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German Pages 596 Year 2012
„Einige werden posthum geboren“
Nietzsche Heute
Band 4
„Einige werden posthum geboren“ Friedrich Nietzsches Wirkungen
Herausgegeben von Renate Reschke und Marco Brusotti
Im Auftrag der Nietzsche-Gesellschaft e.V.
DE GRUYTER
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
ISBN 978-3-11-026086-1 e-ISBN 978-3-11-026087-8 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.dnb.de. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Typesetting: Meta Systems GmbH, Wustermark Printing: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com
Die Nietzsche-Gesellschaft und die Herausgeber widmen diesen Band Hans-Martin Gerlach (1940–2011)
Inhalt Vorwort
XIII
Siglenverzeichnis
XVII
Martin Walser Nietzsche lebenslänglich. Eine Seminararbeit
1
I. Philosophie und Philologie Andreas Urs Sommer Nietzsche katalytisch Philosophische Nietzsche-Lektüren im 20. Jahrhundert
21
Marco Brusotti Diskontinuitäten Nietzsche und der ‚französische Stil‘ in der Wissenschaftsphilosophie: Bachelard und Canguilhem mit einem Ausblick auf Foucault 51 Paul van Tongeren Nietzsche und die Tradition der Tugendethik
79
Sigridur Thorgeirsdottir Die Philosophie Nietzsches im Spiegel von Philosophinnen im 20. Jahrhundert Hannah Arendt, Simone de Beauvoir, Luce Irigaray und Judith Butler 97 Nikolaos Loukidelis Anthropologie bei Nietzsche und Gehlen Mit einem Blick auf Trendelenburg
117
Hans-Walter Ruckenbauer Skeptische Athletik Ciorans nihilistische Exerzitien nach Nietzsche
129
Carsten Schmieder Die Differenz als kulturelle: Gilles Deleuze und seine NietzscheLektüren 141
VIII
Inhalt
Vanessa Lemm The Spectrality of Responsibility The Posthumous in Nietzsche, Sartre and Derrida
151
Jakob Dellinger ‚Sanitizing‘ Nietzsche? Bemerkungen zur Tendenz eines ‚naturalistischen‘ NietzscheBildes 159 Tobias Dahlkvist Genie, Entartung, Wahnsinn Anmerkungen zu Nietzsche als Pathograph und Objekt der 173 Pathographie
II. Ästhetik, Künste und Kultur Renate Reschke Utopien und Kritik mit Dionysos Zwischen Macht und Rebellion, Gewalt und Illusion
183
Sabine Mainberger Die ‚dionysische Linie‘. Zu einem Syndrom der Wende zum 20. Jahrhundert 209 Tilmann Buddensieg Also baute Zarathustra
227
Renate Müller-Buck Der Gekreuzigte Zur Nietzsche-Rezeption bei Otto Dix
253
Karin Wimmer Friedrich Nietzsche und Giorgio de Chirico Das Raumverständnis de Chiricos in den Jahren 1909–1915 Cathrin Nielsen Nietzsche und Beuys Jutta Georg-Lauer Zarathustra in der Oper
281
293
263
IX
Inhalt
Katia Hay Dass der Mensch zum Kunstwerk wird Nietzsches Einfluss auf den modernen Tanz: von Isadora Duncan zu Pina Bausch 303
III. Literatur und Medien Aldo Venturelli Perspektiven für ein zukünftiges Geschichtsbewusstsein 313 Aspekte der Nietzsche-Rezeption bei Robert Musil Sebastian Hüsch Nietzsche in Vollendung? Robert Musil und die Krise der abendländischen Philosophie Anatoly Livry Le Surhomme de Nabokov
333
347
Paolo Stellino Unamunos Auseinandersetzung mit dem Übermenschen am Beispiel des Romans Amor y pedagogía 359 Yannick Souladié Geisterkrieg und Geisterfrieden Nietzsche, Deleuze, Pasolini und der Faschismus
369
Nicola Nicodemo Die Poetik der Geschichte und die Krise des Historismus Nietzsches ästhetische Geschichtsauffassung im Lichte der Metageschichte von Hayden White 379
IV. Politik und Zeitgeschichte Herman W. Siemens Nietzsche’s “post-Nietzschean” political “Wirkung” 393 The Rise of Agonistic Democratic Theory
X
Inhalt
Christian Benne Vom aristokratischen zum antiquarischen Radikalismus Radikale Missverständnisse von Georg Brandes bis Oscar Levy Carlo Gentili Der Begriff Europas Friedrich Nietzsche und Karl Löwith im Vergleich
407
427
Hubert Cancik und Hildegard Cancik-Lindemaier, unter Mitarbeit von Cornelius Lüttke Formen der Nietzsche-Rezeption in Berlin 1865 bis 1945 443 Jens Thiel Monumentalisch – antiquarisch – kritisch? Archiv und Edition als Institutionen der Distanzierung: Der Fall des Nietzsche-Herausgebers Karl Schlechta 475 Klaus Goch Goebbels liest Nietzsche Ein deutscher Faschist aus dem Geist Zarathustras?
489
Christian Niemeyer Nietzsche und sein Verhältnis zum Antisemitismus Eine bewusst missverstandene Rezeption? 501
V. Ökonomie und Soziologie Franz Graf zu Solms-Laubach Friedrich Nietzsches vergessener Beitrag zur Soziologie Ein Plädoyer für eine Neubewertung der Geschichte der klassischen Soziologie 515 Sören Reuter Vom Nutzen und Nachteil der Ökonomie für das Leben Aspekte einer aktuellen Auseinandersetzung mit Nietzsche
531
Sabine Scharff Das „Thier, das versprechen darf“ und die Ökonomie der GläubigerSchuldner-Beziehung. Der Ursprung für die Entstehung politischen Denkens? 543
XI
Inhalt
Cristiana Senigaglia Nietzsches methodologischer Einfluss auf Max Weber und die 551 Soziologie
[Teil VI finden Sie nur im e-Book (ISBN 978-3-11-026087-8)]
VI. Institutionelle und nationale Rezeptionswege Andreas Hansert „Rücksichtslose Wahrheitsforschung“ – auf Dauer stellen Schopenhauers Philosophie im Rahmen der SchopenhauerGesellschaft 565 Angela Holzer Die anglo-amerikanische Nietzsche-Rezeption während des Zweiten Weltkrieges 573 Francisco Arenas-Dolz Die Rezeption Nietzsches im spanischen akademischen Kontext (1939– 1975) 585 Zoltán Gyenge Ähnlichkeiten und Diskrepanzen Nietzsche und Kierkegaard in der ungarischen Nietzsche-Rezeption. Das Beispiel Georg Lukács 595 László V. Szabó Die neugnostische Nietzsche-Deutung von Eugen Heinrich Schmitt
603
Alexey Zhavoronkov Nietzsches Idee der Fremdheit des Griechischen und ihre Rezeption in der klassischen Philologie 615
Autorinnen und Autoren Personenregister
Vorwort Anlässlich der Eröffnung des Nietzsche-Dokumentationszentrums Naumburg hat im Oktober 2010 in der Saalestadt unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten des Landes Sachsen-Anhalt eine gemeinsam von der FriedrichNietzsche-Gesellschaft und der Friedrich-Nietzsche-Stiftung veranstaltete Internationale Konferenz zum Thema „Einige werden posthum geboren.“ Friedrich Nietzsches Wirkungen stattgefunden. Die Konferenz hat sich, dem Titel-Zitat folgend, auf Nietzsches ebenso beispiellose wie widersprüchliche Rezeptionsgeschichte in der Philosophie, den Geistes- und Naturwissenschaften, der Politik, den Künsten und den Medien im 20. Jahrhundert konzentriert und vor allem solchen Philosophieströmungen, künstlerischen Bewegungen und politischen Ideologien Raum gegeben, deren Wirkungen bis in das 21. Jahrhundert hinein wirken und die weitere Rezeption maßgeblich beeinflussen. An Nietzsches provozierenden Thesen scheiden sich nach wie vor (nicht nur) die philosophischen und politischen Geister. Es geht nicht mehr um Euphorie oder Verdammung, Totschweigen oder blinde Affirmation, die im letzten Jahrhundert zum großen Teil die Wirkungsgeschichte geprägt haben – diese sind inzwischen selbst Gegenstand der Forschung –, vielmehr darum, Nietzsche in der Vielfalt seiner Rezeptionsmöglichkeiten mit differenzierter historischer Sachkenntnis zu begegnen und durch die kritische und ausgeglichene Auseinandersetzung Perspektiven für die Zukunft zu eröffnen. Dies gilt für ihn mehr als für jeden anderen Philosophen. Zu oft wurde sein Denken verstellt und verfremdet, dämonisiert oder verharmlost, und zumeist ist der rezipierte Nietzsche bei weitem nicht so komplex und vielschichtig wie seine virtuosen Originaltexte. Vielfach jedoch wurde der historische Nietzsche auch mit mancher anregender Einsicht bereichert, die ihm selbst fremd war, und ging seltsame Verbindungen ein, die zwar historisch unmöglich waren, zugleich aber neue theoretische, künstlerische und mediale Welten eröffneten. Insofern fallen die Perspektiven der Nietzsche-Rezeption mit denjenigen der Nietzsche-Forschung nicht unbedingt zusammen: Die Zukunftsaussichten beider und ihres Dialogs zu evaluieren, gehörte zum Konzept der Konferenz. Ein wesentliches Fundament und Arbeitsinstrument für die NietzscheRezeption seit ihren Anfängen in den letzten Dezennien des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum bildet dafür die von Richard Frank Krummel über Jahrzehnte akribisch angelegte größte Privatsammlung zur Nietzsche-Rezeption: eine umfangreiche Buch-, Zeitschriften-, Dokumenten-, Brief- und Materialsammlung zur Wirkung des Philosophen. Neben wertvollen Nietzsche-Erstausgaben und bibliophilen künstlerisch gestalteten Einzelbän-
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Vorwort
den sind Tagebücher, Monographien, Werke zur philosophischen und literarischen Rezeption, publizistische und Personendaten versammelt. Allesamt waren sie Quellenmaterial für seine kommentierte Jahrhundert-Bibliographie Nietzsche und der deutsche Geist (4 Bände, Berlin, New York: Verlag Walter de Gruyter 1998-2006). Sie sind unverzichtbares Ausgangsmaterial zur weiteren Erschließung der Geisteslandschaft eines ganzen Jahrhunderts, die sich ohne Nietzsches Philosophie kaum in so gegensätzliche Interpretationen und Missverständnisse ihrer Kultur verfangen und ausdifferenziert hätte. Ganz bewusst haben viele Referenten ihre Ausgangsdaten aus diesen Quellen genommen. Das Dokumentationszentrum beherbergt diese Sammlung (Bibliothek und Archiv). Die Friedrich-Nietzsche-Gesellschaft feierte mit dieser Konferenz auch ein Jubiläum. Sie konnte auf zwanzig Jahre ihrer Geschichte zurückblicken. In einem Rundtischgespräch, das aus diesem Anlass mit Mitgliedern der ersten Stunde und langjährigen Wegbegleitern stattgefunden hat, waren die Schwierigkeiten der Gründungsphase, Mühen und Erfolge der nachfolgenden Jahre ebenso Thema wie ihre zukünftigen Aufgaben. Dies war Hans-Martin Gerlach ein besonderes Anliegen. Er hat als Gründungsinitiator der Gesellschaft und als ihr erster Vorsitzender lange Jahre das wissenschaftliche Profil ihrer Forschungs- und Konferenztätigkeit entscheidend geprägt. Immer wieder hat er auf die zukunftsstiftende Bedeutung der Wirkungsgeschichte Nietzsches aufmerksam gemacht und ihre permanente Thematisierung angemahnt. So lag sein Engagement auch für diese Konferenz auf der Hand: An der systematischen wirkungsgeschichtlichen Darstellung der ausgewählten Schwerpunkte konnte er den Erfolg seines konsequenten Aufklärer-Blickes ablesen und sich in seiner philosophischen Hartnäckigkeit bestätigt fühlen. Das Thema der Konferenz war im direkten Sinne sein Thema. Er war allen an Nietzsche und seiner Wirkung Interessierten ein geduldiger und leidenschaftlicher Ratgeber zugleich. Die Nietzsche-Gesellschaft, die Herausgeber und viele Nietzsche-Forscher im In- und Ausland trauern um Hans-Martin Gerlach, der wenige Monate nach dieser Konferenz in Leipzig verstorben ist. Wir ehren ihn dadurch, dass wir seinem philosophischen Leitsatz, auch beim Thema Nietzsche sei kritisches Denken aus guten Gründen unverzichtbar, verpflichtet bleiben. Dass Nietzsche lebenslänglich zum geistigen Wegbegleiter werden kann, hat Martin Walser in seiner Lesung beeindruckend und vergnüglich vorgestellt. Weil sich der Philosoph nur für jemanden eigne, der erleben will, wie Denken, Sprechen und Schreiben beweglich und frei mache, sei er von ihm, von der „mächtigste[n] Verführung“ in unserer Sprache, sei er von Nietzsche nicht mehr losgekommen oder besser: wollte er von ihm nicht loskommen. Weil er alles berühre, könne man von ihm nicht unberührt bleiben. Wort-, stimm- und
Vorwort
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gestengewaltig hat der heutige Dichter dem Denk- und Sprachkünstler gehuldigt, facettenreich in den Tiefen seiner Gedanken gestöbert und Spuren aus ihrem Labyrinth gelegt, skeptisch den wirklichen oder vermeintlichen Nietzscheenthusiasten über die Schulter geblickt, um im nächsten Augenblick kenntnisreich philosophische, ethische, theologische oder ästhetische Dimensionen auszuloten, um mit Nietzsche auf ein weit ausgelegtes Begriffspanorama in der Geistesgeschichte zu kommen: Existenz, Liebe, Tod, Sprache, Selbstbewusstsein, Kunst, Religion, Wert- und Sinngebung, Geschichte und Lebenserfüllung. Auch da, wo als größter Lebenswunsch der genannt wird, einmal zu einem Vortrag mit dem Titel „DER NIETZSCHE-REFERENT“ eingeladen zu werden, um erklären zu können, warum es den einen wirklichen Nietzsche-Referenten nicht geben kann. Was ironisch klingt und auch so gemeint ist, dahinter steht auf überraschende Weise, was auch das Anliegen unserer Konferenz war: den vielschichtigen Motiven auf die Spur zu kommen, die das Interesse an dem umstrittenen Philosophen immer wieder neu begründen. Darum haben wir Martin Walser zum Auftakt das Wort gegeben: Indem er die „unzähligen Problem-Sekunden“ vor Augen stellt, in denen Nietzsches Denken hilfreich sein kann, die „Situationen, in denen [er] ihn brauchen konnte“, öffnet er den Blick für das, was die darauf folgenden Beiträge auffalten. Dafür danken wir Martin Walser. Vielen ist Dank zu sagen: allen Referenten, die mit ihren Beiträgen die Konferenz mit Leben erfüllt und uns ihre Manuskripte zur Verfügung gestellt haben; dem Leiter des Nietzsche-Dokumentationszentrums Ralf Eichberg, der uns bei der Organisation und Durchführung der Konferenz tatkräftig zur Seite gestanden hat; Gertrud Grünkorn und Christoph Schirmer vom Walter de Gruyter Verlag für die umsichtige Beratung und für ihre verständnisvolle Geduld. Unser besonderer Dank last but not least gilt der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften für die großzügige finanzielle Unterstützung, ohne die die Veröffentlichung des Bandes nicht möglich geworden wäre. Berlin, im Januar 2012 Renate Reschke und Marco Brusotti
Siglenverzeichnis A. Werkausgaben KGW KGB KSA KSB BAW
Kritische Gesamtausgabe, Werke. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin, New York 1967 ff. Kritische Gesamtausgabe, Briefe: Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin, New York 1974 ff. Kritische Studienausgabe, Werke. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin, New York 1980 ff. Kritische Studienausgabe, Briefe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin, New York 1986 ff. Jugendschriften. Hrsg. von Hans Joachim Mette Bde. 1–2, Hans Joachim Mette und Karl Schlechta (Bd. 3–4), Carl Koch und Karl Schlechta (Bd. 5). München 1994
B. Siglen einzelner Werke AC BA CV DD DW EH FW GD GG GM GMD GT IM JGB M MA MD NL NH
Der Antichrist Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern Dionysos-Dithyramben Die dionysische Weltanschauung Ecce homo Die fröhliche Wissenschaft Götzen-Dämmerung Die Geburt des tragischen Gedankens Zur Genealogie der Moral Das griechische Musikdrama Die Geburt der Tragödie Idyllen aus Messina Jenseits von Gut und Böse Morgenröthe Menschliches, Allzumenschliches (I und II) Mahnruf an die Deutschen Nachgelassene Fragmente Ein Neujahrswort an den Herausgeber der Wochenschrift Im neuen Reiche
XVIII NW PHG SGT ST UB I UB II UB III UB IV VM WA WL WS WM Z
B. Siglen einzelner Werke
Nietzsche contra Wagner Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen Sokrates und die griechische Tragödie Sokrates und die Tragödie Unzeitgemäße Betrachtungen, Erstes Stück: David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller (DS) Unzeitgemäße Betrachtungen, Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (HL) Unzeitgemäße Betrachtungen, Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher (SE) Unzeitgemäße Betrachtungen, Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth Vermischte Meinungen und Sprüche Der Fall Wagner Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne Der Wanderer und sein Schatten Wille zur Macht Also sprach Zarathustra
Martin Walser
Nietzsche lebenslänglich. Eine Seminararbeit 1
Vorwort Als ich meinen Computer fragte, wie oft Nietzsche bei mir vorkomme, antwortete er: 732 Mal. Ich darauf: Das könnte mich interessieren. Und er bediente mich bzw. mein Interesse. Bald genug merkte ich, dass ich nie etwas über Nietzsche gesagt oder geschrieben habe. Ich hatte nie eine Meinung über Nietzsche. Es war immer ein begriffsloser Umgang. Ich habe Nietzsche brauchen können. Geglaubt, dass ich ihn brauchen könne. Wie das vor sich ging, ist hier noch einmal festgehalten. Es waren Anrufungen. Bezeichnend ist schon, in wie verschiedenen Problem-Augenblicken ich ihn angerufen habe. Zitiert auch, aber noch öfter angerufen als zitiert. Ob im grob Politischen – die deutsche Teilung betreffend – oder im verästelt Geistesgeschichtlichen – Thomas Manns Versuch, ihn für den hauseigenen Ironiegebrauch zu mobilisieren –, es gab offenbar nichts, wofür ich ihn nicht herbeschwor, eben anrief. Aber auch meine Romanfiguren kommen nicht ohne ihn aus. Die Fabrikantengattin Blomich im Roman Halbzeit sowenig wie der ganz in Nietzsche-Frequenzen lebende und leidende Lehrer Helmut Halm im Fliehenden Pferd und in der Brandung. Unwillkürlich sehe ich jetzt, dass es für mich keine Grenze der Nietzsche-Anwendung geben konnte. Aber das weiß jeder, der ihn dauerhaft liest, dass Nietzsche von nichts unberührt blieb. Und jede Berührung produzierte bei ihm ein Genauigkeitswunder. Deshalb darf man schamlos gestehen, dass er in unserer Sprache die mächtigste Verführung ist. Daß er dir in unzähligen Problem-Sekunden erschien, hat dazu geführt, daß du sozusagen dein Leben mit ihm verbracht hast. Ich halte hier fest, was ich mit ihm anfing, wenn ich glaubte, ihn brauchen zu können. Um zu zeigen, was ich jeweils habe anfangen können mit Nietzsche, muß ich die Situationen, in denen ich ihn brauchen konnte, wiedererstehen lassen. Und zwar in den Texten, in die er hineinwirkte. Von 1957 bis heute. Unwillkürlich ergab sich so eine Art Problem-Anthologie. 1 Die Veröffentlichung erfolgt mit Genehmigung des Autors (24.11.2011). Die Texte sind ungekürzt nachlesbar in: Martin Walser, Nietzsche lebenslänglich. Eine Seminararbeit, Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag 2010
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Martin Walser
Es ist wohl verständlich, daß in dieser Sammlung von Nietzsche angerufenen Situationen die Verehrung maßgebend ist. Und, wenn das verständlich werden könnte, die Dankbarkeit.
Über den Leser – soviel man in einem Festzelt darüber sagen kann (1977) Mein Leser, wenn es ihn gibt, hält es für unerträglich, daß Deutschland in DDR und BRD auslaufen soll. BRD und DDR können aber über ihr jetziges Un-Verhältnis nur hinauswachsen, wenn unser historisches Bewußtsein ein Bedürfnis nach Überwindung des Un-Verhältnisses zeitigt. Wenn es den Machern des Aktuellen gelingt, in uns das Bedürfnis nach Deutschland zum Erlöschen zu bringen, oder wenn es ihnen gelänge, dieses Bedürfnis auf ein Deutschland wie gehabt zu dressieren, dann werden BRD und DDR tatsächlich unsere Geschichte beschließen. Aber ich glaube, es existiert ein historisches Bewußtsein, das Katastrophenprodukt zu überwinden. Und ich glaube, dieses Bedürfnis kann tradiert werden. Ich könnte nicht einen einzigen praktischen Schritt nennen zur Überwindung des tragikomischen Un-Verhältnisses zwischen den beiden Deutschländern. Aber ich spüre ein elementares Bedürfnis, nach Sachsen und Thüringen reisen zu dürfen unter ganz anderen Umständen als denen, die jetzt herrschen. Und das kommt aus Traditionen, an denen ich als Leser teilgenommen habe. Sachsen und Thüringen sind für mich weit zurück und tief hinunter hallende Namen, die ich nicht unter „Verlust“ buchen kann. Nietzsche ist kein Ausländer […] Aus meinem historischen Bewußtsein ist Deutschland nicht zu tilgen. Sie können neue Landkarten drucken, aber sie können mein Bewußtsein nicht neu herstellen. Dazu war ich zu lange Leser. Ich weigere mich, an der Liquidierung von Geschichte teilzunehmen.
Ein fliehendes Pferd (1978) Theaterstück Entschuldige, Helmut. Wir haben uns dreiundzwanzig Jahre nicht gesehen. Ich dachte einfach an früher, du, uns allen voraus, mit Nietzsche und so. Hel, jetzt schau nicht wie ein Rasiermesser bei Mondschein. …. KLAUS Aber ja. Schon in der Schule, immer die schmelzendsten Stimmungsbilder hingelegt. Und dann: ausschweifendste Wortgebilde mit gänzlich
Nietzsche lebenslänglich. Eine Seminararbeit
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interesseloser Stimme vorgetragen. Der hatte Formulierungen drauf, Hel, wahnsinnig. Mit vierzehn Zarathustra gelesen. Im Leuze! Aber ja, Helmut, tu nicht, als hättest du das vergessen. Zarathustra mit vierzehn, in der Badehose, im Leuze. Er hieß bei uns nur der Leuze-Nietzsche. Und zwar Zarathustra auf französisch! Jawohl, Hel. So ein Snob war er. Ist er wahrscheinlich immer noch. KLAUS Aber die Segelei findet statt! Ihr werdet sehen, wie wir zusammenfinden, wenn das Boot uns wiegt. Helmut, alles Schroffe, Unvereinbare … es ver – flüch – tigt sich. Die Natur, Herr Nietzsche, vergessen Sie nicht, aus was Sie sind, Herr Professor.
Höchste Schule (1981) Maria Menz Die Schreibende ist offenbar allein und fängt an, wie sie’s gelernt hat, zu Gott zu sprechen. Sie tut das in den Tönen, die ihr zu Ohren gekommen waren. Daraus entwickelt sich in jahrzehntelanger Übung ihr eigenes Gedicht. Das stammt dann immer mehr aus der Erfahrung, die sie selber gemacht hat bei dem Versuch, Gott anzusprechen, sich Gottes auch nur im mindesten, bescheidensten, elendesten zu versichern. Hätte ihr das Resultat nicht irgendein Philosophiestudent im dritten Semester billiger liefern können? Nein. Sie hat sich aus sicherstem Grund nicht auf die bildzeitungshaft fortlebende NietzscheParole, daß Gott tot sei, verlassen. Diese Parole ist als solche so unsinnig wie etwa der Satz: Steine sind herzlos. Vielleicht war Gott, als Nietzsche anfing, auf eine so groteske Weise zu einem bürgerlichen Leben erweckt und zur gewinnreichen Mitarbeit eingeladen worden, daß es dringend nötig war, ihn totzusagen.
Brandung (1985) Rainer übergab ihm den Schlüssel für den Chevy. The Chevy man can, dachte Halm und ärgerte sich darüber, daß sein Bewußtsein sich täglich mehr mit Werbesprüchen füllte. Er war den TV-Spots und – Spells nicht gewachsen. Was sinnst du also, fragte Rainer. Ich habe ein Nietzsche-Buch geschrieben, das niemand haben will, sagte Halm, und ich begreife jetzt gerade, warum. Gratuliere, sagte Rainer. …. Ich wüßte etwas, rief Auster, Nietzsche! Unser Freund steht auf Nietzsche. Das interessiert mich. Wenn einer in Europa heute eine Vorlesung ansetzt, hat
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Martin Walser
er volles Haus, egal wer er sei, das schreiben mir meine Freunde. Man muß mir das erklären, sonst versteh’ ich das nicht. Für mich ist Nietzsche nämlich der letzte Großversuch der philosophischen Magd, die Priester zu stürzen, um selber Oberpriesterin zu werden. Endlich war Auster zu Wort gekommen. Carol führte Elrod, der vom Krampf überfallen wurde, hinaus. …. Das ist brav, sagte ein Mann mit einer grauen, geradezu aufschäumenden Haarpracht. Professor Felix Theodor Auster, Philosophie. Er hat gerade von Halms Frau gehört, daß Halm ein Buch über Nietzsche schreibt. Er doch auch. Hier seine Adresse. Übrigens in walking distance vom Campus. Er sei gerade dabei, die Fahnen seines Aufsatzes Erst Nietzsche und dann Kafka zu korrigieren, für die Studi Tedeschi, er werde Halm eine Kopie davon machen lassen; in diesem Aufsatz habe er sich in einem abgefeimten understatement als Nichtnietzschefachmann bezeichnet; leider könne er Nietzsche hier kaum anbieten, hier sei man noch auf dem Soziologietrip. Vokabular statt Sprache. In Europa werde Nietzsche jetzt zuviel zitiert, weil er in den zwanzig Jahren davor zuwenig zitiert worden sei. Mehr ist es ja nicht, das Geistesleben, als Zuviel- und Zuwenigzitieren und Zitiertwerden. In Berlin sei neulich ein Kollege, während er Nietzsche zitierte, tot umgefallen. Ungefährlich sei es zum Glück nicht, das Geistesleben. Für Verheiratete sollte man es sowieso sperren. Oh, Leslie …, entschuldigen Sie mich, ich seh’ Leslie Ackermann, ich muß ihm eine Freude machen, ich hab’ seinen Dekadenz-Aufsatz zitiert im Quarterly, das muß ich ihm sagen, inzwischen lösen Sie die absolute Preisfrage: Was macht beliebter, Zitieren oder Zitiertwerden? Bis später. Halm rief ihm nach: Den NietzscheAufsatz nicht vergessen und das Büchlein, bitte! Auster blieb noch einmal stehen, drehte sich um und sagte, geradezu schimmernd vor Ruhe: Werd’ ich! Dann hastete er fort. Aber man sah, beides stellte er nur dar, die Ruhe und die Hast. Darstellen machte ihm offenbar Spaß. …. Halm genierte sich. Hatte er, trotz aller Vorsicht, zuviel Kino konsumiert? Seit er seine Nietzsche-Pläne endgültig als gescheitert ansah, seit dem Tag, an dem, nach sieben Monaten dauerndem, Schweigen, von jenem Verlag, der für zuständig gehalten werden konnte, das Manuskript mit einem vorformulierten Ablehnungsbrief eintraf, der vermuten ließ, daß andauernd Hunderte gleich unbrauchbarer Manuskripte über Nietzsche eingeschickt wurden – anders wäre ja ein solcher Formelbrief überhaupt nicht zu erklären –, seit dem Tag war er vielleicht ein bißchen erschlafft, war manchmal sitzen geblieben bei einem Film, der ihn früher sofort verscheucht hätte. Er war anfällig geworden für diesen lösungsfreudigen, demiurgischen Kitsch. Dich übernimmt sofort das Fernsehen. Du kannst dich darauf verlassen, daß dir da nichts zugemutet wird, was du nicht ertragen kannst. Das ist das
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schlechthin Wunderbare bei diesem amerikanischen Fernsehen: es paßt. Es rechnet offenbar mit den Erfahrungen, die du machst. Es kennt dich in- und auswendig. Es empfiehlt dir den Easy-Off-Spray! Und breath deodorant! Das ist nicht die unangenehmste aller möglichen Erfahrungen: es muß Millionen geben wie dich. Sonst wäre dieses Fernsehen nicht zu verkaufen. Life is better on TV than at your front door. Basta. Er würde, wenn er je wieder nach Sillenbuch käme, sein Nietzsche-Manuskript verbrennen. Er würde sich endgültig einreihen, wo er hingehörte, bei den Konsumenten. Verschwinden, das ist der Inbegriff der Erlösung. …. Sein Alterwerk heißt Sport. Wenn schon kein Buch über Nietzsche, dann doch eine Körperrenaissance sondergleichen.
Des Lesers Selbstverständnis (1993) Überhaupt, wie soll denn das praktiziert werden können: sich als Leser und als Berichterstatter der Leseerfahrung dem Risiko der Unwillkürlichkeit anvertrauen, dem nicht kommandierbaren Sprachgeist, der unwillkürlichen Erfahrung des „Sichselbstwerdens“ durch Lesen und Schreiben, wie soll das denn bis zur stundenplanmäßig betreibbaren Aktivität entwickelt werden, wie überhaupt lehrbar? Ich überlasse die Beantwortung dieser Praxisfrage zuerst einmal Friedrich Nietzsche, der den Philosophen davor bewahren wollte, im Gelehrten zu enden. Auch der Literaturwissenschaftler hat zwei Wege: den zum Schriftsteller und den zum Gelehrten. Und das sind nicht zuerst zwei Sprachwege; zuerst sind es eher zwei verschiedene Seinswege oder – weisen, die erst nachträglich zu zwei verschiedenen Sprachgebräuchen führen. Führen können, nicht müssen. Die Einladung zur Existenzermäßigung, die im Wort Sekundärliteratur enthalten zu sein scheint, ist ablehnenswert. …. In seiner Schrift Schopenhauer als Erzieher beschreibt Nietzsche die Gefahr der jederzeit ausübbaren geistigen Tätigkeit. Und aus dieser kritischen Beschreibung ergibt sich, glaube ich, eine Wegweisung zu einer anderen Art Tätigkeit; zu der eben, die ich in meinem Bericht ein wenig zu propagieren versuchte. Also, Nietzsche als Wegweiser: „Frage: kann sich eigentlich ein Philosoph mit gutem Gewissen verpflichten, täglich etwas zu haben, was er lehrt? … muß er sich nicht den Anschein geben, mehr zu wissen, als er weiß? Muß er nicht über Dinge vor einer unbekannten Zuhörerschaft reden, über welche er nur mit den nächsten Freunden ohne Gefahr reden dürfte? Und überhaupt: beraubt er sich nicht seiner herrlichsten Freiheit, seinem Genius zu
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Martin Walser
folgen, wann dieser ruft und wohin dieser ruft? – dadurch, daß er zu bestimmten Stunden öffentlich über Vorher-Bestimmtes zu denken verpflichtet ist … Wie wenn er nun gar eines Tages fühlte: heute kann ich nicht denken, es fällt mir nichts Gescheites ein – und trotzdem müßte er sich hinstellen und zu denken scheinen!“ Also, in der schönen Vollmundigkeit des 19. Jahrhunderts: die „herrlichste Freiheit“ sei die, daß einer „seinem Genius“ folge. Diesen Genius hat jeder. Der spricht sich aber nicht in Vokabularen aus, sondern nur in der einem jeden eigenen Sprache. Die hat auch jeder, solange er diese „herrlichste Freiheit“ nicht einem Hilfe versprechenden Vokabular unterwirft. „Seinem Genius“ folgen, das ist das, was Novalis nannte, „in sich das zarte Wirken der Sprache“ zu vernehmen, also eben nicht bei den Vokabularen unterzuschlüpfen. Man hat die Sprache nicht als kommandierbare. Sie ist das am wenigsten Verfügbare. Es sei denn, man sei Herr einer Manier. Sonst entsteht sie allenfalls und auf nicht beherrschbare Weise dadurch, daß man es riskiert, sich ihr anzuvertrauen.
Über freie und unfreie Rede (1994) Eine erste Entspannung im Gewissenskampf versprach der Lateinunterricht. Heidnische Helden, heidnische Gedichte, Zeilen heidnischer Lebensfreude. Aber die Drohhorizonte, von denen mein Christentum lebte, hielten noch stand. Dann konnte ich ein Buch erwerben, das auf schwarzblauem Einband den Titel in goldenen Buchstaben präsentierte: Volks-Nietzsche. Es war der dritte Band einer Nietzscheausgabe, Inhalt: Also sprach Zarathustra. Willkommener konnte mir kein Buch sein. Im Ton anklingend an Psalmen oder PaulusBriefe, aber inhaltlich ein Befreiungsangebot.
Kaschmir in Parching Deutsche Chronik (1996) Auftritt Fritz Guten Abend. Le grand regret de ma vie, que je ne parle pas français. Nietzsche. Wär doch maximal, wenn ich jetzt so schön, also so schnell Französisch spräche, daß ihr nichts verstündet und euch auch noch richtig schämen müßtet. Jeder Mensch, der nicht Französisch spricht, muß sich schämen. Wenn ich mich je entschließen könnte, Hochstapler zu werden, würde ich vorher
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Französisch lernen, daß meinen Auftritten wenigstens sprachlich eine grandeur naturelle eignete. Nietzsche und mir geht es gleich. Aber ich werde anders enden. Wenn ich dreiunddreißig bin, an einem Karfreitag, werde ich vor einer Videokamera sterben. Die Weltrechte sind schon verkauft.
Ich vertraue. Querfeldein (1998) Natur ist der Inbegriff des Hiesigen; also des überall Hiesigen. Hier darf ich mir von Nietzsche zurufen lassen: „Wir müssen wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden und nicht so verächtlich wie bisher über sie hinweg nach Wolken und Unholden hinblicken.“ Nietzsche nennt es das „Gift der Verachtung gegen das Nächste“, wenn wir uns vorzüglich um die alleräußersten Horizonte bemühen.
Die Aktualität des Daseins (2001) Das Selbstgespräch, in dem sich das Innewerden des Daseins, seine Aktualität, vollzieht, wartet mit einem weit ins Asoziale reichenden Strom von Empfindungen und Gedanken auf. Unschön, nach landläufiger Bewertung, ist das meiste, was da aufkocht in einem. Also frische ich meinen Nietzschesatz auf, den ich gerade irgendwo als Motto gebraucht habe: „Diese meinen, die Wirklichkeit sei häßlich: aber daran denken sie nicht, daß die Erkenntnis auch der häßlichsten Wirklichkeit schön ist …“ Also, bitte. Auch das Denken des Schlimmsten ist dadurch, daß man es denkt, aufgenommen ins Erträgliche. Vielleicht sogar ins Schöne.
Illner und Walser (2001) Walser: Zehn Jahre war meine Nacht-Lektüre Kierkegaard. Der wurde abgelöst, und zwar in einer geradezu regierungswechselhaften Kraßheit, von Nietzsche, … den ich viel früher gehabt hatte. Und jetzt habe ich das Gefühl, daß ich davon nicht mehr wegkommen werde. Illner: Danke für das Stichwort. Walser: Der ist der einzige große Schriftsteller unter den denkenden Deutschen. Frei vom System-Jargon. Illner: Also mir macht er ehrlich gesagt wirklich …
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Martin Walser
Walser: Ich habe gerade einen Aufsatz geschrieben, da habe ich einen Satz von ihm als Motto. Einen Nietzschesatz. Der heißt: „Und noch einmal: Es ist leichter, gigantisch zu sein, als schön.“ Illner: Na ja, also ich glaube, der ist wahnsinnig. Ich glaube, der ist wirklich wahnsinnig. Walser: Also Maybritt, sage ich, Kind, sage ich jetzt, es gibt keinen deutschen Denkenden, der so schön schreibt wie der. Illner: Er will so schrecklich gigantomanisch sein. Und das klingt so, wie soll man sagen … als würde er so darunter leiden, es eben nicht jeden Tag 24 Stunden nachweisen zu können, daß er Gigant ist. Walser: Das tut mir gut, Sie endlich vollkommen bedürftig zu sehen. Illner: Also er ist arrogant. Walser: Nietzsche ist der … also wenn man das beschreiben will von außen mit Bildungswörtern, die im Gebrauch sind, er ist ein Impressionist des Denkens. Er kann hinschauen, wo er will. In die Politik, in die Natur, in die Industrie. Und du hast es noch nie so schmerzlich genau gefaßt gesehen wie bei ihm. Sahner: Können wir ein anderes Thema anschneiden?
Über ein Geschichtsgefühl (2002) Eine Zugehörigkeit muß man erleben, nicht definieren. Auch die Zugehörigkeit zu einem Geschichtlichen hat man nicht zuerst als Erkenntnis parat, sondern als Empfindung, als Gefühl. So kommt es – wenigstens bei mir – zu einem Geschichtsgefühl […] Als ich in der Zeit der deutschen Teilung davon gesprochen habe, daß ich diese Teilung in meinem Geschichtsgefühl nicht unterbringe, kam die Antwort des gerade zeitgeistdiensthabenden Intellektuellen im SPIEGEL, den man nennen könnte den FOCUS des Zeitgeists: Denken konnte er ja nie. Ich bestehe trotzdem auf meinem Geschichtsgefühl […] In der als rational berühmten französischen Sprache hat Vauvenargues formuliert: Les grandes pensées viennent du cœur. Und Pascal prägte: Raison du cœur. Ich kann mir vorstellen, daß diese großbuchstabig sentenziöse Form einen praktizierenden Intellektuellen nicht beeindruckt, deshalb möchte ich, weil mir diese bei uns geübte Einteilung kritisierenswert erscheint, einen Helfer zitieren, der sich diesen Unterschied zwischen Denken und Fühlen in unserer Sprache vorgenommen hat, nämlich Nietzsche. In seinem Buch Morgenröte sagt er, daß all unser sogenanntes Bewußtsein ein mehr oder weniger phantastischer Kommentar über einen ungewußten, vielleicht unwißbaren, aber gefühlten Text ist. Also, bitte, das Bewußtsein nur ein Kommentar zu einem
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gefühlten Text. Und ein paar Jahre später, in seinem Buch Die fröhliche Wissenschaft: „Es steht uns Philosophen nicht frei, zwischen Leib und Seele zu trennen, wie das Volk trennt, es steht uns noch weniger frei, zwischen Seele und Geist zu trennen … Wir müssen beständig unsre Gedanken aus unsrem Schmerz gebären und mütterlich ihnen Alles mitgeben, was wir von Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhängnis in uns haben.“ So, darf ich jetzt wohl sagen, entsteht unter anderem auch ein Geschichtsgefühl. Wer als Intellektueller glaubt, er könne oder müsse gar über Nation gefühlsfrei denken, den darf man wohl, mit allem Respekt, einfältig nennen.
Tod eines Kritikers (2002) HH. Nur noch eins, und das nicht gesagt zu haben, würden wir uns beide vorwerfen, Nietzsche, auf den Sie hinschreiben, Herr Landolf, Nietzsche, das muß ich Ihnen zu bedenken geben, mein Guter, Nietzsche hat sich fürchterlich überschätzt, als er verkündete, die Umwertung aller Werte vollbracht zu haben, bürgerlich befangen, wie er nun einmal war, hat er nicht gemerkt, daß alles so weiterging wie immer! Die Umwertung aller Werte – und nur darum hol ich zum Schluß noch einmal jede Menge Atem –, die hat André Ehrl-König vollbracht, und das nicht ganz ohne meine Mitwirkung. Bei diesem epochalen Reinemachen ist nur ein Wert übriggeblieben als der Wert aller Werte und außer ihm ist nichts: der Unterhaltungswert. Quote, mein Lieber. Jeden Abend Volksabstimmung. Die Demokratie des reinen Werts. Endlich. Quod licet bovi non licet jovi.
Das menschliche Ermessen (2002) Längst fällig ist eine Nachricht von Nietzsche. Eine Kurzrezension des Frühwerks. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Der Satz, von dem ich hier schon ausgiebig Gebrauch gemacht habe, heißt bei Nietzsche: „daß nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist“. Während des Krieges 1870/71 hat der Sanitätssoldat Nietzsche das geschrieben, was er dann, 1886, „ein unmögliches Buch“ nennt, es aber doch noch einmal herausgibt mit einem Vorwort, das er „Versuch einer Selbstkritik“ nennt. Viel lehnt er da ab, Wichtiges polemisiert er förmlich hinaus aus dem Frühwerk; daß aber das Dasein der Welt nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt ist,
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läßt er stehen und führt es noch fort, radikalisiert es so, daß man, um das Frühwerk in eigenen Dienst zu nehmen, gar nicht mehr nachbeten muß, was die wilde Erzählung liefert: das Apollinische und das Dionysische als ein ewig streitendes Paar menschlicher Äußerungstriebe; zuerst wird in einer nie in Harmonie ermattenden Ehe der beiden Triebe (Nietzsche nennt sie so) die attische Tragödie geboren; dann wirkt das Spannungspaar durch unsere ganze Geschichte, um immer zu verhindern, daß das Dasein der Welt ins Nichtmehrzurechtfertigende gerate; zum Beispiel ins Nur-noch-Sokratische, das wäre: die Welt wird gerechtfertigt durch ihre Erkennbarkeit und dadurch, daß das als gut Erkannte als lehrbar bewiesen wird; Sokrates wird da von Nietzsche wirklich wild und ohne Bedürfnis nach Verhältnismäßigkeit an den Himmel der Geschichte porträtiert; Sokrates als der „Typus des theoretischen Menschen“, der je nach Niveau mehr oder weniger kunstfeindlich ausfällt und agiert; aber Nietzsche erinnert sich und uns dann eben doch noch daran, daß Sokrates im Gefängnis seinen ihn besuchenden Freunden gesagt habe, ihm sei jetzt im Traum öfters ein und derselbe Satz gesagt worden: „Sokrates, treibe Musik!“ Und das teilt jener Sokrates mit, dem es doch immer so wichtig war, mitzuteilen, daß seine innere Stimme, sein Dämonion, immer nur abratend in ihm wirkt, nie aber zuratend. Diese wilde Erzählung ist alles andere als ein Text, der sich durch Verständnis erschöpfen läßt. Das Dionysische wird zwar aus all seinen historischen und mythischen Szenen herzitiert, aber es entzieht sich sozusagen prinzipiell seiner verständlichen Darstellbarkeit. Die Rolle des Apollinischen in der Kunst ist leichter zu vermitteln. Nietzsche erzählt die Unfaßbarkeit des Dionysischen. Auch in der Kunst. Und er malt al fresco die Verlorenheit der Welt ohne Kunst. Ohne das Schöne. Das Schöne, die einzige Rechtfertigungs-Chance der Welt. Das klingt in zusammenfassender Sprachlosigkeit verstiegener als die verstiegensten Passagen der wilden Erzählung selbst. Es ist mehr als eine Erzählung, es ist eine Ausschweifung. Gerichtet gegen den sokratischen Optimismus, gegen „die sokratische Lust des Erkennens“ und den „Wahn, durch dasselbe die ewige Wunde des Daseins heilen zu können“. Jetzt, 1886, nennt er sein Frühwerk „Artisten-Metaphysik“, gerichtet gegen das lehrhaft Gute, gegen „die moralische Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins“. Dazu soll er so ausführlich zu Wort kommen wie bei ihm nur Schopenhauer zu Wort kommt: „Hier kündigt sich, vielleicht zum ersten Male, ein Pessimismus ‚jenseits von Gut und Böse‘ an, … eine Philosophie, welche es wagt, die Moral selbst in die Welt der Erscheinung zu setzen, herabzusetzen und nicht nur unter die ‚Erscheinungen‘, … sondern unter die ‚Täuschungen‘, als Schein, Wahn, Irrthum, Ausdeutung, Zurechtmachung, Kunst. … In Wahrheit, es giebt zu der ein ästhetischen Weltauslegung und Welt-Rechtfertigung,
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wie sie in diesem Buch gelehrt wird, keinen größeren Gegensatz als die christliche Lehre, welche nur moralisch ist und sein will und mit ihren absoluten Maaßen, zum Beispiel schon mit ihrer Wahrhaftigkeit Gottes, die Kunst, jede Kunst in’s Reich der Lüge verweist … Hinter einer derartigen Denk- und Werthungsweise, welche kunstfeindlich sein muß, so lange sie irgendwie ächt ist, empfand ich von jeher auch das Lebensfeindliche, den ingrimmigen, rachsüchtigen Widerwillen gegen das Leben selbst: denn alles Leben ruht auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Nothwendigkeit des Perspektivischen und des Irrthums.“ Wenn man nicht aus einem christlichen Pfarrhaus stammt, darf einem in diesem Frühwerk das Anti weniger wichtig sein als das Pro: und das heißt, daß das Leben auf Schein ruht, auf Kunst, und daß auch alle Moral und alle moralische Rechtfertigung der Welt Kunst ist, Schein ist. Und es darf den Christen trösten, daß da auch Religion unter Kunst subsumiert wird. Also: „ … nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt gerechtfertigt.“ Den Schlußsatz seines Buches läßt Nietzsche einen „greisen Athener“ sagen, den er mit „dem erhabenen Auge des Aeschylus“ ausstattet: „… wie viel mußte dies Volk leiden, um so schön werden zu können!“ …. Das Frühwerk, sagt Nietzsche, ist „aufgebaut aus lauter vorzeitigen übergrünen Selbsterlebnissen, welche alle hart an der Schwelle des Mittheilbaren lagen, hingestellt auf den Boden der Kunst – denn das Problem der Wissenschaft kann nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden …“; das „verwegene Buch“ hat es gewagt, „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen, die Kunst aber unter der des Lebens“. Später hat er den römischen Satz, daß das Leben der Wahrheit zu dienen habe, umgedreht in: daß die Wahrheit dem Leben zu dienen habe. Und das Leben ruht eben „auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Nothwendigkeit des Perspektivischen und des Irrthums“. Ist nicht auch Wittgenstein noch fortgesetzter Sokrates? Und Sokrates ist das Antidionysische schlechthin. Und das Dionysische ist nur ein Wort, in dem sich alles, was nicht in förderlichen Sinn auflösbar ist, sammelt. Bocksgesang, und das heißt Tragödie. Man könnte auch sagen: es ist immer die Antwort auf nicht gelingende Geschichte. Zum Beispiel: Der „Prometheus“ von Aischylos. Prometheus hat die Menschen mit Fortschritt versehen, Vater Zeus bestraft ihn dafür. Der Aischylos-Prometheus erreicht einen Grad der Einsamkeit, des Schmerzes, der in keinem heutigen Kunstwerk auch nur ahnbar ist. Und trotzdem verstehen wir diesen Extremisten der Wut und des Gekränktseins sofort und Wort für Wort, bis zum Schlußsatz, bevor der Abgrund ihn verschlingt: „Seht, welch Unrecht ich erdulde!“ Die Geschichte, die dieses Unrecht kreiert, ist historischer Verlauf in mythischem Material. Es ist die ex-
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tremste Kampfansage gegen Machtausübung, die ich kenne. Die Maßlosigkeit dieser Kampfansage, das sich Nichtfassenkönnen, der unantastbare Eigensinn in aller Qual und Einsamkeit produziert eine dionysische Frequenz.
