wissenschaft, ist aus der Perspektive dieser Arbeit bereits ein rekapitulierend-reflektierender Rückblick auf bereits Geschaffenes, Erfundenes. Bereits im Aphorismus Auf die Schiffe! aus dem vierten Buch derselben Schrift, also vor Zarathustra verfasst, heißt es programmatisch: Erwägt man, wie auf jeden Einzelnen eine philosophische Gesammt-Rechtfertigung seiner Art, zu leben und zu denken, wirkt – nämlich gleich einer wärmenden, segnenden, befruchtenden, eigens ihm leuchtenden Sonne, wie sie unabhängig von Lob und Tadel, selbstgenugsam, reich, freigebig an Glück und Wohlwollen macht, wie sie unaufhörlich das Böse zum Guten umschafft, alle Kräfte zum Blühen und Reifwerden bringt und das kleine und grosse Unkraut des Grams und der Verdriesslichkeit gar nicht aufkommen lässt: – so ruft man zuletzt verlangend aus: oh dass doch viele solche neue Sonnen noch geschaffen würden! Auch der Böse, auch der Unglückliche, auch der Ausnahme-Mensch soll seine Philosophie, sein gutes Recht, seinen Sonnenschein haben! Nicht Mitleiden mit ihnen thut noth! – diesen Einfall des Hochmuths müssen wir verlernen, so lange auch bisher die

der ehrfürchtig geschonte Wein der Weine. / Wollust: das grosse Gleichniss-Glück für höheres Glück und höchste Hoffnung. Vielem nämlich ist Ehe verheissen und mehr als Ehe, – / – Vielem, das fremder sich ist, als Mann und Weib: – und wer begriff es ganz, wie fremd sich Mann und Weib sind!« (Z – 237) 80 Vgl. hierzu bereits die Abschnitte II.1.2 und II.1.4.2. Der Aphorismus Was Alles Liebe genannt wird (FW – 386 f.) bringt den Sachverhalt schön auf den Punkt. Darin wird »Nächstenliebe« als ein sublimierter Drang nach Eigentum entlarvt und die erotische Liebe, von der die Ehe nicht ausgenommen wird, assoziiert mit Habsucht. »Freundschaft« wird dagegen als eine neue Möglichkeit ›reiner Liebe‹ entworfen. »Es giebt wohl hier und da auf Erden eine Art Fortsetzung der Liebe, bei der jenes habsüchtige Verlangen zweier Personen nach einander einer neuen Begierde und Habsucht, einem g e m e i n s a m e n höheren Durste nach einem über ihnen stehenden Ideale gewichen ist: aber wer kennt diese Liebe? Wer hat sie erlebt? Ihr rechter Name ist F r e u n d s c h a f t .« Wirkliche, gelingende menschliche Gemeinschaft, so ist die Überzeugung beider Philosophen, gibt es ›nur‹ reflexiv vermittelt – in Einsamkeit.

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Menschheit gerade an ihm gelernt und geübt hat – keine Beichtiger, Seelenbeschwörer und Sündenvergeber haben wir für sie aufzustellen! Sondern eine neue Gerechtigkeit thut noth! Und eine neue Losung! Und neue Philosophen! Auch die moralische Erde ist rund! Auch die moralische Erde hat ihre Antipoden! Auch die Antipoden haben ihr Recht des Daseins! Es giebt noch eine andere Welt zu entdecken – und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen! (FW – 529 f.)

Im Folgenden soll nun genauer hingesehen werden, wie gerade Zarathustra unter diesem Gesichtspunkt als eine Art Gebrauchsanleitung zum Kreieren eines Individual-Sonnensystems gelesen werden kann, wobei hier besonderes Augenmerk gelegt werden soll auf die »Umschaffung« des »Bösen« ins »Gute«. In diese naturgemäße – durch die Vollmacht der Sonne berechtigte – Umwertung des Bösen zum Guten fällt die Unterscheidung der Sinnlichkeit in sich, wobei Zarathustra als Figur vorgestellt werden muss, die den Maßstab zur Unterscheidung einer guten von einer schlechten Sinnlichkeit bzw. »Selbstsucht« in der Hand hat. Das geht aus seinen richtenden und proklamierenden Rückfragen an den Vereinsamenden hervor. In Von der Keuschheit, wo Nietzsche nicht zur Tötung, sondern zur Unschuld der Sinne rät, heißt es beispielsweise: Die Keuschheit ist bei Einigen eine Tugend, aber bei Vielen beinahe ein Laster. / Diese enthalten sich wohl: aber die Hündin Sinnlichkeit blickt mit Neid aus Allem, was sie thun. / Noch in die Höhen ihrer Tugend und bis in den kalten Geist hinein folgt ihnen diess Gethier und sein Unfrieden. (Z – 69)

Ganz analog heißt es dem »Jüngling« in Vom Baum am Berge gegenüber – die Dritte Konstitutionsgefahr aus Schopenhauer als Erzieher aufgreifend –: Aber nicht das ist die Gefahr des Edlen, dass er ein Guter werde, sondern ein Frecher, ein Höhnender, ein Vernichter. / Ach, ich kannte Edle, die verloren ihre höchste Hoffnung. Und nun verleumdeten sie alle hohen Hoffnungen. / Nun lebten sie frech in kurzen Lüsten, und über den Tag hin warfen sie kaum noch Ziele. / ›Geist ist auch Wollust‹ – so sagten sie. Da zerbrachen ihrem Geiste die Flügel: nun kriecht er herum und beschmutzt im Nagen. / Einst dachten sie Helden zu werden: Lüstlinge sind es jetzt. (Z – 53 f.)

Derlei Zitate ließen sich viele anknüpfen, festzuhalten gilt es Folgendes: beobachtet werden kann die Insistenz auf Güte via negationis; es gibt ein Seinsollendes im einsamen Umgang mit der Sinnlichkeit, das eingegrenzt wird durch die Schilderungen von Nichtseinsollendem, nur Sexuellem, das gleichzeitig nicht derart asketische Praktiken wieModulationen der Einsamkeit

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derholen darf, wie sie im Umfeld ›hinterweltlerischer‹ Selbst- und Weltauslegungen bedeutsam gemacht wurden. Es kann also festgehalten werden, dass, während bei Kierkegaard das Ausnahmetheorem dadurch finalisiert wird, dass das Allgemeine von der Ausnahme fordert, in keinem Punkt das »Eheleben« zu unterbieten und die Verbindlichkeiten, die es materiell nach sich zieht, ideell zu reduplizieren, bei Nietzsche in Analogie dazu versucht wird, die Sinnlichkeit des Ausnahme-Menschen derart zu sublimieren, dass die Früchte seines Tuns dem Allgemeinen letztlich etwas zu bedeuten haben, insofern sie aus der exzentrischen Position, nachdem sie unter ihren spezifischen Bedingungen gedeihen konnten, notwendig zurück in das Allgemeine ragen, um dieses vermittelt zu stützen. 81 Bevor vertiefter die Frage zu bedenken ist, woher beide Denker die Kriterien ihrer Unterscheidung beziehen, womit auf das Engste zusammenfällt die Frage nach der Bedeutung von asketischen Idealen und die Frage nach dem Subjekt der Ausnahme (wer berechtigt sie?), soll zu Zwecken des Kontrasts (opposita juxta se posita magis elucescunt) knapp Schopenhauers Metaphysik der Geschlechtsliebe analysiert werden, insofern dadurch sehr schön – rückblickend und vorausschauend – anschaulich wird, in welchem Sinne Kierkegaard und Nietzsche der schopenhauerischen Unterscheidung von »Liebe« in Eros und Agape widersprechen und vor allem: wie sich ihre »Liebe« dagegen vernimmt.

II.2.4.2 Zum Kontrast: Schopenhauers Metaphysik der Geschlechtsliebe Es wurde gezeigt, wie sowohl Kierkegaard als auch Nietzsche ihr exemplarisches Denken gegenwartskritisch motivieren. Die für die ethische Orientierung des Menschen desaströse Absorption der hegelschen Spekulation durch Feuerbachs Anthropologie wurde bereits benannt. Auch sprang Nietzsches Polemik gegen den Positivismus ins In Jenseits heißt es entsprechend polemisch gegen die Engländer als Denker der Regel: »Es wäre ein Irrthum, gerade die hochgearteten und abseits fliegenden Geister für besonders geschickt zu halten, viele kleine gemeine Thatsachen festzustellen, zu sammeln und in Schlüsse zu drängen: – sie sind vielmehr, als Ausnahmen, von vornherein in keiner günstigen Stellung zu den ›Regeln‹. Zuletzt haben sie mehr zu thun, als nur zu erkennen – nämlich etwas Neues zu s e i n , etwas Neues zu b e d e u t e n , neue Werthe d a r z u s t e l l e n !« (JGB – 196 f.)

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Auge. Aus systematischer Perspektive ist eine andere Parallele, wie die Passagen aus dem Zarathustra außerdem zeigten, von einiger Bedeutung: Arthur Schopenhauer, der zu diesem Zeitpunkt allerdings von Kierkegaard allem Anschein nach noch nicht näher studiert wurde, 82 reißt »Liebe«, die bei Kierkegaard und Nietzsche als sinnliche und geistige produktiv verzahnt wird, in seiner Metaphysik der Geschlechtsliebe, welche im Anhang seines Systems einer Welt als Wille und Vorstellung steht, buchstäblich in zwei Hälften, die unvermittelt auseinander zu klaffen scheinen: neben dem animalischen Willen zum Leben als Geschlechtstrieb läuft parallel die Mitleidsethik, ohne dass beide (das scheint mit jener »Pointe des Ethischen« gemeint zu sein) als Aufgabe für die Welt fruchtbar gemacht werden könnten. Schopenhauer kann dabei seinem Selbstverständnis nach sowohl den Sinn von Eros als auch von Agape systematisch eindeutig ausweisen. Schopenhauer kennt also innerhalb seines Systems der Welt als Wille und Vorstellung zwei qualitativ unterschiedene Begriffe von Liebe, die ihrem idealen Begriff nach keine semantische Schnittmenge haben: neben dem Mitleid (Caritas) gibt es die Liebe als »Verliebtheit«, deren materielle Basis die Geschlechtsliebe ist, welche innerhalb des principium individuationis befangen und wesentlich auf den Erhalt der Gattung ausgelegt ist. In den verschiedenen Graden der Verliebtheit fordert der Genius der Gattung seinen Tribut zur Erhaltung seines Wesens. Schopenhauer inszeniert sich im Kapitel 44 des Vierten Buchs von Die Welt als Willen und Vorstellung selbstbewusst als den Entdecker einer neuen Thematik, einer Metaphysik der Geschlechtsliebe, die allen großen Philosophen vor ihm, die sich zum Thema der Verliebtheit geäußert haben – Schopenhauer nennt Platon, Rousseau, Kant, Platner und Spinoza – entgangen ist. Seine leitende These ist: »[A]lle Verliebtheit, wie ätherisch sie sich auch gebärden mag, wurzelt allein im Geschlechtstriebe, ja ist durchaus nur ein näher bestimmter, spezialisierter, wohl gar im strengsten Sinn individualisierter Geschlechtstrieb.« 83 Wenn man mit Schopenhauer weiter fragt, woher »Verliebtheit« eine dermaßen alle gesellschaftlichen Verhältnisse durchdringende Kraft hat, die vernünftigsten Köpfe und Veranstaltungen des öffentlichen Lebens nasführt und diVgl. zu Kierkegaards Schopenhauer-Rezeption die Darstellungen bei Cappelørn (2012). 83 Schopenhauer (1996), S. 681. 82

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rigiert, wenn man sich fragt: »Wozu der Lärm? Wozu das Drängen, Toben, die Angst und Not?«, 84 dann enthüllt dem ernsten Forscher […] allmälig der Geist der Wahrheit die Antwort […] [;] was dadurch entschieden wird, ist nichts Geringeres als die Zusammensetzung der nächsten Generation. Die ›dramatis personae‹, welche auftreten werden, wann wir abgetreten sind, werden hier ihrem Dasein und ihrer Beschaffenheit nach bestimmt durch diese so frivolen Liebeshandel. 85

Schopenhauer inszeniert sich hier als einsamen Entdecker einer neuen Wahrheit und überlagert mit rhetorischem Raunen – um den merkwürdigen salto mortale zwischen den Generationen hier einmal dahingestellt sein zu lassen – einen banalen Sachverhalt. Schopenhauers zweifaches Argument – Verliebtheit ist der Ausdruck individualisierten Geschlechtstriebs + ›dadurch‹ wird die nächste Gattung zusammengesetzt – oszilliert zwischen einer latent normativen und einer deskriptiven Haltung. 86 Weder Platon, Rousseau, noch Kant dürfte entgangen sein, dass durch den Geschlechtsakt sich die nächste Gattung reproduziert; und doch wird gerade dieser verhältnismäßig triviale Sachverhalt von Schopenhauer als die zentrale Einsicht formuliert. Dass Schopenhauer womöglich mehr sagen will, insofern er die konkreten Individuationen im Blick hat, ist bezogen auf die StrukEbd., S. 682. Ebd., 682 f. 86 Michel Foucault stellt in seinem Werk Der Wille zum Wissen die zum 19. Jahrhundert etablierten »Diskurse über die menschliche Sexualität« der »Physiologie der tierischen und pflanzlichen Fortpflanzung« gegenüber und ist überrascht über die »Phasenverschiebung«. Erstere entbehren, wie er beobachtet, »jeder elementaren Rationalität«. »Während des gesamten 19. Jahrhunderts scheint der Sex in zwei sehr verschiedene Register eingetragen zu sein: einer Biologie der Fortpflanzung, die sich durchgehend gemäß der wissenschaftlichen Normativität entwickelt hat, und einer Medizin des Sexes, die ganz anderen Formationsregeln gehorchte. Zwischen beiden gab es weder einen wirklichen Austausch noch eine gegenseitige Strukturierung; die erste hat für die zweite höchstens die Rolle einer abgelegenen und ziemlich fiktiven Garantie gespielt: eine umfassende Bürgschaft, unter deren Obhut sich moralische Hemmungen, ökonomische und politische Optionen und alle überkommenen Ängste wieder in ein wissenschaftlich klingendes Vokabular einschreiben konnten.« (Foucault (1983), S. 58) Es ist – angesichts dieser Perspektivierung – gewiss kein Zufall, dass Foucault bald darauf Verse zitiert, die Schopenhauer seiner Metaphysik der Geschlechtsliebe voranstellt, und diese nach Schopenhauers Werk zitiert (vgl. ebd., S. 80 f.). Am Rande sei hier noch vermerkt, dass Nietzsche im 27. Abschnitt der dritten Abhandlung von Genealogie den Willen zur Wahrheit als esoterische Essenz des asketischen Ideals entlarvt, wobei im Sich-über-sich-bewusst-Werden dieses Willens die orientierende Bedeutung des Letzteren nachhaltig untergraben wird. 84 85

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tur seiner Argumentation nebensächlich. Interessant ist hier, mit welchen Assoziationen Schopenhauer das Gefühl der »Verliebtheit« konnotiert: ihr korrespondieren Lärm, Drängen, Toben, Angst und Not; und das ist höchst kontraintuitiv. 87 Dass man – biologistisch argumentierend – behaupten kann, dass Verliebtheit ein Zeugnis der Lust der Natur ist, sich durch ihre mannigfaltigen Gattungen und Exemplare zu erhalten, mag dahingehen, wenn man diesen Rausch der Möglichkeit entromantisieren will und sein materielles Ergebnis allein im Blick hat. Dass allerdings im selben Atemzug behauptet wird, Verliebtheit sei Lärm, Drängen, Toben, Angst und Not, ist ein moralisierendes Substitut eines wesentlich in der Erscheinungswelt beheimateten Sachverhalts – dass Verliebtheit Lust, Verheißung, Hoffnung, Glück bedeutet –, der als solcher nicht schlicht innerhalb dieser Erscheinungswelt durchgestrichen werden kann. An diesem sehr einfachen Sachverhalt kann man sehen, mit welchen Kartenspielertricks Schopenhauer sein System einer Welt als Wille und Vorstellung zu plausibilisieren sucht: In der Welt der Vorstellung wird der Sachverhalt der Verliebtheit gesetzt, dem auf der Ebene des Willens der individualisierte Geschlechtstrieb entspricht. Dieser für den in der Scheinwelt befangenen Mitspieler überraschende Befund und Augenöffner (der Gegner scheint ein gutes Blatt in der Hand zu halten!), der unwillkürlich für einen Moment ein beschämtes Starren in die Leere nach sich zieht, wird dann genutzt, um die gelegte Karte mit einer anderen zu vertauschen: Verliebtheit = Lärm, Angst, Toben etc. Ein beschämendes »Das ist so« wird ersetzt durch ein richtendes »Das ist schlecht« – und die auf der Hand liegenden Karten (stets vom normativen Leitsatz imprägniert: die Welt ist die schlechteste aller möglichen, der sich in der vermeintlich trostlosen Wirklichkeit der Gattungsreproduktion spiegeln soll) können nun gediegen ausgespielt werden, obwohl sie in der Welt der Erscheinung ihrer Entsprechung entbehren. Anhand eines letzten Zitats aus Metaphysik der Geschlechtsliebe kann man den Gegensatz der Positionen klar benennen.

Eine analog kontraintuitive, allerdings bedenkliche Beobachtung Schopenhauers findet sich in der These, dass »Menschenliebe« ursprünglich dem Mitleid sich verdankt, während »Mitfreude« als Kriterium für jene von Schopenhauer ausgeschlossen wird; ein glücklicher Mensch, so heißt es bei ihm, bleibe unserem Herzen fremd (vgl. zur Darstellung und Kritik dieser Einschätzung Hamburger (1985), S. 19).

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Wenn wir nun vom Standpunkte dieser letzten Betrachtungen aus in das Gewühl des Lebens hineinschauen, erblicken wir alle mit der Not und Plage desselben beschäftigt, alle Kräfte anstrengend, die endlosen Bedürfnisse zu befriedigen und das vielgestaltige Leiden abzuwehren, ohne jedoch etwas anderes dafür hoffen zu dürfen als eben die Erhaltung dieses geplagten, individuellen Daseins eine kurze Spanne Zeit hindurch. Dazwischen aber, mitten in dem Getümmel, sehn wir die Blicke zweier Liebenden sich sehnsüchtig begegnen – jedoch, warum so heimlich, furchtsam und verstohlen? – Weil diese Liebenden die Verräter sind, welche heimlich danach trachten, die ganze Not und Plackerei zu perpetuieren, die sonst ein baldiges Ende erreichen würde, welches sie vereiteln wollen, wie ihresgleichen es früher vereitelt haben. 88

Es kann dahingestellt bleiben, ob das Wesen dieser Welt Schopenhauers konspirierende Suggestionen teilt. Feststeht, dass Schopenhauers moralisierende 89 Lebensanschauung vorgibt, die Wahrheit über Eros zu wissen. Aus diesem wird in Schopenhauers System – die Existenz einer reinen Liebe voraussetzend – der Asket entwickelt als Inbegriff gelingenden Lebens. Die Askese im System 90 bedeutet Schopenhauer (1996), S. 718. Schopenhauer war trotz seines ausgesprochen aufgeklärten Atheismus davon überzeugt, dass die Welt sittlich geordnet ist (vgl. hierzu ausführlicher etwa Schmidt (1996), S. 25). Indirekter Ausdruck dieser Überzeugung ist Schopenhauers negative Auffassung des Eros, die bei Nietzsche in der Großthese nachhallt, dass das Christentum Eros Gift zu trinken gegeben hätte, wobei dieser daran zwar nicht starb, aber zum Laster entartete (vgl. JGB – 102). 90 Vgl. zu dieser Auseinandersetzung Kierkegaards mit Schopenhauer Schwab (2005). Schwab weist auch, wie es hier geschieht, darauf hin, dass Kierkegaards ideale Kritik an Schopenhauer lange vor seiner wirklichen Auseinandersetzung mit Schopenhauer sich vollzieht und die Argumente ad hominem durchgängig sachlich motiviert sind (vgl. ebd., S. 328, S. 333). Schwab sieht die sachliche Kritik Kierkegaards zugespitzt in der Tatsache, »dass Schopenhauer überhaupt einer Form des Existenzvollzugs einen Ort im System zuweist« (ebd., S. 336). Schwab trifft damit ohne Zweifel eine zentrale Pointe, womit für ihn der Fokus auf den Mitteilungsaspekt gelegt wird: Schopenhauers Philosophie, als System dargestellt, entbinde von der Möglichkeit der Aneignung von Askese. Der Teufel steckt allerdings im Detail. Die Tatsache, dass Kierkegaard nicht vom »Asketen im System« spricht, sondern von der »Askese usw.« zeigt an, dass Kierkegaard vor allem irritiert ist vom Willen zum Wissen in Sachen Sexualität. Schopenhauer »weiß«, was Askese bedeutet; das zeigt Metaphysik der Geschlechtsliebe, und dagegen begehrt Kierkegaard vor allem auf. Es steht die Frage der Bedeutung von »Liebe« auf dem Spiel. Entsprechend polemisiert Nietzsche im 268. Abschnitt von Jenseits gegen den zur Debatte stehenden »Genius der Gattung«: »Die Furcht vor dem ›ewigen Missverständnis‹ : das ist jener wohlwollende Genius, der Personen verschiedenen Geschlechts so oft von übereilten Verbindungen abhält, zu denen Sinne und Herzen rathen – und n i c h t irgend ein Schopenhauerischer 88 89

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für Kierkegaard wie für Nietzsche das Wegschneiden der esoterischen Essenz von Askese überhaupt, welche von beiden Denkern auf dem idealen Höhepunkt ihres Werks performativ umrissen wird.

II.2.4.3 Zusammenfassung und Übergang Eingangs konstatierte Wilhelm ausgehend von der Frage nach dem »Menschen« als einem an die Sinnenwelt gebundenen Geistwesen eine moderne Renaissance der Verschmähung der Ehe aufgrund einer Gewaltsamkeit des Geistes, einer aufgeblasenen Intellektualität, wobei er dessen empirische »Messbarkeit« angelegt sah in einer Vergötterung des Fleisches bei gleichzeitiger Verdrängung der Endlichkeit individueller Existenz, einem pikiert-vornehmen Abtun der Tatsache des Sterbenmüssens. Diese Dialektik wurde ausgewiesen als eine Verkennung der Pointe des Ethischen, welche in der agonalen Wechselwirkung zwischen Sinnlichkeit und Geist zu sehen ist. Wilhelm forderte von der Ausnahme, »Ehemann« zu sein, womit eine Art verklärten Umgangs mit der einsamen Sinnlichkeit verbürgt sein sollte. Anschließend wurde Nietzsches Gegenwartsdiagnose in Sa-

›Genius der Gattung‹ –!)« Und das sich aus tiefsinniger Reflexion auf die Sprache ergebende Manifest zur Verkupplung von »ungewöhnlichen Menschen« hat mindestens etwas Rührendes: »Gesetzt nun, dass die Noth von jeher nur solche Menschen einander angenähert hat, welche mit ähnlichen Zeichen ähnliche Bedürfnisse, ähnliche Erlebnisse andeuten konnten, so ergiebt sich im Ganzen, dass die leichte M i t t h e i l b a r k e i t der Noth, dass heisst im letzten Grunde das Erleben von nur durchschnittlichen und g e m e i n e n Erlebnissen, unter allen Gewalten, welche über den Menschen bisher verfügt haben, die gewaltigste gewesen sein muss. Die ähnlicheren, die gewöhnlicheren Menschen waren und sind immer im Vortheile, die Ausgesuchteren, Feineren, Seltsameren, schwerer Verständlichen bleiben leicht allein, unterliegen, bei ihrer Vereinzelung, den Unfällen und pflanzen sich selten fort. Man muss ungeheure Gegenkräfte anrufen, um diesen natürlichen, allzunatürlichen progressus in simile, die Fortbildung des Menschen in’s Ähnliche, Gewöhnliche, Durchschnittliche, Heerdenhafte – in’s G e m e i n e ! – zu kreuzen.« (JGB – 222) Auch Grau (1963), S. 34–36 ist bereits auf die späte Auseinandersetzung Kierkegaards mit Schopenhauer aufmerksam, äußert allerdings prinzipielle Skepsis gegenüber der Berechtigung der Kritik Kierkegaards an Schopenhauer. Dem entgegen kann fruchtbar auf die jüngere Forschung zurückgegriffen werden, die besondere Aufmerksamkeit auf die Mitteilungsstrategien legt (vgl. exemplarisch Schwab (2012)) und somit jede »objektive« Lesart dieser Philosophien prinzipiell einschränkt, wobei dennoch und gerade dadurch die religiöse Substanz des Denkens gewahrt bleibt, sich nur eben nicht als positive behauptet, sondern indirekt erwirkt wird. Modulationen der Einsamkeit

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chen Sinnlichkeit-Geist-Verhältnis des Menschen betrachtet, so wie er sie paradigmatisch im Zarathustra formuliert. Stets noch eine Note unverblümter als Kierkegaard diffamiert Nietzsche seine denkenden Zeitgenossen als zur ›Unfruchtbarkeit‹ verdammt, indem deren ausgemergelter Geist nur als Wirklichkeit anerkennt, was – abgeschnitten von jeglicher Rückbindung an horizontstiftende Erfahrung – der Fall ist. Interessanterweise hielt Nietzsche diesen ›denkenden Fröschen mit kaltgestellten Eingeweiden‹ eine Haltung des Glaubens entgegen, die notwendig dem Erkennenden als Schaffendem eigen ist. Das Folgekapitel ging noch direkter zur Sache, indem es eine ›mondartige‹ von einer ›sonnenartigen‹ Erkenntnis unterschied, wobei erstere sich dadurch auszeichnete, den Erkenntniswillen von seiner Sinnlichkeit möglichst zu entkoppeln, was – wie ein ›nichtwollender Wille‹ – prinzipiell unmöglich ist, während es der Sinn letzterer war, aktiv, leidenschaftlich in das zu Erkennende einzugreifen. Vor diesem Hintergrund wurde zu Zwecken der Erhellung mittels Kontrast Schopenhauers Metaphysik der Geschlechtsliebe vorgestellt. Philosophiehistorisch ist es beachtlich, dass Kierkegaards Gegenwartsdiagnose einer »Gewaltsamkeit des Geistes«, einer »aufgeblasenen Intellektualität« mit allem Beiwerk der Verschmähung der menschlichen 91 Ehe, Menschenverachtung, Lieblosigkeit gegenüber dem Allgemeinen, was – innerhalb des kierkegaardschen Ethos gedacht – einem unberechtigten Sichausnehmen entspricht, auf Schopenhauers Vorstellung des Eros bezogen werden kann, obschon Kierkegaard Schopenhauer zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte. Nietzsches Auseinandersetzung mit Schopenhauer im Zarathustra ist dagegen eine manifeste Antiposition zum vermeintlichen Nein zum Leben seines Erziehers. Wäre die vorgeschlagene sachliche Oppositionierung, wie sie in den voranstehenden Kapiteln vollzogen wurde, stimmig, dann müsste sich für die Philosophie Schopenhauers zeigen lassen, dass er – mit Wilhelm zu reden – das Fleisch vergöttert hat bei gleichzeitiger Verschmähung des endlichen Körpers 92 durch seinen gewaltsamen Geist. Aber wo hätte gerade Schopenhauer das Fleisch vergöttert? Meta-

Es ist Thomas Bernhard, der im von Christa Fleischmann geführten Interview »Monologe auf Mallorca« den Ernst eines mit einem Pudel verheirateten Philosophen in Frage stellt. 92 Schopenhauer war bekanntlich der Überzeugung, dass das Wesen seiner alle zehn Jahre die Form wechselnden Gattin Atman sich im Grunde selbst gleich blieb. 91

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physik der Geschlechtsliebe bezeugt ja eindringlich, wie tief Schopenhauer allem Fleischlichen abhold war. Hier wollen Kierkegaard und Nietzsche allerdings Schopenhauer besser verstehen, als er sich selbst verstand. Schopenhauers Wüten gegen das Fleisch ist, so die These beider Entlarvungspsychologen, selbst Lust am Wüten, macht zu ihr nur verbal einen Unterschied, aber nicht der Sache nach. Diese These ragt in die psychologische, innerethische Kritik der Schopenhauerischen Auffassung des Mitleids hinein. Schopenhauers Mitleidsethik kann, so der späte Vorwurf Kierkegaards, verkappte, »schwermüthige[] Wollust, item ein tiefer M[enschen]haß usw.« 93 sein. Auch Zarathustra erwägt diese Möglichkeit im Kapitel Von der Keuschheit: »Ihr habt mir zu grausame Augen und blickt lüstern nach Leidenden. Hat sich nicht nur eure Wollust verkleidet und heisst sich Mitleiden?« (Z – 70) 94 Kierkegaard reizt aus und sprengt in Stadien die ausnahmetheoretische Form seines exemplarischen Denkens und öffnet dessen Anspruch in die Utopie des Einzelnen. Zunächst wird es mobilisiert gegen eine Form von Philosophie, welche die Güte ihres Begriffs nur auf dem Papier entscheidet, ›systematisch‹, ›spekulativ‹, in jedem Fall nicht persönlich involviert – so zumindest der offenbare Vorwurf. Der ungewöhnliche Mensch, der sich gegen die Ehe entschließt und sich – nach Wilhelm – in der höheren, religiösen Lebensform versucht, überträgt spekulative Prämissen in die Sphäre gelebten Lebens und unterläuft dadurch die durch die Spekulation in die Lebenswelt eindringende ›Ethikvergessenheit‹. Der »theozentrische Standpunkt« der hegelschen Spekulation, so die Pointe Wilhelms an dieser Stelle, entspricht auf einer rein abstrakten Ebene dem Betragen der Ausnahme, ohne dieses Denken an ein spezifisches Handeln zu knüpfen. Theozentrisch aber ist ja die Spekulation, und theozentrisch ist der Spekulant und theozentrisch ist die Theorie. Solange es damit sein Bewenden hat und der Theozentrische sich darauf beschränkt, dreimal wöchentlich nachmittags von 4–5 Uhr auf dem Katheder theozentrisch zu sein, im Übrigen aber Bürger, Ehemann und Schützenkönig ist wie ein gewöhnlicher Sterblicher, kann man nicht behaupten, daß die Zeitlichkeit übervorteilt werde; solch ein theozentrischer Abstecher dreimal wöchentlich, solch eine NebenCappelørn et al. (Hrsg.) (2012), S. 338. Die Darstellungen zur unterschiedenen Auffassung der »Liebe« bei Schopenhauer auf der einen und Kierkegaard und Nietzsche auf der anderen Seite müssen hier ›eingefroren‹ werden, da das Vergleichsmodell noch nicht hinreichend entwickelt wurde. Sie werden im Kapitel III.2 wieder aufgegriffen und durchgeführt.

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beschäftigung darf als weitere Folgen nicht habend betrachtet werden. / Macht man hingegen Ernst mit der Vergötterung der Intellektualität, hat der betreffende Mensch dämonische Idealität genug, um seine ganze Existenz entsprechend seinem experimentierenden Entschluß umzubilden […]. (SL – 178 f.) 95

Das Subjekt der Spekulation nimmt sich aus von der Forderung des Daseins, bietet in seinem quasigöttlichen Durchblick durch die Welt keine Antwort an bezogen auf die Frage, was der »Mensch« ist und wie er zu handeln hat. Der immanente, bedeutende Vorwurf Kierkegaards scheint es an dieser Stelle zu sein, dass, indem die spekulative Philosophie die Frage ›Wie soll ich mich verhalten, zum Beispiel angesichts des Bösen in mir?‹ ausblendet, ein nicht auszumerzendes Sinnbedürfnis des Menschen in der Welt, das ihm als Menschen notwendig zukommt, untergraben wird, was vermittelt gesellschaftlich desaströse Konsequenzen nach sich ziehen kann, insofern jene spirituelle Sphäre besetzt und instrumentalisiert werden kann durch Ideologeme jedweder Art. 96 Hier kann an die These W. Anz’ erinnert werden: »Kierkegaard mutet im Ernst der empirischen Subjektivität das zu, was Hegel mit Hilfe der transzendentalen Subjektivität des Geistes zu erreichen suchte: dem geschichtlichen Leben Sinn und Wahrheit zu schaffen …« (zitiert nach Grau (1963), S. 300) Es muss hier wiederum hervorgehoben werden: Es ist nicht Kierkegaard, der dies leistet, sondern Wilhelm als personifizierter Geist des Widerspruchs. In der Ausnahmetheorie Wilhelms wird – bei genauerer Lektüre ersichtlich – das Ausnahmetheorem als Theorem gegen die Wand gefahren, ad absurdum geführt. Vgl. hierzu II.2.5. 96 Es geht hier nach wie vor um die Suche nach dem adäquaten Ausdruck religiöser Lebensform. Dabei ist es ein spannender Sachverhalt, dass Kierkegaard radikale, gewaltsame gesellschaftliche Umbrüche mit einer Fehlbesetzung der religiösen Sphäre in Verbindung bringt. Wie Kant, und anders als Hegel, gingen Kierkegaard und Nietzsche davon aus, dass dem Menschen die »religiöse Sphäre« naturgemäß eigne. Und wird dieser Sphäre (und was aus ihr ethisch folgt) nicht angemessen begegnet oder zumindest der Versuch unternommen, ihr angemessen zu begegnen, so tendiert der Mensch zur (unter Umständen barbarischen Unterbietung) seines Wesens. Dem hypothetischen Zugeständnis Wilhelms: »Indes, sogar wenn es an dem wäre, daß die religiöse Abstraktion etwas Dahingeschwundenes, etwas Antiquiertes, etwas Überwundenes ist (letzteren Ausdruck verdankt man dem systematischen Beistand, welcher so freundlich ist, eine, wenn ich so sagen darf, ewige Generationsentwicklung zu verwechseln mit den Wiederholungen des Erlebten durch jede Generation) […]« (SL – 182) muss die Erwägung gegenübergestellt werden: »Daß ein solches Verhalten [das der unberechtigten Ausnahme, R. R.] eine religiöse Abstraktion ist, das ist durchaus wahr; minder wahr aber ist es, wenn man solch ein Verhalten für dermaßen veraltet hält, daß es überhaupt nicht mehr spuken könnte in einer Wiederholung. Das Religiöse hat offenkundig lange genug brach gelegen; beginnt es, sich mit idealer Energie 95

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Im Übergang zum letzten Kapitel der Verlassenheitszone soll der Befund zugeordnet werden, dass im exemplarischen Denken Kierkegaards und Nietzsches ›hier‹ eine neue qualitative Sphäre aufbricht, die in das Selbstverhältnis des Lebensvollzugs – obschon wesentlich unverfügbar – integriert werden muss, um jenem hier zur Debatte stehenden »Bösen« adäquat zu begegnen. Sinn und Zweck der Ausnahmetheorie Wilhelms ist es, den ungewöhnlichen Menschen als Form zu fassen, die den adäquaten Ausdruck für einen religiösen Existenzvollzug erprobt. Die religiöse Sphäre ist als eine qualitativ bestimmte vorzustellen. Ihre positive Umschreibung ist allerdings recht dünn. Jene »dämonische Idealität«, die sich im Betragen der Ausnahme austrage, soll die »ganze Existenz« des sich Ausnehmenden »umbilden« (SL – 179), er dürfe sich keine Interessen der Zeitlichkeit bewahren, er hat den Interessen der Welt vollständig zu »entschwinden« als ein »Auswanderer« (SL – 179). 97 Wilhelm unterscheidet die nicht näher bestimmte »religiöse Idee« von einer zu ihr aspirierenden »reinen Intellektualität« und hält fest, dass Letztere eine »ungeheure Abstraktion« sei, bei der eben nicht notwendig »die ferneste Andeutung einer religiösen Idee« (SL – 179) aufscheinen müsse, die den sich Ausnehmenden berechtigen würde. Entsprechend betont der Gerichtsrat hart, dass an diesem Untergang und Absturz in den selbst bereiteten Abgrund nichts wäre, was einen »Richter« veranlassen könnte, Mitleid zu haben und den selbstherrlich sich Ausnehmenden für nicht berechtigt zu erklären. Und genau ›hier‹ bricht im exemplarischen Denkens Kierkegaards zu regen, so ist es nicht verwunderlich, wenn es abermals fehlgreift.« (SL – 180) Feststeht, und mit diesem ethischen, lebensweltlich wirklichen Dilemma sehen sich Kierkegaard und Nietzsche konfrontiert: Beide Denker legen ihre religiöse Sphäre frei, indem sie existentielle Antinomien aufstellen, denen aus einer immanenten Perspektive auf die Moral prinzipiell nicht begegnet werden kann, indem sie gerade vom Widerspruch leben, den der ideal ausgereizte Begriff der Moral selbst bedingt. 97 Das Bild des Auswanderns wird schon in Furcht und Zittern inszeniert, um den das Allgemeine verlassenden Glaubensritter zu charakterisieren, der zwar durchaus um die Schönheit weiß, die es bedeutet, im Allgemeinen aufgehoben zu sein: »Aber er weiß zugleich, dass sich höher als dieses ein einsamer Pfad schlängelt, schmal und steil; er weiß, dass es entsetzlich ist, einsam aus dem Allgemeinen herausgeboren zu werden, zu gehen, ohne einem einzigen Wanderer zu begegnen.« (FZ – 265) Die Suspension des Ethischen also – die, begreift man sie allein anhand von Furcht und Zittern, als ein zeitlich begrenztes Ereignis vorgestellt werden muss – wird in Stadien der sich berechtigenden Ausnahme dauerhaft inkorporiert, aus welcher Überlastung sich die Utopie des »Einzelnen« ergibt. Modulationen der Einsamkeit

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eine neue qualitative Sphäre auf, die das Ausnahmetheorem als Theorem nicht mehr tragen kann. Man kann für einen experimentierenden Entschluss »eine Zeitlang« alles wagen, selbst sein Leben opfern, doch erhält man dadurch noch keine Berechtigung, »so wenig wie man auf gestohlen Gut gesetzlichen Anspruch erwirbt«. (SL – 179) Der sich derart Ausnehmende reizt den ihm haltlos erscheinenden Raum der Moral durch gesteigerte Willenskraft nur mehr aus als die meisten Menschen, kann aber keinen qualitativen Unterschied behaupten und leben. »Solch ein Mensch ist dann freilich in gewissem Sinne eine Ausnahme; Ausnahme ist er auch in dem Sinne, daß er als Dämon mehr Willenskraft hat denn der Durchschnitt der Menschen, welche, um mich dämonisch auszudrücken, es nicht so weit bringen, daß sie böse werden.« (SL – 179) »Jeder, wenn ich so sagen darf, in der Welt des Geistes einen Rang besitzende Einzelne besitzt Entschluß, und der Rang bestimmt sich gemäß dem Entschluß.« (SL – 180) 98 Es fällt auf, dass der hier verwendete Begriff von »Geist« nicht jener ist, der die positive Erfüllung religiöser Lebensform verbürgen soll. Die verdeckte Pointe des Ausnahmetheorems, wie es in Stadien formuliert wird, ist folgende: indem es an den sachlich vollkommen unterbestimmten Begriff »Geist« geknüpft wird, wird es um seine immanente Bedeutung gebracht. Und in Die Krankheit zum Tode kommt in diesem überbegrifflichen Raum eine neue Achse zum Tragen, die diesem Umstand Rechnung trägt. »Sünde« ist der Begriff, der in den Verzweiflungsanalysen von Die Krankheit zum Tode den innermenschlichen Unterschied, den durch verschiedene Intensitäten Nietzsche, vor allem nach dem Zarathustra, versucht, Maßstäbe für Rangordnungen zwischen ›Geistern‹ zu etablieren, wobei hier die nicht weiter zu beweisende These vertreten wird, dass Nietzsche damit die Früchte seines Bedenkens von »Ausnahme« und »Einsamkeit« bewusst (und immer deutlicher gewaltsam) politisieren will. Die Semantiken rund um den Begriff des »Rangs« sind in Jenseits Legion (vor diesen Hintergrund wiederum gehört dann die Einschätzung Nietzsches im Ecce Homo, die er seiner Schrift Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft unterlegt: »Die Aufgabe für die nunmehr folgenden Jahre war so streng als möglich vorgezeichnet. Nachdem der jasagende Theil meiner Aufgabe gelöst war, kam die neinsagende, n e i n t h u e n d e Hälfte derselben an die Reihe: die Umwerthung der bisherigen Werthe selbst, der grosse Krieg, – die Heraufbeschwörung eines Tags der Entscheidung. Hier ist eingerechnet der langsame Umblick nach Verwandten, nach Solchen, die aus der Stärke heraus zum Ve r n i c h t e n mir die Hand bieten würden. –« (EH – 350) Auch bei dem aus der Welt und für die Welt sprechenden Wilhelm, der wie gesagt den »Einzelnen« nur vorbereitet, gibt es einen Rang der Geistexistenzen, die sich durch die Intensitäten des Entschlusses gegen die Welt behaupten und damit innerweltlich unterschieden werden können. 98

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im Wollen erklommenen »Rang« der Verzweiflung zugleich trägt und als nebensächlich erweist. 99 Er balanciert damit die intrasubjektive Ausnahme-Allgemeines-Dialektik aus, indem der kleinste und der größte Mensch vor und von einem wesentlich nicht ausgenommen sind: ihrer Verantwortung vor Gott als der Qualität, die allein Maßstab für die Orientierung auf des Lebens Weg sein kann. Der »Einzelne« als utopischer Ausdruck des Gelingens von Existenz bedeutet dann die Suspension jener Dialektik, welcher von der Wirklichkeit der Bosheit prinzipiell nicht mehr tangiert wird. Sein Leben bzw. Geist ist allerdings nicht von dieser Welt, indem er nicht unmittelbar moralischen Kriterien genügt, womit hier nur gemeint ist, dass die Möglichkeit seiner philosophischen Benennung unmöglich wird. Auch im Zarathustra wird an entsprechender – die Form »Mensch« überspannender und sprengender – Stelle deutlich, dass es vor »Zarathustra« seiner apolitischen Bestimmung nach, und diese ist, wenn man so möchte, die Form seines neuen Wissens, dass es innerhalb der sozialdeterminierten Form »Mensch« keine Ausnahmen gibt, die vor »Zarathustra« etwas bedeuteten. Die entsprechende Stelle ist Der Genesende, wobei die Krankheit, von der sich Zarathustra hier erholt, der »Mensch« ist, an den sich seine Liebe band. Allmählich sich entbindend zum Buch für Alle und Keinen, heißt es, den Aufbruch einer neuen qualitativen Dimension negativ anzeigend: »Nackt hatte ich einst Beide gesehn, den grössten Menschen und den kleinsten Menschen: allzuähnlich einander, – allzumenschlich auch den Grössten noch.« (Z – 274) Die weltverklärende Seele Zarathustras wird also alle »großen Individuen«, Cesare Borgia, Napoleon und Co., kassieren, indem sie sich von den Dynamiken eines politischen Willens zur Macht in »einsamster Einsamkeit« zeitweilig entAnti-Climacus fasst diesen dialektischen Sachverhalt im Begriff »Sünde« wie folgt: »Die Lehre von der Sünde des Geschlechts ist oft mißbraucht worden, weil man nicht darauf aufmerksam war, daß die Sünde, obwohl sie für alle gemeinsam ist, die Menschen nicht in einen gemeinsamen Begriff zusammenfaßt, in Gesellschaft oder Kompagnie […]; sondern die Menschen in Einzelne aufspaltet und jeden Einzelnen als Sünder festhält, welche Aufsplitterung in einem anderen Sinne sowohl in Übereinstimmung mit der Vollkommenheit des Daseins ist als auch teleologisch in Richtung auf dieselbe. […] Es ist mit dem Menschsein nicht so wie mit dem Tiersein, wo das Exemplar immer weniger ist als die Art. Der Mensch zeichnet sich vor den Tierarten nicht nur durch den Vorzug aus, der gewöhnlich genannt wird, sondern qualitativ dadurch, daß das Individuum, der Einzelne, mehr ist als die Art. Und diese Bestimmung ist wieder dialektisch; sie bedeutet, daß der Einzelne Sünder ist, aber wiederum so, daß es die Vollkommenheit ist, der Einzelne zu sein.« (KzT – 162–165)

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koppelt. Und erst mit dem Aufbruch dieser neuen Sphäre wird dem Bösen menschlich adäquat begegnet. Nun aber liege ich da, müde noch von diesem Beissen und Wegspein, krank noch von der eigenen Erlösung. / U n d i h r s c h a u t e t d e m A l l e n z u ? Oh meine Thiere, seid auch ihr grausam? Habt ihr meinem grossen Schmerze zuschaun wollen, wie Menschen thun? Der Mensch nämlich ist das grausamste Thier. / Bei Trauerspielen, Stierkämpfen und Kreuzigungen ist es ihm bisher am wohlsten geworden auf Erden; und als er sich die Hölle erfand, siehe, da war das sein Himmel auf Erden. / Wenn der grosse Mensch schreit –: flugs läuft der kleine hinzu; und die Zunge hängt ihm aus dem Halse vor Lüsternheit. Er aber heisst es sein ›Mitleiden.‹ / Der kleine Mensch, sonderlich der Dichter – wie eifrig klagt er das Leben in Worten an! Hört hin, aber überhört mir die Lust nicht, die in allem Anklagen ist! […] Der Mensch ist gegen sich selber das grausamste Thier; und bei Allem, was sich ›Sünder‹ und ›Kreuzträger‹ und ›Büsser‹ heisst, überhört mir die Wollust nicht, die in diesem Klagen und Anklagen ist! / Und ich selber – will ich damit des Menschen Ankläger sein? Ach, meine Thiere, Das allein lernte ich bisher, dass dem Menschen sein Bösestes nöthig ist zu seinem Besten, – / – dass alles Böseste seine beste K r a f t ist und der härteste Stein dem höchsten Schaffenden; und dass der Mensch besser u n d böser werden muss: – / Nicht an d i e s s Marterholz war ich geheftet, dass ich weiss: der Mensch ist böse, – sondern ich schrie, wie noch Niemand geschrien hat: ›Ach dass sein Bösestes so gar klein ist! Ach dass sein Bestes so gar klein ist!‹ (Z – 273 f.)

Wohlgemerkt: die finale Zuspitzung formuliert Zarathustra angesichts seiner ›Tiere‹ ; so gesehen ist Zarathustra noch nicht bei sich. Erst wenn seine Tiere sich angesichts der »großen Stille«, die Zarathustra zuletzt umgibt, ehrfürchtig davonmachen, erfährt Zarathustra jene geräuschlose Selbstidentität, welche die Welt rechtfertigt, so wie sie ist.

II.2.5 Der Typus Morallehrer Das exemplarische Denken Kierkegaards und Nietzsches, das in dieser Studie als ethische Moralkritik vorgestellt wird, erfährt im Durchgang durch die Zone der Verlassenheit, dass die Orientierung des Menschen durch eine immanente Perspektive auf Moral – ideal vermessen und existentiell erprobt – nicht gelingt: hierfür steht das lebensweltlich reale Problem der Ausnahme. Dabei wird der Anspruch 282

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der Moral nicht einfach durchgestrichen, unbekümmert umgangen oder ignoriert, sondern vielmehr – um an die Adaption von Kants Taubengleichnis zu erinnern – als notwendiger und existentiell auszustehender Widerstand erfahren, durch dessen Überwindung die Ausnahme sich in ihr Element befördert. In diesem Kapitel sollen zwei Ziele erreicht werden. Zum einen soll gezeigt werden – wiederum mit Schopenhauer als philosophiegeschichtlichem Kontrapunkt –, wie Kierkegaard und Nietzsche das religiöse Ausnahmetheorem erzwingen durch die radikale Verschärfung ihrer nihilistischen Moralkritik. Der Argumentationsgang des folgenden Abschnitts löst sich von der engen Lektüre begrenzter Abschnitte und versucht, durch die Verknüpfung größerer systematischer Zusammenhänge den substantiellen ›Gipfel‹ der Werkentwicklung anschaulich zu machen. Daran anschließend soll ein Sachverhalt freigelegt werden, der bis hierher kaum thematisiert wurde, nämlich die Tatsache, dass die Figur Wilhelm von Kierkegaard ganz bedacht mit Selbstwidersprüchen gezeichnet wird, die sie selbst nicht erfährt. Die Insuffizienz der immanenten Perspektive auf Moral wird in die Thesen Wilhelms implementiert, ohne dass dieser sie zu Gesicht bekäme. Allein Quidam, der die lebendige Probe auf die ›Theorie‹ Wilhelms sein wird, erfährt diesen Widerspruch des immanent ethischen Standpunkts am eigenen Leibe, wobei Frater Taciturnus, der das Ganze überschauende Konstrukteur des Experiments, die fehlenden Größen zu benennen weiß. Überblickt man also die Darstellungen Wilhelms und was aus ihnen/auf sie folgt, so geht einem auf, wie aus den widersprüchlichen Forderungen Wilhelms eine existentiell-antinomische 100 Existenzform geronnen wird, aus deren Dramatik werkentwicklungslogisch der »Einzelne« hervorgeht. Kierkegaard ringt hier mit Problemen, die in struktureller Analogie zu Zarathustras durch das Kapitel Die stillste Stunde formalisierter, letzter Verlassenheit stehen. Der im Folgenden entwickelte Übergang von der Zone der »Verlassenheit« in das ätherische Element »einsamste Einsamkeit« wird fließend gestaltet; in dieser Studie geht es – wie abermals zu betonen ist – nicht um den Versuch, diesen begriffsutopischen Raum inhaltlich zu begreifen. Von beiden Denkern wird der Übergang jedenfalls scharf dadurch angezeigt, dass es um Sein oder Nicht-Sein der Ausnahme selbst geht. 100 Vgl. zu diesen Vokabeln den Titel des Aufsatzes von Tellenbach (1993), »Nietzsches Aufgeriebenwerden durch unauflösbare existentielle Antinomien«, dessen (pathologisierender) Inhalt hier nicht weiter diskutiert werden muss.

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II.2.5.1 Die Ausreizung nihilistischer Moralkritik (mit Schopenhauer zum Kontrapunkt) Beide Denker sind darum bemüht, den ungewöhnlichen Menschen durch eine Sphäre zu orientieren, die den Mangel einer allein durch und in Moral gerechtfertigten Lebensanschauung überbietet. Diese Sphäre wird via negationis konturiert und komprimiert. Dass die radikale Moralkritik beider Philosophen der positiven Absicht dient, ethische Orientierung in einer übermoralischen Sphäre zu verankern, kann durch deren Auseinandersetzung mit Schopenhauer dargestellt werden. Als Aufhänger dieser Auseinandersetzung kann die Frage nach der Bedeutung von Askese aufgegriffen werden. Es fällt bemerkenswerterweise auf, dass das Ausnahmetheorem Kierkegaards die theoretische Montur ist, von der die späte Auseinandersetzung mit Schopenhauer ihre Kraft bezieht. Nietzsche, auf der anderen Seite, beginnt ab dem mit Menschliches, Allzumenschliches anhebenden moralkritischen Geschäft, Schopenhauer immer entschiedener die Bedeutung zu entziehen, die er für die Lebensauslegung ungewöhnlicher Menschen im Frühwerk hatte, um sie schließlich durch die Bedeutung von »Zarathustra« zu ersetzen. Die späte Moralkritik Nietzsches kulminiert in der Inszenierung eines weltgeschichtlich alles entscheidenden Agons zwischen den Bedeutungsträgern »Schopenhauer« und »Nietzsche«. Beide Denker drehen Schopenhauer einen Strick aus seinem »Wissen« um die Bedeutung von Askese, das aufgehoben in sein System das Selbstmissverständnis des Denkers spiegelt. Wichtig ist es, bei den folgenden Darstellungen den Blick darauf zu richten, wie das Werk Schopenhauers als ein epochal bedeutendes und signifikantes derart analysiert wird, dass ihm als in einem sozialen Raum stehend auch entsprechende Verantwortung zugemutet wird. Kierkegaard deutet in seinen späten Aufzeichnungen zu Schopenhauer 1854 diesen als ein »bedenkliches Zeichen« und kurz darauf als ein »bedenkliches Zeichen der Zeit« und begründet erstere Einschätzung wie folgt: »Denn streng genommen ist er nicht, was er selbst meint zu sein […]: er ist weder wirklich Pessimist, noch ganz davon frei, selbst ein Sophist zu sein.« 101 Schopenhauer ist nicht das, was er meint zu sein; d. h.: Schopenhauer bedeutet vor sich selbst und damit für die sich durch ihn psychologisch ungeprüft Auslegenden de facto etwas anderes, als er bedeuten will. Kierkegaard erläutert seine 101

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Diagnose, dass Schopenhauer nicht wirklich Pessimist war (wobei er voraussetzt, dass wirkliche Askese ein dem Pessimisten korrespondierendes Verhalten wäre), unter der Prämisse, dass »ein echter Pessimist dem ganzen Charakter nach« das wäre, »was unsere weichliche und charakterlose Zeit nötig hätte«, 102 was außerdem sagt, dass auch Kierkegaard dieser Pessimist nicht ist. Schopenhauer, so ent-deckt Kierkegaard sein existentielles Selbstmissverständnis weiter, hatte es aber nicht in seiner Hand – im Gegensatz zum Gekreuzigten, dem Vorbild schlechthin 103 –, nicht in seiner Macht, »sein Glück zu machen, Anerkennung zu erlangen«. 104 Vielmehr scheint er »gegen seinen Willen gezwungen« worden zu sein, »das Zeitliche und Weltliche in Richtung auf Anerkennung fahren zu lassen«. 105 Auf Schopenhauers Pessimismus fällt in Kierkegaards Entlarvungspsychologie deswegen ein schiefes Licht, weil er nicht freiwillig, aus tieferer Einsicht sich zu seinem ›Nein‹ gegen die Welt entschied, sondern weil ihn eine Art zwischenmenschlicher Kränkung, der Entzug eines ›Ja‹ zu seiner Person, die Moral in einem bestimmten Sinne, in einer bestimmten Wirkung ihrer Essenz, zu seinem Pessimismus nötigte. Kierkegaard schließt pointiert: »Aber dann ist die Wahl des Pessimismus leicht eine Art Optimismus – das zeitlich klügste, was man tun kann.« 106 Ein reaktives ›Ja‹ im Grunde, das sich als ›Nein‹ inszeniert. Für den jungen Nietzsche bedeutet »Schopenhauer« immerhin das Ereignis einer epochal neuen Wahrheit, für den späten Nietzsche – in der Schrift, in der er forciert die Frage nach der Bedeutung von asketischen Idealen aufwirft, wobei Schopenhauer an der absoluten Bedeutung der moralischen Bedeutung festhält – einen agonalen Bezugspunkt der Moralkritik. Schopenhauer ist das Individuum, an dem Nietzsche – antipodisch – herauspräpariert, was asketische Ideale für den Typus Philosoph bedeuten. Die vorläufige Antwort, dass er »von einer Tortur loskommen« (GM – 349) will, wird wie folgt dialektisch abgewogen. Hüten wir uns, bei dem Wort ›Tortur‹ gleich düstere Gesichter zu machen […]. Unterschätzen wir es namentlich nicht, dass Schopenhauer, der

Ebd., S. 348. Vgl. ebd., S. 341. 104 Ebd., S. 348. 105 Ebd., S. 348. Auch der junge Nietzsche hatte in Schopenhauer als Erzieher spürbar Not, diesen Sachverhalt zu verklären (vgl. SE – 353). 106 Cappelørn et al. (Hrsg.) (2012), S. 348. 102 103

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die Geschlechtlichkeit in der That als persönlichen Feind behandelt hat […], Feinde nöthig hatte, um guter Dinge zu bleiben; dass er die grimmigen galligen schwarzgrünen Worte liebte; dass er zürnte, um zu zürnen, aus Passion; dass er krank geworden wäre, Pessimist geworden wäre (– denn er war es nicht, so sehr er es auch wünschte) ohne seine Feinde, ohne Hegel, das Weib, die Sinnlichkeit und den ganzen Willen zum Dasein, Dableiben. […] [S]eine Feinde verführten ihn immer wieder zum Dasein, sein Zorn war, ganz wie bei den antiken Cynikern, sein Labsal, seine Erholung, sein Entgelt, sein remedium gegen den Ekel, sein Glück. (GM – 349 f.)