Mehrere Vorreden zur Verwaltung des Nichts (2003) Zu Nietzsches Immerwiederkehrendem gehört es, daß das Leben nicht in richtig und falsch, wahr und unwahr zerschnitten werden soll, daß Verzichtleisten auf falsche Urteile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens wäre. Das lese ich gern, weil es schon einmal hilft, diese Richtig/Falsch-Einteilung zu schwächen. Mit zwei unmäßig ausführlichen Zitaten soll jetzt dokumentiert sein, wie Nietzsche selber verfährt, ganz unwillkürlich verfährt. Beide Zitate aus Jenseits von Gut und Böse (das erste Zitat beginnt auf S. 624, das zweite auf S. 646 (Ausgabe Karl Schlechta, Bd. II)). Und dieses ziemlich direkte Aufeinanderfolgen gehört zum Augenöffnenden selbst. Auf S. 624 heißt es: „Und die Starken zerbrechen, die großen Hoffnungen ankränkeln, das Glück in der Schönheit verdächtigen, alles Selbstherrliche, Männliche, Erobernde, Herrschsüchtige, alle Instinkte, welche dem höchsten und wohlgeratensten Typus ‚Mensch‘ zu eigen sind, in Unsicherheit, Gewissens-Not, Selbstzerstörung umknicken, ja die ganze Liebe zum Irdischen und zur Herrschaft über die Erde in Haß gegen die Erde und das Irdische verkehren – das stellte sich die Kirche zur Aufgabe und mußte es sich stellen, bis für ihre Schätzung endlich ‚Entweltlichung‘, ‚Entsinnlichung‘ und ‚höherer Mensch‘ in ein Gefühl zusammenschmolzen … bis endlich eine verkleinerte, fast lächerliche Art, ein Herdentier, etwas Gutwilliges, Kränkliches und Mittelmäßiges herangezüchtet ist, der heutige Europäer …“ Und dann S. 646 ff.: „Die lange Unfreiheit des Geistes, der mißtrauische Zwang in der Mitteilbarkeit der Gedanken, die Zucht, welche sich der Denker auferlegte, innerhalb einer kirchlichen und höfischen Richtschnur oder unter aristotelischen Voraussetzungen zu denken, der lange geistige Wille, alles, was geschieht, nach einem christlichen Schema auszulegen und den christlichen Gott in jedem Zufalle wiederzuentdecken und zu rechtfertigen – all dies Gewaltsame, Willkürliche, Harte, Schauerliche, Widervernünftige hat sich als das Mittel herausgestellt, durch welches dem europäischen Geistes seine Stärke, seine rücksichtslose Neugierde und feine Beweglichkeit angezüchtet wurde … diese Tyrannei, diese Willkür, diese strenge und grandiose Dummheit hat den Geist erzogen … Hiermit ist auch ein Wink zur Erklärung jenes Paradoxons gegeben, warum gerade in der christlichsten Periode Europas und über-
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haupt erst unter dem Druck christlicher Werturteile der Geschlechtstrieb sich bis zur Liebe (amour-passion) sublimiert hat.“ Das darf man nicht referieren, das muß zitiert werden. Dann ist aber auch schon alles klar: Wer sich vor solchem Widerspruch hütet, der unterdrückt immer mindestens die Hälfte seines Denkens oder Wissens oder Seins. Der verfährt gegen sich selbst als ein Moralist, der uns, vielleicht um der Normierbarkeit seines Moralisierens willen, eine Konsequenz vorgaukelt, die die Freiheit unseres Geisteslebens auf Widerspruchsfreiheit reduziert. Und das ist von allen Freiheiten die unwichtigste. Mir sind nicht die Inhalte dieser Nietzsche-Passagen wichtig, wohl aber sein Beispiel des So-und-so-weit-Gehens. Sein Nichthaltmachen im Beweisbaren. Seine Nachgiebigkeit dem Verführerischen gegenüber. Also seine Bewegbarkeit. Keine erreichte Position verdient es, daß man sie feiere, als habe man sie angestrebt und jetzt sei man am Ziel. Wenn die Verwaltung des Nichts die unwillkürliche Bedingung des Denkens ist, dann gibt es immer nur jeweils etwas, aber nie mehr als jeweils etwas. …. Nietzsche, dem der große Ideengründer Plato des öfteren auf die Nerven ging, hat sich darüber gefreut, daß man unter dem Kopfkissen von Platos Sterbebett keinerlei Bibel fand, also, schreibt er, nichts Ägyptisches, Pythagoreisches, Platonisches – sondern Aristophanes. Wie hätte auch ein Plato das Leben ausgehalten – ein griechisches Leben, zu dem er nein sagte – ohne einen Aristophanes! Also ohne einen vor kritischer Lust andauernd Platzenden. …. Nietzsche vermutet, Schopenhauer sei über der Frage: Wie ist Willensverneinung möglich? zum Philosophen geworden. Nietzsche selber schwärmt dagegen von einem, der nichts, was ist und war, verneint, sondern der unersättlich da capo ruft. Das meiste liegt ohnehin an den Wörtern. Sich der Wörter bewußt zu werden hilft viel. Einsamkeit, zum Beispiel. In Nietzsches Briefen ist es das Hauptwort schlechthin. Ist es ermeßbar, was dieses Wort wiegt, wieviel allein an ihm, an diesem Wort liegt? Anders gefragt: Gäbe es Einsamkeit, wenn wir das Wort nicht hätten? Sicher ist das Wort die Antwort auf eine Erfahrung. Und es ist aus dieser Erfahrung ein großes, ein schönes Wort geworden […] Einsamkeit, das ist schon ein Faltenwurf, ein Kostüm, ein Kothurn. Wer einsam wäre und hätte dieses Wort nicht, der wäre doch elend dran. Der würde tierisch leiden. Der wäre ausgeliefert. Der hätte nichts als dieses Unsägliche. Wahrscheinlich müßte er gehen, rennen, pfeifen, singen, schreien bis zur Erschöpfung. Aber es gibt das Wort, er hat das Wort. Sobald das Wort Einsam-
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keit die Regie übernimmt, gehört der Einsame wieder dazu. Das Wort empfinden heißt, die Einsamkeit mitteilen. Sie ist zur Sprache gebracht. Du hast deine Einsamkeit in der glorreichen Gesellschaft der Einsamen. Du bist einsam wie Nietzsche und andere. Wenn es auch – das nebenbei – keinen gibt, der einsamer gewesen sein kann als Nietzsche. Zum Glück. Keiner von uns kann Einsamkeit passieren lassen, ohne daß sie ihm nahelegt, sie beim Wort zu nehmen. Ich bin froh, daß es den Satz, das Dasein der Welt sei nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt, schon gibt. Mir wäre der Satz lieber im Irrealis. Das Dasein der Welt wäre nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt. Klingt doch auffordernder, wunschkräftiger.
Meßmers Reisen (2004) Von zuviel Reise abgewetzt, tauch ich den Kopf in den Schaum der Einbildung. Fünf Herren bei mir im Clairemont, ich auf dem Bett. Am hellen Tag. Die Herren wirken, weil sie um mich herumstehen und zu mir herabschauen, wie Ärzte. Richtiger: Wie meine Ärzte. Wie meine um mich sehr besorgten Ärzte. Bruce, Stanley, Clarence Quale, Spencer Farenthold und sogar Dean Dine. Was für ein Aufwand, zwei Wochen vor dem Rückflug, sage ich. Und sie sagen, sie seien gekommen, weil ein Gerücht kursiere, sagend, daß ich gern noch eine Abendveranstaltung vorschlüge, gern noch einen Vortrag halten würde über Nietzsche. Warum, bitte, woher dieser Wunsch, über Nietzsche zu sprechen. Herbert! Es klingt, als sprächen sie den Namen fünfstimmig aus. Comedian Harmonists also. Bitte, ich erklär’s Ihnen gern. Ich bitte die Herrn aber zu bedenken, daß Amerika für mich immer schon die Welt war, in der sich Wünsche erfüllen. Nun zu diesem, meinem letzten Wunsch. Für diesmal. Ich habe mir immer schon gewünscht, eingeladen zu werden, ein Referat über Friedrich Nietzsche zu halten. Titel: DER NIETZSCHE-REFERENT. Viel mehr als diesen Wunsch und den Dank dafür, daß er mir jetzt erfüllt wird, hätte ich dann nicht vorzutragen. Aber allein über diesen Wunsch könnte ich lange sprechen. Noch ist es ja nicht mehr als ein Wunsch. Und der wird wahrscheinlich einer bleiben. Nur deshalb kann ich ja darüber sprechen. Kein Mensch wird mich je einladen, über Nietzsche zu sprechen. Ich bin kein Kenner, kein Fachmann und überhaupt kein Philosoph. Ich bin all das nicht, was ich gern wäre. Was aber ist einer, der all das, was er gern wäre, nicht ist? Darüber würde ich gern sprechen. Aber das geht nun wirklich nicht. Da wäre ja die Welt voller Referenten. Und sie ist heute schon voller davon, als gut ist.
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Ich muß allerdings sagen, der Wunsch, über Nietzsche zu sprechen, ist bei mir schon sehr alt. Ja, er ist sogar älter als ich. Mein Vater, der nun schon so lange tot ist, hat auf nichts so sehnlich gewartet wie auf die Einladung, über Nietzsche zu sprechen. Das ist ganz sicher. Ich habe ihn, weil er starb, als ich noch ein Kind war, so gut wie nicht gekannt, aber alles, was ich von ihm erfahre – und ich forsche ununterbrochen in allen Verbliebenheiten nach seinem nie bis zur Reife gediehenen Wesen –, alles beweist mir, daß er nichts lieber getan hätte, als über Nietzsche zu sprechen. Bitte, bedenken Sie, er war zehn Jahre alt, als Nietzsche starb. Und er muß schon in aller Kindlichkeit und Jugendlichkeit alles gespürt und eingeatmet haben, was in dieser Zeit aufbrach, aufbrach wie eine zu lang vernachlässigte Wunde. Ich übertreibe nur ein bißchen, wenn ich sage, mein Vater hätte über Nietzsche sprechen können, auch wenn er nie lesen gelernt hätte. Mein Vater hat alles mitgekriegt. Das ist ganz sicher. Natürlich konnte er den Wunsch, über Nietzsche sprechen zu wollen, nie aussprechen. Nicht, daß das als Anmaßung empfunden worden wäre, die Leute um ihn herum hätten gar nicht gewußt, was er will. Vielleicht hat mein Vater manchmal vor Leuten, von denen er wußte, daß sie den Namen Nietzsche noch nie gehört hatten, doch gesagt: Am liebsten würde ich einmal über Nietzsche sprechen. Ein bißchen komisch hat er sein dürfen. Das haben sie ihm erlaubt. Zu den Menschen, die den Namen Nietzsche nicht gehört haben konnten, gehörte, bis mein Vater diesen Namen vor ihr aussprach, auch meine Mutter. Ich habe keinen Beweis dafür, daß er vor meiner Mutter, zu meiner Mutter sagte: Ich möchte gerne einmal eingeladen werden, über Nietzsche zu sprechen. Ich bin aber ganz sicher, daß das vorgekommen ist. Er liebte meine Mutter, und dann stellte sich heraus, daß sie an dem Tag geboren worden war, an dem Nietzsche gestorben ist. 25. August 1900. Meine Mutter hat, als er das sagte, sicher genickt. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu dem, was er redete, zu nicken. Und viel Zeit hatte sie ja ohnehin nicht, da sie ihn praktisch ernähren mußte. Sie mußte ihn in sein Zimmer sprerren. So stark war meine Mutter auch nicht, daß sie das Geschäft hätte retten können, wenn er mitgearbeitet hätte. Und wenn sie dann manchmal hereinkam und müde und erschöpft auf einen Stuhl sank, hat er sicher gesagt: Einmal über Nietzsche sprechen, das wär’s. Dann hat sie genickt. Ich halte es für möglich, daß sie stolz auf ihn war, ohne daß sie wußte, warum. Ganz sicher war meine Mutter nie wütend, wenn mein Vater sagte, am liebsten würde er eben einmal über Nietzsche sprechen. Verzweifelt schon, aber wütend nie. Vielleicht hat sie ihre unternehmerische Arbeit auch dafür getan, daß er einmal über Nietzsche sprechen können sollte. Dazu ist es nichtgekommen. So alt ist also der gewissermaßen ererbte Wunsch. Vielleicht ist es verständlich, daß man ihn in Los Angeles unwillkürlich aufflackern sieht. Was ist nicht alles möglich in dieser Stadt! Daß es möglich ist,
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mich einzuladen, hier über Nietzsche zu sprechen, versteht sich von selbst. Ich entschuldige mich dafür, daß ich diesen Wunsch nicht ganz und gar verbergen konnte. Sie sind aber auch viel zu sensibel! In Europa wird dieser Wunsch überhaupt nicht wahrgenommen, auch von Leuten nicht, die glauben, mich in- und auswendig zu kennen. Ich danke Ihnen. Mein Credo schlucke ich. Nietzsche ist die Fülle. Meine Herrn, die Fülle. Nichts als die Fülle. Die fünf Herren verschwinden, wie sie gekommen sind: auf eine unmerkliche Art. Trostlos wird dieses prächtige Zimmer durch das dumpfe Geräusch der Klimaanlage. Hassen muß man können, dann mögen sie einen. Jemand schüttelt meinen Kopf.
Angstblüte (2006) Ich bin in einer Gefahr, sagte er. Und sie: Zahlst du mit Karte oder zahlst du bar. Und er: Ich lasse mich ablenken von mir. Und sie: Ich hab heute Geburtstag, gratulier! Er sprang auf. Ich wünsch dir, daß du alles wirst, was du bist, sagte er. Das klingt wie Nietzsche persönlich, sagte sie. Soll mir recht sein, sagte er und kniete neben sie und zog ihren Kopf zu sich und küßte sie sozusagen feierlich. Und setzte sich zurück in sein schlankes Sesselchen. …. Die Utopie aller Utopien: Von uns sollte nichts bleiben als unsere Träume. Ungedeutet. Sie sind unser Deutlichstes. Mein letzter Traum gestern nacht: Mein 80. Geburtstag steht bevor. Eingeladen habe ich Dostojewski, Hölderlin, Bruckner, Karl May, Nietzsche, Bismarck, Franz Kafka und Silvia Plath. Franz Kafka hat abgesagt. Ich seh einem harmonischen Fest entgegen. Das Fest stand bevor. Kam nicht näher. Ein stehengebliebener Film. Atemlos. …. Momentino, rief Herr Babenberg, sprang auf und ging hin und her, als wolle er vermeiden, unbeherrscht zu reagieren. Dafür, daß er so groß und langbeinig war, machte er recht kleine Schritte. Er bremste sich. Also bitte, sagte er dann und sagte es nicht zu Karl von Kahn hin, sondern in den Raum hinein, als bitte, Pathos darf sein. Jeder ist auf einer Wallfahrt zu einem, zu seinem Heiligen. Unser Diego zu seinem gelenkigen Voltaire, Sie zu Ihrem findigen Warren Buffet und Markus Luzius Babenberg ist, solange er noch beten
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konnte, Friedrich Nietzsche nachgereist, hat fromm alle seine Adressen abgeklappert, die Türklinken in der Hand behalten, weil sie aussahen, als seien sie’s noch. Ihn berührt, was er berührt. Er ist ein Berührer. Er läßt jedem seinen Hausheiligen. Für ihn waren möglich nur Dostojewski und Nietzsche. Die Sprache hat’s entschieden. Aber er war nicht in Turin. Glücksfund, hat Nietzsche Turin genannt. Ein Ort, den man nicht verläßt. Er, Babenberg, hat die letzte Adresse, Via Carlo Alberto 6, dritter Stock, nicht geschafft, und von da aus hat Nietzsche den Plazzo Carignano gesehen, und er, Markus Luzius Babenberg, hat es nicht geschafft, die piazza Carlo Alberto zu betreten, das Pflaster der Katastrophe, das Nietzsche-Golgatha, der Gekreuzigte war ja dann er, aber jetzt …
Der unsterbliche Leser (2008) Ich bin immer in einem Buch. Abgesehen von dem aktuell nötig werdenden Lesen habe ich immer über lange Zeit hin einen Autor, den ich abends oder im Zug lese. Zur Zeit ist das wieder Dostojewski. Vor ihm war es Nietzsche. Vielleicht pendle ich jetzt noch lange zwischen diesen beiden hin und her. Nietzsche hat Dostojewski gelesen. In französischer Übersetzung. Ich war von Anfang an ein Leser und bin es geblieben.
Propaganda für ein Laster (2008) Der Neid ist bis jetzt das einzige Laster ohne Charme. Der Geiz hat es wenigstens zu einer Art Dämonie gebracht. Von anderen Lastern und Lüsten gar nicht zu reden. Aber der blanke gelbe bittere Neid hat sich von dem Unheil, das der christliche Katechismus über ihn verhängt hat, nicht erholt. Nietzsche erwähnt noch die griechische Einschätzung des Neides. Das scheint eine dem Ehrgeiz verwandte Empfindung gewesen zu sein. Man beneidet einen, will es ihm nachtun. Wenn alle Hoffnung ruiniert ist, wird man von einer anderen Sorte Neid befallen, die, nach Nietzsche, die „Welt-Vernichter“ beseelt: „weil ich etwas nicht haben kann, soll Welt nichts haben!“ Man sieht an dieser Formulierung, den Neid hat auch dieser große Umwerter nicht umgewertet. In der Weltliteratur gibt es sympathische Helden für jedes Laster, nur nicht für den Neid. Nietzsche nennt diese Empfindung vollkommener Aussichtslosigkeit und die daraus entstehende Lust an einem großen allgemeinen Kaputtgehen, diesen „Gipfel des Neides“ nennt er ein „abscheuliches Gefühl“. So ein positiver
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und heller Mann war noch der Herr Nietzsche. Ich würde mich ganz unmöglich machen, wenn ich neidisch bin. Angeblich hat der Neid seinen Sitz unterm rechten Rippenbogen, wo die Melancholie ihre schwarzgelben Flüsse schiebt. Gelb wirst du, wenn nichts mehr läuft. Bei dir. Stauungsikterus. Ich gebe zu, daß ich, wenn ich je bemerkte, daß jemand drauf und dran war, mich zu beneiden, sofort mein ganzes Schicksal so lange herunterspielte, bis ich merkte, daß er sich wieder entspannte. Beneidet zu werden ist mir viel peinlicher als zu beneiden. Ich möchte jetzt zur Umwertung aufrufen. Beneidenswerte sind schrecklicher als Neidige. Neid grenzt an Liebe. Der Neidische bewundert, verehrt, liebt so sehr, daß er sein möchte wie der oder die, die er bewundert, verehrt, liebt.
I. Philosophie und Philologie
Andreas Urs Sommer
Nietzsche katalytisch Philosophische Nietzsche-Lektüren im 20. Jahrhundert Wer die europäische Kultur des 20. Jahrhunderts verstehen will, muss sich, ob er möchte oder nicht, mit Friedrich Nietzsche auseinandersetzen. Dieser Zwang zur Auseinandersetzung mit Nietzsche ergibt sich nicht daraus, dass Nietzsche, wie vielfach behauptet worden ist, wesentliche historische Entwicklungen des 20. Jahrhunderts vorhergesehen, vorhergesagt und vorweggenommen hätte. Der Zwang, sich aus Interesse an der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts mit Nietzsche zu beschäftigen, ergibt sich auch nicht aus der womöglich überragenden Bedeutung seines Denkens. Dieser Zwang ergibt sich vielmehr aus dem Umstand, dass Nietzsche in sämtlichen Feldern des kulturellen und in einigen wesentlichen des politischen Lebens im 20. Jahrhundert eine, wenn nicht die bestimmende Bezugsgröße war – ganz gleich, wie vielgestaltig und widersprüchlich es um die Nietzsche-Bezüge im Einzelnen bestellt gewesen sein mag. Nietzsche war im 20. Jahrhundert ein prägender Kulturfaktor. Die Aussichten sind gut, dass er es auch im 21. Jahrhundert bleiben wird. Eine entsprechend große Bedeutung kommt dem Nietzsche-Dokumentationszentrum (NDZ) in Naumburg zu. Die immense Nietzscheana-Sammlung, die das NDZ beherbergt, ist nicht nur bedeutsam, weil sie direkte Bezugnahmen auf Nietzsche im akademischen und paraakademischen Kontext minutiös zu rekonstruieren erlaubt, sondern weil sich in der Nietzsche-Rezeption die Kulturgeschichte der vergangenen bald anderthalb Jahrhunderte exemplarisch verdichtet. Nietzsche – was immer man für „Nietzsche“ hielt – hat in der Kultur, nicht allein im Denken dieser anderthalb Jahrhunderte katalytisch gewirkt. Die Aufgabe des NDZ wird es daher sein, nicht nur die philosophische Nietzsche-Rezeption im engeren Sinne zu erschließen, sondern in immer neuen Anläufen die Aspekte der durch Nietzsche mitbedingten kulturellen Veränderungsprozesse herauszuarbeiten. Wenn ich davon spreche, Nietzsche wirke als kultureller Katalysator, dann benutze ich das Wort „Katalysator“ in enger Anlehnung an den chemischen Sprachgebrauch, nicht nur in Anspielung auf die griechische Wortbedeutung von katálysis, Auflösung. In der Chemie gilt als Katalysator bekanntlich ein Stoff, der die Geschwindigkeit einer Reaktion erhöht, ohne dabei selbst verbraucht zu werden. Ich kann nicht ausschließen, dass die kulturellen Veränderungsprozesse im späten 19. und im 20. Jahrhundert ohne Nietzsche ähnlich
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hätten stattfinden können wie sie stattgefunden haben. „Nietzsche“ aber – als Summe all dessen genommen, was mit der historischen Figur Friedrich Nietzsche zurecht oder zu Unrecht in Verbindung gebracht wurde – hat diese Prozesse wesentlich beschleunigt und steht doch nach all diesen reaktiven Prozessen unverändert frisch und unverbraucht vor uns. Zum Forschungsprogramm des NDZ gehört es, die katalytische Wirkung Nietzsches in der Vergangenheit und in der Gegenwart möglichst umfassend zu untersuchen. Wenn Nietzsche ein prägender Kulturfaktor war und ist, folgt daraus gleichzeitig auch, dass diese Forschungen keineswegs auf Philosophiegeschichte im akademischen Sinn beschränkt bleiben dürfen: Im Falle der Wirkungen Nietzsches wird sich Philosophiegeschichtsschreibung im eminenten Sinn als Kulturgeschichtsschreibung verstehen müssen (vgl. auch schon Aschheim 2000). Die doxographische Aufarbeitung der philosophischen Nietzsche-Literatur kann dabei bestenfalls eine Vorarbeit zu einer Geschichte Nietzsches als Kulturfaktor darstellen. Es zeichnet sich mit anderen Worten eine neue Art der Rezeptionsforschung ab, die nicht mehr so sehr bestimmt wird von der Frage, wer genau welche philosophische Nietzsche-Deutungsoption vertreten hat oder von der Frage, ob dieser oder jener Autor Nietzsche richtig verstanden habe. Die Leitfrage der neuen Art von Rezeptionsforschung könnte vielmehr sein, welche Funktion „Nietzsche“ in den unterschiedlichsten kulturellen Zusammenhängen zukam und zukommt. Um die mögliche Richtung solcher Forschungen anzuzeigen, möchte ich hier aus Gründen der eigenen professionellen Beschränktheit zwar das Augenmerk auf im engeren philosophische Nietzsche-Aneignungen richten. Dabei interessiert mich aber besonders die Machart, die Struktur solcher Aneignungen. Was verraten diese Nietzsche-Aneignungen über die Selbstpositionierungen von Philosophen im 20. Jahrhundert – und was bringen sie so über das Verständnis von Philosophie überhaupt zum Ausdruck? Mit welchem Erkenntnisinteresse nähert man sich Nietzsche – und mit welchem Wirkungsinteresse? Nun ist das Material, das man unter dieser Fragestellung betrachten könnte, unabsehbar groß – es füllt die ganzen Kellerkatakomben des NDZ. Daher erlege ich mir für die Probebohrung eine methodische Materialbeschränkung auf: Ich drangsaliere mit der Fragestellung keine Lebens- und Gesamtwerke bekannter Philosophen, die sich im 20. Jahrhundert auf Nietzsche bezogen haben. Im Rahmen eines Aufsatzes schiene es mir auch vermessen, mehrere umfangreiche Nietzsche-Gesamtdarstellungen zu analysieren, bestünde dabei doch die Gefahr, in der doxographischen Rekapitulation zu verbleiben. Lohnender erscheint die Fokussierung auf eine bestimmte Art von Schlüsseltexten, die gewöhnlich durch Bündigkeit und programmatische
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Schärfe sehr viel nicht nur über ihren Gegenstand, sondern ebenso über die Intentionen und Interessen ihrer Verfasser verraten. Gemeint sind die Vorworte und Einleitungen zu mehr oder weniger bekannten und viel rezipierten Nietzsche-Monographien. Als Paratexte sind Einleitungen und Vorworte in der Literaturwissenschaft schon zum Gegenstand eingehender Analysen gemacht worden;1 in der Philosophiegeschichtsschreibung steht ihre explizite Würdigung, soweit ich sehe, noch aus. Die These, die ich meiner Materialbeschränkung auf die Vorworte und Einleitungen zugrunde lege, ist die, dass sich in diesen Texten die Erkenntnis- und Wirkungsinteressen der Autoren bei ihrer Nietzsche-Aneignung exemplarisch verdichten. Für die Probebohrung habe ich die Vorworte, Einleitungen oder Eingangskapitel von zehn deutschsprachigen Nietzsche-Büchern mit philosophischem Anspruch ausgewählt, die zwischen 1894 und 1961 erschienen sind. Es handelt sich um Lou Andreas-Salomés Friedrich Nietzsche in seinen Werken (1894), Alois Riehls Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker (1897, hier in der zweiten Auflage von 1898 und in der 6. Auflage von 1920), Richard M. Meyers Nietzsche. Sein Leben und seine Werke (1913), Ernst Bertrams Nietzsche. Versuch einer Mythologie (1918, hier in der 6. Auflage von 1922), Theodor Lessings Nietzsche (1925) (Lessing 1985 [Reprint der Ausgabe von 1925]),2 Alfred Baeumlers Nietzsche der Philosoph und der Politiker (1931), Karl Löwiths Nietzsches Philosophie von der ewigen Wiederkunft des Gleichen, Stuttgart (1935, hier in der 2. Auflage von 1956),3 Karl Jaspers’ Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens (1936, hier in der 2. Auflage von 1947), Eugen Finks Nietzsches Philosophie (1960, hier in der 6. Auflage von 1992) und schließlich Martin Heideggers Nietzsche (1961, hier in der 5. Auflage von 1989). Überdies habe ich mir nicht nur eine methodische Beschränkung des Materials, sondern ebenso die methodische Ausblendung von Kontextwissen auferlegt. Für die Probebohrung versuche ich mein Wissen zunächst einmal auszublenden, dass beispielsweise Karl Jaspers ein Existenzphilosoph war, dass Martin Heidegger Sein und Zeit geschrieben hat, dass Theodor Lessing von Nazi-Schergen ermordet wurde, während Alfred Baeumler zum „Amtsleiter des Amtes Wissenschaft des Beauftragten des Führers für die Überwachung der geistigen Schulung und Erziehung der NSDAP“ aufstieg. Überdies versuche ich, mein Kontextwissen um Nietzsche selbst auszuklammern, und nicht
1 Maßgebend dafür ist Genette 1992. 2 Zu Nietzsche und Lessing jetzt auch Born 2009. 3 Löwith 1987, S. 101–384 (im textkritischen Apparat sind einige wesentliche Veränderungen zur Erstauflage dokumentiert). Im Titel der Erstausgabe stand „Wiederkunft“ statt „Wiederkehr“.
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implizit immer schon die eigene, selbstverständlich von mir für besser gehaltene Interpretation Nietzsches seinen vergangenen Interpreten entgegenzuhalten. Andernorts bin ich für eine kontextualistische Philosophiegeschichtsschreibung eingetreten4, die Zeugnisse vergangenen Philosophierens gerade nicht für reine Geistesprodukte hält, welche einsam in einer Sphäre jenseits der gewöhnlichen Welt ein Dasein ganz für sich fristen und daher nur isoliert für sich betrachtet werden dürften. Kontextualistische Philosophiegeschichtsschreibung stellt vergangenes Philosophieren vielmehr zurück in den Kontext seiner Entstehung, versucht es, aus der Welt heraus zu verstehen, in der es entstanden ist. Im Wesentlichen gibt es zwei Gründe, derentwegen ich hier ein anderes Verfahren wähle. Der erste Grund ist pragmatisch: Wollte man bei zehn Nietzsche-Büchern, die in einem Zeitraum von 70 Jahren entstanden sind, den Kontext einigermaßen angemessen und auch nur exemplarisch rekonstruieren, so müsste die gesamte Geschichte des späten 19. und des 20. Jahrhunderts aufgerollt werden, und zwar jeweils spezifiziert für jeden einzelnen Autor und seinen Zugang zu Nietzsche. Der zweite Grund ist erkenntniskritischer Natur: Würde man spezifisches Kontextwissen schon voraussetzen, ist die Gefahr sehr groß, dass man eine Präferenz für das persönliche Profil eines Autors in ein Vorurteil zugunsten seiner Nietzsche-Interpretation, seiner Interessen und Intentionen ummünzt. Selbstredend wirkt auf die meisten heutigen Leser eine dezidiert freigeistig-unabhängige Autorin wie Lou AndreasSalomé sympathischer als ein Philosophieprofessor wie Alois Riehl, der sich öffentlich für eine Verleihung des Literaturnobelpreises 1908 an Elisabeth Förster-Nietzsche einsetzte (siehe Peters 1983, S. 262, und Hoffmann 1991, S. 70). Ein unbedingter Gegner des Nationalsozialismus wie Theodor Lessing genießt heute selbstverständlich mehr Vertrauen als der bekennende Nationalsozialist Alfred Baeumler oder der politisch zumindest verdächtige Ernst Bertram. Wollte man also konsequent den Kontext ausblenden, müsste man die Texte, deren Interessen und Intentionen zur Diskussion stehen sollen, gänzlich anonymisieren und einer Blindbegutachtung unterziehen. Da ich die Texte allerdings nach dem Gesichtspunkt hinreichender Repräsentativität und Exemplarität ausgewählt habe, würde eine nachträgliche Anonymisierung – und geschehe sie auch nur aus didaktischen Erwägungen – doch nur eine Scheinobjektivität herstellen, auf die ich gerne verzichte. Der Probebohrung liegt also das Gedankenexperiment einer methodischen und materialen Reduktion zugrunde. Ich suggeriere – auch wenn sich das
4 Namentlich für eine historisch angemessene Nietzsche-Deutung scheint eine kontextualistische Betrachtungsweise angeraten.
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nicht einen ganzen Aufsatz lang durchhalten lässt –, ich wüsste gar nichts von Nietzsche und auch gar nichts von den Autoren, deren Nietzsche-Bücher hier herangezogen worden sind. Wir versetzen uns also für eine Weile in die Situation der docta ignorantia und stellen uns vor, von Nietzsche und von der deutschsprachigen Philosophie des 20. Jahrhunderts seien nur die Vorworte, Einleitungen oder Eingangskapitel der zehn genannten Bücher überliefert. Mit diesem Gedankenexperiment, das den Schleier des Nichtwissens über unsere Gelehrsamkeit breitet, machen wir, so viel sei gesagt, bevor dieser Schleier auch noch unsere letzte Nietzsche-Kenntnis verwischt, sozusagen einen Versuch in angewandtem Perspektivismus: Wir versuchen, zwar keinen objektiven Blick, aber doch einen anderen Blickwinkel für die Zeit unserer Probebohrung zu gewinnen. Ich trachte danach, die Erkenntnis- und Wirkungsinteressen der ausgewählten Texte zu eruieren und damit ihren Begriff von Philosophie zu erheben, indem ich, methodisch zweifelnd, von allem absehe, was ich zum Thema bislang für gewiss hielt. Damit verschieben sich die Perspektiven. Notgedrungen ist der programmatisch-methodologische Vorspann etwas lang ausgefallen. Umso direkter will ich mich jetzt den ausgewählten Paratexten zuwenden, die freilich nicht „para“, sondern die einzig maßgebenden Schlüsseltexte sein sollen. Im Folgenden unternehme ich einen doppelten Durchgang durch die ausgewählten Texte: Zunächst frage ich danach, wie in diesen Texten der Gegenstand des jeweiligen Buches bestimmt wird (siehe Abschnitt I.). Dieses sehr lange erste Kapitel dient zugleich dazu, den Inhalt dieser (Para-)Texte zu umreißen und die Autoren selbst zu Wort kommen zu lassen. Danach wird es kompakter: Zweitens sollen die Selbstpositionierungen der jeweiligen Autoren zu diesem Gegenstand erörtert werden.5 Dabei sind auch die Strategien der Rechtfertigung und Zielsetzung, die die Autoren mit dem jeweiligen Buch verbinden, zu besprechen (siehe Abschnitt II.). Abschließend möchte ich die Strategien der Nietzsche-Aneignungen ein wenig systematisieren, indem ich frage, was sie über das ihnen zugrunde liegende Verständnis von Philosophie insgesamt verraten und wie Philosophen ihr Tun unter dem Vorzeichen Nietzsches neu bestimmen (siehe Abschnitt III.).
5 Übrigens benutze ich einen gänzlich anspruchslosen, literaturtheoretisch womöglich naiven Begriff von ‚Autor‘: Als Autor soll schlicht derjenige gelten, der in unseren Schlüsseltexten „Ich“ sagt oder diesen Text durch seinen Namen auf dem Titelblatt autorisiert. Ob und in welcher Weise dieses „Ich“ mit der historischen Verfasserperson identisch ist, unterziehe ich keiner tiefschürfenden Untersuchung, sondern benutze für Autor und Verfasserperson dieselbe Kennung, nämlich den Namen.
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I. Gegenstandsbestimmungen Alois Riehls im akademischen Gewand auftretende6 Nietzsche-Monographie kommt in der Auflage von 1898 noch ganz ohne einleitende Hinführung des Lesers aus und geht fast gleich in medias res. Aber doch nur fast: Ein Aphorismus Nietzsches statt des Vorwortes: „Einen bedeutenden Gegenstand wird man am besten darstellen, wenn man die Farben zum Gemälde aus dem Gegenstande selber nimmt: so dass man die Zeichnung aus den Grenzen und Übergängen der Farben erwachsen läßt.“ Menschliches, Allzumenschliches I. Aphorismus 205. (Riehl 1898, [5])7
So schweigsam sich Riehl einleitend gibt, so sehr macht der an Vorwortstelle zitierte Aphorismus deutlich, dass Riehl den auf dem Titelblatt seines Buches genannten Friedrich Nietzsche nicht nur für irgendeinen, sondern für einen „bedeutenden Gegenstand“ hält. Worin diese Bedeutung liegt, ob sie eine rein historische oder eine nachhaltig philosophische ist, bleibt offen. Auskunftsfreudiger gibt sich Riehl in späteren Auflagen seines Buches. Dort bleibt zwar das Motto aus MA I 205 stehen, aber nunmehr als Motto des „Vorwort[s] zur 4.-5. Auflage“, in dem es trocken heißt: Diese Schrift soll hauptsächlich charakterisieren und darstellen, nicht abwerten; sie läßt daher so viel als möglich Nietzsche selber zu Worte kommen, auch wo er gegen sich selber redet. Dadurch wird Das, worin Nietzsche sich widerspricht, also widerlegt, aufgehoben, und was bei diesem Scheideprozesse zurückbleibt, ist das Klassische, das heißt das Gesunde in Nietzsches Schriften. (Riehl 1920, S. VII)
Bei dieser späteren Auflage ist übrigens im Untertitel auch die ursprüngliche Gattungsbezeichnung „Ein Essay“ ersatzlos entfallen, was den akademischen Anspruch des Werkes noch unterstreicht. Charakterisierung und Darstellung des Gegenstandes, nämlich Nietzsches gemäß Untertitel als „Künstler“ und „Denker“, ist die Aufgabe, die sich der Verfasser stellt, dann aber offensichtlich 6 Der Schmutztitel – ebenfalls ein Paratext – weist Riehls Buch als Bd. 6 der Reihe Frommanns Klassiker der Philosophie aus, herausgegeben von Richard Falckenberg, „Dr. u. o. Professor an der Universität Erlangen“. Falckenberg war einer der ersten Philosophiehistoriker, der Nietzsche in einer Gesamtdarstellung der neuzeitlichen Philosophiegeschichte einer Aufnahme für würdig befand, noch unter den „verständnisvollsten Verehrern“ Schopenhauers und Wagners (Falckenberg 1886, S. 422). 7 Es wäre übrigens eine lohnende Forschungsaufgabe, Nietzsche-Bücher einmal nach ihren Motti (ebenfalls Paratexte!) zu untersuchen. Andreas-Salomé 1994, S. 27 wählt für den ersten Abschnitt ihres Buches ebenfalls ein Motto aus Menschliches, Allzumenschliches I, nämlich Aphorismus 513 (MA I 513).
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auch, durch die Entgegensetzung widersprüchlicher Aussagen in Nietzsches Schriften einen harten, klassischen und gesunden Kern von allerlei überflüssigem Ballast zu reinigen. Genau besehen fehlt in Riehls Vorwort eine eigentliche Gegenstandsbestimmung; der Gegenstand wird als „Klassiker der Philosophie“ (so der Reihentitel, in der das Buch erschienen ist, siehe Anm. 6) schon vorausgesetzt und bedarf keiner weiteren Explikation. Ebenfalls ohne explizites eigenes Vorwort geht die einzige Autorin der getroffenen Buch-Auswahl an Nietzsche heran, Lou Andreas-Salomé, die es im „Ersten Abschnitt“ ihres Werkes als Aufgabe ansieht, „die Hauptzüge von Nietzsches geistiger Eigenart zu schildern, aus denen allein seine Philosophie und ihre Entwicklung begriffen werden können“ (Andreas-Salomé 1994, S. 30). Auch Lou-Salomé lässt Nietzsche selbst einleitend sprechen, steht bei ihr anfangs doch „Ein Brief Friedrich Nietzsches zum Vorwort“ (Andreas-Salomé 1994, S. 24–25). Es handelt sich um das Faksimile jenes Briefes, den Nietzsche an Lou von Salomé vermutlich am 16. September 1882 geschrieben hat und der der Verfasserin die Vorlage für ihre Gegenstandsbestimmung liefert: Meine liebe Lou, Ihr Gedanke einer Reduktion der philosophische Systeme auf PersonalActen ihrer Urheber ist recht ein Gedanke aus dem „Geschwistergehirn“: ich selbst habe in Basel in diesem Sinne Geschichte der alten Philosophie erzählt und sagte gern meinen Zuhörern: „dies System ist widerlegt und todt – aber die Person dahinter ist unwiderlegbar, die Person ist gar nicht todt zu machen“ – zum Beispiel Plato. (Andreas-Salomé 1994, S. 24)
Andreas-Salomé versteht Nietzsches Schriften als „Summe von Monologen“, die „ein einziges großes Memoirenwerk“ bildeten, „dem sein Geistesbild zu Grunde liegt. Dieses Bild ist es, das ich hier zu zeichnen versuche: das Gedanken-Erlebnis in seiner Bedeutung für Nietzsches Geisteswesen – das Selbstbekenntnis in seiner Philosophie“ (Andreas-Salomé 1994, S. 31). Bei ihrer Gegenstandsbestimmung ist Andreas-Salomé also einiges präziser als Riehl: Ihr Gegenstand ist Nietzsches Werk, insofern es eine ganz individuelle Denkerpersönlichkeit zum Ausdruck bringt. Zu Andreas-Salomés Programm gehört es nicht, Zensuren für richtiges oder falsches Philosophieren zu verteilen, wie das bei Riehl anklingt. Richard M. Meyer hat nach Ausweis des Vorworts zu seinem NietzscheBuch mit den „Vorarbeiten“ bereits 1894 begonnen (Meyer 1913, S. VII), also in dem Jahr, in dem Andreas-Salomés Werk erschienen ist. Als „der erste lebende Stilist“ war Nietzsche bei Andreas-Salomé in Erscheinung getreten (Andreas-Salomé 1994, S. 29) – im Unterschied zu Riehl behandelt sie den geistig Umnachteten nicht als eigentlich bereits (so gut wie) toten „Klassiker“,
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sondern als lebenden Zeitgenossen. Auch Meyer stellt elf Jahre8 nach Nietzsches Tod ihn als „großen Stilisten“ vor – „viele Leute sprechen bei uns dies geringschätzig aus, was bei anderen Nationen allein schon die Unsterblichkeit sichern würde!“ (Meyer 1913, S. VII). Ihm geht es jedoch zur Hauptsache um „Friedrich Nietzsches Bedeutung für die deutsche Kultur“ – und damit „vor allem“ um die Persönlichkeit des Mannes, der mit leidenschaftlichem Eifer nach Wesen und Aufgabe der deutschen Kultur suchte und der, mochte er sich auch gleich andern großen Patrioten eine lange Zeit verbittert abseits stellen, doch nie dies Ziel innerlich aufgegeben hat. (Meyer 1913, S. VII)
Auch bei Meyer gilt wie Andreas-Salomé, jetzt jedoch – so heißt es in der Einleitung, die dem Vorwort folgt – in übertragenem Sinne: „wir haben es mit dem lebendigen Nietzsche zu tun“ (Meyer 1913, S. 5). Während das Vorwort sehr stark Nietzsches Interesse an der deutschen Kultur herausstreicht und somit als captatio benevolentiae für ein bestimmtes Klientel erscheint, fallen in der Einleitung diese nationalistischen Töne weg. Zwar beginnt auch sie mit dem Satz: „Außer den Namen Goethes und Bismarcks wird in unsern Tagen keiner in Deutschland häufiger gehört als der Friedrich Nietzsches“ (Meyer 1913, S. 1). Aber die eigentliche Gegenstandsbestimmung ist universalistischer gehalten: „ich will Nietzsche darzustellen versuchen nicht bloß als Künstler oder Philosophen oder Reformator, sondern als Mitschöpfer und Symbol der Kultur unserer Tage und künftiger Tage“ (Meyer 1913, S. 4). Zugleich stellt Meyer fest, dass Nietzsches „Grab von einer unendlichen Literatur überbaut worden“ sei – [e]in paar Schlagworte […] schweben um sein Grab wie Gespenster, die eine wirkliche Annäherung verhindern wollen. „Übermensch“, „blonde Bestie“, „Jenseits von Gut und Böse“, „Umwertung aller Werte“ –; alle Schlagworte des Mythenzerstörers haben neue Mythen erzeugt, hinter denen die Wirklichkeit erst wieder zu suchen ist. (Meyer 1913, S. 1)
Während Meyer hinter den „Mythen“ mit philologischem Anspruch den historischen Kern ausmachen will, wählt Ernst Bertram am Ende des Ersten Weltkrieges einen erklärtermaßen mythologischen Ansatz. Nach dem ersten Satz seiner „Einleitung: Legende“ soll gelten: „Alles Gewesene ist nur ein Gleichnis“ (Bertram 1922, S. 1). Er verweigert sich damit der Vorstellung, man könne das Vergangene einfach rekonstruieren und so darstellen, wie es gewesen ist. Geschichte sei immer „eine Wertsetzung, nicht eine Wirklichkeitssetzung“. 8 Das Buch ist zwar 1913 erschienen, das Vorwort datiert aber vom 27. Juli 1911 (Meyer 1913, S. VIII).
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Damit nimmt er jene erkenntniskritischen Vorbehalte gegenüber der Historie auf, die Nietzsche selbst formuliert hatte und versteht diese Vorbehalte als Vorbedingung seines eigenen Schreibens. „Was als Geschichte übrigbleibt von allem Geschehen, ist immer zuletzt – das Wort ganz ohne kirchliche, romantische oder gar romanhafte Obertöne genommen – die Legende“ (Bertram 1922, S. 1). Wie Meyer hält Bertram indes das Postulat aufrecht, Nietzsche sei nach wie vor in der Kultur der Gegenwart wirksam: „Die Legende eines Menschen, das ist sein in jedem neuen Heute neu wirksames und lebendiges Bild“ (Bertram 1922, S. 2). Diesem Muster der Legende seien antike Heroenmythen und mittelalterliche Heiligen-Viten gleichermaßen gefolgt, aber auch heute noch lebe die Legende oder der Mythos fort: „Und so ist alles ein Mythos, was wir vom Wesen der Menschen aussagen können, deren Gedächtnis auf die Lebenden gekommen ist“ (Bertram 1922, S. 6). Den Mythos könne man nicht zu Ende dichten, „In solcher Begrenzung wollen die folgenden Blätter Studien zu einer Mythologie des letzten großen Deutschen bieten; einiges von dem festhalten, was der geschichtliche Augenblick unserer Gegenwart in Nietzsche und als Nietzsche zu sehen scheint“ (Bertram 1922, S. 7). Während „Mythos“ bei Meyer ein negativer Abgrenzungsbegriff ist, gegen den er nicht nur den „Mythenzerstörer“ Nietzsche, sondern auch seine eigene ‚entmythologisierende‘ Darstellung in Anschlag bringt, zeigt Bertram keinerlei Bedürfnis, Nietzsche aus der Umstrickung des Mythos zu befreien, sondern versteht augenscheinlich seine eigene Rolle als die eines Mythos-Chronisten und -Gestalters. Heute sehe man schon einen ganz anderen Nietzsche als noch vor einer Generation der unmittelbaren Begeisterung. Wir stünden ihm aber noch zu nahe, „um den Höhenmaßstab für eine so fremdartige Gestalt – eine namentlich unter Deutschen zunächst so fremdartig scheinende Gestalt – im Vergleiche zu ihren unmittelbaren Vorgängern festzulegen“ (Bertram 1922, S. 7). Dennoch spricht Bertram vom „tiefe[n] Eindruck des Erlebnisses Nietzsche auf eine ganze Generation“, die „von solcher vergleichenden Höhenwertung ja ganz unabhängig“ sei. Der Mythos wiederum erscheint als unabschließbar; entsprechend versteht Bertram es als seine Aufgabe, Nietzsche als Mythos so einzufangen, wie er ihm im Augenblick des Schreibens erscheint: Das Bild Nietzsches, wie es sich aus diesen Kapiteln zusammenschließt, ist das Bild des Augenblicks, in dem sein Mythos uns eben zu stehen scheint. Mit dem Vorrücken seiner Bahn wird er in andere Häuser des Himmels eintreten. (Bertram 1922, S. 10)
„Die Zeit hatte Petri Felsen unterhöhlt“ (Lessing 1985, S. 7). So beginnt die „Einleitung: Hintergrund“ von Theodor Lessings Nietzsche-Buch von 1925. Luther und Kant werden als erste Protagonisten dieser „Loslösung des Menschen aus traumhaft vorbewußtem Element“ (Lessing 1985, S. 8) ins Treffen
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geführt. Von da an „vollzog sich die Auflösung. Die Relativierung unseres Wissens; die Atomisierung unserer Arbeit; die Funktionalisierung der Gestalt. Dies war der Fortschritt zum europäischen Nihilismus“ (Lessing 1985, S. 8). Am „Ende“ zweier Jahrtausende Christentum, die dieses destruktive Ergebnis gezeitigt hätten, erscheint Friedrich Nietzsche. Zugleich der letzte in der großen Reihe germanisch-protestantischer Anarchisten des Geistes, zugleich der erste, welcher eine Morgenröte entzündete, die weit hinausbricht über die Grenzen kaukasischer Bildungsmenschheit, weit hinaus auch über die Grenze unseres kleinen Deutschland … (Lessing 1985, S. 9)
Hatte sich Meyer noch damit begnügt, die Bedeutung seines Gegenstandes für die deutsche Kultur oder doch vielleicht auch für die Kultur im allgemeinen herauszustellen, und hatte Bertram seinen Mythos zwar als wirkmächtig, aber doch letztlich nur in subjektiver Brechung relevant erscheinen zu lassen, bestimmt Lessing seine Gegenstand als Kulminations- und Wendepunkt der Weltgeschichte. So bleibt ihm zur weiteren Gegenstandsbestimmung auch nicht mehr als eine Einladung: „Treten wir ein in ungeheures Schicksal. In das Schicksal der tragischen Seele, die alles, was sie liebt, und zuletzt sich selbst opfern muß“ (Lessing 1985, S. 9). Weniger pathetisch gestaltet sich der Einstieg in Alfred Baeumlers Nietzsche der Philosoph und Politiker von 1931, der gleich im ersten Satz des Vorwortes eine Gegenstandsbestimmung vornimmt: „In dieser Schrift wird Nietzsche als Denker von europäischem Rang behandelt und neben Descartes, Leibniz und Kant gestellt“ (Baeumler 1931, S. 5). Das bedarf in des Verfassers Augen allerdings einiger Erläuterung, insbesondere dahingehend, dass man an seiner „Darstellung das bunte Farbenspiel vermissen“ werde, „das man von anderen Schilderungen her gewohnt ist“. Es gehe eben „nicht um den Dichter und Schriftsteller, sondern um den Philosophen und Politiker Nietzsche“, und zwar näherhin um „[d]ie wirkliche Einheit dieses gut verborgenen Menschen und Werkes“, das sich nur demjenigen erschließe, „der Vordergrund und Hintergrund, Polemik und Philosophie zu sondern weiß“. Direkt gegen Bertram geht der Anspruch, durch seine „Interpretation einige Hauptbegriffe deutlich zu machen und damit etwas Unlegendarisches über den letzten der großen europäischen Denker zu sagen“ (Baeumler 1931, S. 5). Im Unterschied zu Meyer interessiert sich Baeumler zunächst nicht für den spezifischen Beitrag Nietzsches zur deutschen Kultur; überhaupt spielt bei ihm im Vorwort das Stichwort „Kultur“ keine Rolle. Stattdessen erscheinen Philosophie und Politik als „die notwendigen Ausgangspunkte für eine methodische Interpretation der Gesamterscheinung“ (Baeumler 1931, S. 6). In dieser Gesamterscheinung sei überall die „Einheit des Gedankenganges“ sichtbar. Die Einleitung, die auf das Vorwort
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folgt, spezifiziert vor allem, was nach Baeumler falsche Voraussetzungen für das Verständnis des Gegenstandes seien: Zunächst einmal, Nietzsche wie „bisher immer vom Boden des Christentums aus“ (Baeumler 1931, S. 7) zu verstehen und damit misszuverstehen. Dies verhindere, Nietzsches wahres, verstecktes Gesicht zu sehen. „Das Leitende ist aber immer das verborgene Pathos seines Wesens“ (Baeumler 1931, S. 9). Baeumler spricht vom „Ereignis Nietzsche […]. Nietzsche und seine Sache sind eins; Einheit, nicht Vielheit ist der Charakter dieses Lebens.“ Das „Erlebnis Nietzsches“ sei es gewesen, dass die Dinge ihren Schwerpunkt verloren hätten – es sei im Übrigen töricht, in dieser Situation von Nietzsche als Propheten zu sprechen (Baeumler 1931, S. 11). Wie bei Lessing markiert Nietzsche bei Baeumler eine Epochenscheide, nachdem Europa seit Jahrhunderten „unter einem Druck“ gestanden habe (Baeumler 1931, S. 10), ohne dass Baeumler freilich wie Lessing (und Bertram) die Zwiespältigkeit, die Verwurzelung Nietzsches im Alten, im Christentum zugestände. „Wenn man die Erscheinung Nietzsches historisch charakterisieren will, dann muß man sagen: sie bedeutet das Ende des Mittelalters“ (Baeumler 1931, S. 12). Nietzsche stelle weder einen „Revolutionär“ noch einen „Aufklärer“ dar (Baeumler 1931, S. 13); er habe im „Demokratismus“ seinen „eigentlichen Gegner“ gefunden und erkannt, dass es sich dabei um eine moderne Form des Christentums handle. Nietzsche sei kein „Moralist, Humanitarier oder Pazifist“ (Baeumler 1931, S. 13); er habe sich vielmehr an der Vorstellung orientiert, dass der „Kampf […] der Vater aller Dinge“ sei: „nicht dionysisch, sondern heraklitisch nennen wir das Bild der Welt, das Nietzsche geschaut hat“ (Baeumler 1931, S. 15). „Will man eine Formel für diese Weltsicht, so möge man sie heroischen Realismus nennen“ (Baeumler 1931, S. 15). Das Nietzsche-Motto, das Karl Löwith dem Vorwort der ersten Ausgabe seines Buches Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen von 1935 voranstellt, beginnt mit dem Satz: „Mein Werk hat Zeit“ (Löwith 1987, S. 103). Man kann dies als Hinweis auf Löwiths Überzeugung lesen, dass auch sein eigenes Werk Zeit brauchen würde: Wenngleich wir, wie wir es uns vorgenommen haben, allfälliges Hintergrundwissen darüber ausklammern wollen, damit also das Wissen, dass Löwith wegen seiner jüdischen Herkunft emigrieren musste und das Buch in Italien schrieb, macht schon die Ortsangabe in der Datierung des Vorwortes deutlich, dass der Verfasser seinem deutschen Publikum geographisch fern gerückt ist: „Rom, Juni 1934“ (Löwith 1987, S. 105). Löwith setzt mit Nietzsches Selbstverständnis als Schicksal ein – „sein eigenes, einsamstes, wie unser aller öffentliches und gemeinsames“ (Löwith 1987, S. 103). Nietzsche erscheint „als eine Frühgeburt des kommenden Jahrhunderts und einer noch unbewiesenen Zukunft“. Er habe in Also sprach Zarathustra die Antwort auf die Frage verweigert, was er denn eigentlich sei: „ein Verspre-
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chender oder ein Erfüller, ein Erobernder oder ein Erbender, […], ein Befreier oder ein Bändiger – weil er wußte, daß er weder das eine noch das andere, sondern beides ineins war“ (Löwith 1987, S. 103). Obwohl sich das zunächst so anhört, als verkörpere Nietzsche eine glückende, in sich ruhende Synthese widerstrebender Tendenzen, wird man gleich eines Besseren belehrt: „So zweideutig wie Nietzsche selbst ist aber auch seine Philosophie als eine doppelte ‚Wahrsagung‘ des Nihilismus und der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Diese Lehre war bewusstermaßen sein ‚Schicksal‘, weil sein Wille zum Nichts als ein ‚doppelter Wille‘ zurück zum Sein der Ewigkeit wollte“ (Löwith 1987, S. 104). Während Baeumler auf die innere systematische Einheit setzte, setzt Löwith auf den Zwiespalt und attestiert seinen Interpreten-Kollegen, sie seien „[o]hne Verständnis für diese Bewegung des ‚neuen Kolumbus‘ zum Untergang der Sonne des Seins am Rande des Nichts“. Sie hätten ihm deshalb nachgesagt, „daß er einen ‚heroischen Realismus‘ oder auch eine Philosophie des ‚Orgiasmus‘ lehre“ (Löwith 1987, S. 104). Die Polemik gegen Baeumler ist deutlich9, ebenso auch, dass Löwith mit demselben Anspruch auftritt wie Baeumler (und eigentlich schon Meyer und Andreas-Salomé), nämlich hinter aller entstellenden Überformung den wahren Nietzsche ausfindig zu machen: „Entgegen diesen Verhüllungen seines Gedankens ist die vorliegende Interpretation ein Versuch, Nietzsches Aphorismen im verborgenen Ganzen ihrer eigentümlichen Problematik nach ihrem philosophischen Grundriß zu begreifen“ (Löwith 1987, S. 104). War es nach Autoren wie Meyer und Baeumler Nietzsche selbst, der seine Gedanken gut verborgen gehalten hatte, werden bei Löwith Nietzsches Interpreten für Verschleierungen verantwortlich gemacht. Ohne Namen zu nennen, unterstreicht dieser konfrontative Gestus Löwiths Anspruch, einen neuen Zugang zu Nietzsche zu finden. Dabei stellt er als das „eigentliche Problem“ und damit als Gegenstand seiner Untersuchung die Frage heraus, die „im Grund“ „immer schon“ akut gewesen sei: „welchen Sinn hat das menschliche Dasein im Ganzen des Seins?“ (Löwith 1987, S. 104). Das Vorwort zur zweiten, veränderten Ausgabe des Werkes von 1956, das im Titel die „Wiederkunft“ mit „Wiederkehr“ vertauscht, rückt Nietzsche in den zeitgeschichtlichen Horizont. Einige seiner „Vorhersagen über die Zukunft Europas“ (Löwith 1987, S. 106) hätten sich auf unerwartete Weise verwirklicht; viele seiner „Aussagen sind zu Gemeinplätzen geworden“. Löwith entlastet
9 Den „Orgiasmus“ bei Nietzsche betonen etwa Riehl 1920, S. 100 oder Bertram 1922, S. 24. Gegen Bertram wendet sich Löwith in einem forschungsgeschichtlichen Anhang, der allerdings erst der Ausgabe von 1956 beigegeben werden konnte (Löwith 1987, S. 355–357), schärfer noch gegen Baeumler (ebd., S. 363–368). Baeumler hatte die für Löwith zentrale Wiederkunftslehre gerade zu marginalisieren versucht.
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Nietzsche nicht von einer gewissen Mitverantwortung für die Ereignisse des 20. Jahrhunderts: „Er hat den ‚europäischen Nihilismus‘ nicht nur erstmals beim Namen genannt, sondern ihm auch zum Dasein verholfen und durch seine Besinnung eine geistige Atmosphäre geschaffen, in welcher der ‚Wille zur Macht‘ besinnungslos praktiziert werden konnte“ (Löwith 1987, S. 106). Das ist nach den politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts offensichtlich die Kehrseite jener Bedeutung, die die Interpreten des ersten Jahrhundertdrittels Nietzsche nachzurühmen nicht müde wurden. Löwith gibt auch eine kurze Übersicht über die Stationen der Nietzsche-Rezeption, die er von der Bewunderung für den „glänzenden Moralisten und Psychologen“ über die ZarathustraBegeisterung im Ersten Weltkrieg bis zur „Nietzsche-Karikatur des Dritten Reiches“ in die „endgeschichtliche These“ seines namentlich nicht genannten Lehrers Martin Heidegger münden sieht, „daß sich in Nietzsche die gesamte Metaphysik des Abendlandes folgerichtig vollende“ (Löwith 1987, S. 107). Angesichts dieser Interpretationskapriolen kommt Löwith zur Frage, ob Nietzsche denn „wirklich ein großer Denker“ gewesen sei, um sie dahingehend zu beantworten, dass er „[i]n der Tiefe und im Hintergrund“ „ein wahrer Liebhaber der Weisheit“ gewesen sei, „der als solcher das Immerseiende oder Ewige suchte und darum seine Zeit und die Zeitlichkeit überhaupt überwinden wollte“ (Löwith 1987, S. 107). Diesen Überwindungsversuch findet Löwith in der Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Entsprechend gilt sein Buch, das er als eine „Umarbeitung und Ergänzung einer Veröffentlichung des gleichen Titels vom Jahre 1935“ deklariert, der „Auslegung von Nietzsches ganzer Philosophie als einer Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen“ (Löwith 1987, S. 108). Es soll sich also nicht um eine Spezialmonographie zu einem einzelnen Thema aus Nietzsches Denkuniversum handeln, sondern um eine Gesamtinterpretation, die dieses Gesamte, den Kulminationspunkt von Nietzsches Denken in der Lehre von der ewigen Wiederkunft dingfest macht. Im Unterschied zum Vorwort der Erstausgabe wird jetzt direkt in dieser Lehre ein „Widerspruch“ geltend gemacht: Die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen ist in sich selber so zwiespältig und zweideutig wie ihr zeitliches Sinnbild: der „Mittag“. Er bedeutet als „Mittag und Ewigkeit“ die höchste Zeit eines Stillstands und einer Vollkommenheit; er bedeutet aber auch, und vor allem, die höchste Zeit einer äußersten Not und Gefahr und als solcher eine kritische „Mitte“, in der es um eine Entscheidung geht. An diesem Widerspruch bricht die erstaunliche Einheit und Folgerichtigkeit von Nietzsches Gedankengang auseinander. (Löwith 1987, S. 109)
Der Gegenstands des Buches ist mit anderen Worten nicht nur die Darstellung von Nietzsches Philosophie als Wiederkunftslehre, sondern auch der Aufweis der inneren Widersprüchlichkeit, die nach Löwiths Lesart zum existentiellen
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Scheitern führen musste: „Sein Versuch, aus dem endlichen Nichts des sich selber wollenden Ich in das ewige Ganze des Seins zurückzufinden, mündet schließlich in der Verwechslung seiner selbst mit Gott“ (Löwith 1987, S. 109). Ersichtlich ist Nietzsche nun nicht mehr der Denker, von dem Löwith sich für die Gegenwart Rettung verspricht. Die zwanzig Jahre, die zwischen den beiden Vorworten liegen, haben die Historisierung des Gegenstandes erheblich beschleunigt. Auch zwischen den beiden Auflagen von Karl Jaspers’ Nietzsche liegt der Zweite Weltkrieg, jedoch lässt der Autor 1947 nach Ausweis des Titelblatts den unveränderten Text der Ausgabe von 1936 erneut abdrucken, immerhin um ein Vorwort ergänzt. Das Vorwort der ersten Ausgabe beginnt weder mit einem Motto noch mit der Beschwörung von Nietzsches weltgeschichtlicher Sendung, sondern mit einem Resumé von Lektüreerfahrungen: Manchen gälten Nietzsches Werke als leicht lesbar, seine Sprache als berauschend. Jedoch entstehen Störungen, wenn man, stehenbleibend bei solchen Eindrücken, viel lesen will; die Begeisterung für den unmittelbar ansprechenden Nietzsche schlägt in Abneigung gegen ein scheinbar unverbindliches Vielerlei um; immer anderes bei ihm zu lesen wird unerträglich. (Jaspers 1947, S. 5)
Eine solche Erfahrung haben die bisher herangezogenen, einleitenden Paratexte nicht artikuliert; trotz ihrer gelegentlichen Insistenz auf ‚Widersprüchen‘ erschien die Nietzsche-Lektüre als solche bislang stets als große Beglückung. Bei der eigentlichen Gegenstandsbestimmung bleibt Jaspers in seinem Vorwort von 1935 sehr allgemein, indem er nicht den besonderen Gehalt seines eigenen Nietzsche-Buches betont und von anderen unterscheidet, sondern den Zweck eines ganzen Genres bestimmt: Jeder Philosoph von Rang verlangt ein ihm angemessenes Studium. In diesem erst kann das innere Tun erwachsen, das das Wesen des rechten Verstehens ist. Schriften über einen Philosophen haben den Sinn, dies innere Tun zu fördern; sie sollen den Leser […] zu wirklichem Eingehen bringen. (Jaspers 1947, S. 5)
Spezifischer wird Jaspers erst im Vorwort zur zweiten Auflage, wonach das Buch „ein Versuch“ sei, „den Gehalt der Philosophie Nietzsches herauszuarbeiten gegen den Strom des Mißverstehens seitens der bisher ihn aufnehmenden Generationen und gegen die Abgleitungen in den eigenen Notizen des sich dem Wahnsinn nähernden Mannes. Der Schein soll verschwinden zugunsten des prophetischen Ernsts des bisher vielleicht letzten großen Philosophen“ (Jaspers 1947, S. 5). Den „letzten der großen europäischen Denker“ hatte bereits Baeumler beschworen, Bertram hingegen den „letzten großen Deutschen“. Während sich Baeumler die Rede von Nietzsche als Propheten verbeten
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hatte, kehrt Jaspers zumindest adjektivisch zu ihr zurück und tritt nun erheblich selbstbewusster als vor dem Krieg als derjenige auf, der den „Schein“ in Sachen Nietzsche vertreiben will – und dabei Nietzsche nicht nur vor der ihn verzeichnenden Nachwelt, sondern auch vor sich selbst in Schutz nimmt. Einerseits möchte Jaspers, dass seine „Interpretation“ „unabhängig vom Augenblick ihrer Entstehung sachlich gültig“ sei, andererseits habe sie 1934/ 35 zugleich „gegen die Nationalsozialisten die Denkwelt dessen aufrufen“ wollen, „den sie zu ihrem Philosophen erklärt hatten“ (Jaspers 1947, S. 6). Das Nietzsche-Buch erscheint so als Manifest eines inneren Widerstandes. Schon Andreas-Salomé und nach ihr Löwith im ersten Kapitel seines Werks10 hatten auf den Aphorismus als wesentlichem Vehikel von Nietzsches Denken aufmerksam gemacht. Jaspers hingegen behauptet in seiner langen, auf die Vorworte folgenden Einleitung, Nietzsches Denken sei „weder aphoristisch im Sinne der berühmten Aphoristiker […] noch systematisch im Sinne der philosophischen Systeme, die als solche entworfen sind“ (Jaspers 1947, S. 9). Dieses Denken stelle ein Ganzes dar, das jedoch wie bei einer gesprengten Bergwand in Trümmern vor uns liege und so etwas wie ein großartiges Bauwerk nun erahnen lasse. „Es scheint die Aufgabe zu sein, durch die Trümmer hindurch den Bau suchen zu sollen, wenn dieser auch niemandem als ein einziger und eindeutiger im fertigen Ganzen sich zeigen wird.“ Nietzsche gewähre den „Nachkommenden“ „kein Gehäuse zum Unterschlupf“ (Jaspers 1947, S. 9). An den Ton der Zwanziger Jahre erinnert der Anfang von Eugen Finks Nietzsches Philosophie von 1960 – ein Werk, das zwar ohne Vorwort oder Einleitung auskommt, dessen erstes Kapitel „Die Philosophie Nietzsches hinter Masken“ aber deren Funktion übernimmt. Nietzsche sei, heißt es da, „eine der großen Schicksalsfiguren der abendländischen Geistesgeschichte, ein Mensch des Verhängnisses, der zu letzten Entscheidungen zwingt, ein furchtbares Fragezeichen am Weg, den bislang der abendländische Mensch ging“ (Fink 1992, S. 7). Wer hier zu welchen letzten Entscheidungen gezwungen wird, bleibt zunächst unklar. Deutlich ist aber die Rezeptionshaltung nicht mehr die einer beschaulichen Versenkung in ein vergangenes Philosophieren, das aus diesen oder jenen Gründen bedeutsam erscheint, sondern vielmehr die eines unmittelbaren Betroffenseins. Denn in Nietzsche verkörpert sich nach Fink „das schonungslose, schneidende Nein zur Vergangenheit, die Verwerfung aller Traditionen, der Appell zu einer radikalen Umkehr“. Fink nimmt hier, ohne es ausdrücklich zu sagen, Nietzsches eigenen Anspruch auf und konfrontiert seine Leser damit ohne jede relativierende Einschränkung – als ob ausgemacht 10 Löwith 1987, S. 111: „Nietzsches Philosophie: ein System in Aphorismen.“
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wäre, dass Nietzsches Selbstcharakterisierung als Schicksal die weltgeschichtliche Wahrheit sei. Nietzsche wird dann Hegel gegenübergestellt: „beide sind Herakliteer“. Dieses Stichwort wiederum konnte Fink aus der Einleitung zu dem mittlerweile verfemten Nietzsche-Buch von Alfred Baeumler aufgreifen, das er natürlich nicht nennt. „Hegel und Nietzsche verhalten sich wie das alles-begreifende Ja zum alles-bestreitenden Nein.“ Hegel habe die „metaphysische Geschichte“ (Fink 1992, S. 7) zu einem krönenden Abschluss gebracht; Nietzsche hingegen betrachte diese Geschichte als einen kolossalen Irrtum und bekämpfe sie mit allen Mitteln. Jedoch solle man über diesem Kampf, der „die Form einer umfassenden Kulturkritik“ (Fink 1992, S. 8) angenommen habe, nicht aus den Augen verlieren, „daß es bei Nietzsche wesentlich nur um eine philosophische Auseinandersetzung mit der abendländischen Metaphysik geht“. Er sei „der Wahrsager des europäischen Nihilismus“. Dabei wendet sich Fink scharf dagegen, Nietzsche „in die Tagespolitik zu zerren“ und ihn etwa „als germanischen Amokläufer gegen alle Werte der mediterranen Kultur darzustellen“. Es dürfe nicht als Argument gegen Nietzsche eingewandt werden, dass er „politisch mißbraucht“ worden sei (Fink 1992, S. 8). Nach Finks Diagnose gibt es zwar eine „immer noch steigende[.] Woge des Nietzsche-Einflusses“, jedoch sei seine Philosophie „vielleicht immer noch unverstanden“ und harre „wesentlicher Deutungen“ (Fink 1992, S. 9). Bisher habe man nur den „Masken Nietzsches“ Gefolgschaft geleistet, aus „Lebensgeschichte und Werk“ werde, heißt es in einem unverkennbaren Seitenhieb gegen Bertram, „das Kunstwerk einer ‚Legende‘ zusammengedeutelt“. Auch wenn es in jüngerer Zeit nicht an Nietzsche-Deutungen mit „einem härteren Realitätssinn“ gefehlt habe, so neigten die wiederum dazu, Nietzsches „Entlarvungspsychologie“ auf diesen selbst anzuwenden und ihn als Leidenden zu diskreditieren. „Das Nietzsche-Bild wird mehr von peripheren Momenten seines Werkes bestimmt als aus der Mitte seiner Philosophie“ (Fink 1992, S. 9). Diese Mitte habe Nietzsche gut verborgen, „kein Philosoph hat vielleicht sein Philosophieren unter soviel Sophisterei versteckt“ (Fink 1992, S. 10). Dieses Philosophieren Nietzsches unterzieht Fink nun einer „vorläufigen Interpretation“ (Fink 1992, S. 13). Als Vorbegriff dieser Interpretation endet sein erstes Kapitel ähnlich wie die Einleitung Baeumlers: Nietzsche kehrt zurück zu Heraklit. […] Nach 2500 Jahren ereignet sich eine Wiederholung Heraklits mit dem ungeheuerlichen Anspruch, die lange Gedankenarbeit der Zwischenzeit wegwischen zu können, dem Menschengeschlecht einen neuen und doch uralten Weg zu weisen, der im Widerspruch mit der ganzen Tradition steht. (Fink 1992, S. 13)
Ausgesprochen sparsam mit Gegenstandserläuterungen verfährt schließlich das letzte Werk unserer Auswahl, Martin Heideggers Nietzsche von 1961.
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„‚Nietzsche‘ – der Name des Denkers steht als Titel für die Sache seines Denkens“ (Heidegger 1989, Bd. 1, S. 9). Die Veröffentlichung beabsichtige, „[u]nser Denken auf die Sache eingehen lassen, jenes auf diese vorbereiten“. Dies wiederum nimmt scheinbar den von anderen erhobenen Anspruch zurück, den schon Fink mit seiner explizit „vorläufigen Interpretation“ abgeschwächt hatte, dass nämlich das jeweilige Buch den Gegenstand doch exklusiv und vor allem mehr oder weniger erschöpfend erschließe. Heidegger reflektiert sogleich auf die Form des eigenen Buches, das aus Freiburger Vorlesungen der Jahre 1936 bis 1940 bestehe, an die sich Abhandlungen von 1940 bis 1946 anfügten. „Die Abhandlungen bauen den Weg aus, auf dem die Vorlesungen, jede selbst noch unterwegs, die Aus-einander-setzung anbahnen.“ Jeder Hinweis auf den zeitgeschichtlichen Kontext, den Jaspers und Löwith in den Vorworten zur jeweils zweiten Auflage ihrer Bücher zur Selbst- und zur Nietzsche-Deutung heranziehen, fehlt bei Heidegger, vielmehr wird man auf den inneren Denkweg des Verfassers selbst verwiesen: „Die Veröffentlichung möchte, als Ganzes nachgedacht, zugleich einen Blick auf den Denkweg verschaffen, den ich seit 1930 bis zum ‚Brief über den Humanismus‘ (1947) gegangen bin“ (Heidegger 1989, Bd. 1, S. 10). Die Berufung auf das Ganze ist in den knappen anderthalb Vorwortseiten ohnehin persistent: „Die Wiederholungen“, denen man bei der Lektüre des Buches gegenübersehen werde, „möchte Anlaß sein, wenige Gedanken, die das Ganze bestimmen, immer neu zu durchdenken“ (Heidegger 1989, Bd. 1, S. 9) Zwar heißt es im folgenden Satz: „Ob und in welchem Sinne, mit welcher Tragweite die Gedanken denkwürdig bleiben, klärt und entscheidet sich durch die Aus-einander-setzung“ (Heidegger 1989, Bd. 1, S. 9-10). Aber trotz aller „Aus-einander-setzung“ wird nicht recht absehbar, ob es sich beim „Ganzen“ um das Ganze Nietzsches oder das Ganze Heideggers handelt – oder ob womöglich alles in eins geht. Liest man zwei Seiten über das Vorwort hinaus, erfährt man auch schon: „Die Auseinandersetzung mit Nietzsche hat weder schon begonnen, noch sind die Voraussetzungen geschaffen“ (Heidegger 1989, Bd. 1, S. 13). Die Bescheidenheit des Vorwortes verfliegt also rasch. An ihre Stelle tritt der denkerische Alleinvertretungsanspruch in Sachen Nietzsche.
II. Selbstpositionierungen, Rechtfertigung und Zielsetzung des jeweiligen Werkes Sich zu seinem Gegenstand in Position und Positur zu bringen, fällt Alois Riehl offenkundig nicht schwer. Die Geste seines Vorwortes verrät keine Neigung, sich von der Nietzsche-Aufregung, die in anderen der herangezogenen Texte
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spürbar ist, irritieren zu lassen. Vielmehr suggeriert sein Vorwort, dass er als unparteiischer Richter über das „Klassische“ und Unklassische in Nietzsches Werken jederzeit die Oberhand behält. In diesem Ausdruck artikuliert sich auf exemplarische Weise die Haltung der traditionellen Philosophiegeschichtsschreibung, die nicht einfach nur Chronistik vergangener Denkanstrengungen sein will, sondern sich zugleich als die Instanz versteht, die das Behaltensund Bedenkenswerte von dem trennt, was getrost dem Vergessen überlassen werden kann. Nietzsche ist bei Riehl bereits ein Klassiker unter Klassikern, dessen Klassizität freilich vom Fachmann sorgfältig überprüft werden muss. Als Prüfer sieht sich Riehl selbstverständlich legitimiert, so dass er über seine Rolle gegenüber dem Leser keine weitere Rechenschaft abzulegen gedenkt. Konsequent hat er in der ersten Auflage auf ein Vorwort verzichtet – die Arbeit des philosophiehistorischen Richters bedurfte gegen Ende des Goldenen Zeitalters deutscher Philosophiegeschichtsschreibung noch keiner Erläuterung. Anders sah es dann unter der ansteigenden Flut der Nietzsche-Publikationen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aus, als Riehl das Vorwort zur vierten und fünften Auflage nachschob. Dort finden sich dann die Aufgabenbestimmung und damit die implizite Selbstcharakterisierung als derjenige, der berufen ist, das Klassische aus Nietzsches Werken zu destillieren. Interessant ist an dieser oben zitierten Aufgabenbestimmung die Gleichung von „Klassischem“ und „Gesundem“. Diese Gleichung würde sich so eher nicht in einem traditionellen philosophiegeschichtlichen Werk des 19. Jahrhunderts finden; sie könnte als Indiz einer zumindest leichten Nietzsche-Infektion gelesen werden, gab sich Nietzsche doch als Arzt der Kultur, der überall das Kranke auszumerzen gedachte und das wahrhaft Klassische im Sinne des Vorbildlichen im Gesunden zu finden wähnte. Auch wenn man diese leichte Nietzsche-Infektion bei Riehl nicht diagnostizieren will, ist es doch das Vokabular der von Nietzsche inspirierten Lebensphilosophie, das Riehl hier in die Feder floss. Worin genau Klassizität oder Gesundheit besteht, verrät Riehl den Lesern seines Vorworts nicht. Bei ihm bleibt die Distanz zum „Gegenstand“ das hervorstechende Merkmal der im Vorwort dokumentierten Annäherung an Nietzsche. Sehr viel weniger Distanz zum Gegenstand bekundet demgegenüber Lou Andreas-Salomé in den Eingangspassagen ihres Buches. Vielmehr sieht sie sich – als einzige aller hier behandelten Autoren eine Zeit lang mit Nietzsche intensiv persönlich befreundet – von Nietzsche als „Geschwisterhirn“ direkt legitimiert für ihr Tun, habe sie ihm doch 1882 den „Entwurf zu einer Charakteristik Nietzsches“ vorgelesen und mit ihm durchgesprochen. „Die Arbeit enthielt im Umriß den ersten Theil des vorliegenden Buches und einzelne Abschnitte des zweiten Theiles“ (Andreas-Salomé 1994, S. 30). Ihre Absicht ist es jedoch ersichtlich nicht, Nietzsche unter herkömmliche Rubriken philosophiehistorisch
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zu subsumieren oder Klassisches von Unklassischem zu sondern. Im Gegenteil will Andreas-Salomé die radikale Individualität von Nietzsches Denkerpersönlichkeit herausarbeiten. Hätten wir hier nicht vorausgesetzt, dass wir gar nichts von Nietzsche selbst wissen, würden wir vielleicht sagen, ihr Vorgehensweise sei eine genealogische, nämlich ein Versuch, die Herkunft von Nietzsches sehr spezifischem Denken aus sehr spezifischen Quellen zu bestimmen. Schieben wir diese Überlegung auch wieder hinter den Schleier des Nichtwissens, so fällt auf, dass Andreas-Salomé trotz ihrer persönlichen Bekanntschaft mit Nietzsche eine nüchterne Distanz zu ihrem Gegenstand behält, ohne sich dabei in die Positur des philosophiehistorischen (oder gar moralischen) Richters zu werfen. Sie beansprucht zumindest einleitend nicht, über die welthistorische Sendung Nietzsches unterrichtet zu sein oder gar selbst darüber zu unterrichten, weil es ihr um die „Eigenart“ Nietzsches zu tun ist, nicht um sein welthistorisches Sendungs- und Geltungsbewusstsein,11 das manche späteren Interpreten kritiklos adaptieren. Ihr leitendes Interesse ist, Nietzsches intellektuelles Profil in seiner Geschlossenheit sichtbar zu machen: Obgleich Nietzsche seit einigen Jahren häufiger genannt wird als irgend ein anderer Denker, obgleich viele Federn damit beschäftigt sind, theils Jünger für ihn zu werben, theils gegen ihn zu polemisieren, so ist er doch in den Grundzügen seiner geistigen Individualität nahezu unbekannt geblieben. Denn seitdem die kleine, zerstreute Schaar seiner Leser, die er stets besaß, und die ihn wahrhaft zu lesen verstand, zu einer großen Schaar von Anhängern angewachsen ist, seitdem weite Kreise sich seiner bemächtigt haben, ist ihm das Schicksal widerfahren, welches jedem Aphoristiker droht; einzelne seiner Ideen, aus dem Zusammenhang gelöst und dadurch beliebig deutbar, sind zu Stich- und Schlagworten ganzer Richtungen gemacht worden, erklingen im Kampf von Meinungen, im Streit von Parteien, denen er selbst völlig fern stand. (Andreas-Salomé 1994, S. 31–32)
Richard M. Meyer fehlt zur Selbstlegitimation nicht nur wie allen anderen Autoren mit Ausnahme von Andreas-Salomé die Investitur durch Nietzsche persönlich, sondern zudem auch die Zugehörigkeit zu philosophischen Zunft. Entsprechend leitet er sein Recht zur Gegenstandsbehandlung aus seiner germanistisch-philologischen Profession ab. Da sich mittlerweile schon alle möglichen Disziplinen zu Nietzsche geäußert hätten, dürfe jetzt auch der Germanist nicht fehlen, der offensichtlich für Fragen der deutschen Kultur, an der Nietzsche ja hauptsächlich gelegen haben soll, in besonderer Weise zuständig ist. Aufschlussreich ist in Meyers Selbstpositionierungs- und Selbstlegitimierungs-
11 Das sich freilich besonders in Schriften ausdrückte, die 1894, also zum Zeitpunkt der Erstpublikation ihres Werkes, noch gar nicht publiziert waren, namentlich im Antichrist (Erstdruck 1895) und in Ecce homo (Erstdruck 1908). Man darf aber bezweifeln, dass sie sich von dem in diesen Schriften obwaltenden endzeitlichen Alarmismus hätte anstecken lassen.
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strategie nicht nur die Versicherung, er habe sich „von Anfang an selbständig in Nietzsches Schriften vertiefen“ können, sondern vor allem auch die Feststellung, dass er „nie genötigt“ gewesen sei, „für oder wider ihn ‚unbedingt‘ Stellung zu nehmen“ (Meyer 1913, S. 3). Damit schreibt sich Meyer eine wohlwollende Distanz zu seinem Gegenstand zu, die ihn als Darsteller von „Leben“ und „Werk“ hervorragend zu qualifizieren scheint: „immer suchte ich Friedrich Nietzsche selbst zu sehen – meinen Nietzsche, gewiß, denn ich bin kein objektiver Spiegel“ (Meyer 1913, S. 4). Niemals erhebt Meyer den Anspruch, seine germanistische Sicht auf Nietzsche sei die einzig mögliche oder er habe zu ihm gar einen privilegierten Zugang. Doch bittet er zu bedenken, dass es ja immer noch Menschen gebe, die die „in jedem Sinne ganz ungewöhnliche Bedeutung Friedrich Nietzsches“ leugneten, nämlich die „Bayreuther Orthodoxie“ und teilweise die „schulmäßige Philosophiegeschichte“ (Meyer 1913, S. 4). Da kann es nicht schaden, wenn auch der bescheidene Germanist diese Bedeutung gehörig herausstreicht. Auch Ernst Bertram ist, wenn man den Schleier des Nichtwissens für einen Augenblick lüftet, von Haus aus Germanist. Und doch hat sich sein NietzscheBuch von akademischen Gepflogenheiten weit entfernt, da er sich dem landläufigen Selbstverständnis von Wissenschaft verweigert, alles Legendäre und Mythische entweder in hartes Wissen zu überführen oder aber preiszugeben. Vielmehr präsentiert er sich als Diener des Mythos. Aber dieser Mythos erscheint nicht als eine zeitlose Gegebenheit, dem die Menschen nur als staunende und andächtige Hörer gegenüberstehen. Vielmehr ist bei Bertram die Legende von einem Menschen oder sein Mythos Ausdruck der menschlichen Selbstdeutung, des menschlichen Selbstverständnisses; damit liegt der Mythos mindestens partiell in der Gestaltungsmacht des Menschen. Und wenn Bertram es sich zur Aufgabe macht, den Mythos Nietzsche zu präsentieren, deklariert er das ausdrücklich als seine eigene Sicht auf einen Mythos, der unter anderen Umständen, zu anderen Zeiten wiederum eine andere Gestalt annehmen werde. Zwar gesteht auch schon Meyer die Unmöglichkeit einer spiegelnd objektiven Darstellung ein, aber für seine Methode zieht er keinerlei im Vorwort schon sichtbare Konsequenzen aus Nietzsches radikaler Kritik an herkömmlicher Wissenschaft im allgemeinen und an der objektivistischen Geschichtsschreibungspraxis im Besonderen. Demgegenüber nimmt Bertram diese Kritik unbedingt ernst, adaptiert den Mythosbegriff aus Nietzsches Frühwerk und versucht sich an einer neuen Art des historischen Schreibens, mit dem er Nietzsche gerecht zu werden hofft. Dieses Wagnis, Nietzsche nicht nur zu behandeln, sondern in die Art und Weise der Gestaltung einfließen, ja ihn über sie Herrschaft gewinnen zu lassen, scheuen die nachfolgenden Autoren – selbst Theodor Lessing, der sich unter ihnen am weitesten von wissenschaftlichen Schreibgepflogenheiten entfernt.
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Bei Bertram gibt es den Gegenstand also eigentlich nur, wenn es auch das Ich gibt, das sich zu ihm ins Verhältnis setzt, an seiner Legende webt oder sie schreibt. Aus dieser Nietzsche-Anverwandlung schöpft Bertram die Rechtfertigung seines Tuns. Zugleich ist seine Subjektivierung des Mythos, dessen Gestalt nach seinen Ausführungen stets von demjenigen abhängt, der sich mit ihm beschäftigt, eine ideale Immunisierungsstrategie, denn die subjektive Sicht und Gestaltung dieses Mythos entzieht sich jeder Kritik, will der Mythos doch gerade nicht wissenschaftliche, ‚objektive‘ Darstellung sein. Kritik kann allenfalls dabei ansetzen, den Mythos oder die Legende insgesamt nicht für die Nietzsche angemessene Form zu halten, vielleicht mit dem schon vor Bertram bei Meyer stark gemachten Argument, Nietzsche sei der große Mythenzerstörer, oder mit dem Argument, die statisch-archaisierende Form der Legende sei gerade die unpassendste Gegenform zu Nietzsches höchst dynamischer Registratur unterschiedlichster Stil- und Schreibmöglichkeiten. Dennoch scheint man Bertrams Mythologisieren lebhaft und noch lange als Gefahr – als Bedrohung der eigenen Art, über Nietzsche zu schreiben, empfunden zu haben. Sein Mythos oder seine Legende ist jedenfalls noch bis zu Fink ein ungebetener Gast in den Paratexten der Nietzsche-Literatur.12 Ist Nietzsche für Bertram „im Zeichen der Wage [sic] geboren, jener Wage eines gefährlichen Vielleicht, das den Zauber und das Verhängnis seines zwischen zwei Welten schwebenden geistigen Säkulums ausmacht“, und überhaupt das „große typische Phänomen der Grenze“ (Bertram 1922, S. 8), macht ihn Theodor Lessing zum Inbegriff eines epochalen Zwiespalts. In der Atemlosigkeit seines Anfangs, der zweitausend Jahre Weltgeschichte auf die Schultern der Leser türmt, unterlässt Lessing jeden direkten Hinweis darauf, wie er denn seinen Gegenstand anzupacken gedenkt, wie er sich zu ihm stellt und wie er sein Beginnen rechtfertigt. Er wählt eine Technik der Publikumsüberrumpelung, die den Leser sofort in ein Geschehen hineinzieht, ohne dass dieser noch lange fragen würde, wie ihm da geschieht – und warum ihm so geschieht, wie ihm geschieht. Anstelle einer methodischen oder sachlichen Selbstvergewisserung steht nur die schon zitierte Aufforderung: „Treten wir ein in ungeheures Schicksal“ (Lessing 1985, S. 9). Seine Rechtfertigung schöpft Lessing aus der Ungeheuerlichkeit seiner Erzählung: Wer sich von dieser Ungeheuerlichkeit überwältigen lässt, fragt nicht nach den Gründen und den Hinterabsichten des Boten, geschweige denn danach, ob er für sein Erzählung hinreichend qualifiziert ist. Das tut nur, wer sich von der Überwältigungsrhetorik kritisch distanziert. 12 Siehe Baeumler 1931, S. 5 und Fink 1992, S. 9. Löwith 1987, S. 356 beklagt in seinem forschungsgeschichtlichen Anhang „[d]ie prinzipielle Unangemessenheit zwischen der Darstellungsart und der Art des Dargestellten“.
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Mit Lessings Nietzsche-Buch bricht sich eine Tendenz in der NietzscheLiteratur Bahn, Nietzsche in so große weltgeschichtliche Zusammenhänge zu stellen13, dass schon die zaghafte Frage, weshalb man denn schon wieder ein Buch über ihn schreibe, geradezu unschicklich wirkt. Wenn man Nietzsche im Rahmen der Weltgeschichte in derartige Höhen hebt, dann werden allfällige Einwände, warum man sich ausgerechnet mit ihm beschäftigen soll, im Keim erstickt. Nietzsche als Schlüsselfigur in gewaltigen Weltgeschichtserzählungen wird zu einer dominanten Mode – und zwar unabhängig von den politischen Präferenzen der jeweiligen Autoren und sogar ungeachtet der Zäsur des Zweiten Weltkrieges. Noch 1960 beschwört Eugen Fink dasselbe Pathos. Eine unverzichtbare Ingredienz dieser Weltgeschichtserzählungen scheint übrigens die bei Lessing bereits sehr ausgeprägte Rede von der „Tragik“ in Nietzsches Leben zu sein. Ohne Tragik ist für viele dieser Interpreten auch die Weltgeschichte nicht zu haben – undenkbar, dass sie vielleicht bloß prosaisch ist. Verglichen mit dem eschatologischen Alarmismus, der mit Lessings Nietzsche-Darstellung anhebt, liest sich der Anfang von Alfred Baeumlers Nietzsche der Philosoph und Politiker wie ein Ausbund an Nüchternheit. Der Verfasser präsentiert sich als derjenige, der aus philosophischer Perspektive endlich einmal „[d]ie wirkliche Einheit dieses gut verborgenen Menschen und Werkes“ (Baeumler 1931, S. 5) erschließe. Daraus zieht Baeumler zunächst seine Rechtfertigung. Während Lessing mit dem Fortissimo seines Einstiegs alle Legitimationsfragen zum Verstummen bringt, kommt Baeumler gemäß den akademischen Gepflogenheiten dem Rechtfertigungsbedürfnis nach und behauptet zugleich, was keiner der Interpreten vor ihm behauptet hat, aber die Mehrzahl der Interpreten nach ihm behaupten wird, nämlich erstmals angemessen die wahre, verborgene Philosophie Nietzsches erkannt und erschlossen zu haben. Man kann sagen, dass ohne eine solche Singularitäts- und Exklusivitätsbehauptung, die zugleich alle anderen Interpretationen als unzureichend, ja als unziemlich ausschließt, es offenbar Anfang der dreißiger Jahre kaum mehr möglich ist, im Meer der Nietzsche-Literatur ausreichend Gehör zu finden. Allerdings nutzt sich die Singularitäts- und Exklusivitätsbehauptung zumindest in der Retrospektive schnell ab, wenn sich ihrer alle bedienen. Und tatsächlich gehört es fortan bis zu Fink und Heidegger zum eisernen Bestand der Einleitungsrhetorik von Nietzsche-Büchern, erstens festzuhalten, dass Nietzsche von der bisherigen Forschungsliteratur fast nur missverstanden worden sei und er seiner Entdeckung noch harre, und zweitens, dass das jeweils vorliegende Buch nun erstmals all diese Missverständnisse beseitige und den wahren Nietzsche präsentiere. Ein dritter Punkt in diesem Selbstpositionierungs13 Damit folgt man sichtlich Nietzsches Selbsteinschätzungen.
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und Selbstrechtfertigungsschema wird ebenfalls mit Baeumler dominant, nämlich das Insistieren auf der „Einheit“ von Nietzsches Denken – eine Einheit, die bislang immer versteckt und verborgen gewesen sei, jetzt aber erschlossen und entschlüsselt werde. Dieses Insistieren auf Einheit findet sich ebenso in den nachfolgenden philosophischen Interpretationen – wobei den Leser heute nur irritiert, dass der Nenner dieser Einheit jeweils in etwas anderem gefunden werden kann: wahlweise in „heroischem Realismus“ (Baeumler), in der „Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen“ (Löwith), in der „Leidenschaft des Seinssuchens im Aufschwung zum eigentlich Wahren“ (Jaspers 1947, S. 18) oder in der „Wiederholung Heraklits“ (Fink 1992, S. 13). Singularitäts-, Exklusivitäts- und Einheitsanspruch reichen Baeumler freilich zur Selbstpositionierung nicht aus. Nach dem nüchternen Einstieg nimmt die Aufgeregtheit nach und nach zu: Wird Nietzsche zunächst einfach als großer europäischer Denker vorgestellt, tritt er bald schon in weltgeschichtliche Funktionen ein: Die Geschichtserzählung vom Ende der christlichen Weltperiode ähnelt stark derjenigen Lessings, mit dem Unterschied, dass Baeumler Nietzsche nicht mehr im Alten wurzeln lässt und seinen von Lessing eruierten Zwiespalt ausblendet. Einheit heißt die Devise – und „die Erscheinung Nietzsches“ bedeutet nichts weniger als „das Ende des Mittelalters“ (Baeumler 1931, S. 12). Und Baeumler macht gleich auf die politische Dimension von Nietzsches Denken aufmerksam: auf seinen Antidemokratismus als Verlängerung seines Antichristentums. Dass auch in Baeumlers Eingangsskizze die Leidenschaft, „das verborgene Pathos seines Wesens“, der Heroisierung des Protagonisten und damit der heroischen Weihe seiner Initiation gute Dienste leisten, liegt offen zutage. Bei Karl Löwith werden die Heroisierung und auch das Pathos teilweise zurückgenommen. Jedoch beginnt auch er mit Nietzsches Selbsteinschätzung als Schicksal, die er zunächst freilich nicht in eine weltgeschichtliche Gesamterzählung einbaut, sondern auf die Zweideutigkeit abblendet, die Nietzsche nach wie vor charakterisiere. Die eigene Rolle sieht Löwith als „Nachzügler seiner Vorläuferschaft“ (Löwith 1987, S. 104) – insofern wir immer noch ohne eine wirkliche Antwort vor Nietzsches Frage stünden, welchen Sinn das Dasein des Menschen im Seinsganzen habe. Das Vorwort zur ersten Ausgabe schließt Löwith mit einem Zitat aus dem Brief Nietzsches an Carl Fuchs vom 29. Juli 1888: „Es ist nicht nötig, nicht einmal erwünscht, Partei dabei für mich zu nehmen: im Gegenteil, eine Dosis Neugierde, wie vor einem fremden Gewächs, mit einem ironischen Widerstande, schiene mir eine unvergleichlich intelligentere Stellung zu mir“ (Löwith 1987, S. 105). Da zeichnet sich eine andere Rezeptionshaltung ab, nämlich die der Distanzierung – womöglich auch von den endgeschichtlichen Projektionen, denen
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der späte Nietzsche seine eigene Lebensdeutung unterwarf – Projektionen, die Interpreten spätestens von Lessing an sogar noch überbieten zu wollen schienen. Diese weniger alarmistische Rezeptionshaltung spricht dann auch aus dem Nachkriegs-Vorwort zur zweiten Ausgabe, wo Nietzsche nun erstmals auch unter politische Vorbehalte gerät, habe er doch eine „geistige Atmosphäre“ geschaffen, in der „der ‚Wille zur Macht‘ besinnungslos praktiziert werden konnte“ (Löwith 1987, S. 106). Damit kommt eine neue Legitimationsstrategie für Nietzsche-Bücher auf: Man muss sich mit ihm beschäftigen, weil er mitverantwortlich für die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts sein könnte. Indessen wird dieses legitimatorische Motiv bei Löwith (und im übrigen auch bei den anderen hier besprochenen Nachkriegspublikationen) nicht sehr stark gemacht, da immer das Problem im Vordergrund steht, inwiefern denn Nietzsche als Philosoph relevant ist. Die Frage sei, „ob und was wir aus Nietzsches Lehre [von der ewigen Wiederkehr des Gleichen] trotzdem lernen können“ (Löwith 1987, S. 107). Da zögert Löwith nicht, Nietzsche in seiner Wiederkunftskonzeption einen „fundamentalen Widerspruch“ zu bescheinigen (Löwith 1987, S. 107), der die Leser gleich zu Beginn darüber aufklärt, dass sie von Nietzsche nach Ansicht des Verfassers keine zufriedenstellende Antwort auf die Sinnfrage bekommen würden. Von der Wahrheit oder Falschheit dieser einen „Lehre“ hängt für Löwith das definitive Urteil über Nietzsches Philosophie ab. Löwith nimmt also das Pathos, das die Zwischenkriegsbeschäftigung mit Nietzsche charakterisiert, zurück und re-akademisiert ihn, indem er ihn auf eine „Lehre“ reduziert, deren Ponderabilität er untersuchen will. Von Löwiths Nietzsche ist kein weltgeschichtliches Heil mehr zu erwarten. Die Festlegung auf eine bestimmte Lehre, die sich bei Baeumler noch mit den weltgeschichtlichen Endzeitprojektionen verbunden hatte, befreit bei Löwith vom Erwartungsdruck an Nietzsches schicksalshafte Sendung, der sich bereits bei Bertram und dann besonders bei Lessing aufgebaut hat. Die Systematisierung Nietzsches14 kann als Kanalisierung und Ableitung dieses Drucks verstanden werden. Bei Löwith wird dies greifbar; Nietzsche ist wieder, wie einst bei Riehl, ein geistesgeschichtlicher Untersuchungsgegenstand. Die Nietzsche-Euphorie ist gründlich ausgenüchtert. Ein Deutungsansatz, der Nietzsche so behandelt, als wäre er ein Philosoph unter anderen Philosoph, widerstrebt demgegenüber Karl Jaspers. Eigentliche Deutung dagegen ist eindringend statt subsumierend; sie weiß nicht endgültig, sondern geht, um jeweils Ergriffenes wissend, fragend und antwortend voran. Damit
14 Sehr lehrreich sind die Überlegungen von Gentili 2010, S. 284–296 zum Bedürfnis bei Baeumler, Löwith und Jaspers, Nietzsche zu systematisieren.
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beginnt sie einen Prozeß der Aneignung, dessen Bedingungen und Grenzen sie feststellt. Während jene falsche Deutung distanzierend sieht, das Gedeutete wie ein Fremdes stehen läßt und den täuschenden Genuß des Überblickens verschafft, ist diese wahre das Medium für die Möglichkeit des Selbstbetroffenseins. (Jaspers 1947, S. 12)
Andererseits wird man kaum leugnen können, dass die meisten emphatischen Nietzsche-Deutungen, mit denen wir es vor Jaspers zu tun hatten, bereits in hohem Maße Betroffenheitsliteratur waren, die einen Teil ihrer Legimitation implizit gerade aus dieser Betroffenheit ableiteten. Eine Ausnahme machten nur Riehl am Anfang und Löwith am Ende. Jaspers seinerseits wendet sich gegen die Isolation einzelner Lehren, gegen Persönlichkeitskult, gegen Auflösung in mythischen Symbolen und gegen Psychologismus und gibt stattdessen Ratschläge, wie man Nietzsche lesen solle. Man könne ihn leicht schlecht lesen. Bei der Interpretation müsse man jedes Wort ernst nehmen – obwohl Jaspers doch selbst im Vorwort Nietzsche „gegen die Abgleitungen in den eigenen Notizen des sich dem Wahnsinn nähernden Mannes“ schützen (Jaspers 1947, S. 5), also Nietzsche gerade nicht überall ernst nehmen wollte. „Die Interpretation selbst geschieht durch Beziehung zentraler Sätze aufeinander“ (Jaspers 1947, S. 16). Aus dieser leitenden Interpretationsmaxime lässt sich wiederum eine sehr weitreichende interpretatorische Lizenz ableiten, denn wer legt fest, was die „zentralen Sätze“ sind und wie man sie miteinander in Beziehung setzen soll? Jaspers gibt dafür keine Kriterien an, sondern nimmt das Resultat seiner kombinatorischen Bemühungen schon vorweg: „Das Sichwidersprechen ist der Grundzug Nietzscheschen Denkens“ (Jaspers 1947, S. 17). Die Aufgabe des Interpreten besteht dann darin, den Ursprung der Widersprüche zu suchen. Jaspers skizziert in seiner Einleitung eine eigentliche Nietzsche-Hermeneutik, die eine andere Art der Selbstlegitimation darstellt als die Festlegung auf eine einzige Lehre oder auf Nietzsches weltgeschichtliche Sendung. Das andere, nicht subsumierende Interpretationsverfahren ist es nun, mit dem sich Jaspers selbst und gegen die konkurrierenden Interpretationen positioniert. Dennoch scheint er sich trotz seines Abschieds von der einen Lehre nicht dazu durchringen zu können, zu erwägen, dass Nietzsches Denken in sich plural verfasst sein könnte. Auch Eugen Fink sieht sich, so sehr er seinerseits die endzeitliche Positionierung Nietzsches aus der Literatur der Zwischenkriegszeit revitalisiert, zwecks Selbstpositionierung zu hermeneutischer Selbstreflexion veranlasst. Er weist auf die Paradoxie hin, dass wir uns Nietzsches Philosophie mit einem Vorbegriff von Philosophie nähern müssen, der derjenige der Metaphysik ist, von der sich Nietzsche gerade habe freimachen wollen.
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Wir kommen also in die merkwürdige Situation, daß auf der Suche nach der Philosophie Nietzsches uns gerade der Leitfaden abhanden kommt, daß wir den Ariadnefaden verlieren, der uns einleiten könnte in das Labyrinth des nietzscheschen Denkens. (Fink 1992, S. 13)
Der einzige Ausweg, den Fink sieht, besteht darin, Nietzsche zu attestieren, er habe doch nicht die ganze Philosophie verabschiedet, sondern sei nur zu ihrem Anfang zurückgekehrt, eben zu Heraklit. Damit wird Nietzsche doch subsumierbar – er erscheint als Wiederholer des vergessenen Anfangs. Insofern wird er uns in Finks Augen doch zum Schicksal. Und Martin Heidegger? Sein Vorwort verrät uns nur, dass er sich nicht mehr zu legitimieren braucht. Sein Werk soll für sich sprechen und entsprechend empfiehlt er seinen Nietzsche als umfassende Auskunft über seine eigene Denkbewegung, in die Nietzsche sozusagen organisch eingewoben ist.