Die Argumentation Nietzsches ist der Kierkegaards dahingehend analog, insofern die Selbsteinschätzung Schopenhauers als eines Pessimisten abgewehrt wird durch die Einsicht, dass er sich durch seine »Feinde« am Leben erhielt, dadurch von einem uneingeständigen ›Ja‹ zum Leben zehrte – »dass Schopenhauer, obschon Pessimist, e i g e n t l i c h – die Flöte blies …« (JGB – 107). 107 Im Folgenden entschlackt Nietzsche diesen Befund von dem Persönlichen, das Schopenhauer ihm verdankte, und präpariert das Philosophen-Typische an asketischen Idealen heraus. Denn Philosophen sind ihrer Art nach keine unbestochenen »Zeugen und Richter über den Werth des asketischen Ideals«. (GM – 351) Der Philosoph verneint nicht durch das asketische Ideal das Dasein, er bejaht vielmehr sein Dasein: »der Philosoph lächelt bei seinem Anblick einem Optimum der Bedingungen höchster und kühnster Geistigkeit zu […]«. (GM – 351) Nietzsche lässt einen unverfänglichen, diätetischen Begriff von »Askese« gelten, der sich vom moralisch überfrachteten Charakter der Tradition lossagt. Kierkegaards Einschätzung Schopenhauers als »bedenkliches Zeichen der Zeit« verortet Schopenhauer als repräsentativen Ausdruck des Zeitgeists, dem folgende objektiv würdigende Einschätzung korrespondiert: »Dass er ein bedeutender Schriftsteller ist, sehr bedeutend, das ist unbestreitbar; dass sein ganzes Dasein und dessen Geschichte eine tiefe Wunde ist, die der Professoren-Philosophie beigebracht wird, wird mit Freude und Dankbarkeit eingeräumt.« 108 Die »Askese usw.« 109 begriffen im System – die genuine Leistung Scho107 »[E]in Pessimist, ein Gott- und Welt-Verneiner, der vor der Moral H a l t m a c h t , – der zur Moral Ja sagt und Flöte bläst, zur laede-neminem-Moral: wie? ist das eigentlich – ein Pessimist?« (JGB – 107) 108 Cappelørn et al. (Hrsg.) (2012), S. 348. 109 Ebd. Dass Kierkegaard hier »Askese usw.« setzt und allgemein die Sache der Askese, nicht spezifisch deren existierenden Ausdruck, den Asketen, bezeichnet, weist wie oben angedeutet darauf hin, dass er an dieser Stelle seiner Polemik vor allem

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penhauers – bedeutet für Kierkegaard notwendig eine charakterlose, da distanziert unbeteiligte Darstellung dessen, das nur Wirklichkeit durch die Tat hat 110 und damit die Abschaffung der Bedeutung von Askese im ausnahmetheoretischen Sinne, so wie sie in der Ausnahmetheorie von Stadien formuliert wird: Der Philosoph Schopenhauer repräsentiert, bedeutet epochal etwas Neues, nämlich – indem er sie zu einem Gegenstand des Wissens macht – aus »der Askese Genuss herausdestillieren« 111 zu können. Kierkegaard vermutet, dass dies »das Allergefährlichste für eine genusssüchtige Mitwelt« ist, insofern die bestehende Ordnung sich an exemplarischen Menschen wie Schopenhauer orientiert und umwertet. Die in das System aufgehobene, zum Gegenstand betrachtenden Wissens gewordene Askese hat so besehen ihre ethische Bedeutung verloren. Nietzsches Moral der Moralkritik – auch er setzt: »– ich bin ein Gegner der schändlichen modernen Gefühlsverweichlichung –« (GM – 252) – geht philosophiegeschichtlich von eben diesem Befund aus: Er konstatiert, moralgenealogisch inszeniert, das zunehmende Schwinden der ursprünglichen Bedeutung des asketischen Ideals. Die Bedeutung des asketischen Ideals – dessen ethische Seite immerhin war, eine sittlich geordnete Welt zu verbürgen – ist innerhalb der Moderne unter neuen, ›wissenschaftlichen‹ Prämissen nach wie vor wirksam, allerdings gar nicht mehr als dieses zu erkennen: »Dieser Wille [zur Wahrheit, R. R.] aber, dieser R e s t von Ideal, ist, wenn man mir glauben will, jenes Ideal selbst in seiner strengsten, geistigsten Formulirung, esoterisch ganz und gar, alles Aussenwerks entkleidet, somit nicht sowohl sein Rest, als sein K e r n .« (GM – 409) 112 Metaphysik der Geschlechtsliebe im Blick hat. Dieser Verdacht kann dahingehend gefestigt werden, insofern Kierkegaard im Folgenden gegen Schopenhauers Selbstinszenierung polemisiert: »Nicht ohne große Selbstzufriedenheit sagt er, dass er der erste ist, der der Askese [einen] Platz im System angewiesen hat. Ach, dies ist durchaus Professoren-Rede, ich bin der erste, der ihr […]«. (348) Oben wurde deutlich, dass Schopenhauer Metaphysik der Geschlechtsliebe eröffnet mit dem Pathos des ernsten Forschers, dem vom Geist der Wahrheit selbst endlich die Bedeutung von Eros eingegeben wurde. 110 Kierkegaard moniert entsprechend, dass die Askese im System anzeige, »dass sie nicht in einem wahreren Sinne für ihn da ist«. (Ebd., S. 348) 111 Ebd., S. 349. 112 Am Rande sei bemerkt, dass Nietzsche hier seine denkenden Mitmenschen – wie auch schon in Moralisches Interregnum – dramatisch überschätzt, insofern er seinen Begriff Wahrheit auf den der Wissenschaftler und Wissenschaften überhaupt überträgt. Dass einen Wissenschaftler die Sache der Wahrheit nicht streng genommen Modulationen der Einsamkeit

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Vergleicht man das Telos der Argumentation Nietzsches, das in dem Befund mündet, dass unser Wille zum Wissen das Destillat der Bedeutung des asketischen Ideals ist, die darin bestand, die Welt als eine sittlich geordnete zu rechtfertigen und den Menschen innerhalb dieses Horizontes zu orientieren, mit den Stimmungsbildern aus Vorrede, dann ist man überrascht über die Phasenverschiebung in der Argumentation. Nietzsche inszeniert sich in der Vorrede als einen Denker, der nicht nur beschreiben kann, wie es zum ›Nihilismus‹ kam, sondern als jemand, der in Fragen nach dem Wert der Moral entscheiden kann. Es handelte sich für Nietzsche, wie er betont, mit der Initiierung der Freigeist-Phase 113 bereits um die Frage nach dem angeht, ist für Nietzsche undenkbar, dessen Begriff von Wahrheit stets ethisch motiviert ist, insofern er Lebens- und Gedankenwirklichkeit zusammenziehen will. Er unterstellt, dass es »der Wissenschaft« um Wahrheit in seinem Sinne geht, und Wahrheit in seinem Sinne ist immer ethisch verbindliche, menschheitlich orientierende Wahrheit (»Redlichkeit« verknüpft eben Wissen und Moral). Blickt man allerdings nüchtern in die Welt, muss man anerkennen, dass »Wahrheit« in diesem absoluten Sinne, zumal in ihrem menschheitlich orientierenden Aspekt, nicht eben das Ethos von Wissenschaft auszeichnet. Hier hat Georg Simmels (nihilistisches) Diktum Berechtigung, das sich verwundert gibt über den Lärm, den Nietzsche um den Tod Gottes macht, da man doch längst wisse, dass Gott nicht mehr ist (zitiert nach Marcuse (1964), S. 208). 113 Es ist beachtenswert, da es hilft, schwierigere Passagen aus Genealogie gerecht, also bezogen auf das Werkganze, abzuwägen, dass Nietzsche schon in der Initiierung seiner Freigeistphase die Frage nach der Bedeutung von Askese und Asketen stellt – und zu nachvollziehbareren Ergebnissen kommt, insofern er seine Analysen auf ein zwischenmenschlich verstehbares ›Gutes‹ zuspitzt. Vgl. hierzu Von der christlichen Askese und Heiligkeit (MA I – 130–140), welche Miniaturabhandlung im Keim die dritte Abhandlung von Genealogie darstellt. Darin seziert Nietzsche als »Wissenschaftler« die Seele der sogenannten »Heiligen«, wobei er – was jeden Leser von Die Krankheit zum Tode hellhörig werden lässt – als Grundbefindlichkeit einen »Tr o t z g e g e n s i c h s e l b s t « unterstellt, »zu dessen sublimiertesten Aeusserungen manche Formen der Askese gehören« (MA I – 130 f.), wobei diese Befindlichkeit sofort der »Gewalt und Herrschsucht« assoziiert wird. »Die ganze Moral der Bergpredigt gehört hieher [sic]: der Mensch hat eine wahre Wollust darin, sich durch übertriebene Ansprüche zu vergewaltigen und dieses tyrannisch fordernde Etwas in seiner Seele nachher zu vergöttern. In jeder asketischen Moral betet der Mensch einen Theil von sich als Gott an und hat dazu nöthig, den übrigen Theil zu diabolisiren. –« (MA I – 131) Der im Detail sehr spannende Gedankengang ist hier nicht rekonstruierbar. Noch zu betonen sind allein zwei Ergebnisse. Zum einen ist es erhellend, dass Nietzsche, ausgehend von dem Diktum Novalis’: »›Es ist wunderbar genug, dass nicht längst die Association von Wollust, Religion und Grausamkeit die Menschen aufmerksam auf ihre innige Verwandtschaft und gemeinschaftliche Tendenz gemacht hat.‹« (MA – 138), festhält: »Nicht Das, was der Heilige ist, sondern Das, was er in den Augen der Nicht-Heiligen b e d e u t e t , giebt ihm seinen welthistorischen Werth. Dadurch, dass man sich über

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»Werth der Moral« (GM – 251), wobei der Wert der Moral als solcher nicht absolut, sondern in sich in Frage gestellt wird. Es handelte sich in Sonderheit um den Werth des ›Unegoistischen‹, der Mitleids-, Selbstverleugnungs-, Selbstopferungs-Instinkte, welche gerade Schopenhauer [als den intimen und einzigen Gesprächspartner bezogen auf die Frage nach dem Wert von Moral für Nietzsche, R. R.] so lange vergoldet, vergöttlicht und verjenseitigt hatte, bis sie ihm schliesslich als die ›Werthe an sich‹ übrig blieben, auf Grund deren er zum Leben, auch zu sich selbst, Nein sagte. […] Gerade hier sah ich die grosse Gefahr der Menschheit, ihre sublimste Lockung und Verführung – wohin doch? in’s Nichts? – gerade hier sah ich den Anfang vom Ende, das Stehenbleiben, die zurückblickende Müdigkeit, den Willen gegen das Leben sich wendend, die letzte Krankheit sich zärtlich und schwermüthig ankündigend: ich verstand die immer mehr um sich greifende Mitleids-Moral, welche selbst die Philosophen ergriff und krank machte, als das unheimlichste Symptom unsrer unheimlich gewordnen europäischen Cultur, als ihren Umweg zu einem neuen Buddhismus? zu einem Europäer-Buddhismus? zum – Nihilismus? … (GM – 252)

In Analogie zu Kierkegaards Auseinandersetzung mit Schopenhauer wird dieser hier verstanden als jemand, der etwas Epochales exemplaihn irrte, dass man seine Seelenzustände falsch auslegte und ihn von sich so stark als möglich abtrennte, als etwas durchaus Unvergleichliches und fremdartig-Uebermenschliches: dadurch gewann er die ausserordentliche Kraft, mit welcher er die Phantasie ganzer Völker, ganzer Zeiten beherrschen konnte. Er selbst kannte sich nicht; […] Er war kein besonders guter Mensch, noch weniger ein besonders weiser Mensch: aber er b e d e u t e t e Etwas, das über menschliches Maass in Güte und Weisheit hinausreiche.« (MA I – 139) Hier schon richtet sich die Entlarvungspsychologie gegen Schopenhauer, ohne noch diesen als Negativ-Folie des weltgeschichtlichen Verlaufs überhaupt ins Feld zu führen, was folgende zurückhaltende Bemerkung belegt: »Die Schattengestalt des Heiligen« wuchs »derart in’s Ungeheure«, »dass selbst in unserer Zeit, die nicht mehr an Gott glaubt, es noch genug Denker giebt, welche an den Heiligen glauben.« (MA I – 139) Der zweite bemerkenswerte Punkt ist, auch auf Zarathustra verweisend, dass Nietzsche einen eigentümlichen Unterschied in der »Heiligkeit« denkt, Ausnahmen innerhalb der Gattung der religiösen »Ausnahme«. »Einzelne Ausnahmen jener Gattung heben sich heraus, sei es durch grosse Milde und Menschenfreundlichkeit, sei es durch den Zauber ungewöhnlicher Thatkraft; andere sind im höchsten Grade anziehend, weil bestimmte Wahnvorstellungen über ihr ganzes Wesen Lichtströme ausgiessen: wie es zum Beispiel mit dem berühmten Stifter des Christenthums der Fall ist, der sich für den eingeborenen Sohn Gottes hielt und desshalb sich sündlos fühlte; so dass er durch eine Einbildung – die man nicht zu hart beurtheilen möge, weil das ganze Alterthum von Göttersöhnen wimmelt – das selbe Ziel erreichte, das Gefühl völliger Sündlosigkeit, völliger Unverantwortlichkeit, welches jetzt durch die Wissenschaft Jedermann sich erwerben kann. –« (MA I – 139 f.) Modulationen der Einsamkeit

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risch repräsentiert. In Schopenhauers Bedeutung kulminiert das ›Nein‹ zum Leben, wobei ein Ausdruck dieses ›Nein‹ Schopenhauers Versuch ist, die Moralphilosophie auf Mitleid wissenschaftlich zu begründen. Dem Namen »Nietzsche« kommt in diesem Zusammenhang die Rolle zu, sich gegen diese Tendenz zu stemmen. Interessanterweise wird in der dritten Abhandlung der Streitschrift – wie dargestellt – das psychologische Phänomen Schopenhauer genauer unter die Lupe genommen und das subjektiv Biografische vom objektiv Typischen an ihm unterschieden. Das Ergebnis dieser Darstellung war es, dass Schopenhauer ›im Grunde‹ ›Ja‹ ist, wo er meint ›Nein‹ zu sein. Die Diagnose des modernen Nihilismus hat zur Voraussetzung einen (nur inszenierten) Blick in das Sein selbst, in die metaphysische Befindlichkeit des Lebens an gewissen Stationen seiner Verwirklichung – der spannenderweise Analogie hat zu jener These des verkappten ›Ja‹ im vermeintlichen Nein (das auch Kierkegaard hervorzog). Nietzsche wird also entdecken, dass zu einem gegebenen Zeitpunkt in der Entwicklung des Menschengeschlechts der alles menschliche Wollen bedingende Wille an sich selbst krank wurde und die sich zuhöchst in Priestern und Heiligen manifestierende Askese eine Reaktion dieser Grundtatsache bedeutete: 114 Ein ›Ja‹, das nur im Widerspruch zu den Bedingungen seiner Möglichkeiten – zum ›gesunden Leben‹ – sich aufrechterhalten konnte, ein grundperverser Abschnürungsmechanismus, erzwungen vom Leben selbst, das an sich zu sich ›Nein‹ sagte, um vermittelt ein ›Ja‹ zu konservieren. Ein ›Nein‹ also, welches gewertet aus der Perspektive des Lebens an sich, konsequent in den Nihilismus mündet bzw. in Nietzsches Versuch, einen Tag der Entscheidung herbeizurufen. 115 In Nietzsches eigenen Worten: » [ D ] a s a s k e t i s c h e I d e a l e n t s p r i n g t dem Schutz- und Heil-Instinkte eines degenerirenden Lebens, welches sich mit allen Mitteln zu halten sucht und um sein Dasein kämpft; es deutet auf eine partielle physiologische Hemmung und Ermüdung hin, gegen welche die tiefsten, intakt gebliebenen Instinkte des Lebens unausgesetzt mit neuen Mitteln und Erfindungen ankämpfen.« (GM – 366) 115 Man könnte also vermuten, dass diese Großthese eine Projektion ist jener Einsichten in das psychologische Selbstmissverständnis Schopenhauers, und dass Nietzsche seinen Namen gegen Schopenhauer ins Feld führt, um Askese eine neue Bedeutung zu geben. In jedem Falle erfährt man hier sehr eindringlich, wie Nietzsches Interpretation der Natur-Geschichte der Moral sich der Auseinandersetzung mit seinem Erzieher verdankt. Diese These, dass Nietzsches Blick in die Geschichte determiniert ist durch seinen Lehrer, vertritt auch Goedert (2013), S. 27, viel ausführlicher bereits in (1988). Vgl. zur These, dass Nietzsches Deutung der abendländischen Geschichte 114

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Diese Darstellung suggeriert, dass eine Perspektive auf das asketische Ideal möglich ist, welche die rein innerethischen, psychologischen, diätetischen Betrachtungen der Sache überbietet. Diese Zuspitzung unterstellt damit außerdem die Grundlegung einer Möglichkeit von Entscheidung in einem allgemein-menschlich verbindlichen Sinne, der in der umfänglichen Diagnostik der Moderne als orientiert an prinzipiell lebensverneinenden Werten planiert wurde in dem Befund: Nichts wollen in allen seinen lebensweltlichen Facetten ist möglich, psychologisch allerdings nachgerechnet ist die Motivation zu diesem Willen hinfällig, insofern davon auszugehen ist, dass ihn etwas antreibt, das innerhalb der Moderne keinen Sinn mehr macht: zu behaupten, dass Askese etwas bedeutet jenseits ihrer diätetischen, innermenschlichen Ausrichtung. Die Frage nach der Bedeutung von Askese hat in Nietzsches Philosophie ihre ursprüngliche Berechtigung verloren. Nietzsche denkt also einen Unterschied zur innermoralischen Perspektive auf die Moral, hebt ihn aber zuletzt wieder auf, wobei eine Perspektivverschiebung auf die »Sache«, das Leben, mitgenommen wird. Im die Dritte Abhandlung von Genealogie abschließenden Abschnitt verdichtet Nietzsche seine Diagnose bis an den Rand des Verstehbaren, indem er den Begriff »Bedeutung« durch heteronome Anwendung grenzgängerisch aufreibt: Sieht man vom asketischen Ideale ab: so hatte der Mensch, das Thier Mensch bisher keinen Sinn. Sein Dasein auf Erden enthielt kein Ziel; ›wozu Mensch überhaupt?‹ – war eine Frage ohne Antwort; der Wille für Mensch und Erde fehlte; hinter jedem grossen Menschen-Schicksale klang als Refrain ein noch grösseres ›Umsonst!‹ Das eben bedeutet das asketische Ideal: dass Etwas fehlte, dass eine ungeheure Lücke den Menschen umstand, – er wusste sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu bejahen, er litt am Probleme seines Sinns. (GM – 411)

Man darf hier nicht übersehen, dass Nietzsche – dämonisch 116 und wiederum infiniment suggestif – die Entwicklung des Menschennicht denkbar ist ohne Schopenhauer, und deswegen allein innerhalb dieses modernen Horizonts Bedeutung hat, vor allem Metz (2009/2010), besonders S. 4–14 und 28–40. 116 Vor dem Hintergrund solcher Auszüge ist es nicht nur komisch, wenn Niels Thulstrup in seinem Kommentar zu Die Krankheit zum Tode im Kontext der dämonischen Verzweiflung das Wort »dämonisch« wie folgt erläutert: »S. K. meint hier, daß die großen Dichter ihren Gestalten das Gepräge einer Idee geben, die bewirkt, daß sie über die gewöhnlichen Menschen erhoben werden [vgl. Nietzsche].« (Kommentar zu KzT – 648) Auch wenn der Kommentar nicht unbedingt den Sachverhalt bezeichnet, Modulationen der Einsamkeit

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geschlechts durch seinen (ent)wertenden Blick liest und ihr ex post jede Daseinsberechtigung abspricht. Historisch besehen ist es ja schlicht falsch zu behaupten, dass der Mensch sich nicht zu rechtfertigen, zu bejahen, zu erklären etc. wusste. Den Menschen »umstand« eben keine »Lücke«, sondern ein sinnstiftender Horizont, so wie ihn der Paragraph 125 aus Die fröhliche Wissenschaft voraussetzt. Nietzsche erzeugt durch diese hypermoralische Darstellungsstrategie einen Sog, eine Art schwarzes Loch, indem er sich an dem von ihm existentiell freigelegten Umstand, dem blinden Fleck des Allgemeinen namens Horror vacui 117 festheftet und die alles Tun des Menschen motivierende Leere auf die Geschichte der Menschheit überhaupt überträgt. Nietzsches grenzgängerischer Blick, der neben der Moral-Philosophie seiner Zeit auch den Willen zum Wissen der Wissenschaften überhaupt delegitimieren will, oszilliert zwischen den Sphären einer moralischen und einer vermeintlich außermoralischen Betrachtung auf ›das Leben‹. Das hier vermeintlich außermoralisch in Betracht kommende Leben bleibt moralisiert, seine Äußerungen bezogen auf das, was Leben an sich ist, bleiben Behauptungen, die aus sich selbst heraus keine allgemeine Gültigkeit generieren können. Und die Zuspitzung des »Was« zum »Dass«, die einen qualitativen Unterschied machen soll, ist innerhalb des Menschenmöglichen nur quantitativ denkbar, kann also nie wirklich einen qualitativen Unterschied nach sich ziehen. 118 Durch den Zarathustra kann Nietzsche jedenfalls im Medium von Dichtung ›zeigen‹, worum es ihm hier zu gehen scheint. den Kierkegaard hier im Blick hat, ist umso mehr der lakonische Verweis auf den in Klammern stehenden, offensichtlich selbstredenden Eigennamen beachtlich. 117 Vgl. zu diesem Begriff, der »Flucht vor der Leere«, der seinen Ursprung bereits in der Antike hat, seinen begriffsgeschichtlichen Höhepunkt allerdings erst in der scholastischen Naturphilosophie feiert, Krafft (1974). Er ist gewissermaßen moralisierende Metapher für die der »Natur zugeschriebene aktive Eigenschaft, vor der Leere zurückzuschrecken: ›natura (ab)horret vacuum‹«. (Sp. 1206–1212, hier 1206 f.) Philosophiegeschichtlich setzt sich letztlich Bacons Diktum durch: »Die Leere ist nichts und keine Natur; was irgendeine Ursache ist, ist Natur; also ist die Leere keine Ursache«. (Sp. 1208) 118 Nietzsche weiß das im Grunde selbst (vgl. etwa den Aphorismus »Der Wanderer« redet in FW – 632 f.) sehr gut, wird man immer wieder einwenden. Es ist auch These dieser Studie, dass Nietzsches exemplarisches Denken in seiner »Doppelreflexion« kulminiert (vgl. hierzu Abschnitt II.3.1 f.). Die Kristallisation »Zarathustras« zu einem Buch für Alle und Keinen ist deren Ausdruck. Diese sokratische »Klugheit« Nietzsches sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Denken gerade in seiner Insistenz, doch »ins Etwas« zu kommen, zur Selbstideologisierung neigt. So heißt

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Es ist, um die entworfenen Stränge zusammenzuführen, als inszenierte der ›Weltgeist‹ im Übergang von Kierkegaard zu Nietzsche eine Art Staffellauf, insofern Nietzsches Chuzpe gerade ist, die Frage nach der Bedeutung von Askese – die für den späten Kierkegaard in Anbetracht Schopenhauers erledigt schien – neu auszurollen, indem er die Frage nach der Bedeutung vor allem der Mitleidsmoral, die in seiner Zeit als selbstevident, als fundamentum inconcussum erscheint (und damit, wie bei Kierkegaard, in einem tieferen Sinne gar nicht da ist), neu aufwirft dadurch, dass er ihr ihre vermeintlich wissenschaftliche Grundlage entzieht. Der Befund, »[ d ] a s s aber überhaupt das asketische Ideal dem Menschen so viel bedeutet hat, darin drückt sich die Grundthatsache des menschlichen Willens aus, sein horror vacui: e r b r a u c h t e i n Z i e l […]« (GM – 339), ist so gesehen das Zugeständnis, dass ohne die Frage nach der Bedeutung nichts geht und die Reetablierung dieser Frage dadurch, dass der Standpunkt der modernen (Moral-)Philosophie sich als haltlos, philosophisch unes, sich selbst rechtfertigend und erklärend, in einem Brief an Erwin Rhode aus dem Zeitraum der Entstehung von Genealogie: »Wir [gemeint sind Taine und Burkhardt, R. R.] sind in der That gründlich aufeinander angewiesen, als drei gründliche Nihilisten: obschon ich selbst, wie Du vielleicht spürst, immer noch nicht daran verzweifle, den Ausweg und das Loch zu finden, durch das man in’s ›Etwas‹ kommt.« (KSB 8, Nr. 852 – S. 80 f.) Dieses Etwas soll schließlich mehr bedeuten als Unterschiede nur dem Grade nach, es kann nicht anders als substantiell gemeint sein. Die starken »Gegen-Begriffe«, die dieses Denken nötig hat, um sich über Wasser zu halten, werden als Sedimentierungen dem exemplarischen Denken selbst zum Fluch – und hier angesichts von Genealogie etwa eine philosophisch intendierte Ironie zu unterstellen, wie Robert Guays es tut (vgl. zur Einordnung Dellinger (2013), S. 81) und theoretisch vollkommen berechtigt ist, gelingt nur im steril-isolierten »Raum« des akademischen Diskurses, womit unter Umständen unbewusst, real-philosophische Probleme perpetuiert werden, gegen die Nietzsche (und Kierkegaard) andachten. Man tritt also gerade das, worum es diesen Philosophen geht, mit Füßen, wenn man glaubt, ihnen entgegenzukommen, indem man ihr Scheitern einbalsamiert. In Kierkegaards Denken trägt sich apropos Selbstideologisierung zuletzt Analoges zu, wenn er meint, im Besitz »der Wahrheit« seinen Angriff gegen die Staatskirche reell ausfechten zu müssen. Nietzsches späte Briefe an erwählte Politiker seiner Zeit sind keine sokratische Mitteilung mehr; allerdings auch keine philosophischen Werke, so ließe sich wiederum einwenden. Enders (2006), S. 301–335, hier S. 333 sieht im hier verteidigten Sinne die tragendende Bedeutung der einsamen Konstruktion einer einsamen Wahrheit bei Nietzsche, wobei er Kierkegaard durch einen »begriffs-analytischen« Zugang zu seiner Auffassung von »Wahrheit« von dieser sich selbstbehauptenden Isolationsspirale ausnimmt, insofern unterstellt wird die Verbundenheit Kierkegaards mit der christlichen Tradition. Letztere Möglichkeit allerdings besteht für den philosophischen Zugang zu Kierkegaard nicht. Modulationen der Einsamkeit

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berechtigt erweist, insofern gezeigt wird, dass gerade in Schopenhauer als Repräsentanten der gegenwärtig herrschenden Moral die ursprüngliche Bedeutung des asketischen Ideals ausläuft in einen Nihilismus. »[ … ] – und eher will er [der menschliche Wille, R. R.] noch d a s N i c h t s wollen, als n i c h t wollen. –« (GM – 339) Ein das Nichts wollender Wille – Schopenhauers non plus ultra des ethischen Lebenswandels, manifestiert im Asketen, der gleichsam nur noch mit einem Faden seines schnöden Wollens an der Welt der Vorstellung hängt – ist ein wollender Wille auf dem niedrigsten Niveau seiner Verwirklichung. Aber auch er will, nicht wollen kann der Wille nicht – das ist die Hoffnung des Denkers, der den Nihilismus hypothetisch an sein Ende gedacht zu haben behauptet. 119 Jeder Mensch – das wäre der ›Zenit‹ des Nihilismus – kann das Nichts wollen, kein Mensch kann nicht wollen. »Wollen« ist hier der kleinste gemeinsame Nenner, das, was jeden Menschen ursprünglich verbindet und in Schopenhauer als Erzieher als »productive Einzigkeit«, im Zarathustra als »der Weg des Schaffenden« bezeichnet wurde.

II.2.5.2. Die Haltlosigkeit seines Anspruchs Man kann also davon ausgehen, dass Nietzsches nein-tuendes Werk – begreift man das Werkganze als ein Fragen nach dem gelingenden Leben – erst stimmig perspektiviert werden kann, wenn man es an den von Nietzsche ausdrücklich als diesen markierten Zenit seines Schaffens hochbindet, gerade auch in Anbetracht der darin aufgehobenen verwandelten Übernahme der Ausnahmetheorie von Schopenhauer als Erzieher. Bevor dies eingehender entwickelt wird, soll dargestellt werden, inwiefern sinnvoll behauptet werden kann, dass Kierkegaards exemplarisches Denken auf seine Weise mit analogen Problemen ringt. Es geht um die Ausreizung und Negierung der Frage, ob aus Moral die Frage nach dem gelingenden Leben entschieden werden kann. Es ist hier die These, dass auch Kierkegaard der Sache nach jene Einschätzung teilt, die Nietzsche mit dem Phänomen des Horror vacui erfasst. Der Horror vacui ist so gesehen von Kierkegaard bewusst in den forciert morallehrenden Wilhelm implementiert, allerdings im Modus 119 Auch Grau (1963) deutet jene berühmte Formel des Willens, der lieber Nichts als nicht wolle, religiös motiviert aus (vgl. S. 48).

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seiner Verdrängung, da ihn Wilhelm im Prinzip – konzipiert als Typus Morallehrer seiner sozialen Bestimmung nach – nicht zu Gesicht bekommen kann. »Ausnahme« wird in Stadien durch folgende Widersprüche zugespitzt und damit ihrer Bedeutung enthoben. 120 Wilhelm »kennt«, so initiiert er sein Ausnahmetheorem, ein höheres Leben als das Eheleben, im fortlaufenden Text allerdings betont er immer wieder, dass er nicht wisse, ob es überhaupt eine berechtigte Ausnahme gibt. Wie kann man etwas kennen, ohne dass man weiß, dass es existiert? 121 Wilhelm behauptet des Weiteren einerseits (um heidnische »Verliebtheit« qualitativ zu überbieten), dass das Eheleben »ganz unbedingt religiöser Herkunft« (SL – 187) ist (und normiert aus diesem Grund die Ausnahme zu einem Ehemann). Andererseits wiederum hält er »es für einen bloßen frommen Wunsch (pium desiderium), daß man für die Ehe den rechten religiösen Ausdruck finde, daß man genau und kategorisch bestimmt finde, woran das Mittelalter verzweifelt ist, und wozu die letzten Jahrhunderte […] nur wenig beigetragen haben«. (SL – 180 f.) Mit diesem Widerspruch hängt zusammen ein weiterer in der Feststellung, dass »wesentlich religiös gesehen es nichts abtut oder zutut, ob ein Mensch verheiratet gewesen ist oder nicht« (SL – 181), was wiederum die Forderung, die Ausnahme müsse Ehemann (gewesen) sein, unverbindlich erscheinen lässt. In einer weiteren Hinsicht schwankt Wilhelms Standpunkt durchgängig: Ich habe mich nicht darauf einlassen wollen, was wohl einen Menschen bestimmen könne, solchermaßen zu verzweifeln, der Gottheit den Geist ablisten zu wollen und ihn nicht auf die Art empfangen zu wollen, in der es der Gottheit gefallen hat, ihn auszuteilen, oder wieso ein Mensch einer göttlichen Vorliebe ausgesetzt sein könne, welche auf sich selbst eifersüchtig die furchtbare Anfechtung der Mißgunst als ihren ersten Ausdruck

Man könnte die in Die Krankheit zum Tode formulierte These: »Gesundheit ist überhaupt, Widersprüche lösen zu können.« (KzT – 63) als methodischen Leitfaden für die Interpretation des wilhelmschen Standpunktes nehmen. 121 Frater Taciturnus unterscheidet zuletzt in Schlußwort drei Sophistentypen, welche dadurch charakterisiert sind, dass sie vom Religiösen nur eine Seite sehen. Der zweite Typus Sophist kommt dem Standpunkt Wilhelms vernichtend nahe und wird folgendermaßen gefasst: »2. Diejenigen, welche von dem unmittelbar Ethischen in ein unmittelbares Verhältnis zum Religiösen treten. Für diese wird die Religion eine positive Pflichtenlehre, wo doch die Reue das höchste Tun des Ethischen und gerade negativ ist […]«. (SL – 516) 120

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braucht, ich habe lediglich die psychologischen Voraussetzungen umreißen wollen. (SL – 191)

Ist das Sichausnehmen eine Art Hybris, ein prometheisches Sich-Behaupten des Menschen und Nach-Unabhängigkeit-Streben wider »die Gottheit« als sanktionierender Instanz des Bestehenden, oder ist das Sichausnehmen vielmehr ein Ausgenommenwerden, ein ›Benutztwerden‹ durch die Gottheit selbst, die in ihrem auszeichnenden Ausleseakt sich gleichzeitig aus Eifersucht, in ihrem ersten Ausdruck, rächt am Beschenkten durch Zufügen von Leid, dessen Sinn die Ausnahme nicht verstehen kann, aber doch unbedingt – unfreiwillig getrieben – erleiden muss? 122 »Ich weiß nicht«, schließt Wilhelm, nachdem er die psychologischen Kriterien für den Leidensweg der Ausnahme umrissen hat, »ob es eine berechtigte Ausnahme gibt, und wenn es eine solche gibt, so weiß der betreffende Mensch es auch nicht, noch nicht einmal in dem Augenblick, da er dahinsinkt, denn ahnt er auch nur das Geringste, so ist er nicht berechtigt.« (SL – 190 f.) Wenn man diese Aussage zurückbindet an den Ausgangspunkt ihrer Ermöglichung, wird abstrakt betrachtet in Wilhelms kontradiktorischen Setzungen spiegelbildlich das thematisch, was Nietzsche in der Forcierung nach der Frage der Bedeutung asketischer Ideale auf seine Art artikulierte. Wilhelm »kennt« ein höheres Leben als das Eheleben: »Ich behaupte also nicht, daß die Ehe das höchste Leben ist, ich kenne ein höheres, doch wehe dem, welcher ohne ein Recht dazu die Ehe überspringen will.« (SL – 178) Das höhere Leben, das Wilhelm kennt, wäre das der berechtigten Ausnahme, von der weder Wilhelm weiß, ob es sie gibt, noch die entsprechende höhere Lebensform selbst, wobei er anzugeben weiß, wie sie sich berechtigt, indem er die psychologischen Voraussetzungen, 122 Das Motiv der Eifersucht auf sich selbst hatte bereits in Entweder – Oder seine erste Verwendung gefunden, dort allerdings nicht als angestoßen durch eine wie auch immer charakterisierte heidnische Gottheit, welche sich an ihrem Medium rächt, sondern, vollkommen affirmativ, als Effekt der Selbst-Wahl selbst, aufgrund derer gelingender ethischer Existenzvollzug erst denkbar ist. »Wenn nämlich die Leidenschaft der Freiheit erwacht ist, so ist sie eifersüchtig auf sich selbst und läßt keineswegs zu, daß derart unbestimmt durcheinanderstehe, was einem zugehört und was nicht.« (EO II – 782) An derartigen semantischen Verschiebungen und Diskontinuitäten des thematischen Materials bezogen auf die Formen seiner Darstellung, unterstellt man, wie es hier geschieht, die substantielle Einheit des Ganzen, lässt sich der (sich dramatisierende) Flusscharakter des exemplarischen Denkens hin zu einem Ziel plausibel nachvollziehen.

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die gegeben sein müssen, schildert als Voraussetzungen einer potentiell berechtigen Ausnahme. Wilhelms berechtigte Ausnahme wäre Asket: von ihr wurde verlangt, dass sie der Welt zu entsagen, dass sie ein Keuschheitsgelübde abzulegen habe, dass sie keinerlei weltliche Interessen konservieren dürfe etc. (vgl. SL – 179 f.). Die Frage allerdings nach dem Wozu dieser asketischen Praktiken, die Frage nach der Bedeutung bleibt vollkommen offen – aus der Perspektive der Moral wenigstens. Wilhelm ist allein klar, dass […]; denn er kennt ein höheres Leben als das Eheleben. Lebendig dargestellt wird dieser blinde Fleck des Allgemeinen, sein Horror vacui nun, indem der experimentierende Psychologe Frater Taciturnus aus seiner affektiv unbeteiligten, metaphysischen Warte die Konsequenzen der Forderungen Wilhelms nachbildet in seiner Experimental-Figur namens »Quidam«. Wilhelm drückt sich dunkel-mystagogisch aus, wenn er den »religiösen Hintergrund« umschreibt, der gegeben sein muss, damit die Ausnahme beim Verlassen der Welt Orientierung hat und tendiert zur Verwendung grausamer Bilder. Um ein Beispiel herauszugreifen, das Wilhelms Selbsteinschätzung »Ich bin nicht grausam« (SL – 191) in ein schiefes Licht rückt: Nachdem Wilhelm die wesentlichsten Punkte seines Theorems wiederholt hat, fragt er noch einmal nach dem womöglich dahinterliegenden Sinn: Ob nun aus dem Elend, gewiß dem tiefsten, dem qualvollsten (da hört der Schmerz nicht auf, außer damit die Reue die Geißel über die Menschen schwinge; da ist alles menschliche Leiden persönlich zugegen, um zu peinigen; da läßt das Leiden nicht ab, ebenso wenig wie eine Stadt aufhört, belagert zu sein, weil die eine Wache von der andern abgelöst wird, oder weil die neue Wache aus einem andern feindlichen Corps ist; ganz ebenso lösen sie einander ab: schlummert der eigne Schmerz, so erwacht der des Mitgefühls, und schlummert der des Mitgefühls, so erwacht der eigne Schmerz, und jeden Augenblick kann der Reue Runde kommen, um zu sehen, ob die Wache auch nicht schläft), – ob nun, sag ich, aus diesem Elend eine Seligkeit sich entwickeln kann, ob in dieser grausigen Nichtigkeit ein göttlicher Sinn liegen kann […] – alles dies entzieht sich meinem Verstande. (SL – 190)

An der Grenze von Wilhelms Vorstellungskraft – der Bedeutung von Askese unter der Perspektive von Moral 123 – setzt nun Frater Tacitur123 Die Grenze von Wilhelms Vorstellungskraft wird von diesem selbst thematisiert: »Mit einer Schwärmerei wie sonst niemand muß er das lieben, womit er gebrochen,

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nus an, der sich zur Frage nach Askese der Ausnahme indifferent verhält, sie immoralistisch perspektiviert, sich aus reiner Beobachtungslust aus metaphysischer Warte mit dem Religiösen auseinandersetzt und damit auch den blinden Fleck Wilhelms thematisieren kann. 124 Im Übergang zum utopischen Raum »einsamster Einsamkeit« soll noch einmal ›Schwung‹ geholt werden, indem die Stationen des Ausnahmetheorems bei Kierkegaard und Nietzsche rekapituliert werden. In Entweder – Oder stellte sich Wilhelm seinen ungewöhnlichen und in dieser Schwärmerei muß er jedes einzige Schöne anmutiger und liebreizender finden als sogar der, welcher des Glückes sich freut; denn wer etwas Allgemeines verwerfen will, muß mit ihm besser Bescheid wissen als der, welcher sicher darin lebt. Sieh, wenn solch ein Mensch (falls es einen solchen Menschen gibt) von der Ehe spräche, er hätte eine Glut, wie kaum ein Ehemann sie hat, ich wenigstens räume ihm den Platz […]; denn die Pein der gebrochenen Verantwortung muß seine Seele wach und beständig halten im Betrachten des von ihm Vernichteten, und die neue Verantwortung heischt vor allem, daß er weiß was er getan. Will solch ein Mensch (falls es einen solchen Menschen gibt) von der Berechtigung der Ausnahmen sprechen, so ist mein Platz ihm, dem General-Visitator gegenüber allein der eines Untergebenen; denn er muß ja jeden Schlupfwinkel kennen, jedes Versteck, jeden Abweg dort, allwo niemand je an die Möglichkeit eines Weges denkt, er muß des Mißstands gewahr sein können in einem Dunkel, bei dem ein anderer das Vorhandensein eines ihn von der Berechtigung ausschließenden Umstandes nicht argwöhnt.« (SL – 187 f.) Den hier thematisierten Sachverhalt kann man auch in Nietzsches exemplarischem Denken – invertiert und angewandt – wiederfinden: im 14. Abschnitt der ersten Abhandlung von Genealogie positioniert sich Nietzsche als jemand, der das Zustandekommen von Werten in ihren Ursprung zurückdenken kann: »Will Jemand ein wenig in das Geheimniss hinab und hinunter sehn, wie man auf Erden I d e a l e f a b r i z i r t ? Wer hat den Muth dazu? … Wohlan! Hier ist der Blick offen in diese dunkle Werkstätte. Warten Sie noch einen Augenblick, mein Herr Vorwitz und Wagehals: Ihr Auge muss sich erst an dieses falsche schillernde Licht gewöhnen …« (GM – 281) Und genau an diesem ›Ort‹, der die in sich ununterschiedene Moral als Ganze in Beschlag nimmt, befindet sich ein »Sprung« in der Argumentationslinie des exemplarischen Denkens, der die Möglichkeiten von nicht metaphysischer Philosophie prinzipiell überlastet: die Begründung einer Qualität aufgrund psychologischer Kritik. Das ist der sich im Kern des exemplarischen Denkens befindende ideologische Anteil, den etwa Adorno scharf kritisiert. 124 Frater Taciturnus begreift die von Wilhelm geforderte moralische Erziehung durch Leid der womöglich berechtigten Ausnahme als »Selbstquälerei« und fragt – wie auch noch Anti-Climacus in Einübung –, ob »Selbstquälerei« nicht »Sünde« ist bzw. potenziere. Allein schon an diesem Befund zeigt sich, wie Nietzsches (späte) Kritik des Christentums unter der Perspektive der Moral auch die philosophische Erfassung der Sache durch Kierkegaard im Kern nicht trifft, insofern dieser »Sünde« und »Schuld« verschiedenen Sphären zuordnet; »Sünde« und die Erlösung von ihr durch den Glauben an (…) bedeuten, christlich ausgelegt, immer schon einen verwandelten Aspekt auf die Sphäre der Moral.

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Menschen in edlerem Sinne zuletzt als versöhnt mit der gegebenen Ordnung vor. So legt er der Ausnahme in den Mund: »Er ruht in der Überzeugung, die er sich erkämpft hat, und er wird sagen: Schließlich vertraue ich doch darauf, daß es eine gerechte Vernunft gibt, und ihrer Barmherzigkeit will ich mich getrösten, daß sie so barmherzig sei, Gerechtigkeit zu erzeigen«. (EO II – 912) 125 Hätte man dieser Ausnahme im edleren Sinn eine soziale Rolle zuschreiben wollen, wäre sie eine Art Dichter des Religiösen geworden, die innerlich getragen wäre von einer religiösen Überzeugung und durch diese mit dem Allgemeinen versöhnt worden wäre, indem sie es dichtend aus exzentrischer Position verwirklichte. 126 In Die Wiederholung hatte die Ausnahme eindeutig einen sozialen Status und vermittelt politische Bedeutung, ohne dass dieser Punkt von Constantin ausgebaut worden wäre: Sie war Dichter, allerdings sanktionierte deren Berechtigung unter Umständen – legte man sie eben etwa politisch aus – des Teufels Küche. Aber die Frage nach der »Berechtigung« hatte immerhin den Augenschein auf ihrer Seite; aus dieser sozialtheoretischen Perspektive erweist sich schlicht empirisch, wer als Ausnahme sich berechtigt, und aus den Ergebnissen kann mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit ex post deduziert werden, welche Kriterien notwendig sind für eine »Berechtigung«. In der Schrift Furcht und Zittern war die Sache – aus einer anderen Perspektive – schnell geklärt: Die berechtigte Ausnahme war der Auserwählte Gottes. Eines der zentralen Attribute dieses klar gesetzten und unmittelbar erwiesenen Ausgenommenseins war allerdings die Unmöglichkeit der Mitteilung gegenüber dem Allgemeinen. Abrahams Tun (die Verschwiegenheit gegenüber seinen Nächsten und die Bereitschaft zur Opferung Isaaks) ist aus der Perspektive des Allgemeinen »Sünde«. Abraham »existiert als der Einzelne im Gegensatz zum Allgemeinen«. (FZ –

Auch Nietzsche eröffnet dem sich Ausnehmenden in Vom Wege des Schaffenden eine Aussicht auf ›überweltliche Gerechtigkeit‹ : »Mit deiner Liebe gehe in deine Vereinsamung und mit deinem Schaffen, mein Bruder; und spät erst wird die Gerechtigkeit dir nachhinken.« (Z – 82) 126 So hieß es in Entweder – Oder: »Was er an Umfang verlöre, das gewönne er vielleicht an intensiver Innerlichkeit. […] Im Besitz dieser Kraft wird nun jener andere [gemeint ist die Ausnahme im edleren Sinne, R. R.] an den Punkten sein, an denen er das Allgemeine realisieren kann. Seine Trauer wird also wieder verfliegen, sie wird sich in Harmonie auflösen; denn er wird erkennen, daß er an die Grenze seiner Individualität gelangt ist.« (EO II – 912 f.) 125

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246) Aber Abraham war eben kein Mörder, sondern der Auserwählte Gottes, sein Tun durch seinen Glauben zum Opfer verwandelt. Wie hat dann Abraham existiert? Er glaubte. Dies ist das Paradoxon, wodurch er an der Spitze bleibt, das er nicht für einen anderen deutlich machen kann, denn das Paradoxon ist, daß er sich als Einzelner in ein absolutes Verhältnis zum Absoluten setzt. Ist er dazu berechtigt? Seine Berechtigung ist abermals das Paradoxe; denn falls er es ist, ist er es nicht kraft dessen, etwas Allgemeines zu sein, sondern kraft dessen, daß er der Einzelne ist. (FZ – 246 f.)

Abraham war, indem er glaubte, in ein absolutes Verhältnis zum Absoluten gesetzt, und seine mögliche Berechtigung entsprach gerade keinem kommunizierbaren Allgemeinen in ihm, sondern bestand allein darin, als »Einzelner« bestimmt zu sein. 127 Und eben diesen Sachverhalt invertiert Kierkegaard in das Ausnahmetheorem der Stadien aus der Perspektive des Allgemeinen, wobei die Möglichkeit der teleologischen Suspension der Moral in den Existenzverlauf eingelassen wird. Bevor dieser Sachverhalt im nächsten Kapitel genauer dargestellt werden soll, kann Vom Wege des Schaffenden weiter ausgelegt werden, insofern darin das religiöse Ausnahmetheorem exoterisch aufgehoben liegt. Das Ausnahmetheorem, so wie es in Vom Wege des Schaffenden 127 An dieser Stelle kann Zarathustras beredtes Verschwiegensein in Die stillste Stunde in Erinnerung gerufen werden. »Nun hörtet ihr Alles, und warum ich in meine Einsamkeit zurück muss. Nichts verschwieg ich euch, meine Freunde. / Aber auch diess hörtet ihr von mir, w e r immer noch aller Menschen Verschwiegenster ist – und es sein will! / Ach meine Freunde! Ich hätte euch noch Etwas zu sagen, ich hätte euch noch Etwas zu geben! Warum gebe ich es nicht? Bin ich denn geizig?‹ –« (Z – 190) Bemerkenswert ist insbesondere die Sperrung des »wer«, das die substantielle Verborgenheit Zarathustras anzeigt. Wirklich »er« ist Zarathustra nur in »Einsamkeit«, und das in ihr aufgehobene Selbstverhältnis lässt sich notwendig nicht kommunizieren: jeder hat seine Einsamkeit. Auch Kierkegaard geht es in seiner Auslegung des Abraham-Narratives um diesen Aspekt der Verborgenheit, des Schweigenmüssens. Das Diktum: »Gibt es keine Verborgenheit, die ihren Grund darin hat, daß der Einzelne als der Einzelne höher ist als das Allgemeine, dann läßt Abrahams Verhalten sich nicht rechtfertigen; denn er hat die ethischen Zwischeninstanzen übersehen« (FZ – 273) hat folgende Definition des Ethischen zur Voraussetzung: »Das Ethische ist als solches das Allgemeine, als das Allgemeine ist es wiederum das Offenbare. Der Einzelne ist als unmittelbar sinnlich und seelisch bestimmt der Verborgene. Dann ist seine ethische Aufgabe, sich aus seiner Verborgenheit herauszuentwickeln und im Allgemeinen offenbar zu werden. Immer wenn er dann im Verborgenen bleiben will, so versündigt er sich und befindet sich in Anfechtung, aus der er nur herausgelangt, indem er sich offenbart.« (FZ – 273)

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formuliert wird, mündet in Rückfragen, die trotz der vorausgeschickten Vorwarnungen bezogen auf die Gefahren der Vereinsamung einen nachhaltigen Willen zur Vereinsamung bekunden. Dieses Fragen ist ein Fragen nach der Berechtigung. Der die Ausnahmetheorie Lehrende – Zarathustra der Erzieher – muss hypothetisch vorgestellt werden als jemand, der einen Maßstab in der Hand hat, um die Frage nach der Berechtigung zu klären, der ihr Bedeutung geben kann. »Aber du willst den Weg deiner Trübsal gehen, welches ist der Weg zu dir selber? So zeige mir dein Recht und deine Kraft dazu!« (Z – 80) Der sich Ausnehmende ist einem Meta-Maßstab unterstellt: Zarathustra (als der utopischen Erfüllung von Einsamkeit), der das Subjekt der Ausnahme berechtigt. Mit den folgenden Rückfragen erinnert Nietzsche an die erste Rede, Von den drei Verwandlungen, als anstehendem Telos des sich verwandelnden Geistes: »Bist du eine neue Kraft und ein neues Recht? Eine erste Bewegung? Ein aus sich rollendes Rad? Kannst du auch Sterne zwingen, dass sie um dich sich drehen?« (Z – 80) Das Kind wurde mit diesen Attributen umschrieben, wobei hier die Unterscheidung zu einer herkömmlich-moralischen Weltauslegung ins Auge sticht: »Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.« (Z – 31) Die folgenden Kriterien formulieren sich via negationis, der Methode des exemplarischen Denkens schlechthin. »Ach, es giebt so viel Lüsternheit nach Höhe! Es giebt so viel Krämpfe der Ehrgeizigen! Zeige mir, dass du keiner der Lüsternen und Ehrgeizigen bist!« (Z – 31) War es Kierkegaard möglich, durch die Metapher der »Ehe«, sanktioniert durch »die Gottheit«, die Sinnlichkeit der Ausnahme auf ihrem einsamen Lebensweg unverfänglich zu orientieren dahingehend, dass sie nicht in (geistige) Selbstbefriedigung mündete, so hat Nietzsche ›nur‹ den Namen »Zarathustra« in der Hand (als die Verwirklichung seines Konzeptes von »Freundschaft«), um Analoges zu leisten, obschon es auch ihm um eine innerweltliche Unterscheidung der Sinnlichkeit geht. Vorher konzedierte er beispielsweise vor dem Jüngling: In die freie Höhe willst du, nach Sternen dürstet deine Seele. Aber auch deine schlimmen Triebe dürsten nach Freiheit. / Deine wilden Hunde wollen in die Freiheit; sie bellen vor Lust in ihrem Keller, wenn dein Geist alle Gefängnisse zu lösen trachtet. / Noch bist du mir ein Gefangner, der sich Freiheit ersinnt: ach, klug wird solchen Gefangnen die Seele, aber auch arglistig und schlecht. (Z – 53)

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Allein die Insistenz auf »Liebe und Hoffnung« (Z – 53) soll in ihrem ätherischen Mehrwert gegenüber bloßer Lust an sich selbst einen Unterschied machen. Die entscheidende Information, wie man Zarathustra durch die Tat zeigen kann, dass man nicht im unberechtigten Sinne nach dem strebt, das selbst wiederum inhaltlich nicht konkreter bestimmt werden kann, bleibt ungesagt. Die weiteren Anfragen nach der Berechtigung wirken eher – analog den überlastenden Forderungen Wilhelms (in Stadien) – abschreckend denn einladend, deswegen zumal, weil man nicht weiß, wie genau man sich innerhalb der Unterscheidungen Zarathustras bewähren soll. Frei nennst du dich? Deinen herrschenden Gedanken will ich hören und nicht, dass du einem Joche entronnen bist. / Bist du ein Solcher, der einem Joche entrinnen durfte? Es giebt Manchen, der seinen letzten Werth wegwarf, als er seine Dienstbarkeit wegwarf. / Frei wovon? Was schiert das Zarathustra! Hell aber soll mir dein Auge künden: frei wozu? (Z – 81)

Die ethischen Bestimmungen bleiben formal, jeder Substantialität bar. Auch folgende Konkretisierung erinnert nur als leere Verkehrung an Kant. »Kannst du dir selber dein Böses und dein Gutes geben und deinen Willen über dich aufhängen wie ein Gesetz? Kannst du dir selber Richter sein und Rächer deines Gesetzes?« (Z – 81) Die hier vorgestellte autonome Gesetzgebung unterscheidet sich dahingehend von der Kants, als die Moral des sich potentiell berechtigenden Ausnehmenden hier keinem allgemein-menschlichen Sittengesetz entspringt, vor dem es keine Ausnahmen gibt, 128 sondern zunächst als radikal vereinzelnd vorzustellen ist. »Furchtbar ist das Alleinsein mit dem Richter und Rächer des eignen Gesetzes. Also wird ein Stern hinausgeworfen in den öden Raum und in den eisigen Athem des Alleinseins.« (Z – 81) Nach dem »Tod Gottes« als der Formel, welche die Irritation aller allgemein-menschlichen Verbindlichkeiten ab Scho-

Für eine komprimierte und kritische Darstellung der Ausnahmeproblematik im Denken Kants vgl. die Studie von Stegmaier (2003), hier S. 127–132, der – polemisch – durch die Unterscheidung Kants von »Allgemeinheit« in »generalitas« und »universalitas« hervorhebt, dass bereits das Sittengesetz als eine Ausnahme gegenüber der regelhaften Natur der Dinge zu werten ist. »Von der generalitas, die in der Beobachtung der Natur die Regel ist, muß für die universalitas, deren das Sittliche bedarf, eine generelle Ausnahme gemacht werden.« (S. 128), an die sich eine Kette weitere Konzessionen in Richtung »Ausnahme« im Denken Kants anbinden. 128

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penhauer 129 in ihrem Fundament bedeutet, müssten neue Gesetze des Lebens und Handelns gestiftet werden, deren ›Güte‹ auf einem übermoralischen Fundament beruhen müssten, insofern das Gute und Böse erster Ordnung aus sich selbst heraus seine Güte nicht bestimmen kann. Was in Vom Wege des Schaffenden formale Proklamation bleibt, wird an der Gestalt des Zarathustra in ihrem Weg zu sich durchgeführt. Nietzsche ›zeigt‹ am Selbstvollzug seines Protagonisten, welchen Inhalt die Lehren Zarathustras haben. Im Zarathustra, als dem nach dem Tod des moralischen Gottes in die Welt tretenden Appell neue Sonnen zu begründen, wird die Haltlosigkeit des immanent ausgereizten moralischen Anspruchs einmalig zugespitzt im Kapitel Vom Biss der Natter, in dem sich ein »Zeichen des Widerspruchs« findet, das sich an die Tradition jüdisch-christlicher Weltauslegung andockt, um diese im Kern zu verwandeln: »Hütet euch, den Einsiedler zu beleidigen! Thatet ihr’s aber, nun, so tödtet ihn auch noch!« (Z – 89)

Der Nietzsche von Schopenhauer als Erzieher behauptet als zweite Konstitutionsgefahr: »Verzweiflung an der Wahrheit. Diese Gefahr begleitet jeden Denker, welcher von der Kantischen Philosophie aus seinen Weg nimmt, vorausgesetzt dass er ein kräftiger und ganzer Mensch in Leiden und Begehren sei und nicht nur eine klappernde Denk- und Rechenmaschine.« (SE – 355)

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II.3 Einsamste Einsamkeit – religiöse Ausnahmetheorie

In diesem Kapitel kann gezeigt werden, wie Kierkegaard und Nietzsche die religiöse Sphäre ihres Denkens aufbrechen, indem sie ihre anti-begriffliche Methode radikal zuspitzen: sie beziehen durch Figuren, die Moral lehren, eine Position, durch deren Forderungen es um das Sein oder Nicht-Sein der Ausnahme geht. Bevor dies anschaulich gemacht wird, muss ein Blick auf die Mitteilungsstrategien Kierkegaards und Nietzsches geworfen werden.

II.3.1 Das »Zeichen des Widerspruchs« Bereits in Stadien steht ein Motto Lichtenbergs folgenden Wortlauts voran: »Solche Werke sind Spiegel: wenn ein Affe hineinguckt, kann kein Apostel heraussehen.« (SL – 8) 1 Sowohl Kierkegaard als auch Nietzsche haben – das belegt das dominierende Forschungsinteresse der vergangenen Jahrzehnte – besonderes Gewicht auf die Strategien ihrer Mitteilungsverfahren und -möglichkeiten gelegt: Beide Philosophen sind Denker indirekter Mitteilung. Was das Lichtenbergwort sagt bezogen auf die Werke Kierkegaards, ist nicht weiter schwierig zu verstehen. Die Auslegung des Werks exemplarischen Denkens ist selbst-offenbarend, sofern man sich urteilend zu ihm verhält. 2 Gleichzeitig sind Kierkegaard und Nietzsche keine Glasperlen1 Ein Zwischenrede genannter Text aus Die fröhliche Wissenschaft lautet, mit analoger Stoßrichtung: »Hier sind Hoffnungen; was werdet ihr aber von ihnen sehen und hören, wenn ihr nicht in euren eigenen Seelen Glanz und Gluth und Morgenröthen erlebt habt? Ich kann nur erinnern – mehr kann ich nicht! Steine bewegen, Thiere zu Menschen machen – wollt ihr das von mir? Ach, wenn ihr noch Steine und Thiere seid, so sucht euch erst euren Orpheus!« (FW – 528) 2 Stegmaier (2010), S. 150 f. fasst diesen Sachverhalt mit Nietzsches Rückhalt als Selbstkompromittierung. »Angesichts der Unerschöpflichkeit und Unergründlichkeit von Nietzsches Texten lag seinen wissenschaftlichen Interpreten zumeist daran, eine

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spieler, man darf bei all den triftigen Gründen, auf die Mitteilungsstrategien aufmerksam zu sein, nicht den ethischen Ernst dieser Denker ausklammern. Das Vergleichsmodell dieser Studie geht einen Mittelweg zwischen der Skylla des »anything goes« 3 als der beliebigen Relativierbarkeit ad infinitum und der Charybdis des Willen-zurMacht-Paukisten auf Seiten Nietzsches bzw. des der Welt absterbenden Nachfolgers Christi auf Seiten Kierkegaards. Kierkegaard lässt Anti-Climacus Gedanken zur Mitteilungsproblematik formulieren, die sich auf den Gott-Menschen beziehen und dessen Unmöglichkeit, sich direkt mitzuteilen. Diese sollen aufbereitet werden, um anschließend das philosophische Analogon bei Nietzsche in den Blick zu bringen. Anti-Climacus moniert im zweiten Teil von Einübung, 4 im Abschnitt Die Denkbestimmungen des ›Ärgernisses‹, das heisst die des wesentlichen Ärgernisses, dass man das Christentum in »lauter direkte Mitteilung« aufgelöst und damit letztlich abgeschafft habe. Der Lehrer, so die These Anti-Climacus’, ist allerdings wichtiger als die Lehre, zumal in Anbetracht des Gott-Menschen, für den als Inbegriff des Paradoxons jede direkte Mitteilung unmöglich ist. »Aber in unserer Zeit macht man alles abstrakt und schafft alles Persönliche ab: man nimmt Christi Lehre und schafft Christus selber ab. Das bedeutet aber: das Christentum abschaffen.« systematische Interpretation zu finden, mit der sie selbst etwas anfangen konnten, und bisher hat sich jeder damit kompromittiert. Jeder wird darin kenntlich, wie er Nietzsche interpretiert.« Diese Aussage könnte dahingehend als bedenklich gedeutet werden, als sie Furcht vor dem akademischen Nachbarn erweckt, insofern man unbedingt vermeiden will, sich selbst zu kompromittieren, wobei zuletzt ein unpersönlicher Umgang mit Nietzsche und Kierkegaard das Ergebnis wäre. So ließe sich Stegmaiers Standpunkt mit folgenden Äußerungen fortspinnen: ›Andere, sogar Philosophen des Ranges Heideggers, haben sich im Umgang mit den exemplarischen Denkern kompromittiert; ich muss mich also davor hüten, im Umgang mit ihnen Stellung zu beziehen, da ich ja mehr über mich dadurch verrate als über deren Philosophie aussage.‹ Darauf will Stegmaier aber scheinbar nicht hinaus, was aus dem Folgesatz ersichtlich wird: »Das Sich-aneinander-Kompromittieren treibt am schärfsten die Inter-Individualität des Philosophierens hervor.« (Ebd.) Mit der hier geleisteten Befestigung der Inter-Individualität am flüssigen und doch unverrückbaren und verantwortlichen Bezugspunkt im »Einsamen« bekommt Stegmaiers Apell eine existentielle Basis. 3 Lämmert (1987), S. 64 polemisiert gegen postmoderne Adaptionen des Perspektivismus als eines »anything goes« und orientiert, wie es diese Studie mit einfältigeren Mitteln macht, seinerseits seine Kritik an Nietzsches Auffassung von »Liebe«. 4 Vgl. für eine gründliche Rekonstruktion und kritische Einordnung in das Konzept indirekten Mitteilens bei Kierkegaard im Ganzen Schwab (2012), S. 276–291. Modulationen der Einsamkeit

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(EC – 146 f.) Anti-Climacus führt die überwiegende Bedeutung der Tatsache, dass Gott als dieser einzelne Mensch existiert hat näher aus, indem er ihn als ein »Zeichen des Widerspruchs« deutet. Ein Zeichen ist, so wird erläutert, eine »negierte Unmittelbarkeit«, das heißt, es bedeutet nicht unmittelbar, was es ist. Um die Bedeutung eines Zeichens zu verstehen, wird also eine »Reflexionsbestimmung« erforderlich. Das Auffallende ist das Unmittelbare, aber daß ich es als ein Zeichen betrachte [was ein Reflex ist, etwas, was ich gewißermaßen aus mir selbst heraushole], ist ja der Ausdruck dafür, daß ich meine, es solle etwas bedeuten; daß es etwas bedeuten soll, heißt ja aber, daß es etwas anderes ist, als es unmittelbar ist. (EC – 147)

Jener Affe – Vertreter reiner Sinnlichkeit, analog dem Wurm in Schillers Ode an die Freude – nimmt alles für bare Münze, erkennt Zeichen also nicht als Zeichen, und der Apostel – Repräsentant reinen Geistes – sähe überall nur göttlichen Sinn. Der Mensch schwebt zwischen diesen Möglichkeiten. Diese Theorie vom Zeichen, die wirksam wird für den Menschen als reflektierendes Wesen, auch und gerade wenn etwas nicht dezidiert als Zeichen konzipiert ist, man also nicht sicher weiß, ob etwas Auffallendes ein Zeichen ist und man entsprechend auch nicht sicher wissen kann, was es bedeutet, wird verschärft zur Theorie des »Zeichens des Widerspruchs«, welches als ein Zeichen bestimmt wird, das in sich einen Widerspruch enthält (vgl. EC – 147). Anti-Climacus erläutert weiter wie folgt, sich absetzend von der Annahme, dass etwas Unmittelbares, das als Zeichen gedeutet wird, bereits einen Widerspruch anzeige: Ein Zeichen des Widerspruchs ist dagegen ein Zeichen, das in seiner Zusammensetzung einen Widerspruch enthält. Damit es den Namen ›Zeichen‹ verdient, muß etwas vorhanden sein, wodurch es die Aufmerksamkeit auf sich oder auf den Widerspruch lenkt. Die Widersprüche dürfen sich aber gegenseitig nicht so aufheben, daß nichts übrigbleibt, auch nicht so, daß das Gegenteil eines Zeichens, etwas unbedingt Verborgenes daraus entsteht. (EC – 148)

Der Gott-Mensch ist nun für Anti-Climacus das Zeichen des Widerspruchs, wie er es in freier Übernahme von Lk 2,34 deutet. Die Tatsache, dass dieser einzelne Mensch behauptet, er sei Gott, ist das Zeichen des Widerspruchs. Die Auffassung des Christentums in der Philosophie, gegen die diese Theorie konzipiert wird, macht aus dem Zeichen des Widerspruchs eine »spekulative Einheit von Gott und 306

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Mensch« (EC – 149) und behauptet damit, Christentum wäre ausschließlich Lehre. »Der Gott-Mensch ist ein einzelner Mensch – keine phantastische Einheit, die niemals existiert hat, es sei denn sub specie aeterni; und nichts ist er weniger als ein Dozierender […]«. (EC – 149) Aus der modernen Perspektive auf das Christentum »ist alles so unmittelbar einleuchtend geworden, daß alles glatt eingeht« (EC – 149), man bekommt den Widerspruch gar nicht mehr recht zu spüren. Auf die Frage, warum der Gott-Mensch ein Zeichen des Widerspruchs war bzw. sein wollte, dessen Wesen man nicht durch Denken allein beikommen kann, antwortet Anti-Climacus: »Weil er – so antwortet die Schrift – die Gedanken der Herzen offenbar machen sollte.« (EC – 149) Jede ethisch urteilende Äußerung über das Zeichen des Widerspruchs spült sozusagen zugleich einen Kommentar aus unvordenklichen Regionen des Selbst mit auf, der jenem Urteil selbst ans Mark geht. Irgend etwas macht, daß man sehen muß – und siehe, indem man sieht, schaut man gleichsam in einen Spiegel: man muß sich selber anschauen – oder anders ausgedrückt: er, der das Zeichen des Widerspruchs ist, schaut einem gerade ins Herz hinein, indem man in diesen Widerspruch hineinstarrt. Ein Widerspruch, der einem Menschen direkt gegenübergestellt wird, ist ein Spiegel – falls man den Menschen dazu kriegen kann, in ihn hineinzuschauen; indem er dann urteilt, muß es offenbar werden, was in ihm wohnt. (EC – 149)

Diese Aufbereitung ist hinreichend, um deutlich zu machen, dass Nietzsche im Zarathustra in eminentem Sinne den Effekten dieser Gedanken eingedenk ist und sie durch ein Buch überbrückt. 5

5 Die Metapher des »Spiegels« wurde in Schopenhauer als Erzieher an zwei eminenten Stellen angewandt: einmal in jener Passage, wo aufgefordert wurde, die Schriften Schopenhauers als Spiegel der Zeit zu nutzen, um das an sich Zeitgemäße klar in das Bewusstsein zu bekommen und durch Selbstläuterung zu überwinden (vgl. SE – 362) und ein zweites Mal dort, wo es um die esoterische Essenz der Philosophie Nietzsches ging: die Selbsterlösung der Natur im Menschen als »Menschen«, in welchem sich »das Dasein […] einen Spiegel vorhält, auf dessen Grunde das Leben nicht mehr sinnlos, sondern in seiner metaphysischen Bedeutsamkeit erscheint«. (SE – 378) Und jene in Ecce Homo. Wie man wird, was man ist (vgl. EH – 276) formulierte Einschätzung über den Zarathustra als einen »Dithyrambus auf die Einsamkeit«, welchem Attribut »Reinheit« an die Seite gestellt wurde und die »Farbe« »diamanten«, welche nur spezifische Qualität erhält, indem ein spezifisch individuierter Mensch in sie blickt, ist eben die ausgehärtete, zugleich bescheidenere Einlösung jener ursprünglich über »Schopenhauer« vermittelten Ahnungen.