III. Philosophieren im Zeichen Nietzsches Versuchen wir nach diesem doppelten diachronen Durchgang durch die paratextuelle Landschaft deutschsprachiger Nietzsche-Literatur die einzelnen Erkenntnisse zu sortieren und zu katalogisieren. Erinnern wir uns noch einmal an die für die Probebohrung gewählte Versuchsanordnung: Wir nehmen an, uns wäre von der Philosophie des 20. Jahrhunderts nichts weiter überliefert als die vorgestellten einleitenden Paratexte der zehn deutschen NietzscheBücher: Was verraten sie uns über die Gestalten dieser Philosophie? Welches Profil geben sie ihr? Inwiefern wirkt das unter dem Namen „Nietzsche“ Gefasste als Katalysator dieser, wie wir schon sahen, unterschiedlichen Gestalt von Philosophie? Anders gefragt: Was wollen die Philosophen von Nietzsche, was wollen sie mit ihm? 1. Verunsicherungsresistentes Philosophieren. Zu Beginn steht eine Form des Umgangs mit dem Gegenstand „Nietzsche“, die von ihm eigentlich nichts will, nichts von ihm erwartet. Bei Alois Riehl ist die Philosophie von „Nietzsche“ offenkundig nicht dazu aufgefordert, sich selbst in Frage zu stellen oder sich gar neu zu definieren. Verräterisch ist dabei die Metapher, mit der die Untersuchungsmethode charakterisiert wird – ohnehin sind die ausgewählten Schlüssel-Paratexte ein lohnendes Jagdrevier für philosophische Metaphorologen: Einen „Scheideprozess“ kündigt Riehl an. Der philosophische Chemiker, der dabei zu Werke geht, behält jederzeit die Oberhand. Philosophie erweist sich in diesem Falle als veränderungs- und verunsicherungsresistent – so sehr, dass keine Auskunft darüber erforderlich ist, wie sich denn diese Philosophie selbst
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versteht. Sie begreift sich als selbstverständlich und kann über Irritationen wie den Gegenstand „Nietzsche“ souverän zu Gericht sitzen. 2. Philosophie im Horizont der Kulturgeschichte. Richard M. Meyer beansprucht als Fachfremder nicht, einen neuen Begriff von Philosophie zu gewinnen, notiert aber doch die Nietzsche-Resistenz der traditionellen Philosophiegeschichtsschreibung. Stattdessen will er „Nietzsche“ als Kulturphänomen begreifen und macht vergangenes Philosophieren damit zu einem Forschungsgegenstand der Kulturgeschichte. Allerdings bleibt er nicht bei dieser Historisierung stehen, sondern rühmt – ohne genauere Spezifikation – die Kulturerneuerungskraft, die von „Nietzsche“ ausgeht. Die Leitmetapher, unter die Meyer sein Tun stellt, ist das Vertreiben von Gespenstern, die Nietzsche selbst um sein Grab versammelt habe. Meyers Ansatz versteht sich damit als aufklärerisch – wobei das zugrundeliegende Konzept von Aufklärung sich auf Nietzsche als „Mythenzerstörer“ beruft. Wie tief dieser Einfluss reicht, bleibt offen. 3. Philosophiegeschichte als Denkbiographik. Lou Andreas-Salomé benutzt Nietzsche nicht, um einen eigenen Begriff von Philosophie zu entwickeln. Jedoch entwickelt sie ihre eigene Methode in direkter Auseinandersetzung mit Nietzsche, indem sie Werke und Philosopheme als Ausdruck einer spezifischen Persönlichkeit begreift. Sie verabschiedet damit den Herrschafts- und Gerichtsgestus, mit dem die herkömmliche Philosophiehistorie als „Klassiker“-Behandlung und -Benotung etwa bei Riehl auftrat. Ihr Konzept von Philosophiegeschichte als Denkbiographik lässt sich als erster ernsthafter Versuch verstehen, Nietzsches Denken im Denken über ihn fruchtbar zu machen. Dieses Konzept verwirklicht damit an einem konkreten Fall Nietzsches eigene verstreute Hinweise zu einem historisch-genealogischen Philosophieren.15 4. Neues Schreiben und Philosophie jenseits von Wissenschaft. Unterstrich schon Meyer das von Nietzsche ausgehende Kulturerneuerungspotential, will Ernst Bertram dieses Potential konkret sichtbar machen, indem er in Nietzsche den Inspirator einer neuen Art mythologisierenden Schreibens sucht und findet. Zwar beansprucht er nicht explizit, der Philosophie einen neuen Begriff von sich selbst zu geben, aber seine Art der Darstellung macht deutlich, dass er Philosophie mit und nach Nietzsche jenseits der Gepflogenheiten normaler Wissenschaft verortet. Philosophie kann nach Nietzsche nicht mehr das sein, was sie lange war, eine Wissenschaft unter Wissenschaften. „Nietzsche“ würde, in der Konsequenz von Bertrams Ansatz, nicht nur zu einer neuen Art
15 Nach Andreas-Salomé hat dieses Konzept vor allem in vulgarisierter Form, als auf Nietzsche selbst angewandte Entlarvungspsychologie Schule gemacht.
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des Schreibens, sondern zu einer neuen Art des Denkens anleiten. Unbestimmt bleibt, wie es in der Sache um diese neue Art des Denkens bestellt sein könnte. 5. Philosophie als Eschatologik. Dass Nietzsche eine völlig neue Art des Denkens initiiert hat, ist der Befund, von dem Theodor Lessing ausgeht. Mit „Nietzsche“ versinken zwei Jahrtausende Geschichte im Staub; er ist der tragische Wendepunkt, mit dem etwas völlig Neues begonnen hat. Die heutigen Menschen sind in Nietzsches Nachfolge (Lessing zufolge) gezwungen, eine völlig neue Welt zu erschaffen. Damit weist Lessing der Philosophie eine eminente weltverändernde Kraft zu: Dass die Welt eine neue zu werden im Begriffe steht, ist wesentlich das Verdienst einer neuen Art zu philosophieren, die sich in Nietzsche verkörpert hat. Nietzsche nötigt zu Entscheidungen – zu Entscheidungen gegen die christlich-abendländische Tradition und ihren Wertekanon. So verwandelt sich Philosophie aus einer akademischen Disziplin in eine welthistorisch entscheidende Macht. An dieser Macht partizipieren die vermeintlich so ohnmächtigen Philosophen der Gegenwart. 6. Philosophie als Gesetzgebung. In der geschichtsphilosophisch-endzeitlichen Positionierung Nietzsches folgt Lessing sein weltanschaulicher Antipode Alfred Baeumler. Auch er sieht die Gegenwart unter einem enormen, vom Denken Nietzsches ausgehenden Entscheidungsdruck. Baeumler macht deutlich, in welche Richtung dieser Entscheidungsdruck politisch werden soll, nämlich gegen die Demokratie als Christentum mit anderen Mitteln. Der Kampf wird dabei zur leitenden Metapher, die sich in die säkulare Eschatologik folgerichtig einpasst. Bei Baeumler ist die Philosophie gleichfalls ein entscheidender Machtfaktor, an dem er teilzuhaben gedenkt. Er sympathisiert mit der von Nietzsche (im Gefolge Platons) definierten Rolle des Philosophen als Gesetzgeber. Philosophie, Baeumlers Philosophie soll Gesetz werden. 7. Philosophie als Desillusionierung, Historisierung und Vereinheitlichung. Dass die Philosophie Eines will und dass Nietzsche ein Denker der Einheit sei, ist erklärtermaßen Baeumlers Überzeugung. Eine solche Fokussierung auf eine Lehre nimmt auch Karl Löwith vor, freilich nicht in der Absicht, der Philosophie gesetzgeberische Kompetenzen zuzuweisen, sondern im Bestreben, Nietzsches Philosophie zu neutralisieren und ihr Antwortpotential auf die große Sinnfrage zu relativieren. Die Aufgabe zeitgemäßen Philosophierens liegt für Löwith nicht in der Gesetzgebung, sondern im Stellen der Sinnfrage. Dabei hält er Nietzsches Antwort auf diese Frage für gescheitert; Nietzsche erscheint als Anreger, sich die Sinnfrage immer wieder neu zu stellen. Im Umgang mit Nietzsche selbst setzt Löwith auf Desillusionierung: Nietzsche gibt uns nicht die richtigen Antworten – und auf Historisierung: Nietzsches Antworten sind zeitbedingt. Nietzsche auf die eine Lehre verdünnt, wird eingehegt, enteschato-
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logisiert und neutralisiert. Beruhigung tritt ein, obwohl die Sinnfrage nach wie vor nicht beantwortet ist. 8. Philosophie auf der Suche nach existentieller Relevanz. Scheitern als Nietzsches persönliche Tragödie wird bei Karl Jaspers zur Signatur menschlichen Daseins überhaupt. Sein „Nietzsche“ ist Ansporn zum Nachdenken über das Eigene, indem man mit ihm mitdenkt. Dieser Nietzsche ist der Steigbügelhalter der Selbstreflexion, der Reflexion über die condition humaine. Nietzsche verliert seine eschatologische Dringlichkeit, sein politischer Anspruch entfällt, der Entscheidungsdruck wird von der welthistorischen Bühne ins Innenleben des nachdenkenden Individuums verlagert. Ob sich Jaspers’ Philosophieren unter dem Eindruck „Nietzsches“ verändert oder ob er nur ein Anwendungsfall für dieses Philosophieren ist, lässt sich zumindest aufgrund der einleitenden Paratexte nicht entscheiden. 9. Neue Philosophie als noch nicht absehbare. Eugen Fink nimmt Nietzsches Aufforderung, zu einer neuen Philosophie zu gelangen, als eine Aufforderung ernst. Dies wiederum lässt ihn wie schon Lessing zu eschatologischen Bildern greifen. Zugleich aber erscheint ihm Nietzsche als ein Denker, der in seinem Versuch, die Philosophie gänzlich zu erneuern, zum Ältest-Bekannten, zu den Vorsokratikern seine Zuflucht nehmen musste. Damit ist Nietzsche domestiziert und rubriziert – und dennoch bleibt die Aufgabe bestehen, die Philosophie neu zu erfinden, die Fink in seinem Nietzsche-Buch nicht erfüllen will. Hat Martin Heidegger dies womöglich getan, indem er dort, wo er über Nietzsche sprechen sollte, über sich selbst spricht? Hat Nietzsche das Denken verändert? Die Tatsache, dass man sich so vielfältig zu ihm stellen, sich zu ihm verhalten muss, legt das zumindest nahe. Man könnte in distanzierter Betrachtung malevolenter sein: Das Pathos, die Weltgeschichtserzählungen und die Reduktion auf die jeweils eine Lehre erschienen dann genauso wie die Ausrufung ganz neuer Arten zu denken als wiederholte Versuche, sich und vor allem die Philosophie wichtig zu machen. Philosophie als Pathosbefriedigungsanstalt, als Einheitsbefriedigungsanstalt, als Neuigkeitsbedürfnisanstalt. Zwei Beobachtungen möchte ich an den Schluss stellen: Erstens: Die Pluralität der untersuchten Nietzsche-Deutungsansätze steht in einem merkwürdigen Missverhältnis zum Umstand, dass diese Ansätze Nietzsche überwiegend als Einheitsdenker mit einem leitenden Gedanken sehen. Die Vielfalt gilt ihnen bei Nietzsche als eine nur scheinbare. Keiner der herangezogenen Autoren kann in Nietzsche den Denker des Vielfältigen und Vielfachen erkennen. Es scheint, als fänden all die neuen Philosophie-Konzepte, die in der Auseinandersetzung mit Nietzsche erprobt werden, noch nicht den Mut zur Pluralität.
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Zweitens: Von „Nietzsche“ geht ersichtlich ein starker Drang zur Ent-Akademisierung von Philosophie, damit freilich auch zu ihrer Pluralisierung aus. Hatte Platon die Philosophen aus der Polis heraus- und in die Akademie als Schutzraum hineingenommen16, so entlässt Nietzsche sie wieder in die Obdachlosigkeit. Mit dieser Freiheit ist, wie das 20. Jahrhundert nicht nur in Sachen Nietzsche-Rezeption zeigt, nur schwer umzugehen. Die Frage bleibt: Was soll Philosophie sein? Wie sollen wir philosophieren?
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16 Dazu hat Raffaele Mirelli bemerkenswerte Überlegungen angestellt, die demnächst veröffentlicht werden.
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Diskontinuitäten Nietzsche und der ‚französische Stil‘ in der Wissenschaftsphilosophie: Bachelard und Canguilhem mit einem Ausblick auf Foucault Im Sommer 1968 widmet der Cercle d’épistémologie eine Nummer seiner Cahiers pour l’analyse der Genealogie der Wissenschaften.1 Das Heft ist in drei Teile gegliedert: Der erste, Archäologie der Wissenschaften, ist eine Debatte mit Michel Foucault: Den Fragen des Kreises folgt eine Replik;2 sie gibt zu „Neuen Fragen“ Anlass, die in die folgende münden: „[W]o steht Foucault jetzt im Verhältnis zu Freud, und zu Nietzsche?“3 Ausgangspunkt der Debatte ist die Archäologie der Humanwissenschaften. Foucault, der eigentlich die in der Ordnung der Dinge angewandte Methode verteidigen soll, reformuliert sie gründlich. Aus seiner Antwort wird dann Die Archäologie des Wissens. Dem Hefttitel zum Trotz geht es auf jeden Fall um eine archäologische Methode – noch nicht um eine genealogische. Foucault führt also nicht als erster den Ausdruck ‚Genealogie‘ in die wissenschaftstheoretische Diskussion ein. Den Titel Genealogie der Wissenschaften versteht der epistemologische Kreis jedoch nur als „eine ausreichend neutrale Bezeichnung [inscription], um den Unterschied zwischen dem Archäologen und dem Historiker zu tilgen“ (Cahiers 1968a, S. 3): ‚Genealogie‘ ist also lediglich ein allgemeiner Term, der
1 Theoretische Referenzen der meisten im Impressum aufgelisteten damals z. T. noch sehr jungen Mitglieder sind Althusser und Lacan sowie Canguilhem, von dem das Motto der Zeitschrift stammt. – Meine einleitenden Überlegungen und die Schlussbemerkung beziehen sich auf die ursprüngliche Version des vorliegenden Aufsatzes, die nach Bachelard und Canguilhem auch Foucault eingehend behandelte. Aus Platzgründen mussten die Ausführungen über seinen Diskontinuitätsbegriff in den Fahnen ersatzlos wegfallen. Dieser dritte Teil wird entweder separat erscheinen oder in einer ungekürzten Fassung des Beitrags. 2 Cahiers 1968b, Cahiers 1968c. Vgl. „Über die Archäologie der Wissenschaften. Antwort auf den Cercle d’épistémologie“, in: Foucault 2001, Schriften, Bd. 1, S. 887–931. „Sur l’archéologie des sciences“ ist eigentlich die Überschrift des ganzen Abschnitts, nicht nur von Foucaults Beitrag; sie dürfte eher vom Cercle stammen als von ihm. 3 Cahiers 1969d, S. 44. (Übersetzung vom Vf., wie immer wenn deutsche Ausgaben fehlen. Vorhandene Übersetzungen wurden nach Bedarf geändert.) Abschließend wird eine Antwort Foucaults in einem der nächsten Hefte angekündigt (Cahiers 1968d, S. 44). Daraus wurde nichts: Mit Nummer 10 wurde das Erscheinen der Cahiers eingestellt. Foucault lagen jedoch die Fragen vor, als er aus seinem Aufsatz die Archäologie des Wissens machte.
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klassische (v. a. Canguilhemsche) Wissenschaftsgeschichte und Foucaultsche Archäologie gleichermaßen umfassen soll. Der Ausdruck hat in diesem Heft weder einen expliziten Nietzsche-Bezug, noch steht er für einen besonderen, konturierten Ansatz. Anfang des Jahrzehnts hatte Gilles Deleuze als erster den ganzen Nietzsche unter dem Vorzeichen der Genealogie gelesen.4 Foucault attestiert ihm 1970 „die Geduld eines an Nietzsche geschulten Genealogen“ (Schriften 2, S. 108). Foucault bezeichnet als Genealogen zuerst Deleuze, erst kurz darauf nennt er sich selbst so. 1967, im Aufsatz über Nietzsche, Freud, Marx, ist dies noch nicht der Fall. Im selben Jahr erklärt Foucault allerdings im Hinblick auf Die Ordnung der Dinge, „dass [s]eine Archäologie Nietzsches Genealogie weit mehr verdankt als dem Strukturalismus im eigentlichen Sinne“ (Schriften 1, S. 768).5 Bereits der Archäologe bekennt sich also zu Nietzsches Genealogie als zu seinem Vorbild. Die Archäologie des Wissens (1969) beruft sich dann auf die „durch die Genealogie von Nietzsche vorgenommene Dezentrierung“ (AW, S. 24) des Subjekts, die Foucault von „einer Suche nach dem Ursprünglichen“ (AW, S. 25) abhebt. Zwei Jahre später kündigt Nietzsche, die Genealogie, die Historie (1971) jeden Versuch auf, „lineare Genesen zu beschreiben“ (Schriften 2, S. 166), und liest Nietzsches Philosophie unter dem Vorzeichen der Diskontinuität. Unter den „verschiedenen Begriffen, die das Denken der Diskontinuität gestatten“, hatte die Archäologie „Schwelle, Bruch, Einschnitt, Wechsel, Transformation“ (AW, S. 13) aufgelistet. Nietzsches Originaltext bietet durchaus Anknüpfungspunkte. Aber der Diskontinuitätsbegriff ist anderer Herkunft: Er geht in diesem Kontext hauptsächlich auf die ‚historische Epistemologie‘ zurück.6 In Auseinandersetzung mit Nietzsche gewinnt er bei Foucault jedoch neue Valenzen. Spätestens seit Kuhns bekannter Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen ist die Vorstellung geläufig, dass wissenschaftlicher Fortschritt nicht linear verläuft: Wissenschaft verfährt nicht rein akkumulativ, häuft nicht einfach 4 Ein Abschnitt zum Genealogiebegriff leitet das erste Kapitel über Das Tragische ein und damit das ganze Buch (vgl. Deleuze 1985, S. 5 ff.). 5 In diesem Gespräch mit R. Bellour Über verschiedene Arten, Geschichte zu schreiben streitet Foucault jede Verwandtschaft zwischen seiner Archäologie und der „Genealogie“ ab, versteht aber unter letzterer eine „Beschreibung der Anfänge und der Folgen“ (Schriften 1, S. 763), also eher noch das von Canguilhem kritisierte Suchen nach ‚Vorgängern‘ als Nietzsches ‚Genealogie‘. 6 Wie ‚Kontinuität‘/‚Diskontinuität‘ benutzt Bachelard u. a. ‚Bruch‘ (rupture) und ‚Mutation‘. Den ‚Einschnitt‘, die „coupure épistémologique“, führt dagegen erst Louis Althusser ein, der sich dabei auf Bachelard beruft (vgl. Balibar 1991). Anders als sein Lehrer Althusser ist Foucault der Auffassung, Marx stelle keinen epistemologischen Einschnitt dar (vgl. Schriften 1, S. 753).
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immer neues Wissen an, sondern kennt epochale Brüche, in denen ganze Wissensfelder neue Gestalt annehmen, wissenschaftliche Revolutionen, wie man sie mit Namen wie Galilei oder Einstein verbindet. Die ‚Epistemen‘ der Ordnung der Dinge wurden schon sehr früh mit Kuhns ‚Paradigmen‘ verglichen. Foucault nahm zu diesem Vergleich, ja Plagiatsvorwurf, Stellung und wies auf die französische Tradition hin, insbesondere auf Canguilhem.7 Wer den lange unterschätzten wissenschaftshistorischen und -theoretischen Kontext von Foucaults Philosophie ernst nimmt, neigt zumeist dazu, die Aufmerksamkeit von Nietzsche weg zu lenken. ‚Nietzscheanische‘ Tendenzen und wissenstheoretisches Anliegen sind jedoch eng miteinander verflochten – nicht erst bei Foucault. Geht man dem Diskontinuitätsbegriff in Bachelards und Canguilhems wissenschaftstheoretischem Werk nach, begegnet man wieder Nietzsche, selbst wenn seine Genealogie erst bei Foucault zum zentralen Bezug eines diskontinuitätszentrierten Ansatzes wird. Gaston Bachelard (1884–1962). – I. „Eine systematische Revolution der Grundbegriffe beginnt mit der Einsteinschen Wissenschaft. Bis in die Details ihrer Begriffe ist es zu einer Relativierung des Rationalen und des Empirischen gekommen. In der Wissenschaft vollzieht sich nun das, was Nietzsche ein ‚Begriffsbeben‘ genannt hat, so als ob die Erde, das Universum, die Dinge eine andere Struktur bekommen hätten, seitdem ihre Erklärung auf neuen Fundamenten ruht. Die ganze rationale Organisation ‚bebt‘, wenn die Grundbegriffe einer dialektischen Wandlung unterzogen werden“ (Bachelard 1955, S. 413 ).8 Nietzsches zweite Unzeitgemässe warnt vor dem „Begriffsbeben, das die Wissenschaft erregt“; es kann „dem Menschen das Fundament aller seiner Sicherheit und Ruhe, den Glauben an das Beharrliche und Ewige“ nehmen, so dass „das Leben selbst in sich zusammen[bricht]“ (UB II 10, KSA 1, S. 330). Mit diesem beunruhigenden ‚Begriffsbeben‘ setzt Bachelard stillschweigend die durch den späten Nietzsche beabsichtigte ‚Umwertung‘ gleich: „Welche Begriffe ‚beben‘ denn eigentlich? Welche Begriffe unterliegen auf der rationa-
7 Vgl. Schriften 2, S. 293. 8 Engl.: Bachelard 1949b, S. 565; franz.: Bachelard 1972a, S. 120 f. Bachelards Aufsatz erscheint an prominenter Stelle. Albert Einstein: Philosopher-Scientist ist der siebte Band der von Schilpp herausgegebenen Reihe The Library of Living Philosophers. In den fast 800 Seiten des Buches, in dem auch sechs Nobelpreisträger vertreten sind, stellt Bachelard als einziger einen Bezug zwischen Nietzsche und Einstein her. Nietzsche wird sonst in einem einzigen weiteren Beitrag genannt – zusammen mit Schopenhauer und eher kritisch. Man würde gerne etwas über Einsteins Reaktion wissen; leider gehört „The philosophic dialectic of the concepts of relativity“ nicht zu den Aufsätzen, auf die er in der abschließenden Replik eingeht.
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len Ebene, im hellen Licht der rationalen Philosophie, einer Umwertung der rationalen Werte im Sinne Nietzsches?“ (Bachelard 1955, S. 415).9 Bachelard antwortet: „Der Begriff, der hier einem ‚Nietzscheschen Beben‘ ausgesetzt ist, ist der der Gleichzeitigkeit“ (Bachelard 1955, S. 417).10 Der eigentliche Umwerter ist hier Einstein; und es geht vor und nach der Umwertung durch ihn um rationale Werte. Ob diese Betonung der Rationalität nur als Deutung gemeint ist oder als Korrektur an Nietzsche, bleibt in der Schwebe. Indem Bachelard dessen Denkfigur auf die Relativitätstheorie anwendet, macht er auf jeden Fall die ‚Umwertung‘ zum Inbegriff auch epistemologischer Diskontinuität. Um Einsteins Relativitätstheorie als entscheidende Wende der modernen Wissenschaftsgeschichte zu würdigen, zieht der Aufsatz von 1949 eine ganze Reihe philosophischer Umsturzbilder heran. Kants kopernikanische Revolution wird als erste aufgerufen, aber als rein metaphorisch von der Einsteinschen abgesetzt (Bachelard 1955, S. 413).11 Die im Titel erwähnte ‚Dialektik‘ gehört seit jeher zu Bachelards Vokabular. Er legt jedoch größten Wert darauf, seine Philosophie des Nein von Hegels ‚Dialektik a priori‘ abzuheben. Deshalb heißt es hier ‚Nietzschesche Umwertung‘ und ‚Nietzschesches Beben‘, aber nicht ‚Hegelsche Dialektik‘ (auch nicht ‚Marxsche‘).12 ‚Begriffsbeben‘, ‚Umwertung‘ und ‚dialektische Wandlung‘ scheinen allerdings austauschbar. Wie ‚Dialektik‘ und ‚kopernikanische Revolution‘ könnte ‚Begriffsbeben‘ als Bild für eine systematische Revolution der Grundbegriffe geeigneter scheinen. Aber Bachelard fasst nicht ohne Grund die historische Leistung der Relativitätstheorie konzeptuell als ‚nietzscheanische Umwertung‘ auf. Ihm kommt es wirklich auf Werte an: auf „Umkehrung [renversement] der epistemologischen Werte“ (Bachelard
9 Engl.: Bachelard 1949b, S. 567; franz.: Bachelard 1972a, S. 123. Der französische Originaltext verwendet bei Begriffen „tremblement“ und bei Werten „transmutation“, die englische Erstveröffentlichung jeweils „upheaval“ und „transmutation››. Ins Deutsche sind die Ausdrücke je nachdem als „Beben“/„Begriffsbeben“ und „Umwertung“ zurückzuübersetzen. In diesem Sinn habe ich die deutsche Fassung von 1955 geändert, die durchgängig „Umwertung“ benutzt. Nietzsche verbindet sein Umwertungskonzept mit dem Ablegen alter und dem Schaffen neuer Begriffe, verwendet jedoch nie Wendungen wie „Umwertung der Begriffe“. Bei alledem laufen in Bachelards Aufsatz „Begriffsbeben“ und „Umwertung“, wie im Text ausgeführt, weitgehend aufs Gleiche hinaus. Auch die „Umwertung der rationalen Werte“ ist eine der Begriffe. 10 Engl.: Bachelard 1949b, S. 569; franz.: Bachelard 1972a, S. 125. 11 Engl.: Bachelard 1949b, S. 565; franz.: Bachelard 1972a, S. 120. 12 Bachelard 1940, S. 134 (dt: Bachelard 1980 S. 155), unterscheidet Philosophie des Nein bzw. „Dialektik der zeitgenössischen Wissenschaft“ einerseits und „apriorische Dialektik“, „philosophische“ bzw. „Hegelsche Dialektiken“ andererseits. Zur Dialektik bei Bachelard vgl. Canguilhem 1968c.
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1953, S. 57) oder „der konkreten und abstrakten Werte“ (Bachelard 1949a, S. 168). Allerdings bezeichnet nur der Einstein-Aufsatz die ‚Umwertung‘ explizit als eine nietzscheanische.13 II. Pierre Duhem zufolge hat eigentlich keine wissenschaftliche Revolution stattgefunden, nur eine langsame, allmähliche Evolution: Man täuscht einen Bruch vor, wenn man eine Gestalt wie Galileo (oder Leonardo) künstlich isoliert, zwischen ihm und seiner Zeit eine Kluft aufreißt und die vielen ‚Vorläufer‘ ignoriert. Der Wissenschaftshistoriker à la Duhem will letztere ausgraben und gegen den trügerischen Anschein einer Revolution eine ununterbrochene Tradition aufzeigen, die er bis in ihre fernen Ursprünge verfolgt. Die historische Epistemologie entlarvt die hier behauptete Kontinuität als bloßen Schein. Canguilhem stellt unter Berufung auf den nur bedingt ‚diskontinuistisch‘ eingestellten Koyré (vgl. Canguilhem 2006 f., S. 115) den Begriff eines ‚Vorgängers‘ radikal in Frage. Er stimmt Bachelard zu: Wer behauptet, die Wissenschaft habe die Träume der Alchemie verwirklicht, gaukle dem Leser „falsche Kontinuitäten“ vor, wo „ganz offene dialektische Gegensätze“ vorliegen (Bachelard 1953, S. 103).14 Schon in den dreißiger Jahren kündigt Bachelard Bergsons ‚psychische Kontinuität‘15 auf, aber auch erkenntnistheoretische und wissenschaftshistorische Kontinuismen. Meyerson sieht Wissenschaft direkt aus dem common sense hervorgehen.16 Was ist falsch an dieser These? Baut Wissenschaft nicht auf die Platitüden und Trivialitäten des gesunden Menschenverstands auf? Stellen diese Selbstverständlichkeiten samt vorwissenschaftlicher Empirie nicht eine gesicherte, wenn auch schlichte und beschränkte Grundlage dar, bei der Wissenschaft anfangen kann? Erkenntnis musste bei der naiven Natur-
13 Bachelards ‚Psychoanalyse der Erkenntnis‘ verbindet die „transmutation“(auch die „transmutations de valeurs“) mit der Alchiemie. Zu diesen „Transmutationen“ vgl. Bachelard 1938a, S. 79, S. 165, S. 173. Dt.: Bachelard 1987, S. 116, S. 210 f., S. 219. Bachelard 1940, S. 4. Dt.: Bachelard 1980 S. 19. Vgl. auch Bachelard 1953, S. 103. 14 Vgl. dazu Canguilhem 1968b, S. 185; dt.: Canguilhem 1979a, S. 18. Bachelard spricht hier nur scheinbar die Sprache Hegels. 15 „[V]om Bergsonismus akzeptieren wir fast alles bis auf die Kontinuität“ (Bachelard 1936, S. 7). Bachelards „Versuch eines diskontinuierlichen Bergsonismus“ (Bachelard 1936, S. 8), Die Dialektik der Dauer, betont gegen Bergsons kontinuistische Auffassung des Psychischen – „die Kontinuität der Dauer“ (Bachelard 1936, S. 8) – die „Diskontinuitäten der psychischen Produktion“, deren „Intervalle“, „Lücken“ (Bachelard 1936, S. VII). 16 Brenner 2010, S. 275, unterscheidet bei Meyerson einen erkenntnistheoretischen und einen historischen Kontinuismus. Fruteau de Laclos 2008 relativiert Meyersons Kontinuismus und sieht in Bachelards Meyerson-Kritik ab 1934 eher eine Folge der Bergson-Kritik in La dialectique de la durée.
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erkenntnis einsetzen. Aber sie konnte nicht einfach Lücken füllen, Unwissenheit abbauen und Wissen anhäufen. Erkenntnis begann nicht einfach bei beschränktem Wissen und reiner Unwissenheit, sondern bei falschem Vorwissen. Nur wer diese negative Seite der ‚Volkswissenschaft‘ herausarbeitet, kann Bachelard zufolge die Dynamik wissenschaftlicher Entwicklung verstehen. Erkenntnis beginnt mitten im Irrtum.17 Dieser hemmt sie vielfach und hält sie auf. Insbesondere die falschen Bilder alltäglicher Naturerkenntnis sind ‚epistemologische Hindernisse‘ und müssen überwunden werden. Wissenschaftliche Theorien verneinen die präwissenschaftlichen. Höchstens junge Wissenschaften weisen eine Kontinuität mit dem common sense auf, weil sie unreif sind (vgl. Michel Serres in: Canguilhem 1979a, S. 19). Früher oder später müssen sie jedoch einen ‚epistemologischen Bruch‘ vollziehen. Dies geschah bereits, als sich eine wissenschaftliche Kultur überhaupt etablierte. Aber die Schlacht war nicht ein für allemal geschlagen. Noch der ‚neue wissenschaftliche Geist‘ der Relativitätstheorie, der Quantentheorie usw. führt den Kampf gegen den common sense. Noch die neuen Wissenschaften müssen ‚epistemologische Hindernisse‘ beseitigen. Die Kontinuitätsthese verkennt diese kämpferische Natur wissenschaftlicher Erkenntnis. Dieselbe Diskontinuität prägt die Beziehung zwischen wissenschaftlichen Theorien. Die Vorstellung, eine neue Entdeckung folge unmittelbar und notwendig aus den bereits getätigten und eine neue Theorie aus den vorhergehenden, muss aufgegeben werden. „Tatsächlich erkennt man gegen eine frühere Erkenntnis, indem man falsche Erkenntnisse zerstört und das überwindet, was im Geist selbst der Vergeistigung zum Hindernis wird“ (Bachelard 1938a, S. 15 f.).18 Wissenschaft schreitet im Wesentlichen dadurch fort, dass sie falsche Erkenntnisse verneint; sie ist in diesem Sinn eine ‚Philosophie des Nein‘.19 Diese ist ihre (unhegelsche) Dialektik. Warum ist sie auch eine Umwertung? Die ‚Vorurteile‘, gegen die Wissenschaft ankämpft, sind oft eher falsche
17 „Ein Wahres auf dem Boden des Irrtums, das ist die Form des wissenschaftlichen Denkens“ (Bachelard 1949, S. 48). „Man muss irren, um das Ziel zu erreichen […] Eine Wahrheit hat ihren vollen Sinn erst am Ende einer Polemik. Es könnte keine erste Wahrheit geben, es gibt nur erste Irrtümer“ (Bachelard 2002, S. 79). 18 Dt.: Bachelard 1987, S. 46; dt. nach: Bachelard 1974, S. 171. 19 Die ‚Philosophie des Nein‘ verneint jedoch nicht nur, der ‚neue wissenschaftliche Geist‘ bezieht das Verneinte ein: Die euklidische Geometrie findet in einem nicht euklidischen Horizont ihren Platz wie die newtonsche Mechanik im nicht newtonschen Kontext der Relativitätstheorie.
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Bilder als Urteile.20 Der Erkennende muss mit dem „unmittelbaren Objekt“ brechen und den Gedanken widersprechen, die „aus der ersten Beobachtung hervorgehen“. Diese „wertbestimmte Beobachtung“ ist wie „hypnotisiert“ von den „primitiven Wertsetzungen“ (Bachelard 1990, S. 5, S. 8, S. 9; vgl. Bachelard 1990, S. 79). In der Einbildungskraft, die naives Wissen beherrscht, kommen unbewusste Wertsetzungen zum Tragen. Deshalb wirken die „Intuitionen“ des Alltags als epistemologische Hindernisse und müssen „beseitigt“ werden.21 Die falschen Probleme der vorwissenschaftlichen Mentalität entspringen diesen ‚primitiven‘ Wertsetzungen und entschwinden erst, wenn die wissenschaftliche Kultur sich von letzteren emanzipiert, d. h. diese Wertsetzungen ent- bzw. umwertet, durch neue ersetzt. Nötig ist „eine Umkehrung der epistemologischen Werte“, „eine epistemologische Revolution […], indem man die in den Archetypen des Unbewussten eingewurzelten Überzeugungen entschlossen hinter sich lässt. In umgekehrtem Sinn zu Kants kopernikanischer Revolution vollzieht sich diese Umwertung“ (Bachelard 1953, S. 57). Eine solche ‚Umwertung‘ stellt nicht erst der Übergang vom alten wissenschaftlichen Geist zum neuen dar, von der klassischen Physik zur Relativitätstheorie, sondern jeder Übergang von einem Stadium der Wissenschaftsentwicklung zum nächsten, und bereits derjenige von der vorwissenschaftlichen ‚Lebenswelt‘ zur ‚wissenschaftlichen Welt‘. Die Umwertung wird zugleich zur Aufgabe einer neuartigen Psychoanalyse: Der „unbewusste Wert“ muss „durch eine angemessene Psychoanalyse entwertet“ werden (Bachelard 1987, S. 218). „Eine Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis muss sich von jeder Bewertung frei halten. Sie muss nicht nur alle Werte umwerten, sie muss die wissenschaftliche Bildung radikal entwerten“ (Bachelard 1987, S. 116). Letztere muss „gegen jede unbewusste Wertung gut abgedichtet“ werden. Die so gewonnene „Freiheit der Wertbestimmung“ unterscheidet die wissenschaftliche Kultur von der vorwissenschaftlichen (Bachelard 1987 S. 210). Bachelard, der in der Ethik Kant näher ist als Nietzsche, verbindet das Umwertungskonzept mit einem ‚psychoanalytischen‘ Wertbegriff. Seine heterodoxe, eklektische ‚Psychoanalyse der Erkenntnis‘, die sich
20 „‚Nous avons été capables de créer des formes bien avant de savoir créer des concepts.‘ (Nietzsche, La Volonté de puissance, trad. Bianquis, t. II, p. 320)“ (Bachelard 1953, S. 112, Motto von Kapitel IV ‚Le matérialisme composé‘). 21 Bachelard 1940, S. 139 f.; dt: Bachelard 1980 S. 160. Die gemeinte Umwertung vollzieht sich auch dadurch, dass Bachelards „Phänomenotechnik“ an die Stelle der „Phänomenologie“ tritt. „Wenn man diese Umkehrung konkreter und abstrakter Werte ablehnt, dann, weil man nicht zwischen Phänomenologie und Phänomenotechnik unterscheidet“ (Bachelard 1949a, S. 168).
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von der ‚klassischen‘ absetzt, trägt allerdings, selbst wenn ein ganz anderer ‚Geist‘ sie bewegt, auch nietzscheanische Züge. III. Etwa ein Jahrzehnt vor dem Einstein-Aufsatz (1949) beginnt Bachelards philosophische Produktion, sich zu verzweigen: 1940 erscheint Die Philosophie des Nein, aber auch ein Buch über den Dichter Lautréamont; danach verfasst er eine Reihe poetologischer Schriften: Eine, Die Luft und die Träume (1943), enthält den Aufsatz Nietzsche et le psychisme ascensionnel. Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, dass Nietzsche, der in der Vorkriegszeit nur sporadisch vorkommt, in den späten epistemologischen Werken weit präsenter ist. Bachelards Beiträge zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis – Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes (1938) und die Psychoanalyse des Feuers (1938) – behandeln die Einbildungskraft im Wesentlichen nur als epistemologisches Hindernis. Poetologische Schriften aber wie Das Wasser und die Träume (1942) oder Die Luft und die Träume (1943) würdigen die Leistungen der Phantasie im menschlichen Leben. In diesem zweifachen Kontext taucht Nietzsche 1) als Opfer und 2) als Held auf. 1) Als Opfer erscheint er, wenn Bachelard zeigen will, wie Philosophen den Täuschungen der Einbildungskraft erliegen. Bachelard erstellt epistemologische Profile in Hinsicht auf grundlegende physikalische Begriffe, z. B. auf den Energiebegriff. In einer Art Selbstanalyse zählt er zu seinem eigenen „epistemologischen Profil“ auch eine „unklare Kenntnis der Energie, eine Kenntnis, die unter dem Einfluss eines primitiven Realismus zustande gekommen ist“; sie ist, gesteht der Physiker Bachelard, „der Ausdruck eines dumpfen Machtwillens“ (Bachelard 1940, S. 47; dt: Bachelard 1980 S. 60 f.). Dieses epistemologische Profil zeigt, dass selbst beim ‚Surrationalisten‘ Bachelard epistemologische Hindernisse nicht ausgeschaltet sind, und bei Nietzsche, auf den er abschließend eingeht, stellt sich sogar ein „Irrationalismus“ heraus: „Das epistemologische Profil des Energiebegriffs bei Nietzsche […] würde vielleicht ausreichen, um seinen Irrationalismus zu erklären. Auf die Basis eines falschen Begriffs lässt sich eine große Lehre aufbauen.“22 In einem anderen Buch stellt Bachelard dem antiquierten naiven, träumerischen Willen zur Macht des Philo-
22 Bachelard 1940, S. 47 (dt: Bachelard 1980 S. 61). „Mit ihrer Verkennung der Problematik der Bewegungsphänomene können die auf feinste Art komplexen, am zartesten in sich eingefalteten Seelen […] in kurios simplen Vorstellungen schwelgen […] Im Grunde hat Nietzsche nur den Willen zum Schlagen erlebt. Der Schock und der Anschub, die Anziehung und der Rückstoß machten für ihn die grundlegenden dynamischen Bilder aus […] Nietzsche hält sich an eine anthropomorphe Mechanik, in der der Mensch verursacht und strebt. Für ihn liegt alles in Ursache und Zweck […] Und so stellt man sehr oft die Probleme, die man nicht studiert, für geklärt hin“ (Bachelard 1951, S. 72 f.).
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sophen affirmativ einen wissenschaftlich, kernphysikalisch [!] fundierten Machtwillen gegenüber: Erst hier gingen Wille zur Macht und Wille zum Wissen wirklich eine enge und beständige Verbindung ein.23 Es fehlt also nicht an Texten, die den ‚Philosophen‘ Nietzsche niedriger einstufen als die Wissenschaftler. 2) Als Held figuriert Nietzsche wiederum im erwähnten längeren Beitrag über das psychische Aufsteigen. Bachelard erläutert suggestiv die Motivik des Abhebens und Fliegens in Also sprach Zarathustra, die Luft als Grundelement Nietzschescher Poetik und seine Metaphorik vertikaler, dynamischer Bewegungen.24 Auch in Die rationalistische Tätigkeit der zeitgenössischen Physik, einer späten wissenschaftstheoretischen Schrift, tritt Nietzsche als Dynamiker auf, der den Wissenschaftler vor den „passiven Affekte[n] der Faulheit“ ebenso warnt wie vor der einen „große[n] Lähmung“. Hier steht Nietzsche nicht allein für poetische Leistungen und wissenschaftliche Unzulänglichkeiten der Einbildungskraft. Vielmehr helfen seine kritischen Überlegungen Bachelard dabei, die ‚Philosophen‘ zu ‚psychoanalysieren‘. Bachelards eigenwillige ‚Psychoanalyse der Erkenntnis‘ orientiert sich nicht nur an Freud und an Freudianern wie etwa Ferenczi, sondern auch an Jung und nicht zuletzt an Nietzsche, z. B. in Hinsicht auf den ‚polemischen‘ Charakter der Erkenntnis sowie auf ‚Erkenntnishindernisse‘ wie Trägheit, Gewohnheit, Überzeugung usw.25 23 Durch Chemie und Kernphysik „erhält der Mensch unerwartete Machtmittel, positive Mittel, die alle Machtträume des Philosophen übertreffen […] Solange der Wille zur Macht naiv war, solange er philosophisch war, solange er nietzscheanisch war, zeigte er – im Guten wie im Bösen – nur in der Dimension des Individuums Wirkung. Nietzsche wirkt auf seine Leser; ein Nietzsche-Leser, der zum Autor wird, hat nur eine lächerlich geringe Wirkung […] Er [der Mensch – M. B.] reichert die Zukunft an, indem er sie mit einem bewiesenen Willen zur Macht versieht. Daher wird die Verbindung des Willens zur Macht und des Willens zum Wissen eng und beständig“ (Bachelard 1953, S. 5). Zur „ewigen Wiederkehr der Vernunft“ vgl. Bachelard 1940, S. 36, dt.: Bachelard 1980, S. 50; zur „auf das Winzigkleine angewandten Philosophie der ewigen Wiederkehr“, vielleicht mit Abel Rey im Hinterkopf, vgl. Bachelard 1949a, S. 193. 24 Zum ‚aerischen‘ Nietzsche vgl. Bachelard 1943, Chap. V Nietzsche et le psychisme ascensionel, S. 146–185. Foucault, der Bachelard 1952 persönlich kennenlernt, zitiert L’Air et les Songes bereits in seiner Einleitung zur französischen Ausgabe von Binswangers Traum und Existenz (vgl. Schriften 1, S. 168). Derrida, der sich auf Nietzsche beruft, sieht in Bachelards Projekt wiederum einen Versuch, die Trennung von Metapher und Begriff und damit den traditionellen Metapherbegriff aufrechtzuerhalten, d. h., die Metapher dem Begriff unterzuordnen (Derrida 1972, S. 308 ff.). 25 Bachelard sieht „einen Gegensatz der Kulturwerte zu den Überzeugungswerten“ (Bachelard 1949a, S. 105). Dieselbe Schrift verweist in dieser Hinsicht auf Nietzsche: „– aber eine Sache, die überzeugt, ist deshalb noch nicht wahr: sie ist bloß überzeugend. Anmerkung für Esel“ (10[150], in KSA 12, S. 539). Bachelard zitiert nach „Volonté de puissance, trad. ALBERT, I, p. 56“ (Bachelard 1949a, S. 58, Anm. 1). – „Jedes Wesen, das täuscht, wie auch
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„Wie Nietzsche sagt, entsteht alles Entscheidende nur trotzdem.“ (Bachelard 1934, S. 10 f.).26 Schon 1934 drückt Bachelard mit diesem Ausspruch Nietzsches den Gedanken aus, dass neue wissenschaftliche Theorien sich von den früheren polemisch absetzen. Der späte Bachelard beruft sich dann auf Nietzsches Einsicht, dass wissenschaftliche Methoden späte Errungenschaften sind; hier steht Nietzsche den üblichen Philosophen gegenüber, denen die Spannung zwischen Methode und menschlicher Trägheit entgeht, und damit der kämpferische Charakter wissenschaftlicher Erkenntnis.27 Eine weitere Spätschrift entwickelt die Kritik der Faulheit so: „Aber beim Menschen ist alles Leidenschaft, und mit Recht hat Nietzsche die Faulheit als eine passive Leidenschaft bestimmt“ (Bachelard 1951, S. 10). „Das Neue findet“ – heißt es in Jenseits von Gut und Böse – „auch unsre Sinne feindlich und widerwillig; und überhaupt herrschen schon bei den ‚einfachsten‘ Vorgängen der Sinnlichkeit die Affekte, wie Furcht, Liebe, Hass, eingeschlossen die passiven Affekte der Faulheit“ (JGB, KSA 5, S. 192). Nietzsche will hier die „Geschichte einer einzelnen Wissenschaft“ in ihrem typischen Ablauf beschreiben; „die voreiligen Hypothesen, die Erdichtungen, der gute dumme Wille zum ‚Glauben‘, der Mangel an Misstrauen und Geduld [werden] zuerst entwickelt“ (JGB, KSA 5, S. 192). Diese These stimmt mit Bachelards Auffassung überein, dass wissenschaftliche Entwicklung sich in immer neuen ‚epistemologischen Brüchen‘ vollzieht. Nietzsche ist nicht die ‚Quelle‘ dieses Begriffs. Aber Bachelard findet in dessen Gedanken seine eigene Philosophie des Nein wieder. Er bemerkt eine Konsonanz.28 immer, täuscht sich. / Das polemische Denken wittert diese Doppeltheit überall. Sobald die Wahrheit ein Wert ist, ein Beweis der Überlegenheit, sobald die Wahrheit eine Waffe ist, verbirgt sie sogar im Schatten des Seins eine Gegenwahrheit, Zeichen einer verhehlten Schwäche.“ (Bachelard 1949a, S. 68.) Diese Schlussfolgerung zieht Bachelard aus einer längeren Analyse von Nietzsches Aphorismus „Hinterfragen“ (M 523). 26 Dt.: Bachelard 1988, S. 12; vgl. EH, KSA 6, S. 337. 27 „In mancher Hinsicht ist die Methode der Gegensatz zur Gewohnheit […] Das Methodengewissen muss wachsam bleiben. Wie Nietzsche sagt: ‚die Methoden, man muss es zehnmal sagen, sind das Wesentliche, auch das Schwierigste, auch das, was am längsten die Gewohnheiten und Faulheiten gegen sich hat.‘ Wenn man versucht, in all diesen Nachklängen den Effekten dieser Verdopplung nachzugehen, erstaunt einen die übliche Bemerkung der Philosophen, die den Denkakt für etwas absolut Einheitliches ausgibt. In der wissenschaftlichen Denkanstrengung beurteilt im Gegenteil das Gewissen sein Urteil. Es setzt einen Wert über ein Faktum“ (Bachelard 1949a, S. 25; vgl. AC 59, KSA 6, S. 248; zu den „Methoden“als den „werthvollsten Einsichten“vgl. auch AC 13, KSA 6, S. 179). 28 Bachelard bezieht sich noch einmal auf Nietzsche, wenn er den Inhalt des Kapitels zusammenfasst: „Insgesamt scheint uns die Spezialisierung jene Bedingung zu erfüllen, die Nietzsche selbst als Wesen wissenschaftlicher Arbeit anführt. In ihr zeigt sich ‚ein Glaube an den Verband und die Fortdauer der wissenschaftlichen Arbeit, so daß der Einzelne an jeder noch so kleinen Stelle arbeiten darf, im Vertrauen, nicht umsonst zu arbeiten. Es gibt eine große Lähmung: umsonst arbeiten, umsonst kämpfen.‘“ (Bachelard 1951, S. 23; dt. in:
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Nicht nur die neue Physik, auch die historische Epistemologie ist eine Philosophie des Nein. Im nächsten Kapitel derselben Schrift nennt Bachelard die epistemologische „Geschichte der Naturwissenschaften“, wie er sie betreibt, eine „beurteilte Geschichte“ („histoire jugée“), d. h., eine „Geschichte, die verpflichtet ist, Irrtum und Wahrheit, Träges und Wirksames, Schädliches und Fruchtbares zu unterscheiden.“ „Hier ist mehr als anderswo die nietzscheanische Meinung richtig: ‚Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene deuten‘“ (Bachelard 1951, S. 35; dt. in: Bachelard 1974, S. 212). Über Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, aus der Bachelard hier zitiert, fährt so fort: „nur in der stärksten Anspannung euerer edelsten Eigenschaften werdet ihr errathen, was in dem Vergangnen wissens- und bewährungswürdig und gross ist. Gleiches durch Gleiches. Sonst zieht ihr das Vergangene zu euch nieder“ (UB II, KSA 1, S. 293 f.). Bachelard gibt dem Satz der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung eine merkwürdige Interpretation: Er wendet ihn nicht auf Historie überhaupt an, sondern nur auf die Wissenschaftsgeschichte. Diese will und muss nun das, was im vergangenen Wissen noch heute „bewährungswürdig“ ist, von dem unterscheiden, was kein Wissen mehr darstellt; das vermag sie „[n]ur aus der höchsten Kraft der Gegenwart“, d. h. in Bachelards Lesart: nur vom aktuellen Stand der Forschung aus. Wissenschaftsgeschichte kommt nicht darum herum, zwischen „der erloschenen und der sanktionierten Geschichte“ zu unterscheiden (Bachelard 1951, S. 37; dt. in: Bachelard 1974, S. 213), d. h. zwischen den überholten Erkenntnissen und denjenigen, die eine Zukunft gehabt haben.29 Darin sieht Bachelard das Spezifikum der Wissenschaftsgeschichte: Sie beschreibt nicht nur, sie bewertet auch. Sie muss Vergangenes von heute aus beurteilen, und dies unterscheidet sie von jeder empirischen Geschichtsschreibung; denn etwa die politische Geschichte, die ‚Geschichte der Reiche und der Völker‘, „erfordert vom Historiker, nicht zu urteilen“ (Bachelard 1951, S. 35).30 Für sie gilt Nietzsches Gebot also nicht. Nur Wissenschaftsgeschichte soll es verinnerlichen – eben deshalb, weil sie keine empirische Geschichtsschreibung
Bachelard 1974, S. 161). Bei Nietzsche geht es eigentlich nicht um das Wesen, sondern nur um die „Voraussetzung der wissenschaftlichen Arbeit“ (KSA 12, 5[59], S. 206). Als Quelle gibt Bachelard an: „NIETZSCHE, Volonté de puissance, trad. BIANQUIS, t. II, § 299, p. 99“ (Bachelard 1951, S. 30, Anm. 4). V.a. auf diesen Text konzentriert sich die Analyse in Nouvel 1997, S. 92 ff. 29 Vgl. Canguilhem 2006d, S. 60; vgl. Canguilhem 1968a, S. 13 (dt.: Canguilhem 1979b, S. 16 f.). 30 Dt. in Bachelard 1974, S. 212. Vgl. Canguilhem 1979a, S. 16.