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II.3.1.1 Die Aufforderung zur Tötung des »Einsamen« (Z) Nietzsche bringt den Selbstwiderspruch des Allgemeinen mit sich selbst komprimiert zur Geltung im Kapitel Vom Biss der Natter des ersten Buchs Zarathustra und dockt an Narrative der jüdisch-christlichen Tradition an, um diese zu verwandeln. Es muss hier nicht mehr erst herausgearbeitet werden, dass Nietzsches Zarathustra mit all seiner Leidenschaft auf das Wesen des »Einsamen« baut; seine Lehren gelten allein ihm und können allein Bedeutung erhalten in ihm. Vor diesem Hintergrund ist es wie das Aufreißen eines Abgrunds, wenn Zarathustra seine Brüder unter spezifischen Umständen zur Tötung des Einsamen auffordert. Zarathustra lehrt Moral, im ersten Buch forciert, besonders anspielungsreich in Vom Biss der Natter und erweist sich wie der Wilhelm der Stadien dadurch als eine Figur der Verlassenheit – die sich idealiter einen Mord auf das Gewissen lädt. Vom Biss der Natter bespricht, ausgehend von einem Gleichnis, Fragen über Recht und Unrecht, welche sich aporetisch zuspitzen in Anbetracht der (Un-)Möglichkeit weltlicher Gerechtigkeit. Das Gleichnis selbst hat folgenden Inhalt: Zarathustra wird eines Tages, von Müdigkeit übermannt und unter einem Feigenbaum eingeschlafen, von einer Natter in den Hals gebissen; er erwacht schreiend, die Schlange erkennt Zarathustra und will fliehen. Zarathustra allerdings reagiert überraschend freundlich und gelassen. Als er sieht, dass sich die Schlange fortmachen will, ruft er sie zurück, da er sich noch gar nicht bei ihr bedankt habe für diesen Weck-Dienst, der seinem bevorstehenden, langen Weg nützlich sei. Die Schlange erwidert verschämt, dass Zarathustras Weg nur mehr kurz sei, da ihr Gift töte. Zarathustra hält rhetorisch fragend entgegen, wann denn je ein Drache am Gift einer Schlange gestorben wäre, und fordert die Schlange auf, ihr Gift zurückzunehmen, da sie nicht reich genug wäre, es zu verschenken. Die Schlange, erlöst von ihrem Schuldbewusstsein, fällt Zarathustra um den Hals und »leckte ihm seine Wunde«. (Z – 87) Zarathustra betont gegenüber seinen Brüdern erläuternd, dass ihn die »Guten und Gerechten« den Zerstörer der Moral nennen, seine Geschichte entsprechend unmoralisch sei. In der Folge allerdings entwirft Zarathustra selbst ein Set an Moralkodizes, das der Moral der »Guten und Gerechten« eine andere Moralität entgegensetzen soll. Zarathustras moralistische Sprüche und soziale Klugheitslehren spitzen sich sachlich immer deutlicher zu und münden in der moralisierenden Anklage seiner Brüder selbst, die er mit der Kritik ihrer 308

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Auffassung von weltlicher Gerechtigkeit vor den Kopf stößt: »Ich mag eure kalte Gerechtigkeit nicht; und aus dem Auge eurer Richter blickt mir immer der Henker und sein kaltes Eisen. / Sagt, wo findet sich die Gerechtigkeit, welche Liebe mit sehenden Augen ist?« (Z – 88) Wesentlich behauptet dieses Zitat die prinzipielle Unmöglichkeit weltlicher Gerechtigkeit; »gerechte Strafe« ist neben einer Lust an Grausamkeit und Rache womöglich auch deswegen eine contradictio in adiecto, insofern eine verbrecherische Tat nie vollends auf ihren Grund zurückzuführen ist. Insofern bedeutet Strafen Vergeltung eines Unrechts durch ein weiteres, und nicht dessen Wiedergutmachung. Man müsste bis ins letzte wissen, warum der Täter sein »Unrecht« begangen hat (»Liebe mit sehenden Augen« leben) – was unmöglich ist –, und damit ist noch nicht der Punkt belangt, wie der schließlich Richtende von seiner Wiederverschuldung am Bestraften durch seine ungerechte Tat freigesprochen werden dürfte. »So erfindet mir doch die Liebe, welche nicht nur alle Strafe, sondern auch alle Schuld trägt! / So erfindet mir doch die Gerechtigkeit, die Jeden freispricht, ausgenommen den Richtenden!« (Z – 88) Schließlich kulminiert die Rede Zarathustras, nach der entsprechenden Einsicht, dass niemand jedem das Seine (gemeint sind die dritten Personen) geben könne und sich damit begnügen muss, jedem das Seine (also sich selbst) zu geben, in einem Mahnruf an seine Brüder im Umgang mit dem »Einsiedler«. Im eminenten Sinne dürfe man ihm kein Unrecht tun, denn er könne – qua »Einsiedler« – nicht vergessen und nicht vergelten, seine Lebensäußerungen brechen sich im Raum des eignen Selbst, ohne adäquat in die Außenwelt geleitet und also kompensiert werden zu können. Er sei ein »tiefer Brunnen«, man könne leicht Steine in ihn hineinwerfen, aber nicht wieder herausholen, wenn sie bis zum Grunde gesunken seien. Und schließlich mündet Zarathustras Mahnruf in dem Satz: »Hütet euch, den Einsiedler zu beleidigen! Thatet ihr’s aber, nun, so tödtet ihn auch noch!« (Z – 89) 6 Dieses Szenario findet einen beachtlichen, die vorliegende Interpretation stützenden Widerhall in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung: »Die Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen, nicht vertuscht, sondern in alle Welt geschrieen zu haben, hat den Haß entzündet, mit dem gerade die Progressiven Sade und Nietzsche heute noch verfolgen. Anders als der logische Positivismus nahmen beide die Wissenschaft beim Wort. Daß sie entschiedener noch als jener auf der Ratio beharren, hat den geheimen Sinn, die Utopie aus ihrer Hülle zu befreien, die wie im kantischen Vernunftbegriff in jeder großen Philosophie enthalten ist: die einer Menschheit, die, selbst nicht mehr ent-

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Dieses Allusionsszenario ist biblischen 7 Ursprungs und bekundet Nietzsches Umwertungswillen, der mit Paulus gegen Paulus sagt: »Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.« (2 Kor 3,6) Im vierten Buch Mose wird das auserwählte Volk 8 vom Auswählenden in die Wüste geschickt, wobei es dadurch von der Unterjochung durch Ägypten befreit wird. Ein Großteil des Volkes sehnt sich zurück unter den relativen Wohlstand in der Lage seiner Unterdrückung. Da schickte der Herr Giftschlangen unter das Volk. Sie bissen die Menschen und viele Israeliten starben. Die Leute kamen zu Mose und sagten: Wir haben gesündigt, denn wir haben uns gegen den Herrn und gegen dich stellt, der Entstellung nicht länger bedarf. Indem die mitleidlosen Lehren die Identität von Herrschaft und Vernunft verkünden, sind sie barmherziger als jene der moralischen Lakaien des Bürgertums. ›Wo liegen deine größten Gefahren?‹ hat Nietzsche sich einmal gefragt […], ›im Mitleiden‹. Er hat in seiner Verneinung das unbeirrbare Vertrauen auf den Menschen gerettet, das von aller tröstlichen Versicherung Tag für Tag verraten wird.« (Horkheimer/Adorno (2003), 142 f.) 7 Nicht ausschließlich biblischen Ursprungs: Auch in Platons Symposion wird der Biss der Natter bemüht, und zwar in jener Passage, wo der betrunkene Alkibiades nach Analogien sucht, um den abgründigen Schmerz zu beschreiben, den der »Stachel der Philosophie« in sein Herz bohrte. Hier soll allein interessieren, dass Alkibiades den Schmerz, der durch einen Natterbiss erzeugt wird, als eigentümlich namenslos beschreibt derart, dass man über ihn sich nur auslassen kann gegenüber solchen, die ihn selbst erlebt haben (vgl. Symposion 217a). Damit ist gemeint, dass eine Art vorrationaler ›Verwandtschaft‹, Verbundenheit gegeben sein muss, die durch Kommunikation nicht eingeholt werden kann. Wenn Nietzsche auch diesen Gedankenzusammenhang im Hinterkopf hat bei der Ausformulierung von Vom Biss der Natter, liegt auf der Hand, dass hier ein Schmerz im Sinne einer ›tödtlichen Verletzung‹ zugefügt ist, den man nicht mehr direkt mitteilen kann, und der sich dadurch umso mehr verschärft. Kierkegaard beschreibt eine analoge Erfahrung als den »Pfahl im Fleisch« und gibt dieser absolut einsamen Dimension des Schmerzes allgemein-menschliches Gewicht in der gleichnamigen Erbaulichen Rede (vgl. GW 5). Immerhin hat er wiederum eine biblische Vorlage, nämlich 2 Kor 12,7, wo Paulus erläutert: »Damit ich mich wegen der einzigartigen Offenbarung nicht überhebe, wurde mir ein Stachel ins Fleisch gestoßen: Ein Bote Satans, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe.« Es entbehrt nicht der Ironie, wenn der Kommentar der Einheitsübersetzung zu dieser Passage folgenden, medizinisch-aufgeklärten Inhalt hat: »Paulus spricht wohl von einer Krankheit, die sein Wirken beeinträchtigte (vgl. Gal 4,13 f.). Näheres wissen wir darüber nicht.« 8 Es ist hier der Erwähnung wert, dass die von Zarathustra auserwählten »Einsamen« als neues Auserwähltes Volk in den Blick kommen. So heißt es im das erste Buch beschließenden Kapitel Von der schenkenden Tugend: »Ihr Einsamen von heute, ihr Ausscheidenden, ihr sollt einst ein Volk sein: aus euch, die ihr euch selber auswähltet, soll ein auserwähltes Volk erwachsen: – und aus ihm der Übermensch.« (Z – 100 f.)

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aufgelehnt. Bete zum Herrn, dass er uns von den Schlangen befreit. Da betete Mose für das Volk. Der Herr antwortete Mose: Mach dir eine Schlange und häng sie an einer Fahnenstange auf! Jeder, der gebissen wird, wird am Leben bleiben, wenn er sie ansieht. Mose machte also eine Schlange aus Kupfer und hängte sie an einer Fahnenstange auf. Wenn nun jemand von einer Schlange gebissen wurde und zur Kupferschlange aufblickte, blieb er am Leben. (4 Moses 21, 6–9)

Dieses Szenario liest der Verfasser des Johannes-Evangeliums auf das Ereignis Jesus Christus hin. Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der (an ihn) glaubt, in ihm das ewige Leben hat. Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird. Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er an den Namen des einzigen Sohnes Gottes nicht geglaubt hat. (Joh 3, 14–18)

»Zarathustra« fügt sich in diese Zuspitzung und hebt als Text den biblischen Erlösungsanspruch der Wahrheit auf in die Essenz des »Einsamen«, die jenseits von Gut und Böse entspringt. Eine Gerechtigkeit als Liebe mit sehenden Augen kann die Welt nicht stiften, die unter Umständen erfahrene tödliche Verletzung des »Einsamen« muss durch ihn selbst – »schaffend« – zu neuem Leben erweckt werden. Zarathustra gibt ein Beispiel, und Nietzsche zeigt dessen Bedeutung dadurch an, dass Zarathustra an sich durchmachen muss, was er lehrt. Jene Aufforderung zur Tötung des Einsiedlers argumentiert in der Logik einer unterschiedslos gedachten Welt im Modus des tertium non datur. Als Warnung inszeniert (Hütet euch!), argumentiert Zarathustra doktrinär, indem er – formal durch eine Wenn-dannKonstruktion markiert – einer gegebenen Bedingung eine entsprechende Forderung, einen Imperativ folgen lässt. Diese Zuspitzung kann in Rücksicht auf das bereits Erschlossene gedeutet werden als eine negative Utopie, als Nietzsches Horror vacui, einer Welt, in welcher »ungewöhnlichen Menschen« kein Lebensraum mehr zugewiesen werden kann, in der »Einsamkeit« als vorbegriffliche Zone des In-der-Welt-Seins nicht die Möglichkeit eines Mehrwerts gegenüber der gegebenen Ordnung bewahrt. Der Modulationen der Einsamkeit

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»Einsame« ist so gesehen ein Blatt, das an einem Eck in Öl getränkt wurde und sich so von seiner restlosen Assimilierung in das Bestehende und Beschreibung durch es bis zuletzt verwahrt, ohne darin unterzugehen. 9 Es gäbe nun viele Möglichkeiten, das hier entworfene Panorama theoretisch auszurichten und zu fundieren. In Anschluss an Stegmaier 10 kann die These einer »negativen Utopie« dadurch erhärtet werden, indem gezeigt wird, inwiefern Nietzsches Chiffrierung des »Einsiedlers« als eines »tiefen Brunnens« eigentümlich substanzlos ist dadurch, dass hier nur die Form angesprochen ist (tiefer Brunnen), ohne das belebende Element (Wasser). Nietzsche inszeniert dadurch eine starre, statisch-leblose Metaphorik, die dem Flusscharakter des Lebens widerspricht. Am Brunnen ist nicht sein »Grund« entscheidend – diesem Missverständnis kann nur ein morallehrender Geist der Rache aufsitzen. Vielmehr ist dem Brunnen wesentlich die in ihm entspringende Quelle als die metaphorische Auflösung des Denkens vom Grunde. Zarathustras Wort erliegt hier äußerlich, sichtbar dem Unbedingtheits-Anspruch des Morallehrers. Der Weg »Zarathustras« hin zu seiner Selbsterlösung in »einsamster Einsamkeit« ist auch noch lange; er wird ihn über die Sphäre der Moral hinausheben, innerhalb derer er sich einen Mord auf das Gewissen geladen hat. Hier erst wird das mögliche Resultat seiner ›mörderischen‹ Lehren zum Selbstopfer verklärt; Nietzsches schaffendes Selbstverhältnis in die Welt – in seinem Sohn Zarathustra – entbunden. Auch der Quidam hat einen Mord auf dem Gewissen der Möglichkeit nach; diese dämonisiert ihn in die Sphäre des Religiösen, ohne dass er darin auf seine Erlösung hoffen dürfte (so will es die Experimentanordnung): Schuld daran hat die in sich haltlose Forderung der Moral.

II.3.1.2 Der Mord auf dem Gewissen (SL) Wilhelm fordert vom sich Ausnehmenden spezifische Leiderfahrungen, die als Loslösungsprozesse und Umwertungsleistungen beDieses Bild hat seinen substantiellen Ursprung in Nietzsches Aphorismus Einsame Menschen (MA I – 352) aus Menschliches, Allzumenschliches, in welchem Text vollkommen unprätentiös »Einsamkeit« als selbstgenügsame, und also gute Verhältnislosigkeit bezogen auf die gegebene Ordnung des zwischenmenschlichen, moralischen Vergleichs gedacht wird. 10 Vgl. Stegmaier (2010). 9

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schrieben wurden. Deren ›Verbindlichkeit‹ liegt wesentlich in der Bedeutung des »Mitleids« begründet. Die Figur Wilhelm ist dabei derart konzipiert, dass sie die prekären Voraussetzungen ihrer Ausnahmetheorie nicht in den Blick bekommt. Im Gegensatz dazu ist Frater Taciturnus derart veranlagt, dass er die Sphäre der Moral im Ganzen überblicken kann. Taciturnus beschreibt die Qualität seiner Reflexionen als metaphysisch. Er sei in Leidenschaftslosigkeit zur Ruhe gekommen und vermag es, die Wirklichkeit vom Einheitspunkt des Komischen und Tragischen aus zu überblicken (vgl. SL – 464). Somit kann Frater Taciturnus die Schwächen des rein immanent-ethischen Standpunkts bezeichnen, was anhand der Auswertung des in der Figur Quidam durchgeführten Ausnahmetheorems geschieht. Kierkegaards hier noch unterschwellig anwesendes christliches Denken spitzt sich in Stadien und darin vor allem in den Beobachtungen des Frater Taciturnus ersichtlich zu. Das belegt der Befund, dass die Ausnahme der Möglichkeit nach einen Mord auf ihr Gewissen lädt. Dass diese Möglichkeit keinen ›Durchbruch‹ zur Wirklichkeit erfährt, bedeutet die sich hier in Kierkegaards Denkweg vorbereitende Entkoppelung des Ausnahmetheorems von seinen jüdischen und ›heidnischen‹ Reminiszenzen. Kierkegaard markiert die Schnittstellen seiner verschärften, in eine religiöse Offenheit hin zugespitzten Ausnahmetheorie zwischen den Standpunkten seiner Gestalten. Wilhelms Lebensanschauung wurde im Abschnitt II.2.5.2 – sachlich begründet – durch Nietzsches Genealogieprojekt untergraben, indem gezeigt wurde, dass der sich aus Moral rechtfertigende ethische Standpunkt die unheimliche Ahnung seiner Insuffizienz womöglich gewaltsam vom Leibe halten muss, um nicht angesichts seiner Haltlosigkeit zu kollabieren. Diese Kluft zwischen Begründungsnot und Werteüberzeugung wird dabei überbrückt durch eine unhinterfragbare Voraussetzung. Die Pointe in der Architektur der Stadien ist die, dass Taciturnus aufgrund seiner ›exzentrischen Positionalität‹ im Verhältnis zur Sphäre der Moral zeigen kann, dass der immanente ethische Standpunkt im Prinzip verloren ist, wenn es darum geht, Moral wirklich zu begründen. Es geht dabei nicht um Abstufungen innerhalb dieser Sphäre, in dem Sinne, als dass der Klügere die ›bessere‹ Ethik parat hätte. 11 Frater Taciturnus zeigt, dass ein quaFür die Gradationen innerhalb des Ethischen steht der Typus tragischer Held, ideengeschichtlich verkörpert in der abgrenzenden Darstellung von »Abraham« in Furcht und Zittern etwa in »Agamemnon«. Agamemnon opfert seine Tochter wie

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litativer Unterschied erforderlich ist, um Ethik an ihrem idealen Begriff zu messen: hierzu bedarf es der religiösen Sphäre. Zur Veranschaulichung dieses Sachverhalts wird dem Quidam hypothetisch ein »Mord auf das Gewissen« gelegt. Frater Taciturnus’ psychologisches Experiment hat eine entscheidende Familienähnlichkeit mit dem des Pseudonyms Constantin von Die Wiederholung. Bereits dieser hatte folgende merkwürdige Worte über sein Experiment formuliert, die Verliebtheit des »jungen Menschen« analysierend: »Aber vielleicht verstehe ich ihn nicht ganz, vielleicht liebt er in Wahrheit dennoch. Dann wird das Ende der Geschichte wohl sein, daß er mich einmal dafür totschlägt, daß er mir das Allerheiligste anvertraut hat. Man sieht, es ist eine gefährliche Stellung, Beobachter zu sein.« (WH – 395 f.) Dieser Kommentar ist vom Entwickelten besehen nicht mehr nur eine verschrobene Attitüde, sondern ein entscheidender Wink für die Erfassung der in sich unterschiedenen »Liebe«. Die für ihn verstehbare »Liebe« ist Eros, nach dessen Gesetzen und Dynamiken die Ausnahme im Sinne des Typus Dichter seiner sozialen Bestimmung nach ihr berechenbares Funktionieren hat. Constantin erwägt nun, dass er den »jungen Menschen« nicht ganz verstehen könnte, was koinzidiert mit der Möglichkeit, dass der »junge Mensch« »in Wahrheit« liebt. Diese wahre Liebe wäre allerdings mit dem Todschlag Constantins verbunden als einer scheinbar für diese Liebe notwendigen Rache am Zeugen, insofern sie sich partout nicht aus ihrer Verborgenheit in die Sphäre der Sichtbarkeit zerren lassen will. Der Quidam des Experiments aus Stadien wird von Johannes Climacus geschildert als die Figur, die gewissermaßen den »jungen Menschen« und »Constantin« aus Die Wiederholung vereint: Er hat zugleich die ursprüngliche Leidenschaft der Jugend in sich und das dialektische Talent, sein existentielles Dilemma zu ergründen. In folgendem Zitat aus Stadien, das eine Tagebuchaufzeichnung des Quidam wiedergibt, wird die Möglichkeit des »Mordes« verwandelt aufgegriffen: auch Abraham seinen Sohn zu opfern bereit ist. Der entscheidende Unterschied ist, dass Agamemnon seine Tat durch ein höheres Allgemeines sanktioniert weiß, während bei Abraham das Allgemeine als Ganzes gerade »Anfechtung« ist. Wenn man so will, könnte man auch hier eine Analogie bei Nietzsche einzeichnen, insofern Zarathustras »größte Gefahr« und »letzte Sünde« als Mitleid zu den Menschen bestimmt wird. Die durch es verbürgte unmittelbar-sinnliche Verbindung muss gekappt werden – zum Beispiel durch ein Buch.

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Das »Zeichen des Widerspruchs«

Heute vor einem Jahr. Laß sehen! Meine Lebensanschauung ist gewesen, daß ich in meiner Verschlossenheit meine Schwermut verbärge. Es war mein Stolz, daß ich dies vermochte, mein Entschluß, mit äußerster Kraft darin fortzufahren. Ich bin gescheitert. Woran? An dem individuellen Mißverhältnis und an der Trauung als einem daraus seine Kraft nehmenden Einspruch. Welches ist meines Lebens Wirrsal? Daß für mich der Satz sinnlos geworden ist: ›über sein Können hinaus ist niemand verpflichtet‹ […]. Welches ist meine Schuld? Mich in etwas hineingewagt zu haben, das ich nicht zu verwirklichen vermochte. Welches ist meine Verfehlung? Daß ich einen Menschen unglücklich gemacht habe. Wieso unglücklich? In der Möglichkeit, so nämlich, daß ich einen Mord auf meinem Gewissen habe ihrer Aussage zufolge und in Kraft der Möglichkeit. Welches ist meine Strafe? Daß ich dies Bewusstsein auszuhalten habe. Welches meine Hoffnung? Daß eine barmherzige Lenkung in der Wirklichkeit die Strafe verringern wird, indem sie ›ihr‹ hilft. Was sagt mein Verstand von ›ihr‹ ? Daß nicht eben Wahrscheinlichkeit besteht für das Schlimmste. Was folgt daraus für mich? Schlechthin nichts. Eine ethische Verpflichtung kann durch Berechnung der Wahrscheinlichkeit nicht ausgeschöpft werden, sondern dadurch allein, daß man die äußerste Möglichkeit der Verantwortung auf sich nimmt. (SL – 418)

Dieser Passus, der eindringlich den Furor einer in sich »gefesselten Freiheit« 12 inszeniert, stellt eine moralische Kollision dar, die aus sich selbst nicht versöhnt werden kann. Für den durch den Widerspruch des Allgemeinen mit sich Ausgenommenen bleibt die Dialektik der ersten Ethik ein unverbindliches Plaudern, kann dem Selbst seinem idealen Anspruch nach in seinem Weltverhältnis keine Handlungsorientierung im eminenten Sinne stiften. Die »ethische Verpflichtung«, von der im Zitat die Rede ist, griffe erst dann wirklich in die Existenz ein und stülpte diese um von ihrem handlungssuspendierenden Möglichkeits-Hin-und-Her hin zu ursprünglicher Verbindlichkeit, wenn es um Sein oder Nicht-Sein der Existenz selbst ginge. Der Mord auf dem Gewissen wäre hierbei die negative Utopie als die »äußerste Möglichkeit der Verantwortung«, die in ihrer Gänze erwogen einen Unterschied machte, sofern sie sich adäquat verinnerlichen ließe. Die Moral wäre dann nicht handlungssuspendierend in dem Sinne, als der Verstand seiner Natur gemäß immer auch andere Möglichkeiten ihrer Verwirklichung vorhielte, sondern sie höbe den Einzelnen derart über sich selbst hinaus, dass sein Verhältnis zur ihr ursprünglich erst wirklich gestiftet wäre. 12

Vgl. zur Besprechung dieses Begriffs Dietz (2012), S. 149–181.

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Die konjunktivischen Formulierungen zeigen an, dass hier etwas noch nicht stimmt. Auch der Quidam ist eine Figur der »Verlassenheit« in dem Sinne, dass er den Ursprung seines »Unglücks« sich nicht aneignen kann, sein Selbstverhältnis ist gebunden an ihr Urteil. Der Mord bleibt eine exzentrische Möglichkeit – er hat ihn nur »ihrer Aussage zufolge« auf dem Gewissen. Die äußerste Möglichkeit (»Mord«) hebt die Möglichkeit (als Verstandes-Dialektik des weltlichen Allgemeinen) nicht zur Wirklichkeit für den Existierenden auf, weil er sein Leben als moralisches Subjekt in ihr hat. Diese Verlassenheitsform gleicht nun immer noch der des »jungen Menschen« aus Die Wiederholung, so, wie sie im Kapitel über die Psychologie des Typus’ Dichter vorgestellt wurde, weil er, auf Distanz zwar, seiner Liebe verbunden bleibt. An dieser Stelle können die Analysen zum Ausnahmetheorem, so wie es in Stadien durchgeführt wird, unterbrochen werden. Im Teil III dieser Studie wird durch die Einbeziehung der Analysen von Taciturnus in den Blick gebracht werden, inwiefern der Quidam des Experimentes eine Figur der Verlassenheit ist in einem bereits vorbereiteten Sinne: Aufgrund seiner unaufhebbaren Verwobenheit mit dem Allgemeinen durch »Mitleid«. Die Verlassenheitserfahrung des Quidam liegt in der Tatsache begründet, dass die mit dem Raum »einsamster Einsamkeit« zusammenfallende ›Liebe über dem Mitleiden‹ bei Taciturnus keine Bedeutung hat. Erst in Anti-Climacus’ Werk kommt sie zum Tragen, wobei deren geistige Spitze in Einübung im Christentum zwischen die »natürlichen Menschen« getrieben wird, um sie vor dem christlichen Gott radikal zu vereinzeln, »aufzusplittern«, wie es in Die Krankheit zum Tode heißt (vgl. KzT – 162, 164).

II.3.2 Zusammenfassung Im zweiten Teil des vorliegenden Buchs wurde das Werkvergleichsmodell entwickelt. Die Struktur der drei Oberkapitel dieses Teils wurde durch das Ergebnis des ersten Teils vorgegeben, in dem der dreifach in sich unterschiedene Einsamkeitsbegriff mit den drei korrespondierenden Fassungen des Ausnahmetheorems verschränkt wurde. Die Werkentwicklung beider Philosophen, die sich auf die Utopien gelingenden Lebens, den »Einzelnen« und den »Einsamen« hin zuspitzt und von deren möglicher Bedeutung getragen wird, kulminiert formal betrachtet in der Aufhebung des Ausnahmetheorems 316

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Zusammenfassung

durch die Schriften der Erfüllung. Dieser Sachverhalt kann evident gemacht werden, indem man die Modulation des Ausnahmetheorems von seiner ursprünglichen Setzung in den Ouvertüren des exemplarischen Denkens nachvollzieht hin zu dessen idealer Erfüllung. Bei beiden Philosophen waren im Ausgangspunkt ihrer Denkbewegung drei quantitativ und qualitativ geprägte Fassungen von »Ausnahme« denkbar. Im Isolationszeitalter Moderne war aufgrund der gesellschaftlichen Atomisierung der Individuen jeder Mensch als Mensch unmittelbar davon ausgenommen, einen gelingenden Lebensentwurf zu verwirklichen. Diese Universalisierung des Ausnahmeseins auf ausnahmslos alle hatte wesentlich formalen Sinn, um für die Frage nach dem Menschen eine negativistische ›Basis‹ zu haben, die bereits in den Erstlingsschriften qualitativ bestimmt wurde. In Entweder – Oder war aus der Perspektive des mit dem Allgemeinen vermittelt versöhnten ungewöhnlichen Menschen ersichtlich, dass jeder Mensch in gewissem Sinne »Ausnahme« ist, wobei vorausblickend festgehalten wurde, dass diese Auszeichnung latent bereits bedingt war durch den Begriff der »(Erb-)Sünde«. Auch bei Nietzsche konnte jeder der entgeisteten Gesellschaft entgegenarbeiten, indem er sich ins Verhältnis setzte zu seiner produktiven Einzigkeit. Keiner war davon ausgenommen, ausgenommen zu sein: das war für beide Denker die formale, negative Verbindung der Menschen untereinander, wobei der geistig verbindliche Keim hier bereits angelegt war als: Sünde/Glauben bzw. Schaffen. Die zweite Fassung des Ausnahmetheorems bedeutete eine quantitative und qualitative Eingrenzung. Diese Figur der Ausnahme war – typisiert als Dichter seiner sozialen Bestimmung nach – im alltagssprachlichen Verständnis eine Ausnahme und zeichnete sich aus durch ›Größe‹. Die Substanz ihrer Berechtigung war innerhalb einer unterschiedslos gedachten Wirklichkeit die Moral in einem nicht an die Grenzen ihrer Idealität gedachten Sinn. Dabei konnte sich der Typus Dichter innerhalb einer unterschiedslos gedachten Welt berechtigen, welche »Berechtigung« moralkritisch zu deuten war. Sein spiegelbildliches Pendant war der Morallehrer seiner sozialen Bestimmung nach, in dessen Lehren ein Widerspruch implementiert wurde, um indirekt mitteilend anzuzeigen, dass aus einer immanenten Perspektive auf Moral keine ethische Orientierung zu gewinnen ist. Die letzte, religiöse Fassung des Ausnahmetheorems wurde Modulationen der Einsamkeit

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durch die mehrdeutigen Namen »Abraham« und »Schopenhauer« formalisiert. Einerseits waren diese Namen vorzustellen als biografische Existenzen mit Haut und Haaren, als exemplarische Menschen, denen im tugendethischen Sinne Vorbildfunktion zukam. Gleichzeitig drückte sich in diesen Namen etwas aus, was jeden direkten, über an die Sinne gebundene Verstandeskategorien vermittelten Anknüpfungspunkt ausschloss. Abraham wurde direkt von Gott ausgenommen und das musste – wider allen Augenschein – etwas ›Gutes‹ bedeuten. Auch in Schopenhauer ereignete sich etwas, das menschliche Vorstellungskraft prinzipiell überragte: Ein Genius wob durch Schopenhauer als ein Medium neuer, allgemein-menschlich verbindlicher Wahrheit, in und um Schopenhauer waltete ein idealer Mensch gleich einer platonischen Idee. Diese Doppelung von menschlich und ›übermenschlich‹ sollte für jeden diese Exemplare meditierenden ungewöhnlichen Menschen bedeuten, sich in seiner Partikularität zu aktualisieren, um sich in dieser zugleich vor einem allein durch ihn vollziehbaren Allgemeinen behaupten zu können: jeder tut, orientierte er sich an »Abraham« oder »Schopenhauer«, indem er das Besondere an sich erfüllte, das Allgemeine. Wie verhält sich dieses durch Typen und Namen unterschiedene Konzept von »Ausnahme« bei beiden Denkern auf dem Höhepunkt der Werkentwicklung, der – folgt man den Selbsteinschätzungen der Denker – als Erfüllung gewertet werden muss ihres exemplarischen Denkens überhaupt? Die Ausnahmetheorie, die Sache der pseudonymen, nicht dezidiert christlichen Verfasserschaft Kierkegaards ist und die sich durch griechisches und jüdisches Gedankengut speist, hebt sich begrifflich unvermittelbar in den »Einzelnen« auf, der dezidiert als vor dem christlich gedachten Gott ist und in Anti-Climacus’ Werk seinen Ausdruck findet. Nietzsches in Schopenhauer als Erzieher formulierte Ausnahmetheorie wird in Also sprach Zarathustra neu besetzt. Der Übergang von der »Verlassenheit« hinein in den Raum »einsamste Einsamkeit« ist in struktureller Analogie zu Kierkegaards begrifflich unvermittelbarer Aufhebung des Ausnahmetheorems zu lesen. Kierkegaard und Nietzsche repräsentieren auf dem idealen Höhepunkt ihres Schaffens den Typus Dichter seiner einsamen Bestimmung nach, welcher einen Raum imaginiert, vor dessen Bedeutung die Isolation – als dem in dieser Studie formalisierten Ausdruck für misslingendes Leben – zerfällt. Während Kierkegaard die utopische Erfüllung der »einsamsten Einsamkeit« in den »Gott-Menschen« 318

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auslagert, lagert sie Nietzsche in »Zarathustra« aus. Von diesen Figuren ginge, so ›zeigt‹ es die Anlage des Textes an, verbindliche ethische Orientierung aus.

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Teil III – Erprobung des Werkvergleichsmodells

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III.1 Die Bedeutung der Mitleidskritik für das Werkganze Kierkegaards und Nietzsches

Der letzte Teil dieser Studie erprobt das entwickelte Werkvergleichsmodell. Die strukturell analogisierte Ausnahmetheorie beider Denker ist wesentlich Moralkritik. Diese ist nicht Selbstzweck, sondern an einem Guten orientiert, das sich begrifflicher Erfüllung entzieht. Man darf also die hier thematisierte ›Liebe über dem Mitleiden‹ nicht aus dem Blick verlieren, wenn man sich mit der Härte exemplarischen Denkens im Sinne Kierkegaards und Nietzsches auseinandersetzt. Der »ungewöhnliche[] Begriff« 1 »Moralkritik« wird in den folgenden Analysen in jedem Fall sein ganz konkretes Gesicht erhalten, indem die Form nachempfunden wird, in deren reflektierter Vereinsamung jene allein Sinn macht: im »ungewöhnlichen Menschen«. Kierkegaard wurde bis heute kaum mit jenem Ernst als Kritiker der Moral bedacht, den man in seinen philosophiegeschichtlichen Nachbarn zu Recht investierte. Entsprechend wurde die Kritik des Mitleids durch Kierkegaard bis heute kaum wahrgenommen, geschweige denn in ihre Tiefe gedacht. 2 Nietzsche glaubt man bis heute überwiegend – beschäftigt man sich nicht intensiver mit der Sache – mit der Formel »Mitleidsverächter« 3 hinreichend verstanden zu Birnbacher/Sommer (2013), S. 7. Die Einsicht teilt Schwab (2006), S. 332. Diese Tatsache muss mit dem Umstand der »Christlichkeit« des kierkegaardschen Denkens zusammenhängen. Dass man dieser allerdings streng genommen nicht versöhnlich, das heißt begrifflich beikommen kann, auch nicht »theologisch« (in dem Wortsinne, wie ihn Sommer (2005), S. 131– 134 etabliert), sofern für Kierkegaard Christsein keine Denkbestimmung bedeutet, sondern ein Existieren angesichts des Paradoxons ausdrückt, lässt sich hervorragend an der Auffassung von »Mitleid« im Denken Kierkegaards nachweisen. 3 So glaubt sich etwa Hamburger (1985) überhaupt der Mühe enthoben, Nietzsches Mitleidsphilosophie en detail zu analysieren, nicht zuletzt »wegen der Bekanntheit von Nietzsches Nein zum Mitleid« (S. 42), seiner »eindeutige[n] Geringschätzung des Mitleids« (S. 44). Bereits an eine Exklamation wie diese gehalten – »Wehe allen Liebenden, die nicht noch eine Höhe haben, welche über ihrem Mitleiden ist!« (Z – 115) – wird der eindimensionale Vorwurf »Mitleidsverächter« unwillkürlich schal. Es gilt 1 2

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Die Bedeutung der Mitleidskritik

haben. 4 Und in der Tat ist dem exemplarischen Denken eine auf Mitleid basierende Moralphilosophie der den eigenen Anspruch – ethische Orientierung – ausrichtende Stein des Anstoßes. Der dritte Teil dieser Studie besteht aus drei Kapiteln. Das erste hat folgende Stationen abzuarbeiten. Zunächst wird knapp skizziert, inwieweit alle bis hierher besprochenen ausnahmetheoretischen Schriften Kierkegaards Mitleid kritisch reflektieren. Dabei soll die Voraussetzung dieser Kritik, jene inklusive Liebe, im Blick behalten werden, die bereits in Entweder – Oder gegen jenes ›nur Mitleid‹ einer moralisch ausstaffierten Exklusivität behauptet wurde, die sich im Spiegelkabinett ihrer sublimen sentiments an sich selbst guttat (II.1.1). Anschließend wird Kierkegaards Kritik des Mitleids angeknüpft an die oben ›eingefrorene‹ Besprechung der Ausnahmetheorie in Stadien. Es wird sich zeigen, dass ›Schuld‹ an der Verlassenheit Quidams das Mitleid in einer spezifisch ›heidnischen‹, nicht religiös gebrochenen Bedeutung hat (II.1.1.1). Letztere wird herausgestellt durch die Kritik einer eigentümlichen Renaissance der ersteren in der Moderne, sie wird »anti-soziologisch« vermittelt. 5 Es ist ein geistesgeschichtlich interessanter Befund, dass beide Denker, durch den Generationsunterschied bedingt je auf ihre Weise, mit schroffer Empörung gegen die soziologische Auslegung der Lebenswelt als ihrer »Ästhetisierung« opponieren, der eine ›Entgeistung‹ korrespondiert. Denn auch Nietzsche wird in Götzen-Dämmerung in kaum relativierbarer Härte die Kritik am Kult des Mitleids, der Ausdruck ist einer allgemeinen Dekadenz in Denken und Handeln, »anti-soziologisch« pointieren (II.1.2). Diese sachlich motivierten Pozu zeigen, dass die im Zitat benannte Liebe über dem Mitleiden – welche dem utopischen Raum einsamster Einsamkeit korrespondiert (vgl. Grafik) – die in der Werkvergleichsstruktur angelegte esoterische Spitze ist, an der sich die Moralkritik Nietzsches teleologisch ausrichtet, wobei diese Hierarchisierung ihre strukturelle Analogie bei Kierkegaard hat. 4 Es gibt wie immer Ausnahmen: Siehe etwa Ure (2006) oder Mchedlidze (2013). Im Gegensatz zu diesen selektiven Einblicken, die interessante Detailanalysen zur Sache bieten, versucht diese Studie im Blick auf das Ganze die teleologische Ausrichtung der Mitleidskritik im Blick zu behalten, nämlich jene ›Liebe über dem Mitleid‹, welche den Anspruch der Moral (punktuell) aufhebt. 5 Den zentralen Begriff der »Anti-Soziologie« prägt Häußling (2000), der umsichtig vor allem die Einflüsse Nietzsches auf die entstehende deutsche Soziologie nachzeichnet, wobei er zunächst herausarbeitet, dass tragende Konzepte der nietzscheschen Philosophie kritisch gegen die sich etablierende Soziologie gemünzt sind. Bereits Kierkegaard reagiert kritisch auf die soziologischen Bestrebungen seiner Zeit.

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Die vorläufige Mitleidskritik in Stadien

lemiken bedeuten einen ›anti-modernen‹ Agon mit dem Zeitgeist, auf dessen pralles Selbstbewusstsein in Sachen Moralität das exemplarische Denken zur Sicherung seiner Sache partout nicht bauen darf. Das zeigt Abschnitt III.1.2.1, der durch Exegese einschlägiger Passagen die durchaus ironisch bzw. humoristisch gebrochene Härte der Moralkritik Nietzsches darstellt, um anschließend den Sinn dieser Kritik einzuholen, was nur im Rückgang zu Also sprach Zarathustra möglich ist, insofern dieses Werk jene ›Liebe über dem Mitleiden‹ verbürgt, an welche die exoterische Moralkritik rückgebunden werden muss und das Werkganze auszurichten ist – Nietzsche selbst lässt darüber keinen Zweifel offen. Dies gelingt, indem die zugleich ethisch und moralkritisch motivierte Formel des »Pathos der Distanz«, die in Götzen-Dämmerung eindimensional politisiert, durch ihre Begründung in Jenseits vertieft wird (III.1.2.2). In diesem Kontext wird vermittelt über die zuordnende Besprechung von Gemeinplätzen der nietzscheschen Moralkritik – vor allem dem vermeintlichen »Wissen« um Gut und Böse der »Herdenmoral« – gezeigt, wie Nietzsches anti-begriffliches Denken einen Lebens-Raum reserviert, dessen belebendes Element für den ungewöhnlichen Menschen nicht in dem durch Schopenhauer imprägnierten und determinierten Zeitgeist aufgeht (III.1.2.2). Nietzsche invertiert in Jenseits die Rede vom Pathos der Distanz in das moderne Individuum, dessen Leib als ein Gesellschaftsbau vieler Seelen ausgelegt wird (III.1.2.3), womit sich Nietzsche von dem moralisierenden Bann der systemisch konzipierten Moralphilosophie Schopenhauers löst. Die anstehenden Erörterungen haben grundlegenden Charakter, sie bewähren das Werkvergleichsmodell bezüglich seiner Tragfähigkeit in Sachen ethische Moralkritik. Ausgehend von diesen wird in den nächsten Kapiteln das Werkvergleichsmodell erprobt, wobei eine umrisshafte Darstellung der Mitleidsphilosophie Schopenhauers wiederum dazu dienen wird, kontrastiv das Eigentümliche exemplarischen Denkens zu erhellen.

III.1.1 Die vorläufige Mitleidskritik in Stadien Keine der bis hierher ausgelegten ausnahmetheoretischen Schriften Kierkegaards lässt das Mitleidsphänomen unkritisiert. 6 Es konturiert 6

Auch in Philosophische Brocken und in Der Begriff der Angst wird die Mitleids-

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die Modulationen des Ausnahmetheorems. Wilhelm spricht in Entweder – Oder von einem wahren, tiefen Humanitätsgefühl, einer inklusiven Liebe zum Allgemeinen, die in der Ausnahme vorausgesetzt sein muss, sollte sie sich bewähren, um unter Umständen ein ungewöhnlicher Mensch im edleren Sinne zu werden. Und als Ergebnis der Umwertungsarbeit an sich steht affirmativ fest: »ich stehe allein, ohne Teilnahme, denn ich bin eine Ausnahme«. (EO II – 911) Auch der »junge Mensch« aus Die Wiederholung, der sich weder »in der griechischen Philosophie« noch »in der neueren« (WH – 396) Aufklärung über seine Lage erhofft – woran er recht tut, wie sein Experimentator wähnt, wobei dieser zugibt, dass es außerdem gut sei, dass der »junge Mensch« auch nicht ihn selbst, den Initiator der Idee der Wiederholung, um Rat frage, da dieser sie aufgegeben hätte (vgl. WH – 396) –, empört sich gegen die Unzulänglichkeit menschlichen Mitleids. Er findet Trost bei Hiob, dem »privatisierenden Denker« (WH – 396). Der »junge Mensch« durchbricht, indem er sein Geschick in Hiob spiegelt, den engen Dunstkreis einer im Mitleid sich erschöpfenden ›Erklärung‹ namenlosen Leids und hegt Verdacht gegenüber der Integrität bürgerlicher Moral: Ist denn die Gottesfurcht größer geworden oder die Furcht und die Feigheit? Heutzutage meint man, der eigentliche Ausdruck der Trauer, die verzweifelte Sprache der Leidenschaft müsse Dichtern überlassen bleiben, die dann wie Prokuratoren am Untergericht die Sache des Leidenden vor dem Gerichtshof des menschlichen Mitleids vertreten. Weiter getraut sich niemand. Sprich darum Du, unvergesslicher Hiob! wiederhole alles, was Du gesagt hast, Du gewaltiger Fürsprecher, der unerschrocken wie ein brüllender Löwe vor den Gerichtsstuhl des Höchsten tritt! (WH – 408) 7 thematik ausgelotet, was in dieser Studie allerdings nicht erschöpfend bedacht werden kann. 7 An dieser Stelle kann vorausblickend eine bemerkenswerte Analogie zu Nietzsche eingetragen werden, der den Aphorismus, indem er seinen eigenen mitleidskritischen Anspruch anti-soziologisch vermittelt, Ob wir moralischer geworden sind nennt und darin eine öffentliche Kritik seiner – ethisch zu nehmenden – Moralkritik kommentiert: »Ich erlaube mir, als Antwort, die Frage aufzuwerfen, o b w i r w i r k l i c h m o r a l i s c h e r g e w o r d e n s i n d . Dass alle Welt das glaubt, ist bereits ein Einwand dagegen …« (GD – 136) Außerdem kann auf den Aphorismus Moralische Mode einer handeltreibenden Gesellschaft verwiesen werden, in dem Nietzsche den moralischen Trend, in den »sympathischen Affectionen« (M – 155) den Ursprung moralischen Handelns zu suchen, »einen socialen Trieb der Furchtsamkeit walten« (M – 154) sieht. So wird der Verdacht des »jungen Menschen« gegen die vermeintliche Gottesfurcht seiner Zeitgenossen durch den Entlarvungspsychologen Nietzsche erhärtet.

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Die vorläufige Mitleidskritik in Stadien

Die Form der Kritik legt unwillkürlich eine hierarchisierende Lesart nahe. Mit dem »menschlichen Mitleid« scheint etwas nicht zu stimmen, wenn der »junge Mensch« durch es derart sich verkannt fühlt. Bestimmte Erfahrungen realen, wenn auch unkörperlichen (»psychischen«) Leids bleiben durch es derart un-bedeutet, dass das Leid noch gesteigert wird, wobei allein eine höhere Instanz als menschliches Mitleid der Erfahrung subjektiven Schmerzes korrespondiert. Hiob ist in den Augen des »jungen Menschen« eben die Gestalt, die ihren Anspruch vor dem Zugriff der ihn umgebenden Sozialwelt verteidigt und ihm seine einsame Qualität als eine berechtigte sichert. Auf die Bedeutung der Mitleidskritik, so wie sie sich in Furcht und Zittern formuliert, wird im finalen Abschnitt dieser Studie eingegangen werden. Die Mitleidskritik wird in Stadien ausnahmetheoretisch ausgereizt. Es wurde gezeigt, dass Quidam eine radikale Zuspitzung der Verlassenheitserfahrung darstellt, wie sie bereits im Falle des »jungen Menschen« aus Die Wiederholung formuliert wurde. Gleichzeitig soll der Quidam kein Dichter mehr sein, sondern eine dämonische Figur in Richtung auf das Religiöse, die ihre potentielle Erlösung aus ihrer verfahrenen Existenzsituation nicht mehr durch eine zufällige, illusionäre Versöhnung mit dem Allgemeinen erfährt, sondern durch ein wie auch immer begründetes Gottesverhältnis erfahren müsste. Diese Zuspitzung auf einen Punkt, die sich ausdrückt in der Möglichkeit, einen Mord auf dem Gewissen zu haben, und dem Quidam wie eine Zwangsjacke angelegt ist, die ihn zu vollkommener Bewegungslosigkeit fixiert, 8 wird theoretisch von Taciturnus dahingehend näher analysiert, dass von ihr der Umschlag auszugehen hat in Richtung gelingendes Gottesverhältnis. In folgender Beschreibung – der Auswertung der Probe auf Wilhelms Ausnahmetheorie – wird die durch Mitleid bedingte VerlassenIn einem Mitternachts-Eintrag des Quidam heißt es: »ich kann weder rechtsum noch linksum machen noch marschieren.« (SL – 420) Die Metapher der Zwangsjacke ist mit Bedacht gewählt, um die Neuerung der Perspektive weg vom Ethischen hin zum Religiösen in den Blick zu bekommen. Das Ethische im Sinne unmittelbarer Normierung der Lebenswelt lässt sich bei Nietzsche wie bei Kierkegaard, wie gezeigt, analog bestimmen im Bild des Prokrustes-Betts. Hier tritt die »Gewalt« in den Vordergrund, die man sich anzutun hat, um wider Willen und Anlage doch im Allgemeinen existieren zu können. Die »Zwangsjacke« lässt allerdings die Möglichkeit offen, »Arme« und »Beine« behalten zu können, sofern es gelingt den biologischen Leib zu spiritualisieren.

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heitserfahrung des Quidam durch Taciturnus pointiert ins Wort gebracht: »Seine Abirrung ist, daß er von ›ihrer‹ Wirklichkeit sich darin stören läßt, sich als ein Reuender in sich zusammenzuschließen, daß er in seiner Reue nicht Ruhe bekommen kann, weil ›sie‹ die Reue für ihn dialektisch macht.« (SL – 465) Die Erotisierung des Vokabulars, die schon in Die Wiederholung wirkmächtig eingesetzt wurde und indirekt den Mangel des Typus’ Dichter bezeichnen sollte, wird hier neu gebündelt, indem die Verbundenheit zur Sozialwelt mit dem Mitleidsphänomen assoziiert wird, das die religiöse Heilung des Quidam in sich selbst unterbindet. In Stadien wird die Dichtung zwar immer noch gewürdigt, aber terminologisch von der nun im Fokus stehenden Sache des exemplarischen Denkens ausgegrenzt. 9 Ihr aus religiöser Perspektive betrachtet substantielles Manko ist die Tatsache, dass sie die natürliche Ungleichheit der Menschen sanktioniert. 10 Diese Umoperationalisierung überkommener Gedankenstränge wird durch die Unterscheidung eines Reuebegriffs in die Wege geleitet. Wurde »Reue« in Entweder – Oder zugemutet, das Verhältnis des Individuums zum Allgemeinen letztlich aussöhnen zu können, 11 so soll »Reue« in Stadien religiöse Existenz, die pönitierend bleibt und theoretisch entsprechend nicht geschlossen dargestellt werden kann, »grundlegen«. Diese »Grundlegung« religiöser Existenz durch »Reue« 12 ist alles andere als leicht nachzuvollziehen, Pathos und Suggestionen überlagern die sachlichen Sprünge in der Argumentation. Das für diesen Zusammenhang Entscheidende ist, dass Kierkegaard Folgendes Zitat drückt diese Tatsache gut aus: »Darum ist es eine Fehlweisung des Religiösen, der Dichtung zu zürnen; denn die Dichtung ist und bleibt liebenswert.« (SL – 491) 10 »Man hat viel davon gesprochen, daß die Dichtung mit dem Leben versöhne; weit eher müßte man sagen, daß sie einen wider das Leben empöre; denn die Dichtung ist in ihrem Quantitieren wider die Menschen ungerecht, sie kann allein die Auserwählten brauchen, das aber ist eine höchst mäßige Versöhnung.« (SL – 488) Dieses Zitat indiziert zugleich, dass das Ausnahmetheorem, insofern es als Theorem notwendig Unterschiede setzt zwischen Menschen und diese als wesentlich bewertet, die Sache des kierkegaardschen Denkens nicht mehr halten kann. 11 Vgl. hierzu Greve (1990), S. 88–93. 12 Vgl. zur Bedeutung für die hier zur Debatte stehende »Religiosität A« von »Reue« (und »Schuld«) die für diesen Zusammenhang fundiert orientierende Darstellung Fahrenbachs (1968), S. 138–145, der diesen Begriff stimmig an die Bedeutung von »Ausnahme« für Kierkegaards Denken insgesamt andockt und in die Besprechung von »Sünde« (S. 146–154) münden lässt als dem Bruch mit einer rein immanenten Religiosität, welcher Übergang in dieser Studie nachgezeichnet wird mit der Formel der begrifflich unvermittelbaren Aufhebung von »Ausnahme« in den »Einzelnen«. 9

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die Bedeutung der »Reue« als Grundlegung religiöser Existenz mit einem in sich unterschiedenen Begriff des »Mitleids« stützt. Dass Quidam nur dämonisch in Richtung auf das Religiöse ist, womit die »Reue« an ihrer Grundlegung der religiösen Existenz gehindert wird, 13 liegt an der Tatsache, dass er es nicht zu einem vollständigen Bruch mit ›ihr‹ bringt – und das liegt an seiner spezifisch sympathetischen Anlage. »Seine Abirrung ist, daß er von ›ihrer‹ Wirklichkeit sich darin stören läßt, sich als ein Reuender in sich zusammen zu schließen, daß er in seiner Reue nicht Ruhe bekommen kann, weil ›sie‹ die Reue für ihn dialektisch macht.« (SL – 465) 14 Das Bild des Sich-in-sich-Zusammenschließens erinnert nicht von ungefähr an jenes der »verschlossenen Maschinerie der Persönlichkeit« aus Entweder – Oder (EO II – 914). War diese von Wilhelm gegenüber dem Ästhetiker als eigentümliche Charakterkonstitution behauptet worden, und hatte Wilhelm jene Logik der Maschinerie sprengen wollen, indem er A attestierte, sich womöglich als eine Ausnahme bewähren zu können, indem er ihm dazu brieflich, also indirekt, das entsprechende Folterwerkzeug mitteilte, ist hier mittlerweile für die spezifische religiöse Existenz die Verschlossenheit Voraussetzung, allerdings ohne Konzessionen an das Allgemeine abgeben zu müssen. »Man kann daher dem Verschlossenen die Verschlossenheit nur schwer entreißen, und eigentlich muß er religiös in sich selber geheilt werden.« (SL – 456) 15 Der Quidam hängt also noch, so will es die Der Paragraph 4 der Besprechung der Experimentanordnung heißt: Die Reue dialektisch an ihrer Grundlegung verhindert, die letzte Grenzscheide zwischen dem Aesthetischen und dem Religiösen liegt im Psychologischen (vgl. SL – 475–481). 14 Oder ähnlich so: »Das Dämonische am Quidam des Experiments ist eigentlich dies, daß er sich nicht zurücknehmen kann in Reue, daß er an der äußersten Spitze in einem dialektischen Verhältnis zur Wirklichkeit hängen bleibt […]«. (SL – 476) 15 In Die Krankheit zum Tode wird die Bedeutung der Aufsplitterung der sozialen Natur des Menschen als Ursache des Verzweiflungszusammenhangs zu je »Einzelnen«, in denen allein die je spezifisch sich manifestierende Verzweiflung – im »Glauben« – aufgehoben werden kann, Programm. Diese damit einhergehende Forderung ist nicht als asozial konzipiert, insofern sie jedem »Einzelnen« zukommt und damit den anderen (selbst-)verantwortlich in die Verinnerlichung mitnimmt und entlässt, sie ist gewissermaßen als ›übersozial‹ zu denken. »Die Lehre von der Sünde des Geschlechtes ist oft mißbraucht worden, weil man nicht darauf aufmerksam war, daß die Sünde, obwohl sie für alle gemeinsam ist, die Menschen nicht in einen gemeinsamen Begriff zusammenfaßt, in Gesellschaft oder Kompagnie […]; sondern die Menschen in Einzelne aufspaltet und jeden Einzelnen als Sünder festhält, welche Aufsplitterung in einem anderen Sinne sowohl in Übereinstimmung mit der Vollkommenheit des Daseins ist als auch teleologisch in Richtung auf dieselbe.« (KzT – 162 f.) Zu dieser 13

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Experimentanordnung, mit einigen Fäden seines unmittelbaren Liebens an dieser Welt. Allerdings lässt ihn seine Geliebte auf der Spitze seiner Selbstbegegnung straucheln. Statt eine Grundlegung der religiösen Persönlichkeit zu ermöglichen, wird diese in sich irritiert, durch die Erfahrung von Kontingenz: Es könnte auch alles anders sein. Die dialektische Form der Reue ist hier folgende: er kann zur Reue nicht hingelangen, weil es gleichsam noch unentschieden ist, was eigentlich er bereuen soll; und er kann nicht Ruhe finden in der Reue, weil es gleichsam so ist, als ob er immerfort ans Handeln gehen, alles noch einmal anders machen müßte, falls es möglich sein sollte. – (SL – 481)

Es wäre bedeutsam genauer hinzusehen, ›wo‹ genau Kierkegaard das »Dämonische« an Quidams Charakteranlage festmacht, 16 doch soll hier sofort zur Unterscheidung zwischen heidnischer und religiöser Mitleidsauffassung übergegangen werden, die in die anti-soziologische Vermittlung des eigenen Anspruchs mündet.

III.1.1.1 Mitleid gegen Mitleid (SL) In der Diskussion des Experiments durch Taciturnus wird die Erlösung Quidams indirekt besprochen, und zwar über die Wirkung einer Tragödie auf den Zuschauer, so wie sie Aristoteles denkt. Dabei ist für Taciturnus die Bedeutung des maßgeblichen Satzes von Aristoteles, oft unterschlagenen sozialen Dimension des »Einzelnen« vgl. die umsichtige Diskussion durch Pattison und Shakespeare (1998), S. 1–23. Von besonderem Interesse ist die dort besprochene Studie von Elrod (1987), die Kierkegaards Begriff der »Verzweiflung« – aus der Perspektive dieser Studie – sachlich in nächste Nähe zu Nietzsches Begriff der »Verlassenheit« bringt: Beide Begriffe bezeichnen allgemein-menschliche und spezifisch negativistisch typisierte Formen eines Selbst, das sich zu sich selbst miss-verhält, welches Missverhältnis daraus resultiert, dass das Selbst in einen sozialen Kontext eingebunden ist, ohne durch ein adäquates Selbstverhältnis ausbalanciert zu sein. Vgl. außerdem zur politischen Dimension des »Einzelnen« bereits die Studie von Henningsen (1977), S. 93–159, der zurecht die Kritik Adornos an Kierkegaard, dessen »Einzelner« blind sei bezüglich seines Eingebettetseins innerhalb eines gesellschaftlichen Ganzen, kritisiert (hier vor allem S. 123 f., S. 133, S. 137). Vgl. zur sozialen Dimension des »Einzelnen« außerdem Imbroscianos (1993). 16 Dem zweifelsohne äußerst spannenden Thema des »Dämonischen« im Denken Kierkegaards insgesamt und in Stadien im Speziellen kann in dieser Studie nicht vertieft nachgedacht werden (vgl. zu diesem Konzept die gesellschaftskritisch motivierte Studie von Cattepoel (1992)).