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ist.31 In diesem Punkt unterscheidet sich laut Bachelard seine Wissenschaftsgeschichte von der traditionellen.32 Ihm zufolge stimmt Nietzsches Diktum nur, wenn es rationalistisch (nicht vitalistisch) gedeutet wird, als Motto einer präsentistischen Haltung: Um die „Dialektik der epistemologischen Hindernisse und der epistemologischen Akte“ (Bachelard 1951, S. 36; dt. in: Bachelard 1974, S. 213) zu beschreiben, muss Wissenschaftsgeschichte vom aktuellen Forschungsstand ausgehen, sonst wäre sie nicht in der Lage, die Hindernisse von deren Überwindungen zu unterscheiden. Da der Forschungsstand aber, von dem aus die historische Epistemologie die Geschichte einer Wissenschaft befragt, sich ständig verschiebt, „wird es nötig sein, die Geschichte häufig neu zu schreiben, häufig neu zu bedenken“ (Bachelard 1972b, S. 144; dt. in: Bachelard 1974, S. 218). Der „ephemere Charakter der Modernität“ bringt es mit sich, dass die ‚beurteilte Geschichte‘ eine immer wieder neu beurteilte Geschichte ist, die Wissenschaftsgeschichte eine „immer wieder neu begonnene Geschichte“, „eine immer junge Lehre“ (Bachelard 1972b, S. 144; dt. in: Bachelard 1974, S. 220). Bachelard redet auch von einer „histoire récurrente“ (Bachelard 1951, S. 38). So bringt Foucault die „Methode der Rekurrenz“ auf den Punkt, die sich auch Canguilhem zueigen macht: „Die Geschichte der Diskontinuitäten steht jedenfalls nicht ein für alle Mal fest: Sie ist ihrerseits ‚impermanent‘ und diskontinuierlich“ (Schriften 3, S. 559). Georges Canguilhem (1904–1995). – Bachelard sei – so Canguilhem in Von der Wissenschaft und der Gegenwissenschaft – mit seinem zweifachen, teils wissenschaftstheoretischen, teils poetologischen, Schaffen „das glückliche Beispiel der wechselseitigen Toleranz des Gewissens der Rationalität und des schöpferischen Gewissens des Dichters“. Über dieses Gelingen und dessen Möglichkeitsbedingungen kläre Bachelard den Leser allerdings nicht auf. Ohne ontologischen Hintergrund sei es schwer, „sich weiter Rationalist zu nennen, das heißt,
31 Vgl. Bachelard 1972b, S. 146 (dt. in Bachelard 1974, S. 220 f.). „Tatsächlich muss man in völligem Gegensatz zu den Vorschriften, die von einem Historiker verlangen, nicht zu urteilen, vom Wissenschaftshistoriker Werturteile verlangen“ (Bachelard 1972b, S. 141). Braunstein 2008, S. 17, nimmt einen Nietzsche-Bezug an. 32 Michel Fichant zufolge vergleicht Bachelard damit seine historische Epistemologie mit Nietzsches ‚kritischer Historie‘. (Vgl. Fichant 1993, S. 43 f.; Fichant, Pêcheux 1977, S. 85, S. 89). Eigentlich jedoch gilt Nietzsches Satz nicht (nur) für die dritte und letzte der von ihm unterschiedenen Arten der Historie, sondern auch und vor allem für die erste, die monumentalische. – Auch der junge Canguilhem sieht in der zweiten Unzeitgemässen das Vorbild einer immer wieder neu zu schreibenden Historie: Er denkt aber nicht an Wissenschaftsgeschichte. Vgl. OC, S. 766.
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die Vorstellung zu vertreten, es gebe nur wissenschaftliche Wahrheit, während man zugleich die Rechte des Imaginären vertritt.“33 Der Rationalist Bachelard sei eine Legitimation der Einbildungskraft schuldig geblieben, und diese Legitimation findet Canguilhem bei Nietzsche, zu dem er anschließend übergeht. Der zweite Abschnitt von Canguilhems kurzem Aufsatz, der in der Gedenkschrift Hommage à Jean Hyppolite auf Foucaults Nietzsche, die Genealogie, die Historie unmittelbar folgt, ist Nietzsche gewidmet. Foucault denkt wohl auch an De la science et de la contre-science, wenn er bei Canguilhem deutliche Spuren Nietzsches findet und „sogar ausdrückliche Bezugnahmen, ausdrücklicher in seinen letzten Texten als in seinen ersten“. In den fünfziger Jahren, schreibt Foucault 1983, sei Canguilhem wie er selbst auch „sehr an Nietzsche interessiert“ gewesen.34 Inzwischen ist bekannt, dass Canguilhem sich schon wesentlich früher mit Nietzsche auseinandergesetzt hat, spätestens Mitte der dreißiger Jahre, lange vor seiner medizinischen Dissertation über Das Normale und das Pathologische. I. Als der junge Philosophielehrer, der sich noch nicht als Wissenschaftshistoriker verstand, das Studium der Medizin aufnahm, war Nietzsche für ihn bereits ein wichtiger Gesprächspartner. „Schließlich verband diese deutsche Philosophie mit der Idee des Lebens die Idee des Wertes. Nach Nietzsche evozierte Wert Befreiungsmacht (puissance d’affranchissement), die Fähigkeit (pouvoir), das Gesetz zurückzuweisen.“ (Canguilhem 1992) Dieser späte Rückblick betont die Relevanz der direkten Nietzsche-Lektüre, aber auch der Vermittlung durch die von Nietzsche geprägte deutsche Lebensphilosophie: Leben heißt Werte schaffen, d. h. Normen setzen und ablehnen, sich frei machen von alten Normen durch neue, selbst gesetzte.35 Diese wertsetzende, normative Natur des Lebendigen – der Zusammenhang zwischen Leben und Norm – ist das Hauptthema von Canguilhems Arbeit.
33 Canguilhem 1971, S. 177. Canguilhem schreibt Bachelard die Erfindung eines „Dualismus ohne wechselseitige Exkommunikation des Wirklichen und des Imaginären“zu (Canguilhem 1972, S. 10; vgl. Canguilhem 1957). 34 Schriften 4, S. 528 f. Mündlich hat Canguilhem sich mehr als einmal unzweideutig zu Nietzsche bekannt: „Ich bin Nietzscheaner ohne Wenn und Aber“ („Je suis un nietzschéen sans cartes“; Fichant 1993, Anm. 4, S. 48). „Canguilhem hatte damit überrascht, dass er vehement auf der Rolle bestand, die der Bezug zu Nietzsche in seiner persönlichen philosophischen Orientierung gespielt hatte, ein Punkt, in dem er bis dahin sehr zurückhaltend gewesen war“ (Macherey 2009, S. 21). Saint-Sernin 1985, S. 85, führt GD, Sprüche und Pfeile 11, an. Vgl. auch Piquemal 1985, S. 82. 35 Schon im Februar 1931 ordnet Canguilhem Nietzsche eindeutig der Lebensphilosophie zu (vgl. OC, S. 342).
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Der Versuch von 1943 hat es vor allem auf die positivistische Tradition abgesehen. Die positivistische Physiologie verneint einen wesenhaften Unterschied zwischen Normalem und Pathologischem. Das Pathologische verhalte sich zum Normalen wie eine Abweichung zum Durchschnitt; das Verhältnis lasse sich also objektiv und quantitativ bestimmen. Canguilhem vertritt dagegen die These, beim Normalen und Pathologischen handle es sich nicht um (wissenschaftliche) Tatsachen/Kategorien, sondern um Normen bzw. Werte. Das Normale und das Pathologische hängen mit jeweils anderen vitalen Normen bzw. Werten zusammen, vor allem mit der Fähigkeit des Lebendigen, Normen zu setzen. Beim Pathologischen nimmt das Lebendige die Abnahme dieser Fähigkeit wahr. Der Mensch erweist sich als normierend, Normen setzend; und auch der Mediziner kann, als lebender und wissender, auf normative Begriffe nicht verzichten. In Canguilhems Aufsatz hat Nietzsche eine doppelte Rolle, eine vordergründige und eine verstecktere, fundamentale. Als einziger nicht französischer Autor wird er unter denjenigen angeführt, die das ‚Dogma‘ – Claude Bernards Kontinuität des Normalen und des Pathologischen – teilen.36 Unterschwellig aber verdankt Canguilhem Nietzsche – sowie der deutschen Lebensphilosophie – einige der theoretischen Instrumente, mit denen er eben jenes ‚Dogma‘ in Frage stellt.37 Canguilhem geht es um den Nachweis, dass jenes ‚Dogma‘ das neunzehnte Jahrhundert wirklich beherrschte. Er führt aus, dass Nietzsche sich eine einschlägige Stelle Bernards notiert, und gibt mit der Quelle die Bemerkung an, 36 „Selbst Nietzsche beruft sich auf Bernard und übernimmt von ihm gerade die Vorstellung von der Homogenität des Pathologischen und des Normalen. Einem längeren Zitat aus den Leçons sur la Chaleur animale (1) über Gesundheit und Krankheit schickt er folgende Überlegung voran: ‚Der Wert aller morbiden Zustände ist, dass sie in einem Vergrößerungsglas gewisse Zustände, die normal, aber als normal schlecht sichtbar sind, zeigen…‘“ (Canguilhem, 1974, S. 24). Nietzsche führt „Claude Bernard“ namentlich an, und Canguilhem weist nach, dass die von ihm zitierte Stelle aus den Leçons sur la chaleur animale (8:391) stammt (Canguilhem, 1974, S. 43). Nietzsche könnte das Bernard-Zitat einem anderen Autor entnommen haben. Aber in KSA 14 fehlt selbst die Quellenangabe aus den Leçons. Canguilhem zitiert Nietzsche aus „La Volonté de Puissance, § 533, trad. Bianquis, N.R.F., I, 364“ (Canguilhem 1974, S. 16; vgl. 14[65], NL, KSA 13, S. 250). Noch in seinen Spätschriften greift er auf Bianquis Übersetzung von Würzbachs Kompilation zurück (vgl. Cammelli 2006, S. 252 f.). 37 Mehrere Autoren haben darauf aufmerksam gemacht. Auf diese besterforschte Seite von Canguilhems Nietzsche-Rezeption werde ich nicht weiter eingehen (vgl. Stiegler 2000; Cherlonneix 2005; Daled 2008). Zu „Canguilhems notion de vivant normatif“ und deren „proximité avec la pensée de Nietzsche“ vgl. Le Blanc 2008, S. 57 f., 69 ff., zum Unterschied zwischen Canguilhem und Nietzsche vgl. Le Blanc 2010, S. 353 ff. Wie Nietzsche ist auch Canguilhem ein Kritiker der auf Taine zurückgehenden Theorien des Milieus. Zu Nietzsche vgl. „Le vivant et son milieu“ in Canguilhem 2009, S. 189, Anm. 3.
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die Nietzsche dem Exzerpt vorausschickt, bezieht sich jedoch nicht auf dessen eigentliche Reaktion. Dabei bleibt es auch Jahrzehnte später. Canguilhem relativiert indes seine Einschätzung von 1943: Nietzsches Beschreibung der ‚großen Gesundheit‘ scheint ihm nun ein Gegengewicht gegen die kritisierte positivistische Tendenz darzustellen.38 II. Nicht zuletzt wegen der cartesianischen Tradition werde in Frankreich – so Canguilhems Diagnose 1947 – jeder „Ansatz zur biologischen Philosophie“ „irgendwo zwischen Mystizismus, Romantik und Faschismus angesiedelt“ und je nachdem mit Namen wie „Hegel, Nietzsche, Bergson oder Hitler“ verbunden (Canguilhem 2006b, S. 27). Eine Auseinandersetzung mit Bergson, der hier als Ausnahme die französische Regel bestätigt, ist in Hinsicht auf die Philosophie des Lebendigen jedenfalls unerlässlich. Canguilhem publiziert 1943 – im selben Jahr erscheint Das Normale und das Pathologische – einen Kommentar zum dritten Kapitel von Bergsons Schöpferischer Entwicklung.39 Im damaligen Frankreich werden Bergson und Nietzsche nicht selten miteinander verglichen. Das Lebendige, so Jankélévitch mit Rickert, will bei Bergson und Nietzsche nicht nur sich selbst erhalten, sondern strebt danach, „sein eigenes Wesen zu überwinden“.40 „Nietzsche zufolge stellt sich“ – so Canguilhem im Anschluß
38 Vgl. Canguilhem 2004, S. 55 f. In diesem Aufsatz geht es Canguilhem darum, ob Nietzsche als Gewährsmann für „eine These“ fungieren kann, „die auf einen Autor wartet“ (Canguilhem 2004, S. 55). Die entsprechende Frage ist, „ob die Gesundheit nicht die Wahrheit des Körpers sein könnte“ (Canguilhem 2004, S. 54). Nicht nur das Buch von 1943 sieht Nietzsche manchmal zu positivistischen Positionen neigen. In seiner Kritik der Psychologie wirft Canguilhem ihm ein „Missverständnis“ vor. Um sich alle Genauigkeit eines Instruments zu erhalten, so eine bekannte Aufzeichnung Nietzsches, müsse der Psychologe darauf verzichten, sich selbst zu erkennen, er dürfe sich nicht in die paradoxe Lage eines Instruments bringen, das sich selbst erkennen wolle. Die Frage, „wessen oder wozu er das Instrument ist“, müsse der Psychologe laut Canguilhem jedoch dringend stellen. Vgl. Canguilhem 1968e, S. 377; vgl. 14[27], NL, KSA 13, S. 230. 39 Canguilhem 1943b. Als französischer Philosoph seiner Generation ist Canguilhem mit Bergson weit vertrauter als mit Nietzsche. Zwar zählt der zuerst strikt pazifistisch eingestellte Canguilhem diesen zu den Apologeten des Krieges, zeigt sich ihm gegenüber aber schon früh aufgeschlossen: 1932 plädiert er in L’agrégation de philosophie dafür, Nietzsche in das philosophische Prüfungsprogramm aufzunehmen, was damals alles andere als selbstverständlich ist (vgl. OC, S. 428; Cammelli 2006, S. 251). Auf Alain, seinen Lehrer in der khâgne, geht wiederum die anfängliche Zurückhaltung, ja Feindseligkeit gegenüber Bergson zurück (vgl. OC, S. 221 ff.; Bianco 2007, S. 103). Erst allmählich gewinnt Canguilhem in diesem Punkt Abstand von Alain und nähert sich Bergson an (vgl. Braunstein 2000, S. 18). 40 Jankélévitch 1994, S. 19. Schon Canguilhems gemeinsam mit Camille Planet verfasster Traité de Logique et de Morale (1939) bemerkt „Nietzsches Anliegen, aus dem Gewissen das Bestreben eines Wesens zu machen, sich selbst zu überwinden“ (OC, S. 850).
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an Jankélévitch – „das Leben als Wille zur Überwindung dar, als Werkzeug hierarchischer Schöpfung.“41 Das Leben überwindet sich selbst, indem es neue Formen schafft. Bei Canguilhem verbindet dieser vitalistische Schöpfungsbegriff Bergson und Nietzsche. Nach Erklärungen (des Neuen) sucht der Bergsonsche Mensch erst, wenn sein Geist ermüdet und seine Spannung nachlässt. Canguilhem sieht eine Analogie zu Nietzsche, schreibt diesem jedoch eine eigenständige, weit radikalere Logikauffassung zu. „Für Bergson ist das logische Denken ein Erschöpfungszustand des Geistes. Für Nietzsche ist das logische Denken die Frucht einer Lüge (vgl. Wille zur Macht, passim). Die logische Wahrheit ist eine metaphysische Lüge. Um eine Wahrheit logisch zu begründen, muss man den Widerspruch vermeiden, die Identität suchen, feste, selbstidentische Begriffe annehmen. Das ist eine Fiktion, weil alles im Werden ist. Die Logik ist nach Bergson ein halb unwillkürliches Abfallen, nach Nietzsche eine Täuschung“ (Canguilhem 1943b, S. 153). In Hinsicht auf den Irrtum vertritt Canguilhem schon in den dreißiger Jahren einen positiven Ansatz. Er nimmt Bachelards Betrachtungen über die epistemologische Rolle des Irrtums auf (vgl. OC, S. 498 f.; 1938); aber seine Auffassung hat auch eine vitalistische, ‚nietzscheanische‘ Seite. Der ‚Irrtum‘ (nicht wie im Bergson-Kommentar: die Lüge) steht schon früh im Mittelpunkt seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche. Während der Bergson-Aufsatz auf die Beziehung zwischen Lüge und Kreativität nicht eingeht, hatte Canguilhem Jahre zuvor zu zeigen versucht, dass das Lebende den Irrtum braucht, um Neues zu schaffen. III. „Descartes konnte keine Theorie der Schöpfung entwickeln. Nietzsche gelingt es nicht, eine Theorie der Wissenschaft aufzustellen, die auch eine Theorie des Scheins ist“ (Canguilhem 1971, S. 180). Descartes habe also nur eine Wissenschaftstheorie, Nietzsche nur eine von Schöpfung und Erfindung. 41 „In dieser Hinsicht legt Jankélévitch nahe, Bergson und Rickert zusammenzurücken. Rickert unterscheidet in seiner Philosophie des Lebens (Tübingen, 1920) in der Biologie eine aristokratische und eine demokratische Tendenz. Der demokratische Biologismus beruht auf dem Prinzip der Lebensökonomie und weist einen deterministischen Charakter auf: Das auf ein mechanisches und materielles Phänomen reduzierbare Leben strebt nur nach seiner Erhaltung, Nach Nietzsche stellt sich das Leben umgekehrt als Wille zur Überwindung, als Werkzeug hierarchischer Schöpfung dar“ (Canguilhem 1943b, S. 130 f.). Bergson und seinen Kritiker Rickert einander anzunähern liegt Jankélévitch jedoch fern; er vergleicht Bergson vielmehr mit Nietzsche und beruft sich dabei auf Rickerts Streitschrift (Rickert 1920). Jankélévitch knüpft an Fouillées Vergleich zwischen Nietzsche und Guyau sowie an Berthelots Vergleich zwischen Guyau, Bergson und Nietzsche an (vgl. Jankélévitch 1994, S. 13, S. 14, Anm. 1).
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Nietzsche ist hier gleichsam Descartes’ Spiegelbild. Mit dieser Gegenüberstellung nimmt De la science et de la contre-science (1971) Überlegungen wieder auf, die bereits Descartes et la technique (1937) und Activité technique et création (1938) entwickelt hatten. In Canguilhems Auffassung von Kreativität laufen Ansichten verschiedenen Ursprungs zusammen. Alain geht von einer engen Verbindung zwischen technischem Erfinden und künstlerischem Schaffen aus; und Canguilhem sucht nach einer beide umfassenden Theorie. Mit Bergson sieht er in den Techniken Funktionen eines Lebenden, einen Ausdruck seines Lebensschwungs (élan vital). Bergson zufolge jedoch führen die Techniken des homo faber direkt zur Wissenschaft der Mechanik42, und gerade die Kontinuität zwischen Technik und Wissenschaft stellt Canguilhem in Frage. Er hat es dabei allerdings v. a. auf den umgekehrten Versuch abgesehen, technisches Können aus theoretischem Wissen abzuleiten. Seine Kritik visiert vor allem die (aufklärerische und) positivistische, insbesondere Comtesche Devise an: „Wissen ist Macht, Erkennen führt zum Handeln“ (OC, S. 503) bzw. „Wissen, um vorauszusehen, um zu können“ (OC, S. 504).43 Technische Tätigkeit ist nicht „einfach eine Fortsetzung der objektiven Erkenntnis“, wie man seit dem Positivismus denkt, sondern „der Ausdruck eines originellen, von Grund auf schöpferischen ‚Vermögens‘“ (OC, S. 490).44 Bei Descartes findet Canguilhem nicht nur die von ihm kritisierte These, sondern auch eine umfassendere, nuanciertere Betrachtung. Descartes’ Wissenschaft wolle – wie die in der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung befürwortete Historie – „nützlich für das Leben“ sein (Canguilhem 2006a, S. 7. OC, S. 490). Ihre Hauptabsicht sei jedoch, „nach Belieben Wirkungen durch die Erkundung der Ursachen zu erzielen“ (Canguilhem 2006a, S. 14. OC, S. 494), theoretische Erkenntnis „in technisches Handeln“ (Canguilhem 2006a, S. 15. OC, S. 494) umzusetzen, wirksame technische Praxis von adäquater wissenschaftlicher Theorie abzuleiten. Erst Wissenschaft mache technisches Handeln „seiner Reichweite bewusst“ (Canguilhem 2006a, S. 13. OC, S. 494). Descartes betone also den Primat theoretischer Erkenntnis über technische Fertigkeiten. Er müsse diese These jedoch einschränken. Der technische Elan habe „nicht auf die Erlaubnis des Theoretikers gewartet“. Descartes selbst gebe zu, dass der erste Antrieb der Technik „nicht im Verstand“ liege, sondern „in den Erfordernissen des Lebewesens“, „in den Bedürfnissen, in der Begierde
42 Zu Bergson vgl. Braunstein 2000, S. 18. 43 Zu Comte und zum Positivismus vgl. Braunstein 2005. 44 So die dem Aufsatz vorangestellte Zusammenfassung. Sie fehlt in der deutschen Übersetzung.
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und im Willen“ (Canguilhem 2006a, S. 19. OC, S. 497). Canguilhem zufolge kommt der erste technische Schwung vom ‚Leben‘, Technik ist eine Tätigkeit des Lebendigen, ein kreativer, produktiver élan vital, ihr Ziel ist die Befriedigung von Bedürfnissen.45 Canguilhem findet bei Descartes noch eine weitere Auffassung, die für ihn selbst zentral ist: Wissenschaft wird weniger vom technischen Erfolg befeuert, als dass sie über technische Misserfolge und Hindernisse nachdenkt (vgl. Canguilhem 2006a, S. 18. OC, S. 496 f.). Bereits damals argumentiert Canguilhem auch wissenschaftshistorisch, nicht nur anthropologisch: Oft „ist die technische Erfindung der entsprechenden Theorie vorausgegangen, deren Ausarbeitung von einer technischen Schwierigkeit oder Blockade verlangt worden war“ (OC, S. 503). Eventuelle Fehlschläge veranlassen theoretische Untersuchungen, die dann vielleicht auch zum technischen Erfolg führen. Bei diesen wichtigen Einschränkungen seiner Hauptthese habe Descartes wahrscheinlich einsehen müssen, dass im Rahmen einer Philosophie des reinen Verstandes eine einheitliche Auffassung des Lebens nicht zu erlangen sei (vgl. OC 1, S. 497). Wenn technisches Schaffen nicht auf theoretische Erkenntnis zurückgehe, könne Descartes es nicht erklären. Er habe „keine Theorie der Schöpfung, das heißt im Grunde keine Ästhetik“.46 Nach einer solchen Theorie sucht Technisches Handeln und Schöpfung im Rahmen eines ‚nietzscheanischen‘ Ästhetizismus.47 Canguilhem unterschiedet hier Szientismus, Pragmatismus und Ästhetizismus. Der Szientismus reduziert alle Funktionen des Bewusstseins auf „die Funktion theoretischer Determination“, der Pragmatismus „auf die Funktion vitaler, utilitaristischer oder technischer Anpassung“. Der „Ästhetizismus“ – „zumindest eine der Philosophien Nietzsches“48 – beschränkt sich wiederum darauf, „alle Funktionen des Bewusstseins der ästhetischen Funktion“ zu unterstellen (OC, S. 501). Damit ist der „Ästhetizismus“ die einzige nicht reduktionistische Lösung der philosophischen Hauptaufgabe, jene „Funktionen“ zu vereinheitlichen: Alle übrigen,
45 Vgl. auch Canguilhems späteren Kommentar in Canguilhem 2006 f., S. 117. 46 Canguilhem 2006a, S. 20. OC, S. 497. Vgl. die spätere Stellungnahme: Canguilhem 2006 f., S. 114 f. Zu den Gründen, weshalb Descartes dem jungen Canguilhem zufolge keine Ästhetik hat, vgl. Canguilhem 2006a, S. 20 f. OC, S. 497 f. 47 Vgl. Cammelli 2006, S. 255. Zu Philosophie und Irrtum im Kontext der Auseinandersetzung des frühen Canguilhem mit Nietzsche vgl. Cammelli 2006, S. 248 ff. Zu Platon, Descartes und Nietzsche in Canguilhems Nachlass aus der Mitte der dreißiger Jahre vgl. Cammelli 2009a, 2009b. Die nun im ersten Band der Œuvres complètes zugänglichen frühen Schriften (Canguilhem 2011) sind in einem anderen Beitrag umfassender zu berücksichtigen. 48 Dass Nietzsche mehrere Philosophien vertreten hat, wiederholt Canguilhem noch Jahre später. Vgl. OC, S. 501, Anm. 2, und Canguilhem 1943b, S. 115.
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auch die theoretische, werden der ästhetischen untergeordnet. Während der Szientismus, von dem der Ästhetizismus die ‚Umkehrung‘ ist, nur den Wert des Realen zulässt, ist der Ästhetizismus eine „Philosophie der Werte“ (OC, S. 502), eben weil er deren Pluralität anerkennt: Er räumt den Wert des Realen durchaus ein, will Wissenschaft jedoch nietzscheanisch „unter der Optik des Künstlers […] sehn, die Kunst aber unter der des Lebens …“49 Die Kunst unter der Optik des Lebens betrachten heißt nun den Irrtum würdigen, sofern er vom Schöpfungsprozess, v. a. vom technischen, nicht wegzudenken ist. Handeln, auch technisches, beinhalte „einen Schwung und ein Risiko“ (Canguilhem 2006a, S. 21; OC, S. 498). Der Mensch gehe zuerst einfach vom Gelingen seiner technischen Konstruktionen aus. „Das Spezifische am produzierenden Schwung ist die Annahme, das Problem der Übereinstimmung zwischen den Bedürfnissen und den Dingen sei gelöst. Dieser Irrtum ist als solcher schöpferisch. Die Wissenschaft erscheint dagegen als Reflexion über die Sackgassen und Hindernisse.“50 Der Elan, der den Erfolg naiv vorwegnimmt, wird sich bei diesem Wagnis immer wieder irren. Wie kann es anders sein, wenn technische Erfindungen durch „Umhertasten“51 zustande kommen? Irren ist mit einem Begriff des reifen Canguilhem „Herumirren“, „Irrsal“ (errance). Selbst wenn der Aufsatz von 1938 die Theorie des schöpferischen Irrtums Nietzsche nicht geradewegs zuschreibt, bildet hier eine ‚nietzscheanische‘, ästhetizistische Philosophie pluraler Werte den allgemeineren Rahmen, in dem neben dem Wert des Realen auch der vitale Wert des Irrtums anerkannt werden kann. Damit traut sich Canguilhems ‚nietzscheanischer‘ Ästhetizismus 1938 auch die Lösung der Aufgabe zu, an der laut dem Aufsatz von 1971 Nietzsche selbst gescheitert ist; mit seiner Auffassung des Irrtums sei dieser nämlich nicht imstande gewesen, neben einer Schöpfungs- auch noch eine Wissenschaftstheorie aufzustellen. Nicht den Standpunkt des Zuschauers, des Rezipienten, will Nietzsches Ästhetik einnehmen, sondern den des Künstlers, des Schaffenden; eine Canguilhemsche ‚Ästhetik‘ ist ebenfalls eine Theorie des schöpferischen Prozesses, auch des technischen Erfindens. Nietzsche sei – so Canguilhems Reflexionen
49 Nietzsches Ästhetizismus kennzeichnet Canguilhem (OC, S. 501) durch eine Kollation aus dem Versuch einer Selbstkritik: „[…] das Problem der Wissenschaft kann nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden“, „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens….“ „[…] die Kunst […] als die eigentlich metaphysische Tätigkeit des Menschen“; „[…] dass nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist“ (GT, KSA 1, S. 13ff, 17). 50 OC, S. 504. Vgl. Le Blanc 2010, S. 191 f.; Cammelli 2006, S. 255. 51 Canguilhem 2006 f., S. 115. So eine späte Stellungnahme zum Descartes-Aufsatz.
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über die künstlerische Schöpfung bei Alain (1952) – dem Vorrang der Inspiration vor der Ausführung feindlich gewesen, genauso wie Canguilhem dem Primat von Wissenschaft und Theorie vor technischem Handeln und Erfinden. Nietzsche vertrete eine „Theorie der künstlerischen Schöpfung, die […] im Gegenteil den Akzent auf die an sich selbst wundersame Fruchtbarkeit einer Praxis setzt, die sich im Tun die Normen schafft.“ Sein Mensch wird durch seine Schöpfung selbst „hellsichtiger und anspruchsvoller“52, weil Normen in dieser antiplatonischen Auffassung erst im Laufe des Schöpfungsprozesses entstehen. Sie sind keine präexistierenden Vorbilder wie diejenigen, an denen sich Platons Demiurg orientiert. IV. 1971, knapp dreißig Jahre nach dem Bergson-Kommentar, nimmt De la science et de la contre-science den Faden wieder auf. Die Legitimation der Einbildungskraft, die der Rationalist Bachelard schuldig geblieben ist, findet Canguilhem bei Nietzsche. Anders als Bachelard liefere Nietzsche „eine Theorie zur axiologischen Parteinahme für die Wahrheit“, erkläre also, warum die Tradition – und mit ihr noch Bachelard – vom Wert der Wahrheit ausgehe. Nietzsches Ergebnis sei „eine Rehabilitierung dessen, was die ontologische Logik, der essentialistische oder szientistische Rationalismus, ‚Irrtum‘ nennen“ (Canguilhem 1971, S. 177). Ist Nietzsche also das gelungen, was Bachelard sich für dann nie abgefasste Schriften vorbehalten, in seinen Publikationen jedoch nicht einmal versucht hat? Bis zu einem gewissen Punkt ja. Anders als Descartes habe Nietzsche eine Theorie von Schöpfung und Erfindung, und anders als Bachelard sei er imstande, das Wirken der Einbildungskraft zu rechtfertigen: Diese Aporie habe Nietzsche tatsächlich überwunden. Er könne jedoch keine Wissenschaftstheorie liefern, weil diese das Scheinbare vom Irrtum unterscheiden müsse. Nietzsche – hierin mit den Rationalisten nicht unverwandt – tue es jedoch nicht. „Aber da Nietzsche der Disziplinlosigkeit des Nicht-Rationalen den Namen Irrtum gibt, gelingt es ihm nicht, der Wahrheit eine positive Bedeutung zu geben“ (Canguilhem 1971, S. 180). Nietzsches Logikauffassung wird hier ähnlich wiedergegeben wie im Kommentar zur Schöpferischen Entwicklung. Die frühere Alternative zwischen Lüge (Nietzsche) und Anstrengung (Bergson) stellt sich jedoch nicht mehr: Mit Nietz52 Canguilhem 1952, S. 172. Nietzsche wird nur nebenbei erwähnt, um Pascal von ihm abzuheben; die im Text angeführte Theorie wird ihm nur indirekt zugeschrieben. Bei Canguilhem drückt ein Aphorismus aus Jenseits von Gut und Böse ein „sympathetisches Verständnis für die mögliche Verzweiflung eines Schaffenden“ aus, „der sich der Unzulänglichkeit des von ihm Geschaffenen bewusst ist, nachdem eben diese Schöpfung ihn hellsichtiger und anspruchsvoller gemacht hat“ (Canguilhem 1952, S. 172). Vgl. JGB 277.
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sche werden nun beide Auffassungen verbunden. „Die Logik wird hier für einen Willen gehalten, die Wahrheit zu finden, und daher, in letzter Analyse, für ein Mittel, sie zu erfinden“ (Canguilhem 1971, S. 177). Problematisch scheint Canguilhem vor allem Nietzsches Auffassung, Wahrheit sei „eine Art Irrtum, im Sinn vitaler Täuschung“, Erkenntnis „eine Perversion des Lebens oder vielleicht nur ein Ausdruck seiner Erschöpfung“ (Canguilhem 1971, S. 179) und Wissenschaft „ein ‚Irrtum des Lebens‘“: „Warum könnte Wissenschaft vom Leben nicht angenommen und mutig verwendet werden?“53 Für sich genommen ist Nietzsches Versuch also doch aporetisch. Die Schlussbilanz steht daher in einer gewissen Spannung zur Würdigung, die Nietzsche als Vertreter eines Pluralismus der Werte zuteil wird: „Nietzsche […] hat nie aufgehört, die Wahrheit für einen Wert in einer Pluralität von Werten zu halten und die Wissenschaft für eine Tätigkeit des Lebenden, ohne besonderes Privileg aus der Sicht des philosophischen Urteils.“54 Beides entspricht Canguilhems eigener Absicht. Während Wissenschaft sich der Wahrheit verschrieben hat, „liegt der Wert der Philosophie woanders als in der Wahrheit“, und zwar darin, Wissenschaft „mit anderen Werten“ zu konfrontieren, „die ihr fremd sind. Zum Beispiel mit ästhetischen und moralischen Werten“.55 Von Nietzsche hebt sich Canguilhems Philosophie in ihrem Selbstverständnis dadurch ab, dass sie Wissenschaft und Wahrheit nicht voneinander trennen will. Nur die Philosophie kann den Wert des Irrtums anerkennen, Wissenschaft nicht. Canguilhems Philosophie will mit Nietzsche den Irrtum rechtfertigen, den ihr zufolge Wissenschaft nur verwerfen kann. In seiner Argumentation läuft der Aufsatz von 1971 jedoch darauf hinaus, dass Nietzsche, von dem es zuerst wie im Aufsatz von 1938 heißt, er mache aus der Wahrheit einen Wert unter vielen, diese im Endergebnis ganz entwertet. Wenn man die Legitimität
53 Canguilhem 1971, S. 180. Der Einwand unterstellt eine zu undifferenzierte, pauschale Position: Nietzsche hat gerade vor, bestimmte Wissenschaften so zu nutzen. Vgl. die Anmerkung zur ersten Abhandlung der Genealogie (dazu Brusotti 2011). 54 Canguilhem 1971, S. 177. Der Aufsatz greift hier auf das Manuskript einer etwa 15 Jahre zurückliegenden Vorlesung zurück: „Die Wissenschaft und der Irrtum“ („La science et l’erreur“, 1955–56) behandelte zuerst Bachelard, dann u. a. Parmenides und Plato sowie auch „L’erreur selon Nietzsche“ [Der Irrtum nach Nietzsche]. Auf die Beziehung zwischen den zwei Texten wird ein anderer Beitrag des Vf.s ausführlich eingehen. Fichant 1993 arbeitet das Thema der Pluralität der Werte an der Vorlesung über ‚La fonction et l’objet de l’histoire des sciences‘ (ENS, 1964) heraus. Im Unterricht ging Canguilhem immer wieder auf Nietzsche ein. Eine systematische Auswertung seines Nachlasses steht allerdings noch aus. Vgl. das Inventar der im CAPHÉS aufbewahrten Archives de Georges Canguilhem (1904–1995). Zu einer Bibliographie der Publikationen vgl. Limoges 2000. 55 Canguilhem 2006d, S. 63, vgl. Canguilhem 2006d, S. 53. zum Nietzsche-Bezug vgl. außer Fichant 1993 auch Braunstein 2005, S. 277.
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des Scheins so überspitzt, verwehrt man sich nach Canguilhem eine historische Epistemologie. Die Art, wie er und Nietzsche „die Wissenschaft für eine Tätigkeit des Lebenden“ halten, fällt damit in seinen Augen keineswegs zusammen. V. Für Canguilhem sei Diskontinuität – so Foucaults Einleitung zur englischen Übersetzung von Das Normale und das Pathologische (1978) – eine Methode; er habe dieses „alte Thema“ bei Bachelard und Koyré angetroffen und konsequent weiterentwickelt.56 Davon, dass Canguilhem es Nietzsche verdanke, ist hier natürlich keine Rede: Foucault ist völlig bewusst, dass der Begriff, den er mit Nietzsche verbindet, anderer Herkunft ist. Er verzichtet jedoch nicht darauf, zwischen den zwei Philosophen eine Beziehung herzustellen: Er schreibt Canguilhem – wohl nicht ohne einen Seitenblick auf dessen Beitrag für die Hyppolite-Festschrift – die Grundauffassung zu, dass „die Erkenntnis […] in den ‚Irrtümern‘ des Lebens wurzelt“ (Schriften 4, S. 958), und nennt ihn einen „Philosophen des Irrtums“, der „Nietzsche zugleich fern und nahe steht“.57 Canguilhem betrachtet Nietzsche zweifellos als einen „Philosophen des Irrtums“. Aber Foucaults Bezeichnung ist überspitzt – wie auch die These, dass für Canguilhem Wahrheit „auf dem ungeheuren Kalender des Lebens den jüngsten Irrtum darstellt“; weniger radikal ist Foucaults zweite, ‚genauere‘ Deutung, „daß die Einteilung wahr/falsch und der der Wahrheit zugesprochene Wert die eigenartigste Lebensweise bilden, die ein Leben erfinden konnte, das von seinem Ursprung her die Eventualität des Irrtums in sich trägt“. Dabei lässt Foucault offen, ob diese „eigenartigste Lebensweise“, die der Gegensatz von wahr und falsch und der Glaube an den Wert der Wahrheit auszeichnen, die menschliche überhaupt ist oder die heute kulturell etablierte, zu der es dann viele menschlich mögliche Alternativen gibt. ‚Wahrheit‘ stellt hier jedoch nicht lediglich in einem kulturellen Sinn den jüngsten Irrtum dar. „Der Irrtum ist für Canguilhem der permanente Zufallswurf, um den herum sich die Geschichte des Lebens und des Menschen ranken“ (Schriften 4, S. 958; vgl. Schriften 3, S. 566). Die These, die Möglichkeit des Irrtums gehöre von Anfang an zum Lebendigen, bezieht sich wahrscheinlich auch auf Canguilhems Neue Erkenntnis des
56 Schriften 3, S. 557. Foucault überarbeitete den seit 1978 auf Englisch vorliegenden Text kurz vor seinem Tod. Die neue französische Fassung („La vie: l’expérience et la science“) erschien erst posthum 1985 in einer Canguilhem gewidmeten Sondernummer der Revue de Metaphysique et de Morale (vgl. die Anm. der Hg. in Schriften 4, S. 943). 57 Schriften 4, S. 957 f. Vgl. Schriften 3, S. 566. Zu dieser „Verwandtschaft mit Nietzsche“ vgl. Schriften 4, S. 71, S. 528.
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Lebens.58 Als Das Normale und das Pathologische (1943) und Die Erkenntnis des Lebens (1952) erschienen, war der strukturelle Aufbau der DNA noch unentdeckt (1953).59 In den sechziger Jahren jedoch waren die neuen Entwicklungen der Lebenswissenschaften nicht mehr zu übersehen. Nun revidierte Canguilhem einige seiner nietzscheanischen und bergsonianischen Auffassungen: Das Leben mag in einer Hinsicht ständiges Werden, Überwinden, Metamorphose sein, es hat jedoch eine informationstheoretisch beschreibbare genetische Struktur. Gerade die informationstheoretische Analogie erlaubt Canguilhem, einige seiner frühen vitalistisch inspirierten Betrachtungen in abgewandelter Form festzuhalten. Die erreur ist eine errance; irren – es bleibt dabei – ist eigentlich herumirren. Letzteres, wie auch das Herumtappen der Technik, geht beim jungen Canguilhem auf den Bergsonschen ‚Lebensschwung‘ zurück. Im neuen informationstheoretischen Rahmen wird die Beziehung zwischen Irrtum und Schöpfung des Neuen neu definiert: Der Irrtum gehört zum Leben, sofern jedes Lebendige Resultat von Mutationen ist, die Canguilhem nun – darauf bezieht sich wahrscheinlich Foucault – als ‚Kopierfehler‘ deutet. Evolution erscheint so als Aufeinanderfolge fehlerhafter Reproduktionen des genetischen Codes, der Mensch selbst als Resultat dieser ‚Irrtümer‘ d. h. Abweichungen.60 Auch diese ‚Irrtümer‘ sind ‚schöpferisch‘, das Neue entsteht nur so. Aber ist die Rede von ‚Fehler‘ / ‚Irrtum‘ in derlei Kontexten nicht einfach eine Metapher? „Ein neuer Begriff in der Pathologie: der Irrtum“ – ein späterer Zusatz zu Das Normale und das Pathologische – weist diese Auffassung zurück. Zwar sei der Canguilhem zur Zeit der ersten Ausgabe nicht vertraute Begriff ‚angeborener Fehler des Stoffwechsels‘ 1909 nicht mehr als eine kluge Metapher gewesen, heute jedoch stütze er sich „auf die Schlüssigkeit einer Analogie“. Diese sei informationstheoretisch begründet: Die Biochemie entnehme Grundbegriffe wie Code oder Botschaft (message) der Informationstheorie, und 58 Wenn der Mensch eine vorgeprägte, artspezifische Umwelt hat, „wie kann man“, fragt Canguilhem, „die Geschichte der Erkenntnis erklären, die die Geschichte der Irrtümer und die Geschichte der Siege über den Irrtum ist? Muss man zugeben, dass der Mensch ein solcher durch Mutation, durch einen Vererbungsirrtum geworden ist? Das Leben wäre also irrtümlich zu diesem irrtumsfähigen Lebewesen gelangt. Tatsächlich fällt der menschliche Irrtum vielleicht nur mit dem Herumirren zusammen. Der Mensch täuscht sich, weil er nicht weiß, wo er sich hinstellen soll […] Daher heißt Subjekt der Erkenntnis sein nur, […] mit dem gefundenen Sinn unzufrieden sein“ (Canguilhem 1968d, S. 364). 59 Zu Canguilhems Vertrautheit mit den letzten wissenschaftlichen Entwicklungen vgl. die Kritik von Morange 2005, S. 257–274. 60 Canguilhem 1968d, S. 364. Das Thema durchzieht auch die Auseinandersetzung mit François Jacobs Die Logik des Lebenden, die Canguilhem und Foucault rezensieren (vgl. Canguilhem 2006e, S. 95 f.; Foucault, „Wachsen und vermehren“, in: Schriften 2, S. 123–128).
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der Irrtum auf biochemischer Ebene sei „die Ersetzung einer Anordnung durch eine andere“ (Canguilhem 1943a, S. 208; dt. Canguilhem 1974, S. 193). Canguilhems (und Foucaults) Schwelgen im informationstheoretischen Jargon sehen wir heute eher mit Skepsis (vgl. dazu Morange 2005, S. 260 ff.). Foucault ist auf jeden Fall nicht der Meinung, dass Canguilhems neue Auffassung von Irrtum und die damit einhergehende Korrektur früherer vitalistischer Positionen einen Abschied von Nietzsche darstellen. Wie auch immer gedeutet, bleiben Erneuerung und Wechsel von Normen für Canguilhem bis zuletzt grundlegend; und das Herumirren des Lebenden ist die Grundlage auch der Diskontinuität, die in der Wissenschaft als Revision von epistemischen Normen auftritt. Schlussbemerkung und Ausblick. – Nietzsche ist kein mythischer ‚Vorgänger‘, bei dem sich eigentlich schon alles findet, was später – hier durch die französische Epistemologie – gesagt wurde. Mein Beitrag hat vielmehr gezeigt, auf wie unterschiedliche Weise seine Texte Referenzen für eine philosophische Geschichte pluraler Wissensformen sind. Auf Nietzsche beruft sich bereits Bachelard mit seinem Gedanken der beurteilten Geschichte‘, nicht erst Foucault mit seinen von letzterer strikt abgegrenzten archäologischen und dann genealogischen Projekten. Deutlich geworden sind eine Diskontinuität der Theorien und der Begriffe, eine epistemologischer Werte und Normen und nicht zuletzt eine von Praktiken und Techniken. Bei Bachelard entspricht der Diskontinuität der Theorien eine der epistemologischen Werte; epistemologische Brüche stellen für ihn Umwertungen dar. Zwar verkörpert die ‚Phänomenotechnik‘ die von ihm zuletzt angestrebte ‚nietzscheanische Umwertung‘; aber einen direkten Bezug zu Nietzsche haben erst Canguilhems Betonung der Eigenständigkeit technischen Handels und Foucaults ‚anglo-amerikanische Analytik‘ von Praktiken und games, die zugleich eine Art ‚nietzscheanische Pragmatik‘ sein will. Im Rahmen jeweils einer ‚Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis‘, einer Philosophie des Lebendigen und einer ‚Genealogie‘ geht es allen drei Philosophen auf sehr unterschiedliche Weise um den Zusammenhang der Wissensformen mit Werten und Normen. Dabei kommen ‚surrationalistische‘ Positionen Bachelards bei Canguilhem und Foucault unter ‚nietzscheanischen‘ Beschuss. Canguilhem problematisiert Bachelards Nebeneinander von Epistemologie und Poetologie und knüpft dabei an Nietzsches Frage nach dem Wert der Wahrheit an. Foucault sieht in Nietzsche das Vorbild für eine „Geschichte der Wahrheit“. In beiden Fällen ist der Bezug zu Nietzsches Absicht zentral, Wissenschaftsgeschichte als Geschichte des Wahrheit und Wahrhaftigkeit zugeschriebenen Wertes zu fassen.
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Diskontinuitäten
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Paul van Tongeren
Nietzsche und die Tradition der Tugendethik Die Literatur zu beiden Teilen des im Titel angesprochenen Themas (Nietzsche und die Tugendethik) ist seit Jahrzehnten so ungeheuer umfangreich, dass es fast unmöglich ist einen vollständigen Überblick zu bekommen. Auch in diesem Beitrag wird keine vollständige, bewertende Übersicht über die ganze Rezeptionsgeschichte beansprucht. Stattdessen werde ich in den ersten zwei Teilen meines Beitrags zum einen ein paar Unterscheidungen einführen um die Vielfältigkeit des Themas zu zeigen und zum anderen wenigstens einen Teil des Materials anhand dieser Unterscheidungen zu ordnen versuchen um einige charakteristische Linien in dieser Rezeptionsgeschichte zu skizzieren. Danach, im dritten, kürzeren Teil, werde ich – hauptsächlich mit einer Reihe von Fragen – auf einige interessante Möglichkeiten aber auch auf gefährliche Verführungen einer tugendethischen Lektüre Nietzsches hinweisen und abschließen mit einer Frage die m. E. noch nicht erforscht wurde, die aber für mich als eine der interessantesten Herausforderungen aus diesem Überblick hervorgekommen ist. Das Thema ‚Nietzsche und die Tradition der Tugendethik‘ umfasst – betrachtet als Thema einer Rezeptionsgeschichte – eigentlich drei Themen oder Frage-Richtungen. Das wird klar, wenn wir uns die hermeneutische Situation vergegenwärtigen, in der das Thema überhaupt als fragwürdig erscheint, d. h. die Ära in der ein neues Interesse an der Tugendethik sichtbar wird. Vor diesem Hintergrund erscheinen m. E. folgende drei Fragen: (I) Welche Tugendethik wird in unserer Zeit revitalisiert, und wie, wenn überhaupt, hat diese zeitgenössische Tugendethik Nietzsche rezipiert? (II) Wie sieht eigentlich die Tradition der Tugendethik aus, in der auch diese zeitgenössische Revitalisierung nur eine späte Phase darstellt, wie sah sie zu Nietzsches Zeiten aus, und wie oder inwiefern hat Nietzsche selber frühere Phasen dieser Tradition rezipiert? und (III) Wie, wenn überhaupt, hat die Nietzsche-Rezeption die Relevanz der Tugendethik – sei es (III.1) die zeitgenössische, oder (III.2) die ältere – für ein angemessenes Verständnis seiner Philosophie eingeschätzt? Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass sowohl die Geschichte der Nietzsche-Rezeption, als auch die Tradition der Tugendethik, vielfältig sind. Ich bespreche zunächst
1 Ich bedanke mich bei dem NIAS (Netherlands Institute for Advanced Study), dessen Stipendium mir ermöglichte, diesen Beitrag fertig zu stellen.
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die zweite Frage, dann die erste, und beziehe die dritte Frage bei beiden mit ein, komme am Ende aber noch kurz separat auf sie zurück.
1 Die Tugendethik im Plural (zu den Fragen II und III.2) Die Tugendethik umfasst mehrere stark unterschiedliche Phasen; sie existiert also im Plural. Und mehrere Figuren die diese lange Tradition aufweist, sind von Nietzsche – mehr oder weniger – rezipiert worden, während die NietzscheLiteratur dieser Rezeption wiederum mehr oder weniger gerecht wird. Versuchen wir ganz schnell und viel zu kurz, diese lange Geschichte zu überblicken.
a. Antike Zunächst gibt es natürlich die klassische Tradition, oder die Phase des klassischen Altertums. Die meisten Autoren die sich mit Nietzsches Tugenden beschäftigen, sind sich darüber im Klaren, dass Nietzsche sowohl in seiner Kritik der Tugenden als auch in seiner eigenen Tugendlehre fast immer im Dialog mit der Antike ist (Zibis 2007, S. 38); die meisten konzentrieren sich aber vor allem auf Aristoteles und die Fortwirkung der aristotelischen Ethik. Das ist zwar verständlich weil das gegenwärtige Interesse an der Tugendethik ziemlich stark von einem Neu-Aristotelismus geprägt worden ist; es ist aber nicht selbstverständlich. Auch wenn man die vorsokratische Tradition noch nicht zur Tugendethik im engeren Sinne rechnen würde, kann man Platon gewiss nicht übersehen. Nietzsche hat weit mehr Platon als Aristoteles gelesen, und die Platonischen Dialoge handeln ja in Mehrheit über die Tugenden. Auch die Listen mit Haupt- oder Kardinaltugenden die wir bisweilen bei Nietzsche finden (vgl. M 556 und JGB 284), scheinen eher auf Platon als auf Aristoteles hinzuweisen. Michael Steinmann (2000) ist einer der wenigen die die Nähe zwischen Nietzsche und Platons Ethik des guten Lebens betonen. Wie es bei Platon darum geht das telos eines Menschenlebens zu erreichen, so gehe es Nietzsche darum, ein Selbst zu werden (Steinmann 2000, S. 182ff). Tatsächlich findet er die Platonischen Kardinaltugenden bei Nietzsche wieder, sei es mit einigen Änderungen. So enthält z.B. bei Nietzsche die phronesis das Wissen, dass man auch in der Ethik nicht dogmatisieren darf. Und Nietzsches Betonung dass man Herr seiner Tugenden bleiben muss (JGB 41 und 284) ist nach Steinmann dessen Version der Platonischen Betonung der Ganzheit: nur als Ganzheit könne das Leben wirklich gut werden (Steinmann 2000, S. 184).
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Dagegen gibt es zweifelsohne auch Verbindungen mit der aristotelischen Ethik, obwohl nicht in dem Sinne, dass Nietzsche eine ‚Wesensethik‘ entwickeln würde, wie Schatzki (1991) meint: Die Funktion des Musterbeispiels, der Stellenwert des Charakters (èthos) und die wichtige Rolle der Disposition (hexis) sind sicherlich aristotelisch (vgl. Zibis 2007, S. 77ff), und Nietzsches Ideal der Vornehmheit, oder der ‚Seelengröße‘ oder des ‚Wohlgeratenen‘ ist – wenigstens teilweise – von Aristoteles’ megalopsychos inspiriert worden (Brobjer 1995). Es gibt aber auch empfindliche Unterschiede. Nicht nur schreibt Aristoteles (im Gegensatz zu Platon) eher in dem von Nietzsche beschimpften Stil des deutschen Gelehrten, sondern auch die Lehre von der Tugend als einer Mitte, der Stellenwert der Vernunft und die wichtige Rolle der Gemeinschaft scheinen Nietzsche eher fremd zu sein. Ich werde auf einige dieser Punkte noch zurückkommen. Neben (oder besser: nach) Platon und Aristoteles, gibt es aber im Altertum auch noch die unterschiedlichen hellenistische Strömungen, unter denen vor allem die Stoa (vgl. Zibis 2007 und Nussbaum 1994) und der Epikurismus nicht nur für Nietzsches Verständnis der Tugenden, sondern auch für den Stil in dem er über sie schreibt, wichtig zu sein scheinen. Nur wenige Autoren werden allen antiken Einflüssen gerecht; obwohl das für ein mehr oder weniger zuverlässiges Bild von Nietzsches Rezeption der antiken Tugendlehre erforderlich zu sein scheint.
b. Christentum Die nächste Phase der Tradition der Tugendethik wird in der Literatur kaum beachtet. Ich meine die christliche Aufnahme, Neu-Interpretation, Ausarbeitung, Umdeutung und Ergänzung der antiken Tradition, wie sie spätestens mit Augustinus anfängt, dann aber das ganze Mittelalter hindurch weiterentwickelt wird. Es gibt natürlich Literatur zu Nietzsches Kritik des Christentums, und zu seinem polemischen Verhältnis mit christlichen Autoren wie Augustinus, Pascal und Luther. Aber – soweit ich herausgefunden habe – nicht in Verbindung mit einer Tugendlehre. Das ist befremdend; für die Nietzsche-Literatur, weil die augustinische Tradition für den lutheranisch erzogenen Nietzsche ein wichtiger Einfluss gewesen sein dürfte; und für die Rezeption und Fortwirkung der Tugendethik, weil der Einzug des Christentums in die Antike Welt interessante Erneuerungen der Tugendethik zustande brachte, die immer noch eine säkulare Interpretation brauchen. Es scheint mir nicht ausgeschlossen, dass Nietzsche dazu hilfreich sein könnte. Ich werde am Ende dieses Beitrages darauf zurückkommen.
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c. Renaissance Die nächste Phase ist die der Renaissance, in der nicht nur auf das klassische Altertum zurückgegriffen wird, diese aber auch mit vielerlei Zeitgemäßem verquickt und vermischt wird: zum Beispiel mit einem politischen Realismus – wie bei dem für Nietzsche äußerst wichtigen Machiavelli und seinem Begriff der virtù. Diese virtù wird von Nietzsche als „moralinfreie Tugend“ (AC 2) mit Recht den traditionellen Tugenden entgegengesetzt; sie ist ja die Fähigkeit, sich gerade nicht von den Tugenden führen zu lassen, und eine notwendige Hilfe, nicht nur um „Herr seiner Tugenden“ zu bleiben, wie Nietzsche es nennt (JGB 212), aber auch um „der Tugend zur Herrschaft“ zu verhelfen, wie Nietzsche es in seinem „tractatus politicus“ nennt (vgl. NL, KSA 12, S. 461 10[14] und NL, KSA 13, S. 24 11[54]). Einige Autoren behandeln freilich die Renaissance und namentlich Machiavelli mit Bezug auf die tugendethischen Aspekte des Nietzscheschen Denkens, aber diese Phase ist in den meisten Arbeiten zu Nietzsches Tugendlehre kaum oder nicht vertreten.2 Hier sieht man etwas von der Gefahr einer tugendethischen Lektüre Nietzsches, wenn diese zu sehr danach orientiert ist, Nietzsche in der großen klassischen Tradition einzureihen.
d. Die Moderne In der Moderne gibt es wenigstens zwei unterschiedliche Richtungen, in denen zwar nicht die Tugendethik, aber doch der Begriff der Tugend weiterentwickelt wird: zum einen im modernen Rationalismus und Idealismus, in denen die Tugenden zwar nicht mehr den zentralen Begriff, aber immerhin noch einen sehr wichtigen Teil der praktischen Philosophie bilden. Nur ist ihre Bedeutung verändert: nicht länger sind die Tugenden den Kern der Ethik, in denen sich ausdrückt was für eine Person man ist, sondern sie werden jetzt zu Instrumenten im Dienst einer pflichtgemäßen Handlung oder einer sonstwie rationalen Verhaltensregel (MacIntyre 1981, S. 111–112). Zum anderen bringt die Moderne die sensualistische und empiristische Philosophie von Shaftesbury, über Hut-
2 Ausnahmen sind: Zibis (2007), der überhaupt am meisten dem historischen Rahmen der Tugendethik Nietzsches Aufmerksamkeit widmet, und Brobjer (1995, S. 81) der suggeriert, dass Nietzsche den Terminus ‚virtú‘ einem Buche von E. Gebhart entlehnt (La Renaissance Italienne et la Philosophie die l’Histoire) in dem der Unterschied zwischen virtú und Tugend betont wird: virtú sei ‚le sentiment que l’individu a repris de sa valeur propre‘. Vgl. auch Schoeman 2007, S. 19.
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cheson bis Hume und weitere hervor, die für Nietzsche wohl am wenigsten bedeutungsvoll gewesen sind. In der Literatur zu Nietzsches Tugendlehre finden wir von beiden Richtungen kaum etwas wieder. Die Bedeutung und der Stellenwert der – auch für Nietzsche so wichtigen – Tugend der Generosität in Les Passions de l’Ame von Descartes ist nur von wenigen Autoren bemerkt worden.3 Es gibt zwar (und ziemlich viel) Literatur über Nietzsche und Kant, aber diese lässt – so weit ich das beurteilen konnte – die Kantische Tugendlehre außer Betracht.
e. Das 18. und 19. Jahrhundert Nietzsche war selber natürlich zunächst ein Sohn seiner eigenen Zeit, d. h. des 19. (und in gewissem Sinne des 18.) Jahrhunderts, der Zeit also, in der die Tugendethik eigentlich unterging, und – mit den Worten von Max Scheler (1955, S. 15) – eine „alte, keifende, zahnlose Jungfer“ wurde. Daraus versteht sich leicht Nietzsches Kritik der Tugenden, wenigstens des Glaubens an der eigenen Tugend (vgl. JGB 214), und seine Verbindung von Tugend mit Dummheit und Langeweile (JGB 227). Es wäre aber denkbar, dass diese Lage der Tugendethik für Nietzsche gerade Grund gewesen sei, um sein eigenes affirmatives moralisches Commitment in den Begriffen dieser am meisten unzeitgemäßen Ethik, d. h. der Tugendethik auszudrücken. So suggeriert Th. Brobjer (2003, S. 72), dass Nietzsche sich genau deswegen ‚Immoralist‘ nennen konnte, weil er sich am zeitgenössischen Ethik-Diskurs maß. Umso befremdlicher ist es, dass es in der Nietzscheforschung – so weit ich weiß – eigentlich keine Studien zu dieser Lage der Tugenden im 19. Jahrhundert gibt.4 Sowie unser heutiges Interesse an der Verbindung zwischen Nietzsche und der Tugendethik kennzeichnend für unsere Zeit ist, so wird Nietzsches Aufarbeitung der Tugenden – wie unzeitgemäß auch immer – wohl dem ihm zeitgenössischen EthikDiskurs verpflichtet sein. Dies zu ermitteln ist ein Desiderat für die NietzscheForschung.
3 Vgl. Schoeman 2007, S. 24 (und Fußnote 13) und Wienand (2008). 4 Selber habe ich einen Anfang einer solchen Studie gemacht in meiner Dissertation (Van Tongeren 1989, S. 32ff). Abgesehen von den Publikationen der wichtigsten Autoren (Liebmann, Spencer, Rolph, Lecky, Von Gizycki, Oelzelt-Newin, Guyau und Dühring), müssten hierbei auch andere Quellen einer eher alltäglichen Moral und Moral-Erziehung einbezogen werden.
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2 Tugendethische Auseinandersetzungen mit Nietzsche (zu den Fragen I und III.1) Damit sind wir aber beim anderen Thema, oder bei der erstgenannten Fragerichtung, die im Thema „Nietzsche und die Tradition der Tugendethik“ impliziert ist, angekommen: Nachdem gefragt worden ist, in wiefern Nietzsche welche Stufen der Tugendethik rezipiert hat und in wiefern diese Rezeption von der Nietzsche-Literatur selber rezipiert worden ist, muss gefragt werden, ob und wie die neuere Tugendethik sich mit Nietzsche beschäftigt oder ihn sogar in ihre Tradition eingeschlossen hat und wie die Nietzsche-Literatur dieses tugendethische Interesse an Nietzsche rezipiert. Hier tut es aber wiederum Not, mehrere Arten der Verbindung zwischen Nietzsche und einer revitalisierten Tugendethik zu unterscheiden.
a. Unterschiedliche Anfänge einer Rehabilitierung der Tugend Um den Anschluss mit dem vorhergesagten zu bewahren, fange ich mit ein paar Bemerkungen zum Anfang dieser Revitalisierung oder Rehabilitierung der Tugendethik an. Es gibt merkwürdigerweise unterschiedliche neue Anfänge. Und – nicht weniger merkwürdig – die meisten verbinden sich auf die eine oder andere Weise mit Nietzsche. Eine der ersten, wenn auch eine wenig erfolgreiche, ist verbunden mit dem Namen Max Schelers. Nachdem Scheler 1912 seine Diskussion mit Nietzsche über dem Ressentiment publiziert hat, schreibt er 1913 einen (als Nachlass zurückgebliebenen) Versuch zur Rehabilitierung der Tugend. Dabei setzt er seinen Ausgangspunkt in der bedauerlichen Lage der zeitgenössischen Tugendethik, die er folgendermaßen beschreibt: Das Wort Tugend ist durch die pathetischen und rührseligen Apostrophen, welche die Bürger des 18. Jahrhunderts als Dichter, Philosophen und Prediger an sie richteten, so missliebig geworden, dass wir uns eines Lächelns kaum erwehren können, wenn wir es hören oder lesen […] Dazu sind die Tugenden unserer Zeit so ausgesprochen hässlich, vom Menschen so losgelöst, so sehr zu Regeln der selbständigen lebendigen Ungeheuer geworden, die wir das ‚Geschäft‘ oder die ‚Unternehmung‘ nennen, dass Menschen von Geschmack die Tugend höchstens wortlos pflegen, eifrig darauf bedacht, solches wenigstens nicht in die Erscheinung treten zu lassen. (Scheler 1955, S. 15)
Zunächst könnte man in dieser Beschreibung schon einen Hauch von Nietzschescher Kulturkritik erkennen. Als Scheler aber daraufhin selber versucht, diese Auffassung der Tugend zu bestreiten und die Tugendlehre gegen dieser
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Auffassung zu rehabilitieren, macht er das mittels der Erarbeitung zweier Tugenden. Beide Tugenden, die er beschreibt, die Demut und die Ehrfurcht sind ziemlich stark vom Christentum geprägt. Trotzdem verweist er mit Bezug auf beide auch auf Nietzsche, der dazu auffordert, „die Scham besser in Ehren [zu] halten“ (FW, KSA 3, S. 352, Vorrede 4; vgl. Scheler 1955, S. 29) und der den der Demut entgegengesetzten Stolz kritisiert (JGB 68; Scheler 1955, S. 19).5 Die Rehabilitierung der Tugendethik hat für Scheler offenbar eine nicht nur kontrastierende, sondern auch positive Verbindung mit Nietzsche. In der analytischen Welt werden meistens Gertrud Anscombe (1958) und Philippa Foot (1978) genannt als die Philosophen, mit denen die Rehabilitierung der Tugendethik angefangen hat. Obwohl die wichtigsten einschlägigen Texte der beiden britischen Philosophinnen keine Nietzsche-Referenzen enthalten, gibt es auch hier bemerkenswerte Verbindungen mit unserem Philosophen. Michael Tanner hat auf die Verbindungen zwischen Anscombes und Nietzsches Kritik des Begriffs der Pflicht hingewiesen, und er nennt die britische katholische Philosophin sogar eine „unbewusste Nachfolgerin Nietzsches“ (Tanner 2001, S. 57). Philippa Foot hat – wenn auch sehr kritisch – ausgiebig über Nietzsche (als Immoralist) geschrieben. Übrigens hat auch Manfred Riedel, auf der kontinentalen Seite der philosophischen Welt, der in den frühen 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts seine zwei Bände über eine Rehabilitierung der praktischen Philosophie herausgab, ausführlich über Nietzsche publiziert. Am stärksten ist die Verbindung mit Nietzsche aber bei der weitaus einflussreichsten Rehabilitierung der klassischen aristotelischen Tugendethik, wie wir sie bei Alasdair MacIntyre und seinem After Virtue von 1981 finden. Er entwickelt seine Rehabilitierung der Tugendethik gerade über eine Kritik Nietzsches. Nach MacIntyre ist Nietzsche der („emotivistische“) Gegensatz zu einer (Aristotelischen) Tugendethik: Nietzsche sei (MacIntyre zufolge) der Kamehameha II. der Moral. Dieser König von Hawaii hat die Tabus aufgehoben, nachdem sie ihren Kontext verloren hatten. Nietzsche hätte das Gleiche gemacht mit der Moral als solcher. Er hätte aus dem (zurecht konstatierten) Scheitern einer rationalen Fundierung der Moral geschlussfolgert, dass die Moral sich selbst aufhob. Nietzsches Kritik der rationalistischen Fundierungsversuche war nach MacIntyre zwar berechtigt; aber dieser beschimpfte Rationalismus war selber die Konsequenz einer Zurückweisung von Aristoteles, von der er zeigen
5 Scheler (1955, S. 25) nennt die Demut auch „eine Tugend der geborenen Herren“. Vgl. zur Demut als nicht Tugend sondern die „eigentlichsten und natürlichsten Bedingung[.] [des] besten Daseins [des Philosophen], [seine] schönsten Fruchtbarkeit“ auch: GM, KSA 5, S. 352. Vgl. auch das Nietzsche-Wörterbuch (2004) s. v. Demut.
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will, dass sie nicht berechtigt war. Also ist das Programm seines Buches in dieser Alternative zusammenzufassen: entweder können und müssen wir zurück zu Aristoteles, oder sind wir gezwungen, Nietzsche zu folgen. Der Titel des zentralen (9.) Kapitels, wie auch des letzten (18.) Kapitels seines Buches besagt daher: „Nietzsche or Aristotle“. MacIntyre weist übrigens darauf hin, dass Nietzsche merkwürdigerweise seine Kritik der zeitgenössischen (d. h. deontologischen und utilitaristischen) Moral aus einer – in gewissem Sinne – tugendethischen Perspektive entwickelt: Nietzsche betrachte sich als den letzten Erbe einer Tradition die mit den Homerischen Helden anfing (MacIntyre 1981, S. 113). Er verkehre aber diese Tradition dadurch, dass er keine Möglichkeit zu einer sozialen und historischen Kontextualisierung der Tugenden sieht (MacIntyre 1981, S. 121), und daher in einem Solipsismus versandet. Nietzsches Tugenden werden nach MacIntyre kontextlose Selbstgestaltungen des je vereinzelten Willens zur Macht (MacIntyre 1981, S. 240). In der Nietzsche-Rezeption wird darauf hingewiesen, dass MacIntyre Nietzsche missversteht, dass er seine kritische Seite einseitig betont, zu Lasten einer Beachtung seiner affirmativen Moral und dass er die Gemeinsamkeiten zwischen Aristoteles und Nietzsche absichtlich übersieht (vgl. Brobjer 1995, S. 42–47). Einen gewissen Antagonismus zwischen Nietzsche und den Befürwortern einer Tugendethik finden wir also bei jedem neuen Versuch einer solchen Rehabilitierung. Oder vielleicht müsste man eher von einem Agonismus sprechen: Die Befürworter einer Wiederbelebung der alten Tradition finden in Nietzsche einen Sparringpartner, mit dem sie um die beste Lösung der Probleme der neueren Ethik wetteifern, d. h. um die Probleme, über welche sie sich einig sind. Aber Antagonismus oder Agonismus: eine Beziehung zwischen Nietzsche und der Rehabilitierung der Tugendethik gibt es durchaus. Ich bin daher nicht einverstanden mit Thomas Brobjer, wenn er (noch 2003) schreibt, dass die Verbindung zwischen Nietzsche und der Tugendethik bisher nicht bemerkt worden ist (Brobjer 2003, S. 64; vgl. dagegen: Daigle 2006). Die Verbindung findet man in der Nietzsche-Rezeption fast von Anfang an, und spätestens seit Walter Kaufmann, der in seinem Nietzsche-Buch von 1954, die Ähnlichkeiten zwischen Nietzsches „Größe der Seele“ und Aristoteles’ megalopsychia gezeigt und vielleicht sogar überbetont hat (Kaufmann 1974, S. 382ff). Man findet sie ebenfalls, wo das Interesse nicht primär nach Nietzsche, sondern nach der Tugendethik orientiert ist: Wir haben das bei jedem neuen Versuch einer Rehabilitierung der Tugendethik schon gesehen. Wir werden es wiederum – und das ist die nächste Stufe in dieser Übersicht – bei Autoren finden, die (nicht so sehr an eine Rückkehr zu, sondern) primär an einer Modernisierung und zeitgemäßen Ausarbeitung der Tugendethik interessiert sind.
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b. Nietzsche in der heutigen Tugendethik Nietzsche spielt in der heutigen Tugendethik nicht immer eine wichtige, aber doch fast immer eine gewisse Rolle. Zum einen gehört er natürlich zum Gepäck jedes entwickelten Autors, wird um seinen Stil bewundert und ab und zu zitiert; so z. B. bei Josef Pieper (1964) in den 60er Jahren oder bei André ComteSponville (1995) in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Zum andern funktioniert er manchmal – namentlich bei anglophonen Autoren – als Kontrast der eigenen Position gegenüber; so z. B. wenn seine ‚ethische Position‘ als ‚moralischer Egoismus‘ beiseite gestellt wird (z. B. Slote 1992). Zum Dritten aber bekommt er bisweilen eine wichtigere Rolle in der heutigen Tugendethik, zumal wenn diese sich dem hermeneutischen Problem ihrer Aufgabe bewusst ist, d. h. dem Problem der Übersetzung oder Übermittlung einer alten Tradition in zeitgenössischen Begriffen: John Casey (1990) z. B. benutzt Nietzsche, um zu vermeiden, dass wir uns Aristoteles zu leicht aneignen. Zitat: Nietzsche’s individualism brings to the surface a tension in Aristotle himself; or […] Nietzsche rediscovers that opposition between the individual and the political order which some of the sophists had proclaimed, but which both Plato and Aristotle were at pains to deny. (Casey 1990, S. 82–83)
Das wichtigste Beispiel dieser letzten ‚Kategorie‘ ist wohl die Arbeit der australischen Philosophin Christine Swanton. Sie hat zunächst in einem Aufsatz von 1998 und dann in einem Buch von 2003, Nietzsche benutzt um eine – wie sie es nennt – ‚pluralistic view [on] virtue ethics‘ auszuarbeiten. Eine Tugendethik muss, nach Swanton, nicht unbedingt aristotelisch und eudaimonistisch sein, weil eine Tugendethik nicht notwendigerweise die aristotelische Ansicht der ‚condition humaine‘ als Voraussetzung haben muss. Im Gegensatz zu Aristoteles sähe Nietzsche diese Kondition als bestimmt durch (1) die Kränklichkeit des Menschen, (2) die Tatsache, dass sogar der wohlgeratene Mensch nicht immer ‚glücklich‘ ist, (3) die Unvollkommenheit der Welt und (4) den tiefen Unterschied zwischen Typen von Menschen (1998). Aber auch unter diesen Bedingungen sei immerhin eine Tugendethik möglich. Wahrscheinlich weil sie Nietzsches Voraussetzungen als unserem Zeitverständnis angemessener als die aristotelischen betrachtet, behauptet sie, dass „virtue ethics […] can and should meet the challenge of Nietzsche“ (Swanton 2003, S. 252). Dazu wird der Begriff der Tugend expressivistisch interpretiert: d. h. tugendhaft ist nicht z. B. was glücklich oder eudaimon macht, sondern was Ausdruck eines kräftigen und gesunden Willens zur Macht ist. Swanton unterscheidet also zwischen kranken und gesunden Formen des Willens zur Macht, und sie macht sogar der Nietzsche-Interpretation, die diesen Unterschied nicht macht, einen Vorwurf
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daraus (2003, S. 12–13). Der Wille zur Macht äußert sich gesund in einer Person, wenn die Äußerung von einer Selbstliebe zeugt, d. h. von einer Beziehung der Person zu sich selbst, die nicht von Ressentiment oder Selbsterniedrigung verzerrt wird (Swanton 2003, S. 135ff.) oder von einer Ehrfurcht für sich, die nicht die Meinung Anderer oder eines vermeintlichen objektiven Werts als Kriterium braucht. Zentral in dieser Tugendethik ist also die Selbstliebe. Diese ermöglicht übrigens, dass auch die Schwachen Tugenden entwickeln: wenn sie nur nicht sich als schwach (d. h. durch den Augen des Starken) betrachten, sondern sich affirmieren. Zudem muss in einer unvollkommenen Welt die Tugend (von der Swanton eine nicht ‚perfectionistische‘ sondern eine ‚threshold conception‘, einen Schwellwert-Begriff vorschlägt: Swanton 3002, S. 19, S. 24–25) nicht so sehr die höchste Blüte realisieren, als eher dem Mittelmaß und der Dekadenz vorbeugen. Diese tugendethische Ausnutzung Nietzsches ist durchaus interessant, führt aber auch zu ganz bedenklichen Interpretationen, aus denen Nietzsche bisweilen als zu nahe an ihm fremde Auffassungen gerückt zu werden scheint. Ein Beispiel: „a suitably reconstructed Nietzsche may yet be a not altogether uneasy bedfellow of Nel Noddings, given a proper understanding of […] virtuous caring“ (Swanton 3002, S. 154, S. 83, S. 151). Wichtig ist aber, dass – wie gesagt – Swanton nicht primär eine Nietzsche-Interpretation vorschlägt, sondern vielmehr seine Philosophie gebraucht um (nicht sosehr eine Rehabilitierung sondern) eine Revision der Tugendethik durchzuführen.
c. Die Tugend in der heutigen Nietzsche-Interpretation Neben dieser Rolle von Nietzsche in der zeitgenössischen Tugendethik, gibt es dann schließlich noch das (sich teilweise mit dem vorhergesagten überschneidende) Thema der Rolle der Tugend in der heutigen Nietzsche-Interpretation. Von den Autoren die Nietzsches Verhältnis zur Geschichte der Tugendethik, oder der Bedeutung Nietzsches für eine Rehabilitierung oder Aktualisierung der Tugendethik beachten, sind immerhin solche zu unterscheiden, denen es vor allem um eine Interpretation von Nietzsches Gedanken geht. Vielleicht muss man auch hier wieder zwei Formen unterscheiden. Vor allem in der analytischen Philosophie begegnet man Autoren, die sowohl in Ethik-Zeitschriften über Nietzsche, als in Nietzsche-Zeitschriften über Ethik publizieren. In dieser analytischen Diskussion stehen (meistens meta-ethische) Fragen zentral, wie die nach Nietzsches Begriff der Tugend (sie sei eine Umformung der Leidenschaften: Hunt 1991, sie sei eher Ausdruck von Kraft und Gesundheit als Ursache von Glück: vgl. Welshon 1992, Swanton 2003, Brobjer 1995, S. 79), nach
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dem Verhältnis von Konsequentialismus, Perfektionismus und Tugendethik (Slote 1998, Brobjer 2003, S. 72), nach dem Verhältnis von Person oder Charakter und Handlung oder von einer ‚agent-based‘ und einer ‚action-based‘ Ethik in Nietzsche (Hunt 1991, Slote 1998, Brobjer 2003, S. 72), oder auch nach dem Verhältnis von Musterbeispiel und Unterrichtung in Zarathustras Tugendlehre (Hunt 1991, Conway 1990). In der eher ‚kontinental‘ orientierten Nietzsche-Interpretation spielt die Tugend vor allem eine wichtige Rolle bei denjenigen Autoren, die zu zeigen versuchen, was Nietzsche am Menschlichen sichtbar macht und was er aus dem Menschen machen will (Solomon 2001, S. 123: „what would Nietzsche make of us?“); also bei jenen, die vor allem entweder an seiner phänomenologischen Psychologie oder der normativen Performativität seines Denkens interessiert sind und eine existentielle Interpretation vorzubringen versuchen. (vgl. Solomon 2001, Zibis 2007, Conant 2001). Das Gleiche findet man zum Schluss in ganz anderer Weise, aber für eine Rezeptionsgeschichte nicht weniger wichtig, auch bei literarischen Auswertungen Nietzsches. Natürlich versucht die Literatur weder eine Nietzsche-Interpretation zu vermitteln, noch eine Ethik zu entwickeln. Aber sie macht dennoch beides, wenn sie – wie z. B. in Herman Hesses Demian – zeigt, wie jemand mit Hilfe eines Musterbeispiels die Tauglichkeit, um Schöpfer seines selbst zu werden und aus der eigenen Überfülle zu schenken, als eine Tugend entwickeln kann (vgl. z. B. Mettler 1989, S. 251). Es wäre m. E. interessant und wichtig, wenn die literarische Rezeption Nietzsches mal unter diesem tugendethischen Gesichtspunkt genauer untersucht werden würde.
3 Möglichkeiten und Schwierigkeiten Aus unserer Erkundung des Themas „Nietzsche und die Tradition der Tugendethik“ hat sich ergeben, dass es nicht nur mehrere Traditionen, oder wenigstens unterschiedliche Phasen in der Tradition der Tugendethik gibt, aber auch unterschiedliche Anfänge einer Rehabilitierung der Tugendethik, sowie mehrere Versuche einer Aktualisierung dieser Ethik. Dazu gibt es unterschiedliche Stile und Orientierungen in der Nietzsche-Forschung, so dass es viele Verbindungen zwischen den Gestalten der Tugendethik einerseits und der NietzscheInterpretation andererseits gibt. Die Verbindungen können vielleicht in drei Linien resümiert werden: es gibt 1. Versuche Nietzsche in der Tradition der Tugendethik einzureihen und seine Philosophie aus diesem Gesichtspunkt heraus zu interpretieren; 2. Versuche um, mit Hilfe von Nietzsche, die tugend-
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ethische Tradition weiter zu entwickeln und zu transformieren; 3. Versuche die Tugendethik über eine Opposition zu Nietzsche zu rehabilitieren. Nachdem ich gezeigt habe, wie mannigfaltig die Beziehungen zwischen Nietzsche und der Tugendethik sind, wird man wohl keine alles umfassende Diagnose und Bewertung erwarten. Ich beschränke mich daher zum Schluss auf einige kurze Bemerkungen – Fragen vor allem – über Möglichkeiten und Schwierigkeiten für ein tugendethisches Interesse an Nietzsche, und ein Interesse der Nietzsche-Forschung an der Tradition der Tugendethik.
a. Gute Gründe Es gibt gewiss gute Gründe für eine tugendethische Interpretation Nietzsches. Dafür gibt es historische und systematische Argumente. Man kann die affirmative oder konstruktive Seite seines Denkens nicht unbeachtet lassen. Die Nähe Nietzsches am griechischen Denken und seiner Gegen-Position der Pflicht- und Nutzen-orientierten Gegenwart gegenüber, machen eine Assoziation mit der Tugendethik naheliegend. Diese kann dazu beitragen, die Moral von Nietzsches Moralkritik sichtbar zu machen und zu interpretieren. Sie erklärt z. B. warum Nietzsches positive ‚Moral‘ weit mehr auf Personen als auf Handlungen orientiert ist. Der Wert einer Handlung wird durch den Wert der Person, und dieser durch ihren Charakter, d. h. durch die Ordnung seiner Trieben (Brobjer 2003, S. 68) bestimmt. Es geht Nietzsche nicht um Handlungs-Vorschriften, sondern um die Entwicklung eines Charakters oder einer Person und Tugenden sind Mittel dazu oder die Art und Weise, in der eine gelungene, wohlgeratene Person (eine Steigerung des Willens zur Macht) sich zeigt (Daigle 2006, S. 9–10). Ein Aspekt verdient hier besondere Aufmerksamkeit, und zwar die Rolle des Vorbildes, über dessen Bedeutung für Nietzsches Perfektionismus James Conant einen wichtigen Text publiziert hat (Conant 2001; auch Solomon 2001, S. 131ff.). Conant verweist für seine Interpretation des Exemplarischen auf Kants Theorie des Genies und auf Emersons Essays. Aber auch in der aristotelischen Tradition der Tugendethik, spielt das Vorbild eine wesentliche Rolle. Die Tugend wird an Vorbildern erkannt und wird durch Nachfolge gelernt. Das könnte u. a. bei einer Interpretation der vielen mehr oder weniger konkreten Figuren (Personen) in Nietzsches Schriften helfen, zu erklären, warum er mehr an Philosophen als an Philosophien interessiert zu sein scheint, und Licht auf den Stellenwert des Zarathustras in Nietzsches Œuvre werfen, d. h. des Buches, in dem nicht nur der Bildungsweg einer Person zentral steht, sondern auch das Wort ‚Tugend‘ mit Abstand am meisten gefunden wird (vgl. Brobjer 1995,
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S. 320). Aber vor allem könnte diese tugendethische Eigenart die Funktion der Autobiographie in Nietzsches Denken erhellen und zu einer Interpretation der immer stärkeren Selbst-Inszenierung und so der späteren Schriften beitragen.
b. Interessante Fragen Die bisherigen tugendethischen Interpretationen liefern schon viele Beispiele von interessanten Themen oder Fragen deren Erörterung sowohl auf die Tugendethik wie auf Nietzsches praktische Philosophie neues Licht werfen darf. Ich erwähne – ganz kurz – nur einige davon: 1. Es ist auffällig, dass unterschiedliche Autoren unterschiedliche Tugenden als Nietzsches wichtigste oder zentrale Tugend aufzeigen. Mal ist es die Redlichkeit (White 2001), mal die Generosität der schenkenden Tugend (Schoeman 2004, Schoeman 2007, Hunt 1991, Solomon 2001), mal der Mut (Zibis 2007); selber habe ich die sophrosynè oder das Maß als Nietzsches zentrale Tugend vorgeschlagen.6 Diese Vielfalt ruft das Sokratische Thema der Einheit der Tugenden wieder in Erinnerung. Kann man eine Tugend haben ohne die anderen auch zu haben?7 Wie hängen die unterschiedlichen Tugenden, die Nietzsche nennt, zusammen? Gibt es eine Rangordnung der Tugenden? 2. Die Frage ist verbunden mit einer zweiten: Bei Platon und Aristoteles (und nicht nur bei ihnen) ist die Vernunft der die Tugenden verbindende Grund. Für Nietzsche wird die Stellung wohl eher von der großen Vernunft des Leibes eingenommen (Z I, KSA 4, S. 39ff.). Aber wie kann der Leib Maß, Prinzip der Gerechtigkeit, Leitfaden in der Gefahr sein? Und wird mit der Verleiblichung der Vernunft nicht auch eine Vervielfältigung der Tugenden hineingebracht: die Vernunft ist universal, das Leibliche aber ist vielfältig und veränderlich.8 3. Abgesehen von der Vernunft war für die aristotelische Tugend immer auch die Gemeinschaft maßgeblich. Das Tugendhafte erkennt man daran, dass es in der Gemeinschaft gepriesen wird. Nietzsche aber, der schreibt, dass
6 Vgl. Van Tongeren 2000, 2001, 2002, 2005, 2009; vgl. auch: F. Hughes (1998), die die Problematik des Maßes am Hand der Beziehung zwischen Vergessen und Erinnern ausarbeitet. 7 Schatzki (1991) behauptet. dass Nietzsche genau wie Aristoteles, die Einheit der Tugenden verteidigt. 8 Vgl. Daigle (2006, S. 2), die schreibt, dass für B. Magnus die Vernunft-bestimmte, d. h. die von der phronesis beherrschte Auffassung der Tugend und des Glücks bei Aristoteles Grund war, eine Verbindung zwischen Nietzsche und Aristoteles zu verneinen.
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„[j]ede Gemeinschaft […] irgendwie, irgendwo, irgendwann – ‚gemein‘ [macht]“ (JGB 284, KSA 5, S. 232), nennt die Einsamkeit eine Tugend und entwickelt eine individuell zu bestimmende Tugend. Wiederum ist die Frage, wo man das Kriterium findet, wenn nicht in der Gemeinschaft, in der Tradition oder mit MacIntyre in den ‚practices‘? Oder denkt Nietzsche, mit Epikur, an andere kleinere Formen von Gemeinschaft, wie es auch MacIntyre (1981, S. 238ff.) tut, als er auf die Benedictiner Klostergemeinschaft verweist, und Figl (2008), als er Nietzsches Kloster-Phantasien bespricht? 4. Es sind eigentlich alles Fragen, wie sie eine heutige Tugendethik ohnehin stellen muss. Wie könnte man eine Tugendethik entwickeln, ohne das klassische Zutrauen zur Gemeinschaft, Tradition, Vernunft, oder – vierte Frage – Natur? Die klassische Tugendethik setzt ein optimistisches Naturbild voraus: Tugenden sind eigentlich die wohltemperierten Formen der natürlichen Veranlagung. Was aber, wenn die Natur nicht schon eine gute Ordnung beinhaltet, sondern Wille zur Macht ist, wenn sie nicht Kosmos, sondern Chaos ist? Ist eine Tugendethik unter modernen naturalistischen Bedingungen überhaupt möglich? Wie wäre eine tugendhafte Affirmierung eines sinnlosen und leidvollen Kosmos möglich? (vgl. Kain 2007, S. 52). 5. Schließlich (obwohl es viele weitere Fragen gibt): Wie verhält sich das pädagogische Moment der Tugendethik (Tugenden können erlernt und erzogen werden) zu Nietzsches Gedanken über Erziehung und vor allem: Züchtung, oder allgemeiner zur Rolle der Physiologie in Nietzsches Denken? Gibt es eine Pädagogik der Physis? Wie verhält sich in dieser Beziehung die Tugendethik zur heutigen Bewegung des sogenannten Transhumanismus? und kann Nietzsche vielleicht helfen dieses Verhältnis zu klären?9
c. Gefährliche Verführungen Neben dieser und anderen interessanten Fragen die eine tugendethische Lektüre von Nietzsche auffordert, gibt es auch eine Gefahr. Oder vielleicht muss man sagen: für diejenigen die solche Fragen nicht stellen, droht eine gefährliche Verführung in der Annäherung zwischen Nietzsche und der Tradition der
9 Man findet kein Wort zu diesen Fragen in Christian Niemeyers Hauptstück Pädagogik in der Abteilung Aspekte der Rezeption und Wirkung in Henning Ottmanns Nietzsche-Handbuch (Niemeyer 2000).
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Tugendethik. Die Gefahr, die eine solche Annäherung fragwürdig macht, ist diese, dass Nietzsches Denken dadurch seine konfrontierende Kraft verlieren und salonfähig gemacht werden könnte. Man sieht das in der Literatur, z. B. wenn Nietzsches Tugendethik mit einer liberalen Sozialphilosophie (Hunt 1991) oder mit einer egalitaristisch-demokratischen Politik (Daigle 2006, S. 12) verbunden wird. Die tugendethische Interpretation kann leicht zu einer apologetischen Strategie werden. Nietzsches Moralkritik wird wohl zu schnell relativiert, wenn sie nur den Utilitarismus und den Kantianismus betreffen würde (Solomon 2001); sein Immoralismus würde zu leicht abgeschwächt, wenn er sich nur den geläufigen ethischen Positionen entgegenstellen würde (Brobjer 2003, S. 72). Mehrere Autoren interpretieren Nietzsches ad hominem Argumente im Rahmen seines tugendethischen Interesses an der Person (Hunt 1991, S. 191, Brobjer 2003, S. 68). Solomon (1973, S. 208) versucht sogar Nietzsches Lob der Grausamkeit aus seiner Fokussierung auf Personen zu erklären: Nietzsche würde nicht die Grausamkeit befürworten, sondern die Aufmerksamkeit von den Handlungen auf Stil und Charakter der Person ziehen. Vielleicht soll eine tugendethische Lektüre Nietzsches noch mehr als jede andere Interpretation auf diese Gefahr bedacht sein.
d. Interessante Herausforderungen Bei allen hier erwähnten Fragen, wie sie auch schon in der Literatur angesprochen werden, möchte ich zum Schluss noch eine hinzufügen, der ich nicht in der Literatur begegnet bin. Wie am Anfang gesagt, ist die Verbindung zwischen Nietzsches Denken und der theologischen Phase der tugendethischen Tradition bisher kaum untersucht. Dies zu tun, scheint mir eine sehr interessante Herausforderung, sowohl für die Nietzsche-Interpretation als auch für die Tugendethik. Eine der interessantesten Erneuerungen dieser christlich-theologischen Tugendlehre ist die Einführung der sogenannten theologalen Tugenden. Natürlich kann man nicht ohne weiteres erwarten, den Glauben, die Hoffnung und die Liebe als Tugenden bei Nietzsche zu finden. Wichtiger aber als diese drei Figuren, ist ihre zugrundeliegende Struktur. Die theologalen Tugenden sind, anders als die Tugenden des Charakters und des Intellekts, Tugenden des Willens. Schon die theologische Tradition hat gesehen, dass der Wille nicht in der gleichen Weise geübt, geformt und erzogen werden kann wie die Begierde oder der Verstand. Der Wille ändert sich daher auch nicht allmählich, sondern plötzlich. Oder vielleicht muss man sagen: er ändert nicht sich selbst, sondern er wird verändert: bekehrt oder nicht und er selber kann darüber nicht entscheiden.
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Der von Nietzsche um seine psychologische Tiefe bewunderte Dostojevski, gibt mehrere Beispiele einer solchen ‚Bekehrung‘ (vgl. Mironov 2009/2010). Aber auch in den Schriften Nietzsches finden wir vielleicht Spuren dieser Tradition: Neben den Aufforderung zur allmählichen Verbesserung durch lange Übung, sehen wir die Wirkung einer Selektion, neben Hinweisen auf schrittweise Zurechtbiegung, Zeugnisse einer radikalen und plötzlichen Wende und einer Transformierung oder Transfiguration. Die weitere Ausarbeitung dieser Vermutung muss aber auf eine spätere Gelegenheit vertagt werden.
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Die Philosophie Nietzsches im Spiegel von Philosophinnen im 20. Jahrhundert Hannah Arendt, Simone de Beauvoir, Luce Irigaray und Judith Butler Nietzsche ist aus der Perspektive der feministischen Philosophie lange Zeit ein ambivalenter Denker gewesen. Man wusste, dass die erste Generation von Frauenrechtlerinnen in Deutschland von seinen Ideen zur Ermächtigung des Individuums und Entfaltung seiner schöpferischen Kräfte inspiriert war. Auf der anderen Seite war auch bekannt, dass Nietzsche sich selbst als „einen Psycholog des Ewig-Weiblichen“ gekennzeichnet hat (EH, KSA 6, S. 305), was zumindest auf den ersten Blick den Anschein weckt, dass Nietzsche sich selbst als Vertreter der Tradition des Essentialismus verstanden hat, einer Tradition des dualistischen Denkens der Geschlechterdifferenz, die von Aristoteles ausging und die Geschichte der abendländischen Hierarchie der Geschlechter maßgeblich und nachhaltig bestimmt hat. Es gibt ja Sätze in Nietzsches Schriften, die eine unverblümte misogynistische Einstellung anzudeuten scheinen, etwa wenn er behauptet „Was das Weib betrifft, so neige ich zur orientalischen Behandlung“ (NL, KSA 11, S. 205). Nichtsdestoweniger ist Nietzsche der Philosoph unter den sogenannten großen Philosophen, den sowohl die feministische Philosophie (wie sie sich seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt hat) und einige der bedeutendsten Philosophinnen des 20. Jahrhunderts am meisten rezipiert haben. Der Grund dafür ist einfach. Trotz essentialistisch klingender Behauptungen über Frauen, wettert Nietzsche gegen das dualistische Denken, dass seines Erachtens das abendländische Denken in eine Sackgasse getrieben hat. Somit dekonstruiert er Dualismen, wie Leib und Seele und Vernunft und Emotionen, die seit eh und je mit angeblichen Eigenschaften, die das männliche und das weibliche Geschlecht jeweils repräsentieren sollen, verbunden sind (siehe Thorgeirsdottir 2004, S. 51–68). Im Folgenden werde ich darstellen, wie Nietzsches Philosophie der Geschlechterdifferenz von eminenter Bedeutung ist für das Denken von Simone de Beauvoir, Hannah Arendt, Luce Irigaray und Judith Butler. Diese Gruppe repräsentiert drei Generationen von Philosophinnen und zugleich drei Generationen der feministischen Philosophie (mit der Ausnahme, dass Arendt sich nicht als feministische Denkerin kennzeichnete). Ich werde Nietzsches Philosophie im Spiegel dieser Denkerinnen lesen und dabei zeigen, wie wichtig Nietzsches
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Philosophie für das Kernthema der feministischen Philosophie, der Frage nach der Geschlechterdifferenz, ist. Die erste Frage, die sich freilich stellt, ist, wie der essentialistisch und misogynistisch klingende Nietzsche ein wichtiger Gesprächspartner für diese Philosophinnen sein kann? Dazu ist zu sagen, dass diese Philosophinnen entweder von den essentialistisch anmutenden Bemerkungen Nietzsches abstrahieren oder Nietzsche eben nicht als Essentialisten interpretieren, wenn Essentialismus darin besteht, Geschlechterdifferenzen als leiblich determinierte und unveränderliche Eigenschaften, wie es in der Aristotelischen Philosophie begründet worden ist, aufzufassen. Bei diesen Autorinnen bleibt Nietzsches Position dennoch in mancher Hinsicht ambivalent, aber es ist vor allem Nietzsches übertriebener Immoralismus, der in der Hauptsache auf der Anklagebank sitzt. Um Nietzsche aber im Spiegel von Beauvoir, Arendt, Butler und Irigaray zu lesen, d. h. um zu zeigen, wie diese Philosophinnen Themen und Fragestellungen von Nietzsche aufgreifen und weiterdenken, werde ich folgendermaßen vorgehen. Erstens werde ich ein Schema mit drei Positionen des Feminismus entwerfen, des liberalen Feminismus, des Differenz-Feminismus und schließlich der Queer-Theorie.1 Ich werde diese Philosophinnen und Nietzsche selbst mit Blick auf diese unterschiedlichen Positionen situieren. In einem zweiten Schritt, werde ich mit meiner Interpretation von Simone de Beauvoirs Kritik der Ehe und Liebesbeziehungen unter patriarchalen Verhältnissen, Gemeinsamkeiten in ihrer und Nietzsches Analyse aufweisen. Zugleich zeigt dieser Vergleich, dass Nietzsches vermeintlicher Essentialismus der Geschlechterdifferenzen nicht stand hält. Nietzsche könnte somit mit Beauvoirs geflügeltem und für den Feminismus programmatischem Schlagwort übereinstimmen, dass man nicht als Frau geboren wird, sondern dass man Frau wird. In einem dritten Schritt werde ich Nietzsches Begriff der Geburt mit Hannah Arendts wichtigem Begriff der Natalität vergleichen und dabei auf Gemeinsamkeiten und Differenzen in ihren Philosophien der Geburt eingehen. In Arendts und Nietzsches Philosophien hat der Begriff der Geburt eine wichtige Funktion, die im Fall von Nietzsche auch Implikationen für seine Auflösung von Geschlechter-Dichotomien hat. In Anknüpfung daran werde ich viertens auf Luce Irigarays Nietzschesches Philosophieren eingehen, aber Irigaray ist die Philosophin, die Nietzsches Art des Philosophierens und seine Philosophie der Frauen am meisten fortentwickelt hat. Das Thema der Mutter steht in Vordergrund meiner Analyse von Irigarays Kritik an Nietzsche und ihrem Mitdenken mit Nietzsche.
1 Andere Strömungen des Feminismus werden hier nicht thematisiert, wie etwa der postkoloniale, transnationale oder globale Feminismus.
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Durch den Vergleich mit Irigaray will ich zeigen, dass Nietzsche als Denker eines Feminismus der Differenz, den Irigaray repräsentiert, verstanden werden kann. In einem fünften und letztem Schritt werde ich auf Judith Butlers Philosophie eingehen, aber sie hat mit ihrer Queer-Theorie eine sozial-konstruktivistische Theorie der Geschlechterdifferenzen dargelegt und zugleich binäre Geschlechterkonstruktionen als normative Konstruktionen von Heterosexualität entlarvt. Dabei hat sie nicht nur den Ausweg aus essentialistischen Theorien der Geschlechterdifferenz breiter gemacht. Sie hat vor allem die binäre Konstruktionen des Männlichen und Weiblichen über Bord geworfen und stattdessen einem Spiel der Differenzen den Weg geebnet. Ich werde argumentieren, dass Nietzsche auch als Queer-Denker in diesem Sinne interpretiert werden kann, dass er aber auf der Seite des Differenz-Feminismus steht, insofern es ein Spannungsverhältnis zwischen der Queer-Theorie und den Feminismen der Differenz besteht. Im Folgenden wird ein weites Feld abgesteckt. Hier werden Stichproben angeboten, die aufweisen, wie bedeutende Philosophinnen die Philosophie Nietzsches als Quelle für ihr eigenes Denken benutzen. Dabei beschränke ich mich auf zwei Themen, nämlich auf Thesen zur sexuellen Differenz und auf den Begriff der Geburt. Bevor damit anfangen wird, ist aber eine vorbereitende Klärung am Platz. Im Vergleich mit englischsprachiger Philosophie ist wenig im deutschsprachigem Raum der philosophischen Nietzsche-Forschung zu Nietzsche und diesen Philosophinnen mit Blick auf Fragen und Themen feministischer Philosophie geforscht und geschrieben worden.2 Nicht mal im breit angelegten Werk Alfons Reckermanns zur Rezeption Nietzsches in Frankreich, Italien und der angelsächsischen Welt von 1960–2000 werden diese Denkerinnen erwähnt (Reckermann 2003). Es mutet umso merkwürdiger an, zumal etwa Irigaray Nietzsche ein ganzes Buch gewidmet hat und Butler sich in mehreren Schriften mit Nietzsche auseinandergesetzt hat. Beauvoir und Arendt waren keine Nietzsche-Interpreten im engeren Sinne, aber seine Philosophie stellt dennoch für ihr Denken einen wichtigen Bezug dar. Daher geht es hier darum, ein Forschungsfeld zu beleuchten, wo bestimmte Themen Nietzsches produktiv weiter entwickelt worden sind. Dabei soll Nietzsche nicht für seine misogynen Äußerungen entschuldigt werden. Sie sind in vielerlei Hinsicht nicht eindeutig, aber sie bleiben. Nichtsdestotrotz ist Nietzsches Philosophie für die Art der feministischen Philosophie, die hier thematisiert wird, der wahrscheinlich wichtigste Vorläufer, weil er so viel über die Philosophie der Frauen geschrieben hat. Darauf haben Sarah Kofman und Jacques Derrida hingewiesen, aber Derrida hat mit seiner Schrift Spuren. Die Stile Nietzsches bereits in den siebzi2 Ein Beispiel dafür ist das Buch von Oliver und Pearsall 1998.
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ger Jahren auf die enge Verbindung von Nietzsches Philosophie der Frauen und der damals beginnenden akademischen feministischen Philosophie auf der einen Seite und der nach 1968 beginnenden zweiten Welle feministischer Bewegungen hingewiesen (Derrida 1981). Kommen wir nun zum ersten Punkt, d. h. dem Schema der drei Strömungen der feministischen Philosophie, wo ich die Queer-Theorie einreihe, insofern sie der feministischen Philosophie entspringt. Der unterschiedliche Wert, der in diesen drei Positionen der Differenz der Geschlechter bemessen wird, markiert unterschiedliche Strömungen des Feminismus als einer philosophischen und politischen Richtung.