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dass durch die Erregung von Furcht und Mitleid diese Leidenschaften gereinigt werden, selbstevident: Der Sinn, den sie [die Worte des genannten maßgeblichen Satzes, R. R.] bei Aristoteles haben, ist leicht genug. Es wird beim Zuschauer die Afficierbarkeit vorausgesetzt, und zu dieser verhilft das Trauerspiel, indem es Furcht und Mitleid weckt, nimmt dann aber wiederum in dem derart afficierten Zuschauer das Egoistische fort, so daß er sich an das Leiden des Helden verliert, in dem er sich in diesem vergißt. Ohne Furcht und Mitleid wird er im Theater sitzen wie ein Klotz; sammelt er jedoch in sich nur selbstische Furcht, so sitzt er da als ein unwürdiger Zuschauer. (SL – 490)

An dieser wohl vor allem an Lessing 17 orientierten Interpretation von Aristoteles fällt auf, dass die Gefühle Furcht und Mitleid bereits in sich unterschieden werden, dass der Zuschauer einer Tragödie kein lebloser Registrierapparat ist, sich vielmehr als ein würdiger erweisen muss, indem er seine Selbstsucht und seinen Egoismus durch den Anblick wütenden Schicksals am Helden verwandelt, von sich abzusehen lernt und damit von niederen Trieben in sich gereinigt wird. Dabei setzt Taciturnus einen Sinn für »die Idee«, also ein das sinnliche überbietendes, reflexives, »geistiges« Verhältnis zum Gegenstand der Beschauung voraus; ohne dieses wäre die Empathiefähigkeit nicht vorhanden (vgl. SL – 490). Es wird der Tragödie also durchaus ein spezifischer Sinn attestiert. Taciturnus scheint einen zwischen Lessing und Rousseau schwebenden Standpunkt einzunehmen. Während Lessing der Tragödie einen erzieherischen Wert bezogen auf die moralische Bildung der Zuschauer unbedingt attestiert und eine Wechselwirkung zwischen Ästhetik und Moral für möglich hält, wie Friedrich Schiller in seiner Nachfolge, nimmt Rousseau bezogen auf das punktuelle Erlebnis der Weitung der Brust eher eine skeptische Haltung ein: Wann, fragt er, hätten denn je Eindrücke vom Theater her dauerhaft einen moralischen Charakter geprägt und zum Guten verändert? Taciturnus lässt sich zu dieser Frage wie folgt vernehmen: Es ist vom Zuschauer nicht verkehrt, daß er sich an die Dichtung verlieren will, es ist eine Freude, die sich belohnt; aber der Zuschauer darf die Schaubühne und die Wirklichkeit nicht verwechseln, auch nicht sich selber mit einem Zuschauer, der überhaupt nichts andres ist als Zuschauer bei einer Komödie. (SL – 491) Vgl. den Kommentar von Hirsch zu Stadien in GW 9 – 568. Vgl. für eine geistesgeschichtliche Zuordnung des Mitleidsphänomens im 18. Jahrhundert Riedel (2007), S. 15–31.

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Auch wenn Rousseau der Einschätzung Taciturnus’ näher zu stehen scheint, insofern dieser konstatiert, die Schaubühne sei nicht die Wirklichkeit, ist der Unterschied in der Tiefenstruktur der Argumentation doch ein fundamentaler, insofern hier Taciturnus einen Begriff von »Geist« mit ins Spiel bringt – gegen jede Vorstellung von Mitleid als ursprünglich moralkonstituierender Triebfeder –, um eine scharfe Trennung zwischen »Religion« und »Dichtung« einzutragen, die bei Rousseau so nicht zu finden ist. ›Es ist nämlich Selbstsucht‹, spricht der Dichter, ›falls du den Schlag des Schicksals, wie er dich getroffen hat, nicht solltest vergessen können, wenn du den tragischen Helden siehst: es ist Egoismus, wenn du beim Anblick des Helden ein Schneider wirst, der bange heimkehrt‹ – ›aber bei seiner eignen Schuld verweilen‹, spricht der Religiöse, ›der eignen Schuld halben sich fürchten, das ist keine Selbstsucht, denn eben damit ist man in einem Verhältnis zu Gott.‹ Für den Religiösen sind die Furcht und das Mitleid etwas anderes und werden nicht gereinigt, indem man sich nach außen kehrt, sondern indem man sich nach innen kehrt. (SL – 492)

Interessant ist hier vor allem die Unterscheidung von Veräußerlichung und Verinnerlichung, die der Umwertung des Begriffs »Selbstsucht« entspricht. Während in der Dichtung, der Sphäre des natürlichen Menschen, welcher nicht vorrangig über ein Geistverhältnis bestimmt ist, das Verhältnis des Einzelnen zur Wirklichkeit derart bestimmt ist, dass dieser sich durch den Anblick eines üblen Geschicks, das dem tragischen Helden auf der Bühne widerfährt und das eigene quantitativ überragt, von sich selbst heilt, indem er von sich als einem naturgemäß egoistischen und selbstsüchtigen Wesen abzusehen lernt und dadurch »in der Sphärenharmonie des Daseins als unendlich kleiner Bruchteil eines mitschwingenden Tons« (SL – 492) entschwindet und dies seiner Erlösung entspricht, so besteht die dezidiert religiöse Erlösung – jenem diametral entgegen – darin, die Welt und Jahrhunderte und Generationen und Millionen von Zeitgenossen in ein Entschwindendes zu verwandeln, Jauchzen und Beifall und aesthetische Heldenehre in eine störende Zerstreuung und das Fertigsein in einen gaukelnden Sinnentrug, so daß das einzig Übrigbleibende der einzelne Mensch selber ist, ja, dieser bestimmte einzelne Mensch, der unter der Bestimmung: schuldig – nicht schuldig in sein Gottesverhältnis eingesetzt ist (SL – 492 f.)

– in einer Umwertung der eigenen natürlichen Anlagen (Egoismus/ Selbstsucht) also hin zu einer möglichen »Schuld« als einer persön332

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lich zu verantwortenden – und in der Figur des Quidam ist diese bis zum möglichen Mord auf dem Gewissen zugespitzt. Dieser möglichen und selbst zu verantwortenden Schuld sich zu fürchten ist dann – in Taciturnus’ Konzeption – religiös besehen keine Selbstsucht mehr (dem natürlichen Menschen müsste sie als Torheit erscheinen), sondern ursprüngliche Humanität erst stiftend durch das Setzen eines Gottesverhältnisses. Der heidnischen Entäußerung steht also eine religiöse Verinnerlichung gegenüber, wobei dadurch die an sich für beide Sphären der Selbstauslegung und unterschiedenen Selbstkonstitution bedeutsamen Affekte von Furcht und Mitleid andere Dynamiken freilegen. 18 Und gerade an dieser Stelle setzt sowohl bei Kierkegaard als auch bei Nietzsche die Kritik des Mitleides an, die eine Vorstellung von Mitleid als natürlicher, vorrationaler Triebfeder und damit Begründungsinstanz moralischen Handelns weder im Sinne Rousseaus noch im Sinne Schopenhauers gelten lassen. Das gelingende Mitleid bei Kierkegaard und Nietzsche ist innerlich, durch ein geistiges Selbstverhältnis vermittelt und äußert sich im Werk der Philosophen über indirekte Kommunikation ihrer Gedanken. Der positive Mitleidsbegriff innerhalb der Dichtung liegt also darin, dass der Zuschauer von seinen spezifisch egoistischen, selbstischen, also asozialen Eigenschaften absieht. Dieser kann innerhalb Foucault und Sennett weisen in Sexualität und Einsamkeit, wenn auch aus anderer Motivation, auf denselben Punkt hin (vgl. Sennett/Foucault (2000), S. 25–59, hier S. 40–45). In diesem Aufsatz geht es wie oben bereits grob umrissen um die Konstitution des modernen Selbst durch das Dispositiv der Sexualität. Während Sennett sich in die Analyse verschiedener medizinischer und pädagogischer Fachtexte aus dem 18. und 19. Jahrhundert vertieft, interessiert sich Foucault vor allem für den historischen Umschlagspunkt von spezifisch heidnischer und christlicher Selbstauslegung. Seine Analysen fokussieren die Selbstauseinandersetzungen durch Traumdeutungen von Artemidor und Augustinus als Vertreter der heterogenen Lager. Dabei konstatiert Foucault: Während durch Traumdeutungen Artemidors als des Typus heidnischer Selbstauslegung sinnliche Nachtphantasien immer Bedeutung innerhalb eines sozialen Raumes aufgetragen bekommen, immer politische Bezugspunkte aktualisieren, so sind die Selbstauslegungen Augustinus’ selbstreferentiell, einsam; die Bekümmerung um das eigene Heil überwiegt die Frage nach dem anderen. Es ist im Übrigen bemerkenswert, wie beim späten Kierkegaard der durch die Auseinandersetzung mit Schopenhauer motivierte Blick auf die geschichtlichen Stationen von Askese sich den Analysen Sennetts und Foucaults strukturell fügt: »Es gab eine Zeit, in der war man Asket dem Charakter nach. Dann kam eine Zeit, in der man die ganze Sache mit der Askese der Vergessenheit übergab. Nun prahlt einer [i. e. Schopenhauer, R. R.] damit: der erste zu sein, der ihr [einen] Platz im System anweist.« (Cappelørn et al. (Hrsg.) (2012), S. 348).

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der religiösen Sphäre allerdings nicht greifen, weil Religiosität eine andere Vorstellung von dem besitzt, was Furcht erweckt (nämlich in erster Linie schuldig sein vor Gott), und somit auch das prinzipiell im sozialen Raum stehende Mitleid innerhalb jedes Einzelnen an anderer Stelle liegt. Die Sympathie ist autopathisch vermittelt. Hier ist es von Bedeutung, die begriffliche Verquickung von Reue und Mitleid näher zu analysieren. Die Reue, so wurde gesagt, legt ein religiöses Selbstverhältnis grund und wird folgendermaßen bestimmt: »Bereuen ist keine positive Bewegung von etwas fort oder zu etwas hin, sondern eine negative Bewegung nach innen zu, nicht ein Tun, sondern ein durch sich selbst sich etwas widerfahren Lassen.« (SL – 506 f.) Wie es zu dieser Bestimmung kommt, erhellt sich aus der Polemik Taciturnus’ gegen Ludwig Börne.

III.1.1.2 Kierkegaards anti-soziologische Vermittlung des eigenen Anspruchs (SL) Taciturnus versucht seinen Standpunkt zu erhärten, indem er Ludwig Börnes Umgang mit »Dichtung« und »Religion« bespricht, gegen dessen redlichen Atheismus er wie gegen den Heinrich Heines und Ludwig Feuerbachs persönlich zunächst nichts einzuwenden hat. 19 Nachdem Taciturnus noch einmal festgehalten hat, dass »das Religiöse« einen anderen Begriff von dem unterhält, was Furcht weckt, als die Dichtung und daher auch sein Mitleid an anderer Stelle liegt, kommt er auf die Bedeutung von Krankheit und Armut für einen Ästhetiker zu sprechen: In einem voranstehenden Abschnitt würdigt Taciturnus: »Überhaupt sind Börne, Heine, Feuerbach und andere Schriftsteller der Art Individualitäten, die für einen Experimentator von großem Interesse sind. Sie wissen gewöhnlich über das Religiöse sehr gut Bescheid, d. h. sie wissen mit Bestimmtheit, daß sie damit nichts zu tun haben wollen. Dies ist ein großer Vorzug vor den Systematikern, welche ohne zu wissen wo das Religiöse eigentlich liegt, bald untertänig, bald hochmütig, aber jederzeit unglücklich sich der Erklärung des Religiösen annehmen.« (SL – 482) In einen tieferen Blick in die Sache simulierender Polemik fährt Taciturnus analogisierend fort zu konstatieren, dass ebenso gut wie ein glücklicher ein eifersüchtiger Liebhaber über das Erotische Bescheid wissen könne, und man deshalb in Zeiten, wo echter Glauben selten zu finden sei, dankbar sein müsse, »Geärgerte« wie Börne, Heine und Feuerbach zu finden, da sie einem Psychologen reichlich Anschauungsmaterial lieferten (vgl. SL – 481 f.). Vgl. zu diesem Punkt eines adäquaten, da existierenden Verhältnisses zum Christentums aufgrund von Ärgernis auch István (2001), S. 409–411.

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Krankheit und Armut beschäftigen den Aesthetiker nicht, er hat mit Leiden dieser Art keine Sympathie, er empfindet damit keine Gemeinschaft, wie Börne irgendwo sagt: ›er fühlt sich gesund und hat nicht Lust darauf zu hören.‹ Alle Arznei aber, Dichtung wie Religion, ist allein für die Kranken 20, weil sie nur durch Furcht und Mitleid hindurch heilt. Die letzte Äußerung sollte Börne nicht getan haben; denn hier ist das Aesthetische allbereits mit Beziehung auf die Wirklichkeit bestimmt, und somit ist es Borniertheit oder Verstocktheit, davon nichts wissen zu wollen. (SL – 491)

Taciturnus gesteht Börne also die erste Prämisse, dass Armut und Krankheit der Ästhetik unwürdige Gegenstände sind, zu, weil die Protagonisten der Ästhetik, damit sie ihre Wirkung zeitigen können, »gesund« zu sein haben und der Zuschauer durch sie von seinen pekuniären und physischen Benachteiligungen absehen kann. Taciturnus’ böser Blick gewinnt erst dadurch eine Angriffsfläche, dass er das Ästhetische in sich unterscheidet: in eine immanente Sphäre »reine[r] Idealität« und in eine, in der die »Dichtung« zur menschlichen Lebenswirklichkeit ein Verhältnis hat (vgl. SL – 491) und deren Auffassung nachhaltig umwertet. Indem Börne behauptet, dass Dichtung wie Religion Arznei für Kranke sei, weil sie nur über Furcht und Mitleid heilten, glaubt Taciturnus ihm Borniertheit und Verstocktheit unterstellen zu dürfen, das Abschieben und Verdrängen, das instinktive Nichtwahrhabenwollen also einer realen Not. Die Kritik der Kunstauffassung Börnes durch Taciturnus zielt darauf zu erweisen, dass Börne aufgrund zufälligen Ausgezeichnetseins durch »Gesundheit« systematisch die Tatsache der realen physischen und existentiellen Not seiner Mitmenschen überzeichne. In dem Moment, in dem Börne Dichtung und Religion als Arznei nur für Kranke abtut, schneidet er dem »Menschen« in sich die ethische Dimension heraus. Das entscheidende Zitat soll noch einmal genannt werden: Es ist vom Zuschauer nicht verkehrt, daß er sich an die Dichtung verlieren will, es ist eine Freude, die sich belohnt; aber der Zuschauer darf die SchauEmanuel Hirsch verweist hier, das indirekte Börne-Zitat scheinbar mit dem Standpunkt Taciturnus’ identifizierend, auf Mk 2,16–17: »Als die Schriftgelehrten, die zur Partei der Pharisäer gehörten, sahen, dass er mit Zöllnern und Sündern aß, sagten sie zu seinen Jüngern: Wie kann er zusammen mit Zöllnern und Sündern essen? Jesus hörte es und sagte zu ihnen: Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.« Hirsch liefert durch diesen Kommentar dem von Taciturnus attackierten Lager (versehentlich?) Munition.

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bühne und die Wirklichkeit nicht verwechseln, auch nicht sich selber mit einem Zuschauer, der überhaupt nichts andres ist als Zuschauer bei einer Komödie. (SL – 491)

Die Polemik gegen Börne ist Stellvertreter für den von Kierkegaard diagnostizierten Missstand einer epochal sich manifestierenden Annihilierung der ethischen Dimension des Menschseins überhaupt. Dies wird ersichtlich, wenn man das an »Börne« Exemplifizierte anknüpft an die Reuetheorie der Stadien, die – negativ via »Mitleid« – das religiöse Selbst »grundlegen« soll. Dass Kierkegaard diese »Grundlegung« mit den theoretischen Möglichkeiten des Pseudonyms Taciturnus nicht gelingt, bedeutet die Aufhebung des Ausnahmetheorems als eines Theorems und bereitet das eigentümliche »Schwimmen« des in Die Krankheit zum Tode ausbuchstabierten ›entsubstantialisierten Subjekts‹ entschieden vor, das allein im antibegrifflichen Raum »einsamster Einsamkeit« zu Hause wäre. Einige Seiten später, im § 6. Nichts bereuen ist die höchste Weisheit – die Sündenvergebung, rechnet Taciturnus mit den »Freigeistern« ab und kommt wieder auf Börne zu sprechen, nachdem er die in der Forschung lange intensiv diskutierte »Stadienlehre« vorgestellt hat und den Begriff der »Reue« mit dem des Mitleids amalgamiert. Die ethische Sphäre wird hier als »Durchgang, den man jedoch nicht ein für allemal durchgeht« (SL – 507), bestimmt, wobei die »Reue« der dieser abstrakten Tatsache korrespondierende lebendige Ausdruck ist. Gebe man der Reue den kleinen Finger, so nehme sie die ganze Hand, ähnlich wie der alttestamentliche Gott die Vergehen der Väter an den Kindern und Kindeskindern räche (vgl. SL – 507); und ebenso wie Jahwe aufrüttelnd durch die ihren Ursprung (unschuldig?, schuldig?) vergessende Vergehensgenealogie durchgreift, […] ebenso greift die Reue zurück, indem sie fort und fort den Gegenstand ihrer Untersuchung voraussetzt. In der Reue ist der Ruck der Bewegung und darum alles umgekehrt. Dieser Ruck bedeutet eben den Unterschied zwischen dem Aesthetischen und dem Religiösen. Diese unendlich vernichtende Gewalt der Reue ersieht man am besten daraus, daß sie auch sympathetisch dialektisch ist. (SL – 507)

Taciturnus operiert hier mit vagen Begriffen und überzeichnet die Porosität seiner doch entscheidenden Begriffe mit Pathos: Ein »Ruck der Bewegung« soll »alles umkehren« und endlich den Umschlag eines ästhetischen in ein religiöses Selbstverhältnis bedeuten. Der »Ruck der Bewegung« wird näher umschrieben mit dem Bild, eine 336

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»unendlich vernichtende Gewalt« zu sein, was wiederum daraus ersichtlich werden soll, dass »Reue« sich sozial, »sympathetisch«, mitleidend konstituiert. 21 Taciturnus veranschaulicht den Sachverhalt, die Bedeutung wahren Mitleids als wesentlichem Attribut der Reue für die Konstituierung eines religiösen Selbstverhältnisses an einer Narration, die den »anti-soziologischen« Geist seiner Gegenwartskritik scharf pointiert und in jenem anti-modernen Gegenkonzept des »De te narratur fabula« mündet. Aufgrund ihrer anschaulichen Kraft soll die Narration nachgezeichnet werden: Ein dramatisch durch sein Laster gefährdeter Suchtspieler schafft es, von seiner Leidenschaft sich loszureißen. Bald vernimmt er, dass ein aufgrund seines edlen Charakters verehrter Freund aus den alten wilden Tagen sich das Leben genommen hat. Er hatte gegen seinen manischen Hang zur Selbstdestruktion angekämpft, allerdings erfolglos. »Was nun?«, fragt Taciturnus. Selbst ihr Amt vermeintlich gewissenhaft ausführende Pfarrer brechen, von Novellen- und Romanschreibern ganz zu schweigen, die immanente Dynamik dieser Geschichte vorzeitig ab. Jener hätte die Erzählung damit enden lassen, dass sein Spieler, durch dieses Ereignis erschüttert, nach Hause gegangen wäre und Gott für seine Rettung gedankt hätte. Dies ist ästhetische Fehlweisung, ein willkürlicher Abbruch, dessen Explikationskraft der eines Deus ex machina entspricht. Der Überlebende braucht eine Erklärung für diesen Vorfall, denn »jegliche Existenz, die nicht gedankenlos ist, ist von selbst mitDieser Erfahrungswucht der vernichtenden Gewalt der Reue als einer sympathetisch dialektischen korrespondiert formal – um eine etwas kühne Analogie zu wagen – Zarathustras noch genauer auszulegende Begegnung mit dem »hässlichsten Menschen«, der Zarathustra verführerisch anhält, das Rätsel seines Wesens, das sich im Motiv der »Rache am Zeugen« ins Bild bringt, zu erraten. Nachdem Zarathustra sich unwillkürlich den Anfragen des hässlichsten Menschen stellte, »[…] was glaubt ihr wohl, dass sich da mit seiner Seele zutrug? D a s M i t l e i d e n f i e l i h n a n ; und er sank mit Einem Male nieder, wie ein Eichbaum, der lange vielen Holzschlägern widerstanden hat, – schwer, plötzlich, zum Schrecken selber für Die, welche ihn fällen wollten. Aber schon stand er wieder vom Boden auf, und sein Antlitz wurde hart.« (Z – 328) Natürlich liegt bei Nietzsche nicht der Akzent auf »Reue«, die Nietzsche gerne als eine potenzierte Dummheit abtut. Allein, es scheint doch die präzise bebilderte Wirklichkeit der Erfahrung Zarathustras als begrifflich nicht herleitbarer Umschlagspunkt der Selbstauslegung das Taciturnus-Zitat adäquat zu spiegeln und eine analoge Intention zu brechen. Dabei ist präzise ›hier‹ auch der Kreuzweg zwischen Kierkegaards und Nietzsches exemplarischem Denken einzuzeichnen, dessen Telos bei Ersterem sich am »Gott-Menschen« auslegt und bei Letzterem in Zarathustra selbst seine (punktuelle) Erfüllung findet.

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telbar urteilend. Wäre der andere verstockt gewesen, so könnte mein Spieler ja schließen, jener habe nicht gerettet werden wollen.« (SL – 508) Aber der Spieler ist eben davon überzeugt, aus unmittelbarem sozialem Erleben heraus, dass sein Freund nicht verstockt war. Taciturnus hält fest, dass sein Spieler dieses Ereignis auf sich überträgt: »De te narratur fabula«, dass diese Geschichte von ihm handle (vgl. SL – 508), welche ›übersoziale‹ Perspektive auf die Sache »ihm des Daseins heiligstes Gesetz, weil es der Humanität Verbündnis ist« (SL – 508), verbürgt. Diese Zuspitzung bringt erst in den Blick, was »Sympathie«, wirkliches Mitleid ist. 22 Diese Idealität hat die Überzeugung zur Voraussetzung: »Das Dasein muß ja doch seine Gesetze haben, die sittliche Ordnung der Dinge ist kein Hurlumhei, wo einer dem Verkehrtesten gut, ein anderer dem Besten schlecht entwischen kann.« (SL – 509) 23 Aggressiv, damit die Not an Argumenten überzeichnend, hält Taciturnus fest, dass jeder Mensch, der Das »De te narratur fabula« scheint in nächster Nähe zu Schopenhauers »tat tvam asi« zu stehen, ist es allerdings nur äußerlich. An dieser Stelle kann bereits hervorgehoben werden: Letzteres geht von einer Wesensidentität aus, einer metaphysischen Einheit im Willen, wobei jene Einsicht des ›Das bist Du‹ im Affekt des Mitleids freigetreten wird, was zur Folge hat die Resignation auf den im Schein befangenen Willen zum Leben, der zugleich das Prinzip der Individuation ist. »De te narratur fabula« ist im Gegensatz zu Schopenhauers distanziert-erwogener Bedeutung des Mitleids für eine Ethik absolut auf Aneignung gemünzt. Es baut nicht (vermeintlich) wissend, ästhetisierend auf Mortifikation eines anderen (wie Schopenhauer in seinem System – Typus »Asket«), sondern setzt in Gang eine Selbstbekümmerung, die sich umso intensiver in ihrer Vereinzelung aufreibt, umso mehr sie die Lage des letztlich intransparenten anderen in den Prozess der Selbstverarbeitung involviert. Die sich durch Fremdwahrnehmung spiegelnde Selbstwahrnehmung, die zwischenmenschlich notwendig immer offen bleibt, konstituiert sich aus ästhetischen (determinierten) und ethischen (freien) Anteilen. Vor diesem Hintergrund ist Dietz (2012) aufschlussreich. Das Zugleich von Gebundenheit von Freiheit und Determiniertheit bei Kierkegaard beschreibt Dietz anhand von »Angst« als »Signatur einer in sich verschlungenen, in sich verwobenen und gefesselten Freiheit […]«. (S. 170) Von dieser Vertiefung in den eigenen Abgrund erlöst wird man bei Kierkegaard allein durch die Integrierung »des Vorbildes« in das Selbstverhältnis. »Die ethische Konkretion der ›Entgrenzung‹ des Individuums in seiner Selbstbezüglichkeit liegt bei Schopenhauer im Begriff des Mitleids, bei SK im Begriff der Liebe. […] Beide, Mitleids- und Liebesethik, sind soteriologisch fundierte Entgrenzungsmodelle selbstfixierter Subjektivität […]. Das ›Sein beim Andern‹ (wie immer dieser oder dieses bestimmt sei und wo auch immer der, die oder das Andere mir als Anderes meiner selbst begegnet) ist somit der Schlüssel zur Aufhebung der vereinzelten Individualität in ihrer elenden Angst- und Todesverfallenheit.« (S. 164) 23 Aufgrund solcher Sätze nennt Anthony Imbrosciano Kierkegaard einen »social idealist« (1993), S. 446. 22

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nicht dumm ist, vermöge des Dialektischen in der Reue in Richtung auf das Sympathetische »alsogleich auf Grund« (SL – 509) gerät. Dieser »Grund« kommt hier theoretisch nicht weiter zum Tragen. Diesen Aufriss wieder vertuschend verweist Taciturnus noch einmal auf Börne, der in seinen Arbeiten nicht »auf die Dialektik der Reue in Richtung auf das Sympathetische«, »aber doch auf etwas Ähnliches, auf eine Äußerung von Sympathie aufmerksam ist« – und damit »dies Leiden heilt, indem er die Krankheit nur noch schlimmer macht«. (SL – 509) Die Krankheit, von der hier die Rede ist und die durch Börne, ohne dass er wüsste, was er tut, nur scheinbar geheilt, de facto aber verschlimmert wird, ist hier als aufspringender, Sonne ziehender Keim jene ›zum Tode‹, wie sie von Anti-Climacus bezogen auf das Menschliche im Ganzen diagnostiziert und in ihrem bunten Wundbrand ausbuchstabiert werden wird. 24 Das ›Leiden‹ als soziales, ›sympathetisches‹, stößt durch seine ›falsche‹, verstockt-ungeschmeidige Interpretation nicht auf einen ›Grund‹, von dem aus dann ›adäquat‹ existiert werden könnte, sondern verzerrt das Selbst- und Weltverhältnis durch seine das Menschliche mit Füßen tretende Egomanie. Taciturnus erhärtet seine Kritik, indem er konkret den Umgang Börnes mit Statistiken zu unnatürlichen Todesfällen in Paris bespricht. Da sehr schön ersichtlich wird, durch welchen Abgrund der Anschauungen »Börne« und »Taciturnus« als exemplarische Vertreter zweier Weltanschauungslager voneinander getrennt sind, soll Börnes Einschätzung der Wirkung von amtlichen Berichten und Statistiken auf das Gemüt, unter Auslassung der bissigen Polemik Taciturnus’, zitiert werden. Börne spricht von dem Gefährlichen des Wohnens in kleinen Städten und fährt fort: ›große Verbrechen geschehen so selten, daß wir sie für freie Handlungen erklären, und die Wenigen, die sich ihrer schuldig machen, schonungslos verdammen. […] … Aber ganz anders ist es in Paris. […] Auch Nietzsches Gegenwartskritik pointiert sich geballt in der Metapher der »Krankheit«. Im Gespräch mit dem »Feuerhund«, Repräsentant moderner – unter Umständen durch Statistiken gestützter – Ideen, ästhetischen Gesetzmäßigkeiten im kierkegaardschen Sinne jedenfalls andienend, der von großen Ereignissen (»Revolutionen«) angezogen ist, hält Zarathustra diesem ein Konversionsereignis entgegen, welches zur zu überwindendenen Voraussetzung diese These hat: »Die Erde […] hat eine Haut; und diese Haut hat Krankheiten. Eine dieser Krankheiten heisst zum Beispiel: ›Mensch‹.« (Z – 168) Diese Passagen sind gegen den »Feuerhund« gesprochen, der diese Krankheit nur immer erneut entzündet, eben weil er sie an falscher Stelle diagnostiziert: außen statt innen.

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Die Schwächen der Menschen erscheinen dort als Schwächen der Menschheit […]; Verbrechen und Missgeschicke als heilsame Krankheiten, welche die Übel des ganzen Körpers, diesen zu erhalten, auf einzelne Glieder werfen. […] Wir erkennen dort [in Paris] die Naturnotwendigkeit des Bösen […] und die Notwendigkeit ist eine bess’re Trösterin als die Freiheit […][.] Wenn in kleinen Städten ein Selbstmord vorfällt, wie lange wird nicht darüber gesprochen, wie lange wird nicht darüber vernünftelt! […] … Liest man aber in Paris die amtlichen Berichte über die geschehenen Selbstmorde …[,] wie so viele aus Liebesnoth sich tödten, so viele aus Armuth, so viele wegen unglücklichen Spiels, so viele aus Ehrgeiz, – so lernt man Selbstmorde als Krankheiten […] ansehen, die wie Sterbefälle durch Schlagfluß oder Schwindsucht in einem gleichbleibenden Verhältnis wiederkehren!‹ (SL – 510 f.) 25

»Gesellschaft« wird in jener Zeit der gesellschaftlichen und politischen Umbrüche zum eminenten Problem; die Entstehung der Soziologie als Wissenschaft ist eine Reaktion auf diesen Geist der Krise. 26 So gesehen ist es aus geistesgeschichtlicher Perspektive äußerst aufschlussreich, eine ursprüngliche und radikal ablehnende Reaktion auf diese neue Form des Wissens zu sehen, die uns heute in keiner Hinsicht mehr beunruhigt. 27 Sieht Börne in der hier aufscheinenden Medialisierung der Lebenswirklichkeit einen Fortschritt, indem sie diffuse, an sich beängstigende, unheimliche Ereignisse (Mord, Verbrechen, Selbstmord) bündelt, schematisiert, anschaulich macht und objektviert durch Regelmäßigkeit und Ziffern; gelingt es Börne damit, Distanz aufzubauen zur unter Umständen lebenslähmenden Wirklichkeit, indem er die ›Notwendigkeit‹ von diesen Übeln zu akzeptieren lernt dadurch, dass seine Auffassung durch ästhetisierende Metaphern (Verbrechen Einzelner werden als heilsam für das Ganze bewertet, weil dieses als selbstregulierendes Subjekt gedacht, sein naEine analoge Perspektive auf die ›sich selbstregulierende Menschheit‹ findet sich im 17. Kapitel des ersten Teils von Das Wesen des Christentums: Feuerbach gesteht zu, dass alle Menschen ›Sünder‹ sind, fordert aber, dass nicht jeder Mensch auf gleiche Weise Sünder sei. Der eine hinge der Trinklust nach, der andere neige eher zur Lüge etc. Daraus ›folgt‹ für Feuerbach: »Es ergänzen sich also auch im Moralischen, wie im Physischen und Intellektuellen, gegenseitig die Menschen, so daß sie im Ganzen zusammengenommen so sind, wie sie sein sollen, den vollkommenen Menschen darstellen.« Feuerbach (2008), S. 244. 26 Vgl. hierzu einführend etwa Repplinger (1999). 27 Kierkegaard schreibt diese Zeilen im Jahre 1845, drei Jahre bevor Marx und Engels das Manifest der kommunistischen Partei verfassen, und noch ehe Auguste Comte einem bis dahin unheimlichen Wissen um eine Krise ihren Namen gibt (»Soziologie«). 25

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turhaft Böses punktualisieren kann, um seine generelle Gesundheit zu sichern) einen qualitativen Sprung zwischen Existenz- und Gedankenwirklichkeit überzeichnet; 28 so ist dies innerhalb der Kategorien Taciturnus’ egoistischer Verrat an der Humanität. Zusammenfassend kann gesagt werden: einer Ästhetisierung der Lebenswelt über Statistiken, die sich eigentümlich mit der ›heidnischen‹ Auffassung von Mitleid deckt, wird eine an einen schwer fassbaren Begriff von »Reue« geknüpfte und religiös orientierte Auffassung von »Mitleid« gegenübergestellt, die als ethische Verpflichtung für jeden Einzelnen verbindlich ist. Während Börne sein Betroffensein, sein Mitleid »selbstlos« dadurch kanalisiert und auswertet, dass er die Sphäre des Ethischen umschifft, um über ›wissenschaftliche‹ Erklärungsmuster wieder bei einer ästhetischen Lebensanschauung anzulegen, die das Problem vermeintlich bewältigt, im Grunde aber nur das geistige Leiden an sich selbst sprachlos macht, so soll nach Taciturnus der Anblick fremden Leids einen Schmerz am eignen Selbst nach sich ziehen, dem ethische Bedeutung zukommt. Das Bezugsobjekt von Börnes »Mitleid« sind die wenigen Verbrecher, Selbstmörder etc., die in kleinen Städten als schuldig befunden und schonungslos verdammt werden (vgl. SL – 510). Er sieht die vermeintlich bösen und leidenden Menschen aufgrund der Statistiken von Großstädten entschuldigt, indem sie das Ganze als ein letztlich zum Guten sich selbstregulierendes System anschaulich machen, ohne zu merken, dass dieses ›Gute‹ eine Projektion des eigenen, zufällig privilegierten, ›gesunden‹ Standpunkts ist, das sich die abgründigen Leiden anderer nicht zu Herzen nehmen kann. Taciturnus’ Modell baut dem entgegen nicht auf das zufällig die Menschen voneinander Unterscheidende, sondern hebt seinem Selbstverständnis nach den sinnlichen Anstoß des Mitleids durch nachhaltige, autopathische Inversion auf eine kategorial andere Ebene, die als geistige allein das zufällig die Menschen trennende Moment aushebeln kann und den Sinn von Mitleid – menschlich adäquat – vermittelt. Die Pointe der Auseinandersetzung mit Börne ist zuletzt die, dass Taciturnus Börne selbstsüchtige Egomanie unterstellen zu dürfen glaubt, während Börne sich für einen mitleidigen Menschen hält. Vgl. zu diesem anti-idealistischen und ethisch motivierten Kritikpunkt Kierkegaards, der auf den Vorwurf einer »Sphärenvermengung« hinausläuft, die einen ausgezeichneten Modus des In-der-Welt-Seins negiert, exemplarisch Hühn (2009), S. 169–211.

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Der »zartbesaitete[]« Börne verdränge durch seine »nichtsokratische Unwissenheit« (SL – 510) die Aufgabe, die der Anblick fremden Leids nach sich ziehen müsse: was sich als Mitleid gibt, ist wesentlich Egoismus, eine reale Erfahrungsdimension wird durch ein ästhetisches Kalkül unschädlich gemacht. An dieser Stelle soll zu Nietzsche umgeschwenkt werden, der 43 Jahre später auf seine Art und Weise eine Kritik der Soziologie formuliert. Diese ist in der Götzen-Dämmerung niedergelegt, einem Werk, das gemessen am Werkvergleichsmodell zur ›untergehenden Bewegung‹ des exemplarischen Denkens Nietzsches gehört. Entsprechend soll anhand der anstehenden Analysen das Problemfeld eröffnet werden, um dann Nietzsche durch ihn selbst, quasi im Krebsgang auf seine Höhe hin – Also sprach Zarathustra – zu entwickeln.

III.1.2 Nietzsches anti-soziologische Vermittlung des eigenen Anspruchs Zur Debatte steht nun eine Passage aus Nietzsches Götzen-Dämmerung, in der sich Nietzsche einer Welt konfrontiert sieht, in der Soziologie als Wissenschaft immer entschiedener Fuß zu fassen beginnt. Es ist wichtig zu betonen, dass die Mittel der Kritik denen Kierkegaards nur scheinbar wesensfremd 29 sind. In Nietzsches Aphorismus Ob wir moralischer geworden sind 30 findet sich folgender Passus: 29 Dem hier besprochenen Aphorismus steht Moral für Ärzte voran, der mit den Worten anhebt: »Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig, noch länger zu leben.« (GD – 134) Dieser Aphorismus fordert eine ›pessimistische Lebensanschauung‹ dazu auf, ihre Prämissen konsequent durchzuführen: Ein Pessimist bewiese sich – ethisch streng genommen – als solcher allein durch seine ›Selbstaufhebung‹. In den folgenden, gewissermaßen als Notabene eingefügten Schlusserläuterungen, behauptet Nietzsche einen trockenen, schwarzen Humor. »Der Pessimismus, anbei gesagt, so ansteckend er ist, vermehrt trotzdem nicht die Krankhaftigkeit einer Zeit, eines Geschlechts im Ganzen: er ist deren Ausdruck. Man verfällt ihm, wie man der Cholera verfällt: man muss morbid genug dazu schon angelegt sein. Der Pessimismus selbst macht keinen einzigen décadent mehr; ich erinnere an das Ergebniss der Statistik, dass die Jahre, in denen die Cholera wüthet, sich in der Gesammt-Ziffer der Sterbefälle nicht von andern Jahrgängen unterscheiden.« (GD – 135 f.) Durch diesen ›dummen‹ Vergleich hebt Nietzsche – freilich bewusst – seine Argumentation dahingehend auf, insofern das, was er zeigen will, angesichts der Statistiken wieder verschwindet (und damit invertiert Nietzsche die Bedenken Taciturnus’ ironisch, sich selbst vorführend). Analog heißt es in Der Begriff der Angst – letztlich vielleicht ein Quäntchen witziger als bei Nietzsche (zur Bedeu-

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Alle unsre politischen Theorien u n d Staats-Verfassungen, das ›deutsche Reich‹ durchaus nicht ausgenommen, sind Folgerungen, Folge-Nothwendigkeiten des Niedergangs; die unbewusste Wirkung der décadence ist bis in die Ideale einzelner Wissenschaften hinein Herr geworden. Mein Einwand gegen die ganze Sociologie in England und Frankreich bleibt, dass sie nur die Ve r f a l l s - G e b i l d e der Societät aus Erfahrung kennt und vollkommen unschuldig die eigenen Verfalls-Instinkte als N o r m des sociologischen Werthurteils nimmt. Das niedergehende Leben, die Abnahme aller organisirenden, das heisst trennenden, Klüfte aufreissenden, unterund überordnenden Kraft formuliert sich in der Sociologie von heute zum I d e a l … (GD – 138 f.)

Dieser Auszug hat – um den exoterischsten Punkt zu bezeichnen – die These aus Zur Genealogie der Moral zur Voraussetzung, dass ein erschlaffender Wille zum Leben als Sklavenmoral schöpferisch wurde im Machtinteresse des asketischen Priesters. Die modernen Wissenschaften und deren politisch-lebensweltliche Entsprechungen sind nun, so unterstellt der Moralgenealoge, ohne es zu wissen, die faktischen Ausläufer 31 jener Umwertung aller Werte des Sklavenaufstandes, die den Voraussetzungen Ja-sagenden, ›starken‹ Lebens widersprechen. Nietzsche erweist diesem Befund entsprechend, dass der moderne Wille zur Wahrheit der esoterische Kern des asketischen Ideals selbst ist, dass die modernen politischen Theorien und Staatsverfassungen, die durch die Wissenschaft Soziologie ihre Legitimierung beziehen, Ausdrücke eines an sich selbst geschwächten Willens tung des Humors für Kierkegaard vgl. Lippitt (2000a)) – über die medizinisch-behandelnde Betrachtung des Dämonischen durch »Pulver und Pillen« verordnet vom Arzt und Apotheker, die den Patienten entfernten: »denn in unserer mutigen Zeit traut man sich nicht, einem Patienten zu sagen, daß er sterben müsse, oder den Pfarrer herbeizuholen, aus Furcht, der Patient werde vor lauter Schreck sterben […]«. »Der Patient wurde entfernt, das Mitleid erkundigte sich nach seinem Befinden – der Arzt versprach, baldmöglichst eine tabellarische und statistische Übersicht herauszugeben, um eine Durchschnittszahl zu ermitteln. Und hat man eine Durchschnittszahl, so ist alles erklärt.« (BA – 588) Im Folgenden wird noch deutlicher, inwieweit Nietzsche als décadent mit dem Bezug auf Statistiken eine Position bezieht, die Ausdruck des allgemeinen Missstands ist und die er selbst performativ – durch Pathos der Distanz – unterläuft. 30 Vor dem Forschungskontext kommentiert diesen Text mit Rücksicht auf die umliegenden Abschnitte Sommer (2012), vgl. ab 496 ff. als Einbettung in den Zusammenhang. 31 Vgl. hierzu zusätzlich zu der bereits genannten Studie von Häußling (2000) auch Baier (1982), der herausarbeitet, wie für Nietzsche Soziologie eine Ausgeburt der Dekadenz ist, insofern sich durch sie lebensverneinende Ideale perpetuieren. Modulationen der Einsamkeit

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zur Macht sind. Die Selbstverherrlichung der Jetztzeit als einer gegenüber den vorangegangenen Epochen in Sachen Humanität fortschrittlichen, gegen die sich Ob wir moralischer geworden sind insgesamt wendet, wird ihres legitimierenden Fundaments enthoben und durch den Befund, dass keine Moral Wert an sich habe (vgl. GD – 137), relativiert und abgewertet. Ob wir moralischer geworden sind wird folgendermaßen eingeleitet: »Gegen meinen Begriff ›jenseits von Gut und Böse‹ hat sich, wie zu erwarten stand, die ganze Ferocität der moralischen Verdummung, die bekanntlich in Deutschland als die Moral selber gilt –, in’s Zeug geworfen […]«. (GD – 136) Nietzsche reagiert hier auf die Rezension seiner Gedanken und Bücher auf eine beachtliche Weise. Er empört sich gravierenden Fehldeutungen seines Werkes, was das Anliegen seiner Moralkritik moralisierend bricht. Die öffentliche Besprechung seiner Gedanken durch einen Redakteur des Bundes, so kommentiert Nietzsche, »gieng so weit, […] den Sinn meines Werks dahin zu ›verstehn‹, dass ich mit demselben die Abschaffung aller anständigen Gefühle beantragte. Sehr verbunden! –« (GD – 136) Der letzte Zusatz, auch wenn er nicht durch propositionale Aussagen eine eindeutige Position manifestiert, zeigt doch ironisch an, dass in Nietzsches Werk gute Gründe für die Kritik des Bestehenden hinterlegt sind, die dem Verständnis – dass Nietzsche »verstehen« in Anführungsstriche setzt zeigt an, dass Nietzsche sich nicht recht in dem Urteil seines Kritikers verstanden sah – seiner Kritiker nicht aufgegangen sind, schon gleich gar nicht dem in Sachen Moral verwilderten Deutschland, das sich seiner Verwilderung gar nicht bewusst ist, was die Verwilderung naturgemäß potenziert. Es ist beachtlich, dass Nietzsches Selbstverteidigungstechnik stark an die des Taciturnus gegen Börne erinnert: Es wird eine »Dummheit« 32 unterstellt, die sich für die Moral selbst ausgibt und damit Sein und Sollen mehr schlecht als recht miteinander identifiziert. Außerdem werden von beiden Denkern in ihrem Agon gegen die Jetztzeit dem Gegner Überempfindlichkeit und Schwäche unterstellt. 33 Nietzsche gibt zu bedenken, dass aufgrund der allgemein-

»Vermöge des Dialektischen an der Reue in Richtung auf das Sympathetische gerät ein jeder Mensch, der nicht dumm ist, also gleich auf Grund.« (SL – 509) 33 Taciturnus charakterisiert das egomane Selbstmissverständnis Börnes als »putzig« (SL – 509); kurz darauf wird Börne ironisch als »zartbesaitete Natur« gekennzeichnet, die sich in ihrer »nichtsokratischen Unwissenheit« beruhigt. 32

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neurasthenischen Konstitution der Modernen es kein Zeitgenosse in Renaissance-Zuständen aushielte; seine Nerven würden verglühen. 34 »Zweifeln wir andererseits nicht daran, dass wir Modernen mit unsrer dick wattierten Humanität, die durchaus an keinen Stein sich stossen will, den Zeitgenossen Cesare Borgia’s eine Komödie zum Todtlachen abgeben würden.« (GD – 137) Nietzsche bricht hier also die Selbstgewissheit des Allgemeinen, von dem er sich bedeutenderweise nicht ausnimmt – er spricht in diesem Text durchgängig aus der WirPerspektive, als décadent –, indem er Verhältnisse einer anderen Zeit, eines anderen Allgemeinen dagegenhält. »Was Würze ehedem des Lebens war, für uns wäre es G i f t …« (GD – 137) Nicht zufällig kommt Nietzsche in diesem Zusammenhang auf die »MitgefühlsMoral« seiner Zeit zu sprechen, vor der er »als der Erste« (GD – 137) gewarnt hätte. 35 Indifferent zu sein – auch das ist eine Form der Stärke – dazu sind wir gleichfalls zu alt, zu spät: unsre Mitgefühls-Moral, vor der ich als der Erste gewarnt habe, Das, was man l’impressionisme morale nennen könnte, ist ein Ausdruck mehr der physiologischen Überreizbarkeit, die Allem, was décadent ist, eignet. (GD – 137)

Die Mitgefühls-Moral, die ihre Güte aus dem widrigen, zur Reaktion nötigenden Anstoß eines Sinnenreizes, dem Sinnes-Eindruck bezieht, vollkommen reflexionslos und unwillkürlich, als quasi-mechanischer Reflex, wird entlarvt als eine vollkommene Unfreiwilligkeit, indem sie als die Emanation eines naturgeschichtlichen Prozesses gedeutet An dieser Stelle lohnt eine Erinnerung an jene Passage aus Schopenhauer als Erzieher: »Wo es mächtige Gesellschaften, Regierungen, Religionen, öffentliche Meinungen gegeben hat, kurz wo je eine Tyrannei war, da hat sie den einsamen Philosophen gehasst; denn die Philosophie eröffnet dem Menschen ein Asyl, wohin keine Tyrannei dringen kann, die Höhle des Innerlichen, das Labyrinth der Brust: und das ärgert die Tyrannen.« (SE – 353 f.) Es wird hier auf einen Schlag klar, was Nietzsche mit der »L e u c h t k r a f t « seiner »Gegen-Begriffe« meint, die ihn existentiell stützen angesichts des »Abgrund[es] von Leichtfertigkeit und Lüge […], der bisher Moral hieß« (vgl. zur Zuordnung wieder Stegmaier (2012), S. 17 f.). 35 Das ergibt philosophiegeschichtlich eine komische Konstellation: Kierkegaard klagt gegen Schopenhauers Wille zum Wissen: »Nun prahlt einer damit: der erste zu sein, der ihr [der Askese, R. R.] [einen] Platz im System anweist.« (Cappelørn et al. (Hrsg.) (2012), S. 348) Jetzt prahlt einer damit – so Kierkegaard, sich in seinem Grabe umdrehend –, der erste gewesen zu sein, der davor warnt. Aber immerhin, müsste Kierkegaard zugeben, denkt er meine Bedenken fort, indem er den Versuch, Moralphilosophie auf dem Mitleid zu begründen, vorzüglich bloßstellt. 34

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wird, aus dem eines definitiv nicht folgt: der Erweis seines Wertes an sich. »Jene Bewegung, die mit der M i t l e i d s - M o r a l Schopenhauer’s versucht hat, sich wissenschaftlich vorzuführen – ein sehr unglücklicher Versuch! – ist die eigentliche décadence-Bewegung in der Moral, sie ist als solche tief verwandt mit der christlichen Moral.« (GD – 138) Nietzsche betont im fortlaufenden Text, dass eine Zeit zu messen wäre an »ihren p o s i t i v e n K r ä f t e n « (GD – 138), wobei eben die Renaissance in ihrem verschwenderischen Überreichtum an Kraft im Verhältnis zur selbstfürsorglichen, kalkulierenden Moderne als ›groß‹ erscheint. Im nächsten Zitat verweist Nietzsche auf eine Denkleistung, auf ein Denkergebnis seiner Philosophie, das man als Gegen-Begriff zum »l’impressionisme morale« auffassen muss. [D]ie Kluft zwischen Mensch und Mensch, Stand und Stand, die Vielheit der Typen, der Wille, selbst zu sein, sich abzuheben, Das, was ich P a t h o s d e r D i s t a n z nenne, ist jeder s t a r k e n Zeit zu eigen. Die Spannkraft, die Spannweite zwischen den Extremen wird heute immer kleiner, – die Extreme selbst verwischen sich endlich bis zur Ähnlichkeit … (GD – 138)

Diese Nivellierungsdiagnose wird, um die Argumentation an den Ausgangspunkt dieses Abschnitts zurückzuspannen, schließlich abgelöst von dem eingangs besprochenen Zitat, indem die unsägliche Verquickung von Moral und Wissenschaft in der Soziologie moniert wird.

III.1.2.1 Mitgefühls-Moral gegen Pathos der Distanz (GD) Man kann mit guten Gründen davon ausgehen, dass Nietzsches Formel »Pathos der Distanz« ein Konzept darstellt, mit dem er sich gegen die Verziehung durch Schopenhauers Mitleids-Moral behauptet, welche Vermutung in diesem Abschnitt ausgebaut werden soll. Seine im veröffentlichten Werk erste Formulierung und theoretische Ausarbeitung erhält dieses Konzept in Jenseits von Gut und Böse, zu welchem Werk nun – im Krebsgang und jene ›Liebe über dem Mitleid‹ im Visier, der ironischen Verbundenheit Nietzsches zu seiner öffentlichen Besprechung die gebundene Zunge des Lakonismus lösend – übergegangen werden muss. Dort wird das Konzept, welches in Götzen-Dämmerung plakativ im Jargon des abgeschmackten Diagnostikers der Jetzt-Zeit entgegengehalten wurde, nicht nur theoretisch tiefer bestimmt, sondern zugleich als ein in der Jetzt-Zeit mögliches, Jasagendes und verheißungsvolles behauptet. 346

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Die Schriften Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral zeichnen sich aus durch die Installation von gewaltig klingenden, jedenfalls vermeintlich leicht fasslichen, schnell zitierbaren Formeln und Konzeptualisierungen, welche da etwa wären: der Unterschied zwischen Sklaven- und Herrenmoral, Wille zur Macht, Sklavenaufstand in der Moral, jenseits von Gut und Böse, Herdenmoral, stark und schwach, gesund und krank etc. Auch im Folgenden muss ein Stück weit mit diesen Begriffen gearbeitet werden. Sie werden allerdings nicht im strengen Sinne als materialer Begriffsbestand aufgefasst, der Phänomene in der Welt beschreiben soll, die historisch tatsächlich waren/sind; sie werden vielmehr als heuristische Konstrukte gedeutet, die sich durch einen plausibilisierenden Blick in die Historie der Lebenswelt vertiefen, um sich als idealtypisierte Skizzen untereinander zu erhellen und zu widerlegen, um für den hier und jetzt Denkenden Mittel anzubieten, sich in seiner Wirklichkeit selbstkritisch zu verorten. 36 Es wurde oben schon erhellt, wie Nietzsches »Einsamkeitslehre« abhängt von einer »Gesellschaftslehre«, deren Bedeutung für den sich Ausnehmenden zunächst rein negativ motiviert schien. Jenseits von Gut und Böse ist nun die Schrift, in der die Amalgamierung der Phänomene »Einsamkeit« und »Gesellschaft« am tiefsten vollzogen wird. Es soll also gezeigt werden, wie Nietzsche die bereits aus Götzen-Dämmerung bekannte Formel des Pathos der Distanz über Umwege etabliert: negativ über eine genealogische Rekonstruktion dessen, was Nietzsche »Herdenmoral« nennt, deren Werturteil er in der Moderne dominieren sieht – und deren Ausdruck der »l’impressionisme morale« ist jenseits einer empfundenen Not des logon didonai –: was moralisch geboten ist, ist unmittelbar selbstevident. Etabliert wird die Gegenwartsdiagnose über die Unterscheidung einer Herren- und Sklavenmoral, einem fingierten »Sklavenaufstand in der Moral«, der auch schon in Jenseits der Sache nach da ist, obschon er seinen reißerischen Titel erst in Genealogie erhält. 37 Dieser Umgang mit Nietzsches Moralkritik ist heute im Forschungsdiskurs gewissermaßen Common Sense. Man abstrahiert von den spezifischen Aussagengehalten und sichert die spezifischen Dynamiken der Argumentationen als Methoden der Kritik, die an sich Bedeutung haben (vgl. hierzu die Studien in Birnbacher/Sommer (2013), etwa Dellinger (2013), S. 61–98). Die Befürchtung, dass man durch diesen steril-isolationistischen Umgang mit Nietzsche reale Probleme anästhesiert, gegen die Nietzsche andachte, und man damit den kritischen Geist Nietzsches in eine merkwürdige Stimmlosigkeit verwickelt, wurde bereits ausgesprochen. 37 Er lässt sich der Sache nach sogar schon in Menschliches, Allzumenschliches aus36

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Dabei werden spezifische Qualitäten dieser Dichotomie, die vor allem durch die Exegese von Nietzsches Streitschrift Berühmtheit erfahren haben, in Jenseits unverbindlicher besprochen und konstruktiv amalgamiert dahingehend, als sie in ihrer agonalen Struktur als konstitutiv für den modernen Menschen erwägbar werden. Dieses Dividuum ist eben keine isolierte Zelle, keine von seiner Umwelt abgeschottete Ureinheit, 38 sondern gedacht als Einzel-Leib das Gegenteil: Das Innenleben des Subjekts wird metaphorisch als ein »Gesellschaftsbau vieler Seelen« (JGB – 33) begriffen, als Dynamiken unterliegend also, die seinem Außen als ursprünglichem Eingebettetsein in einen gesellschaftlichen Rahmen ein gutes Stück weit korrespondieren. Dass machen, etwa in dem Aphorismus 45 des ersten Buches, Doppelte Vorgeschichte von Gut und Böse. Dabei muss beachtet werden, dass Nietzsche zu Beginn seiner Ja-sagenden Philosophie umstandslos resümierte: »Unsere jetzige Sittlichkeit ist auf dem Boden der h e r r s c h e n d e n Stämme und Kasten aufgewachsen.« (MA I – 68) Das Zeitalter Nietzsches wird hier als Ausläufer der herrschenden Stämme bestimmt! An derartigen Gegenüberstellungen rechtfertigt sich der Versuch dieser Arbeit, die Philosophie Nietzsches als eine organische Einheit zu fassen, dessen Vielstimmigkeit man möglichst gleichzeitig hören muss. 38 Es ist spannend zu beobachten, wie Nietzsche auch als Denker einer Naturgeschichte der Moral, in der naturgemäß die Behauptung von »Einsamkeit« vorrangig keinen Sinn ergibt, diesen in ihr aufgehobenen Mehrwert nicht fahren lassen will: In seiner Streitschrift imaginiert der Genealoge die unvordenkliche Entstehung der Seele wie folgt: »Alle Instinkte, welche sich nicht nach Aussen entladen, w e n d e n s i c h n a c h I n n e n – dies ist das, was ich die Ve r i n n e r l i c h u n g des Menschen nenne: damit wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine ›Seele‹ nennt. Die ganze innere Welt, ursprünglich dünn wie zwischen zwei Häute eingespannt, ist in dem Maasse aus einander- und aufgegangen, hat Tiefe, Breite, Höhe bekommen, als die Entladung des Menschen nach Aussen g e h e m m t worden ist.« (GM – 322) Das Bild ›ursprünglich dünn wie zwischen zwei Häuten‹ ist beachtlich: die zu bezeichnende Qualität wird ausgelagert bzw. ›eingeklemmt‹ durch ihre Nichtbezeichnung. Feststeht: die »Seele« war in ihrem Ursprung nicht nichts. An derartigen Befunden erweist sich, dass der postmoderne Tod-des-Menschen-Diskurs mit seinen verschiedenen Ausläufern und Wiederbelebungen streng genommen Nietzsche nicht als seinen Ahnherren ausweiden darf. Ein Satz wie folgender, um ein beliebiges Beispiel herauszugreifen, der in Häußling (2000) steht und lautet: »Das ›Pathos der Distanz‹ setzt logischerweise die Möglichkeit der Distanzierbarkeit voraus. Gerade diese ist aber heute fragwürdig geworden. Zu den ernüchterndsten Einsichten des 20. Jahrhunderts gehört die Befürchtung, dass gleichsam ›subversiv‹ wirkende Kräfte aller Arten bei der Konstitution des ›Einzelnen‹ mitwirken. Der ›Einzelne‹ bewegt sich immer schon in vorentschlossenen, zumeist sozialen Wirklichkeiten, zu denen er erst nachträglich und recht rudimentär Stellung beziehen kann.« (S. 107 f.; ähnlich: S. 189 f.) verkennt im Prinzip die Bedeutung von »Einsamkeit«, die nicht allein eine geografische Zurückgezogenheit oder deren Möglichkeit meint und nicht – wie es Häußling bedenkenlos und doch sehr genau bescheidwissend leistet – als solche zu hypostasieren ist.

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der moderne Mensch, wie ihn Nietzsche denkt, nicht bis in die letzten Fasern seiner Essenz sozialdeterminiert ist, sondern dass in »Einsamkeit« ein Mehr 39 hinterlegt ist, von dem aus ein qualitativer Unterschied zum Bestehenden gedacht und gelebt werden kann, zeigt sich bei der Interpretation einer gegen seinen Erzieher Schopenhauer konzipierten – und auf Zarathustra rück- bzw. hochverweisen – Phänomenologie des Begriffs »Wollen«. Als ideeller Rahmen des einzuholenden Gehalts der einschlägigen Passagen aus Jenseits soll ein Aphorismus aus der Morgenröte dienen, welcher den im Verhältnis zu seiner Aussage spannungsreichen Titel trägt: Seinen Dämon nicht in die Nächsten fahren lassen! und die Pointe von Nietzsches Moralkritik exemplarisch bündelt: Bleiben wir immerhin für unsere Zeit dabei, dass Wohlwollen und Wohlthun den guten Menschen ausmache; nur lasst uns hinzufügen: ›vorausgesetzt, dass er zuerst g e g e n s i c h s e l b e r wohlwollend und wohlthuend gesinnt sei!‹ Denn o h n e D i e s e s – wenn er vor sich flieht, sich hasst, sich Schaden zufügt – ist er gewiss kein guter Mensch. Dann rettet er sich nur in die Anderen, vor sich selber: mögen diese Anderen zusehen, dass sie nicht schlimm dabei fahren, so wohl er ihnen anscheinend auch will! – Aber gerade Diess: das ego fliehen und hassen und im Anderen, für den Anderen leben – hat man bisher, ebenso gedankenlos als zuversichtlich, ›unegoistisch‹ und folglich ›gut‹ geheissen! (M – 299) 40 Hier ist es wie betont überaus wichtig, »Einsamkeit« nicht als einen geografischen Rückzugsort in welchem Sinne auch immer zu denken. Was »Einsamkeit« bedeutet, ist nicht substantiell, als Was begrifflich zu zeigen; allein durch das Wie ist es seiner Möglichkeit nach jederzeit da. Die Ohnmacht des in Subjekt-Objekt-Verhältnissen operierenden Begriffs vor der es bedingenden Qualität, »Leben« – eben das meint in letzter Instanz auch »Einsamkeit« als Substanz des exemplarischen Denkens zu behaupten. Kierkegaard fasst diesen Gedanken in Die Krankheit zum Tode wie folgt, wobei er im Zitat polemisiert gegen die ›Spekulation‹, welche die »Sünde« des Einzelnen ihrer Realität enthebt: »Deshalb ist die Spekulation sogleich auf die Lehre von der Übermacht der Generation über das Individuum gekommen; denn daß die Spekulation die Ohnmacht des Begriffs im Verhältnis zur Wirklichkeit anerkennen sollte, ist nicht zu verlangen. –« (KzT – 161) 40 Die hier zur Debatte stehende und vorausgesetzte und also wirklich mögliche »Güte« bezeichnet ein Verhältnis, das sich adäquat, selbstliebend zu sich selbst verhält und, indem es sich zu sich selbst verhält, in dieses Verhältnis immer schon den anderen integriert als jemanden, von dem Analoges vorausgesetzt wird. Nietzsche hat es ohne »Gott« und »Sünde« systematisch unendlich schwerer als Kierkegaard, die Möglichkeit dieses Gelingens offen zu halten. Es kann hier, zur Aufwertung dieses unscheinbaren Aphorismus, noch eine sachlich korrespondierende Passage aus dem Zarathustra zitiert werden: »Man muss sich selber lieben lernen – also lehre ich – mit einer heilen und gesunden Liebe: dass man es bei sich selber aushalte und nicht um39

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Vermittelt über die Unterscheidung zweier »Grundtypen« von Moralen – »Es giebt H e r r e n - M o r a l und S k l a v e n - M o r a l « 41 – soll brisant gemacht werden das Problem der Herdenmoral, welche von Nietzsche als Ausläufer der jüdisch-christlichen Moral gedacht wird. Nietzsche charakterisiert die christliche Moral als eine »Sklavenmoral«, die durch bestimmte Umwertungsprozesse einer als Gegentypus skizzierten aristokratischen, »vornehmen Moral« stark zugesetzt hat. Das, was innerhalb einer vornehmen Herrenmoral »gut« hieß, nämlich die »erhobenen stolzen Zustände der Seele«, das »Gefühl der Fülle, der Macht, die überströmen will« (JGB – 209), diese wertsetzende und »w e r t h e s c h a f f e n d [ e ] « Selbstverherrlichung wurde nach gewissen Evolutionen des Gemeinschaftslebens bald von schwächeren und ängstlicheren Naturen als »b ö s e «, 42 da gemein-gefährlich gebrandmarkt. In Nietzsches Worten aus einer sachlich korrespondierenden Stelle: Nachdem das Gefüge der Gesellschaft im Ganzen festgestellt und gegen äussere Gefahren gesichert erscheint, ist es diese Furcht vor dem Nächsten, welche wieder neue Perspektiven der moralischen Werthschätzung schafft. Gewisse starke und gefährliche Triebe, wie Unternehmungslust, Tollkühnheit, Rachsucht, Verschlagenheit, Raubgier, Herrschsucht, die bisher in einem gemeinnützigen Sinne nicht nur geehrt – unter anderen Namen, herschweife. / Solches Umherschweifen tauft sich ›Nächstenliebe‹ : mit diesem Worte ist bisher am besten gelogen und geheuchelt worden, und sonderlich von Solchen, die aller Welt schwer fielen. / Und wahrlich, das ist kein Gebot für Heute und Morgen, sich lieben l e r n e n . Vielmehr ist von allen Künsten diese die feinste, listigste, letzte und geduldsamste.« (Z – 242) In Anbetracht der Tatsache, dass diese gegen den Geist der Schwere konzipierte Lehre der Selbstliebe vor dem Kapitel Von alten und neuen Tafeln steht, kann erwogen werden, dass in den Morallehrer seiner einsamen Bestimmung nach diese Selbstliebe vorausgesetzt werden muss, damit seine Setzungen und Bewertungen wirklich ›gut‹ sind. Der Gedanke, dass der ›schlechte Mensch‹ die Einsamkeit flieht, weil ihm dort böse Erinnerungen an Vergehen plagen und schlimme Ängste heimsuchen, die er in Gesellschaft vergisst, ist im Übrigen ein Gedanke, der sich bereits in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik findet (vgl. vor allem den 5. Abschnitt des Buchs IX). Die Tatsache, dass auch bei Aristoteles der ›gute‹, tugendhafte Mensch in gewissem Sinne ›einsam‹ ist, vor allem dann, wenn er denkend sein eigentliches Selbst aktualisiert, obschon Aristoteles dies nicht so nennt, da bei ihm die Tugend wesentlich ›gesellig‹ ist, kann hier nicht vertieft werden. 41 »[I]ch füge sofort hinzu, dass in allen höheren und gemischteren Culturen auch Versuche der Vermittlung beider Moralen zum Vorschein kommen, noch öfter das Durcheinander derselben und gegenseitige Missverstehen, ja bisweilen ihr hartes Nebeneinander – sogar im selben Menschen, innerhalb Einer Seele.« (JGB – 208) 42 Wie erwähnt ordnet Nietzsche die Dichotomie »gut – böse« der Sklavenmoral, die Dichotomie »gut – schlecht« der Herrenmoral zu.

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wie billig, als den eben gewählten –, sondern gross-gezogen und -gezüchtet werden mussten (weil man ihrer in der Gefahr des Ganzen gegen die Feinde des Ganzen beständig bedurfte), werden nunmehr in ihrer Gefährlichkeit doppelt stark empfunden – jetzt, wo die Abzugskanäle für sie fehlen – und schrittweise, als unmoralisch, gebrandmarkt und der Verleumdung preisgegeben. (JGB – 122)

Im Vorfeld dieses Zitats wird diskutiert, inwiefern in einer Gesellschaft, in der die »Werthurtheile[] der Heerden-Nützlichkeit« prädominieren, wahre Nächstenliebe möglich ist. Man kann diese Diskussion als ein Wideraufgreifen der in Seinen Dämon nicht in den Nächsten fahren lassen! begreifen, insofern hier die Flucht vor dem eignen Selbst genealogisch zugeordnet wird. Befindet sich ein Gemeinwesen also auf noch unsicheren und ungefestigten Stufen, in denen jederzeit mit kriegerischen Übergriffen eroberungswütiger Herren gerechnet werden muss, wird innerhalb eines Gemeinwesens aggressives Potential, also die bösen, tierischen, kaltblütigen, brutalen Triebe, in bestimmten Menschen benötigt und also kultiviert. Auch dieser Typus Mensch wird innerhalb dieser Gesellschaftsform ob seiner schweren Abschätzbarkeit und Willkürlichkeit seiner Charakterzüge gefürchtet, wird von den schwächeren Naturen mehr als notwendiges Mittel zum Zweck, der Sicherung des Ganzen, ehrfürchtig und instinktiv geduldet als an und für sich geschätzt: Die Nächstenfurcht, so bemerkt Nietzsche, ist in jenen fragilen Zuständen ein ursprünglicheres anthropologisches Faktum als die Nächstenliebe (vgl. JGB – 121 ff.). Haben sich in Nachbarschaft stehende Gemeinwesen befriedet, einen gewissen wirtschaftlichen und kulturellen Luxus generiert und ihre Siedlungsform ausreichend gesichert, gewinnt, wie zitiert, die aggressive Herrscherund Beschützerkaste eine andere Bedeutung. Aggressive Ausfälle und willkürliche Ausbrüche gegen die Gemeinschaft werden immer weniger hingenommen, da sie als solche keine tiefere Bedeutung für das Gesellschaftsganze mehr haben. Der Frieden des Gemeinwohls muss gesichert werden, wodurch die ohnehin insgesamt friedfertige Masse beginnt, alles sich als besonders und selbstherrlich Gebärdende als verdächtig und gefährlich einzustufen. Der Umwertungsprozess ist eingeleitet: Jetzt kommen die gegensätzlichen Triebe und Neigungen zu moralischen Ehren; der Heerden-Instinkt zieht, Schritt für Schritt, seine Folgerung. Wie viel oder wie wenig Gemein-Gefährliches, der Gleichheit Gefährliches

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in einer Meinung, in einem Zustand und Affekte, in einem Willen, in einer Begabung liegt, das ist jetzt die moralische Perspektive: Die Furcht ist auch hier wieder die Mutter der Moral. (JGB – 122)

Als Ideal setzt sich durch das Gemeine, das Allgemeine an der Gemeinschaft zu ehren und zu behüten. Alles Alleinstehende, das sich von der Moral der Masse, den Vielen und Friedfertigen abhebt, wird als »böse« eingestuft, weil es das Selbstbewusstsein des Kollektivs schwerwiegend verunsichert und schädigt. An den höchsten und stärksten Trieben, wenn sie, leidenschaftlich ausbrechend, den Einzelnen weit über den Durchschnitt und die Niederung des Heerdengewissens hinaus und hinauf treiben, geht das Selbstgefühl der Gemeinde zu Grunde, ihr Glaube an sich, ihr Rückgrat gleichsam, zerbricht: folglich wird man gerade diese Triebe am besten brandmarken und verleumden. Die hohe unabhängige Geistigkeit, der Wille zum Alleinstehn, die grosse Vernunft schon werden als Gefahr empfunden; Alles, was den Einzelnen über die Heerde hinaushebt und dem Nächsten Furcht macht, heisst von nun an b ö s e […]. (JGB – 122 f.) 43

Die Person kommt nun entsprechend zu Ehren, die sich gleichsam alles Individuellen an sich schämt bzw. es noch gar nicht kennt und deren Selbstbewusstsein sich dadurch nährt, dem Bedürfnisbiotop des »M i t t e l m a a s s [ e s ] « eine weitere, stärkende Faser zu sein. Die vornehme Tugend also, die Herrenmoral, die Selbstempfindung der sich selbst als ›die Besten‹ bezeichnenden, welche ursprüngliche Befindlichkeit in der Ausgangspassage dieser Analysen mit der Haltung des Pathos der Distanz (vgl. JGB – 205) umschrieben wird – das alles heißt von nun an »gefährlich« und »böse«. Dagegen wurde notwendig wiederum das, was der vornehmen Moral verächtlich und schlecht hieß, wie etwa »der Feige, der Ängstliche, der Kleinliche, der an die enge Nützlichkeit Denkende; ebenso der Misstrauische mit seinem unfreien Blicke, der Sich-Erniedrigende, die Hunde-Art von Mensch, welche sich misshandeln lässt, der bettelnde Schmeichler, vor Allem der Lüg-

43 Es ist beachtenswert, dass Nietzsche in seiner moralkritischen Phase nach Zarathustra Ergebnisse seiner Ausnahmetheorie politisch münzt und damit plakativ und eindimensional erscheinen lässt. Es wäre eine wichtige und spannende Aufgabe, Distinktionen, so wie sie sich etwa in ausnahmetheoretischen Aphorismen wie Edel und Gemein (FW – 374 ff.) finden, mit den bekannten moralkritischen Unterscheidungen »Sklaven- und Herrenmoral« abzugleichen und zu verbinden, um Nietzsches exoterische Philosophie anschlussfähig zu machen.

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ner« (JGB – 209), von den Vielen immer mehr als Inbegriff der Tugend, als Selbstlosigkeit, Demut, Nächstenliebe, Treue etc. ausgelegt. Mittlerweile ist die Stimmung vorbereitet, in welcher man das klanglos gewordene Konzept »Herdenmoral« im Sinne Nietzsches verstehen kann.

III.1.2.2 Vom Wissen der Herdenmoral (JGB) Nietzsche leitet den Abschnitt 202 aus Fünftes Hauptstück: zur Naturgeschichte der Moral rhetorisch aufwendig ein, betonend, dass das Heute für seine und seiner Leserschaft Wahrheiten kein gutwilliges, offenes Ohr habe. Neben der empörenden Tatsache, dass Nietzsche den Menschen als Tier unter Tieren begreift, wähnt er, wird es ihm und seinesgleichen »als S c h u l d […] angerechnet werden, dass wir gerade in Bezug auf die Menschen der ›modernen Ideen‹ beständig die Ausdrücke ›Heerde‹, ›Heerden-Instinkte‹ und dergleichen gebrauchen«. (JGB – 124) Nietzsche betont, dass er in dieser Sache insistieren müsse, insofern gerade hier »unsre neue Einsicht« (JGB – 124) läge. Diese neue Einsicht wird wiederum nicht positiv benannt, liegt vielmehr in einer Art Subsumption vermeintlich unterschiedener Tendenzen in Gesellschaft, Politik, Wissenschaft und Kultur auf eine gemeinsame Basis, diese neue Einsicht bedeutet die Rückführung gesamteuropäischen Selbst- und Weltverhältnisses auf einen Begriff – die Nichtunterschiedenheit darin, aus dem seinerseits wertschöpferischen Paradigma der Herdenmoral das menschliche Leben auszulegen. 44 Wir fanden, dass in allen moralischen Haupturtheilen Europa einmüthig geworden ist […]: man w e i s s ersichtlich in Europa, was Sokrates nicht zu wissen meinte, und was jene alte berühmte Schlange einst zu lehren Und es ist schön zu sehen, dass dieses »Uns«, das die neue Einsicht gegen die Jetztzeit trägt, keine reine Fiktion ist. Denn auch Frater Taciturnus aus Stadien bricht zuletzt die Analysen seines Ausnahmetheorems sokratisch und lässt sie motiviert sein wie Nietzsches Kritik des Subjekts des Wissen vom Guten und Bösen: »Eben was die Gebildeten in unsrer Zeit sagen, nämlich, daß jedermann weiß, was das Höchste ist, beschäftigt mich so sehr. Dies ist nicht der Fall gewesen im Heidentum, nicht im Judentum, nicht in den ersten siebtzehn Jahrhunderten des Christentums. Heil dem neunzehnten Jahrhundert! Jedermann weiß es. Welch ein Fortschritt gegen jene Zeiten, da nur wenige es wußten! Sollte das Gleichgewicht am Ende heischen, daß man annähme, zum Entgelt gebe es schlechterdings keinen, der danach tue?« (SL – 502)

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verhiess, – man ›weiss‹ heute, was Gut und Böse ist. Nun muss es hart klingen und schlecht zu Ohren gehen, wenn wir immer von Neuem darauf bestehn: was hier zu wissen glaubt, was hier mit seinem Loben und Tadeln sich selbst verherrlicht, sich selbst gut heisst, ist der Instinkt des Heerdenthiers Mensch: als welcher zum Durchbruch, zum Übergewicht, zur Vorherrschaft über andere Instinkte gekommen ist und immer mehr kommt, gemäss der wachsenden physiologischen Annäherung und Anähnlichung, deren Symptom er ist. (JGB – 124) 45

Mit dem Verweis auf Sokrates als den Begründer der abendländischen Philosophie in Sachen Ethik, der zuletzt doch nur wusste, dass er nichts weiß, und dem Sündenfallmythos bezieht Nietzsche für sein moralkritisches Anliegen Rückhalt bei Autoritäten, die ein vorschnelles Wissen um Gut und Böse verunsichern können. Nietzsches Moralkritik fragt hier nach den Bedingungen der Möglichkeit des moralischen Wollens seiner Epoche und denkt die vermeintlich unterschiedenen Lebens- und Interessenäußerungen als einer gemeinsamen Wurzel entsprungen. Der Mensch als von seinem Wesen vollkommen entfremdete Existenz ist das Subjekt des Wissens, das die Herdenmoral schöpferisch sein lässt. Es ist Nietzsche in dieser Schrift sehr wichtig, mit suggestiver Kraft die Äußerungen seiner Lebenswelt, die »modernen Ideen«, über einen Kamm zu scheren. Es ist die hier vertretene These, dass Nietzsche mit diesem entworfenen Szenario das versucht, was in der letzten Abhandlung von Zur Genealogie der Moral, was bedeuten asketische Ideale noch eindrücklicher gelingt und dort auf den Nenner gebracht wird in der Unterscheidung des Dass vom Was, indem er seine These und den dahinterliegenden Umwertungswillen durch (Pseudo-)Essentialisierungen (der an sich kranke Wille zum Leben, der sich in den Idealen der Priester zum feierlichen Selbstverzehr freigibt etc.) stützt – beide Texte erfüllen dieselbe Funktion. Wichtig ist zu sehen, dass Nietzsche ›nur‹ den Boden planiert, um s e i n e Ideen die modernen verdrängen zu lassen. »Moral ist heute in Europa Heerdenthier-Moral: – also nur, wie wir die Dinge verstehn, Eine Art von menschlicher Moral, neben der, vor der, nach der viele andere, vor Allem h ö h e r e Moralen möglich sind oder sein sollten.« (JGB – 124) Gegen eine solche ›Möglichkeit‹, gegen ein solches ›Sollte‹ wehrt sich aber diese Moral mit allen Kräften: sie sagt hartnäckig und unerbittlich ›ich bin Diese Beschreibungen stehen wiederum in sachlich nächster Nähe zu Ob wir moralischer geworden sind.

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die Moral selbst, und Nichts ausserdem ist Moral!‹ – ja mit Hülfe einer Religion, welche den sublimsten Heerdenthier-Begierden zu Willen war und schmeichelte, ist es dahin gekommen, dass wir selbst in den politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen einen immer sichtbareren Ausdruck dieser Moral finden: die d e m o k r a t i s c h e Bewegung macht die Erbschaft der christlichen. (JGB – 124 f.)

Im fortlaufenden Text wiederholt Nietzsche, worin und wie das moralische Urteil Europas überall »Eins« ist. Es sei »Eins« in der Religion des Mitleidens, im Mitgefühl, soweit nur gefühlt, gelebt, gelitten wird (bis hinab zum Thier, bis hinauf zu ›Gott‹ : – die Ausschweifung eines ›Mitleidens mit Gott‹ gehört in ein demokratisches Zeitalter –); Eins allesamt im Schrei und der Ungeduld des Mitleids, im Todhass gegen das Leiden überhaupt, in der fast weiblichen Unfähigkeit, Zuschauer dabei bleiben zu können, leiden l a s s e n zu können; Eins in der unfreiwilligen Verdüsterung und Verzärtlichung, unter deren Bann Europa von einem neuen Buddhismus bedroht scheint; Eins im Glauben an die Moral des g e m e i n s a m e n Mitleidens, wie als ob sie die Moral an sich sei, als die Höhe, die erreichte Höhe des Menschen, die alleinige Hoffnung der Zukunft, das Trostmittel der Gegenwärtigen, die grosse Ablösung aller Schuld von Ehedem: – Eins allesammt im Glauben an die Gemeinschaft als die E r l ö s e r i n , an die Heerde also, an ›sich‹ … (JGB – 125 f.)

Das forcierte Wettern Nietzsches gegen das Mitleiden als Ausdruck der Herdentier-Moral par excellence zeigt eindeutig an, wer Nietzsches Blick in die Naturgeschichte der Moral normiert und mit wem sich Nietzsche hier e i g e n t l i c h auseinandersetzt – nach wie vor Arthur Schopenhauer. 46 Hier erst kann durch die hergeleitete theoretische Brisanz vertieft verstanden werden, wie Nietzsche seine Formel des Pathos der Distanz als Gegen-Begriff zu Schopenhauers Mitleidsphilosophie ins Feld führt. Dies gelingt, indem gezeigt wird, wie Nietzsche durch eine gegen seinen Erzieher formulierte Kritik des Begriffs »Wille« zugleich das theoretische Fundament liefert für Es wurde oben bereits erwogen, dass Nietzsches Argumentationsstruktur der Psychologisierung der Bedeutung asketischer Ideale für den Philosophen, die er an seinem Erzieher durchexerziert, nicht von ungefähr der Argumentationsstruktur analog ist, die Nietzsche entwirft, wo er den Selbstwiderspruch Leben gegen Leben physiologisch ausdeutet und die Bedeutung des asketischen Ideals darin sieht, dass ein an sich ›krankes Leben‹ darin seinen Schutz- und Heilinstinkt hat, durch den es mit sich selbst sparsamer haushalten kann (vgl. GM – 365 ff.). Diese Argumentation mutet dem Leser wie hervorgehoben einen qualitativen Sprung zu, der zwischen der psychologisch-deskriptiven und der physiologisch-ontologischen Ebene zu verorten ist.

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die Dynamisierung des Pathos der Distanz innerhalb des modernen Einzelleibes. 47

III.1.2.3 Der Leib als Gesellschaftsbau: Über die Grenzen des Begriffs »Wille« hinaus (JGB) In Erstes Hauptstück seines Vorspiels einer Philosophie der Zukunft richtet sich Nietzsches Angriff gegen (klassische) Vorurteile von Philosophen. Richtet man aus großer Distanz den Blick auf das Abschnittsganze, erkennt man sofort, dass Nietzsche an den bisherigen Philosophen insgesamt das ›Pöbelhafte‹ kritisiert 48 in Hinsicht auf ihr naives und dogmatisches Nachdenken über Gut und Böse. Philosophen vor Nietzsche konnten ihren Erkenntniswillen nicht in den Rücken der moralischen Vorurteile drehen, haben vielmehr auf dem tradierten Fundament der Moral als dem blinden Fleck ihrer Denkanliegen gebaut, das sie von der Überlieferung kannten (vgl. etwa JGB – 37). Eines dieser Vorurteile ist der durch das Christentum dogmatisierte atomistische Seelenbegriff, der »Seele« versteht als etwas »Unvertilgbares, Ewiges, Untheilbares, als eine Monade, als ein Atomon«. (JGB – 27) Gleichzeitig legt Nietzsche offen, dass es ihm fern läge, auf eine der ältesten und ehrwürdigsten Hypothesen namens »Seele« Verzicht zu leisten, da ohne sie eine weitere Bestimmung des Menschen zu Erhabenheit und Größe vernichtet würde, wie indirekt aus seiner Polemik gegen einen plumpen Naturalismus hervorgeht, der, kaum dass er an die »Seele« rührt, sie auch verliert (vgl. JGB – 27). Da Nietzsche allerdings die Weltauslegung materialistischer Atomistik für widerlegt hält, steht »der Weg zu neuen Fassungen und Verfeinerungen der Seelen-Hypothese« offen, wobei er Formeln wie »sterbliche Seele«, »Seele als Subjekts-Vielheit« und »Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte« »Bürgerrecht« in der Wissenschaft verschaffen will (JGB – 27). Im Abschnitt 19 desselben Kapitels integriert Nietzsche diese Forderung in die Kritik des Es ist im Vorfeld der anstehenden Analysen daran zu erinnern, dass Nietzsche in Moralisches Interregnum die moderne Individual-Existenz als einen Versuchsstaat dachte. Im Folgenden bekommt das Innen dieser Experimentanordnung, die wir sind, theoretische Kontur. 48 Dementgegen wird in Zweites Hauptstück: der freie Geist von Nietzsche durchgehend betont, dass zu seinem Begriff »freier Geist« und »Philosoph der Zukunft« unbedingt ein inkorporiertes Maß an spezifischer »Einsamkeit« gehört. 47

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schopenhauerischen Willensbegriffs und unterfüttert sie damit substantiell. In analoger Einfalt, wie Nietzsches Jetztzeit um Gut und Böse ›weiß‹, welches Wissen sich ätherisch im »l’impressionisme morale« als Ausdruck der Mitleidsreligion jeder weiteren Begründung enthoben glaubt, weiß Schopenhauer um die Sache des »Wollens« bescheid. »Die Philosophen pflegen vom Willen zu reden, wie als ob er die bekannteste Sache von der Welt sei; ja Schopenhauer gab zu verstehen, der Wille allein sei uns eigentlich bekannt, ganz und gar bekannt, ohne Abzug und Zuthat bekannt.« (JGB – 31) Nietzsche unterstellt, dass Schopenhauers Begriff des »Willens« im Grunde die theoretische Übernahme und Übertreibung eines »Vo l k s - Vo ru r t h e i l [ s ] « (JGB – 32) sei, weswegen er sich anschickt, die Sache auf eigene Faust in einer Phänomenologie des Wollens zu zergliedern, um Raum für andere Auslegungen zu schaffen und die Möglichkeiten begrifflicher Arbeit in ihre Schranken zu weisen. Mit der Behauptung, »Wollen« sei etwas Komplexes und nur als Wort eine Einheit (vgl. JGB – 32), unterstellt Nietzsche, dass semantisch Nicht-Identisches von der Sache des Wollens gewöhnlich abgeschnitten werde durch den philosophischen Hang, durch Abstraktion zu begreifen, zu theoretisieren und schließlich ins System aufzuheben, 49 und beginnt, »Wollen« aufzudröseln, um der Sache gerechter zu werden. Insgesamt konstatiert Nietzsche in seiner Phänomenologie des »Wollens« drei begrifflich zu trennende Momente: den Aspekt des Fühlens, den Aspekt des Denkens und schließlich den Aspekt des Affektes. Der erste Aspekt als ein Bestandteil von »Wollen« ist in sich mehrschichtig: er ist psychisch zu denken als eine Bewegung von einem Zustand weg zu einem anderen hin, welche pathisch-dialektische Struktur eine eigene Gefühlsqualität bezeichnet, und ist physisch gegeben als Bereitschaft der Muskelpartien zur Aktion. Neben der Tatsache, dass unter den Begriff des »Wollens« ein Konglomerat von unterschiedenen Gefühlen subsumiert werden muss, sieht Nietzsche als zweite notwendige Bedingung zur Klärung von »Wollen« das Denken. Jedem Willensakt ist ein kommandierender Gedanke immaDieser Aspekt wird bereits in Eine Erbsünde der Philosophen stark gemacht. Die Erbsünde besteht darin, als Andeutungen und als Notbehelf konstruierte »Sätze der Menschenprüfer (Moralisten)« (MA II – 382) ihres vorläufigen Charakters zu berauben und durch Systematisierung den inkommensurablen, allerdings bedeutenden Rest abzuschlagen; dem exemplarischen Denker erscheint der Systemdenker so gesehen als ein Prokrustes.

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nent, der essentieller Bestandteil des Wollens ist. Als dritten Aspekt hebt Nietzsche den Affekt des Befehls hervor, der nach sich zieht, dass die Gesamtheit des leiblichen Triebhaushaltes sich auf die Erreichung eines Ziels hin organisiert. Die Wirklichkeit jenes Zustandes, dessen Intentionalität man als »Freiheit des Willens« interpretiert, hat hier ihren Ausgangspunkt. »Das, was ›Freiheit des Willens‹ genannt wird, ist wesentlich der Überlegenheits-Affekt in Hinsicht auf Den, der gehorchen muss: ›ich bin frei, ›er‹ muss gehorchen‹ – dies Bewusstsein steckt in jedem Willen […]«. (JGB – 32) Der Empfindung also, die durch das Wort »Willensfreiheit« bezeichnet wird, liegt eine Entzweiung des eigenen Wesens zu Grunde. Ein gewisser Anteil am Leib, sich im Wort »ich« als Schalt- und Befehlszentrale über den ganzen Leib erhebend, unterstellt einem vermeintlich von sich unterschiedenen »Stoff« einen Befehl, auf den hin mit Bestimmtheit agiert wird. »Ein Mensch, der w i l l –, befiehlt einem Etwas in sich, das gehorcht oder von dem er glaubt, dass es gehorcht.« (JGB – 32) »Wollen« setzt sich also aus einem Komplex von Fühlen, Denken und dem Affekt des Kommandos zusammen. Ein wollender Mensch, so kann Nietzsche aus dem Analysierten deduzieren, ist zugleich Befehlender und Gehorchender, wobei sich mit diesem Sachverhalt das »Wunderlichste am Willen« auftut, »an diesem so vielfachen Dinge, für welches das Volk nur Ein Wort hat«: insofern wir im gegebenen Falle zugleich die Befehlenden und Gehorchenden sind, u n d als Gehorchende die Gefühle des Zwingens, Drängens, Drückens, Widerstehens, Bewegens kennen, welche sofort nach dem Akte des Willens zu beginnen pflegen; insofern wir andererseits die Gewohnheit haben, uns über diese Zweiheit vermöge des synthetischen Begriffs ›ich‹ hinwegzusetzen, hinwegzutäuschen, hat sich an das Wollen noch eine ganze Kette von irrthümlichen Schlüssen und folglich von falschen Werthschätzungen des Willens selbst angehängt, – dergestalt, dass der Wollende mit gutem Glauben glaubt, Wollen g e n ü g e zur Aktion. (JGB – 32 f.)

Nietzsche konstatiert also, dass das, was das Volk wie die Philosophen gemeinhin als »Wollen« bezeichnet haben, ver-messen ist. Die Selbstbezeichnung des Wollenden mit dem Wort »Ich« als dem Täter der Tat wird hier als ›phänomenaler‹ Selbstbetrug ausgelegt, insofern es die essentielle Dualität des Phänomens »Wollen« unterschlägt und die psychologische Selbsttäuschung einer Freiheit des Willens zulässt. Es geht aus dem Zitat hervor, dass Nietzsche die Bedeutung von »Wollen«, so wie sie in alltagssprachlichen Äußerungen der 358

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Form »Ich will …« sich manifestiert, erheblich einschränken zu wollen scheint, insofern das, was tatsächlich mit diesem Wort bezeichnet wird, nicht in seiner herkömmlichen Bedeutung aufgeht. Damit es wirklich zu einer Tat, zu einer Aktion, zu einem Willensvollzug kommt, bedarf es mehr als nur zu wollen – um es paradox zu sagen. Aus dem fortlaufenden Text geht hervor, dass der Mensch sich deswegen über sein faktisch wollendes Existieren täuschen konnte, da in der Tat fast immer nur da gewollt wurde, wo der befehlende Anteil innerhalb des Willensaktes sich seines Erfolges, der auf ihn folgenden Aktion aufgrund von unbedingtem Gehorsam, sicher sein konnte. Weil in den allermeisten Fällen nur gewollt worden ist, wo auch die Wirkung des Befehls, also der Gehorsam, also die Aktion e r w a r t e t werden durfte, so hat sich der A n s c h e i n in das Gefühl übersetzt, als ob es da eine N o t h w e n d i g k e i t v o n W i r k u n g gäbe; genug […]. (JGB – 33)

Dieses Zitat, das hintergründig und unvermittelt mit einer genealogischen Perspektive aufwartet, zeigt schön, an welcher Stelle das Selbstmissverständnis, das sich im Glauben an eine Freiheit des Willens ausdrückt, begründet liegt. Das menschliche Bewusstsein hat sich durch seine naturgemäße Innenschau – die konstatierte, dem Befehl korrespondiert ein Gehorchen –, induktiv verkalkuliert, wobei sich diese Selbstbeobachtung zu einer unmittelbaren Selbstempfindung sedimentierte: Der Anschein übersetzte sich in Notwendigkeit – voilà die »Freiheit des Willens«. 50 Der psychologische Anschein der Einheit von Befehl und Gehorsam generierte das unhinterfragbare Gefühl der Notwendigkeit der Wirkung, womit die menschliche Vernunft eine Täuschung in Hinsicht auf das Phänomen des »Wollens« inkorporierte, zu der die für eine Moralphilosophie konstitutive Freiheit des Willens gehört. Nietzsche unterbricht wie gesehen den Gedankengang, in welchem er das dem »Wollen« Verschlossene, das jede Aktion mitbedingt, andeutet, mit einem »genug, […]« (JGB – 33) – 51 und fährt fort, den Vgl. für eine kritische Darstellung der Rettung eines moralischen Freiheitsbegriffs bei Schopenhauer ausgehend von Kant Fleischer (2003), S. 37–46. 51 Hier kann an den Aphorismus Die idealische Selbstsucht aus Morgenröte erinnert werden, der das Andere, ›Übermoralische‹ des Wollens eindringlich meditiert. Sachlich hängt die darin aufgehobene Feier des Werdens als des ›göttlichen‹ Prinzips des Lebens selbst zusammen mit einem Aphorismus, in dem Nietzsche die »tiefe Schweigsamkeit der Schwangerschaft« (M – S. 156) jungen Menschen indirekt nahelegt, denen als in den Zeitgeist Versunkenen »jede ächte Productivität« abhandenkommen müsse: er heißt Einsamkeit lernen (M – 156 f.). »Einsamkeit lernen« im 50

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Willen innerhalb seines Selbstmissverständnisses auszudeuten: »[D] er Wollende glaubt, mit einem ziemlichen Grad von Sicherheit, dass Wille und Aktion irgendwie Eins seien –, er rechnet das Gelingen, die Ausführung des Wollens noch dem Willen selbst zu und geniesst dabei einen Zuwachs jenes Machtgefühls, welches alles Gelingen mit sich bringt.« (JGB – 33) Nietzsche – das gilt es festzuhalten – denkt eine Strukturgleichheit des Einzelleibes mit dem Gesellschaftsganzen und formuliert eine Art Gegenkonzept zur Soziologie seiner Zeit, die auf der Ebene reiner Deskription (des etwa über Statistiken generierten Bildes eines Gesellschaftsdurchschnitts) verharrt, während Nietzsche mit seinem Werk formgebend in das Gesellschaftsganze eingreifen will. 52 Es ist Nietzsche wichtig, das Phänomen des »Wollens« innerhalb seiner realpolitischen und gesellschaftlichen Bedeutung als ein moralisches Phänomen auszuweisen. Es scheint wiederum nicht unbedeutend, dass Nietzsche diesen Begriff des »Wollens« mit »Lustgefühlen« assoziiert, so, als würde er einen Anteil, der eben in diesem moralischen Wollen nicht aufgeht, von erotischen Konnotationen reinhalten wollen. 53 Und in diesem Kontext wäre Nietzsches Formel des Pathos der Verbund mit »ächter Productivität« und »tiefer Schweigsamkeit der Schwangerschaft« kann wiederum als eine Modulation jener »productiven Einzigkeit« ausgelegt werden. 52 Vgl. hierzu wiederum Sommer (2013a), S. 507 f., der auf die entsprechenden Nachlassstellen verweist, in denen Nietzsche anstelle von Soziologie nach einer Theorie der Herrschaftsgebilde verlangt. So gesehen ist der hier besprochene Text eine Theorie der Herrschaftsgebilde, wobei das in Nietzsches Werk angelegte »Pathos der Distanz« die Methode ist, mit der Nietzsche aktiv »Herrschaftsgebilde« strukturiert. In diesem Sinne wäre die hier durch das Ausnahmetheorem unterfütterte »Gesellschafts- und Einsamkeitslehre« ein alternativer, sich in die Tat umsetzender Ausdruck für »Theorie der Herrschaftsgebilde«. 53 So gesehen kann folgender Passus als eine Auseinandersetzung mit Schopenhauer gelesen werden: »Der höchste Instinkt der Reinlichkeit stellt den mit ihm Behafteten in die wunderlichste und gefährlichste Vereinsamung, als einen Heiligen: denn eben das ist Heiligkeit – die höchste Vergeistigung des genannten Instinktes. Irgend ein Mitwissen um eine unbeschreibliche Fülle im Glück des Bades, irgend eine Brunst und Durstigkeit, welche die Seele beständig aus der Nacht in den Morgen und aus dem Trüben, der ›Trübsal‹, in’s Helle, Glänzende, Tiefe, Feine treibt –: eben so sehr als ein solcher Hang a u s z e i c h n e t – es ist ein vornehmer Hang –, t r e n n t er auch. – Das Mitleiden des Heiligen ist das Mitleiden mit dem S c h m u t z des Menschlichen, Allzumenschlichen. Und es giebt Grade und Höhen, wo das Mitleiden selbst von ihm als Verunreinigung, als Schmutz gefühlt wird …« (JGB – 226 f.) Das Mitleiden hebt hier als unmittelbare sinnliche Verbundenheit mit dem Menschen überhaupt an; formal betrachtet also als ein inklusiver Begriff. Gleichzeitig besteht in einem zweiten

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Nietzsches anti-soziologische Vermittlung des eigenen Anspruchs

Distanz wiederum gegen Schopenhauers moralphilosophische Mitleidskonzeption zu lesen, an der – obschon eben das Nietzsches vormaliger Erzieher verkennt – nie die Zweideutigkeit seiner sinnlichen Anteile ausgemerzt werden kann, wogegen das Pathos der Distanz andockt in einer gleichermaßen ursprünglichen Sphäre des Selbstseins, die sich allerdings nicht als »moralisch« ausweisen lässt. ›Freiheit des Willens‹ – das ist das Wort für jenen vielfachen Lust-Zustand des Wollenden, der befiehlt und sich zugleich mit dem Ausführenden als Eins setzt, – der als solcher den Triumph über Widerstände mit geniesst, aber bei sich urtheilt, sein Wille selbst sei es, der eigentlich die Widerstände überwinde. (JGB – 323)

Das folgende Zitat bindet nun den wollenden Einzelleib rück an die Metapher der Gesellschaft, die er notwendig repräsentiert. »Der Wollende nimmt dergestalt die Lustgefühle der ausführenden, erfolgreichen Werkzeuge, der dienstbaren ›Unterwillen‹ oder Unter-Seelen – unser Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen – zu seinem Lustgefühle als Befehlender hinzu.« (JGB – 33) Nietzsche setzt, die oben dargestellten Neuformulierungen der Seelen-Hypothesen aufgreifend und auf den Leib übertragend, diesen als einen »Gesellschaftsbau vieler Seelen«, was an dieser Stelle übersetzt werden kann in den Gedanken, dass der menschliche Leib innerhalb seiner politischen Bedeutung ein Gefüge von relationalen, in sich hierarchisierten Kräften ist, deren Funktionieren durch das Prinzip Befehlen und Gehorchen gewährleistet wird. Bei allem Wollen handelt es sich schlechterdings um Befehlen und Gehorchen, auf der Grundlage, wie gesagt, eines Gesellschaftsbaus vieler ›Seelen‹ : weshalb ein Philosoph sich das Recht nehmen sollte, Wollen an sich schon unter den Gesichtskreis der Moral zu fassen: Moral nämlich als Lehre von den Herrschafts-Verhältnissen verstanden, unter denen das Phänomen ›Leben‹ entsteht. – (JGB – 33 f.) 54

Schritt für den von Nietzsche gewürdigten »Heiligen«, den er womöglich selbst bedeuten wollte und der in jedem Fall eindeutig auf Zarathustras Lebensweg verweist, die Möglichkeit, sich von seiner sinnlichen Angebundenheit an den »Menschen« teleologisch zu suspendieren für Momente, in denen man mit Ewigkeiten rechnen kann. 54 An der Dunkelheit dieses Satzes scheitert der Versuch einer immanenten Sinngebung. – Die Schrift Jenseits von Gut und Böse soll wohl vor allem die »Philosophen der Zukunft« ansprechen und erziehen, wobei Nietzsche ihnen mit den zuletzt vollzogenen Analysen ein aus ontologischen und soziologischen Einsichten synthetisiertes Werkzeug an die Hand zu geben wollen scheint, anhand dessen jene »Philosophen Modulationen der Einsamkeit

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Einzel-Leib und Gesellschaft stehen miteinander in Wechselwirkung. Genauso, wie der Trieb- bzw. Seelenhaushalt des Einzelnen Spiegel der Sozialstruktur der Gesellschaft ist, durch welche er sozialisiert wurde, genauso wird die Gesellschaft gebildet durch eine Struktur, die innerleiblichen, physiologischen Ursprungs ist. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass der nicht weiter diskutierte, in Nietzsches Argumentation herausgeschälte ›Rest‹ des Wollens der begriffs-utopische ›Ort‹ ist, von dem Veränderungen zum Guten in die Gesellschaft eingehen. 55 An dieser Stelle kann das Hergeleitete angebunden werden an die Bedeutung des mitleidskritischen Pathos der Distanz. Die letzte Abhandlungssequenz in Jenseits, das neunte Hauptstück, dem die Frage zugeordnet ist »was ist vornehm?«, wird folgendermaßen eingeleitet: Jede Erhöhung des Typus ›Mensch‹ war bisher das Werk einer aristokratischen Gesellschaft – und so wird es immer wieder sein: als einer Gesellschaft, welche an eine lange Leiter der Rangordnung und Werthverschiedenheit von Mensch und Mensch glaubt und Sklaverei in irgend einem der Zukunft« das Andere ihrer selbst, die funktionierende Gesellschaft als ihre Bedingung, abschätzen und gegebenenfalls eingreifend umstrukturieren können. 55 Bereits im Buch Der Wanderer und sein Schatten formuliert Nietzsche Sätze mit analoger Stoßrichtung: »[D]ie Gesellschaft [ist] Ein (moralischer) Körper […], sodass du an d i r die Cur vornehmen kannst, die den Anderen nützen soll«. (MA II – 666) In diesen Worten findet sich auch der Grund, warum Nietzsche von »große[n] Ereignisse [n]« (Z – 167 ff.), i. e. Revolutionen, wenig hält. Wenn die »Revolution« nicht im Einzelnen in der Einsamkeit an sich selbst vollzogen wird, hat das ganze Umwerfen äußerer Verhältnisse keinen, bzw. nur partiellen fruchtbaren Wert, weil auf dem neuen Boden nur wieder dasselbe, an sich selbst kranke Menschenwesen seine Wurzeln in die Tiefe graben müsste. »›Freiheit‹ brüllt ihr Alle am liebsten: aber ich verlernte den Glauben an ›grosse Ereignisse,‹ sobald viel Gebrüll und Rauch um sie herum ist. / Und glaube mir nur, Freund Höllenlärm! Die grössten Ereignisse – das sind nicht unsre lautesten, sondern unsre stillsten Stunden. / Nicht um die Erfinder von neuem Lärme: um die Erfinder von neuen Werthen dreht sich die Welt; u n h ö r b a r dreht sie sich.« (Z – 169) Vgl. zu diesem Sachverhalt bei allem bereits den Aphorismus Ein Wahn in der Lehre vom Umsturz aus Menschliches, Allzumenschliches, in dem von Nietzsche gegen den Faible für den Revolutionsgeist rousseauscher Provenienz, dem der Irrglaube zu Grunde liegt, dass die Gesellschaft und ihre Institutionen bis hinein ins Erziehungswesen Schuld sei an der Verschüttung der ursprünglichen, wundersamen Güte der menschlichen Natur, argumentiert wird (vgl. MA I – 299). Nietzsche weiß wie angedeutet, dass ein gesellschaftlicher Umsturz zwar »eine Kraftquelle in einer mattgewordenen Menschheit sein kann, nimmermehr aber« – und das ist das für Nietzsche Wichtigere (wie noch zu zeigen sein wird) – »ein Ordner, Baumeister, Künstler, Vollender der menschlichen Natur«. (MA I – 299)

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Zusammenfassung

Sinne nöthig hat. Ohne das P a t h o s d e r D i s t a n z , wie es aus dem eingefleischten Unterschied der Stände, aus dem beständigen Ausblick und Herabblick der herrschenden Kaste auf Unterthänige und Werkzeuge und aus ihrer ebenso beständigen Übung im Gehorchen und Befehlen, Nieder- und Fernhalten erwächst, könnte auch jenes andre geheimnissvollere Pathos gar nicht erwachsen, jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltnerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände, kurz eben die Erhöhung des Typus ›Mensch‹, die fortgesetzte ›Selbst-Überwindung des Menschen‹, um eine moralische Formel in einem übermoralischen Sinne zu nehmen. (JGB – 205)

Während die wissenschaftlich sich drapierende Mitleids-Ethik Schopenhauers aus der Perspektive Nietzsches die Entwicklung des Menschen einzementiert, wird hier das zunächst als real-gesellschaftlich behauptete Pathos der Distanz in die Einzelseele des modernen Individuums invertiert, wobei die brüchige Anlage der Argumentation des exemplarischen Denkers der Nährboden ist für jenes geheimnisvollere Pathos, durch das sich der Mensch im nietzscheschen Sinne fortbildet.

III.1.3 Zusammenfassung In den voranstehenden Abschnitten wurde gezeigt, wie Kierkegaard und Nietzsche die Kritik der zeitgenössischen Unternehmungen, auf Mitleid eine Ethik zu begründen, anti-soziologisch vermitteln, wobei bezogen auf das Werkvergleichsmodell dieser Studie zugleich erhellt werden konnte, dass Mitleid im Sinne der Ausnahmetheorie als ein Affekt der Verlassenheit bestimmt werden kann, insofern es ethisch desorientiert. Exemplarisches Denken ist darum bemüht, gegen die zeitgenössische Tendenz, die Sphäre der Ethik zum Gegenstand der Wissenschaft zu machen, zu polarisieren. Dies vor allem deswegen, weil Ethik im Sinne exemplarischen Denkens jede Bedeutung verliert, wenn man sie im Medium objektivierender Betrachtung diskutiert. Kierkegaard pochte vermittelt über Taciturnus, der das Ausnahmetheorem in seine Verlassenheit einpferchte, auf die Tatsache, dass die exemplarisch an Börne durchgespielte Renaissance eines heidnischen Umgangs mit Mitleid die Bedeutung dieses Phänomens systematisch unterbietet, indem es die Lebenswelt ästhetisiert und daModulationen der Einsamkeit

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durch die reale Ungleichheit egoman zementiert. Die mit dem Mitleid verbundene ethische Aufgabe müsste nach Taciturnus aber darin bestehen, sich angesichts des Leids derart in sich selbst zu vertiefen, dass es ein Gottesverhältnis, von dem aus allein dem realen Missstand adäquat, eben religiös begegnet werden kann, frei- bzw. grundgelegt würde. Hinter dieser sachlichen Ebene verbirgt sich das in dieser Studie entwickelte Werkvergleichsmodell, das die Kritik des Mitleids in den Stadien bezogen auf die Werkarchitektur Kierkegaards als Ganze qualitativ zuordnen kann (das Mitleid als Affekt der Verlassenheit, so wollte es die Anlage in Stadien, hat ›Schuld‹ daran, dass Quidam nicht erlöst werden kann). Erst Anti-Climacus, welcher Name die Utopie des »Einzelnen« dichtend verbürgt, setzt durch Einübung und der darin durchgeführten ethischen Moralkritik dem Werkganzen die es vollendende Krone auf – was die folgenden Kapitel erhellen werden. In Analogie zu Taciturnus polemisierte Nietzsche gegen die allgemeine Neurasthenie und Überempfindlichkeit der philosophierenden Zeitgenossen, wobei er in Götzen-Dämmerung gegen den »l’impressionisme morale« das »Pathos der Distanz« hielt, das einen dissonanten Akzent gegen demokratische Grundüberzeugungen setzt. Das auch hier hinterlegte Werkvergleichsmodell erfordert, den philosophisch brisanteren Gehalt dieser Formel freizulegen, der um Also sprach Zarathustra geschichtet ist. Es konnte gezeigt werden, dass in Jenseits gegen ein ›Wissen‹ um Gut und Böse gekämpft wird, wobei der offenbare Bezugspunkt der moralkritischen Auseinandersetzung Schopenhauer war. Auch Nietzsches Destruktion der wissenschaftlichen Formulierung einer auf Mitleid begründeten Ethik öffnete einen Raum, in dem Mitleid eine andere Bedeutung zukam, als sie die an ihrer abstrakten Seele klebende Herdenmoral wahr haben kann. Wie es das Werkvergleichsmodell anzeigt, ist in dem Namen »Zarathustra« die Qualität verbürgt, die dem Mitleid seine positive Bedeutung gibt. Systematisch erfassen lässt sie sich nicht, genauso wenig wie die durch den Gott-Menschen verbürgte Bedeutung in der Dichtung Anti-Climacus’.

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III.2 Ausrichtung der Mitleidskritik an Schopenhauer

Die Erprobung des Werkvergleichsmodells, das Kierkegaards und Nietzsches Werk als ethisch motivierte Moralkritik deutet, als ein performativ sich bewährendes Fragen nach dem gelingenden Leben, kulminiert im Nachvollzug der Mitleidskritik. Der qualitative Unterschied, der Ort, von dem aus die Kritik des Affektes der Verlassenheit ihren positiven Sinn erhält – die ›Liebe über dem Mitleiden‹ – ist in den Utopien des »Einzelnen« und »Einsamen« hinterlegt, auf den Begriff bringen lässt sich deren Leben nicht. Diese anti-begriffliche, teleologisch am Zerfall der Isolation orientierte Methodik exemplarischen Denkens, die über die Modulationen des Ausnahmetheorems nachvollzogen wurde, kann noch einmal veranschaulicht werden durch das Nachzeichnen der Auseinandersetzung Kierkegaards und Nietzsches mit Schopenhauer. Es kann in dieser Studie nicht darum gehen, Schopenhauers Mitleids-Philosophie 1 innerhalb ihrer Prämissen gerecht zu werden, noch darum, die Kritik Kierkegaards und Nietzsches an Schopenhauer zu bewerten. Es geht allein um die erprobende Bewährung des Werkvergleichsmodells. Wenn sowohl Kierkegaard als auch Nietzsche als nachidealistische Denker zwar keinen Begriff eines wie auch immer ausformulierten Absoluten mehr haben, das prinzipiell durch eine wie auch immer sich ausbuchstabierende systematische Wissenschaft begriffen werden kann, so unterlegen sie ihrer Philosophie doch einen Begriff von »Geist«, durch den sich eine inklusive Liebe zu ausnahmslos jedem Menschen ins Wort bringt. Über die historisch-genetische Verwurzelung der Ethik Schopenhauers im Deutschen Idealismus unterrichtet umfassend der Sammelband von Hühn (Hrsg.) (2005). Vgl. zur anstehenden Darstellung der Mitleidsphilosophie Schopenhauers die konzise, vorwiegend kritische Darstellung Hamburgers (1985), S. 10–23. Für eine detaillierte Aufbereitung der Bedeutung des Mitleids innerhalb des Systems Schopenhauers in Abgrenzung zu Nietzsches naturalistischer Perspektive auf die Moral vgl. Kiowsky (1995). Die späte Auseinandersetzung Kierkegaards mit Schopenhauer lotet aus der Band von Cappelørn et al. (Hrsg.) (2012).

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Bevor die drei Ebenen der Kritik an Schopenhauer freigelegt werden, soll immerhin ein knapper Aufriss der schopenhauerischen Mitleids-Ethik gegeben werden. Schopenhauer leitet das seine Ethik enthaltende vierte Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung mit allgemeinen Erwägungen zur Sache der Philosophie überhaupt ein. Meiner Meinung nach […] ist alle Philosophie immer theoretisch, indem es ihr wesentlich ist, sich, was auch immer der nächste Gegenstand der Untersuchung sei, stets rein betrachtend zu verhalten und zu forschen, nicht vorzuschreiben. Hingegen praktisch zu werden, das Handeln zu leiten, den Charakter umzuschaffen sind alte Ansprüche, die sie bei gereifter Einsicht endlich aufgeben sollte. 2

Der moralische Appell an die Philosophen am Ende des Zitats ist im Folgenden im Hinterkopf zu behalten, insofern exemplarisches Denken Schopenhauer zum Vorwurf machen wird, in die vermeintlich wertfreie Darstellung des ethischen Urphänomens wertende Prämissen vorauszusetzen, die Schopenhauers Betrachtungen hinterfragbar erscheinen lassen. Die Ethik Schopenhauers liegt in dessen Metaphysik begründet. In der Welt der Vorstellung ist das einzelne Individuum befangen im Schleier der Maja. Darin bejaht es sich in der dem principium individuationis wesentlichen selbstsüchtigen, egoistischen Struktur. Diese Bejahung des Lebens, die ihren fatalen Ursprung hat in der im Abschnitt II.2.4.2 bereits dargestellten Bedeutung der Geschlechtsliebe im Sinne Schopenhauers, wird in dessen Betrachtungen bewertet als Verrat an der Menschheit, insofern sie dazu beiträgt, eine unendliche Kette sinnlosen Leids zu perpetuieren. Der im Hauptwerk formulierte Mitleidsbegriff ist hier der zentrale Oppositionsbegriff. Er beruht auf der metaphysischen These, dass tierisches und menschliches Leben ›im Grunde‹ eins ist. Dessen grundlegende Bedeutung sieht Schopenhauer exemplarisch zugespitzt in Heiligen, vor allem in brahmanischen Asketen. Birnbacher kann diese Mitleidskonzeption deswegen als »radikal individualistisch« 3 bezeichnen, da die ethische Bedeutung des Mitleidphänomens allein innerhalb des Mitleidenden da ist. Dieses Mitleid animiert den Schopenhauer (1996), S. 375. Vgl. zu dieser nicht positiv gemeinten Einschätzung Birnbacher (2009), S. 116, der aufgrund dieses asozialen Aspekts der metaphysischen Mitleidsauslegung in seiner einführenden Darstellung zu Schopenhauer direkt bei der Besprechung der Preisschrift ansetzt, in der ein ethisch verwertbarer Mitleidsbegriff formuliert wird.

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es Erlebenden zur Resignation, 4 zur Mortifikation seines Willens zum Leben, weil er im emotiven Erfahren der leidenden Kreatur gewissermaßen durch den in der Scheinwelt befangenen Individualwillen hindurchblickt und durch eine Art Identifikation der Lebenswille als ursprünglich, wesentlich Einer aufgedeckt wird. Das Leid des Anderen als Lebendem ist im Grunde das eigene. Nur der in der Welt des Scheins befangene Individualwille kann diese ursprüngliche Identität wegen seines Selbsterhaltungstriebs, dem Willen zum Leben, ignorieren, ohne zu merken, dass er sich dadurch die Zähne in das eigene Fleisch stößt. Innerhalb dieser transzendental-idealistischen Konstruktion, deren An-sich ein sinnloser, ruheloser Wille ist, hat der »Asket« als Ausdruck »gelingenden Lebens« paradigmatische Funktion. Diesem gelingt es die Lebensbejahung durch Askese zu unterlaufen. Im Idealfall hängt dieses Paradigma gelingenden Lebens nur noch mit wenigen Fäden seines selbstischen Wollens an der Vorstellungswelt und ist in gewissem Sinne schon zu ›Nichts‹ geworden als Inbegriff der Erlösung. In den berühmten letzten Passagen des vierten Buchs markiert Schopenhauer die Grenze des Philosophierens, sie führe nur zum »letzten Grenzstein der positiven [Erkenntnis, R. R.]« 5 und könne die Perspektive der Heiligen, denen die Welt der Vorstellung und damit ihr Wille zum Leben tatsächlich zu nichts wurde, nicht einnehmen. Allerdings könne in der »Betrachtung des Lebens und Wandelns der Heiligen« 6 Trost und Ermutigung gefunden werden, die naturgemäße Furcht vor dem Nichts, die das dem Leben Absterben notwendig begleitet, zu bannen, insofern in ihnen das positive Ergebnis der Willensmortifikation einnehmend widerscheint. In Über die Grundlage der Moral operiert Schopenhauer mit einem Mitleidsbegriff, dessen ethische Bedeutung anders gelagert ist. Der hier entwickelte Mitleidsbegriff will durch Beobachtung menschlichen Gemeinschaftens die real vollzogenen guten Taten auf ihr entsprechendes Fundament zurückführen: das Mitleid. Hier ist Mitleid die einzige wahre Triebfeder für moralisches Handeln, welche die natürliche Bosheit und den Egoismus des Menschen unterlaufen kann. Und aus diesem Mitleid entspringt ursprünglich Gerechtigkeitssinn Vgl. zum Begriff der »Resignation« in seinen wesentlichen (und von Kierkegaards Konzept des »Ritters der unendlichen Resignation« unterschiedenen) Bedeutungen Hennigfeld (2012). 5 Schopenhauer (1996), S. 557. 6 Ebd., S. 558. 4

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als ein Absehen vom egoistischen Tun und tätige Menschenliebe im Sinne caritativer Hilfeleistungen aller Art. Diese knappe Skizzierung der Mitleidsethik Schopenhauers, die allein gegeben wurde, um die Mitleidskritik Kierkegaards und Nietzsches aufzuzäumen, soll für die Zwecke dieser Arbeit hinreichen. Wie angekündigt formuliert sich die Kritik beider Philosophen an der Auffassung von Mitleid bei Schopenhauer als ein komplexes Geflecht, das nun künstlich, analytisch zergliedert wird und auf folgenden Ebenen in den Blick kommen soll: als Kritik ad personam, als psychologische Kritik und als substantiell motivierte Kritik. Diese Unterscheidungen werden gestützt durch das erarbeitete Werkvergleichsmodell, dessen Tragfähigkeit im Abschnitt III.3 weiter bewährt werden wird.

III.2.1 Ad Personam In diesem Abschnitt muss an die Analysen der Abschnitte II.2.4.2/ II.2.4.3 angeknüpft werden, da die Kritik ad personam von der Gegensätzlichkeit von Eros und Agape bei Schopenhauer zehrt. Dabei wird gezeigt, wie diese Kritik durch die Errungenschaften des Ausnahmetheorems getragen wird. Der Vorwurf exemplarischen Denkens bündelt sich in der Beobachtung, dass die vorgetragene Lehre keine Macht über den sie Lehrenden hat, wobei diese Beobachtung zugleich anzeigt, Schopenhauer missverstehe seine eigene Bedeutung. Und dies hat Konsequenzen für diejenigen, die sich in dessen Werk ungeprüft spiegeln. Es wurde oben herausgestellt, dass Schopenhauer innerhalb seines Systems zwei Begriffe von »Liebe« unterscheidet: einen Begriff von »Mitleid« als reiner Liebe, deren konkret-ethischer, lebendiger Ausdruck der Asket ist, und einen Begriff von »Eros«, dessen Essenz auf einen Verrat der leidenden Menschheit hinausläuft. Es wurde betont, dass Kierkegaard und Nietzsche im Gegensatz zu Schopenhauer, der streng genommen keine lebensweltliche Vermittlung von Eros und reiner Liebe denken kann, eine Verzahnung von Sinnlichkeit und Geist denken. In diesem Kontext wurde die Frage nach der Bedeutung asketischer Praktiken aufgeworfen, welche innermoralisch zu klären beide Denker sich weigerten, während Schopenhauer eine Metaphysik der Geschlechtsliebe dachte und also um die Bedeutung von Askese wusste. Neben seinem rein und radikal individualisti368

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schen Mitleidsbegriff würdigt Schopenhauer in seiner Preisschrift wie gesehen einen politisch, innerhalb der Welt als Vorstellung verwertbaren Mitleidsbegriff; Eros hingegen bleibt verworfen. An dieser Stelle schöpfen Kierkegaard und Nietzsche den ersten Verdacht bezogen auf die Valenz der Mitleidstheorie Schopenhauers. Die unartikulierte Frage wäre also: warum ist tätiges Mitleid nicht auch Verrat an der leidenden Menschheit? Es ist ja augenscheinlich, dass das Ergebnis des Mitleids, so wie es in der Hauptschrift ausgewertet wird mit dem Ergebnis der Resignation, mit dem Ergebnis des Mitleids der Preisschrift nicht in Einklang gebracht werden kann, insofern letzteres nicht anders denn als ›lebens-bejahend‹ im doch im Grunde verwerflichen Sinne zu nehmen ist. Wie kann Schopenhauer, so die Frage, die Früchte tätigen Mitleids würdigen, wenn sie doch dazu dienen, die Welt der Vorstellung zu bejahen in einem von Eros schwer unterscheidbaren Maße? 7 Exemplarisches Denken setzt in seiner Kritik ad personam die naturgemäße Motivation zum Mitleiden da voraus, wo sie Schopenhauer n i c h t w a h r h a b e n w i l l . Während Schopenhauer im Menschen überhaupt, vor allem aber in Ausnahme-Menschen wie den Heiligen, einen Anteil reiner Liebe von einem Anteil egoistischen Triebes (Eros) unterscheidet, so sehen Kierkegaard und Nietzsche das Mitleid in der biologischen Natur des Menschen verankert, es ist ursprünglich mit Eros verquickt. Der zweideutige Liebesbegriff Schopenhauers ist also der erste Anstoß, den Kierkegaard und Nietzsche nehmen, insofern aus deren Perspektive unklar bleibt, welche Bedeutung er für den ihn Denkenden hat; die Attribute, die der Eigenname »Schopenhauer« verbürgt, stehen in keinem konsequenten Verhältnis zu dessen Persönlichkeit. Dies wiederum ist bedenklich, wenn Dritte sich über dessen Werk selbstaufklären wollen. Dieser Punkt soll hier unter Berücksichtigung ausnahmetheoretischer Prämissen etwas eingehender besprochen werden. Der im Abschnitt II.2.4.2 bereits aufbereitete Nachlasstext Kierkegaards, Arthur Schopenhauer überschrieben, diskutiert SchopenSo heißt es in Schopenhauer (1996), S. 511 unverbindlich: »[A]lle wahre und reine Liebe ist Mitleid, und jede Liebe, die nicht Mitleid ist, ist Selbstsucht. Selbstsucht ist Eros, Mitleid ist die Agape. Mischungen von beiden finden häufig statt. Sogar die echte Freundschaft ist immer Mischung von Selbstsucht und Mitleid […]«. Die Frage ist: wie appliziert Schopenhauer die formal distinkt unterschiedenen Begriffe auf die realen Korrelate?