Liberaler Feminismus, Feminismus der Differenz und postmoderner Feminismus Fangen wir an mit dem liberalen Feminismus, der wesentlich seine Vorgeschichte in liberalen demokratischen Theorien seine Wurzeln hat. Liberaler Feminismus ist im Prinzip eine Theorie gleicher Rechte. Frauen und Männer sollen die gleichen Rechte haben, die dafür bürgen sollen, dass die Geschlechter gleiche Chancen haben. Diese Art des Feminismus ist vor allem eine politische Richtung der Gender-Gleichberechtigung. Als sozio-politische Theorie zielt der liberale Feminismus nicht auf grundlegende Veränderungen politischer und ökonomischer Systeme ab. Der liberale Feminismus bietet wenig Methodologisches an, um Kritik an Hindernissen für die Gleichstellung der Geschlechter, die in den tieferen Schichten des gesellschaftlichen Gefüges liegen, zu üben. Die liberale Perspektive speist sich im Wesentlichen aus statistischen Methoden, die die Zahlen der Männer und Frauen in bestimmten Positionen und Gruppierungen herausstellen. Dem liberalen Feminismus wohnt keine umfassende Wertsetzung inne, die ein Ausgangspunkt wäre für eine tiefgreifende Kritik sexistischer Systeme oder Strukturen. Nietzsche hat selbst diese Richtung des Kampfes für die Rechte von Frauen verworfen, weil er der Meinung war, dass sie notwendigerweise eine Politik sein muss, die darauf zielt, dass Frauen einen männlichen Lebensstil nachahmen. Der liberale Feminismus führt daher zur Ablehnung femininer Differenzen und damit zur Gleichmacherei. Die Gleichstellung der Hüter in Platons Staat ist die Urform einer solchen Idee, insofern der Lebensstil der Männer und Frauen in dieser herrschenden Klasse derselbe sein sollte. Simone de Beauvoir ist des öfteren vorgeworfen worden, im Wesentlichen eine liberal feministische Position zu vertreten in ihrem Buch zum zweiten Geschlecht. Ihr gehe es in der Hauptsache
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darum, dass Frauen die gleichen Rechte haben wie Männer, ohne dass die Werte, die mit weiblichen Lebenserfahrungen verbunden sind, in die öffentliche Sphäre eingebracht werden als Gegenentwurf zu einer Wertsetzung, die einer männliche dominierten Welt entspringen. Es gibt keine eindeutige Antwort auf diesen Vorwurf gegen Beauvoir, der innerhalb der Beauvoir-Forschung lange und viel besprochen worden ist (siehe Simons 1995). Immerhin sei jedoch gesagt, dass ich diese eindeutige Zuweisung Beauvoirs zum liberalen Feminismus nicht teile. Ihre Position liegt zwischen liberalem Feminismus und Differenz-Feminismus. Sie hat auf gleiche Rechte gepocht und zugleich als Phänomenologin spezifische feminine Erfahrungen thematisiert, die anerkannt werden müssen. Der Körper, und das heißt insbesondere der Geschlechtskörper, ist für Beauvoir ein Zustand, von dem aus Erfahrungen gemacht werden, die geschlechtsspezifischen Charakter haben (siehe Moi 1999, S. 5 und Thorgeirsdottir 1999, S. 1051–1056). An diesem Punkt wird deutlich, dass ein Feminismus, der weiter gehen will als der liberale Feminismus, auf einer Theorie der Geschlechterdifferenz beruhen muss, die darin besteht, dass bestimmte Werte vom Männlichen und vom Weiblichen abgeleitet werden können. Damit kommen wir zu der zweiten Richtung von Feminismus, die im sogenannten Differenz-Denken besteht. Das Denken der Differenz zielt darauf, Wertsetzungen, die der Erfahrungswelt der Frauen entstammen und in der Tradition der Philosophie meist wenig beachtet wurden, zu rehabilitieren und höher zu werten. Dabei geht es z. B. darum, den Wert der Fürsorge als politisches Ideal aufzustellen, wovon abgeleitet wird, dass Solidarität, allgemeine Wohlfahrt und die gleiche Anerkennung unterschiedlicher Lebensentwürfe Leitlinien des Politischen sein sollten. Ein Feminismus der Differenz hat unterschiedliche Couleurs, die von Schlagwörtern der Sisterhood aus den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts und Carol Gilligans Ethik der Fürsorge bis zu unterschiedlichen neuen Arten von Differenz-Politik reicht. Vereinfacht kann gesagt werden, dass das Differenz-Denken eine Kritik des autarken, maskulinen Menschenbildes, das in der philosophischen Tradition oft dominierend gewesen ist, beinhaltet. Dem Ideal des autonomen Mannes, der selbständig und ohne Anleitung anderer seine theoretischen und praktischen Denkschlüsse zieht, wird ein Bild des Menschen entgegengestellt, dass ein relationales Individuum zeigt, das in seinem Denken und Handeln nicht nur nach Autonomie strebt, sondern auch von anderen Menschen und Kontexten abhängig und determiniert ist, was seine autonome Entschlüsse kontextualisiert. Der unterschiedliche Wert, der auf Unabhängigkeit und auf Beziehungen zu anderen gelegt wird, beruht nicht auf Ideen über das Wesen der Männer oder der Frauen. Vielmehr haben unterschiedliche Erfahrungswelten der
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Geschlechter zu einer unterschiedlichen Betonung dieser gegenseitigen Aspekte geführt. Daher ist der Begriff der Differenz nicht in einer essentialistischen Idee des Unterschiedes der Geschlechter begründet, obwohl dies Denkerinnen wie Iriagaray des öfteren vorgeworfen wird, von der Warte der Queer-Theorie aus, deren bekannteste Vertreterin Judith Butler ist. Butler kritisiert das DifferenzDenken wegen seiner Fixierung auf die Differenz der Geschlechter. Butler geht es vor allem darum, den Begriff der Differenz auszuweiten. Sie befürchtet, dass die Einschränkung auf das Männliche und Weibliche das dualistische Denken der Tradition fortführt. Sie tangiert auch das Werte-Denken des Differenz-Feminismus, da sie meint, dass es sich nicht ganz von verallgemeinernden Wesensunterscheidungen hat befreien können. Butlers Anliegen beruht auf dem wachsenden Bewusstsein der multikulturellen Gesellschaft. Wichtiger noch als nur Differenzen innerhalb der Gruppe von Frauen zu konstatieren, ist es, den Dualismus in der Fixierung auf feminine und maskuline Eigenschaften und Werte zu überwinden zugunsten einer Pluralität von Eigenschaften und Werten, die eher der realen Identität von Männern und Frauen entsprechen. Es ist vor allem deswegen wichtig, weil Festlegungen von Gruppenidentitäten notwendigerweise inklusive und exklusive Funktionen haben. Das Queer-Denken geht sozusagen quer auf solche Konstruktionen und dekonstruiert sie. Aber genug von diesem schematischen Überblick der verschiedenen Richtungen feministischen und postfeministischen Denkens. Wenn ich behaupte, dass Nietzsche dem Differenzdenken und zumindest ansatzweise der QueerTheorie zuzuordnen ist, muss im Auge behalten werden, dass er in einer Periode lebte, wo die Wichtigkeit der Menschenrechte und der Demokratie zwar betont waren, aber keineswegs in vergleichbarer Weise mit dem Kampf für Menschenrechte und Achtung von Differenzen, dass ein wichtiges Merkmal der Politik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist. Er ist ein Denker, der für die Entfaltungsmöglichkeiten des schöpferischen Individuums Partei greift. Er hat aber nicht klar eingesehen, dass, wenn ein Mensch die Möglichkeit zu seiner individuellen Selbstverwirklichung haben soll, er Rechte zur freien Selbstgestaltung braucht, und dazu sind gleiche Rechte unbedingt notwendig. Der Nietzsche, der hier als Sprungbrett für feministisches und postfeministisches Denken beschrieben wird, ist ein Nietzsche, der aber auf solche Rechte gerade beharren müsste, um seiner Forderung nach individuellen Freiheiten, von der politischen und juristischen Seite her, gerecht zu werden.
Simone de Beauvoir Kommen wir zur Interpretation der Bedeutung Nietzsches für Simone de Beauvoir, die mit ihrem Buch Das zweite Geschlecht von 1949 die sogenannte zweite
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Welle des Feminismus entscheidend in Gang gebracht hat. In der BeauvoirForschung gilt der Einfluss Nietzsches auf sie als existenzialistische Denkerin allgemein als wesentlich, aber der spezifische Einfluss auf die Entwicklung von Beauvoirs Denken als geringer, wie Eva Lundgren Gothlin in ihrem Buch zu Beauvoir behauptet (Lundgren Gothlin 1996, S. 226). Das mag richtig sein, aber dennoch wird Nietzsches Bedeutung für Beauvoirs Analyse der Frauen und der Ehe-Beziehungen unter patriarchalischen Verhältnissen unterschätzt. Gerade in den Kapiteln aus dem Zweiten Geschlecht zur erlebten Erfahrung der Mädchen in der Erziehung und in der Ehe, so wie diese Beauvoir in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts vorkommen, ist offensichtlich an den vielen Hinweisen zu Stellen in Nietzsches Schriften, dass seine Deskriptionen für Beauvoir als Beschreibungen eines Missstandes Anknüpfungs- und Ausgangspunkte sind. Es sind die Bemerkungen Nietzsches zum Wesen der Frau als einer sich aufopfernden und aus Schwäche dominierenden Persönlichkeit, auf die Beauvoir Bezug nimmt. Sie fragt sich nicht, ob Nietzsche mit solchen Beschreibungen das Wesen der Frauen auf solche negativen Eigenschaften festlegt, wie der Vorwurf des Essentialismus an die Adresse Nietzsches lautet. Beauvoir bezieht sich vielmehr auf diese Bemerkungen, um ihre These zur unterwürfigen Stellung der Frauen in der Gesellschaft und im privaten Leben zu untermauern. Beauvoir deutet die Erziehung von Mädchen als Vorbereitung auf eine untergeordnete Stellung der Frau im Ehestand. Sie zitiert Nietzsches Bemerkung aus Götzendämmerung zum Schrecken und der Krise der jungen Frau, die bei der Eheschließung feststellt, dass die Jugend vorbei ist und sie nun in die Realität der Ehe und des Familienstands eingesperrt ist (Beauvoir 2010, S. 486). Bei der weiteren und genaueren Beobachtung der Stellung der Ehefrau, bezieht sich Beauvoir vor allem auf Aphorismus 362 aus der Fröhlichen Wissenschaft, wo er über die Verschiedenheit der Geschlechter in ihrer Einstellung zur Liebe spricht. Frauen geben sich, opfern sich auf. Mann und Weib verstehen unter Liebe jeder etwas Anderes, – und es gehört mit unter die Bedingungen der Liebe bei beiden Geschlechtern, dass das eine Geschlecht beim andren Geschlechte nicht das gleiche Gefühl, den gleichen Begriff „Liebe“ voraussetzt. Was das Weib unter Liebe versteht, ist klar genug: vollkommene Hingabe (nicht nur Hingebung) mit Seele und Leib, ohne jede Rücksicht, jeden Vorbehalt, mit Scham und Schrecken vielmehr vor dem Gedanken einer verklausulirten, an Bedingungen geknüpften Hingabe. In dieser Abwesenheit von Bedingungen ist eben seine Liebe ein Glaube: das Weib hat keinen anderen. – Der Mann, wenn er ein Weib liebt, will von ihm eben diese Liebe, ist folglich für seine Person selbst am entferntesten von der Voraussetzung der weiblichen Liebe; gesetzt aber, dass es auch Männer geben sollte, denen ihrerseits das Verlangen nach vollkommener Hingebung nicht fremd ist, nun, so sind das eben – keine Männer. Ein Mann, der liebt wie ein Weib, wird damit Sklave; ein Weib aber, das liebt wie ein
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Weib, wird damit ein vollkommeneres Weib… Die Leidenschaft des Weibes, in ihrem unbedingten Verzichtleisten auf eigne Rechte, hat gerade zur Voraussetzung, dass auf der andren Seite nicht ein gleiches Pathos, ein gleiches Verzichtleisten-Wollen besteht: denn wenn Beide aus Liebe auf sich selbst verzichteten, so entstünde daraus – nun, ich weiss nicht was, vielleicht ein leerer Raum? – Das Weib will genommen, angenommen werden als Besitz, will aufgehn in den Begriff „Besitz“, „besessen“. (FW, KSA 3, S. 610)
Für Beauvoir beschreibt Nietzsche an dieser Stelle den Zustand der Ehe unter patriarchalischen Bedingungen. Genau denselben Zustand, den John Stuart Mill in seinem Buch On the Subjection of Women, dem bekanntesten Buch zur Verteidigung der Rechte der Frauen im 19. Jahrhundert. Für Mill war die Ehe eine übrig gebliebene Form der Sklaverei, nicht immer unbedingt in der Praxis, aber nach dem gesetzlichen Rahmen, wonach Frauen rechtlos waren was Kinder, Erbe oder Gewalt in der Ehe anbelangt. Im Gegensatz zu Mill prangert Nietzsche diesen Missstand nicht an. Er scheint ihn zu verteidigen, wenn er bemerkt: „Bei allem Zugeständnisse, welches ich dem monogamischen Vorurtheile zu machen Willens bin, werde ich doch niemals zulassen, dass man bei Mann und Weib von gleichen Rechten in der Liebe rede: diese giebt es nicht“ (FW, KSA 3, S. 362). In diesem Zitat könnte man annehmen, dass sich Nietzsche gegen die gleichen Rechte der Geschlechter in der Ehe wehrt. Es scheint, als ob er diese Form der Ehe als Naturnotwendigkeit sieht. Er war wahrlich kein Freund der Frauenrechte wie Mill, der ein echter liberaler Feminist gewesen ist. Es muss aber festgehalten werden, dass in diesem Aphorismus aus der Fröhlichen Wissenschaft Nietzsche über die Liebe spricht und nicht über die Ehe als rechtliche Institution. Es ist wichtig, zwischen der Liebesbeziehung und der Ehe als Institution zu unterscheiden. Das entschuldigt nicht seine mangelnde Sensibilität für den rechtlichen Rahmen. Er war blind dafür genau wie er blind gegenüber der Forderung der Arbeiter im ausgehenden 19. Jahrhundert nach besseren Rechten war. Wenn seine Einstellung zu den Geschlechtern dennoch ausschließlich als Kritik am Gleichheitsdenken verstanden wird, kann Nietzsche durchaus ein realistischer Sinn attestiert werden, da eben Erfahrungen lehren, dass Rechte zwar eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für die Gleichstellung der Geschlechter sind. Mit seiner Verwerfung der Gleichberechtigung vertrat er die Meinung, dass das Gleichheitsdenken als Verleugnung von Differenzen geradezu nachteilig ist. Nietzsche schwankt dennoch in seiner Einschätzung von Differenzen. Auf der einen Seite scheint er Differenzen, die Frauen eine untergeordnete Rolle zusprechen, zu befürworten. Andererseits, ist er sich dessen bewusst, dass die schwache Stellung der Frauen in der Beziehung Nachteile mit sich bringt. Beauvoir weist auf dieses hin wenn sie schreibt, dass Nietzsche mit seiner Beschreibung der Liebe die Situation der Geschlechter unter Bedingungen, wo
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die Frau nicht aus Stärke den Mann lieben kann, sondern nur aus einer Position der Machtlosigkeit (Beauvoir 2010, S. 708). Nietzsche weißt auf dies hin, wenn er in Antichrist schreibt, dass das „Weib“ zum Beispiel „rachsüchtig“ ist, und er fügt hinzu, „das ist in seiner Schwäche bedingt“ (AC, KSA 6, S. 274). So eine Beziehung, wo die Frau schwach auf diese Weise ist, muss destruktiv sein, und aus Beauvoirs Perspektive sowohl für Männer wie für Frauen, obwohl die Frauen in der schlimmeren Lage sind. Rosalyn Diprose argumentiert, dass Beauvoir in ihrer Auslegung dieses Misstandes der ehelichen Institution von Nietzsches Kritik des Verhältnisses des Schuldners und des Gläubigers in der Genealogie der Moral inspiriert ist (Diprose 2002, S. 28). Diprose argumentiert weiter, dass die beiden, Beauvoir und Nietzsche, ein ideelles Bild der gegenseitigen Generosität der Geschlechter in der Liebe vorschwebt, obwohl Diprose auch nicht blind dafür ist, dass Nietzsche den rechtlichen Rahmen der Ehe missachtet. Beauvoir sieht die Gerechtigkeit zwischen Partnern als notwendige Voraussetzung, aber sie ist sich auch dessen bewusst, dass damit allein die Liebe nicht aufrechterhalten bleibt. Beauvoir und Nietzsche sind sich einig in der Ablehnung eines Zustandes, wo die beiden Partner in der Liebe auf die Weise gleich sind, dass sie sich zu ähnlich sind. So schreibt Beauvoir, dass zwei Liebende, die exklusiv für einander bestimmt sind, bereits tot sind, da sie aus Langeweile sterben (Beauvoir 2010, S. 698). Nietzsche legte großen Wert auf die Spannung in der Liebe, und wenn sie erhalten bleiben soll, darf die Frau nicht in einer resignierten Haltung des Unterwürfigen sein. So notiert er: „Zweierlei will der ächte Mann: Gefahr und Spiel. Deshalb will er das Weib, als das gefährlichste Spielzeug“ (NL, KSA 10, S. 106). Beauvoir hegt einen nicht ganz unähnlichen Gedanken, wenn sie bemerkt, dass die sich aufopfernde liebende Frau Geschenke gibt, die den Mann ermüden und die er letzten Endes nicht will (Beauvoir 2010, S. 708). Um lebendig zu bleiben, muss die Liebe für Nietzsche ein Machtkampf sein, und obwohl Nietzsche weit über Beauvoir hinausgeht, wenn er diesen Zustand auf die Spitze treibt mit seiner Thematisierung einer Liebe, die als Krieg geführt wird, kommen Nietzsche und Beauvoir überein in ihrer Betonung einer freien Entfaltung der Möglichkeiten der Liebenden (WA, KSA 6, S. 15). Es geht darum, alte hemmende Werte zu transzendieren, um neue Möglichkeiten der Selbstverwirklichung zu erschließen. Abgesehen hiervon gibt es einen Unterschied in der allgemeinen Einstellung Beauvoirs und Nietzsches. Beauvoir kritisiert Nietzsche für seinen solipsistischen Individualismus. Er hat versucht, den Existenzialismus, wie sie in ihrer Ethik der Ambiguität schreibt, zu einem Solipsismus zu machen und den Willen zur Macht zu einem nackten Machtwillen zu exaltieren.3 3 Beauvoir 1970, S. 72. Beauvoir moniert gleichermaßen den Elitismus Nietzsches, der die Macht der Elite über den Pöbel verherrlicht, vgl. Beauvoir 2010, S. 618.
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Zusammenfassend kann gefolgert werden, dass Nietzsche und Beauvoir sich einig sind in der Kritik einer Liebesbeziehung, wo beide nicht aus ihrer eigenen Form der Stärke agieren können. Dieser Vergleich mit Beauvoir wirft Licht auf Facetten in Nietzsches Denken, die oft übersehen werden. Für einige Kommentatoren von Nietzsches Philosophie der Geschlechterliebe ist seine Einstellung ausschließlich von einem „auto-erotischen Machoismus“ gekennzeichnet, und dieser Machoismus resultiert auch aus seiner dunklen Sicht der menschlichen Beziehungen als bloßem Machtkampf.4 In Anbetracht der oben genannten Deskription der Liebe muss zwischen einem ‚harten‘ Machtkampf im Hegelschen Sinne, (den Nietzsche in WA vor Augen hat) und Nietzsches Idee eines spannungsvollen Verhältnisses der Liebenden, der eine andere und meist mildere Form des Machtkampfes ist, d. h. wenn die Liebesbeziehung gelingt und nicht selbstdestruktiv wird, unterschieden werden. Was die Beauvoirsche Kritik des Solipsismus Nietzsches angeht, können solipsistische Tendenzen in seiner Philosophie der Selbstüberwindung und Selbstvervollkommnung nicht verleugnet werden. Wie seine Analysen der Liebe zeigen, gibt es aber andere Tendenzen, die solipsistische Dimensionen transzendieren. Dies wird auch deutlich in seinen Überlegungen zur Geburt, d. h. wenn Nietzsche Geburt als Metapher für menschliche Beziehungen ins Feld führt. Der Begriff der Geburt hat mannigfaltige Bedeutungen in Nietzsches Schriften, die vom Titel seines ersten Werkes Die Geburt der Tragödie zu seiner späten Physiologie der Kunst, wo er den schöpferischen Prozess dionysischer Kunst als Schwangerschaft, Wehen und Geburt bezeichnet. Die Werke der dionysischen Künstler sind wie Kinder. So schreibt er: „Der Mensch ist dazu bestimmt entweder Vater oder Mutter zu sein, in irgend welchem Sinne. Ohne Productivität ist das Leben grässlich“ (NL, KSA 8, S. 326).5 Nietzsche wendet auch die Metapher der Geburt an, um über Beziehungen mit anderen Menschen zu reflektieren. Er denkt darüber nach, wie er ein 4 Siehe Besprechung von Toril Mois Buch Simone de Beauvoir. The Making of an Intellectual Woman, 24. Mai, 2010: http://www.politicsandculture.org/2010/05/24/simone-de-beauvoirthe-making-of-an-intellectual-woman/ 5 Zur Verbindung der Metapher der Geburt mit Kunst siehe auch die Stelle aus dem Nachlass Nietzsches: „Und wie ein Vater die Schönheit und Begabung seines Kindes bewundert, an den Akt der Entstehung aber mit schamhaftem Widerwillen denkt, so ergieng es dem Griechen. Das lustvolle Staunen über das Schöne hat ihn nicht über den Werdeprozeß verblendet, der ihm wie alles Schaffen in der Natur erschien, als eine gewaltige Noth, als ein gieriges Sich-Drängen zum Dasein. Dasselbe Gefühl, mit dem der Zeugungsprozeß als etwas schamhaft zu Verbergendes betrachtet wird, obwohl in ihm der Mensch einem höheren Ziele dient als seiner individuellen Erhaltung: dasselbe Gefühl umschleierte auch die Entstehung der großen Kunstwerke, trotzdem durch sie eine höhere Daseinsform inaugurirt wird“ (KSA 7, NL, S. 333).
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Sprössling seiner Eltern ist, dass er etwas von ihren Eigenschaften geerbt hat, aber zugleich ein Anderer ist. Ein Kind ist nie ein Klon seiner Eltern, sondern eine Konstellation aus beiden, die neues beinhaltet. Die Beziehung von Lehrer und Schüler ist ähnlich formuliert. Der Lehrer gebiert und erzieht den Schüler, mit dem Ziel, dass der Schüler sich selbst findet, seinen eigenen Weg einschlägt. So heißt es in Also sprach Zarathustra: „…nicht zurück soll euer Adel schauen, sondern hinaus! Vertriebene sollt ihr sein aus allen Vater- und Urväterländern!“ (Z, KSA 4, S. 246).
Hannah Arendt Es ist hier der Punkt, dass sich Nietzsches Begriff der Geburt und Hannah Arendts Philosophie der Natalität/Gebürtigkeit treffen können. Arendt hat den Begriff Natalität für die Philosophie des 20. Jahrhunderts bedeutsam gemacht. Es ist des öfteren bemerkt worden, dass Arendt damit, gegen die Fixierung auf den Tod und die Endlichkeit wettete, die in der Existenzphilosophie, als ein wesentliches Merkmal menschlichen Daseins verstanden wird, so etwa in den Philosophien Heideggers und Sartres, aber bereits bei Sokrates begründet ist. Arendt geht es mit ihrem Begriff der Natalität nicht darum, die existenzielle Bedeutung der Endlichkeit des Menschen zu leugnen. Sie aber, wie Nietzsche, fand es wichtiger über das Leben als über den Tod zu sprechen. So schreibt Nietzsche in FW 278, dass die Denker zu viel Wert auf den Gedanken an den Tod legen und meint, dies sei entgegen dem, was die Leute wirklich denken. Der Tod, räumt er ein, ist „das einzig Sichere und das Allen Gemeinsame“ und fährt fort: „Wie seltsam, dass diese einzige Sicherheit und Gemeinsamkeit fast gar Nichts über die Menschen vermag und dass sie am Weitesten davon entfernt sind, sich als die Brüderschaft des Todes zu fühlen! Es macht mich glücklich, zu sehen, dass die Menschen den Gedanken an den Tod durchaus nicht denken wollen!“ (FW, KSA 3, S. 523). Das Leben ist ein sich ständiges Gebären, eine aus sich selbst schaffende Reproduktion. Als solche bringt es sich selbst nicht unverändert hervor, sondern der Schöpfungsprozess ist durch Veränderung gekennzeichnet. Arendt nimmt von Nietzsche genau diesen Gedanken, und in diesem Sinne ist ihr Begriff der Geburt verankert in der Lebensphilosophie, obwohl sie dem Vitalismus und dem Begriff des Willens zur Macht in Nietzsches Philosophie sehr kritisch gegenüber stand.6 In ihrem Buch zu Arendt nennt Julia Kristeva Nietz6 Aus diesem Grund ist Nietzsches Philosophie des Willens zur Macht, wie Arendt sie in ihrem Buch The Life of the Mind darstellt, laut Young-Bruehl „the most absurd chapter in the long history of philosophical hostility toward action and the desire to be freed from its
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sche und Augustin als die Autoren, die Arendts Philosophie der Gebürtigkeit beeinflusst haben. Der Mensch ist laut Augustin Neuanfang und immer wieder Anfangender auf Grund seiner Gebürtigkeit (Arendt 1958, S. 177–178). Arendt, so Kristeva, hat aber auch in Nietzsches Gedanken der ewigen Wiederkehr eine Weise des Denkens „über Freude, Bewunderung, und amor fati, die höchst möglichen Formeln der Bejahung“ gefunden (Kristeva 2001, S. 152). Für Arendt liegt die Betonung nicht auf der ewigen Wiederkehr als Wiederkehr desselben oder auf der Akzeptanz des Lebens, so wie es ist, sondern in der Wiederkehr des Gleichen als einer neuen Möglichkeit. Über diese existenzielle Dimension hinaus hat Natalität für Arendt vor allem eine politische Bedeutung. Durch die Ankunft immer neuer Menschen haben wir die Möglichkeit der Erneuerung und Erschließung neuer Perspektiven. Die Ideen der Pluralität, Spontanität und Kreativität sind damit auf das engste verbunden mit dem Gedanken der Natalität, aber sowie Nietzsche eine Erneuerung und Verstärkung der Kultur durch Kreativität erhofft hat, setze Arendt ihre Hoffnung auf eine politische Kultur die sich immer wieder erneuern kann. In dem Sinne spielen Vielfalt und Differenz eine große Rolle für eine politische Kultur, vor allem da kraft der Diversität totalitären und vereinnahmenden Kräften in der Politik Widerstand geleistet werden kann. Durch diese Betonung der Pluralität hat Arendts politische Philosophie Gemeinsamkeiten mit einem Feminismus der Differenz, aber sie selbst legte darauf Wert, dass Natalität so verstanden wird, dass die Menschen eben als Mann oder Frau geboren werden. Das war für sie die Grundform der Differenz, die ihrer Meinung nach oft verkannt wird, was gefährliche Folgen haben kann. Arendt hat ihre Konzeption der Natalität nicht an den körperlichen Vorgang der Geburt gebunden. Sie hat den Begriff auch nicht mit Mütterlichkeit verbunden. Nietzsche dagegen philosophiert über Geburt mit Blick auf Mutterschaft und Erziehung. Er beschreibt den kreativen Philosophen öfters als Mutterschoß seiner Werke. Der Philosoph ist selbst ein Kunstwerk, der sich immer wieder aufs Neue reproduziert. Damit sind wir zur nächsten Etappe dieser Reise auf den Spuren Nietzsches in Werken von bedeutenden Philosophinnen angelangt: Zur Problematik der Mutter in Nietzsches Philosophie.
Luce Irigaray Luce Irigaray ist wahrscheinlich die Philosophin, die sich selbst am meisten in die Nähe von Nietzsche rückt. Sie hat ihm ein ganzes Buch gewidmet: Amante unpredictability by the assertion of a solitary mental life divorced from the world, by sheer contemptus mundi“ (Young-Bruehl 2006, S. 194).
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Marine – der Titel könnte als ‚Marinegeliebte‘ übersetzt werden (Irigaray 1991). Das zentrale Anliegen dieser Rede an die Adresse Nietzsches, wo die Autorin sich selbst als seine Marinegeliebte darstellt, ist zusammen mit Nietzsche über Geburt, Tod und Ewigkeit zu philosophieren.7 Irigaray will vor allem auf das Vergessen der Mutter in Nietzsches Philosophie der Geburt aufmerksam machen. Sie wirft ihm vor, eine Lehre des ewigen Lebens darzulegen, die die Mutter als Gebärende wegstreicht. Als eine Marinegeliebte spricht sie aus dem Element des Wassers heraus, aber alle Menschen haben ihren Ursprung im Fruchtwasser im Mutterleib, das Leben selbst kam aus dem Meer und ohne Wasser gebe es kein Leben. Nietzsche, der diese Herkunft leugnet, so Irigaray, spricht für sich selbst nicht als Mensch, sondern als Mann und richtet seine Rede an Männer. Daher spricht er über sich als einen kreativen Philosophen, der sich selbst gebärt. Aus dem Grund öffnet Nietzsches Philosophie sich nicht dem weiblichen Anderen. Vielmehr vereinnahmt er Eigenschaften, die mit dem Weiblichen in der philosophischen Tradition verbunden sind, wie Leiblichkeit und Affektivität, für sein Bild des dionysischen, künstlerischen Philosophen. Irigarays Mission in ihrem Dialog mit Nietzsche ist, diese Abwesenheit der Mutter in seiner Philosophie sichtbar zu machen und dann in einem weiteren Schritt zu zeigen, wie Nietzsches Philosophie dennoch als ein Wendepunkt verstanden werden kann. Nietzsche ist ein Wendepunkt, weil er wie kein anderer die abendländische Tradition der Philosophie wegen ihres dualistischen Menschenbildes kritisiert. Es gibt kaum einen Philosophen der neueren Zeit, für den die Geschlechterdifferenz eine solche Bedeutung für sein anti-dualistisches Menschenbild hat. Er bleibt aber stecken, in dem er die Attribute, die traditionell mit dem Femininen verbunden sind, in das Männliche projiziert. Der selbe Duktus kann auch bei Derrida konstatiert werden, wenn er, von Nietzsche inspiriert, behauptet, wie eine Frau schreiben wollen zu können, um Differenz zu aktivieren. Für Irigaray gilt es, Nietzsches Ziel, verdrängte Elemente der vorsokratischen Tradition, wie Differenz, Veränderung und Leiblichkeit, für das philosophische Denken wieder zu beleben, um mit den Worten Nietzsches, der Erde treu zu bleiben. Zu diesem Zweck ist das Buch von Irigaray ein Dialog mit Nietzsche, wo sie sich und ihn als ein amouröses Paar darstellt. Die Spannung zwischen den Partnern wird dadurch erzeugt, dass man dem Anderen das Andere ist. Es ist ein Denken zu zweit, um die Differenz zu erhalten. Mit diesem Dialog weist Irigaray Nietzsche aus seinem solipsistischen Kammer heraus, wo er sich selbst das Andere sein muss und nicht der Andere dem Anderen. Das Weibliche in seiner Philosophie bleibe so sein Idealbild,
7 Ich stütze mich auf Owesens Interpretation von Irigarays Buch zu Nietzsche in ihrem Buch von 2008.
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etwas was er konstruiere und nicht etwas, dem er sich öffnet, um davon betroffen und dadurch verändert zu werden. Die eigene Neugeburt geschieht nicht aus sich selbst heraus, sondern durch die Begegnung mit dem Anderen, in diesem Fall, dem weiblichen Anderen, das Irigaray darstellt. In einer Beziehung und in einem Dialog mit dem Anderen gebären beide Partner sich neu, indem sie sich in den Augen des Anderen neu sehen. Im Text erläutert Irigaray, wie sie zusammen die Dualismen von Kunst und Wissenschaft und Theorie und Dichtung dekonstruieren. Irigaray erinnert Nietzsche dabei an das vergessene, daran, wie er sich das Weibliche und Mütterliche aneignet und nicht als das Andere auf sich wirklich wirken lässt. Nur wenn er das tut, kann er aus dem Beherrschungsmodus kommen. Er ist sich dessen bewusst, dass Männer das Bild der Frau als Ideal aufstellen. Er gibt zu, dass er über das „Weib an sich“ einige Wahrheiten von sich gibt und er unterstreicht „dass man es vonvornherein nunmehr weiss, wie sehr es eben nur – meine Wahrheiten sind“ (JGB, KSA 5, S. 179).
Judith Butler Nun darf man aber nicht annehmen, dass Irigaray mit ihrer Philosophie des Anderen Beauvoirs Idee der Frau als des Anderen meint. Wie Judith Butler in ihrem Buch Das Unbehagen der Geschlechter bemerkt, kritisiert Irigaray gerade Beauvoirs Idee der Frauen als des Anderen im Zweiten Geschlecht. Die Frau als das zweite Geschlecht wird von dem Mann als dem ersten Geschlecht bestimmt, als das abgeleitete und zweitrangige. Damit bleibt Beauvoir in Irigarays Sicht den Geschlechterdualismen der Überlieferung verhaftet, selbst wenn sie ausdrücklich darüber hinwegkommen möchte. Irigaray selbst versucht gerade ein Begriff des Anderen zu konzipieren, das dem hierarchischen Dualismus entkommt. Daher definiert sie das Andere der Frauen als das Geschlecht, was nicht Eins ist. Butler argumentiert in diesem Sinne, dass Frauen weder Subjekte noch das Andere zum Subjekt sind, sondern ein Differenz zu dieser binären Opposition (Butler 1990, S. 18).8 Butler baut also ihren Postfeminismus auf der Einsicht Irigarays, aber sie geht auch weiter. Damit sind wir bei der letzten Philosophin angelangt, in deren Spiegel Nietzsche reflektiert wird. Der Übergang von Irigaray zu Butler ist der Übergang vom Feminismus der Differenz zum Postfeminismus. Selbst wenn Butler Irigarays Dekonstruktion des
8 Siehe auch Butler 1990, S. 9–13 zu Butlers Besprechung von Irigarays Feminismus der Differenz.
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Subjekts der Frauen, insofern diese Konzeption einer Metaphysik der Substanz entspringt, als Ausgangspunkt nimmt, kann sie Irigarays Weg der Geschlechterdifferenz nicht einschlagen. Sie beruft sich auf Monique Wittigs Kritik an Irigaray, die dieser vorwirft, mit ihrer Konzeption des weiblichen Geschlechts als des Geschlechts, das nicht Eins ist, die Binarität des Maskulinen und Femininen zu konsolidieren und eine mythische Idee des Femininen neu herauszustellen (Butler 1990, S. 26). Das feminine Subjekt kommt sozusagen durch die Hintertür im neuen Gewand des Femininen, dass Irigaray als unbedingte Basis für eine Anerkennung von Werten sieht, die sie einer männlich dominierten Welt entgegensetzen möchte. Sie ist der Meinung, das Problem der sexuellen Differenz sei das aktuellste Problem der Gegenwart. Nicht nur weil, sich viele Konflikte an der Geschlechterspannung entzünden, sondern weil eine einseitige Herrschaft der Werte und Ideale, die mit dem Männlichen verbunden sind, ein Ungleichgewicht im Zusammenleben der Geschlechter, der Völker miteinander und mit der Erde hervorrufe und weiterführe. Butler kann sich nicht mit Irigarays Philosophie eines femininen Subjekts und der sich daraus ableitenden Idee einer femininen Identität identifizieren. Sie bezieht sich dabei auf Nietzsches Auflösung des Subjekts in der Genealogie der Moral, wo er behauptet, dass es keinen Täter hinter der Tat gebe. Der Täter sei lediglich eine Fiktion, die der Tat zugefügt werde (Butler 1990, S. 25). In Anschluss daran, behauptet Butler, dass es keine Geschlechteridentität hinter dem Ausdruck des Geschlechts gebe. Sie werde konstituiert durch Performativität. In ihrer Kritik geht sie von ihrem performativen Modell vom Geschlecht aus, in welchem die Kategorien ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ als Produkt einer Wiederholung von Handlungen verstanden werden und nicht als natürliche oder unausweichliche Materialisierungen. Mit dieser sozialkonstruktivistischen Theorie radikalisiert Butler Beauvoirs Diktum, man werde nicht als Frau geboren. Im Gegensatz zu Beauvoir ist für Butler aber nicht nur das Geschlecht (gender), sondern auch der Körper (sex) eine diskursive Konstruktion.9 Der Grund, warum Butler Beschreibungen der geschlechtlichen Identitäten, wie etwa dem Subjekt des Feminismus, d. h. der Kategorie ‚Frauen‘ entkommen möchte, ist der, dass selbst, wenn solche Beschreibungen weder essentialistischen oder dem binären Denken verpflichtet sind, diese als Deskriptionen eine normative Schlagkraft haben im Sinne von reglementierenden Idealen. Wer ist 9 Butlers Auflösung der Unterscheidung von „sex“ und „gender“ auf der Basis der Tradition der Sozialkonstruktion innerhalb der anglo-amerikanischen Sozialwissenschaften, kann nicht ohne weiteres auf Beauvoirs Phänomenologie der Geschlechterdifferenzen übertragen werden (Heinämaa 1997). Insofern die Phänomenologie des Leibes auf Einsichten der Nietzscheschen Lebensphilosophie baut, hat Nietzsches Idee der Geschlechterdifferenz mehr Affinität mit der Phänomenologie als mit sozialkonstruktivistischen Theorien der Differenz.
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gemeint und wer gehört zum Subjekt der Frauen und wer nicht, fragt sie? Welche Identitätsaspekte gehören dazu und welche werden ausgeklammert? Über die Ausschlussfunktion solcher Identitätsbeschreibungen hinaus (selbst wenn es noblen emanzipatorischen und politischen Zwecken dient), wittert Butler eine andere Gefahr. Dualismen von Geschlechteridentitäten beinhalten ein heteronormatives Modell der binären Geschlechtlichkeit oder was Butler normative Heterosexualität nennt. Die Auflösung binärer Kodierung eröffne ein Spielraum für das Erproben von alternativen Geschlechtsidentitäten, das heißt für „queer identities“. In diesem Punkt kommen Butler und Nietzsche nochmals zusammen, aber seine Selbstbeschreibungen als eines kreativ Schaffenden, der weibliche und männliche Dimensionen hat, sind gerade ein Beispiel eines Experimentieren mit der geschlechtlichen Identität. Frances Nesbitt Oppel hat mit ihrem 2005 erschienen Buch Nietzsche on Gender. Beyond Man and Woman diesen Punkt aufgegriffen. Oppel wendet sich dabei gegen eine einseitige Zuweisung Nietzsches in die Reihe der misogynen Denker. Sie argumentiert, Nietzsches vermeintliche Misogynie sei Teil seiner Strategie, um zu demonstrieren, dass unsere Einstellungen zum Männlichen und Weiblichen durch und durch kulturell bestimmt sind: sie können destruktiv für unser Potential als Individuen und Gattung und sie können verändert werden (Oppel 2005, S. 1). Wie Beauvoir, liest Oppel Nietzsches Ausführungen zur Liebe als Beschreibungen einer gefangenen Identität der Frauen, und man muss hinzufügen, der Männer auch. Die Ironie, die in solchen Beschreibungen deutliche werde, diene somit zur Destabilisierung solcher Identitäten. Neben diesem strategisch misogynen, aber latent frauenfreundlichen Nietzsche, findet Oppel einen anderen Nietzsche vor, der ein bisexuelles Feminines konstatiere, das die patriarchale Konzeption des Weiblichen untergrabe. In diesem Sinne interpretiert sie den Aphorismus über die unterschiedliche Einstellung von Männern und Frauen zur Liebe aus der Fröhlichen Wissenschaft so, dass die Kategorien, die üblicherweise verwendet werden, unzureichend sind, um die Wirklichkeit der Liebe zu beschreiben, das sie abgeleitet werden vom konventionellem Verständnis von Geschlechterrollen (Oppel 2005, S. 190).
Feminismus der Differenz und postmoderner Feminismus im Spannungsverhältnis Meine neulich herausgegebene Interpretation von Nietzsches Begriff der Geburt und der Natalität stimmen mit den Schlussfolgerungen Butlers und Oppels überein (Thorgeirsdottir 2010, S. 157–208). Nietzsche wollte binäre Kategorien auflö-
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sen, um ein freies Spiel zu ermöglichen. Er ist in dem Sinne ein Queer-Denker und auch ein Trans-Denker. Er spiegelte sich in den Frauen, d. h. in den Ideen, die mit dem Weiblichen in der Kultur und in der Philosophie verbunden werden. Dennoch – dies ist mein letzter Punkt – bleibt ein Spannungsverhältnis zwischen dem queer- oder trans-denkenden Nietzsche, der in Butler gespiegelt wird und dem Denker der Geschlechterdifferenz, der in Irigarays Interpretation von Nietzsche zum Vorschein kommt. Diese Spannung wird deutlich, wenn man Queer-Theorie einerseits und Differenz-Feminismus andererseits vor dem Hintergrund meines anfänglich eingeführten Schemas von unterschiedlichen Feminismen betrachtet. Die Queer-Theorie ist ihrem Selbstverständnis nach dem Feminismus entsprungen, aber zugleich diesem entwachsen. Queer-Denken löst sich von den Differenz-Spielarten des Feminismus ab mit der Begründung, diese seien der heterosexuellen Matrix verbunden. Das Queer-Denken wird somit nicht innerhalb des Kontinuums des Weiblichen einerseits oder dem des Männlichen andererseits situiert. Als Identität entstammt das Queer-Denken einer dritten Geschlechtskategorie, dem queer-sein (siehe Braidotti 2002, S. 50–52). Diese Ablösung aus dem jeweiligen Geschlechterkontinuum ist problematisch und unhaltbar, insofern sie in einer sozialkonstruktivistischen Auffassung sowohl des sozio-kulturell bestimmten Geschlechts als auch des materiell-körperlichen Geschlechts besteht. Erfahrungen von Trans-Gender-Menschen, die operative Eingriffe nötig haben, um sich in ihrem „richtigen“ männlichen oder weiblichen Geschlecht zu befinden, gehen entgegen einer solchen sozialkonstruktivistischen Reduktion des körperlichen Geschlechts. Nietzsche trägt einer solchen Erfahrung Rechnung, wenn er in der Morgenröte über die Geringschätzung des Körpers schreibt, die dazu dient, „um aller seiner Triebe willen den Menschen selber quälen und geringschätzen“ (M, KSA 3, S. 46).
Nietzsche und Feminismus der Differenz Die Anerkennung von Differenzen ist der wichtigste politisch-emanzipatorische Erkenntnisbeitrag der Queer-Theorie. In dem Sinne stimmt die Queer-Theorie mit einer im Individualismus fundierten liberal feministischen Position überein, weil das wichtigste ist, Differenzen rechtlich zu sichern, um Ausschluss und Marginalisierung zu verhindern. Der Intention nach könnte Nietzsche dem zustimmen. Andererseits legte Nietzsche aber Wert auf Differenzen von Männern und Frauen oder anders ausgedruckt, er legte Wert darauf, dass sich Frauen ihrer Stärken bewusst werden. Dasselbe kann über Männer gesagt werden, die auf Grund der Auflösung traditioneller Geschlechterrollen ihre Stär-
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ken und Schwächen neu reflektieren müssen.10 In dem Sinne kann Nietzsches Philosophie der Geschlechter als ein Vorläufer des Differenz-Feminismus angesehen werden. Was die Spannung zwischen Queer-Theorie und Differenz-Feminismus angeht, steht Nietzsches Philosophie daher der letzteren näher, auch zumal diese Richtung des Feminismus dem Geschlechterkörper mehr Gewicht leiht als es der Fall in der Queer-Theorie ist. Letzten Endes ist Nietzsches Philosophie der Geschlechter ein vielfältiges Gedankengebäude, worin sich viele Positionen teilweise oder in großen Teilen wiederfinden können. Das bedeutet auch, dass Antifeminismus in misogynen Äußerungen Nietzsches vertreten ist, und es steht noch aus, Vorboten von Männerstudien in Nietzsches Werk zu erforschen. Seine Analysen enthalten bisweilen widersprüchliche Ergebnisse. Diese Widersprüche sind unterschiedliche Möglichkeiten, die aufgegriffen und ausgespielt werden können (siehe Kouba 2001). Manchmal schließen sich die Gegensätze aus oder wenigstens schließen sich unterschiedliche Richtungen teilweise aus, wie das geschilderte Spannungsverhältnis zwischen dem Differenz-Feminismus und der Queer-Theorie zeigt. Luce Irigaray betont immer wieder, dass in einer philosophischen Tradition, worin Werte, die mit dem Männlichen verbunden sind, die Oberhand gehabt haben, wir Werte und Einsichten nötig haben, die mit dem Femininen verbunden sind. Dadurch, dass diese Werte aus dem Zusammenhang des traditionellen, dualistischen, phallologozentrischem Denken herausgelöst werden, müssen sie neu ausgehandelt werden, auch im Verhältnis zueinander. Nietzsches Anliegen war es, eine Umwertung der Werte voranzutreiben. Also kann Irigarays Anliegen, d. h. das Anliegen des Feminismus der Differenz in diesem Sinne verstanden werden.
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10 Als Beispiel siehe Thomä 2008.
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Nikolaos Loukidelis
Anthropologie bei Nietzsche und Gehlen Mit einem Blick auf Trendelenburg Friedrich Adolf Trendelenburg gehört zu den wichtigsten Philosophen des 19. Jahrhunderts. Im 19. Jahrhundert selbst, in dem sein Werk eine bemerkenswerte Wirkungsgeschichte entfaltet hat, stand dies außer Zweifel. Heute wie auch im vorigen Jahrhundert ist (bzw. war) er dennoch – abgesehen von wenigen Ausnahmen – in Vergessenheit geraten, was in klarem Gegensatz zu seiner historischen und systematischen Bedeutung steht. Ich erwähne nur zwei Gründe, die für diese Einschätzung Trendelenburgs sprechen. Sein Aristotelismus verbindet ihn einerseits direkt oder indirekt mit Philosophen wie Brentano, Husserl und Heidegger (vgl. Venturelli 1994, S. 301), denen immer noch große Aufmerksamkeit geschenkt wird. Und seine Bemühungen andererseits, die eigene philosophische Position in ständiger und differenzierter Auseinandersetzung mit den Resultaten der einzelnen Wissenschaften zu gewinnen, sind immer noch aktuell, da sie etwa der heute gängigen Praxis der Wissenschaftstheorie entsprechen und einen Appell an die gegenwärtige Philosophie darstellen, sich nicht auf die Thematisierung der eigenen Geschichte zu beschränken, sondern sich der Welt, wie sie uns konkret erscheint, zuzuwenden und dabei den Dialog mit den Wissenschaften zu suchen.1 Werfen wir aber einen näheren Blick auf Trendelenburgs Position. Er konzipiert die Philosophie als „grundlegende Wissenschaft“ (Trendelenburg 1862a, S. 14), da alle speziellen Disziplinen bezüglich der Klärung ihrer Begriffe auf sie angewiesen sind. Die speziellen Disziplinen stellen aber zugleich einen wichtigen Gegenstand der Untersuchung für die Philosophie dar. Deswegen fasst Trendelenburg letztere zum großen Teil als Reflexion über die Wissenschaften auf und versucht unter anderem, einheitliche ontologische Züge in den verschiedenen Wissenschaften zu erkennen. In diesem Zusammenhang hebt er die Bedeutung der Bewegung hervor: Die äussere Welt des Seins und die innere des Denkens scheiden sich auf den ersten Blick von einander. Wie kann in beiden etwas Gemeinsames gefunden werden? […] In der äussern Welt ist jede Thätigkeit mit Bewegung verknüpft; die mechanischen Eindrücke, die chemischen Erregungen, die organischen Verrichtungen sind ohne Bewegung und zwar räumliche Bewegung nicht zu fassen. […] Die[…] Bewegung gehört [aber auch] dem
1 Weitere Gründe, die für die Bedeutung Trendelenburgs sprechen, kann man den Beiträgen in Hartung u. Köhnke 2006 entnehmen.
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Denken an, freilich nicht in der Weise […], dass der Punkt in der Bewegung des Denkens den entsprechenden Punkt der Bewegung in der Natur äusserlich deckt. [Die Bewegung des Denkens] nennen [wir] […] im Gegensatz gegen die äussere im Raum die construktive, und erkennen sie zunächst in der Anschauung. Das Denken tritt in der Anschauung aus sich heraus, und dies geschieht durch die Bewegung. Wer z. B. ein Gebirge anschauet, muss es durch die Bewegung seines Blickes umschreiben und erzeugen. (Trendelenburg 1862a, S. 141 ff.)2
Aber nicht nur in der Anschauung ist die Bewegung präsent. Sie spielt eine sehr wichtige Rolle auch beim Moment des Urteilens. Das Urteilen ist eine Bewegung des Geistes und seine Grundlage ist nach Trendelenburg das impersonale Urteil (es regnet, es blitzt usw.) (dazu Trendelenburg 1862b, S. 205ff.), das als eine Repräsentation der Welt in ihrem Geschehenscharakter fungiert. An dieser Stelle lassen sich Ähnlichkeiten mit einem zentralen Gedanken des späten Nietzsche, dem Willen zur Macht, feststellen. Dieser Gedanke rückt ebenfalls das Moment der Bewegung bzw. des Werdens in den Vordergrund. Und zugleich vereint er, wie es auch bei Trendelenburg der Fall ist, die Bereiche der Natur und des Geistes. Schließlich betont er die Bedeutung des Geschehenscharakters der Welt im Gegensatz zu einem substanzialistischen Verständnis derselben.3 Mit einem Wort: Sowohl Nietzsches als auch Trendelenburgs Denken – ungeachtet der vielen wichtigen Unterschiede, die zwischen den beiden bestehen und hier nicht erörtert werden können – teilen das Projekt einer Logik des Werdens.4 2 In diesem Zitat wurde auf die Markierung der Absätze, zu denen die einzelnen zitierten Sätze gehören, verzichtet. 3 Zu diesen Momenten des Willens zur Macht vgl. Abel 1998, S. 3 ff. 4 Logische Untersuchungen ist der Titel des Hauptwerks von Trendelenburg, das zunächst 1840, dann 1862 in zweiter und 1870 in dritter Auflage erschienen ist. Vieles spricht dafür, dass Nietzsche es gelesen hat. Erstens gibt es folgende Notiz des jungen Nietzsche: „Trendelenburg log. Untersuch. 2 Aufl. Leipz)ig* 1862. II. S. 65 f.“ (KGW I/4, S. 491; vgl. dazu HKGW 3, S. 458). Zweitens ist es bekannt, dass Nietzsche zu der Zeit der Entstehung dieser Notiz stark an Schriften interessiert war, die sich auf die Philosophie Schopenhauers beziehen, und die Logischen Untersuchungen beinhalten eine Auseinandersetzung mit Schopenhauer, der „stolzen und derben Geistes alle Schulphilosophen tief unter sich lässt“ (Trendelenburg 1862a, IX). Drittens ist Trendelenburg der Lehrer von zwei philosophischen Kollegen Nietzsches aus der Baseler Zeit, Gustav Teichmüller und Rudolf Eucken, was Nietzsche durchaus veranlasst haben könnte, seine Schriften heranzuziehen. Und viertens begegnet man im frühen Nachlass Aufzeichnungen, die sich kritisch gegenüber dem Ansatz der Logischen Untersuchungen verhalten (NL, KSA 7, S. 710, 738). (Zu den letzten beiden Punkten vgl. Venturelli 1994, S. 298 ff.). Der oben unternommene Vergleich zwischen Trendelenburg und Nietzsche erfolgt indessen zum größten Teil unabhängig von der Frage nach der direkten Kenntnis der Schriften des ersteren durch den letzteren und beruht auf einer allgemeinen philosophiegeschichtlichen Betrachtung (s. u.) sowie darauf, dass der späte Nietzsche trotz seiner Kritik an den „Logi-
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Trendelenburgs Denken lässt sich als guter Einstieg in eine gemeinsame Betrachtung von Nietzsche und Gehlen betrachten, weil es als Ausdruck der Transformation der Erkenntnistheorie in Anthropologie zu betrachten ist. Während Rationalisten und Empiristen, wie Otto Friedrich Bollnow treffend bemerkt, „vor der Ausbildung allen inhaltlichen Wissens zunächst die methodischen Prinzipien einer gesicherten Erkenntnis heraus[zu]arbeiten“ suchten – was auch bei der Transzendentalphilosophie Kants der Fall ist –, wurde seit dem Ende des 18. Jahrhunderts immer deutlicher, dass alle Erkenntnisleistungen einbezogen sind in einen umfassenden Zusammenhang des Lebens, eingeordnet in ein praktisches, handelndes Verhalten, gefärbt und bedingt durch Stimmungen, Gefühle und Triebregungen der verschiedensten Art, herausgewachsen aus einem unbewussten Untergrund der Seele und von ihm weiterhin getragen, dass also Erkenntnis nicht autonom ist, sondern vielfach bedingt von einem umfassenden Leben. (Bollnow 1974, S. 22)
Trendelenburg vollzieht mit seiner bemerkenswerten philosophischen Aufbereitung des konkreten Wissens seiner Zeit diesen Schritt in einem hohen Grad5 und so ist es nicht befremdlich, dass Ähnlichkeiten nicht nur zu Nietzsche (s. o.), sondern auch zu Gehlen vorhanden sind.6 Wenden wir uns nun der Wirkung Nietzsches auf Gehlen zu, dem eigentlichen Thema des vorliegenden Beitrags, dessen Ziel nicht die vollständige Aufzählung und Behandlung aller einschlägigen Punkte, sondern die Hervorhe-
kern“ Teichmüller, Spir, Widemann u. a. (die vom Programm der Logischen Untersuchungen direkt oder indirekt beeinflusst sind) wichtige Momente ihrer Konzeption in den Gedanken des Willens zur Macht aufnimmt. Diese These wird ausführlicher dargestellt in Loukidelis 2013. 5 Bollnow geht davon aus, dass die Veränderung des Bewusstseins, die der Transformation der Erkenntnistheorie in Anthropologie zu Grunde liegt, „[s]eit dem Ende des 19. Jahrhunderts“ vor sich geht (Bollnow 1974, S. 22). Es ließe sich aber zeigen, dass die in Rede stehende Veränderung mit Blick auf die Philosophie spätestens mit dem anthropologischen Aspekt des Denkens Kants – der freilich in einem gewissen Gegensatz zu seinem transzendentalphilosophischen Ansatz steht – und mit dem Idealismus Schellings eintritt. Eine der Konsequenzen dieser späten Datierung Bollnows ist, dass ihm der Blick für die Relevanz des ganzen 19. Jahrhunderts für die Entwicklung der Philosophischen Anthropologie versperrt bleibt. 6 Zum einen ist etwa das Moment der Bewegung auch bei Gehlen von großer Bedeutung: Der Ausgangspunkt der Gehlenschen Philosophie ist bekanntlich die Handlung und letztere ist eine Bewegung, die vom Menschen ausgeht, aber zugleich die Außenwelt mobilisiert. Und zum anderen fasst Gehlen ebenfalls die Philosophie zum großen Teil als Reflexion über die Resultate der Wissenschaften auf.