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hauer als ein »bedenkliches Zeichen«. Wichtig ist hier vor allem die Infragestellung seines Ethos. »Denn streng genommen ist er nicht, was er selbst meint zu sein und was unbestreitbar äußerst glücksbringend wäre, wenn er es wäre: er ist weder wirklich Pessimist, noch ganz frei davon, selbst ein Sophist zu sein.« 8 Schopenhauer sei, so argumentiert Kierkegaard, deswegen kein echter Pessimist, 9 weil er es nicht in seiner Macht gehabt hat, sein »Glück zu machen« und »Anerkennung zu erlangen – und es dann verworfen hätte«. 10 Offenbar ist Kierkegaard der Aspekt der Freiwilligkeit sehr wichtig. Diesen sieht er paradigmatisch verwirklicht im Leidensweg des Gott-Menschen, dem wahren und einzigen Vorbild. 11 Schopenhauer dagegen sei »gegen seinen Willen gezwungen worden, das Zeitliche und Weltliche in Richtung auf Anerkennung fahren zu lassen. Aber dann ist die Wahl des Pessimismus leicht eine Art Optimismus – das zeitlich klügste, was man tun kann«. 12 Dass die in dieser Aufzeichnung formulierten Bewertungen Kierkegaards in naher Verwandtschaft zur Motivation von Nietzsches Frage was bedeuten asketische Ideale? stehen, wurde bereits herausgearbeitet. Philosophischer Pessimismus ist aufgrund der These, dass der Wille lieber das Nichts wolle, als nicht zu wollen – weil Letzteres ihm unmöglich ist –, eine contradictio in adiecto. Hier kann vertiefend dargestellt werden, inwiefern Kierkegaards Kritik des Missverhältnisses von Schopenhauer zu seinem Wissen (von sich) von den Errungenschaften des Ausnahmetheorems zehrt. Kierkegaard erwägt, ob nicht eben der Befund, dass Schopenhauer der Askese einen Platz im System einräume, bedeute, dass die Zeit der »Askese« vorüber ist. Die Aufhebung der Bedeutung von Askese ins System zeigt an, dass sie für Schopenhauer und damit für den historischen Rahmen, in dem es möglich ist, ihr einen Platz im System einzuräumen, »[…] nicht in einem wahreren Sinne […]« 13 da ist. Schopenhauer mache die Askese lediglich »interessant« – »das Allergefährlichste für eine genusssüchtige Mitwelt, die im Besonderen Schaden davon haben wird, sogar aus – der Askese Cappelørn et al. (Hrsg.) (2012), S. 348. Bei Nietzsche wird die Absage an Schopenhauers Pessimismus formuliert in der dritten Abhandlung von Genealogie (vgl. GM – 349 und dessen Zuordnung im Abschnitt II.2.5.1). 10 Cappelørn et al. 2012 (Hrsg.), S. 348. 11 Vgl. ebd., S. 341 f. 12 Ebd., S. 348. 13 Ebd., S. 348. 8 9

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Genuss herauszudestillieren, nämlich daraus, die Askese charakterlos zu betrachten, ihr [einen] Platz im System anzuweisen.« 14 Der Begriff des »Interessanten« wird bereits in Furcht und Zittern vorgestellt als ein Verhältnis zum Gegenstand, der rein sinnlich-tändelnd ist, ohne sich durch ihn Verbindlichkeiten anzueignen, als ein Konfinium zwischen Ästhetik und Ethik. 15 Schopenhauer gibt also, das ist Kierkegaards Einschätzung, unwillkürlich einer »allergefährlichsten« Tendenz seiner Mitwelt das theoretische Rüstzeug mit – mit Foucault zu reden: stößt philosophisch an und sanktioniert einen seiner Güte nach zweifelhaften Willen zum Wissen –, um den Maßstab des Existierens, die »Pointe des Ethischen«, zu entschärfen. 16 Dabei ist auch die Bezeichnung Schopenhauers als eines »Sophisten« nicht bloß aus der Luft gegriffen, sondern hat theoretischen Rückhalt in der sokratischen Selbstzurücknahme, »Selbstaufhebung« Taciturnus’ als des größten Sophisten gegenüber drei anderen Typen von Sophisten, die je auf ihre Weise verkennen, dass der von ihnen bezogene ethische Standpunkt von genuin religiösen Erfahrungen sanktioniert wird, ohne existentiell die Konsequenzen daraus zu ziehen (vgl. SL – 515–525). In den hier besprochenen späten Aufzeichnungen definiert Kierkegaard das Sophistische im »[…] Abstand zwischen dem, was man versteht und dem, was man ist, derjenige, der Ebd., S. 348 f. Vgl. FZ – 274 ff. Hier formuliert Johannes de silentio ahnungsvoll ganz allgemein gegen eine »interessante Existenz«: »Eine solche Existenz eitel zu ergreifen, ziemt sich nicht für jemand, der ernstlicher über das Leben nachdenkt, und doch geschieht es in unserer Zeit nicht selten, daß man Exempel für ein solches Bestreben wahrnimmt.« (FZ – 274) Johannes de silentio bestimmt das »Interessante« näher als eine »Grenzkategorie, ein Konfinium zwischen der Ästhetik und der Ethik.« Die daraus folgende Erläuterung ist im Zusammenhang mit dem hier Besprochenen beachtlich: »Insofern muß die Erwägung immerzu auf das Gebiet der Ethik hinüberstreifen, indes sie, um Bedeutung erlangen zu können, das Problem mit ästhetischer Innerlichkeit und Konkupiszenz ergreifen muß.« (FZ – 274) Dieser Befund ist nicht nur insofern beachtlich, als Kierkegaard hier schon einen zentralen Einwand gegen Schopenhauer aufbereitet, sondern auch deswegen, weil das darauf folgende Argument de silentios, mit dem implizit das »Interessante« diffamiert werden soll, elf Jahre später, in Kierkegaards später Auseinandersetzung mit Schopenhauer, nicht mehr greift: »Auf dergleichen [der erotischen Spannung des Interessanten, das seiner begrifflichen Bedeutung als Konfinium zwischen Ästhetik und Ethik entspricht, R. R.] läßt sich in unserer Zeit die Ethik seltener ein. Der Grund soll sein, daß dafür im System kein Platz vorhanden ist.« (FZ – 274) 16 Es kann hier am Rande betont werden, dass Foucault ein aufmerksamer Leser Kierkegaards war (vgl. Thomas R. Flynn (2005), S. 323). 14 15

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nicht in seinem Charakter seinem Verstehen entspricht, der ist Sophist […]«. 17 Nietzsche formuliert in frühen Nachlassreflexionen (1873) analoge Bedenken, indem er fragt: Welche Wirkung hat die Philosophie jetzt auf die Philosophen geübt? – Sie leben so wie alle anderen Gelehrten, selbst Politiker. Schopenhauer ist schon eine Ausnahme. Sie zeichnen sich durch keine Sitten aus. Sie lehren um’s Geld. […]. Man betrachte das Leben ihrer höchsten Exemplare, Kant und Schopenhauer – ist das das Leben von Weisen? Es bleibt Wissenschaft: sie stehen zu ihrem Werke als Artisten, daher bei Schopenhauer die Begierde nach Erfolg. Es ist bequem, Philosoph zu sein: denn niemand macht an sie Ansprüche. […] Sokrates würde verlangen, dass man die Philosophie wieder zu den Menschen herab hole; es giebt keine oder eine ganz schlechte Popularphilosophie. Sie zeigen alle Untugenden der Zeit, die Hast voran, und schreiben darauf los. Sie schämen sich nicht zu lehren, sehr jung bereits. (KSA 7 – 739) 18

Überblickt man den Gedankengang dieser Arbeit, dann scheint – die Tatsache, dass Nietzsche jung sich schon im paradoxen Dialektisieren übt (Schopenhauer ist/keine Ausnahme), nicht überbewertend – dieses Nachlassfragment angesichts Schopenhauer als Erzieher dahingehend bedeutend, als Nietzsche in seiner dritten Unzeitgemäßen (1874) die Bedeutung von »Schopenhauer« schon zu Gunsten seines groß angelegten Erziehungsprogramms justiert; dort jedenfalls wird ihm noch – ansatzweise durchaus angestrengt – attestiert, Philosoph im griechischen Sinne zu sein. 19 Philosoph im griechischen Sinne heißt bei beiden Denkern: leben, was man denkt bzw. weiß, Philosophie als Lebensform, Philosophie, die sich performativ im Lebensvollzug bewährt und nur so ist. 20 Die Behauptung, dass das Verhältnis Cappelørn et al. (Hrsg.) (2012), S. 349. Auch Conant (2014), S. 374 ff. ist auf dieses Nachlasswort aufmerksam und arbeitet daran den Unterschied von antiker und neuzeitlicher Philosophie heraus. Conant lässt allerdings die Quintessenz dieser Gegenüberstellung undiskutiert, indem er das Attribut, das wesentlich mit dem »Artistischen« (im Gegensatz zur antiken Philosophie als Lebenskunst) zusammenhängt, unterschlägt, nämlich das Erpichtsein auf Anerkennung, was in dieser Studie dem Typus Dichter seiner sozialen Bestimmung nach zukommt. 19 Der ausgebildete Kierkegaard spricht ihm dieses Recht ab: »Aber hier kommt es wieder; S. ist kein Charakter[,] kein ethischer Charakter, nicht ein griechischer Philosoph im Charakter, noch weniger ein christlicher Polizeioffizier.« (Cappelørn et al. (Hrsg.) (2012), S. 339) 20 Vgl. hierzu wiederum Hadot (2005). 17 18

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Ad Personam

Schopenhauers zu seinem Werk dem eines Artisten gleiche, will darauf hinaus, dass es vor Publikum sich artikuliert und auf dessen Sanktion hin ausgerichtet ist – allein über diese Vermittlung via Erfolg glaubt der Typus Künstler an die Güte seines Produkts, an sich. 21 Außerdem bedeutsam ist, dass Nietzsche Sokrates erwähnt mit der Forderung, die Philosophie und die sie Vertretenden müssen sich wieder unter das Volk mischen. 22 Bei beiden Denkern kulminieren der Sophismusvorwurf sowie die These des vermeintlichen Pessimismus, die Selbsttäuschung Schopenhauers bezogen auf das, was er ist, in – redlicherweise nur hypothetisch veranschlagter – heftiger Kritik in Bezug auf seine charakterliche Integrität. Kierkegaard kommentiert den Sachverhalt, dass man von Schopenhauer am Schluss seiner Ausführungen zur Ethik erfährt, dass er nicht selbst der Asket ist, wie folgt: »Er ist also nicht selbst die durch Askese erreichte Kontemplation, sondern eine Kontemplation, die sich kontemplierend zu jener Askese verhält.« 23 Aus diesem Tatbestand, dass Schopenhauer nicht seiner Darstellung gelingenden ethischen Lebensvollzugs folgt, sich vielmehr rein betrachtend zu ihr verhält, 24 schließt Kierkegaard unerbittlich: »Das ist äußerst misslich, hier kann sich sogar das Allerentsetzlichste verber-

Auch Kierkegaard reklamiert diesen Punkt: »Er ist doch ein deutscher Philosoph, versessen auf Anerkennung. Ja, das ist mir das Unbegreifliche, dass ein so bedeutender Kopf wie S. […] doch in Richtung auf Charakter […] so wenig Ironie hat, so wenig die Leichtigkeit der Überlegenheit wie er«. (Cappelørn et al. (Hrsg.) (2012), S. 340) Etwas weiter unten heißt es, Schopenhauer angesichts der Umstände in Deutschland, auch entschuldigend: »S. verhält sich unmittelbar zur Anerkennung, das hat er gewünscht, danach hat er gestrebt – schnöde ist er behandelt worden, welches ihn nicht gebrochen hat, nein, es hat ihn zu einem sehr bedeutenden Schriftst. entwickelt.« (Ebd.) 22 Nietzsche betont in seinem Brief an seinen Verleger Schmeitzner den Populär-Charakter seines ersten Zarathustra, dieses Buch sei »Jedermann zugänglich« (KSB 6, Nr. 374 – S. 327). Man muss kein großer Psychologe sein, um zu verstehen, dass die unendlich facettenreich inszenierten, gegen einen »zudringlichen« Leser formulierten Rückstöße, die in Nietzsches und Kierkegaards Werk insgesamt aufgehoben sind, zugleich zumindest für eine bestimmte Zeitspanne und bis zu einem gewissen Grade ›unendlich‹ anziehend wirken: dieser Punkt gehört zum kleinen Einmaleins dieser »Erotiker«, womit sich deren Populär-Philosophie verwirklicht. 23 Cappelørn et al. (Hrsg.) (2012), S. 338. 24 Nietzsche leitet die Frage, was asketische Ideale beim Philosophen bedeuten, her über die Schopenhauerische Rezeption der Ästhetik Kants, deren Mangel ist, Kunst allein aus der Perspektive des (vermeintlich) unbeteiligten Zuschauers zu würdigen (vgl. GM – 346 f.). Hierauf wird näher eingegangen werden im Abschnitt III.2.3. 21

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gen, eine verderbliche Art schwermüthiger Wollust, item ein tiefer Mschenhaß usw.« 25 Zusammenfassend kann festgehalten werden: Allein aufgrund des Verhältnisses Schopenhauers zu seinen Gedanken über Mitleid und Ethik und des Stils, der sie repräsentiert, schöpfen Kierkegaard und Nietzsche schwerwiegenden Verdacht. Dieser Vorwurf bekommt deswegen Gewicht, weil im Ausnahmetheorem, das nicht zuletzt zur Normierung des eigenen Denkweges formuliert wurde, intensiv auf die Möglichkeiten reflektiert wurde, derer Schopenhauer sich hier hypothetisch schuldig macht, was seinen Begriff »reiner Liebe« gefährlich anschwärzt, weil ihm schlicht kein lebensweltliches Korrelat entspricht: Schopenhauer weiß nicht aus Erfahrung, wie es ist, Heiliger zu sein. Das ästhetische Verhältnis Schopenhauers zu seiner Ethik, das sozusagen mit dem Ergebnis des gelingenden ethischen Existenzvollzugs, dem Abtöten der Lust, nur tändelt, sich als erlösende Möglichkeit nur vor-hält, ohne bei dem die Ethik des Mitleids Formulierenden praktische Konsequenzen zu zeitigen, richtet aus der Perspektive exemplarischen Denkens über die Güte der Theorie und vermittelt über die Integrität der Person. Schopenhauers Asket wird von Kierkegaard und Nietzsche zugleich politisch gedeutet vor dem Hintergrund einer »genusssüchtigen« Welt, in welcher Askese nur noch als ästhetische Reminiszenz gewürdigt werden kann, als ein pikanter Stoff, dessen ethisch ambivalentes, da sinnlich affizierendes Stimulans, das »Mitleid«, durch seine Medialisierung missbraucht wird zur sublimierten Lustgewinnung. Für beide Denker war es dagegen von Anbeginn an wichtig, die »Ausnahme« derart zu verpflichten, dass sie durch ihre in das in sich instabile Allgemeine hineinragenden Lebensäußerungen dem Allgemeinen nicht gefährlich werden kann – zumindest nicht ohne gute Gründe. 26 25 Ebd., S. 338. Im Zarathustra heißt es entsprechend bündig: »Ihr habt mir zu grausame Augen und blickt lüstern nach Leidenden. Hat sich nicht nur eure Wollust verkleidet und heisst sich Mitleiden?« (Z – 69 f.) 26 Das ist auch ein zentrales Argument Odo Marquards bezogen auf die Form indirekter Mitteilung bei Kierkegaard. Auch wenn Marquard übertreibt, wenn er Kierkegaards Mitteilungs-Dilemma zugespitzt sieht in der Tatsache, eine Wahrheit mitteilen zu müssen, die menschlich Grausamkeit bedeute, insofern sie das Opfer des Wesens fordere, und darin das Novum der kierkegaardschen Ironie gegenüber der Romantischen sieht, wobei er erstere als Quarantäne-Ironie bezeichnet (das Problem an Marquards Darstellung in diesem Kontext scheint die Hypostasierung des Begriffs »Mensch«), trifft er doch eine interessante Pointe (vgl. hierzu Marquard (2013), vor allem S. 160–180).

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III.2.2 Psychologisch Schopenhauer meint, er sei Pessimist. Kierkegaard und Nietzsche glauben ihm nachweisen zu können – wie im Abschnitt II.2.4.2 bereits aufgeworfen –, dass in seinen Invektiven gegen das Leben ein ›Ja‹ sich vermittelt aktualisiert. Kierkegaard formuliert: »In seiner [Schopenhauers, R. R.] indischen Schwermut: Leben ist Leiden liegt doch etwas Unwahres.« Der Däne hat persönlich nichts gegen Schopenhauers Wüten gegen den »niederträchtigen Optimismus« einzuwenden, der sich für Christentum ausgibt. Aber gegen den Satz, dass das Dasein im Sinne bloßen Menschseins Leiden sei, protestiert er, da dadurch das Christentum verloren ginge, dessen Lehre ist: Christsein ist Leiden: 27 […] denn wenn das Mschsein das Leiden ist, dann ist es ja lächerlich, dass eine Lehre auftritt, die die Bestimmung geben will: das Xstsein [= Christsein, R. R.] ist Leiden. Nein[,] das Christent. sagt nicht, dass das Dasein Leiden ist. Im Gegenteil[,] deshalb bringt es sich gerade an dem jüdischen Optimismus zur Geltung, verwendet als Vordergrund die potenzierteste Lebenslust, die sich jemals an das Leben geklammert hat – um dann das Xstt. [= Christentum, R. R.] als Entsagung anzubringen, und um dann das Xstsein als das Leiden auszuweisen, worin auch enthalten ist, für die Lehre leiden zu müssen. 28

An Kierkegaards These, dass das Christentum seines Dialektischen beraubt würde, wenn man die Definition aufstellt ›Leben = Leiden‹, ist interessant vor allem die überzeugende Prämisse: Die Leidenslehre des Christentums ›funktioniert‹ allein, wenn sie einen Unterschied setzt zu seiner lebensbejahenden Voraussetzung. Ohne die unmittelbare und vorausgesetzte Lust des Lebens an sich selbst, die nach Kierkegaards hier nicht besonders tiefsinniger Einschätzung im Judentum zum Ausdruck gebracht wird, würde das Christentum keinen Gegenstand haben. Die Behauptung der unmittelbaren Negativität des Lebens macht aus der Perspektive exemplarischen Denkens keinen Sinn: ›Lieber will der Wille noch das Nichts wollen, als nicht wollen‹, ist der entsprechende Ausdruck bei Nietzsche. Der schopenhauerische Pessimismus würde sich allein durch den Selbstmord dessen ›beweisen‹, der ihn formuliert, wie Nietzsche in radikaler Konsequenz erwägt. 29 27 28 29

Vgl. Cappelørn et al. (Hrsg.) (2012), S. 343. Ebd. Vgl. hierzu den Abschnitt III.1.2. Verblümter und selbstironischer heißt es bereits

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Schopenhauer schnürt sich, wie es der Wilhelm der Stadien kritisch thematisiert, 30 gegen die Eingebungen des Eros ab, indem er jedes unmittelbare und unhintergehbare, also vorreflexive ›Ja‹ zum Leben systematisch umlenkt, welche paradoxe Leistung ihren philosophischen Ausdruck darin hat, als Weltanschauung in »Vorstellung« und »Wille« aufgespaltet worden zu sein. 31 Ausgehend von dem Standpunkt exemplarischen Denkens, dass die Behauptung unmittelbarer Negativität der Lebenserfahrung unrealistisch ist, kann die psychologische Kritik konkret nachvollzogen werden. Kierkegaards Referat der Ethik Schopenhauers, von welchem er die psychologische Kritik ableitet, vernimmt sich wie folgt: Seine ethische Ansicht ist: entweder durch den Intellekt, also intellektuell, oder durch Leiden […] erreicht es das Individuum, das ganze Elend dieses Daseins zu durchschauen, und beschließt nun, die Lebens-Lust zu töten oder zu mortifizieren; hier die Askese; und dann wird eine durch die vollkommene Askese erreichte Kontemplation, ein Quietismus gewonnen. –

im Zarathustra: »Weltmüde! Und noch nicht einmal Erd-Entrückte wurdet ihr! Lüstern fand ich euch immer noch nach Erde, verliebt noch in die eigne Erd-Müdigkeit! / Nicht umsonst hängt euch die Lippe herab: – ein kleiner Erden-Wunsch sitzt noch darauf! Und im Auge – schwimmt da nicht ein Wölkchen unvergessner Erden-Lust? […] An Unheilbaren soll man nicht Arzt sein wollen: also lehrt es Zarathustra: – so sollt ihr dahinfahren! / Aber es gehört mehr M u t h dazu, ein Ende zu machen, als einen neuen Vers: das wissen alle Ärzte und Dichter. –« (Z – 259) 30 »Freilich sagt ein altes Wort, dem Gott der Liebe könne man nicht widerstehn; indes, wer von Anfang an mit Entschluß sich wider die Wirklichkeit stemmt, der wird stets die Macht haben, der Liebe Eingebung zu vertreiben, oder sie im Keim zu ersticken. Einer unmittelbaren Existenz gegenüber ist der Eros die stärkere Macht, jedoch einem Entschluß gegenüber, welcher bereits im voraus sich wider ihn gewappnet hat, ist er es nicht.« (SL – 185) In der Experimentanordnung des Taciturnus wurde Quidam, wie auch der »junge Mensch« aus Die Wiederholung, zu seiner Religiosität durch eine Verliebtheit, mit der durch Betrug im Sinne von Täuschung der Geliebten gebrochen wurde, angestoßen, welche Religiosität als in ihm träumend angelegt war, und nicht ohne sie hätte zum Ausbruch kommen können. Hier ist bei Kierkegaard das Moment des unmittelbaren ›Ja‹ integriert. 31 Nietzsche kommentiert die paradoxe Aneignung der kantischen Definition des Schönen wie folgt: »Über wenig Dinge redet Schopenhauer so sicher wie über die Wirkung der ästhetischen Contemplation: er sagt ihr nach, dass sie gerade der g e s c h l e c h t l i c h e n ›Interessirtheit‹ entgegenwirke, […] er ist nie müde geworden, d i e s e s Loskommen vom ›Willen‹ als den grossen Vorzug und Nutzen des ästhetischen Zustandes zu verherrlichen. Ja man möchte versucht sein zu fragen, ob nicht seine Grundconception von ›Willen und Vorstellung‹, der Gedanke, dass es eine Erlösung vom ›Willen‹ einzig durch die ›Vorstellung‹ geben könne, aus einer Verallgemeinerung jener Sexual-Erfahrung ihren Ursprung genommen habe.« (GM – 347 f.)

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Und dies tut das Individuum aus Sympathie (hier liegt A. Ss Moralprinzip), aus Sympathie, weil es mit dem ganzen Jammer, der das Dasein ist, sympathisiert, also mit dem Jammer der anderen sympathisiert, der darin besteht, da zu sein. 32

Gegen diese Mitleidstheorie formuliert Kierkegaard zwei Einwände. Der erste stellt die psychologische Plausibilität von Schopenhauers ethischem Schlussverfahren in Frage, das zweite Argument, als ein »Haupteinwand« 33 charakterisiert, geht auch zunächst über einen entlarvungspsychologischen Umweg von der persönlichen Stellung Schopenhauers zu seinen ethischen Einsichten aus; dieser Abschnitt wurde bereits ausgelegt in III.2.1. Dabei wird dieser »Haupteinwand« erst dadurch zu einem Haupteinwand, dass er verflochten wird mit einem substantiellen Argument – dem Problem einer Genialisierung/Ästhetisierung des Religiösen –, das man zugleich als eine Auslese aus den Errungenschaften des vorgestellten Ausnahmetheorems lesen kann und bei Nietzsche seine Analogie hat. Der Haupteinwand verweist entsprechend, psychologisch vermittelt über das ad personam-Argument, direkt in den Abschnitt III.2.3. Der psychologische Einwand basiert schlicht auf der Kontingenz von Schopenhauers Schlussverfahren und hat gleichzeitig zur Voraussetzung einen realistischeren, ja wohlwollenderen Einblick in das, worin die Menschen ihr Leben haben. Während der von Schopenhauer fingierte Asket aus dem Elend, in dem die Menschheit ›im Grunde‹ ihre Wirklichkeit hat, sich durch den Affekt des Mitleids angestoßen fühlt, sich von diesem Elend zu lösen, indem mit dem ursprünglichen Grund dieses Elends, der »Lust zum Dasein« 34 gebrochen wird und dies unwillkürlich eine Abkehr von lebensweltlicher Gemeinschaft bedeutet, so könnte man – das ist Kierkegaards Pointe – das Argument des Mitleids genauso gut umkehren: »Hiergegen müsste ich einwenden. Dass ich mich beinahe eher versucht fühlen könnte, die Sache umgekehrt zu wenden, und wohlgemerkt gerade auch aus – Sympathie.« 35 Kierkegaard führt aus, ob nicht gerade Sympathie ihn daran hindern, ihn davon abhalten [könnte, R. R.], so weit zu gehen, Sympathie mit diesen Tausenden und Abertausenden, die in der glücklichen Einbildung leben, dass das Leben Freude ist – und 32 33 34 35

Cappelørn et al. (Hrsg.) (2012), S. 337. Ebd., S. 338. Ebd. Ebd., S. 337 f.

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die er deshalb bloß verstören würde, unglücklich machen, ohne ihnen zu sich hinaus helfen zu können? 36

Hier wird ein entscheidender Grund ersichtlich, warum Käte Hamburger in ihrer Mitleidsstudie zu dem Ergebnis kommt, Mitleid sei ein »ethisch neutrales« Phänomen. Der Affekt des »Mitleids« bietet – das führt Kierkegaard hier psychologisch plausibel durch – keine eindeutige Handlungsorientierung. Den einen motiviert es dazu, den anderen zum glatten Gegenteil. Dabei ist Kierkegaards psychologischer Einwand und versuchsweise eingeführter Mitleidsbegriff deswegen in gewissen Sinne ›menschlicher‹, weil er die Reaktionen der naturgemäß benachteiligten Menschen bedenkt, die nicht dem Milieu entstammen, das einem beispielsweise erlaubt, Philosophie zu treiben: Es müsste sie beleidigen und provozieren unter Umständen, wenn ihnen jemand aus dieser exzentrischen Position klar macht, dass das, worin man sein Leben hat, nichts ist. Wichtig ist zu bemerken, dass Kierkegaard diese Ebene seiner Argumentation noch einmal selbstkritisch bricht, indem er gegenüber seinem Standpunkt selbst wieder einen psychologischen Einwand formuliert: Er räume gerne ein, »dass sich hier sehr leicht das Gaunerhafte verbergen kann, das nicht selbst das Äußerste wagen will, und sich dann den Anschein der Sympathie gibt.« 37 Psychologie im Sinne Kierkegaards und Nietzsches ist eine rein negative Denkdisziplin; sie kann nur Missstände entlarven und also Raum schaffen für einen Sprung: aus ihren Einsichten kann keine Brücke gebaut werden zu einem ethisch-existentiell orientierenden »So soll es sein«. Jene rückbezügliche Schleife in Kierkegaards Argumentation ist beachtenswert: Sie zeigt die Grenzen der Einsichten der Psychologie als Kunst redlicher Selbstbeobachtung, die hier implizit als eine Wissensgenerierungsmethode bezeichnet wird, die – analog dem Daimonion des Sokrates – immer nur abrät. Was sich hier »Mitleid« nennt, könnte bloße Fassade vor einer eigentlich, dem Mitleidenden selbst verborgenen »gaunerhaften« Motivation sein. Im Falle Nietzsches kann das bereits Erarbeitete rekapitulierend in Erinnerung gerufen werden. Im Abschnitt II.2.5.1 wurde gezeigt, wie Nietzsches Moralkritik schon ab Menschliches, Allzumenschliches sich gegen seinen Erzieher behauptet. So stellt etwa der Aphorismus Von der christlichen Askese und Heiligkeit (MA I – 130–140) 36 37

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Ebd., S. 338. Ebd.

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die vermeintliche Güte religiöser Ausnahmen entlarvungspsychologisch bloß, insofern er offenlegt, wie diese moralisch zerrütteten Charaktere an sich keine besonders ›guten Menschen‹ waren. Allein die Tatsache, dass diese Ausnahme-Menschen in eine Gesellschaft gestellt, durch verhältnismäßig ›normalere‹ Menschen interpretiert werden mussten, verlieh ihnen diese divinatorische Aura, wobei man sich damit über ihren Wert selbst täuschte. Diese Analyse war zu lesen als eine Kritik an Schopenhauer dahingehend, als dieser noch – nach dem ›Tod Gottes‹ – an die sittliche Weltordnung glaubte. Die Tatsache, dass Nietzsche innerhalb der religiösen Ausnahmen einen qualitativen Unterschied dachte, verweist den Gedankengang dieser Studie auf die Krone von Nietzsches Werkentwicklung, auf die durch den Eigennamen »Zarathustra« verbürgte Güte jenseits von Gut und Böse. In Genealogie eskaliert, wenn man so möchte, Nietzsches Furor psychologicus dahingehend, als er den Garten des Menschlichen bezogen auf seine moralische Bedeutsamkeit als Ganzen planiert. Übrig bleibt ein ›Ja‹, das wiederum in Rückbindung an die utopische Erfüllung »Zarathustras« dem menschlichen Willen eine neue Auslegung anbieten soll, welche die allein verstandesmäßige und also relative Unterschiedenheit menschlichen Wertschätzens qualitativ überragt.

III.2.3 Substantiell Es ist nun genauer hinzusehen, inwiefern die Kritik des Mitleids in Auseinandersetzung mit Schopenhauer bei beiden Denkern in struktureller Analogie in einem als substantiell imaginierten Ort verankert wird. Das letzte Kapitel des dritten Teils widmet sich ausführlich jener ›Liebe über dem Mitleiden‹, die allein in »einsamster Einsamkeit« ihre Erfüllung hat. Kierkegaard formuliert seinen »Haupteinwand« gegen Schopenhauers Mitleidsethik, die aufgrund ihres kontemplierenden Verhältnisses zum Ergebnis dieses Tuns verworfen wird, weil darin untergründig das Allerentsetzlichste wertsetzend sich verbergen kann – »schwermütige Wollust« und »tiefer Menschenhass« – genauer aus, indem er dieser letztlich wieder »nur« psychologischen Mutmaßung in seinem Werk verankerten, substantiellen Rückhalt gibt. Kierkegaard beobachtet, dass Schopenhauer den Begriff des »Ethischen«, der hier in seiner im kierkegaardschen Sinne christlichen Prägung verwendet wird (also im Sinne eines Allgemeinen, dessen Gutes sich Modulationen der Einsamkeit

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begründet in einem in jedem »Einzelnen« hinterlegten orientierenden Absoluten), über das Mitleidsphänomen in Richtung »Genialität« umgewertet 38 hat, welche ihre »Güte« stets nur einem Zufall verdankt. »Genialität« ist bei Kierkegaard ein dem Ethischen widersprechender Begriff in dem Sinne, als er nicht das allen Menschen gleich verbindliche »Du sollst« zum Ausdruck bringt, sondern sich durch besser gemischte »natürliche Differenzen« auszeichnet, also exklusiv ist. Kierkegaard kommentiert Schopenhauers Verwerfung jeder imperativischen Ethik. Er lässt sich allerdings nicht, wie Schopenhauer es mit jenem »Du sollst« leistet, »höhnisch abfertig[en]«, sondern hält vielmehr rückfragend dagegen, ob der Asket, wie ihn Schopenhauer beschreibt, nicht zwangsläufig ein Du sollst respektiert, und von einem Motiv der Ewigkeit bestimmt ist, aber nicht genial, sondern ethisch. S., der eigtl. das Christentum aufgibt, preist immer Indien[,] den Brahmanismus an. Aber jene Asketen, das muss er ja selbst eingestehen, sind ja von einer Ewigkeits-Rücksicht bestimmt, religiös, nicht genial, sondern es ist für sie religiöse Pflicht. 39

Kierkegaard sieht also in Schopenhauers systematischer Kontemplation des Phänomens der »Askese« und ihrem lebendigen Ausdruck, dem »Asketen«, die Annihilierung der religiösen Sphäre vollzogen. Der Asket, dessen Tun Schopenhauer nur kontemplierend, nicht existentiell nachvollzieht, wird nach Kierkegaards Auffassung allerdings von einer Größe orientiert, die jeden Menschen als Menschen anspricht. Durch die Rückkopplung der ethischen Sphäre an die religiöse ist bei Kierkegaard die Gleichheit des Menschen vermittelt angelegt, während bei Schopenhauer – aus der Perspektive Kierkegaards – die ›Herrlichkeit‹ des Ethischen unsäglich getrübt wird dadurch, dass sie zu einem exklusiven Geschäft wird. 40 Schopenhauer kann den Diese Kritik ist bereits angelegt in der Formulierung von Taciturnus, in der er gegen Börne bzw. gegen das Religiöse ästhetisierende Pfarrer festhält: »Jedweder Versuch, den empfänglichen Sinn dafür, daß man in Gefahr ist, zu verstopfen, ist aesthetische Fehlweisung […] zum Aesthetischen hin, wie dies im Verhältnis zur Wirklichkeit eben ist, d. h. zur Verstockung.« (SL – 499 f.) 39 Cappelørn et al. (Hrsg.) (2012), S. 336 f. 40 Kierkegaard versucht in Stadien diese Sphäre des Geistes folgendermaßen innerhalb seiner heuristischen Sphärenkategorien zu markieren. Er betont, dass es der Mangel der weltanschaulichen Semantik des Ästhetischen sei, dass ihr Ergebnis im Äußeren sichtbar sein muss; der Ausfall, das Ergebnis ist hier entscheidend (vgl. SL – 470). Das Ethische dagegen, dessen ideale Bestimmung die Verwirklichung des Guten bedeutet, ist ohne Anleihen bei einer anderen Sphäre (Ästhetik oder Religion) nicht 38

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Sachverhalt, dass auch seine exotischen Asketen des Brahmanismus eine »religiöse Pflicht« 41 erfüllen, also »von einem Motiv der Ewigkeit bestimmt« 42 sind, aus der Perspektive Kierkegaards deswegen verkennen, weil er im Grunde nicht weiß, wovon er spricht. Schopenhauer überzeichnet die religiöse Sphäre und verstopft jenen begriffsutopischen Raum »einsamster Einsamkeit«, von dem der Anspruch des »Du sollst« unwillkürlich ausgeht, indem er jene ästhetisierend auf den Begriff bringt. Er macht das Ethische zur Genialität, und obgleich er sich selbst zur Genüge damit brüstet, im Übrigen Genie zu sein, so hat es ihm (oder der Natur) doch nicht beliebt, ihn ein Genie in Richtung auf Askese und Mortifikation werden zu lassen. 43

Es ist nun genauer hinzusehen, wie Nietzsche die Frage nach dem gelingenden Leben in Auseinandersetzung mit seinem Erzieher offenhält. Nietzsches exemplarisches Denken reserviert sich analog dem Kierkegaards einen Begriff von »Geist«, ohne allerdings »Gott« erfassbar. Kierkegaard kommt – das ist zugleich zu lesen als eine Kritik des Ausnahmetheorems, so wie es sich in Entweder – Oder formulierte – hier auf die Vorstellung einer sittlichen Weltordnung zu sprechen, einer Lenkung, Vorsehung, welche »die unendliche Geschwindigkeit« des Ethischen »mittels aesthetischer Kategorien (des Schicksals – des Zufalls) verlangsamt«. (SL – 471) Die Essenz dieser Subjektivierung der Existenz-Kategorien ist die Vorstellung der Vornehmheit des Ethischen selbst: »denn das Ethische kann das Aesthetische nicht anders respektieren, als indem es eine unmittelbare Vereinigung mit ihm als eine Mesalliance betrachtet«. (SL – 471) Auf die radikale Verwerfung des Dichterischen bei Boethius, Solon, Platon verweisend hält Taciturnus fest: »Das Ethische fragt nur nach Schuldig oder Nichtschuldig, ist selber Manns genug, um mit den Menschen abzurechnen, bedarf keines Äußerlichen und Sichtbaren, geschweige einer solchen dialektischen Zweideutigkeit wie Schicksal und Zufall, oder der Handgreiflichkeit irgend eines Gerichtsaktes. Das Ethische ist stolz […]. Dies bedeutet, daß das Ethische sich geschieden zu sehen wünscht vom Aesthetischen und von jener Äußerlichkeit, welche des Aesthetischen Unvollkommenheit ist, es begehrt danach, eine herrliche Verbindung einzugehn, nämlich die mit dem Religiösen.« (SL – 471) Auch das Religiöse streckt das Ethische in der Zeit, allerdings – das ist die anti-begriffliche Pointe hier – »die Bühne ist im Inneren, in Gedanken und Sinn, etwas, das man nicht sehen kann, nicht einmal mit einem Nachtfernrohr«. (SL – 471) Ein gerne zitierter Vers ist in diesem Kontext 1 Könige 19,12. Nietzsche nimmt ihn durch folgendes Bild in Die stillste Stunde auf, dem die Konversion entscheidenden Kapitel von »Zarathustra« zu Zarathustra: »Da sprach es wieder wie ein Flüstern zu mir: ›Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen. Gedanken, die mit Taubenfüssen kommen, lenken die Welt […].‹« (Z – 189) 41 Cappelørn et al. (Hrsg.) (2012), S. 339. 42 Ebd., S. 338. 43 Ebd. Modulationen der Einsamkeit

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als Vermittlungsstruktur im »Einsamen« zu bewahren. Bei Nietzsche ist sich, vorzüglich und programmatisch im Zarathustra, die Einsamkeit selbst Subjekt. Die Herleitung der Frage, was asketische Ideale für den Philosophen bedeuten, gelingt Nietzsche, indem er hinsieht, wie Schopenhauer Kant beerbt. »Kant gedachte der Kunst eine Ehre zu erweisen, als er unter den Prädikaten des Schönen diejenigen bevorzugte und in den Vordergrund stellte, welche die Ehre der Erkenntniss ausmachen: Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit.« (GM – 346) Nietzsche betont, dass Schopenhauer sich die »Kantische Fassung des ästhetischen Problems zu Nutze gemacht hat«. (GM – 346) Er lässt die Frage undiskutiert, ob die Attribute »Unpersönlichkeit« und »Allgemeingültigkeit« bezogen auf die Sache der Kunst nicht in der Hauptsache ein Fehlgriff sei und formuliert als Einwand, dass die Perspektive auf die Sache verkehrt sei. An Kants Zugang zur Kunst stört Nietzsche vor allem, dass Kant, gleich allen Philosophen, statt von den Erfahrungen des Künstlers (des Schaffenden) aus das ästhetische Problem zu visieren, allein vom ›Zuschauer‹ aus über die Kunst und das Schöne nachgedacht und dabei unvermerkt den ›Zuschauer‹ selber in den Begriff ›schön‹ hinein bekommen hat. (GM – 346)

Die Perspektive des Schaffenden und die des Zuschauers auf Kunst und Schönheit sind wesentlich unterschieden, wobei die Integrierung der Zuschauerperspektive in die Bestimmung von Schönheit als Mangel zu bewerten ist. Das Schöne, so Nietzsches Standpunkt, scheint sich aus sich heraus vor der Vereinnahmung durch die Betrachterperspektive zu sträuben. Allein die Perspektive des Kunst-Rezipierenden also ist in Kants Fassung des »ästhetischen Problems« da, und diese selbst allerdings wiederum in der Sache nicht gerecht werdender Gestalt. Wäre aber wenigstens nur dieser ›Zuschauer‹ den Philosophen des Schönen ausreichend bekannt gewesen! – nämlich als eine grosse p e r s ö n l i c h e Thatsache und Erfahrung, als eine Fülle eigenster starker Erlebnisse, Begierden, Überraschungen, Entzückungen auf dem Gebiete des Schönen! (GM – 346 f.) 44 Vgl. erinnernd den Aphorismus Der Böse aus Morgenröte, in welchem Nietzsche die Entfesselung der durch die Sozialnatur des Menschen zur Leblosigkeit fixierten Anteile seiner selbst, also des nicht auf den Begriff zu bringenden »Persönlichsten«, durch Einsamkeit beschreibt. »Wer böse ist, ist es am meisten in der Einsamkeit: auch am besten – und folglich für das Auge Dessen, der überall nur ein Schauspiel sieht,

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Substantiell

Da den Philosophen dieser Zuschauer aufgrund mangelnder, »feinerer Selbst-Erfahrung« (GM – 347) eben nicht bekannt war, inkorporieren die Definitionen des Schönen einen »Grundirrthum« »in Gestalt eines dicken Wurms« (GM – 347). Kants Definition des Schönen, die sich aus der Verkennung selbst des Zuschauerstandpunktes herleitet, lautet, dass schön sei, was »o h n e I n t e r e s s e « (GM – 347) gefalle. »Ohne Interesse! Man vergleiche mit dieser Definition jene andre, die ein wirklicher ›Zuschauer‹ und Artist gemacht hat – Stendhal, der das Schöne einmal une promesse de bonheur nennt.« (GM – 247) In Stendhals Definition überwiegt das passive Moment, der Entzugscharakter als Verheißung für sich, das Nochnichterfülltsein des Schönen als ihm wesentlich, als das Schöne. Es ist eine Definition, in der – das ist Nietzsche wichtig hervorzuheben – gerade das »désintéressement« exorziert ist: Das Schöne verspricht Glück, und Stendhal »scheint gerade die E r r e g u n g d e s W i l l e n s (›des Interesses‹) durch das Schöne der Thatbestand«. (GM – 349) Der Zuschauer bei Stendhal ist dem Schönen ausgesetzt, wird von seiner Wirkung fixiert, ohne unmittelbar aktiv werden zu können – das Distanzverhältnis zur Bedingung seiner Möglichkeit ist die Wirkung des Schönen selbst. 45 Wie hinreichend erläutert ist es nun Nietzsches Pointe, gegen seinen Erzieher einzuwenden, dass dieser sich die kantische Definition unberechtigterweise aneignete, insofern er mit ihr ein persönliches, allzupersönliches Interesse verknüpfte: Schopenhauer aus seinen Gründen und der Philosoph ganz allgemein – das bedeutet das asketische Ideal für jenes Individuum und für den Typus überhaupt –, auch am schönsten.« (M – 293) Wer kommt hier als Zuschauer in Betracht, wenn nicht ›Dionysos‹, dessen letzter Philosoph zu sein Nietzsche in Jenseits behauptet (vgl. JGB – 237–240), kurz nachdem er geschildert hat, welches Mitleid wirklich Wert hat, nämlich das eines »Mannes«, der seiner Natur nach »H e r r « ist, was hier heißt, sich nicht in den »förmlichen Cultus des Leidens« einzumischen, in dem das Attribut »U n m ä n n l i c h k e i t « prädominiert bezogen auf das, »was in solchen Schwärmerkreisen ›Mitleid‹ getauft wird« (JGB – 236)? Die hier etwas plump anmutende Unterscheidung ›männlichen‹ und ›weiblichen‹ Mitleids wird in den Abschnitten III.3.2 und III.3.3 fundiert und bestimmter zugeordnet werden. 45 Vor diesem Hintergrund muss gegen die in unendlichen Varianten immer wieder wiederholte Tendenz, Nietzsche und Kierkegaard als Frauenverächter hinzustellen, eingewendet werden: Als exemplarische Denker sind Kierkegaard und Nietzsche Meister jenes Effektes, der als actio in distans Rätsel aufgibt. Vgl. zum Ausdruck der »actio in distans« bei Kierkegaard etwa EO I – 361 und bei Nietzsche Frauen und ihre Wirkung in die Ferne (FW – 424 f.). Es wäre eine fruchtbare Aufgabe, jenen Effekt als wirksam in den indirekten Mitteilungsformen (Ironie und Pathos der Distanz) beider Denker eingehender zu analysieren. Modulationen der Einsamkeit

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»will von einer Tortur loskommen. –« (GM – 349) So viel wird konzediert: es geht dem Philosophen als Philosophen in seinem Verhältnis zum asketischen Ideal um Leidlinderung. Kierkegaard und Nietzsche positionieren sich nicht als Savonarolas der Moderne, sie wissen sich durch Ironie und Humor vom Unbedingtheitspathos ihrer religiösen Natur zu distanzieren. Askese bzw. Selbstquälerei, das leidvolle Ringen um Bedeutung, Sinnstiftung durch Leid, so wurde in Stadien bereits festgehalten, erscheint aus ästhetischer Warte als komisch und ist religiös besehen Fortsetzung der Sünde, wenn sie nicht auch durchdringen kann zur Freude. 46 Und Nietzsche hat durch die Dritte Abhandlung von Genealogie erwiesen, dass asketische Ideale in ihrer herkömmlichen moralischen Bedeutung – vor dem Hintergrund einer sittlichen Weltordnung – bedeutungslos geworden sind. Dass Leiden, nicht moralisierend perspektiviert, aber immer noch Sinn macht – etwa, indem man den »Menschen« in sich erst schaffen muss – erläutert eingehend Kapitel III.3. Den Sokratikern der Moderne gelingt es, allein aufgrund ihrer Redlichkeit – diesem an sich nicht mehr aufhebbaren Destillat einer zu Grunde gehenden Weltauslegung, dieser Zusammenziehung von Tat und Gedanke – einen Raum zu öffnen, vor dessen möglicher Bedeutung Schopenhauers System sich verschließt: Kierkegaard, indem er zeigt, dass Schopenhauer die den Asketen motivierende Größe in seinem System herausschneidet, und Nietzsche, indem er Schopenhauers In-die-Knie-Gehen vor ›der Moral‹ die Grundlage entzieht. Schopenhauers berühmtes Diktum: Daß die Welt bloß eine physische, keine moralische, Bedeutung habe, ist der größte, der verderblichste, der fundamentale Irrtum, die eigentliche Perversität der Gesinnung und ist wohl im Grunde auch das, was der Glaube als den Antichrist personifiziert hat 47

Vgl. die Einschätzung Taciturnus’ aus seinem ethisch-neutralen, metaphysischen Standpunkt: »Sofern Selbstquälerei, aesthetisch gesehen, komisch ist, ist sie, religiös gesehn, zu verurteilen. Eine religiöse Heilung wird nicht durch das Gelächter erreicht, sondern durch die Reue: daß die Selbstquälerei eine Sünde ist wie andre Sünden.« (SL – 498) Mit dieser Identifizierung der Selbstquälerei als einer Sünde schiebt Taciturnus die Frage nach der Bedeutung asketischer Ideale und damit seine Verantwortung bezogen auf die Klärung ihrer Bedeutung wiederum in die übermoralische Sphäre ab, die menschlichem Verstand unzugänglich ist. 47 Zitiert nach Goedert (2013), S. 31. 46

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Substantiell

wird damit der Scheinheiligkeit überführt, insofern es unter Umständen den »Anti-Christen« heraufbeschwört, wofern »Mitleid« allein als Triebfeder für moralisches Handeln gewürdigt wird. 48 Um dessen reales Erscheinen allerdings zu unterbinden, hinterlegten Kierkegaard und Nietzsche in den »Einzelnen« und »Einsamen« unerhörterweise eine allgemeinverbindliche Lebensrechtfertigung übermoralischen Ursprungs. Hier kann nun an die Vorarbeiten aus dem ersten Abschnitt dieses Kapitels angeknüpft werden, um der ›Spitze‹ der Mitleidskritik Kierkegaards und Nietzsches ansichtig zu werden: der Liebe, der Sonne über dem nur menschlichen Mitleid, dem Jenseits von Gut und Böse (nicht Schlecht!). Die zentrale Stoßrichtung der jeweiligen Kritiken des Mitleids wurde vorbereitet über die Unterscheidungen der Begriffe »Leid«, wobei eine nur menschlich-animalische, moralische Perspektive von einer göttlichen bzw. quasi-göttlichen, »übermoralischen« auf dieses Phänomen maßgeblich war. Aus dieser im Ansatz »anti-soziologisch« vermittelten Unterscheidung entspringt der positive Begriff des »Mitleids«, der jedes Individuum als Individuum in Einsamkeit sich selbst überantwortet sein lässt. Nietzsche monierte, dass Philosophen generell, wenn sie sich dem Problem des Ästhetischen näherten, dieses nicht aus der Perspektive des Schaffenden visierten. Der theologische Ausdruck für »Schaffender« ist »Schöpfer«, das durch ihn Bedingte ist das Geschöpf. Und der moderne Mensch seinem idealen nietzscheschen Begriff nach – das wurde aus den Analysen zum Pathos der Distanz deutlich – wird gedacht als eine Subjekt-Vielheit, ein Gesellschaftsbau vieler Seelen, welche bedingt sind durch die Beerbung heterogener Moralen, die sich wiederum als Herren- und Sklavenmoralen typisieren ließen – wobei von diesem moralischen Agon ausgenommen wurde ein unberührbarer Rest, der sich in jene Begriffsarbeit zur Phänomenologie des Wollens nicht einlassen wollte. In Jenseits ist ein Text hinterlegt (§ 225 des Abschnitts Siebentes Hauptstück: unsere Tugenden), der als sich mit dem »Mitleidsphänomen« auseinandersetzender – das ist die These und der Ausblick auf das zu Leistende – den verborgenen Kern des Mitleids, der bezeichnet wird als ›Liebe über dem Mitleid‹, komprimiert synthetisiert, und 48 Goedert (2013) zeigt mit Verweis auf Jörg Salaquarda, dass der Titel des Werks Der Antichrist. Fluch auf das Christentum durch dieses Schopenhauerwort bedingt ist (vgl. S. 31).

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dessen Bedeutung dem Lebenslauf der Figur Zarathustra entspricht, in nuce dessen Sinn festhält, womit sich Nietzsche – im Sinne Kierkegaards – eine religiöse Sphäre reserviert, die zum dynamisierten Ausdruck kommt in Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Dieser »Lebenslauf« ist in drei Momente zu gliedern: Ausgangspunkt (vom Zerfall der Isolation her komponiert als utopischer Platzhalter für einen neuen Orientierungsmaßstab und für Nietzsche schaffend da), Unterwegs (als Leidensweg durch Verlassenheiten, die sich aus dem moralischen Bedingtsein durch Mitmenschen ergeben und wesentlich von gelingender Gemeinschaft exkludieren) und Zielpunkt (in dem die errungene Selbstidentität Zarathustras, die jede Relationsstruktur unter sich hat, in ihrem Ergebnis angezeigt wird – und jeder Mensch, das ist die Frohe Botschaft Nietzsches, wenn man so will, hat sie seiner Möglichkeit nach unter sich bzw. jenseits des textuellen Mitteilungsdilemmas: in sich). Kierkegaard bringt seine Mitleidskritik auf ihren endgültigen, da von ihrer positiven Bedingung – dem Lebenswandel des Gott-Menschen – her gedachten ›Begriff‹ in Einübung im Christentum, und die teleologisch dynamisierte Kritik ist eben durch jene drei Stufen bedingt, die Nietzsche ›gottlos‹ durch seinen Zarathustra nachempfindet.

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III.3 Die ›Liebe über dem Mitleiden‹

Das letzte Kapitel des dritten Teils zäumt die Mitleidskritik von ihrer positiven Bedingung her auf – der ›Liebe über dem Mitleiden‹ –, um das entwickelte Werkvergleichsmodell als Ganzes zu erproben und als anwendbar zu erweisen. Die utopische Erfüllung jener Liebe wird durch den Gott-Menschen bzw. Zarathustra verbürgt. An jener Liebe bzw. an jenem Raum richtet sich die Werkentwicklung teleologisch aus – substantiell bzw. formal betrachtet. Er bedeutet die Krönung der Werkentwicklung Kierkegaards und Nietzsches, das in dieser Studie allein als exemplarisches Denken im mit Adorno bestimmten Sinne in Betracht kommt. Das vom Pseudonym Anti-Climacus formulierte Wissen um die Bedeutung der Liebe des Gott-Menschen, dessen Schrift Einübung im Christentum 1 in den folgenden Abschnitten bestimmter analysiert wird, da hier die Mitleidskritik Kierkegaards von ihrer Berechtigung her gedacht wird, hat strukturell auf das Werkganze besehen eine analoge Funktion wie Nietzsches Also sprach Zarathustra. Beide Werke orientieren die ethisch motivierte Kritik am menschlichen Mitleid in ihrem Ausgangspunkt an einem gegebenen, ›über-menschlichen‹ Mitleid: dem Gott-Menschen bzw. Zarathustra. Die Bedeutung dieser Liebe allerdings ist direkter Mitteilung inkommensurabel. Diese ›Liebe über dem Mitleid‹ wird – vor allem wohl aufgrund mitteilungstheoretischer Schwierigkeiten – dem natürlichen Mitleid

Die Schrift Einübung ist in drei Teile untergliedert, welche je die Exegese von Christus-Worten zum Inhalt haben: Der erste Abschnitt hat die Einladung und den Einladenden im Blick (basierend auf Mt 11,28), der zweite Abschnitt bespricht die Möglichkeit des Ärgernisses, wobei eine unwesentliche von zwei wesentlichen Weisen seiner Verwirklichung unterschieden wird, und der dritte Abschnitt schließlich bespricht die Verheißung Christi, dass er von der Herrlichkeit alle zu sich ziehen will. Eine historisch-systematische »Einführung und Erläuterung« in die zentralen Themen dieses Werks bietet Gerdes (1982). 1

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unversöhnlich gegenübergestellt. 2 Und es ist gerade dieser Bedeutungsentzug dieser Liebe, der durch die Mitteilungsstrategien exemplarischen Denkens redupliziert wird und zu ihrem Ziel führt. Jene ›Liebe über dem Mitleiden‹ will den Menschen nach ihrem Bilde umschaffen (III.3.1). Anti-Climacus initiiert – wie es der folgende Abschnitt veranschaulicht – das christologische Motiv der Umschaffung des Menschen. Im Anschluss an die Klärung dieses Befundes wird Nietzsches atheistische Adaption dieses Motivs ausgehend von Jenseits analysiert. Es ist beachtlich, dass Nietzsche den ethischen Gehalt von Anti-Climacus’ Christologie zu ›sehen‹ scheint und sie in die Essenz des »Einsamen« aufhebt, dem allein Zarathustras Mitleid gilt. 3 Aus diesen Analysen wird hervorgehen, dass die positive BedeuEs ist kaum der Erwähnung wert, dass Kierkegaards Christologie auf die »Verwandtschaft« des Menschen mit dem Gott-Menschen baut. »Lehre des Christentums ist die Lehre vom Gott-Menschen, von der Verwandtschaft zwischen Gott und Mensch, aber wohlgemerkt so, daß die Möglichkeit des Ärgernisses, wenn ich so sagen darf, die Garantie ist, wodurch Gott sich sichert, daß der Mensch ihm nicht zu nahe kommen kann.« (KzT – 169) Das »Pathos der Distanz« Nietzsches ist das selbstverantwortliche, atheistische Pendant zu diesem Satz und klingt im Zarathustra zum Beispiel so: »›Warum so hart! – sprach zum Diamanten einst die Küchen-Kohle; sind wir denn nicht Nah-Verwandte?‹ – / Warum so weich? Oh meine Brüder, also frage i c h euch: seid ihr denn nicht – meine Brüder? / Warum so weich, so weichend und nachgebend? Warum ist so viel Leugnung, Verleugnung in eurem Herzen? So wenig Schicksal in eurem Blicke? / Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Unerbittliche: wie könntet ihr mit mir – siegen? / Und wenn eure Härte nicht blitzen und scheiden und zerschneiden will: wie könntet ihr einst mit mir – schaffen? / Die Schaffenden nämlich sind hart.« (Z – 268) Diese vorausgesetzte »Verwandtschaft« bzw. »Verbundenheit« der Menschen mit jenen Geistes-Größen soll anzeigen, dass es nicht vorranging das »Bewusstsein« oder der »Verstand« ist, der den Menschen als Menschen auszeichnet. 3 Entsprechend lässt sich etwa jene Passage aus Vom freien Tode interpretieren: »Glaubt es mir, meine Brüder! Er starb zu früh; er selber hätte seine Lehre widerrufen, wäre er bis zu meinem Alter gekommen! Edel genug war er zum Widerrufen! / Aber ungereift war er noch. Unreif liebt der Jüngling und unreif hasst er auch Mensch und Erde. Angebunden und schwer ist ihm noch Gemüth und Geistesflügel. / Aber im Manne ist mehr Kind als im Jünglinge, und weniger Schwermuth: besser versteht er sich auf Tod und Leben.« (Z – 95) Es hat beinahe etwas Komisches, Nietzsche so eindringlich ›zeigen‹ zu sehen. Nietzsche war zur Abfassung seines Zarathustra etwa 40 Jahre alt, der historische Jesus nach Überlieferungen etwa 30. Auch ließe sich an die Intention des Kapitels Das Honig-Opfer denken, darin Nietzsche Zarathustra das christologische Gabetheorem umwerten lässt: In vollkommener Zurückgezogenheit, auch hinter dem Rücken seiner Tiere, ja allen moralisch belasteten Lebens, spricht Zarathustra verschmitzt in sich hinein: »Dass ich von Opfern sprach und Honig-Opfern, eine List war’s nur meiner Rede und, wahrlich, eine nützliche Thorheit! Hier oben darf ich schon freier reden, als vor Einsiedler-Höhlen und Einsiedler-Hausthie2

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tung des Mitleidsaffektes in seiner Inversion liegt. Dieser im Abschnitt II.3.1 herausgestellte Sinn des Mitleids, aus dem die Umschaffung des Menschen resultierte, wird im Abschnitt III.3.2 ausgehend von Einübung vertieft auseinandergelegt. Während Nietzsche den Effekt der Invertierung des Mitleids in die textliche Anlage seines Werks selbst implementiert durch ein angewandtes Pathos der Distanz, so lagert Anti-Climacus den Sinn dieser Umkehr aus in die dynamisch erwogene Bedeutung der Begegnung göttlichen und menschlichen Mitleids. Die Schärfe der Mitleidskritik beider Denker kulminiert in dem von Nietzsche verbalisierten, allerdings auch von Kierkegaard der Sache nach gesehenen Motiv einer Rache am Zeugen (III.3.4). Sie ist sowohl bei Kierkegaard als auch bei Nietzsche die Voraussetzung des ›Gottes-Mordes‹, der – wie die anstehenden Exegesen freilegen werden – weniger als ein punktuelles historisches Ereignis zu verstehen ist als vielmehr als eine sozial-psychologische Dynamik, die jederzeit im Kleinen und Großen ausufern kann und latent die Stabilität des Allgemeinen bedroht. Er ist ein Effekt – das ist das Entscheidende – der mitunter abgründig verletzenden Bedeutung nur menschlichen Mitleids selbst. Ausgehend von diesem Motiv lässt sich Hamburgers Einschätzung des Mitleids als eines »ethisch neutralen« Phänomens verschärfen zu einem Imperativ: Mitleid hat – bei idealer Durchführung seiner ihm wesentlichen Prämissen – ethisch neutral zu sein, da – zumindest in den Darstellungen der drama kings Kierkegaard und Nietzsche – seine nicht geistig unterschiedene Bedeutung soweit reichen kann, dass der es Erfahrende aufgrund der spezifisch zudringlichen Qualität des Mitleids ›ausschlägt‹, um sich Luft zu machen. Feststeht, dass für Kierkegaard im Gott-Menschen und für Nietzsche in Zarathustra die Bedeutung des Mitleids geistig unterschieden wurde: der potentielle Rächer am Zeugen als ein »ungewöhnlicher Mensch« im eminenten Sinne findet in deren Leidensweg eine zwar unsichtbare, aber doch orientierende Spur. 4 ren. / Was opfern! Ich verschwende, was mir geschenkt wird, ich Verschwender mit tausend Händen: wie dürfte ich Das noch – Opfern heissen!« (Z – 296) Die darauf folgenden, erziehungstheoretischen Sequenzen können als eine Reminiszenz an die Verheißung Christi, von seiner Herrlichkeit zu sich zu ziehen, gedeutet werden, die in Anti-Climacus’ Darstellung wiederum den Umschlagspunkt seiner Mitleidskritik anzeigt. 4 Der zentrale Text, in dem Nietzsche diesen Gedanken aufbereitet, um auf die Leistung seines Zarathustra zu verweisen (dessen Protagonist um ein Haar an der ihm in den Hals gekrochenen Schlange erstickte), steht wiederum in Jenseits und leitet sich Modulationen der Einsamkeit

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III.3.1 Die Umschaffung des Menschen (EC/Z/JGB) Anti-Climacus ›weiß‹, was göttliches Mitleid, die Liebe Gottes zum Menschen, die sich in seiner Menschwerdung manifestiert, ist und was sie will. Es wird mit dem Mitleid des natürlichen Menschen als ein wie folgt: »Je mehr ein Psycholog – ein geborner, ein unvermeidlicher Psycholog und Seelen-Errather – sich den ausgesuchteren Fällen und Menschen zukehrt, um so grösser wird seine Gefahr, am Mitleiden zu ersticken: er hat Härte und Heiterkeit n ö t h i g , mehr als ein andrer Mensch.« (JGB – 223) Nietzsche bezeichnet hier als »höhere Menschen«, was in Schopenhauer als Erzieher noch als »ungewöhnlicher Mensch« benannt wurde, der an der Moral zugrunde ging: nämlich etwa Heinrich von Kleist (vgl. ebd.). Nietzsche hält im fortlaufenden Text noch einmal fest: »welche M a r t e r sind diese grossen Künstler und überhaupt die höheren Menschen für Den, der sie einmal errathen hat!« (JGB – 224), wobei er im Folgenden den Affekt des Mitleids geschlechtsspezifisch auslotet, einen »weiblichen« und implizit einen »männlichen« Umgang mit diesem Affekt unterscheidet. Das »weibliche« Mitleiden allerdings, das sich durch besonderes Einfühlungsvermögen und Gespür für die Schicksale von Ausnahme-Menschen auszeichnet und »über seine Kräfte hinaus hülfund rettungssüchtig« ist, dieses »Mitleiden täuscht sich regelmässig über seine Kraft; das Weib möchte glauben, dass Liebe A l l e s vermag, – es ist sein eigentlicher G l a u b e .« (JGB – 224) Der hier als androgyn zu denkende Psychologe, der »Wissende des Herzens erräth, wie arm, dumm, hülflos, anmaaslich, fehlgreifend, leichter zerstörend als rettend auch die beste tiefste Liebe ist!« (JGB – 224 f.) Das ist das Signal, welches ein »männliches« Mitleid erforderlich macht, wenn anders die zerstörenden Wirkungen einer unmittelbar zupackenden Liebe abgewehrt werden sollen. Dieses Mitleid müsste Strategien entwickeln, dem Objekt seiner Begierde nicht die Karten auf den Tisch zu legen, dem Objekt der Begierde müsste ein Raum gewährt werden, der vor dem Zwang zur Kommunikation schützt. In diesem Zusammenhang kommt Nietzsche auf den historischen Jesus zu sprechen als einer Möglichkeit des (männlichen) Wissens um die Liebe (vgl. JGB – 225), die – in Nietzsches Darstellung – rasend über die Impotenz von Liebe wird und Dinge erfindet (= Werte setzt), die dem Schmerz des Entzugs vorbeugen: etwa »einen Gott […], der ganz Liebe, ganz Liebenk ö n n e n ist, – der sich der Menschen-Liebe erbarmt, weil sie gar so armselig, so unwissend ist!« (JGB – 225) Diese Möglichkeit ist wie gesehen die eines jungen Mannes, eines Jünglings (vgl. Z – 95). Nietzsche, wenn man ihn mit jenem Psychologen identifizieren darf, der am Mitleid zu ersticken droht angesichts des regelmäßigen Zugrundegehens feineren menschlichen Lebens, stellt ihr – da er nicht anders kann, als solch »schmerzlichen Dingen« (JGB – 225) nachzuhängen, immer wieder schwach wird – mit seinem Zarathustra eine andere entgegen. Nietzsche resümiert im Ecce Homo: »Die Überwindung des Mitleids rechne ich unter die v o r n e h m e n Tugenden: ich habe als ›Versuchung Zarathustra’s‹ einen Fall gedichtet, wo ein grosser Nothschrei an ihn kommt, wo das Mitleiden wie eine letzte Sünde ihn überfallen, ihn von s i c h abspenstig machen will. Hier Herr bleiben, hier die Höhe seiner Aufgabe rein halten von den viel niedrigeren und kurzsichtigeren Antrieben, welche in den sogenannten selbstlosen Handlungen thätig sind, das ist die Probe, die letzte Probe vielleicht, die ein Zarathustra abzulegen hat – sein eigentlicher B e w e i s von Kraft …« (EH – 270 f.)

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absolut unvereinbar behauptet und definiert als ein buchstäbliches Sichgleichsetzen mit dem Niedrigsten (vgl. EC – 96). 5 Die experimentell zugespitzte Verlassenheitsstruktur des Ausnahmetheorems wurde in Stadien veranschaulicht durch das Gebundenbleiben an die sozial determinierte Wirklichkeit. Aufgrund seines Mitleids mit ›ihr‹ konnte Quidam sich nicht lösen von der Welt und also religiös in sich geheilt werden. Als Erlösung von der die Verzweiflungsstruktur des Menschen bedingenden, moralisch verfassten Sozialwelt kommt allein die sich an jeden »Einzelnen« besonders richtende – die natürlichen Differenzen in ihrer Gänze aufhebende – Liebe Christi in Frage. 6 Gottes Auffassung von Liebe und Mitleid ist der menschlichen, so Anti-Climacus’ ideale Sicht auf die Sache, diametral entgegengesetzt, sie wider-spricht mit jedem Wort: Und aus Liebe wird er [Gott, R. R.] Mensch. Er ist die Liebe, und doch muß er in jedem Augenblick, in dem er auf Erden ist, alles menschliche Mitleid und alle menschliche Fürsorge gleichsam kreuzigen – denn er kann nur der Gegenstand des Glaubens werden. Alles aber, was nur menschliches Mitleid ist, steht in Beziehung zur direkten Kenntlichkeit. (EC – 159)

Das wahre Sigel der Humanität, nach dem schon in Stadien gesucht wurde, welche die naturgemäße Ungleichheit zwischen den Menschen überwindet und also die theoretischen Schwachpunkte des Ausnahmetheorems überbrückt, kann nur von der sich an jeden Einzelnen im Besonderen richtenden Liebe Gottes gestiftet werden. In der »Christenheit« allerdings schafft nicht der Mensch sich um am Vorbild, sondern der natürliche Mensch schafft Gott nach seinen Auffassungen von Mitleid selbst um zu einer mit der Welt ungefähr kommensurablen Größe. So heißt es lapidar, dass mit der Einladung an alle, die mühselig und beladen sind, das Christentum nicht in die Welt kam »als ein Prachtexemplar milder Trostgründe«, »wie es der Pfarrer weinerlich und unwahrhaftig einführt«, »sondern als das Absolute«. »Aus Liebe will es Gott so, aber Gott will es, und er will das, was er will. Er will nicht von dem Menschen zu einem freundlichen – Für diesen Kontext ist diese Bestimmung hinreichend. Bestimmtere Attribute werden in Abschnitt III.3.2 analysiert. 6 Fragt man, wie denn konkret sich die Orientierung an dieser »Liebe« äußern soll, erhält man zumindest vom Anti-Climacus der Einübung eine vor den Kopf stoßende Antwort. Die »christliche Sitten- und Pflichtenlehre« als »Forderung des Christentums« an jeden Einzelnen lautet: »der Welt absterben, das Irdische aufzugeben, sich selbst zu verleugnen« (EC – 259). 5

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menschlichen – Gott umgeschaffen werden: er will die Menschen umschaffen, und zwar aus Liebe.« (EC – 99) Hier stehen sich zwei Auffassungen von Mitleid gegenüber. 7 Die Aufhebung des Unterschieds wird einer Größe überantwortet, die dem Begriff nicht zugänglich ist. Damit wird in dieser anti-begrifflichen Konstruktion Am konzisesten fasst Anti-Climacus den Unterschied von menschlichem und göttlichem Mitleid in seiner absoluten Unversöhnlichkeit dort, wo er Mt 16,21 ff. mitleidstheoretisch analysiert. Darin wird die Reaktion des Jüngers Petrus auf den angekündigten, freiwilligen Leidensweg geschildert. »Jesus« als göttliches Mitleid im Vollzug und »Petrus« als die »liebenswürdigste Ausgabe menschlichen Mitleids« (EC – 144) ärgern sich wechselseitig aneinander. Petrus bittet Jesus, dass Gott das angekündigte Geschick (Leid, Tod nebst Auferstehung nach dem dritten Tage) abwenden solle, dass Jesus das Angekündigte nicht widerfahren dürfe, er sich schonen solle. Jesus entgegnet hart: »Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen! Du willst mich zu Fall bringen; denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen.« Durch die Kommentierung dieser drastischen Affektkollision will Anti-Climacus die unwillkürlichen Dynamiken des Geschöpflichen am Einzelnen, seine Natürlichkeit kassieren, indem das absolute Schwergewicht auf den geistigen Existenzvollzug gelegt wird. In diesem Zusammenhang werden von Anti-Climacus Lebensformen, die sachlich von heidnischem Ideengut zehren, abgewehrt: »Ehe« und »Freundschaft« verweichlichten den Charakter, nährten das Selbstische an ihm, dienten bloß der gegenseitigen Schonung. »Wenn sich daher ein Mensch, der immerhin nach einem anständigeren Maßstabe das Gute will, nicht fast übermenschliche Überlegenheit zutraut, so möge er, indem er sich in Furcht und Zittern an Gott hält, um alles in der Welt die Vorsicht anwenden, keinen Freund zu besitzen; denn wäre Christus nicht Christus gewesen, so hätte vermutlich Petrus gesiegt.« (EC – 143) AntiClimacus reagiert in einer Art Selbstreflexion auf einen fingierten Vorwurf, nachdem er festgehalten hat, dass seine Auffassung von Christentum dem natürlichen Menschen als »Menschenfeindlichkeit« erscheinen müsse, der von einer durch Pfarrer indoktrinierten milderen Auffassung des Christentums diktiert wird: »Wie kannst du dir auch nur einen Augenblick einbilden, daß das, worauf ein paar verdächtige, fahle und menschenfeindliche Einsiedler, die keinerlei Sinn für das Weibliche besitzen, verfallen sind, Christentum sein sollte?« (EC – 143) Dass auch Kierkegaard hier durch Anti-Climacus unverhofft auf »das Weibliche« zu sprechen kommt, sollte angesichts der Unterscheidung Nietzsches zwischen weiblichem (Petrus) und männlichem Mitleid (Jesus/Nietzsche) zu denken geben, vor allem in Hinsicht auf die Wirkung ihrer indirekten, durch heftige Rückstöße anziehenden Mitteilungsstrategien. Jene Kollision zwischen Jesus und Petrus findet im Übrigen ihre auf das ZarathustraReich umgemünzte, etwas mildere (!) Entsprechung bei Nietzsche im Kapitel Der Wahrsager, in welchem ein Jünger eine an und für sich sehr plausible Deutung der seinen Leidensweg ankündigenden abgründigen Nacht-Gesichte Zarathustras abgibt, die dieser allerdings non-verbal ablehnt. Die Essenz von Zarathustras bevorstehendem Weg will sich nicht auf den Begriff bringen lassen. Die letzten Worte dieser Passage lauten: »Also sprach Zarathustra. Darauf aber blickte er dem Jünger, welcher den Traumdeuter abgegeben hatte, lange in’s Gesicht und schüttelte dabei den Kopf. –« (Z – 176)

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gleichzeitig die zwischenmenschliche Verantwortung in eine Sphäre ausgelagert (»einsamste Einsamkeit«), die in ihrer spezifischen normierenden Bedeutung für das soziale Miteinander intersubjektiv unkommunizierbar bleibt, obschon allein durch sie haltbare Orientierung gestiftet werden soll. Das nietzschesche Analogon zu dieser idealen Aufhebung des ausnahmetheoretischen Bauzeugs in seinen ursprünglichen Anstoß – den Zerfall der Isolation in eine ideale Gemeinschaft – steht im Zarathustra im Kapitel Von den Mitleidigen: [A]lle grosse Liebe ist noch über all ihrem Mitleiden: denn sie will das Geliebte noch – schaffen! / ›Mich selber bringe ich meiner Liebe dar, u n d m e i n e n N ä c h s t e n g l e i c h m i r ‹ – so geht die Rede allen Schaffenden. Alle Schaffenden aber sind hart. – (Z – 116)

Dabei ist bemerkenswert, dass die schaffende Liebe, wie Gott im voranstehenden Anti-Climacus-Zitat, hierarchisch über der Sphäre der Moral steht, wobei »Liebe« bei beiden Denkern unbedingt kommandierenden Charakters ist, was aus dem Zitat daraus erhellt, dass der Schaffende bloß Medium dieser Liebe ist, die ihn als Instrument zu ihrer Verwirklichung ›benutzt‹. Der Schaffende ›opfert‹ sich 8 und seine Nächsten als diejenigen Verbundenen, die womöglich für dieselben Ziele in Sachen »Geist« in Frage kommen, entsprechend seiner Liebe freiwillig-unfreiwillig. Die Intention dieser Liebe wird dadurch zugespitzt, dass der sich derart als Schaffender Selbstaffirmierende sein Tun nicht intentional, mit seiner kleinen Vernunft sozusagen, kommentiert, sondern sich diese Selbstaffirmation aus ihm heraus unwillkürlich sagt: Er ent-spricht sich gänzlich, indem ihm die Rede geht. 9 Dieser Auszug findet seine konkrete Anwendung im Schaffen von Also sprach Zarathustra selbst, und hat seinen komprimierten theoretischen Ausdruck im Abschnitt 225 von Jenseits von Gut und Bereits in dem in dieser Studie als die Fortsetzung der Ausnahmetheorie, so wie sie in Schopenhauer als Erzieher angelegt ist, ausgelegten Kapitel Vom Wege des Schaffenden heißt es dazu, anzeigend, dass jedem Ausnahmeprozess zuletzt, will er – um einen moralischen Ausdruck in einem übermoralischen Sinne zu nehmen – »berechtigt« sein, ein Moment innewohnen muss, der dieses moraldestruierende Tun entschuldigt: »Einsamer, du gehst den Weg zu dir selber! Und an dir selber führt dein Weg vorbei und an deinen sieben Teufeln!« (Z – 82) Auch hier wird die Verantwortung einer alles menschliche bedingenden Größe in die Hand gespielt. 9 Nietzsche wird in Ecce Homo bekanntlich nicht wenig Mühe aufwenden, um seinen Zarathustra als das Resultat eines Inspirationserlebnisses zu behaupten (vgl. EH – 339 ff.). 8

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Die ›Liebe über dem Mitleiden‹

Böse, zu dessen Interpretation hier übergegangen werden kann. 10 Nietzsche führt die christologische Mitleidskonzeption des Anti-Climacus, die in unversöhnlichen Auffassungen von »Leid« und »Mitleid« ihren Sinn manifestiert, der Sache nach atheistisch fort, wenn er im Abschnitt 225 von Jenseits »Mitleid also g e g e n Mitleid« (JGB – 161) setzt, indem er den Gegensatz zwischen Schöpfer und Geschöpf im modernen Leib intrasubjektiv bewahrt. In diesem Abschnitt wird die bereits vorbereitete Opposition »Leid« gegen »Leid« und »Mitleid« gegen »Mitleid« programmatisch ausgetragen, welche auch in Kierkegaards Einübung die Kritik des Mitleidsaffekts trägt. 11 Nietzsche leitet seine Gedanken ein mit der Behauptung, dass alle Philosophien, welche den »Wert der Dinge« nach »L u s t und L e i d « bemessen, »Vordergrunds-Denkweisen und Naivetäten« seien, welche keine Einsicht in die Dynamik »g e s t a l t e n d e r Kräfte« haben und von keinem »Künstler-Gewissen« diktiert scheinen, und suggeriert damit, dass sein Blick in die Welt und die in ihr Wollenden diese oberflächliche Sicht überbieten kann. Ausgehend von diesen unterschiedenen Weltdeutungen, wovon eine als oberflächlich entwertet und die andere unausdrücklich als tiefgründig gewürdigt wird, entwickelt Nietzsche vordergründig nicht, wie zu erwarten steht, eine genauere Begründung seiner These: Man erfährt explizit nichts Näheres über die adäquate Bewertung von Dingen durch diejenigen, die sich gestaltender Kräfte und eines Künstlergewissens bewusst sind. Vielmehr lässt sich Nietzsche unwillkürlich ein auf eine Diskussion, deren Gegenstand die Ansichten der Vordergrunds-Denkweisen sind, und kommentiert die Position seines Gegenübers entwertend deswegen, um via negationis einen positiven Mitleidsbegriff freizulegen. Ob Hedonismus, ob Pessimismus, ob Utilitarismus, ob Eudämonismus: alle diese Denkweisen, welche nach L u s t und L e i d , das heisst nach Begleitzuständen und Nebensachen den Werth der Dinge messen, sind VorderVorab kann daran erinnert werden, dass Nietzsches Kritik der schopenhauerischen Übernahme der kantischen Ästhetik zwei Perspektiven auf Kunst unterschied: die Perspektive des Zuschauers von der des Schaffenden (vgl. GM – 346). Das Objekt von Nietzsches Kunsttrieb ist in seiner Verwandlung des schopenhauerischen Mitleids zum Pathos der Distanz der Mensch als zu Schaffender. 11 Die in Stadien einigermaßen vage errichtete Dualität »De te narratur fabula« vs. »Statistiken« und »körperliches Leid vs. Sünde« hat nun in Einübung ihren eindeutigen, legitimierenden Maßstab. »Göttliches vs. menschliches Mitleid« und Leid, wie es der natürliche Mensch versteht (leiblich), im Gegensatz zu Leid, wie es Gott versteht (geistig) und dessen Ausdruck ist: »Sünde« (vgl. EC – 94–98). 10

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Die Umschaffung des Menschen (EC/Z/JGB)

grunds-Denkweisen und Naivetäten, auf welche ein Jeder, der sich g e s t a l t e n d e r Kräfte und eines Künstler-Gewissens bewusst ist, nicht ohne Spott, auch nicht ohne Mitleid herabblicken wird. (JGB – 160)

Zur Debatte steht also die an die Tiefenstrukturen des Lebens rückgebundene ethische Frage, anhand welcher Kriterien der Wert der Dinge zu bemessen sei. Zur Bewertung von Dingen bedarf es stets eines Maßstabs. Nietzsche kennt zwei Alternativen, den Wert von Dingen auszuloten: eine explizit oberflächliche – diese bemisst den Wert der Dinge nach Lust und Leid, die als Begleitzustände abgewertet werden – und eine unausdrücklich tiefgründige: Der Maßstab dieser Wertungsweise wird dadurch bestimmt, dass er sich gestaltender Kräfte und eines Künstlergewissens bewusst ist, wobei diese Attribute, näher an den Dingen bzw. zur präziseren Erfassung des Wertes der Dinge in der Lage, eine distanziertere, gleichgültigere, kühlere Einschätzung der Begleiteffekte – Lust und Leid – zum Ausdruck bringen sollen. Nietzsche bewährt sich im fortlaufenden Text performativ als jemand, der sich gestaltender Kräfte bewusst ist und sich dem übermoralischen Gebot seines Künstler-Gewissens unterstellt. Er fährt fort – nachdem seine Rede sich einmal ›herabgelassen‹ hat, um mit der Auffassung des Gegenüber in Kommunikation zu treten – sein Mitleid näher zu konturieren, indem er sich über es ausschweigt und das Mitleid der oberflächlichen Denker näher in den Blick nimmt. Folgende kalte, rabiate, unmenschliche Perspektive auf die Jetzt-Welt könnte auch aus der Feder Kierkegaards stammen, 12 wenn auch das alternative »Wohin« entgegengesetzten Geistes ist: Vgl. hierzu die informativen Betrachtungen Ritters (2013), der zunächst und vor allem Schopenhauers Mitleidsphilosophie vor dem sozialpolitischen Hintergrund der philanthropischen Bestrebungen des 19. Jahrhunderts als tätigen und also reale Wirkungen zeitigenden Mitleids kommentierend auslegt. Auch Kierkegaard beobachtet diese Tendenzen, die der Tat nach mit dem Namen des bald zum Grafen Rumford geadelten Benjamin Thompson und auf ästhetischem Gebiet mit dem Romancier Eugène Sue – dieser verfasst Romane über die Welt der Armen und wird wie Ersterer damit einen großen Reichtum einfahren – verbunden sind. Kierkegaard sind diese Bestrebungen allerdings – hierin mit Nietzsche im Gegensatz zu Schopenhauer trotzig ›antimodern‹ – ein Gräuel, weil sie von einer verachtenswerten, geistlosen Charakterarmut zeugen. So hält Ritter, Kierkegaards Tagebuchaufzeichnung von 1851 besprechend, vor dieser historischen Folie zu Recht fest, dass dem kierkegaardschen Verständnis nach das »moderne Mitleid […] eine Gefahr für das Christentum« war (Ritter (2013), S. 102). Die durch ästhetische Medien politisch organisierte Sympathie war für Kierkegaard alles andere als Ausdruck von Humanität, sondern vielmehr Symptom der abgründigen Ratlosigkeit in Anbetracht der Frage, was der Mensch sei (vgl. ebd., S. 103).

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Mitleiden mit e u c h ! das ist freilich nicht das Mitleiden, wie ihr es meint: das ist nicht Mitleiden mit der socialen ›Noth‹, mit der ›Gesellschaft‹ und ihren Kranken und Verunglückten, mit Lasterhaften und Zerbrochnen von Anbeginn, wie sie rings um uns zu Boden liegen; das ist noch weniger Mitleiden mit murrenden gedrückten aufrührerischen Sklaven-Schichten, welche nach Herrschaft – sie nennen’s ›Freiheit‹ – trachten. U n s e r Mitleiden ist ein höheres fernsichtigeres Mitleiden: – wir sehen, wie d e r M e n s c h sich verkleinert, wie i h r ihn verkleinert! – und es giebt Augenblicke, wo wir gerade e u r e m Mitleiden mit einer unbeschreiblichen Beängstigung zusehn, wo wir uns gegen dies Mitleiden wehren –, wo wir euren Ernst gefährlicher als irgend welche Leichtfertigkeit finden. (JGB – 161)

Bemerkenswert an dieser Passage ist also, dass die vom Leser erwartete Erläuterung dessen, was das Mitleid der Wir-Gruppe ist, enttäuscht wird. Es wird nur negativ abgegrenzt von einem zeitgemäßen Mitleid, das seinen Gegenstand aus unmittelbarer Anschauung, sinnlicher Affektion erhält und doch an Abstrakta klebt (»sociale ›Not‹«, »Gesellschaft«, »Freiheit«), und schließlich als »höheres fernsichtigeres Mitleiden« gesetzt. 13 Dieses höhere und fernsichtigere Mitleid wiederum – das ist entscheidend – scheint nicht identisch zu sein mit dem Mitleiden, welches in dem Ausruf »Mitleiden mit euch!« bezeichnet war. Zwar wurde die Wir-Gruppe, deren Stimmführer Nietzsche ist, von ihrem erhabenen Oben herabgelockt; etwas hat den Rede- und Gedankenfluss sinnlich angestoßen, eingeleitet und stimuliert, eben ein Mitleid, um unwillkürlich sich in die Niederungen oberflächlicher Wertungsweisen einzulassen. Unter der Hand hat sich die unmittelbare Verbundenheit der Wir-Gruppe zur Ihr-Gruppe ausgehärtet, und der Gegenstand des Mitleids ist seines Anstoßes entrückt worden. Wäre die Intention des gespenstisch-subjektlosen, höheren, fernsichtigeren Mitleids identisch mit jenem unmittelbaren Mitleid der Wir-Gruppe mit der Ihr-Gruppe, so wäre die entrückende Verfremdungsstrategie des spezifisch positiven und also gewürdigten Kerns des Mitleids unnötig. Es scheint, als vollzöge sich zwischen den Worten der als heterogen inszenierten Standpunkte zwischen den So abstrakt sich dieses Mitleid ausnimmt, so hat es doch eine reale Basis in Nietzsches Empfinden und Denken: Nietzsche kommentiert in einem Brief an Overbeck das Sich-verkannt-Fühlen durch Erwin Rhode wie folgt: Er sei sich sicher, dass Rhode ihn in einem tieferen Sinne nicht verstehe, und zugleich froh, dass das Missverständnis nicht noch gravierender ist; aber Rohde sei »ausser Stande, etwas von mir zu lernen – er hat kein Mitgefühl für meine Leidenschaft und Leiden. –« (KSB 6, Nr. 210 – S. 180)

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›Ihr‹ und ›Wir‹ ein Umschlag der Bedeutung von »Mitleid«, als verschlüge es Nietzsche angesichts des Kontexts, dem Zwang zu direkter Mitteilung, die Sprache, sobald er zu thematisieren trachtet, was denn nun sein Mitleid im positiven Sinne mit den ›Ihr‹ wäre; als müsste er dieses »Mitleid« auf Distanz halten, um dessen Bedeutung nicht zu entstellen, als dürfe er es nicht direkt kommunizieren, weil es sonst seinen Sinn und spezifischen Charakter verlöre – und kein Ausdruck gestaltender Kräfte mehr wäre, geschweige denn als von einem Künstlergewissen diktiert sich erwies; die Bedeutung des positiven Mitleids scheint zwischen dem Schlagabtausch der inszenierten Standpunkte ›suspendiert‹ ; dies allerdings scheint intentionaler Bestandteil jenes eigentümlich namenlosen Mitleids selbst zu sein. Das Gemeinte kann auf folgenden Begriff gebracht werden: das Mitleid der ›Wir‹ mit den ›Ihr‹ bezeichnet etwas in ihnen, das nicht als sie selbst angesprochen werden kann, es ist nicht-identisch mit den Vorstellungen ihrer Subjektivität, ihres Wissens um Gut und Böse. Diese semantische Entziehungskur hat ihr Analogon im Diktum Anti-Climacus’, der behauptete, dass Jesus als die Liebe zum Menschen schlechthin aus Liebe jeden Augenblick seiner irdischen Existenz »alles menschliche Mitleid und alle menschliche Fürsorge gleichsam kreuzigen« musste, um ein Gegenstand des Glaubens werden zu können. Im Folgenden thematisiert Nietzsche den Gegenstand von »Mitleiden«, das »Leid«, und polarisiert den heterogenen Umgang der ›Wir‹ und ›Ihr‹ mit diesem Phänomen. Dabei wird deutlich, wie ein tragendes Argumentationsstrategem des Anti-Climacus, der aus der Kreuzigung des ans Animalische angebundenen Verstandes komprimierte Leidensdruck, bei Nietzsche in die Tiefenstruktur des modern gedachten Einzelleibes als eines Gesellschaftsbaus vieler Seelen, welcher sich konstituiert durch ein intrasubjektives Agon verschiedener Herren- und Sklavenmoralen, integriert wird. Ihr wollt womöglich – und es giebt kein tolleres ›womöglich‹ – d a s L e i d e n a b s c h a f f e n ; und wir? – es scheint gerade, w i r wollen es lieber noch höher und schlimmer haben, als je es war! […] Die Zucht des Leidens, des g r o s s e n Leidens – wisst ihr nicht, dass nur d i e s e Zucht alle Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen hat? Jene Spannung der Seele im Unglück, welche ihr die Stärke anzüchtet, ihre Schauer im Anblick des grossen Zugrundegehens, ihre Erfindsamkeit und Tapferkeit im Tragen, Ausharren, Ausdeuten, Ausnützen des Unglücks, und was ihr nur je von Tiefe, Geheimniss, Maske, Geist, List, Grösse geschenkt worden ist: – ist es Modulationen der Einsamkeit

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nicht ihr unter Leiden, unter der Zucht des grossen Leidens geschenkt worden? Im Menschen ist G e s c h ö p f und S c h ö p f e r vereint: im Menschen ist Stoff, Bruchstück, Überfluss, Lehm, Koth, Unsinn, Chaos; aber im Menschen ist auch Schöpfer, Bildner, Hammer-Härte, Zuschauer-Göttlichkeit und siebenter Tag: – versteht ihr diesen Gegensatz? Und dass e u e r Mitleid dem ›Geschöpf im Menschen‹ gilt, dem, was geformt, gebrochen, geschmiedet, gerissen, gebrannt, geglüht, geläutert werden muss, – dem, was nothwendig l e i d e n muss und l e i d e n s o l l ?

Nietzsche unterscheidet hier das Objekt des Mitleids. Die ›Ihr‹ leiden mit der Kreatur, dem Tierischen im Menschen mit, die ›Wir‹ offenbar – n i c h t . – Suggeriert, nicht klar ausgesagt wird wiederum, dass das Mitleid der Wir dem »Schöpfer« im Menschen gilt. 14 Die Ärgernis erregende Struktur der Argumentation des AntiClimacus wird hier in den »Einsamen« selbst verlegt, wobei das ätzende Lästern rund um die gesellschaftlich Schwächeren als Provokation für den Leser bestimmt ist und nicht vorrangig als eine gesellschaftspolitische Einschätzung von Nietzsche gelesen werden muss. 15 Schon in Schopenhauer als Erzieher ist Nietzsche mit diesem Problem befasst. Im fünften Abschnitt dieser Unzeitgemäßen eruiert Nietzsche die Möglichkeit, ob der ideale, schopenhauerische Mensch zu erziehen vermag, indem man sich durch regelmäßige Tätigkeit mit diesem ehernen Ideal in Verbindung setzt. Nietzsche konzediert, »dass unsere Arbeit hier gerade noch kaum begonnen hat, und dass ich nach eignen Erfahrungen, nur Eins bestimmt schon sehe und weiss: dass es möglich ist eine Kette von erfüllbaren Pflichten, von jenem idealen Bilde aus, dir und mir anzuhängen und dass einige von uns schon den Druck dieser Kette fühlen«. (SE – 377) Er verspricht ambitioniert, eine Formel bereitstellen zu wollen, unter welcher er »jenen neuen Kreis von Pflichten zusammenfassen möchte« (SE – 377), wobei er diese Formel über einen Umweg vorbereitet. Dieser Umweg ist deswegen interessant, weil er das Phänomen des Mitleids positiv auslegt in dem Sinne, als »tiefere[] Menschen« stets deswegen mit Tieren mitlitten, da diese am Leben leiden und nicht die Kraft besäßen, »den Stachel des Leidens wider sich selbst zu kehren und ihr Dasein metaphysisch zu verstehen; ja es empört im tiefsten Grunde, das sinnlose Leiden zu sehen.« (SE – 377) Wie im hier besprochenen Abschnitt 225 ist die zentrale, offene Frage die nach dem »Menschen« im Unterschied zum »Tier« (vgl. SE – 378). Ein Leben, das sich im Glücksprinzip (= Hedonismus) orientiert, sei nur ein sublimeres Tierleben, wobei Nietzsche festhält: »wir kommen für gewöhnlich aus der Thierheit nicht heraus, wir selbst sind die Thiere, die sinnlos zu leiden scheinen«. (SE – 378) Also sprach Zarathustra und der hier besprochene Abschnitt aus Jenseits halten mit neuen Mitteln die Frage nach dem Menschen offen, wobei beim späten Nietzsche die Forderung nach einem »Was« der Insistenz im »Wie« weicht. 15 Ingenkamp (1996), der im Übrigen einen konstruktiveren Zugang zu Schopenhauers Liebesauffassung freilegt, indem er von Schopenhauers »dogmatischer« Grundkonzeption absieht, kommt zu einem analogen Ergebnis: »Wer sind sie denn nun, diese Mißratenen, die zugrundegehen sollen? Etwa von vornherein die Kranken, die 14

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Die »Schlechtweggekommenen« etc. können so gesehen als Metapher für das Geschöpfliche im »Einsamen« gelesen werden. Nietzsches Argumentationsgang bewegt sich sichtlich auf normativem, moralischem Boden: Etwas im Menschen soll leiden, darf nicht, wie das Mitleid der ›Ihr‹ es will, umhegt werden. Das freiwillige Leid selbst wird bei Nietzsche als Methode zur Vermenschlichung des Tieres Mensch veranschlagt bzw. das Leidenwollen als die einzige Garantie für den Bestand des Menschen behauptet. Das tierisches Leid affirmierende, positive Mitleid schildert ein selbstquälerisches Szenario, das eine eigenwillige Perspektive auf den Umgang mit asketischen Idealen hat, nämlich eine außermoralische bzw. übermoralische. Der Mitleidsaffekt hat Bedeutung für den Menschen allein durch seine Inversion. 16 »Und u n s e r Mitleid – begreift ihr’s nicht, wem unser u m g e k e h r t e s Mitleid gilt, wenn es sich gegen euer Mitleid wehrt, als gegen die schlimmste aller Verzärtelungen und Schwächen? – Mitleid also g e g e n Mitleid! –« (JGB – 161) Bevor im nächsten Abschnitt gezeigt wird, wie Anti-Climacus die Inversion des Mitleidsaffektes dynamisiert durch die Begegnung des göttlichen mit dem nur menschlichen Mitleid, aus der schließlich der ›Gottes-Mord‹ folgt, von dem aus christlich vermessen ethische Orientierung ausgehen soll, soll Nietzsches Rückzugsstrategie aus der Sphäre der Moral noch in den Blick gebracht werden. Das verworfene Mitleid der ›Ihr‹ ist das Mitleid erster Ordnung, das abstrakte Mitleid des Tieres Mensch mit sich selbst. Dem nun wird ein anderes Mitleid entgegengesetzt, welches selbst wiederum normative StrukKrüppel, die Elenden? Sind sie nicht viel eher die mit der großen Chance, die, die mehr als andere die Möglichkeit haben, ihr Leid zur Schule ihrer Größe zu machen?« (S. 151) 16 Der Sache nach scheint jene bereits zitierte Wendung aus Stadien, die eine religiöse Existenz ›grundlegen‹ sollte, hierher zu gehören: »In der Reue ist der Ruck der Bewegung und darum alles umgekehrt. Dieser Ruck bedeutet eben den Unterschied zwischen dem Aesthetischen und dem Religiösen, als den zwischen dem Äußeren und Inneren. Diese unendlich vernichtende Gewalt der Reue ersieht man am besten daraus, daß sie auch sympathetisch dialektisch ist.« (SL – 507) Während Taciturnus’ Argumentation noch auf begriffliche Substantialität zu bauen wollen scheint, hat das exemplarische Denken Kierkegaards mit Anti-Climacus die Substanz des Subjekts vollständig verflüssigt. In diesem Kontext ist die geschichtsphilosophische Aufbereitung der Möglichkeit von Existenzphilosophie von Marquard (2013) äußerst aufschlussreich; vgl. vor allem das Kapitel 3. Die Abdankung der Wesensbegriffe, die ›Inversion der Teleologie‹ und die ungesättigte Sinnfrage., S. 78–97. Modulationen der Einsamkeit

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tur hat und doch in eine übernormative Ebene verweist. Der Verkleinerung des Menschen muss entgegengearbeitet werden durch die Manipulation des Schöpferischen im Menschen am Geschöpflichen. Nietzsches »Künstler-Gewissen« des »höheren und fernsichtigeren Mitleids«, so wurde festgehalten, suspendiert einen Begriff von »Mitleid« – er ist also allein als entzogener da – und ärgert damit unaufhörlich. Zuletzt hält er fest: »Mitleid also g e g e n Mitleid! – Aber, nochmals gesagt, es giebt höhere Probleme als alle Lust- und Leidund Mitleid-Probleme; und jede Philosophie, die nur auf diese hinausläuft, ist eine Naivetät. –« (JGB – 161) Mit diesem vornehm-pikierten Rück(be)zug auf den Ausgangspunkt des Textes wird auf eine Sphäre verwiesen, die sich direkter Thematisierung entzieht und als unsichtbares Sinngebilde in einen Raum jenseits von Gut und Böse verflüchtigt wird. Nietzsche sät hier im textuellen Gewebe seines Buchs Jenseits von Gut und Böse »Miniatur-Paradoxien«, wobei für Anti-Climacus in der Figur des Gott-Menschen das Paradox einmalig in Erscheinung tritt. Die Paradoxien »ärgern« vor allem zunächst den aufmerksamen Leser und verwirklichen damit den positiven Mitleidsbegriff, dessen Gegenstand nicht anschaulich gegeben ist und sich entsprechend nicht auf einen propositionalen Begriff bringen lässt. Die Bewegung des Aphorismus redupliziert in nuce die Bewegung von Zarathustras Werdegang, 17 der zum Leidensweg des Gott»[A]lle grosse Liebe ist noch über all ihrem Mitleiden: denn sie will das Geliebte noch – schaffen! / ›Mich selber bringe ich meiner Liebe dar, u n d m e i n e n N ä c h s t e n g l e i c h m i r ‹ – so geht die Rede allen Schaffenden. Alle Schaffenden aber sind hart. –« (Z – 116) Das folgende Zitat ist direkter Ausdruck des Pathos der Distanz im Sinne einer Mitteilungsform. Es wird formuliert in Von der Seligkeit wider Willen (worin »Glück« also wieder als gerne angenommener, beiläufiger Effekt, als eine Nebensache und Begleitzustand mitgenommen wird), einem Kapitel nach der letzten Verabschiedung von seinen Freunden, einem Kapitel außerdem, in und ab dem Zarathustra erst allmählich zu seiner Schönheit aufblüht und also anziehend wirkt. »Gefährten suchte einst der Schaffende und Kinder seiner Hoffnung: und siehe, es fand sich, dass er sie nicht finden könne, es sei denn, er schaffe sie selber erst. / Also bin ich mitten in meinem Werke, zu meinen Kindern gehend und von ihnen kehrend: um seiner Kinder willen muss Zarathustra sich selbst vollenden. / Denn von Grund aus liebt man nur sein Kind und Werk; und wo grosse Liebe zu sich selber ist, da ist sie der Schwangerschaft Wahrzeichen: so fand ich’s.« (Z – 203 f.) Folgende Erinnerungen beziehen sich auf die der Durchgangszone Verlassenheit zuzuordnenden Lieder, in denen Zarathustra als Typus Dichter seiner sozialen Bedeutung nach in den Blick kam (vgl. Abschnitt I.4.2.2 und II.2.1). »Aber ich lag angekettet an die Liebe zu meinen Kindern: das Begehren legte mir diese Schlinge, das Begehren nach Liebe, dass ich 17

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Menschen einen Unterschied macht: Er lässt sich von seinem jenseits der sozialdeterminierten, moralischen Weltbetrachtung liegenden Lebenselement herab zu den Menschen, verteilt sein »Wissen« und wird doch nur missverstanden, stößt also nicht auf ihn nachhaltig an den »Menschen« bindende Anerkennung, um dann über die keinen Halt stiftende, moralisch konstituierte Form »Mensch« hinausgetrieben zu werden. Sowohl der von Anti-Climacus gedichtete GottMensch als auch Zarathustra sind zuletzt Gegenstand von die Güte der gegebenen Moral unterlaufender Auseinandersetzung, insofern der Sinn ihrer Liebe anti-begrifflich konzipiert ist – im Hier und Jetzt findet sie keinen Halt.

III.3.2 Die Inversion des Mitleidsaffekts (EC/Z/JGB) Es wurde gezeigt, dass bereits der frühe Nietzsche in Schopenhauer als Erzieher die Vorstellung einer Inversion des Mitleidsaffektes kannte, was indirekt daraus hervorging, dass er tiefere Menschen Mitleid mit den Tieren haben ließ, weil diese nicht in der Lage seien, den Stachel des sinnlosen Leids wider sich selbst zu kehren. Diese positive Bedeutung des Mitleids wird in Jenseits ausgebaut, wobei auch hier das Mitleid nicht dem Geschöpflichen gilt, sondern dem Schöpferischen. En passant wurde festgehalten, dass Nietzsche dem Affekt des Mitleids ›tödliche‹ Wirkung zusprach: Ein geborener Psychologe, der das regelmäßige Zugrundegehen von AusnahmeMenschen sieht, droht an diesem seinen ohnmächtigen Wissen zu ersticken. Nietzsche unterschied ein »weibliches« von einem »männlichen« Mitleid, und allein Letzteres war in der Lage, an sich zu halten, Ehrfurcht vor Ausnahme-Leiden zu haben, wogegen das als weiblich stilisierte Mitleid die Berechtigungsphase des ungewöhnlichen Menschen empfindlich unterbrach. Der Abschnitt 225 aus Jenseits zeigte einen eigentümlich harten Nietzsche, dessen Ausführungen dem zeitgemäßen Mitleid schwer zusetzten. Nietzsche beschwor als sich gestaltender Kräfte Bewusster und angebunden an die Nor-

meiner Kinder Beute würde und mich an sie verlöre. / Begehren – das heisst mir schon: mich verloren haben. Ich habe euch, meine Kinder! In diesem Haben soll Alles Sicherheit und Nichts Begehren sein. / Aber brütend lag die Sonne meiner Liebe auf mir, im eignen Safte kochte Zarathustra, – da flogen Schatten und Zweifel über mich weg.« (Z – 205) Modulationen der Einsamkeit

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men seines Künstlergewissens das große Leiden, die subtile Malträtierung an sich, der allein sich die Erhöhung des Typus Mensch verdankt. Unter jener Fassade, der Optik des Schaffenden, war die Frage der Bedeutung asketischer Ideale nebensächlich; das Leiden an sich wurde nicht als moralisches Problem empfunden, sondern für Selbstüberwindung und also Selbsterhöhung fruchtbar ausgelegt. Dieser Sachverhalt konnte als die Inversion des Mitleidsaffekts beschrieben werden. Anti-Climacus vermittelt den Sinn gelingenden Mitleids für den Menschen über das Nachzeichnen einer zeitlichen Bewegung, indem er den Lebensvollzug des Gott-Menschen ins Verhältnis setzt zum Objekt seiner Liebe. Die Annäherung des Gott-Menschen an das nur menschliche Mitleid, die anhaltende ›Gleichzeitigkeit‹ des natürlichen Menschen mit dem Guten, erwirkt die Inversion des Mitleidsaffekts und damit die einmalige Verwandlung seiner Bedeutung. Anti-Climacus schildert das Schicksal des Einladenden dramatisch. Seine Ermordung folgt notwendig aus der ›Güte‹ nur menschlichen Mitleids, dass in seiner den Horror vacui krampfhaft kompensierenden Scheinheiligkeit durch die göttliche Liebe untergraben wird. AntiClimacus geht es um den Erweis, dass das Leben des natürlichen Menschen christlich besehen bodenlos ist, wenn man sich nicht am Leidensweg des Gott-Menschen orientiert. Bevor detaillierter nachgezeichnet wird, worin genau der Unterschied zwischen der göttlichen und menschlichen Auffassung von Leid und Mitleid besteht, indem die Eskalation der Begegnung zwischen dem Gott-Menschen und dem Objekt seiner Liebe nachvollzogen wird, soll durch ein längeres Zitat der entsprechende Stimmungsrahmen projiziert werden, der die Auffassungen AntiClimacus’ bereits eindrücklich ins Wort bringt. Der folgende Passus ist zunächst aus der Perspektive des Einladenden formuliert: Ihr Verachteten und Übersehenen, um deren Dasein sich niemand, niemand kümmert, nicht einmal so viel wie um das Leben eines Haustiers, das mehr Wert hat! – Ihr Kranken, Lahmen, Tauben, Blinden, Krüppel, kommet her! – […] Denn die Einladung sprengt alle Unterschiede, um alle zu sammeln; sie will das wiedergutmachen, woran der Unterschied schuld ist – indem er dem einen einen Ort als Herrscher über Millionen im Besitz aller Glücksgüter anweist, während er den andern in die Wüste treibt – und zwar warum? [O, Grausamkeit] Weil [o, grausamer, menschlicher Folgeschluss!] Weil er elend ist, unbeschreiblich elend; also warum? weil er Hilfe, oder doch Mitleid braucht – und deshalb warum? – Weil menschliches Mitleid

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eine erbärmliche Erfindung ist, die also gerade da grausam ist, wo sie vor allem mitleidsvoll sein müsste, und nur mitleidig da ist, wo es in Wahrheit doch kein Mitleid ist! – Ihr Herzkranken, die ihr nur durch den Schmerz erfahrt, dass ein Mensch im andern Sinn ein Herz hat als das Tier, und was es sagen heißt, dass der Arzt recht haben kann, wenn er sagt, dass jemand ein gesundes Herz habe und er dabei doch herzkrank ist; ihr, die ihr treulos betrogen wurdet, und die ihr zur Zielscheibe menschlicher Teilnahme wurdet [denn menschliche Teilnahme läßt selten auf sich warten]; alle ihr Übervorteilten und ungerecht Behandelten, Gekränkten und Misshandelten; alle ihr Edlen, die ihr, was euch ja jeder sagen kann, nichts anderes verdientet, als Undank zu ernten, denn weshalb wart ihr so dumm, edel zu sein? Weshalb wart ihr so töricht, liebreich, uneigennützig und treu zu sein? Alle ihr Opfer der Hinterlist, des Betrugs, der Verleumdung und des Neides, die sich die Niedertracht erkor, und die ihr von der Feigheit im Stich gelassen wurdet – sei es, daß ihr abseits und einsam aufgeopfert werdet, nachdem ihr euch verborgen hattet, um zu sterben, sei es, daß ihr im Menschengewühl niedergetrampelt werdet, wo keiner danach fragt, welches Recht ihr habt, keiner, welches Unrecht ihr leidet, wo keiner danach fragt, wo es euch wehtut, oder wie weh es tun kann, während euch das Gedränge mit tierischer Grausamkeit in den Staub tritt: kommet her! (EC – 58)

Die Mitleidskritik basiert auf der Voraussetzung, dass die Menschen sich naturgemäß unterscheiden, wenn sie ausschließlich als »natürliche Menschen« gedacht werden. Der Akzent wird hier gelegt auf die »natürliche Differenz«, also auf das ursprünglich ausnehmende Moment im Menschen. Dies zieht, derart realistisch besehen, Ungleichheit und Ungerechtigkeit nach sich, wobei – um die Not an diesem Unterschied einzudämmen und zu verschleiern – eine Reihe von wertenden und damit ›Wirklichkeit‹ setzenden Affekten stimuliert werden: unter anderem das Mitleid. 18 Erst aus der den »Einzelnen« verbürgenden ideal-christlichen Perspektive des Anti-Climacus kann die Kritik am Mitleid durchgeführt werden, weil sie einen Maßstab in der Hand hat bzw. in der Hand zu haben behauptet, der das dem Mitleidsaffekt immanente Wohin allgemein-menschlich verbindlich orientiert. Anti-Climacus entwöhnt das Mitleid der Sphäre seiner ursprünglichen, entzieht ihr den Schein ihrer ethischen Bedeutung, indem er seinen Sinn hinterrücks an die Figur des Gott-Menschen knüpft, darin es in seiner Idea18 Diese moralkritische Pointe wurde vorbereitet in Stadien, darin Börne durch Taciturnus als jemand besprochen wurde, der sich einbildete, mitfühlender Menschenfreund zu sein, wobei ihm Taciturnus allein neurasthenische Egomanie diagnostizierte (vgl. Abschnitt III.1.1).

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lität verbürgt ist. Und umgekehrt: wird aus dem Mitleid als ästhetisch-ethischem Affekt nicht ein geistiges Destillat geronnen, sanktioniert es das, was es gerade seiner idealen Motivation nach zu überwinden gilt: den menschlichen Unterschied, die natürlichen Differenzen als den naturgemäßen Nährboden von Ungerechtigkeit. Die folgenden Analysen veranschaulichen die heterogenen Standpunkte: diese polarisieren sich durch die unterschiedenen Auffassungen von Leid und Mitleid. Obschon dies seinem idealen Begriff widerspricht, installiert sich konkretes Mitleid über die Begriffe »Exklusivität« und »Selbstrücksicht«. Was echtes menschliches Mitleid wäre, fingiert Anti-Climacus, indem er eine anonyme Gruppe den Wert dieses Phänomens beschreiben lässt. Dabei ist es seine Strategie, das Mitleid immanent, durch die konsequente Durchführung seiner Idealität zu destruieren. Ein Mitleidender müsste ein »wirklich wohlwollender und teilnehmender Mensch« sein, im Besitz von Mitteln, »zeitlich und irdisch helfen zu können, und dabei hätte er diese Hilfe durch tiefe und innige menschliche Teilnahme veredeln müssen.« (EC – 94 f.) Außerdem müsste der Mitleidende zugleich Ansehen bei den Menschen haben und »nicht ohne einen gewissen Grad menschlicher Selbstbehauptung« – wie sonst könnte er helfen? –, »was wiederum zur Folge haben müßte« – und hier gerät die Bedeutung des Mitleids für ethische Orientierung ins Schwanken –, »daß er weder zu allen Leidenden herabzusteigen vermöchte – und wäre es auch nur mit seinem Mitleidsgefühl – noch daß es ihm recht klar werden könnte, worin das Elend eines Menschen und der Menschheit besteht«. (EC – 95) Seiner Idealität nach als eines zur Tat drängenden moralischen Affekts ist es allumfassend und inklusiv, seiner tätigen Realität nach selektiv und exklusiv. Das vorausgesetzte »Ansehen« und die »Selbstbehauptung« als auszeichnende Attribute des Mitleidenden bedeuten eben, dass ein Unterschied vom menschlichen »Mitleid« gesetzt wird, der vom Einzelnen selbst nicht aufgehoben werden kann. Damit offenbart das menschliche Mitleid, dass es den Gegenstand seiner Attraktion – womit bzw. wo oder was leidet man überhaupt im Mit-Leiden mit? – nicht zu fassen bekommt. Die hier im das Mitleid würdigenden Publikum personifizierte Güte der bestehenden Ordnung muss in ihrer Selbstintransparenz voraussetzen, was sie nicht voraussetzen dürfte: Ansehen und Selbstbehauptung. Diese Forderungen allerdings gehen an sich selbst zu Grunde. Wird der Wert des Mitleidsaffektes unterschiedslos proklamiert, so verhärtet sich – aus der idealen Perspektive auf die Sache – ein nichtseinsollen404

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der Zustand, und zwar deshalb, weil Mitleid Halt benötigt an Prämissen, die es seinem eigenen Selbstverständnis nach nicht tolerieren dürfte. Dadurch misslingt im Mitleidenden letztlich der Durchbruch zur Einsicht: es geht um etwas anderes, nicht das kreatürliche Leid des Menschen an sich ist das Problem, es ist vielmehr zu nutzen, um sich aus seinen natürlichen Verstrickungen in Richtung Geistexistenz umzubilden. Die dem unterschiedslos gedachten Mitleid zukommende »Selbstrücksicht« ist noch eingehender zu betrachten. »Doch das darf man nicht vergessen: daß jeder auf das Seinige hält, wenn es sich um die Verschiedenheit im Leben handelt; dieser feste Punkt, diese Rücksichtnahme ist die Ursache dafür, daß menschliches Mitleid immer nur bis zu einem gewissen Grade reicht.« (EC – 96) »Rücksicht« ist hier in einem pejorativen Sinne zu verstehen, im Sinne eines blinden Flecks, aus dem die Selbstgewissheit des eigenen Tuns entspringt, ohne dass die Voraussetzungen menschlich grundlegend geklärt wären: Sie ist der tote Winkel einer unterschiedslos gedachten Moralphilosophie. 19 Dieser Mangel des menschlichen Mitleids wird in Anbetracht der Frage entwickelt, wie es zur Ermordung des Gott-Menschen kam. Anti-Climacus fragt mit schwarzer Ironie einleitend: Die Einladung selber dürfte doch wohl einladend genug sein – wie läßt sich dann aber dieses Mißverhältnis in der Wirklichkeit erklären, dieses auf so schreckliche Weise umgekehrte Verhältnis, daß keiner, oder so gut wie keiner der Einladung Folge leistete, daß sich dagegen alle, so gut wie alle [ach, und es waren ja gerade ›alle‹, die eingeladen waren!] dahin einigen, dem Einladenden Widerstand zu leisten, ihn totzuschlagen, ja sogar eine Strafe darauf zu setzen, sich von ihm helfen zu lassen. (EC – 94) 20

Es wurde im Abschnitt II.2.5.2 herausgearbeitet, dass auch Kierkegaard der Sache nach sich an das heran- bzw. hinunterarbeitet, was Nietzsche in Genealogie als Horror vacui bezeichnet. »Selbstbehauptung« in seiner hier von Anti-Climacus zugespitzten, negativen Bedeutung ist gewissermaßen eine sedimentierte Fluchtbewegung, der negativ existenzausrichtende Sog dieser Leere wird nicht mehr empfunden, was als Krankheit des Geistes systematisch in den Blick kommen kann wie in Die Krankheit zum Tode. 20 Es ist Anti-Climacus wichtig zu betonen, dass die Bedeutung des »Gottesmordes« seiner idealen Möglichkeit nach sich prinzipiell in jedem Geschlecht zu jeder Zeit wiederholen kann, wobei eben die »Gleichzeitigkeit« mit ›dem Guten‹ die Voraussetzung ist (vgl. EC – 94). 19

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Die Tatsache des Mordes am Einladenden hätte prinzipiell abgewehrt werden können, wenn dieser zwei Bedingungen erfüllt hätte: er hätte erstens so aussehen müssen, »wie die bloß menschliche Vorstellung vom Mitleid sich ein Bild machen würde«, und, »hätte er zweitens eine bloß menschliche Vorstellung davon gehabt, was das menschliche Elend sei, so wäre es auch nicht geschehen«. (EC – 94) Es stehen sich also gegenüber zwei gegensätzliche Auffassungen von »Mitleid« und »Leid«. 21 Anti-Climacus’ Definition göttlichen Mitleids lautet wie folgt: Sich ganz buchstäblich mit dem Elendesten gleichzustellen [und dies, und zwar nur dies ist göttliches Mitleid], das ist den Menschen jenes ›Zuviel‹, worüber man in stiller Sonntagsstunde gerührt weint, und worüber man unwillkürlich lachen muß, wenn man es in der Wirklichkeit sieht. Es ist ja nämlich viel zu erhaben, als daß man es so täglich ertragen könnte, um es ertragen zu können, muß man in gehörigem Abstand davon sein. (EC – 96)

Eine weitere Umschreibung des göttlichen Mitleids findet sich in folgenden Zeilen, die wiederum in Opposition gestellt werden zur oben bereits dargestellten Vorstellung menschlichen Mitleids: Dagegen bedenke man das göttliche Mitleid, die grenzenlose Rücksichtslosigkeit, sich nur der Leidenden anzunehmen, nicht im mindesten seiner selbst, und sich unbedingt und rücksichtslos jedes Leidenden anzunehmen: solches Mitleid können Menschen nur als eine Art Wahnsinn betrachten, worüber man eher lachen muß als weinen. Hätte dem Einladenden auch nichts anderes im Wege gestanden, so hätte dies genügt, um es ihm in der Welt übel gehen zu lassen. (EC – 95)

Göttliches Mitleid zeichnet sich also aus durch folgende Attribute: es setzt sich mit dem Geringsten gleich, 22 es ist absolut inklusiv, es ist Anti-Climacus sieht hier interessanterweise ausdrücklich ab von der Tatsache des absoluten Ärgernisses: Der Einladende behauptet also nicht, dass er Gott sei. So heißt es einleitend: »laßt uns annehmen, daß er sich nur für einen Menschen ausgegeben hätte«. (EC – 94) Anti-Climacus bestimmt damit die Möglichkeit eines relativen Ärgernisses, das er von zwei Möglichkeiten des Ärgernisses im strengsten Sinne unterscheidet: Diese beziehen sich auf die Tatsache des Gott-Menschen und nehmen je Anstoß an seiner »Niedrigkeit« (dass Gott dieser einzelne Mensch sein soll, vgl. EC – 110) bzw. an seiner »Hoheit« (dass dieser einzelne Mensch Gott sein soll, vgl. EC – 110). Das relative Ärgernis bezieht sich nicht auf »Christus als Christus [den GottMenschen] […], sondern auf ihn als einen schlechthin einzelnen Menschen, der mit dem Bestehenden zusammenstößt«. (EC – 111) Dieser könnte also auch »Sokrates« oder »Tim« heißen. 22 Hier kann kritisch rückgefragt werden: woher weiß Anti-Climacus, was göttliches 21

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erhaben, und durch die andauernde Präsenz in der historischen Person Jesus unterbietet es Distanz, es ist in seiner Selbstlosigkeit zudringlich und schamlos aus menschlicher Perspektive und also ›rücksichtslos‹ und ›unbedingt‹. Der entscheidende Stein des Anstoßes, der das menschliche Mitleid angesichts des göttlichen Mitleids irritiert, ist eine Art zudringlicher Maßlosigkeit des letzteren. Diese Überlastung der Auffassungsgabe des Menschlichen ist bedingt durch die »Erhabenheit« des göttlichen Mitleids, die vermittlungslos in die Wirklichkeit eindringt und – schamlos – jede persönliche Distanz, 23 Mitleid ist? Er trägt an den Gott-Menschen Intentionen heran, die aus den von ihm überlieferten Aussagen nicht notwendig hervorgehen. Stellt Jesus sich wirklich mit dem Niedrigsten gleich, ist er wirklich absolut rücksichtslos und selbstlos? Fragen, die man kaum bejahen können wird, nicht nur aufgrund des an zahlreichen Stellen divergierenden Urtextes – so macht Jesus beispielsweise einen Unterschied zwischen Juden und Nicht-Juden –, sondern auch, weil ihnen schlicht kein vorstellbarer Sachverhalt entspricht. Man kann sich als empirischer Mensch mit niemandem gleichstellen; der Platz, den man zu diesem Zwecke einnehmen müsste, ist ja schon besetzt. – Hamburger behauptet in ihrer Studie zum Mitleid sogar, dass im Neuen Testament das Mitleidsphänomen streng genommen keine ausgezeichnete Rolle spielt (vgl. Hamburger (1985), S. 119–125). Ringleben (2007), S. 95–112, hier S. 99 f. reagiert kritisch auf die These, dass Mitleiden die Erfüllung des alttestamentlichen Gebots der Nächstenliebe als eines Tuns der Barmherzigkeit ist. Allerdings findet man auch in seinen Exegesen des Neuen Testaments zu diesem Phänomen eine Definition des Mitleids, die der des Anti-Climacus entspräche, nicht. Eine Lösungsmöglichkeit besteht darin, zwischen menschlichem und göttlichem Mitleid keinen absoluten Unterschied zu unterstellen. Für diese Interpretation spricht immerhin das folgende Zitat: »Laßt einen Menschen sich nur ein klein wenig im göttlichen Mitleid versuchen, was bedeutet, daß er in seinem Mitleidig-sein etwas rücksichtslos ist, und du würdest sofort sehen, wie die Menschen urteilen würden.« (EC – 95) Es besteht also eine graduelle Abstufung zwischen menschlichem und göttlichem Mitleid, und jeder Mensch kann sich hin zum göttlichen Mitleid ein Stück weit überwinden, um es zu leben, aber es ganz zu erreichen vermag letztlich keiner, genauso wie kein Mensch durch übermenschliche Willensanstrengung »Übermensch« wird. 23 Der intentionale Gehalt der dem Mitleid immanenten »Distanzstruktur«, so wie sie Hamburger bestimmt, ist – empathisch abgewogen – nicht selbstevident. Für Hamburger ist diese »Distanzstruktur« ein Ausdruck der Unbrauchbarkeit des »Mitleids« für eine Ethik, wobei die Dynamiken von »Distanz« im lebendigen sozialen Miteinander unwillkürlich von Rahmensemantiken zehren, die Hamburger in ihren Analysen einfriert. Wirkliche zwischenmenschliche, affektive Distanz setzt die Möglichkeit und im gewissen Sinne auch immer die Gleichzeitigkeit von Nähe voraus. Und eben von dieser Nähe-Distanz-Dialektik scheint der Mitleidsaffekt zu zehren: Was sich einem in diesem Affekt auf Distanz offenbart, könnte oder müsste einem ganz nahe sein, ist es auch seiner unheimlichen Möglichkeit nach, sonst wäre die Rede von Distanz willkürlich. Sowohl Kierkegaard als auch Nietzsche reflektieren hier nuancierter. Das göttliche Mitleid zeichnet sich bei Anti-Climacus dadurch aus, dass der es Erfahrende Modulationen der Einsamkeit

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die notwendig ist zur Bewahrung der Achtung vor sich selbst, kassiert, womit jener »Selbstrücksicht« des natürlichen Menschen der Boden entzogen wird (vgl. EC – 96). Dichter und Pfarrer wahren als Vermittler des Erhabenen Distanz, stellen es »im Abstand des Dichterischen von der Wirklichkeit« (EC – 96 f.) dar. Zeigt sich aber die Erhabenheit des göttlichen Mitleids in der Wirklichkeit – »hier in Kopenhagen, auf dem ›Amagertorv‹« (EC – 97) – und auf Dauer –, so passiert Folgendes: Insofern war es also schon im voraus entschieden, wie das Schicksal des Einladenden werden mußte […]. Das Unbedingte, alles, was den Maßstab der Unbedingtheit anlegt, ist eo ipso ein Opfer. Denn die Menschen wollen zwar Mitleid und Selbstverleugnung üben, zwar nach Weisheit trachten usw.; aber sie möchten selbst den Maßstab bestimmen, daß es nur bis zu einem gewissen Grade geschehe; sie wollen nicht alle diese herrlichen Tugenden abschaffen, sondern wollen im Gegenteil – leichten Kaufs, in aller Gemächlichkeit den Schein und den Ruhm haben, daß sie sie üben. Das wahre göttliche Mitleid ist daher unbedingt das Opfer, sobald es sich in der Welt zeigt. Es entspricht dem Mitleid mit den Menschen, und die Menschen treten es zu Boden. Und während es unter den Menschen wandelt, wagt doch der Leidende kaum, aus Furcht vor den Menschen, seine Zuflucht zu ihm zu nehmen. Es ist nun einmal so, daß der Welt viel daran liegt, den Schein des Mitleids zu wahren – diesen deckt nun das göttliche Mitleid als unwahr auf – ergo muß dieses göttliche Mitleid weg! (EC – 97)

Der sozial-psychologisch rekonstruierte Gottesmord hätte abgewehrt werden können, wenn der Einladende so ausgesehen hätte, wie das bloß menschliche Mitleid sich eine Vorstellung von sich macht, und der Einladende hätte eine bloß menschliche Vorstellung davon haben sollen, was der Mensch unter Leid versteht. Der Einladende hatte aber nun »weder Geld, noch Tropfen, noch sonst etwas mitgebracht« (EC – 97), womit er die wenigen seiner Einladung Folgenden bis aufs Blut ärgert.

durchdrungen ist von diesem Gleich um Gleich. Und es scheint diese affektive Aufhebung des Unterschieds, der naturgemäßen Distanz zu sein, die göttliches Mitleid auszeichnet, insofern es unbedingte Nähe erfahrbar macht. Bei Nietzsche liegt bereits im Ausdruck »Pathos der Distanz« die zwischenmenschliche Spannung aufgehoben (»Pathos« bedeutet Leiden), wobei bei ihm die vorausgesetzte »Nähestruktur« des Mitleids aktiv unterbunden wird. So bedeutet bei beiden Denkern die »Distanzstruktur« des Mitleids nichts Schlechtes, was diesen Affekt zu einem »ethisch neutralen« stempelte.

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Eigentlich ist es [menschlich betrachtet] geradezu grausam empörend, man kann so erbittert darüber sein, daß man Lust bekommen könnte, diesen Menschen totzuschlagen, daß er Kranke und Leidende einlädt, ohne mehr für sie tun zu können, als ihnen Vergebung ihrer Sünden zu versprechen. (EC – 98)

Das göttliche Mitleid als die Liebe zum Menschen und der einzige Grund der Menschwerdung Gottes ist aus zwei Gründen ärgernd: Es überbietet mit dem Maßstab der Unbedingtheit das menschliche Mitleid uneinholbar, indem es zeigt, was Gott unter Mitleid versteht (das Sichgleichstellen mit dem Niedrigsten), und zugleich sagt: Es geht um etwas anderes, wobei dieses »andere« nicht mit den bloß menschlichen Begriffen von Gut und Böse, innerhalb der Sphäre der Moral also erfasst werden – geschweige denn durch bloß menschliches Mitleid geregelt bzw. kompensiert werden kann, obschon diese als »Sünde« 24 verbalisierte Spannung die Schaltfläche ist zwischen Ärgernisnehmen und Glauben. Es mag eigenwillig erscheinen, Kierkegaards Begriff der »Sünde« derart undogmatisch zu fassen. Man kann im konkreten Nachvollzug der Modulationen des Ausnahmetheorems, so wie es in dieser Studie gedeutet wurde, sich allerdings quasi genealogisch vergewissern, wann und wo dieser Begriff zum Tragen kommt. Es wurde für das Ausnahmetheorem der Stadien herausgearbeitet, dass eine spezifische »Selbstsucht« durchaus gewürdigt wurde vor allem für die Freilegung vertiefter Selbsterkenntnis. Jener asketische Umgang der Ausnahme mit sich selbst in Einsamkeit wurde von Taciturnus ironisch-distanziert als Selbstquälerei gebrandmarkt, die ästhetisch komisch sei und religiös zu verurteilen, da sie fortgesetzte Sünde bedeute und nicht zur »Fröhlichkeit« durchdringt als dem Wahrzeichen dafür, dass die Sünde vergeben ist. In Einübung findet sich hierzu folgendes »Bekenntnis« des Anti-Climacus. Es äußert sich in dem Umfeld, in welchem Anti-Climacus sich in das Geheimnis der Leiden Christi einfühlt, die mit seinem Status »Zeichen des Widerspruchs« zusammenhängen, also die geistigen Leiden meint: »Was mich selbst angeht, der ich dies alles darzustellen versuche, so bin ich hier vielleicht eine kleine Erklärung schuldig. Ich lasse vielleicht gelegentlich eine so genaue Kenntnis der verborgenen Innerlichkeit, des eigentlichen Leidens der Selbstverleugnung erkennen, daß man möglicherweise auf den Gedanken kommen könnte, ich sei – wenn auch nur auf menschliche Weise – einer von ›jenen‹ [i. e. »Wahrheitszeugen«, R. R.], einer jener seltenen edlen Menschen. Dies ist keineswegs der Fall. Ich habe auf eine sonderbare Weise, und nicht gerade um meiner Tugenden willen, eher um meiner Sünden willen, rein formal Wissen um Existenzgeheimnisse und Existenzgeheimnisvolligkeit [?, R. R.] erhalten, die sicherlich nicht für recht viele vorhanden sind. Ich rühme mich dessen nicht […]. Aber ich bestrebe mich redlich, dies Wissen zur Beleuchtung des menschlich Wahren zu benutzen, wie auch des – menschlich – wahren Guten. Und dies wiederum benutze ich dazu, womöglich auf das Heilige aufmerksam zu machen, wobei ich doch unaufhörlich darauf hinweise, daß kein Mensch dieses Heilige begreifen könne […]. Wel-

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III.3.3 Das ›Rache-am-Zeugen‹-Motiv 25 (FZ/EC/Z) Der voranstehende Abschnitt hat gezeigt, wie Kierkegaard die Inversion des Mitleidsaffektes denkt. Er hat sie als eine Art Selbstaushebelung des natürlichen Mitleids durch die göttliche Liebe konzipiert. Indem sich das göttliche dem menschlichen Mitleid nähert, wird dieses derart bedrängt und in seinen verdrängten Horror vacui eingepfercht, dass es jenes ›abschafft‹. Die göttliche Liebe hat sich – so geht aus den Darstellungen Anti-Climacus’ hervor – dieser unwillkürlichen Dynamik als Opfer freiwillig ausgesetzt, um eine zwar unsichtbare, aber doch orientierende Spur zu hinterlassen. 26 »Aber dem Absoluten gegenüber steht der Verstand still. Der Widerspruch besteht darin, von einem Menschen zu verlangen, daß er die größtmögliche Aufopferung vollbringe, sein ganzes Leben als Opfer weihe – und zwar wofür? Ja, ein Wofür gibt es nicht.« (EC – 144 f.) Die göttliche Liebe wirkt als entzogenes Glücksversprechen durch Anti-

che Verantwortung ich trage, versteht niemand so gut wie ich selber; niemand bemühe sich daher, mich zu erschrecken, denn vor dem, der ganz anders erschrecken kann, stehe ich in Furcht und Zittern. Aber nur wenige verstehen auch wie ich, daß man das Christentum in der Christenheit abgeschafft hat.« (EC – 160 f.) Das, was Kierkegaard hier als Christentum verteidigt, und was er nur auf diese Weise verteidigt, weil er daran glaubt, dass es dem Christentum dient, hat keine intersubjektiv vermittelbare Realität. Welche Bedeutung hat hier »Sünde«? Offenbar zunächst nur die einer Methode der Wissensgenerierung; diese soll das menschliche wahre Gute beleuchten, von dem so viel gewusst wird, dass man nichts von ihm wissen kann. Die leidvoll errungenen Intentionen, die dieses exemplarische Denken in den Raum »einsamster Einsamkeit« hinterlegt, wirken in der Gegenüberstellung mit Nietzsche auswechselbar. 25 Nietzsche prägt die Formel für diesen sozial-psychologischen Sachverhalt. Er erscheint im veröffentlichten Werk einmalig (im Kapitel Der hässlichste Mensch des vierten Buchs Zarathustra) und im Nachlass findet sich diese Formel in diesem Wortlaut nur einmal (vgl. KSA 10 – S. 610). Hamburger (1985) formuliert einen zentralen Einwand gegenüber allen Aufwertern des Mitleidsphänomens für eine Ethik, wenn sie die Perspektive von dem Mitleidenden umschwenkt zu dem, der Mitleid empfängt. Der Bemitleidete kann unter spezifischen Umständen das ihm entgegengebrachte Mitleid als eine »Verletzung seiner Persönlichkeit« (S. 87) empfinden. Es ist eben dieses recht unscheinbar anmutende Argument, das bei Kierkegaard und Nietzsche aufgekocht wird zum Motiv der ›Rache am Zeugen‹. 26 Bei Albert Schweitzer wird dieser Aspekt negativ so gefasst: »Das Weltrad dreht sich weiter, und die Fetzen des Leichnams des einzig unermeßlichen großen Menschen … hängen noch immer daran. Das ist sein Siegen und Herrschen.« Zitiert nach Grau (1963), S. 54.

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Das ›Rache-am-Zeugen‹-Motiv (FZ/EC/Z)

Climacus’ Philosophie, deren lebendiger Ausdruck der »Christ« wäre, dessen ›Wahrheitsliebe‹ Leiden ist (vgl. EC – 209). 27 Da es nicht Anliegen dieser Studie ist, Kierkegaard und Nietzsche von ihrer substantiellen Unterschiedenheit her zu vergleichen, welche im begriffs-utopischen Raum »einsamste Einsamkeit« hinterlegt ist, da es in dieser Studie allein darum geht anzuzeigen, dass es gute Gründe gibt, die substantiellen Errungenschaften als aus dem Raum »einsamster Einsamkeit« entspringend zu betrachten, wird mit den psychologischen Analysen zum ›Rache-am-Zeugen‹-Motiv wieder eine Stufe zurückgegangen. Damit lassen sich wiederum strukturelle Analogien des exemplarischen Denkens freilegen, welche das Werkvergleichsmodell als fruchtbar erweisen. Das Motiv der ›Rache am Zeugen‹ ist das sozial-psychologisch nachvollziehbare, negative Spiegelbild jener ›Liebe über dem Mitleiden‹, welche die Moralkritik trägt. Kierkegaards Rekonstruktion des »Gottesmordes« wurde vermittelt hergeleitet über Nietzsches atheistische Übersetzung eines in die Tiefenstrukturen des modernen Einzelleibes gründlich eingelassenen theologischen Textes. Genealogische Methode impliziert, dass die Geschichtlichkeit menschlichen Lebens nicht einfach durchgestrichen werden kann. So müssen Umwertungsambitionen im Sinne Nietzsches danach trachten, tradierten Sinnentwürfen ihre Bedeutung abspenstig zu machen – sofern es an der Zeit ist –, um neue Horizonte zur Selbstverortung feilzubieten. Nietzsches Projekt der »Umschaffung des Menschen« invertierte in den Einzelleib eben jene Dynamik, die bei Anti-Climacus auseinandergespreizt und überspannt wurde in zwar ›verwandte‹, aber doch aneinander auflaufende Standpunkte. Die abschließende These ist, dass sich Anti-Climacus’ Einsicht in den jederzeit im Großen und Kleinen wiederholbaren ›Gottesmord‹ speist aus einer ausnahmetheoretischen Problemkonstellation, so wie sie Johannes de silentio bereits in Furcht und Zittern durchgespielt hat, wobei sie Nietzsche der Sache nach sieht und als ›Rache am Zeugen‹ bezeichnet, aus dem auch seiner Ansicht nach die Abschaffung des Guten resultiert. »Der hässlichste Mensch«, die personifizierte Form jener Dynamik, wird im gleichnamigen Kapitel des Zarathustra als Mörder Gottes entlarvt. Als explosiver ›Treibstoff‹ dieser Dynamik kommt wie gehabt das Mitleid in den Blick. Kierkegaard buchstabiert das mitleids- und moralkritische Motiv 27

Diese Erniedrigung ist wiederum das »Spiegelbild der Herrlichkeit« (EC – 209).

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der Rache am Zeugen in seinem Werk Furcht und Zittern aus, 28 im Kontext der Besprechung des alttestamentlichen Buchs Tobit. Im Zentrum dieser Analysen einer Rache am Zeugen aufgrund von erfahrenem Mitleid steht also der Bemitleidete. Er wird gedacht als physisch oder psychisch »schuldlos mißraten«, er ist also ursprünglich benachteiligt, vor allem bezogen auf die Möglichkeiten, von der bestehenden Ordnung für seine Lebensäußerungen Anerkennung zu erhalten. Er ist quasi in die Verschlossenheit hineingeboren und zur Intransparenz verdammt. Dieser Typus Rächer ist »von Anfang an ein verunglücktes Exemplar eines Menschen« (FZ – 301), eine Ausnahme qua natürlicher Differenz in einem schicksalhaften Sinne, wobei das Allgemeine dieser »Mißgeburt« unwillkürlich »moralische[] Depravation« (FZ – 303) unterstellt – ohne der damit verbundenen »ungeheure[n] Ungerechtigkeit« eingedenk zu sein und der Wirkungen, die sie zeitigen kann. 29 Bereits in Die Wiederholung war es denkbar, dass Moral unter Umständen eine Art Rache an Gott sein kann: »Wenn ein Mensch glaubt, ein Unglück treffe ihn seiner Sünden wegen, so kann das schön und wahr und demütig sein; aber es kann auch darum sein, weil er Gott dunkel als Tyrannen begreift, was der Mensch auf sinnlose Weise solchermaßen ausdrückt, daß er ihn im gleichen Augenblick ethischen Bestimmungen unterwirft. –« (WH – 418) Nietzsches Aphorismus Die Rache am Geist und andere Hintergründe der Moral verhandelt diesen Sachverhalt atheistisch (vgl. FW – 605–607). Vgl. hierzu bereits den Abschnitt II.2.1.1. 29 »[U]nstreitig neigt jeder Mensch dazu, wenn er eine Mißgeburt sieht, gleich die Vorstellung einer moralischen Depravation damit zu verbinden. Welch ungeheure Ungerechtigkeit, da das Verhältnis eher umgekehrt werden müßte, nämlich daß das Dasein selbst sie verdorben hat, so wie eine Stiefmutter die Kinder entarten läßt.« (FZ – 303) »Behinderung« ist hier in einem weiten Sinne zu nehmen. Die heutige, überwiegend psychopathologisierende Methode des Umgangs mit ›verborgenen Leiden‹ ist aus der Perspektive exemplarischen Denkens zynisch, insofern das Individuum (medikamentös) an die Strukturen rückgebunden wird, die es zum ›Kranken‹ machte. Diesen kritisch theoretischen Blick, der schön im Aphorismus Widersprüche aus Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/Adorno (2003), S. 269–272) thematisiert wird, bringt auch Kierkegaard in Einübung auf seinen Begriff. »Die Einladung steht am Kreuzwege, wo zeitliches und irdisches Leiden sein Kreuz hinstellt und ruft: Kommet her, alle ihr Armen und Elenden; ihr, die ihr in Armut euch mühen müßt, um euch – keine sorglose, sondern eine mühselige Zukunft zu sichern; o, bitterer Widerspruch: sich mühen zu müssen, um sich das zu sichern, worunter man seufzt, und dem man entfliehen möchte. –« (EC – 57) Nietzsche invertiert diesen Sachverhalt in folgendem Zarathustra-Zitat: »Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus. / ›Ehemals war alle Welt irre‹ – sagen die Feinsten und blinzeln.« (Z – 20) Angesichts solcher Zitate ließen sich Kierkegaard und Nietzsche als intellektuelle Pioniere der Anti-Psychiatrie-Bewegung befragen. 28

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Das ›Rache-am-Zeugen‹-Motiv (FZ/EC/Z)

Es wird sich nun bei der genaueren Analyse des notwendig zu Ungunsten des Allgemeinen ausfallenden Zündstoffs der Ausnahme-Allgemeines-Dialektik zeigen, dass dieses Motiv wider den Zeitgeist komponiert ist und Einspruch erhebt gegen die ausschließliche Thematisierung des Mitleids als eines zwischen Ästhetik und Ethik zu verortenden Affekts. 30 Das ›Rache-am-Zeugen‹-Motiv ist eine Abrechnung mit der ausufernden Ästhetisierung der Lebenswelt und legt eine religiöse Sphäre frei, die Möglichkeit eines Selbstverhältnisses, in dem die potentielle ›Explosion‹ entschärft werden kann. Im Buch Tobit ist die potentielle Rächerin vordergründig Sara, die von einem in sie verliebten Dämon geplagt wird: er rafft ihr aus Eifersucht in der Hochzeitsnacht regelmäßig ihre Gatten weg. Sara kann also nichts dafür, dass sich ihr Liebesleben nicht gesellschaftlich sanktionieren lässt. Sie hat ihr unmittelbares Leben unwillkürlich im Paradox. 31 Es ist von Bedeutung, dass Johannes Sara hypothetisch ein männliches Pendant an die Seite stellt. Es antizipiert die Unterscheidung einer »weiblichen« von einer »männlichen« Form der Verzweiflung (Die Krankheit zum Tode): »Laßt Sara einen Mann sein, und das Dämonische liegt gleich bei der Hand. Die stolze, edle Natur kann alles ertragen; aber ein Ding kann sie nicht ertragen, sie kann nicht Mitleid ertragen.« (FZ – 301) 32 Offenbar wird das Mitleid von dieser Der Titel »Der hässlichste Mensch« zeigt an, dass Nietzsche den Mitleidsaffekt wie Kierkegaard zwischen Ästhetik und Ethik ansiedelt. Dass dieser Typus sowohl bei Kierkegaard als auch bei Nietzsche gegen eine idealistisch-romantische Ästhetisierung/Genialisierung des Ethischen konzipiert ist, geht indirekt daraus hervor, dass Nietzsche das »Genie« im Zarathustra einen »umgekehrte[n] Krüppel« (Z – 178) nennt. Auch Kierkegaards Analysen zum Dämon- und ›Rache-am-Zeugen‹-Motiv münden zerstreut und zerstreuend in Erwägungen betreffs der dem Genie inhärierenden »Debilität«: »Was hier aus Anlaß von Sara ehestens in Richtung auf dichterische Hervorbringung und deshalb mit einer phantastischen Voraussetzung bemerkt worden ist, erhält seine volle Bedeutung, wenn man sich mit psychologischem Interesse in den Sinn des alten Satzes vertiefen wollte: nullum unquam exstitit magnum ingenium sine aliqua dementia.« (FZ – 304) Der hässlichste Mensch und das Genie sind die entgegengesetzten Pole einer Skala. 31 Hier verweist de silentio auf die »simple Naivität« der griechischen Weltanschauung, die davon ausgehe, dass kein Mensch sich der Macht des »Eros« entziehen könne. De silentio hält dieser Weltanschauung paradoxal entgegen: »Es hat manch ein Mädchen gegeben, das in der Liebe unglücklich geworden ist, aber sie ist es doch geworden; Sara war es, bevor sie es wurde.« (FZ – 299 f.) 32 Sara wird von de silentio als die eigentliche Heldin gefeiert; sie hat innerhalb dieser Konstruktion weniger Aussichten darauf, dämonisiert zu werden aufgrund ihrer auszeichnenden ›Weiblichkeit‹ : »Welche ethische Reife, die Verantwortung auf sich zu 30

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psychologisch spezifisch konstruierten männlichen, stolzen und vornehmen Natur als eine vernichtende Zudringlichkeit erfahren, als ein Mangel an Scham und Distanz, welche die Integrität dieser Persönlichkeit aushöhlt. 33 Für diesen Typus Mann liegt in der Tatsache, für Mitleid prädestiniert zu sein, »eine Kränkung, die ih[m] nur von einer höheren Macht zugefügt werden kann; denn durch sich selbst kann sie nie Gegenstand dafür werden.« (FZ – 301 f.) Er schätzt sich, so kann aus der Attributsynthese »stolz« und »edel« erschlossen werden, unmittelbar – in einem intersubjektiv nicht weiter zu bewährenden Sinne – als ›gut‹ ein, 34 wobei allein die Blicke des Mitleids, das Verflochtensein in einen gesellschaftlichen Zusammenhang diese unmittelbare »Berechtigung« in Frage stellt. Johannes unterscheidet hier bereits menschliches von göttlichem Mitleid, wobei eine potentielle Dämonisierung des zur Debatte stehenden Typus Mann allein durch das Mitleid versöhnt werden könnte, das nicht über das Offenbarwerden vermittelt ist: »Hat dieser Mann gesündigt«, so fährt de silentio erklärend fort, »so kann er die Strafe tragen, ohne zu verzweifeln; aber schuldlos vom Mutterleibe an als Opfer des Mitleids ausersehen zu sein, ein süßer Geruch in dessen Nase, das kann er nicht aushalten.« (FZ – 302) Es gibt nur eine

nehmen, dem Geliebten ein solches Wagnis zu erlauben! Welche Demut einem anderen Menschen gegenüber! Welcher Glaube an Gott, daß sie nicht im nächsten Augenblick den Mann hassen werde, dem sie alles verdankte!« (FZ – 301) 33 Um de silentios Charakterologie des Rächers am Zeugen mit Äußerungen des »hässlichsten Menschen« gegenüber Zarathustra Rückhalt zu geben: »[ n ] i c h t mit ihrem Hasse, n i c h t mit ihren Häschern: – oh solcher Verfolgung würde ich spotten und stolz und froh sein! […] Aber ihr M i t l e i d ist’s – / – ihr Mitleid ist’s, vor dem ich flüchte und dir zuflüchte. Oh Zarathustra, schütze mich […]«. (Z – 329) In Ecce homo heißt es: »Ich werfe den Mitleidigen vor, dass ihnen die Scham, die Ehrfurcht, das Zartgefühl vor Distanzen leicht abhandenkommt, dass Mitleiden im Handumdrehn nach Pöbel riecht und schlechten Manieren zum Verwechseln ähnlich sieht, – dass mitleidige Hände unter Umständen geradezu zerstörerisch in ein grosses Schicksal, in eine Vereinsamung unter Wunden, in ein Vo r r e c h t auf schwere Schuld hineingreifen können.« (EH – 270) 34 So ehrt auch der »hässlichste Mensch« an Zarathustra das distinguierte Betragen ihm gegenüber: »Dass du […] an mir vorübergiengst, schweigend; dass du erröthetest, ich sah es wohl: daran erkannte ich dich als Zarathustra. / Jedweder Andere [der Mensch innerhalb seiner nicht durch Zarathustras Geist unterschiedenen Menschlichkeit, R. R.] hätte mir sein Almosen zugeworfen, sein Mitleiden, mit Blick und Rede. Aber dazu – bin ich nicht Bettler genug, das erriethest du – / – dazu bin ich zu r e i c h , reich an Grossem, an Furchtbarem, am Hässlichsten, am Unaussprechlichsten! Deine Scham, oh Zarathustra, e h r t e mich! (Z – 329)

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Sphäre, innerhalb derer »Mitleid« erlösend wirken kann für einen potentiellen Dämon: der einsame Raum des religiösen Selbstverhältnisses, in dem der Anspruch der Moral versagt – und dieses Mitleid kann nicht von einem Menschen gestiftet werden. Menschliches Mitleid wird dem derart Entstellten zur Folter, die – das ist die moralkritische Spitze dieses Motivs – fatale Konsequenzen für die gegebene Ordnung selbst haben kann. De silentio bezeichnet die Dynamik des Mitleids wie folgt: »Mitleid hat eine sonderbare Dialektik, es fordert im einen Augenblick Schuld, im nächsten will es nichts davon wissen, und daher nimmt das Entsetzliche dessen, für Mitleid prädestiniert zu sein, immer mehr zu, je mehr das Unglück des Individuums in Richtung des Geistigen liegt.« (FZ – 302) Der Bemitleidete kommt als Opfer in den Blick der substantialisierten Dynamik des Phänomens Mitleid. 35 Johannes ringt dem Mitleidsphänomen Erkenntnis ab, indem er es als Subjekt setzt, experimentell ontologisiert. 36 Der sich als Geist-ExisDie darauf folgende Äußerung de silentios nimmt Sara in Schutz vor der Unmenschlichkeit eben dieses Phänomens: »Aber Sara hat keine Schuld, sie ist allen Leiden wie ein Raub hingeworfen und soll dazu noch vom Mitleid der Menschen gemartert werden; denn sogar ich […] vermag ihren Namen nicht zu nennen, ohne zu sagen: das arme Mädchen.« (FZ – 302) 36 Es ist beachtlich, dass auch Nietzsche das Kapitel Der hässlichste Mensch einleitet durch die Schilderung eines Szenarios, das der Ontologisierung der Bedeutung des Mitleids bei de silentio entspricht. Es ist der tiefste Punkt, den Zarathustra – dem Notschrei folgend – erreicht. Er wird als »Reich des Todes« (Z – 327) bezeichnet. Entsprechend ließe sich der Denk-Ort, in dem es um die Erhellung des ›Rache-am-Zeugen‹-Motivs geht, als Schattenreich exemplarischen Denkens bezeichnen. Dabei ist der »hässlichste Mensch« vorzustellen als das im Menschen, das kontinuierlich das Gute auslöscht. Er ›lebt‹ auf einer Ebene, die alles Lebendige instinktiv meidet. Nietzsche markiert das Überschreiten der Grenzen der Möglichkeit psychologischer Einsichten auch dadurch, dass der hässlichste Mensch Zarathustra sein Rätsel erraten, nicht erschließen lässt (hier wird der Sprung angezeigt zwischen psychologischer und substantieller Ebene der Kritik). Zarathustra kennt diesen Ort, er versinkt in eine »schwarze Erinnerung« (Z – 327). Es liegt auf der (verschlossenen) Hand, wozu Zarathustra an dem von Hirten auch als »Schlangen-Tod« bezeichneten Reich jetzt in der Lage sein soll, nämlich gegenüber dem Tun des »hässlichsten Menschen« einen Unterschied zu machen. Auf die durch den hässlichsten Menschen formulierte Ansprache an Zarathustra, die ihn verlockt – »Gesetzt, dass man es nicht muss« (JGB – 225) –, doch nicht dem Appell seiner »grossen Scham« zu folgen, nämlich die »schlimme Stelle« schleunigst zu verlassen; auf die Anrede des hässlichsten Menschen: »›Zarathustra! Zarathustra! Rathe mein Räthsel! Sprich, sprich! Was ist d i e R a c h e a m Z e u g e n ? / Ich locke dich zurück, hier ist glattes Eis! Sieh zu, sieh zu, ob dein Stolz sich hier nicht die Beine bricht! / Du dünkst dich weise, du stolzer Zarathustra! So rathe doch das Räthsel, du harter Nüsseknacker, – das Räthsel, das 35

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tenz aktualisierende Einzelne formuliert in diesem Szenario den unartikulierten Einspruch gegen die Dialektik des Mitleids. 37 Diese Gefühlsdimension des Mitleidens hat – wie das Zitat anzeigt – also zum einen zur Bedingung ihrer Möglichkeit eine Schuldzuschreibung gegenüber dem bemitleideten Objekt. Das wäre die der Dialektik des Mitleids entsprechende ethische Seite, die das unschuldige Leid des Bemitleideten unwillkürlich potenziert. Das Mitleid entschuldigt im nächsten Moment allerdings und behauptet, den Bemitleideten also zugleich aufreizend und entmutigend: Du bist unschuldig, es sind die gesellschaftlichen Umstände, deine Naturanlage, Schicksal, Pech, die dich in deine bemitleidenswerte Situation befördert haben. Das wäre die ästhetische Komponente des Mitleidsphänomens. Der von Kierkegaard und Nietzsche beschriebe Rächer am Zeugen 38 befindet sich in einer existentiell-antinomischen Situation ich bin! So sprich doch: wer bin i c h !‹« reagiert Zarathustra unmittelbar und unwillkürlich zunächst nonverbal, womit die ›Tiefe‹ der Problematik angedeutet wird, die mit psychologischer Verstandesanalyse nicht ausgelotet werden kann. »Als aber Zarathustra diese Worte gehört hatte, – was glaubt ihr wohl, dass sich da mit seiner Seele zutrug? D a s M i t l e i d e n f i e l i h n a n ; und er sank mit Einem Male nieder, wie ein Eichbaum, der lange vielen Holzschlägern widerstanden hat, – schwer, plötzlich, zum Schrecken selber für Die, welche ihn fällen wollten. Aber schon stand er wieder vom Boden auf, und sein Antlitz wurde hart.« (Z – 328) »Zarathustra« bedeutet nach seinem Fall einen konstruktiven Unterschied zu dem, was »menschliches Mitleiden« vermag, dies wiederum in formaler Analogie zur von Anti-Climacus konzipierten Liebe des Gott-Menschen. 37 Dieser Sachverhalt wird von der anderen Seite her beleuchtet in Einübung, im Abschnitt 4. Die Unmöglichkeit der direkten Mitteilung ist für Christus das Geheimnis seiner Leiden. Anti-Climacus betont hier, dass man viel über die körperlichen Leiden Jesu gesprochen habe. »Darüber aber scheint man eine ganz andere Art von Leiden zu vergessen, das Leiden der Innerlichkeit, das Seelenleiden, oder das, was man das Geheimnis seiner Leiden nennen müßte, welches von seinem Leben in der Unkenntlichkeit untrennbar war, von seinem ersten Auftreten an bis zum letzten.« (EC – 158 f.) In seiner Erläuterung dieser Leiden hält Anti-Climacus fest, dass dieses durch das Verbergen einer Innerlichkeit bedingte Leiden auch von Menschen erlebt werden könne. »Die Kollision entsteht dann, wenn man aus Liebe zu einem anderen Menschen eine Innerlichkeit verbergen und als ein anderer erscheinen muß. Die Schmerzen sind nur seelisch und dabei so zusammengesetzt wie nur möglich. Es ist aber nicht gut, daß ein Schmerz zusammengesetzt ist, denn mit jeder neuen Komponente bekommt er noch einen Stachel mehr.« (EC – 159) 38 Der Begriff »Zeuge« ist hier nicht nur in seinem gewöhnlichen Sinn zu nehmen. Er ist außerdem zu verstehen im Sinne eines untergründigen innerseelischen Prozesses, welcher unerträgliche Selbst-Einsichten und -Erfahrungen anstößt, die sich im klirrenden Spiegelkabinett panoptischer Innenansichten derart komprimieren können, dass eine Befreiung von dieser erstickenden Fixierung nur in einer (auto-aggressiven)

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deswegen, weil ihm der Zugang zur der Sphäre, die das entgegengebrachte Mitleid von ihm fordert, verschlossen ist. Das Offenbarwerden in die gegebene Ordnung ist irreversibel blockiert. Und gerade das ist für den Betroffenen »nicht aus[zu]halten« (FZ – 302), womit Raum geschaffen wird bzw. zu schaffen ist für die »religiöse Sphäre«. Hier wird rückblickend auf Einübung quasi auf einen Schlag klar, wie von Johannes de silentio zu Anti-Climacus eine ausnahmsweise Möglichkeit (das Allgemeine nicht verwirklichen zu können) die allgemeine Wirklichkeit des »Einzelnen« wird, sofern sein Existieren ursprünglich in »Sünde« ist, welcher Begriff eben jenes Paradox vergeistigt sichert. Jeder »Christ« im Sinne Kierkegaards ist entsprechend im Ärgernis Rächer an der Güte Gottes oder glaubend erlöst. Als Ergebnis kann in Anbetracht der unterschiedenen ZeitaufRache am Anstoß dieser Bewegung möglich scheint. Der »Andere« (in einem) legt die prekären Einsichten frei und hat Schuld an der empfundenen Zerknirschung. Für den »hässlichsten Menschen« – subjektivierter Ausdruck jenes Rätsels – ergibt sich aus dieser Tortur also der Gottesmord, den Nietzsche – im Gegensatz zu Kierkegaard, der ihn historisch punktualisieren muss – historisch streckt: »Aber er [»Jesus« als historischer Versuch, das Gute zu etablieren, R. R.] – m u s s t e sterben: er sah mit Augen, welche A l l e s sahn, – er sah des Menschen Tiefen und Gründe, alle seine verhehlte Scham und Hässlichkeit. / Sein Mitleiden kannte keine Scham: er kroch in meine schmutzigsten Winkel. Dieser Neugierigste, Über-Zudringliche, Über-Mitleidige musste sterben. / Er sah immer m i c h : an einem solchen Zeugen wollte ich Rache haben – oder selber nicht leben. / Der Gott, der Alles sah, a u c h d e n M e n s c h e n : dieser Gott musste sterben! Der Mensch e r t r ä g t es nicht, dass solch ein Zeuge lebt.‹« (Z – 331) Bemerkenswerterweise ist Nietzsches Psychologie des »Gottesmordes« als des Grunds der Entwertung der Werte flexibler als die des Anti-Climacus. Während dieser der herrschenden Ordnung von Gut und Böse jene geschilderte »Hässlichkeit« überhaupt unterstellen muss, kann sie Nietzsche offen halten: auf die (psychologischen) Erwägungen des alten Papstes zum Gottesmord reagiert Zarathustra mit erhellendem, beschwichtigendem Zuspruch: »›Du alter Papst, sagte hier Zarathustra dazwischen, hast du D a s mit Augen angesehn? Es könnte wohl so abgegangen sein: so, u n d auch anders. Wenn Götter sterben, sterben sie immer viele Arten Todes. / Aber wohlan! So oder so, so und so – er ist dahin! Er gieng meinen Ohren und Augen wider den Geschmack, Schlimmeres möchte ich ihm nicht nachsagen.« (Z – 324) In der fortlaufenden Schilderung, die auslegt, warum der alte Gott Zarathustras Geschmack widerlich war, findet sich der wichtige Zusatz: »Zu Vieles missrieth ihm, diesem Töpfer, der nicht ausgelernt hatte! Dass er aber Rache an seinen Töpfen und Geschöpfen nahm, dafür dass sie ihm schlecht geriethen, – das war eine Sünde wider den g u t e n G e s c h m a c k .« (Z – 324) Die Erlösung vom inkorporierten Geist der Rache, der sich auch in religiösen Dogmen spiegelt, aufgrund moderner Wissensstandards ist also immer noch Programm. Modulationen der Einsamkeit

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fassungen in Sachen ›Gottesmord‹ 39 festgehalten werden, dass die Ausnahme-Allgemeines-Dialektik, die in den Utopien des »Einzelnen« und »Einsamen« als ausgehebelt vorzustellen ist, in den AntiClimacus-Schriften seiner Möglichkeit nach ein für alle Mal unterbrochen wurde, indem sich der Gott-Mensch in sie einschleuste, um sie an sich zu verwandeln, während Nietzsche versucht, jene Dialektik immanent aufzuheben, was etwa in jenem Aphorismus Seinen Dämon nicht in die Nächsten fahren lassen! (M – 299) zum unscheinbaren Ausdruck kommt, wobei der Name »Zarathustra« dessen Voraussetzungen zusammenführen soll. Der Mitleidsbegriff wird in jedem Fall bei Kierkegaard und bei Nietzsche immanent als ein moralkritischer stark gemacht, insofern es das Mitleid selbst ist, das den Bemitleideten geißelt und provoziert durch seine unmögliche Forderung, was die Güte der bestehenden Ordnung selbst gefährlich tangieren kann. De silentio fragt – Shakespeare als den Psychologen des Dämonischen feiernd –, was Gloster zu einem Dämon machte und antwortet: »Offenbar dies, daß er Mitleid nicht ertragen konnte, dem er von Kind an preisgegeben war.« (FZ – 303) Und, um den Bogen zurück zu spannen an den Ausgangspunkt der Überlegungen dieser Arbeit, der davon ausging, dass exemplarisches Denken die Jetzt-Zeit als einen Ausnahmezustand bewertet und also niemand wirklich ausgenommen ist davon, sein Leben im Allgemeinen nicht verwirklichen zu können, sei zuletzt zitiert: »Dieses: ursprünglich durch Natur oder Geschichtsverhältnisse aus dem AllDas Ereignis des »Gottesmordes« wird wie angedeutet im Kapitel Der hässlichste Mensch bezeichnenderweise nicht als ein punktuelles Ereignis erfasst, sondern g e n e a l o g i s c h g e s t r e c k t , so dass er als das Absterben einer spezifischen, ethisch orientierenden Selbstauslegungsmöglichkeit in den Blick kommt. So entziffert Zarathustra das Wesen des hässlichsten Menschen folgendermaßen: »›Ich erkenne dich wohl, sprach er mit einer erzenen Stimme: du bist der Mörder Gottes! Lass mich gehen / Du ertrugst Den nicht, der dich sah, – du hässlichster Mensch! Du nahmst Rache an diesem Zeugen!‹« (Z – 328) Der »hässlichste Mensch« entspricht also einem allgemein-menschlichen Sachverhalt. Folgt man dieser Interpretation, so lässt sich Nietzsches Streitschrift Zur Genealogie der Moral in Hinsicht auf das Werkganze unverbraucht und neu deuten, insofern durch sie Raum für neue religiöse Orientierungspunkte des Menschen geschaffen werden soll (bereits Abschnitt II.2.5 hat dieser Deutung zugarbeitet). So gesehen wäre dieses Buch strategisch verquickt mit Nietzsches religiösen Ambitionen, die er ja im Ursprung seiner Denkbewegung unbezweifelbar setzte. Hier ist wieder an die Studien Graus zu erinnern (1958, 1963), der diesen Sachverhalt im Ethos der »Redlichkeit« komprimiert sieht.

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Zusammenfassung

gemeinen herausgenommen worden zu sein, das ist der Anfang zum Dämonischen, woran das Individuum doch keine Schuld trägt.« (FZ – 303)

III.3.4 Zusammenfassung Der dritte Teil dieser Studie hat die These nachvollzogen, inwiefern die Ausnahmetheorien Kierkegaards und Nietzsches die Träger der Moralkritik sind, wobei damit zugleich das entworfene und entwickelte Werkvergleichsmodell erprobt wurde. Die Voraussetzung der Kritik war jene Unterscheidung der »Liebe« im ungewöhnlichen Menschen, welche beide Denker im Ausgangspunkt ihrer Denkbewegung vollzogen. Der positive Sinn jener Liebe wird anti-soziologisch konturiert. Die als unerlöste Erfüllung des Ausnahmetheorems operationalisierte Figur Quidam konnte mit Taciturnus’ Besprechung seines Experiments (und Nietzsches Rückhalt) als eine Figur der Verlassenheit bestimmt werden aufgrund ihrer durch Mitleid bedingten Rückgebundenheit an die geistig ununterschiedene Wirklichkeit. Taciturnus opponierte seine religiös motivierte Mitleidskritik (»de te narratur fabula«) gegen eine moderne Verwertung des Mitleids, das als eine heidnisch-ästhetisierende Renaissance dieses Phänomens beurteilt wurde. Nietzsches Formel des »Pathos der Distanz«, die er im Aphorismus Ob wir moralischer geworden sind der Götzen-Dämmerung gegen einen »l’impressionisme morale« ins Feld führt, übernimmt eine strukturell analoge, anti-soziologisch vermittelte Rolle. Beiden Denkern geht es darum, sich gegen eine implizit wertsetzende und also vermeintlich objektiv wissenschaftliche Ästhetisierung der Lebenswelt zu verwahren und sokratisch dem moralischen Selbstbewusstsein ihrer Jetztzeit schmerzlich zuzusetzen. Sie sprechen dem von ihnen beobachteten und vivisektierten zeitgenössischen Umgang mit dem Mitleidsphänomen ab, wofür es sich ausgibt: ein Ethik grundlegender Affekt zu sein. Dabei wurde im Falle Nietzsches eingehender nachvollzogen, wie dessen Formel des »Pathos der Distanz« bis in ihre feineren Bestimmungen hinein gegen Schopenhauers Mitleidsphilosophie konzipiert ist. Der interessante Sachverhalt, auf den hin sich bei Kierkegaard wie bei Nietzsche alles zuspitzte, war dabei, dass beide Denker Halt machten vor dem Zeitgeist, welcher um Gut und Böse zu wissen vorgab. Dieses Wissen in ersten und letzten Dingen Modulationen der Einsamkeit

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wurde von Kierkegaard und Nietzsche begriffen als vollkommen abstrakt: Nur indem die »Pointe des Ethischen« von den Füßen auf den Kopf gestellt wurde – sei es durch die Einbalsamierung der ethischen Sphäre durch das Eindringen der ›Spekulation‹ in die konkrete Lebenswelt, sei es, dass der Mensch sich über seine unmenschlichste Bestimmung, über seine Herdenviehbestimmung auslegte –, ergab sich dem Zeitgeist sein Gutes und Böses. Die konstruktive Pointe der Mitleidskritik konnte im zweiten Kapitel angebracht werden, indem sie an Schopenhauers Umgang mit diesem Phänomen errichtet wurde. Schopenhauer, das galt es als Voraussetzung festzuhalten, wusste um die Bedeutung von Eros und Caritas und integrierte sie unversöhnlich in sein System einer Welt als Wille und Vorstellung. Die Kritik ad personam musste deswegen in den Blick gebracht werden, weil eine Philosophie, die von der Persönlichkeit des Denkenden abstrahiert, an die Wurzel des Problems nicht herankommt. Allein durch redliche Innenschau, die naturgemäß verhindert, mit positiven Setzungen alsogleich aufzuwarten, wird die prekäre Verwobenheit des Mitleidsaffekts mit Affekten wie »Hass«, »Grausamkeit«, »Lust« offenbar, die dieses Phänomen für eine philosophische Ethik unwillkürlich entwerten. Zugleich legt sich damit ein eigentümlicher »Selbst-Widerspruch« Schopenhauers frei, den Kierkegaard und Nietzsche kritisch abwiegen. Schopenhauers ›Nein‹ zum Leben ist bedingt und zehrt von einem uneingeständigen ›Ja‹. An dieser Einsicht wurde die Moralkritik angebracht. Entscheidend dabei war dabei, dass sowohl Kierkegaard als auch Nietzsche anzeigten, dass aus der Psychologisierung moralischer Affekte keine Ethik herzuleiten ist. Und doch ist diese Strategie wegweisend, weil sie freilegt, was als substantielle Antithese vorausgesetzt ist: die ›Liebe über dem Mitleiden‹, welche aus dem anti-begrifflich umrissenen Raum »einsamste Einsamkeit« hervorscheint und das Werkganze trägt. Kierkegaards substantielle Kritik an Schopenhauer wird hier getragen von der Einsicht, dass die Sache der Askese, die Schopenhauer nur kontemplierend, ästhetisch tändelnd in das Bewusstsein bringt, von einem Ewigkeitsaspekt getragen wird, der allgemein-menschlich verbindlich ist, wobei Nietzsche in formaler Analogie diesen Aspekt in seinem Zarathustra für den »Einsamen« hinterlegt. Im letzten Kapitel des dritten Teils wurde der positive Sinn der Mitleidskritik im Ausdruck ›Liebe über dem Mitleiden‹ verankert, welche Kierkegaard im Leidensweg des Gott-Menschen hinterlegt 420

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sieht und Nietzsche durch seinen Zarathustra neu setzt. Diesem über- im Sinne von nicht-unmittelbar-menschlichen »Geist« setzenden Maßstab geht es darum, das Menschliche an sich auszurichten und also umzuschaffen. Dabei war es interessant, wie Nietzsche auf Kierkegaards Methodik seiner Mitleidskritik quasi reagierte, indem er streng genommen theologisches Ideengut in den »Einsamen« selbst verlegte und atheistisch verfügbar machte (etwa die Dualität »Schöpfer« vs. »Geschöpf«). Der Orientierungspunkt, von dem her die Schriften der Erfüllung der exemplarischen Denker entworfen sind, wird anti-begrifflich zu einer utopischen Größe zugespitzt. Auf die Tendenz der Selbstideologisierung exemplarischen Denkens, insofern die Gefahr besteht, dass dieser anti-begrifflich offengehaltene Raum naturgemäß sich doch sedimentiert, wurde hingewiesen. Da es nicht die Absicht dieser Arbeit ist, Kierkegaard und Nietzsche von ihrer substantiellen Unterschiedenheit her zu verstehen, sondern allein bis zu dem Punkt nachzuvollziehen, aus dem sie entspringen soll, wurde die Ebene, von der aus das exemplarische Denken wertsetzend in die Wirklichkeit einzugreifen sich anschickt, durch die Analyse des ›Rache-am-Zeugen‹-Motivs wieder verlassen. Durch diese Dynamik konnte »Mitleid« in Überbietung zu Hamburgers These der ›ethischen Neutralität‹ als moralkritischer Begriff bewertet werden. Hamburgers These konnte dahingehend zugespitzt werden, indem gezeigt wurde, dass Mitleid ethisch neutral zu sein hat (in bestimmten Ausnahmefällen), sofern die Sicherheit der bestehenden Ordnung von Gut und Böse gewahrt werden soll. In diesem Fall war ein dämonischer Mensch bestimmt worden als unschuldiges Opfer des Mitleids, dessen Wesen für die Integrität der moralischen Ordnung verheerende Konsequenzen zeitigen kann.

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Schluss: Ergebnisse und (selbst-)kritische Bemerkungen

Das vorliegende Buch hat – inspiriert durch Adornos Minima Moralia – einen Begriff »exemplarischen Denkens« als Vergleichsdrittes an das Werkganze Kierkegaards und Nietzsches angebracht. Er stellt die Frage nach dem gelingenden Leben, ohne dessen Möglichkeit von seiner positiven Erfüllung her zu entwickeln. Sie wird vielmehr negativistisch offengehalten durch die Bemühung der Anti-Begriffe »Ausnahme« und »Einsamkeit«, welche die ethisch motivierte, radikale Moralkritik beider Denker tragen. Abschließend sollen drei zentrale Errungenschaften dieser Studie noch einmal benannt werden, denen auch – dialektisch abgewogen – Mängel korrespondieren. Hervorzuheben ist zum einen die komplexitätsreduzierende Perspektive auf das Werk beider Philosophen, die dieses je für sich seinem Weg-Charakter nach als ein organisches, konsistentes, in sich hierarchisiertes und teleologisch ausgerichtetes Ganzes erfasst. Es wurde gezeigt, wie Setzungen aus dem Frühwerk für die Entwicklung beider Philosophien – wofern man sie als Suchen nach ethischer Orientierung deutet – verbindlich bleiben und sich auf dem idealen Höhepunkt ihres Schaffens, der von diesen Denkern selbst als dieser markiert wird, verwandelt erfüllen. Dabei ist aufgegangen, dass man berechtigterweise davon sprechen kann, dass in Analogie zu Kierkegaards »Einzelnem« Nietzsche einen »Einsamen« konturiert, der als Utopie gelingenden Lebens vorzustellen ist. Die Verschränkung der je dreifach in sich unterschiedenen Anti-Begriffe »Ausnahme« (faktisch/normativ/religiös) und »Einsamkeit« (Isolation/Verlassenheit/ einsamste Einsamkeit) strukturiert dabei die Werkentwicklung analog und zeigt an, auf welcher Ebene sinnvoll verglichen, parallelisiert, bewertet werden kann, wofern man dem Anspruch dieser Denker gerecht werden will. So ergibt es beispielsweise angesichts der Mitleidskritik von Anti-Climacus keinen Sinn, die Auffassungen, die Johannes Climacus in Philosophische Brocken zu diesem Phänomen macht, 422

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als Kierkegaards Standpunkt zu diesem Phänomen zu nehmen, da Climacus formal betrachtet als Pseudonym der Zone der Verlassenheit zuzuordnen ist und die Mitleidskritik ausgereift erscheint erst durch Anti-Climacus. So macht es etwa außerdem keinen Sinn, das Menschenbild aus Das Nachtlied, das als »Symbol der Lieblosigkeit« Nietzsches gedeutet wurde, als Nietzsches Standpunkt zu nehmen, weil auch Zarathustra hier konzipiert ist als eine Figur, die implizit als Mängelwesen charakterisiert wird. Auf der Vergleichsebene ist es beispielsweise fragwürdig, Kierkegaards Furcht und Zittern gegen Nietzsches Genealogie auszuspielen, weil die Ebene des Anliegens kaum dafür geeignet ist, einen ertragreichen Vergleich zu leisten, bei dem die Bedeutung der Eigennamen Kierkegaard und Nietzsche nicht nebensächlich wird. 1 Kritisch muss gegen diesen ganzheitlichen Blick auf das Werkganze beider Philosophen eingewendet werden, dass er der theoretischen Tiefe ermangelt und die gefällten Unterscheidungen eingefleischten Kierkegaardianern und Nietzscheanern zu unbestimmt geblieben sein und letztlich zu wenig zu beißen geben werden. Die zweite hervorzuhebende Leistung ist die Wahl des eigentümlich empathischen Zugangs zum Werk Kierkegaards und Nietzsches. Es wurde versucht, stets konkret die realen Probleme, welche die radikale Moralkritik beider Denker anstößt, im Blick zu behalten und nachzuempfinden. Verhandelt man die Moralkritik dieser Denker empathielos und abstrakt oder allein in Hinsicht auf die sie tragenden Mitteilungsstrategien, verliert man naturgemäß bald den sie motivierenden ethischen Sinn aus dem Blick. Es wurde darauf hingewiesen, dass die konsequente Ausblendung des ethischen Anspruchs dieser Denker unter der Hand den Sinn dieser Strategien verkehrt. Durch die existentielle Erdung der Anti-Lehre-Konzeption Stegmaiers via »Ausnahme« und »Einsamkeit« wurde der Möglichkeit der Auslegung ad libitum et infinitum die Grundlage entzogen. Die hier kaum inhaltlich, aber formal doch hinreichend umgrenzten Ethikkonzeptionen Kierkegaards und Nietzsches scheinen anzuzeigen, dass ein existierendes Individuum – naturgemäß nicht der subjektivierte akademische Diskurs –, wenn es sich die Frage nach dem gelingenden Das ist kritisch gegen Lippitt (2000b) formuliert, der die Bedeutung exemplarischer Figuren für den Begriff des »Glaubens« auslotet, wobei er zu dem Ergebnis kommt, dass die in der Streitschrift typisierten Bedeutungsträger religiöser Lebensform nicht an die Intentionen heranreichen, die Kierkegaard formalisiert.

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Leben stellt, diese an einem vorausgesetzten Guten orientieren muss. Hierfür stehen jene Utopien gelingenden Lebens, der »Einzelne« Kierkegaards und der in dieser Studie analog gewichtete »Einsame« Nietzsches. Die philosophische Frage nach der Bedeutung von Moralkritik steht hier zur Debatte: Sie ist beschränkter, als man es glauben möchte, und steht – gerade heute – in keinem Verhältnis mehr zu dem Aufwand, mit dem man sich der Sache widmet, wenn man von den Problemen, die Moral unter Umständen bedeuten kann, nicht so gegängelt wird, wie sie bei den Initiatoren der Kritik an Moral empfunden und, mit dem Versuch sie zu bewältigen, gelebt und bedacht wurden. Der Mangel dieses konkreten Zugangs zum Sinn von Moralkritik ist freilich die Distanzlosigkeit zu ihrer Darstellung, die ihrerseits anfällig ist für Missverständnisse, insofern sie wesentlich eindimensional ist und kaum Raum schafft für objektivierende Perspektivierungen. Insofern also die mimetische Methode dieser Studie wenig Distanz schafft zur Darstellung der Probleme durch deren Befrager, fallen analytisch präzisere Erfassungen der Probleme ihrer Sache nach unter den Tisch. So müsste beispielsweise hingesehen werden, welche Philosophen/Soziologen/Theologen/Politikwissenschaftler neben – unter Umständen in Anlehnung an – Kierkegaard und Nietzsche das Phänomen der »Ausnahme« traktieren, um der theoretischen Erfassung dieses Phänomens und der an es angeknüpften Rahmentheoreme ein akademisch ansehnliches Gesicht zu geben. So hat gewiss auch noch heute die ›Rache am Zeugen‹ Bedeutung, dürfte aber angesichts der heutigen Lebenswelt nicht derart anachronistisch versprachlicht werden, wie es hier geleistet wurde. Drittens und letztens soll als Ergebnis hervorgehoben werden die Herausstellung der geistigen ›Verbundenheit‹, ›Verwandtschaft‹ dieser Denker. In Anlehnung an Aristoteles könnte gesagt werden, dass mit dem durch Adornos Minima Moralia getragenen Werkvergleichsmodell zwischen Kierkegaard und Nietzsche – cum grano salis – Freundschaft geschlossen wurde. Die evidentesten Klüfte, welche schon von Buchdeckeln besiegelt werden – Einübung im Christentum gegen Der Antichrist. Fluch auf das Christentum –, wurden überbrückt, wobei der Fokus gelegt wurde auf die »Gleichheit«, die in der Energie des Fragens liegt und die durch die Orientierung am Raum »einsamster Einsamkeit« ideell vergemeinschaftende Bedeutung erhält. So wurde davon ausgegangen, dass die spezifische Bewegtheit dieses Denkens, das Wohin dieser Philosophien irregeführt wird, 424

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wenn man beispielsweise voraussetzt: »Die Wiederholung« gegen »Die ewige Wiederkunft des Gleichen« oder »Christ« gegen »Antichrist«. Schleust man diese Formeln ein in eben jene Bewegtheit exemplarischen Denkens, und lässt man sich vor allem bewegen vom Anspruch dieser Denker, dann muss zugestanden werden, dass diese Unterscheidungen allzu schnell dahin tendieren, als gesetzte zu zerstreuen und also vom ›Mitfeiern‹ zu entbinden, so als hätten jene Unterscheidungen ethische Bedeutung an und für sich. Dieser einfältig-vermittelnde Gestus muss wiederum kritisiert werden. Dazu kann eine Sentenz Nietzsches dienen, die den Titel trägt Gegen die Vermittelnden. »Wer zwischen zwei entschlossenen Denkern vermitteln will, ist gezeichnet als mittelmässig: er hat das Auge nicht dafür, das Einmalige zu sehen; die Aehnlichseherei und Gleichmacherei ist das Merkmal schwacher Augen.« (FW – 511) Es ist also zu fragen, ob der Zugang dieser Studie nicht im Ansatz verfehlt ist. Denn ist gibt kaum Denker, die so entschieden auf Distinktion, Erhabenheit und Vornehmheit bauen wie Kierkegaard und Nietzsche, womit der Akzent bei einem Vergleich vor allem gelegt werden müsste auf den Unterschied im Gemeinsamen. Und die Tatsache außerdem, dass Adorno sich ausgerechnet dieser Sentenz bedient, um in Zur Moral des Denkens jenen methodischen Leitsatz zu erläutern, aus dem das hier entworfene, entwickelte und erprobte Werkvergleichsmodell geronnen wurde, entzieht dem Verfasser die Grundlage für jedes weitere Wort.

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Literatur

LV-Siglen/Primärtexte Die Werke Kierkegaards werden zitiert nach der im Grevenberg Verlag (Simmerath 2003–2004) neu herausgegebenen Ausgabe: Gesammelte Werke und Tagebücher, übersetzt und mit wissenschaftlichen Einführungen und Anmerkungen versehen von Emanuel Hirsch/Hayo Gerdes/Hans Martin Junghans, 38 Abteilungen in 32 Bänden, 1950–1974 (= GW). Ausnahmen bilden die Schriften: Entweder – Oder (übersetzt von Heinrich Fauteck), Die Krankheit zum Tode, Furcht und Zittern, Die Wiederholung, Der Begriff der Angst (übersetzt von Walter Rest, Günther Jungbluth und Rosemarie Lögstrup), Unwissenschaftliche Nachschrift (übersetzt von B. und S. Diderichsen), Einübung im Christentum (übersetzt von Hans Winkler, Walter Rest und Theodor Haecker). Diese werden zitiert nach der im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienenen Ausgabe, die unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft herausgegeben wurde von Hermann Diem und Walter Rest. Verwendet werden folgende Siglen: A – Der Augenblick AUN – Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken BA – Der Begriff der Angst BI – Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates EC – Einübung im Christentum EO I – Entweder – Oder. Erster Teil EO II – Entweder – Oder. Zweiter Teil GWS – Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller KzT – Die Krankheit zum Tode PB – Philosophische Brocken SL – Stadien auf des Lebens Weg WH – Die Wiederholung WS – Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller Die Werke Nietzsches werden zitiert nach der kritischen Studienausgabe (KSA/ 1980) in 15 Bänden, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Die Briefe Nietzsches werden zitiert nach der kritischen Studienausgabe (KSB/ 1975 ff.) in 8 Bänden, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari.

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Literatur Verwendet werden folgende Siglen: AC – Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum EH – Ecce Homo. Wie man wird, was man ist FW – Die fröhliche Wissenschaft (»la gaya scienza«) GD – Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert GM – Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift IM – Idyllen aus Messina JGB – Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft M – Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurtheile MA I – Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band. MA II – Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Zweiter Band SE – Schopenhauer als Erzieher Z – Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen

Weitere Literatur: Adorno, Theodor W. (2003): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In: Rolf Tiedemann (Hrsg.): Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Band 4. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adriaanse, Hendrik Johan (2003): Zwei Beispiele der Ausnahme. Ein Versuch. In: Claus Dierksmeier (Hrsg.): Die Ausnahme denken. Festschrift zum 60. Geburtstag von Klaus-Michael Kodalle. Band 1. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 48–61. Anderson, David R. (2001): The King-Priest of Psalm 110 in Hebrews. New York et al.: Peter Lang. Angehrn, Emil (2015): Hoffnung und Erinnerung. Zur Zeitlichkeit der menschlichen Existenz. In: Giovanni Maio (Hrsg.): Die Kunst des Hoffens. Kranksein zwischen Erschütterung und Neuorientierung. Freiburg: Herder, S. 155–173. Angier, Tom P. S. (2006): Either Kierkegaard/or Nietzsche: moral philosophy in a new key. Aldershot et al.: Ashgate. Aristoteles (1995): Nikomachische Ethik. In: Philosophische Schriften in sechs Bänden. Band 3. Nach der Übersetzung von Eugen Rolfes bearbeitet von Günther Bien. Hamburg: Felix Meiner. Baier, Horst (1982): Die Gesellschaft – ein langer Schatten des toten Gottes. Friedrich Nietzsche und die Entstehung der Soziologie aus dem Geist der décadence. In: Nietzsche-Studien. Band 10/11. Berlin: De Gruyter, S. 6–22. Birnbacher, Dieter (2009): Schopenhauer. Stuttgart: Reclam. Birnbacher, Dieter/Sommer, Andreas Urs (Hrsg.) (2013): Moralkritik bei Schopenhauer und Nietzsche. Würzburg: Königshausen & Neumann. Bobadillo, Teresa Aizpún de (1992): Kierkegaards Begriff der Ausnahme. Der Geist als Liebe. München: Akademischer Verlag. Bretschneider, Charlotte (2015): Zum Beispiel Michel de Montaigne. In: Oliver Müller und Giovanni Maio (Hrsg.): Orientierung am Menschen. AnthropoModulationen der Einsamkeit

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ALBER THESEN

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Modulationen der Einsamkeit

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Danksagung

Mein besonderer Dank gilt in erster Linie Wilhelm Metz, der mich als Doktoranden angenommen und mir alle Freiheit bei der Ausarbeitung dieses Promotionsvorhabens gelassen hat. Ohne seinen motivierenden Zuspruch wäre der Abschluss des Dissertationsprojektes nicht denkbar gewesen. Bei Lore Hühn möchte ich mich für die Zweitbegutachtung bedanken. Während meiner Promotion habe ich als wissenschaftliche Hilfskraft an der Forschungsstelle »NietzscheKommentar« (2012–2014) und am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin (2011–2015) gearbeitet. Für die angenehme und stimulierende Arbeitsatmosphäre dieser Anstellungen möchte ich mich bei Andreas Urs Sommer und Giovanni Maio bedanken. Lukas Trabert bin ich dankbar für die freundliche Aufnahme in das Verlagsprogramm, Angela Haury für die kritische Durchsicht des Manuskripts. Herzlich bedanken möchte ich mich bei den Freunden, welche die Verwirklichung dieses Projektes begleitet und mich bei dessen Ausarbeitung unterstützt haben: bei Martin Jost und Sebastian Höpfl für die Hilfe bei der Erstellung der Grafiken, bei Kerstin Botsch für das akribische Gegengelesen eines großen Teils dieser Arbeit, bei Oliver Müller für die Ermutigung zu diesem Projekt und die sachlich stets erhellenden Gespräche, die wesentlichen Anteil an der Verwirklichung dieser Studie haben, und schließlich bei Jonas Christoph, der das Manuskript in verschiedenen Phasen gründlich Korrektur gelesen und dessen Inhalte geduldig abgewogen hat. Danken möchte ich außerdem meiner Tante Elisabeth Pongratz für die finanzielle Unterstützung, durch welche die Druckkosten des vorliegenden Buchs beglichen wurden. Naturgemäß gilt mein innigster Dank meinen Eltern Sonia Rauh-Bellaïche und Ulrich Rauh, die meinen exzentrischen Bildungsweg ermöglicht und mich in allen seinen Phasen unbedingt unterstützt haben.

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