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bung einiger wichtiger Momente sein kann.7 Dabei werde ich mich gelegentlich mit der Frage befassen, was aus diesen Momenten für die Nietzsche-Interpretation (quasi als Rückwirkung Gehlens auf Nietzsche) gewonnen werden kann. Bevor ich mich dem Hauptanliegen meines Beitrags widme, soll indessen zunächst die Haltung Gehlens gegenüber Nietzsche kurz beschrieben werden. Diese Haltung lässt sich eindrücklich dem folgenden Auszug aus einer seiner Vorlesungen entnehmen: „Nietzsche ist nicht hinter uns, sondern vor uns. Er ist eingedrungen in die Form unseres Denkens … Nietzsche ist kein Denker des 19. Jahrhunderts, sondern der kommenden Jahrhunderte. Sein Schatten liegt über uns … Nietzsche hat unser Bewußtsein verändert“ (GA 2, S. 413). Die Art und Weise, wie Gehlen Nietzsche einschätzt, deckt sich also mit dem Selbstverständnis des letzteren als eines Philosophen, dessen Anliegen erst die Zukunft verstehen kann (vgl. z. B. AC, KSA 6, S. 167). Und zugleich konstatiert Gehlen, dass der Einfluss Nietzsches auf ihn und seine Generation groß ist. Kein Wunder also, dass in seinem Werk viele Spuren der Einverleibung von Gedanken Nietzsches zu finden sind. Gehlens bekannteste Anleihe bei Nietzsche ist die Übernahme der Formel: „[D]er Mensch [ist] das noch nicht festgestellte Thier“ (JGB, KSA 5, S. 81; vgl. auch, NL, KSA 11, S. 125; NL, KSA 12, S. 72; GM, KSA 5, S. 367), einer Formel, die sich hervorragend für die Bezeichnung des Menschen eigne: Dieses Wort ist richtig und exakt doppelsinnig. Es meint erstens: es gibt noch keine Feststellung dessen, was eigentlich der Mensch ist, und zweitens das Wesen Mensch ist irgendwie „unfertig“, nicht „festgerückt“. Beide Aussagen sind zutreffend und können übernommen werden. (M, S. 10)
Mit diesem Anschluss an Nietzsche gelingt Gehlen, den Verdacht zu beseitigen, dass eine Beantwortung der Frage nach dem Menschen notwendigerweise die dogmatische Fixierung auf eine beschränkte Vorstellung desselben impliziert, die lediglich einem spezifischen geschichtlichen Moment entspricht.8 Der Mensch wird stattdessen als ein Wesen definiert, das zahlreiche Möglichkeiten der Entwicklung in sich schließt, was Gehlen auf einer bemerkenswerten Verknüpfung von Theorie und Praxis stützt. Denn der Mensch findet „in sich oder mit sich eine Aufgabe“ vor, „die er sich in seiner Selbstdeutung faßlich machen und ‚verdeutlichen‘ muß“ (M, S. 10). Diese Selbstdeutung ist für ihn notwendig, um „‚sich zu etwas zu machen‘“ (M, S. 10). 7 Eine eingehende monographische Untersuchung des Verhältnisses Nietzsche-Gehlen – die auch der Wirkung des ersteren auf den letzteren minutiös nachgehen soll – ist immer noch ein Desiderat der Forschung. Zu diesem Verhältnis vgl. z. B. Schloßberger 1998, bes. S. 148 ff., S. 165 ff.; Bertino 2008, bes. S. 114 ff. 8 Dazu vgl. die treffenden Bemerkungen in Höffe 1992, S. 7–8.
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Ein Beispiel soll den eben angeführten Sachverhalt erläutern.9 Stellen wir uns vor, ein Kind hört langsam auf, ein Kind zu sein. Neue, zuvor undenkbare Fähigkeiten entwickeln sich. Der Jugendliche beginnt, in der Lage zu sein, Schlüsse von hoher Abstraktion ziehen zu können, die ihm ein anderes Verständnis sowohl der physikalischen Welt, als auch der Moralität ermöglichen. Zugleich ändert sich seine Triebstruktur, indem die sich reifende Sexualität mehr oder minder drastisch zum Vorschein kommt. Parallel dazu wachsen aber auch die Ansprüche seitens der Eltern und der Gesellschaft. Der Jugendliche muss den Weg der Selbstständigkeit einschlagen. Dazu gehören u. a. die ersten Schritte in die Richtung – oder sogar der Beginn – einer geschlechtlichen Beziehung, die Auswahl eines Berufsweges und die Auseinandersetzung mit den aktuellen politischen, künstlerischen und religiösen Strömungen. Es ist also deutlich, dass der Jugendliche – sowie jedes erwachsene Exemplar der menschlichen Gattung – viel radikaler als jedes Tier „in seinem bloßen Dasein eine Aufgabe vorfindet [Hervorhebung, N. L.]“ (M, S. 17), die er in ständiger Wechselwirkung mit seiner natürlichen und sozialen Umwelt festlegen und ausführen muss. Dieser Prozess – der selbst beim Entschluss, sich selbst zu töten, und seiner Durchführung vorausgesetzt wird – vollzieht sich nicht nur bei Individuen, sondern auch bei sozialen Gruppen und Kollektiven, wie etwa ein Stamm oder ein Staat. Man kann und soll davon ausgehen, dass die Betonung der Festlegung der eigenen Aufgabe bei Gehlen nicht ohne den Einfluss Nietzsches erfolgte. In zahlreichen Stellen seines Werks unterstreicht letzterer die Bedeutung dieses Prozesses. Nicht unähnlich dem oben verwendeten Beispiel ist etwa die in der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung eindrucksvoll geschilderte Situation, in der sich die „junge Seele“ befindet (UB III, KSA 1, S. 338 ff.). Diese wird sowohl vor den zahlreichen Möglichkeiten der Selbstgestaltung als auch vor den Schwierigkeiten, die soziale und kulturelle Konventionen und Normen beim Einschlagen des eigenen Weges darstellen, stutzig und fragt u. a. dabei: „[W]ie finden wir uns selbst […]? Wie kann sich der Mensch kennen?“ (UB III, KSA 1, S. 340), um wiederum die Antworten auf diese Fragen für das eigene Handeln nützlich zu machen.10 9 Das Beispiel bezieht sich auf die Pubertät, d. i. auf diejenige Zeit, während der im Menschen die charakteristischen Eigenschaften seiner Gattung für das erste Mal in ihrer voll entwickelten Form zu Tage treten. 10 An dieser Stelle lässt sich aus der Betrachtung der Wirkung Nietzsches auf Gehlen ein erster Impuls für die Interpretation des ersteren formulieren, nämlich die Hervorhebung der großen Bedeutung, die in Nietzsches Werk dem engen Zusammenhang von Theorie und Praxis – auch über den Prozess der Selbstgestaltung hinaus – zukommt. Auch wenn sich Nietzsche vehement gegen eine dogmatische Theoriebildung wendet, ist er sich des Wertes und der Unentbehrlichkeit der Theorie für das Leben vollkommen bewusst.
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Wenn oben ausgehend von einem Auszug aus einer nicht veröffentlichten Vorlesung Gehlens vom Wintersemester 1935/3611 seine allgemeine Haltung gegenüber Nietzsche kurz beschrieben wurde, ließ sich eine besondere Hochschätzung feststellen, die jedoch in seinen zeit seines Lebens erschienenen Schriften nicht in diesem besonderen Ausmaß zu Tage tritt. Ein Grund dafür ist, dass Gehlen in den eben erwähnten Schriften als selbstständiger philosophischer Autor auftritt und daher eine allzu schnelle und undifferenzierte Identifizierung mit der einen oder anderen Figur der Geschichte der Philosophie vermeiden will. Ein weiterer Grund liegt darin, dass Nietzsche nach Gehlen zwar die „anthropologische Wendung der Philosophie […] programmatisch“ und konsequent vertritt, diese Wendung jedoch bereits von Nietzsches „Meister“ Arthur Schopenhauer „begründet“ worden ist (GA 4, S. 32). Letzterem kommt also eine historische Priorität zu, und es ist deswegen nicht befremdlich, dass bei einigen wichtigen Stellen in Gehlens Werk nur Schopenhauer genannt, Nietzsche aber klar impliziert ist. Dies ist vor allem der Fall beim Aufsatz Die Resultate Schopenhauers (GA 4, S. 25–49), in dem Schopenhauers Bedeutung für die Anthropologie und die Religionsphilosophie hervorgehoben wird. Wenigstens zwei von den dort rekonstruierten Leistungen Schopenhauers finden sich zweifellos auch bei Nietzsche wieder: erstens das „[P]hilosophier[en] […] ‚am Leitfaden des Leibes‘“ und die damit verbundene Verlagerung der „reale[n] Handlung des Leibes“ ins „Zentrum der Philosophie“ (GA 4, 30) und zweitens die Betonung der „‚Oberflächlichkeit‘ des Intellekts“ (GA 4, S. 34–35). Dass beim ersten oben erwähnten Resultat Schopenhauers Nietzsche mit gemeint ist, bezeugt Gehlens Verwendung des mittlerweile klassischen Nietzscheschen Stichworts „am Leitfaden des Leibes“ (vgl. z. B. NL, KSA 11, S. 249, 282 und Schipperges 1975). Hingegen ist es durch den Text des in Rede stehenden Aufsatzes nicht direkt zu erschließen, dass Gehlen beim zweiten Resultat auch Nietzsche impliziert.12 Deswegen soll ergänzend folgende Stelle aus Gehlens Hauptwerk herangezogen werden: Ist so das Bewußtsein von seinen Ursprüngen her wesentlich zur Außenwelt hin gewendet, so sind umgekehrt alle Prozesse und Vollzüge des Lebens selbst wesentlich bewußtlos, sie verlaufen im Dunkel des Unbewußten und das „wie“ dieser Abläufe ist uns
11 Die Vorlesung trug den Titel Die neueste Philosophie seit 1850 und befasste sich ausführlich mit Nietzsche (dazu s. GA 2, S. 413). 12 Der Prozess der Aufhebung der jahrelangen „gegenseitigen Verdrängung von Schopenhauer und Nietzsche“ (Salaquarda 1984), der schon seit einiger Zeit mit langsamen, aber sicheren Schritten angefangen hat, kann von Gehlens gemeinsamer Betrachtung der beiden Denker Einiges abgewinnen.
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schlechterdings verborgen. Wir wissen so wenig, wie wir atmen und verdauen, wie wir sehen und denken, als wir wissen, wie wir es machen, den Arm zu heben. Von der unglaublichen Kompliziertheit und Vollkommenheit der vegetativen und motorischen Vollzüge selbst haben wir keine Erkenntnis und das Bewußtsein ist offenbar nicht da, uns darüber zu belehren. […] Dies erinnert an eine Lehre, die Nietzsche verkündet hat. Wenn dieser von der großen Vernunft des Leibes redet, deren Werkzeug nur die kleine Vernunft ist, welche Geist heißt, so lehrt auch er die für das Bewußtsein unzugängliche und inkommensurable Vollkommenheit des organischen Prozesses. (M, S. 70; vgl. auch M, S. 322–323)
In der Tat ist nach Nietzsche das „Bewusstsein […] eine Oberfläche“ (EH, KSA 6, S. 294)13, ein Begleitzustand des Denkens, Fühlens, Wollens und Handelns, der „sich nur unter dem Druck des Mittheilungs-Bedürfnisses entwickelt hat“ (FW, KSA 3, S. 591): Der Mensch „brauchte, als das gefährdetste Thier, Hülfe, Schutz, er brauchte Seines-Gleichen, er musste seine Noth aus[…]drücken […] – und zu dem Allen hatte er zuerst ‚Bewusstsein‘ nöthig, also selbst zu ‚wissen‘ was ihm fehlt, […] zu ‚wissen‘, was er denkt“ (FW, KSA 3, S. 591–592). Der oberflächlichen Bewusstseinsschicht liegt nach Nietzsche das uns alle konstituierende Zusammenspiel von lebenden Wesen (Zellen, Geweben, Organen) zu Grunde, welche dauernd versuchen, ihre Interessen (wie Ernährung und Reproduktion) durchzusetzen. Dieses Zusammenspiel ist zwar nicht immer spürbar, kommt aber doch oft deutlich zum Vorschein in der Form unserer Triebe oder der angenehmen (bzw. unangenehmen) Empfindungen und Gefühle, die für die Richtung unseres Denkens und Handelns Ausschlag gebend sind.14 Nietzsche betont mit Recht gegen einen immer noch weit verbreiteten Intellektualismus die fundamentale Bedeutung dieser tieferen Grundlage. Dabei übersieht er leider oft in seinen kritischen Äußerungen (etwa im Aphorismus 354 aus der Fröhlichen Wissenschaft, dem die oben zitierte Passage entnommen ist) die Tatsache, dass das Bewusstsein (und in vielen Fällen: nur das Bewusstsein) die Fähigkeit hat, die Kräfte der tieferen Grundlage zu bündeln und zu mobilisieren und also Handlungen einzuleiten, die für unsere Erhaltung und Bereicherung unentbehrlich sind. Gehlen urteilt angemessener, wenn er z. B. anerkennt, dass die Leistung des Bewusstseins „in seiner Teleologie auf den Ablauf komplizierter und unter erschwerten Bedingungen stehender Lebensprozesse [liegt]“ (M, S. 71). Ein weiterer Punkt, in dem die Präsenz und der Einfluss Nietzsches unverkennbar sind, wird deutlich, wenn man diejenigen Stellen in Gehlens Haupt13 Dazu vgl. Gerhardt 2011, S. 355, wo auch die Bedeutung Nietzsches für Gehlens Betrachtung des Bewusstseins als einer Oberfläche impliziert wird. 14 Ergänzend zu diesen und folgenden Ausführungen s. Loukidelis 2009, 2011.
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werk berücksichtigt, in denen er die Urphantasie einführt (M, S. 321 ff.). Dabei handelt es sich um die „vielleicht tiefste Schicht der Phantasie“, die „sozusagen an der Grenze der Denkbarkeit“ steht (M, S. 321). Ihre Annahme basiert auf der leicht festzustellenden Wirksamkeit eines zwar unbestimmten, aber dennoch besonders lebhaften Aufrufs in uns nach „mehr an Leben“, d.h. nach „mehr an Macht, mehr an Lebensdauer, mehr an Fruchtbarkeit usw.“ (M, S. 323). Es ist anzunehmen, dass zwar jedes Tier einen entsprechenden Drang in sich fühlt, der Mensch aber das einzige ist, bei dem dieser Prozess „beginnt, zu sich selbst in ein Verhältnis zu treten“, weil diese „Antriebsschicht […] die Grenze seines Bewußtseins erreicht“ und er somit „eine unbestimmte Verpflichtung“ wahrnimmt (M, S. 323), die er in seinem Leben festlegen und der er auf individuelle Art und Weise gerecht werden soll. Die Wirksamkeit dieses „Mehr an Leben“ tritt auch bzw. gerade dann zu Tage, wenn es von der Gesellschaft oder auch der Natur unterdrückt wird. Ein charakteristisches Beispiel dafür ist die Wirkung des Winters auf den Menschen. Der Mangel an Licht, die Begrenzung des Aufenthalts im Freien sowie die ursprünglich auftretende Reduktion des Ernährungsangebots15 bewirken eine Unterdrückung der Lebensfunktionen, die sich mit den ersten Anzeichen des Frühlings oft explosiv steigern. Die in diesem Sinne bei vielen Kulturen an der Schwelle des Frühlings gefeierten Feste belegen dies auf die anschaulichste Weise. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass diese dionysische Stimmung von einer Ahnung des Lebenssinnes begleitet wird (vgl. dazu M, S. 323). In dem Moment, wo wir das nach langem Verzicht Wiedererlangte begrüßen, spüren wir eine tiefe Erfüllung und zugleich die Richtung, in die wir unser Leben weiterhin lenken sollten. Bald erschöpft uns freilich das Ausleben unserer Wünsche, so dass wir wieder zu einer weniger exaltierten Lebensführung zurückkehren müssen, in der aber der Drang nach „Mehr an Leben“ nicht vernichtet, sondern latent immer noch präsent ist. Nicht nur klingen bei Gehlens Thematisierung der Urphantasie zentrale Gedanken Nietzsches (wie die Selbststeigerung oder das Dionysische) an, sondern ersterer bezieht sich darüber hinaus ausdrücklich auf letzteren und gibt entsprechende Passagen aus seinem Werk wieder (M, S. 324). Dabei – und dies ist aus der Sicht der Nietzsche-Forschung von einigem Interesse – stellt Gehlen die Behauptung auf, dass die sich durch „inadäquate, aber anschauliche und hinreißende Bilder eines ‚Mehr an Leben‘“ (M, S. 323) manifestierende Urphantasie der eigentliche philosophische Grund ist, auf dem die Themen des Übermenschen, des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkunft fußen. Alle drei
15 Freilich bleibt heute dieser letzte Faktor in vielen Teilen der Erde weitgehend aus.
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Themen seien Symbole, die der entsprechenden Erfahrung einen begrifflichen Ausdruck zu geben versuchen. Hat Gehlen Recht damit? Wenn man sich einen Überblick über die eben erwähnten Themen in Nietzsches Werk verschafft, erscheint es sicher simplifizierend, ihren Reichtum auf diesen einen Sachverhalt zu reduzieren. Die Nietzsche-Forschung der letzten Jahrzehnte hat sich bei der Rekonstruktion der in Rede stehenden Themen von Gehlens Behauptung nicht beeinflussen lassen und dabei viele wichtige Facetten zum Vorschein gebracht. Dass aber das kreative Potential im Menschen für die Entstehung der drei Themen von Bedeutung ist, ist nicht zu bestreiten. Man kann sie alle durchaus als Ausdruck eines triumphierenden Lebensgefühls verstehen, als Schöpfungen des „Dionysos philosophos“ (NL, KSA 12, S. 224; vgl. auch NL, KSA 13, S. 613). Insofern ist Gehlen berechtigt, sie als Symbole des sich steigernden Lebens zu begreifen.16 Nietzsches Wirkung auf Arnold Gehlen sowie das Verhältnis überhaupt zwischen den philosophischen Ansätzen der beiden ist ein offenes und viel versprechendes Feld.17 Mit Blick auf die Nietzsche-Interpretation ist von besonderer Bedeutung, dass durch eine intensivere gemeinsame Betrachtung von Nietzsche und Gehlen eine bemerkenswerte Kontinuität zwischen Nietzsches Denken und der heute lebendig diskutierten philosophischen Anthropologie zu Tage tritt.18 Auf diese Weise wird Nietzsches Denken, nachdem es sich in den letzten Jahrzehnten für die Stützung von sprachphilosophischen Positionen als fruchtbar erwiesen hat, auch eine weitere Aktualität innerhalb des gegenwärtigen philosophischen Diskurses erlangen. Es ist zwar verständlich, dass angesichts der Tatsache, dass Gehlen ein Mitläufer des nationalsozialistischen Regimes war, eine Nennung seines Namens in einem Atem mit dem von Nietzsche unangenehme Assoziationen erweckt, und das ist wahrscheinlich ein wichtiger Grund, warum das Verhältnis der beiden bisher relativ wenig thematisiert wurde. Die Zeiten haben sich aber sowohl in der Nietzsche-Forschung als auch in der internationalen philo-
16 Gehlen hält indessen den Übermenschen und den Willen zur Macht als Symbole für „verunglückt“ (M, S. 324), weil sie „abstrakte, theoretisierende“ (M, S. 323) Gedanken für eine ursprüngliche Erfahrung sind und „nicht die unbeschreibliche attraktive Kraft bildhafter Phantasmen eines Mehr an Leben, also nicht die furchterweckende Schönheit haben“ (M, S. 324). Die ewige Wiederkunft sei „noch ärmer an Gehalt“ und „wörtlich genommen […] fragwürdig“ (M, S. 324). An dieser pauschalen Verurteilung offenbart sich besonders deutlich die Einseitigkeit der Interpretation Gehlens, von der auch oben die Rede war. 17 Dazu vgl. Fußnote 7, 10, 12. 18 Für diese Kontinuität spricht u. a. auch, dass sich Max Scheler, ein weiterer wichtiger Vertreter der Philosophischen Anthropologie, mit Nietzsche intensiv auseinandergesetzt hat (dazu etwa Hufnagel 2004).
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Nikolaos Loukidelis
sophischen Szene geändert, so dass man, unabhängig von der Verflechtung zwischen realpolitischen Konstellationen und philosophischem Denken in der Vergangenheit (bzw. der Inanspruchnahme des letzteren durch die ersteren), Kontinuitäten erkennen sowie deren Fragestellungen und Resultate würdigen kann und soll.19
Bibliographie 1 Siglen Arnold Gehlen GA 2: Arnold Gehlen (1980): Gesamtausgabe Band 2, Philosophische Schriften II (1933– 1938), herausgegeben von Lothar Samson unter Mitwirkung von Stéphane Gillioz, Beatrice Marti und Giovanni Sommaruga. Frankfurt am Main. GA 4: Arnold Gehlen (1983): Gesamtausgabe Band 4, Philosophische Anthropologie und Handlungslehre, herausgegeben von Karl-Siegbert Rehberg unter Mitwirkung von Heinrich Wahlen und Albert Bilo. Frankfurt am Main. M: Arnold Gehlen (1997): Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. 13. Auflage. Wiesbaden.
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19 Dies bedeutet freilich weder, dass von einer absoluten Übereinstimmung zwischen Nietzsche und Gehlen ausgegangen werden soll, noch dass die Ansichten des letzteren bedingungslos zutreffend sind. Dass das noch nicht festgestellte Tier gerade wegen dieser seiner Natur auf die Institutionen angewiesen ist, ist etwa ein Schluss, den Nietzsche, der Kritiker des „neuen Götzen[s]“ (Z, KSA 4, S. 61), nicht vollziehen würde. Und ich halte – insgesamt betrachtet – die Bezeichnung des Menschen als Mängelwesen für besonders problematisch.
Anthropologie bei Nietzsche und Gehlen
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Hans-Walter Ruckenbauer
Skeptische Athletik Ciorans nihilistische Exerzitien nach Nietzsche Die dämonisch-bizarre Welt gezeichneter Grausamkeiten und Schrecken, in der das graphische Frühwerk Alfred Kubins eine unerträglich gewordene Realität ins Bild setzt, spiegelt die leitenden Metaphern Ciorans in die expressive Verdichtung des Albtraums. Die Landkarte dessen, was das Leben zur Folter macht, füllen die Sprachbilder aus den Titeleien von Ciorans Schriften zur Genüge: Von den Gipfeln der Verzweiflung aus entfaltet sich der leidenschaftliche Leitfaden der Offenbarungen des Schmerzes über die verfehlte Schöpfung bis zum Triumph des Überdrusses, der das verfluchte Ich nach dem Martyrium der Luzidität vierteilt und endlich in die Zeit abstürzen lässt; und an diesen Ariadne-Faden des schwärzesten Pessimismus reihen sich Begriffe wie „Täuschung“, „Zerfall“, „Bitterkeit“, „Versuchung“, „Nachteil“, „Widerspruch“, „Fluch“, „Nach-Geschichte“, „Einsamkeit“, „Asche“. Damit avancierte der Sohn eines griechisch-orthodoxen Popen und späteren Metropoliten von Hermannstadt/Sibiu zu einem der profiliertesten Fortschreiber von Nietzsches Nihilismus-Diagnose im 20. Jahrhundert und zu einem markanten Protagonisten moderner Selbstentfremdung. Jenes zentrale Motiv der Moderne hat Alfred Kubin in einer Tuschfederzeichnung aus 1901/02 bestürzend drastisch ausgeführt: Das Blatt aus der Sammlung Albertina, Wien, trägt den Titel Selbstbetrachtung. Im Vordergrund rechts zeigt der kontextfrei grau lavierte Bildraum eine nahezu unbekleidete, enthauptete männliche Rückenfigur in fast lässiger Pose leicht nach links gedreht, als ob sie dorthin in die Bildtiefe schaute. Und eben dort findet sich der abgeschlagene Kopf – überproportional groß liegt das Haupt mit dem Kinn am Boden auf, der Mund ist halb geöffnet, das linke Auge geschlossen, während das andere, leicht aus der Augenhöhle tretend, mit teils irrem, teils verwundertem Ausdruck auf den Halsstumpf starrt. Die Irritation bei der Betrachtung des Bildes gründet nicht allein in der makabren Szene oder den verschobenen Größenverhältnissen; entscheidend speist sie ebenso der Kontrast zwischen den angstvoll befremdlichen Zügen des abgeschlagenen Hauptes und der leichtfüßig-unaufgeregten Haltung des kopflosen Körpers, die, für sich betrachtet, eher an einen Athleten denken lässt. Die dem Blick entzogene Position der Hände vor dem Unterleib sowie die Stellung der Zeichnung in der frühen Schaffensperiode Kubins und biographische Gerüchte legen die gängige Deutung der „übergeordnete[n] Thematik der
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Selbstentfremdung im Moment leidender, ja grausamer sexueller Selbstbezogenheit“ (Peters 2008, S. 112) nahe, allerdings um den Preis einer interpretatio praecox. Tiefer bedacht, erschließt sich die schockierende Darstellung der Selbstbetrachtung als Parabel der gewaltsamen Entzweiung von Erkenntnis und Lebensvollzug vor dem ideengeschichtlichen Horizont des platonisch-cartesianischen Dualismus von Körper und Geist. Von Nietzsche her assoziierend, liest sich die Zeichnung als Ikone des Erschauderns angesichts der Genealogeneinsicht in die inkorporierten Praktiken des asketischen Ideals. Von Ciorans Regression auf Schopenhauersches Gedankengut ausgehend1, gewinnt das Leitthema der Infragestellung der Geburt Kontur. Nicht von ungefähr taucht Cioran ja in Peter Sloterdijks Planetarium der Anthropotechnik als Negativfolie konsequenter Übungsverweigerung auf. Unter dem Stichwort „Pariser Buddhismus“ stilisiert Sloterdijk Cioran zum Virtuosen der negativen Exerzitien, zum „erste[n] Meister des Es-zu-nichts-Bringens“ (Sloterdijk 2009, S. 127). Wobei seine Entwurzelung nicht einfach aus einem Pathos der Distanz zum „Strom des gestikulierenden, meinenden, involvierten Lebens“ hervorgeht, vielmehr in einer „pathologischen epoché“ gründet, die „dem Fluch [entspringt], sich selbst als real existierende Anomalie vorzufinden“ (Sloterdijk 2001, S. 389–390).
Akrobaten leibhaftigen Erkennens Die Abhängigkeit Ciorans von Nietzsche bestimmt die amerikanische Publizistin Susan Sontag als Epigonentum; für sie hat Nietzsche einfach „Ciorans Position ein Jahrhundert zuvor nahezu vollständig zu Papier gebracht“ (Sontag 1990, S. 26). Weil Cioran aber auch „einer der feinsinnigsten Geister eines wahrhaft kraftvollen Schreibens“ ist, muss er gerade deshalb Nietzsches Gedanken weiter komprimieren und auf die Spitze treiben, er „muß die Schrauben anziehen, das Argument verdichten. Schmerzhafter machen. Rhetorischer“ (Sontag 1990, S. 27). Sontags Reflexionen binden Cioran zu stark an Nietzsche an, und diese verzerrende Identifikation ist bereits mehrfach kritisiert worden (vgl. Guth 1990, S. 115; Hell 1985, S. 98 f.; Reschika 1995, S. 9). Die geistesgeschichtliche Einordnung Ciorans ist jedoch in der Tat nicht einfach. Er schöpft aus den Quellen fernöstlicher Weisheitslehren, antiker Skeptiker, der Stoa, der Märtyrerviten, der gnostisch-dualistischen Verfemung alles Weltlichen und der ekstatisch-ketzerischen Mystik des christlichen Mittelalters ebenso wie aus der 1 „Nicht geboren werden ist unbestreitbar die beste Lage. Leider steht sie niemandem zu Gebot“ (NG, S. 166) – Die Schriften Ciorans werden generell im Text durch Sigle und Seitenzahl zitiert; vgl. das Verzeichnis am Ende des Beitrags.
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Tradition des französischen Moralismus, des russischen Spiritualismus und der deutschen Lebensphilosophie (vgl. Reschika 1995, S. 10). Das daraus resultierende Amalgam, in dem so konträre Gestalten wie Laotse, Pyrrhon von Elis, Marc Aurel, Marcion, Mechthild von Magdeburg, Shakespeare, Montaigne, Schestow, Simmel und Klages verschmolzen sind, hat Jochen Hieber treffend „explosiver Eklektizismus“ (Hieber 1983, S. 45) genannt. Der äußersten Belesenheit korrespondiert jedoch nahezu kein ausgewiesener Niederschlag in Ciorans Schriften; sein Misstrauen gegen das Zitat2 hinterlässt beim Leser vielmehr das Gefühl, eine Vielzahl von Anklängen überhört zu haben. In der Art des Philosophierens finden sich freilich augenfällige Parallelen zwischen Nietzsche und Cioran. Das Moment des autobiographisch-physiologischen Denkens, die Protokollierung der eigenen Person, die Selbstnotierungen Nietzsches finden sich ebenso als durchgängiges Motiv in Ciorans „Erlebnisphilosophie“: „Alles, was ich angeschnitten habe, alles, über das ich mein Leben lang ausführlich geredet habe, ist nicht zu trennen von dem, was ich erlebt habe. Ich habe nichts erfunden, ich bin nur der Sekretär meiner Empfindungen gewesen“ (G, S. 137). Schon in der Lehre vom Zerfall plädiert Cioran unter dem Stichwort „Gelegenheitsdenker“ für die existentielle Fundierung allen Philosophierens wider eine mit abstrakten Ideen operierende Philosophie, deren lebensgeschichtlicher Wechsel durch kein authentisches Erleben gedeckt ist. Demnach schätzt er vor allem die Elukubrationen der Schwerkranken […], die Grübeleien der Schlaflosigkeit, das Aufblitzen unheilbarer Ängste, die durchseufzten Zweifel. Die Summe des Helldunkels, das sie in sich birgt, ist der einzige Gradmesser für die Tiefe einer Idee, wie die Verzweiflung, die in ihrer Verspieltheit mitklingt, der Gradmesser ihrer Faszination ist. „Auf wieviel durchwachte Nächte kannst du zurückblicken?“ – mit dieser Frage sollten wir an jeden Denker herantreten. (LZ, S. 121)
Erst die Erklärungen der Physiologie (vgl. VS, S. 116) machen eine Sache interessant und erst „[o]rganische Störungen bestimmen die Ergiebigkeit des Geistes: wer seinen Körper nicht fühlt, wird niemals einen Gedanken, der Leben hat, zustande bringen“ (LZ, S. 121). Dahinter verbirgt sich auch eine Spitze des Antisystematikers gegen ein streng methodisches Vorgehen, weil dies nur die Defizienz derjenigen markiere, „die dank ihrer Defekte dazu gelangen, sich zu vergessen, anstatt mit ihren Ideen eine lebendige Einheit zu bilden“ (DV, S. 56). Eine Philosophie, die ihre psychische Neutralität wahrt und auf größtmögliche
2 Vgl. ZF, S. 110: „Den Denkern mißtrauen, deren Geist nur mit einem Zitat zu funktionieren beginnt.“
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Unabhängigkeit vom jeweiligen Gemütszustand des Philosophen bedacht ist, verwirft Cioran schon früh als „Unruhe unpersönlicher Menschen“ und als „enttäuschte Erwartung“, denn „Ideen, die nicht ein Schicksal widerspiegeln, sondern andere Ideen, haben überhaupt keinen Wert“ (BT, S. 166 f.). Zu jenen, bei denen alles von der Physiologie abhängt und die Cioran mit der griffigen Gleichung „ihr Körper ist ihr Denken, ihr Denken ist ihr Körper“ (NG, 23) beschreibt, zählt er mit Sicherheit sich selbst und natürlich Nietzsche, mit dem ja die Physiologie ihren Einzug in die Philosophie genommen hat und der bekanntermaßen für sich beanspruchte, nicht zu wissen, „was ‚rein geistige‘ Probleme sind“ (NL, KSA 9, S. 170). Nicht zuletzt treffen sich Cioran und Nietzsche in der Beachtung der Diätetik; für den Mansarden-Philosophen sechs Stockwerke über dem Pariser Alltag war die Frage der richtigen Ernährung nämlich „beinahe die Fortsetzung seines Denkens mit anderen Mitteln“ (Bollon 2006, S. 16). Nietzsches Abneigung gegen geschlossene Denksysteme samt der Vereisung ihrer Zentralperspektive und die Aversion gegenüber begrifflichen Einschnürungen spiegeln sich deutlich in Ciorans Polemik wider die Universitätsphilosophie: „Man lehrt Philosophie nur auf der Agora, in einem Garten oder bei sich zu Hause. Das Katheder ist das Grab des Philosophen, der Tod allen lebendigen Denkens“ (NG, S. 146). Die „großen Systeme“ dieser Kathederphilosophen desavouiert er „als gleißende Tautologien“, als „[b]loße Wortwucherungen [und] subtile Sinnverlagerungen“, und deren wenig fruchtbares, mäßig originelles und lediglich ehrenvolles Tun „beschränkt sich auf das Ersinnen von Fachausdrücken“ (LZ, S. 63 f.). Gegen die Gewalt des Systems, das die „ärgste Form des Despotismus ist […] in der Philosophie und in allem“ (NG, S. 96), richtet Cioran das Bemühen, dem authentischen Erlebnis Eingang in die Philosophie zu verschaffen und damit die notwendige Antisystematik zu involvieren, die den lebendigen Charakter des Daseins nicht verrät; dies impliziert eine Ausdrucksweise, die der inneren Bewegtheit, der steten Veränderung, der wesentlichen Unabgeschlossenheit gerecht wird, wobei sich in der stilistischen Konsequenz die Form des Aphorismus oder des Fragments anbietet. (Guth 1990, S. 107 f.)
Das Denken Ciorans prägt darüber hinaus jedoch die Erfahrung eines tiefen Misstrauens gegenüber der Sprachmächtigkeit; dem Wort wird die Fähigkeit einer adäquaten Bedeutungsvermittlung abgesprochen – es leidet an „Atrophie“. „Den Aphorismus kultivieren nur diejenigen, die das Bangen inmitten der Worte kennengelernt haben, jenes Bangen, mit allen Worten zusammen einzustürzen“ (SB, S. 10). Ein bitterer ironischer Ton schwingt in Ciorans Auflistung alternativer Stilmodelle mit: „der Fluch, das Telegramm und der Grabspruch“ (SB, S. 10).
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Wenngleich Nietzsches Einfluss auf Ciorans Denkungsart offenkundig ist und dieser jenen unter die „Meister in der Kunst des ‚Denkens-wider-sichselbst‘“ (DV, S. 9) reiht, welche er als Lehrer anzuerkennen bereit ist, so darf nicht außer Acht gelassen werden, wie dezidiert sich Cioran vom mehr als formalen Vorbild abzuheben bemüht zeigt. Dass sich „Ciorans vehemente Ablehnung Nietzsches“ (Hell 1985, S. 99; vgl. Reschika 1995, S. 64, und Guth 1990, SW, S. 116–117) auch gegen ein Gutteil seiner Lebensgeschichte richtet, macht ein Abschnitt aus den Syllogismen der Bitterkeit deutlich. Im Rückblick auf die eigenen Wurzeln erscheint Nietzsche darin als „der Verführer unserer Jugend“, durch dessen „Gaukelei der Höhen“, durch dessen hysterisch übersteigerte „Vergötzung der Kraft […], durch diese philosophische Orgie, durch den Kult der Vitalität“ man wohl hindurchgehen musste (SB, S. 26 f.). Cioran hat an Nietzsche vor allem „die atemlosen Exzesse des Schreibens, das Fehlen jeglicher Verschnaufpause“ (G, S. 78) auszusetzen und spart nicht mit scharfer Kritik an Nietzsches überschwänglicher Naivität: Ich werfe ihm seine Hingerissenheit vor und sogar seine Momente der Inbrunst. Er hat die Idole nur gestürzt, um sie durch andere zu ersetzen. Ein falscher Ikonoklast mit Zügen eines Halbwüchsigen, mit einer jüngferlichen Art, einer Unschuld, die seiner Einsamkeit innewohnen. Er hat die Menschen nur von ferne beobachtet. Hätte er sie von der Nähe betrachtet, so hätte er niemals den Übermenschen aushecken noch preisen können, eine possenhafte, lächerliche, wenn nicht gar groteske Vision, die nur in einem Geist entstehen konnte, der nicht Zeit hatte, zu altern, den langen, abgeklärten Ekel zu kennen. (NG, S. 71 f.)
Ciorans Abneigung wider Nietzsches alte „Propheten-Leier“ (LZ, S. 126) geht im übrigen d’accord mit seiner Bevorzugung der „erloschenen Vulkane“ unter den Denkern gegenüber den allzu „fiebrig Erhitzten“ (NG, S. 37); so erscheint ihm auch die „Prosa der Hinnahme“ des müden Kaisers Marc Aurel trostvoller als die „Lyrik des Frenetischen […] bei einem Philosophen unter Blitz und Donner“ (NG, S. 72). Vom „Nomadengeist“ Nietzsche bleibt in den Augen Ciorans nicht allzu viel bestehen: seine unerreichte Kennerschaft der Verfallserscheinungen und die bestechende Diagnose des Nihilismus vielleicht sowie eine recht aggressive Form der Psychologie. Und schließlich habe „er den leidenschaftlichen Liebhabern des Unentwirrbaren eine Vielfalt von Sackgassen“ eröffnet und ihnen durch seine Miseren Mut zur Pflege der je eigenen Hysterien gemacht. (SB, S. 27)
Athlet der Verzweiflung In dem lebendigen, freundschaftlichen Portrait, mit dem Cioran seinen langjährigen Nachbarn, den christlichen Existenzphilosophen Gabriel Marcel, in
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den Widersprüchlichen Konturen skizziert, findet sich auch ein recht maßvoller Niederschlag von Ciorans eigenen Positionen. An Marcel schätzt er dessen neugieriges, streitlustiges Temperament und seine „Passion für das Gespräch“ (WK, S. 63), die denkerische Ungebundenheit frei von jeder Fakultät, sein Gespür für den Nerv einer Sache, „sein dem Sein abgelauschtes Denken“, das nie in Definitionen erstarrt (WK, S. 65). Allein dessen Verlangen nach dem Geheimnis spiegelt die „innere Grundlage“, die ihn davor bewahrt, ein haltloser Zweifler zu werden (WK, S. 67). Dem setzt Cioran zur Verdeutlichung von Marcels Antrieb das Bild des „dem obstinaten, zersetzenden Zweifel“ Verfallenen als Widerpart entgegen, worin unschwer eine Selbstbeschreibung zu erkennen ist: Der Skeptiker wirft ein Problem auf um des Vergnügens willen, es aufzustellen und sofort danach zu denunzieren, es zu zergliedern und seine Hohlheit zu entlarven. Er jubelt angesichts des Unlösbaren oder vertieft sich darin; das Ausweglose berauscht ihn. Der Skeptizismus hat notgedrungen in seiner extremen Ausformung eine morbide Komponente. (WK, S. 66)
Ciorans Familienerbe besteht in einer „Unfähigkeit zur Illusion“ (NG, S. 58), die sich – zu einer alles umgreifenden Skepsis gesteigert – als „Rausch der Ausweglosigkeit“ (NG, S. 91) durch sein Werk verfolgen lässt. Das Grundthema eines unerbittlichen Pessimismus, aus dem heraus er – unsere Hinfälligkeit einmahnend – säuberlich seziert, „wie sehr unser Pochen auf Humanität, auf Sinn, auf Glück auf bloß tönernen Füßen steh[e]“ (Kampits 1986, S. 260), macht die provokante Spitze seiner Wirkung aus. Bereits in der von Paul Celan kongenial ins Deutsche übertragenen Lehre vom Zerfall bringt Cioran die skeptische Position auf die prägnante Formel „Dasein ohne Endergebnis“ (LZ, S. 164). Die damit verknüpfte Kritik am überkommenen Wahrheitsbegriff liest sich wie eine Paraphrase Nietzsches: „Was man Wahrheit nennt, ist ein nicht zur Genüge erlebter, noch nicht leergeschöpfter Irrtum, der bald veraltet sein wird, ein neuer Irrtum, der Eile hat, seine Neuheit Lügen zu strafen“ (LZ, S. 179). An die Spur der Irrtümer heftet sich die Skepsis als eine permanente „Übung in Entfaszination“ (VS, S. 113); und was anfänglich nur methodisches Instrumentarium Ciorans war, nistet sich schließlich in allen seinen Lebensvollzügen ein: „Der Skeptizismus […] wurde zu meiner Physiologie, zum Schicksal meines Körpers, zum Prinzip meines Stoffwechsels, zu einer Krankheit, von der ich weder weiß, wie ich von ihr genesen noch wie ich an ihr zugrunde gehen soll“ (DV, S. 116). Am ausführlichsten reflektiert Cioran die skeptische Geisteshaltung in dem Essay Skeptiker und Barbar (AZ, S. 46–63). Vorzugsweise am Ende einer Zivilisation bleibt es „einigen auserwählten Verstoßenen vorbehalten“ (AZ, S. 46),
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sich zum Zweifel zu erheben, nachdem der Mythos, „daß die Welt oder unsere Begriffe einen Wahrheitskern enthalten“ (AZ, S. 48), brüchig geworden ist. Der skeptische Zweifel, der hereinbricht „wie ein Schicksalsschlag“ (AZ, S. 50), richtet sich sowohl gegen Bejahung als auch gegen Verneinung, die ja nur „ein aggressiver, ein unreiner Zweifel ist, eine umgekehrte Dogmatik“ (AZ, S. 52). Denn selbst die Verneinung muss im Namen einer Sache auftreten, die außerhalb der Verneinung besteht; der Zweifel dagegen beruft sich auf nichts, was über ihn hinausginge, er schöpft ausschließlich aus eigenen Konflikten, aus diesem Krieg, den die Vernunft sich selbst erklärt, wenn sie ihrer selbst überdrüssig wird, ihre Grundlagen angreift und umstürzt, um endlich frei zu sein und sich nicht mehr lächerlich vorzukommen, weil sie irgendetwas behaupten oder leugnen muß. (AZ, S. 49)
Die qualvolle Ungewissheit des konsequenten Skeptikers zeichnet sich ab: „[W]er leugnet, weiß, was er will; wer zweifelt, wird es am Ende nicht mehr wissen“ (AZ, S. 65). Diese Unentschiedenheit im Namen der „Entfaszination“ erweist sich allerdings auf Dauer als mit dem Leben unverträglich, weil dadurch jeder Handlung die Grundlage entzogen wird. „Das sicherste Mittel, sich nicht zu täuschen: eine Gewißheit nach der anderen zu unterminieren. Dennoch bleibt, daß alles, was zählt, außerhalb des Zweifels getan wurde“ (NG, S. 16). Als Prototypen inkarnierter Vitalität und obstinat hellsichtiger Geistigkeit stehen sich Barbar und Skeptiker meist in ungleichem Kräfteverhältnis gegenüber. Jede Bejahung, im weiteren Sinn jeder Glaube, geht aus einem barbarischen Urgrund hervor, den die Mehrzahl, ja, den beinahe die Gesamtheit der Menschen sich zu ihrem Glück bewahrt haben; nur allein der Skeptiker […] hat ihn verloren oder erledigt, so gründlich, daß er nur noch vage Überreste davon zurückbehielt, die zu schwach sind um sein Verhalten oder seine Gedankengänge zu beeinflussen. (AZ, S. 59)
Aus diesen beiden elementaren Potentialen entwickelt Cioran fast so etwas wie eine Verfallstheorie der Zivilisation: Die Tugenden der Barbaren bestehen genau in der Kraft, Partei zu ergreifen, Kraft, eindeutig zu bejahen oder zu verneinen, darum werden sie in Spätzeiten immer verherrlicht werden. Das Heimweh nach der Barbarei ist das letzte Wort einer jeden Zivilisation. Eben deshalb ist es auch das letzte Wort des Skeptizismus. (AZ, S. 62)
Cioran sieht sich selbst als „Skeptiker vom Dienst einer untergehenden Welt“ (ZF, S. 20), der sich vehement „gegen jede Integration des Skeptizismus, die den Zweifel als Durchgangsstufe sieht“ (Hell 1985, S. 32), verwehrt. Als Zweifler par excellence bleibt er stets „innerhalb der Ratlosigkeit“ (NG, S. 125) und kennt nur das kurzweilige Vergnügen, „eine Idee ins Visier zu nehmen, auf sie loszu-
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schießen, sie zur Strecke zu bringen“ (DV, S. 120), ohne der Dekonstruktion mehr als die Lust des Verzichts auf jegliche Gewissheit entgegenhalten zu können. Treffend nannte Fernando Savater den „Taumel beim Attackieren des Anerkannten […] eine der höchsten Wonnen, über die die Hoffnungslosigkeit verfügt“ (Savater 1985, S. 21). Ciorans Skepsis ringt um größtmögliche Luzidität3, um ein Höchstmaß an Klarsichtigkeit, das den Täuschungen zu entkommen und zur völligen Ernüchterung zu gelangen imstande ist – „ein ständiges Martyrium, eine unvorstellbare Kraftprobe“ (ZF, S. 38). Freilich weiß er auch um die Unmöglichkeit, „ohne jede Hoffnung zu leben. Irgendeine bewahrt man stets, ohne es zu wissen, und diese unbewußte Hoffnung ersetzt alle andern ausgedrückten, die man verworfen oder erschöpft hat“ (NG, S. 46). Da „die Natur uns für uns selber opak gemacht“ hat, um uns über „den illusorischen Charakter, die Nichtigkeit jedes Tuns“ (GU, S. 71) hinwegzutäuschen, wird auch Cioran zwischen den Augenblicken der Luzidität immer wieder zu einem Komplizen des Lebens wider Willen. Die uneingeschränkte Klarsicht läßt sich nicht mit dem Atem vereinbaren. Wäre man sich jeden Augenblick dessen, was man weiß, ganz bewußt, würde man z. B. das Fehlen eines sinngebenden Grundes ständig und intensiv erfahren, so wäre der Lebensvollzug schlechthin unerträglich. Man würde sich entweder das Leben nehmen oder in den Irrsinn stürzen. Wir existieren nur dank der Augenblicke, in denen wir die Wahrheiten, die wir erkannt haben, wieder vergessen. (W, S. 334)
In Dasein als Versuchung hat Cioran sogar all das als „religiös“ bestimmt, „was uns davor schützt, zusammenzubrechen“ und das Existieren einem „Glaubensakt gleich[gesetzt], einem Protest gegen die Wahrheit“ (DV, S. 254 f.). Cornelius Hell vermochte überzeugend darzulegen, dass „Skepsis und Mystik […] bei Cioran […] nicht nur Widersprüche [sind], sondern wie zwei Brennpunkte einer Ellipse auf einander bezogen“ (Hell 2005, S. 586). Freilich handelt es sich bei ihm um eine gottlose, ja religionsfreie Mystik; über die Erfahrung abgrundtiefer Leere hinaus verbindet Cioran einzig die Distanz zur Welt mit den mystischen Traditionen: „Was mich an den Mystikern anzieht, ist nicht ihre Gottesliebe, sondern ihr Abscheu vor dem Irdischen, deswegen verzeihe ich ihnen alle Seligkeitsseufzer, die sie so freizügig vergeuden“ (C, S. 159). Konsequent stellt Cioran der Diagnose der Daseinsunverträglichkeit der Erkenntnis nichts anderes – etwa Leben, Natur, Wille, Existenz – entgegen. Vielmehr bleibt er skeptisch nicht zuletzt auch gegenüber der Skepsis und kann wohl zu Recht von sich behaupten, „ich bewahre einen Grund von Skepsis, den nichts je
3 Fernando Savaters lesenswerter „Versuch“ verwendet den Begriff der „Luzidität“ als Schlüssel zum Denken Ciorans.
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beeinträchtigen kann und zu dem ich nach jeder meiner Begeisterungen zurückkehre“ (VS, S. 112). Die leidvolle Erfahrung chronischer Schlaflosigkeit seit seinem siebzehnten Lebensjahr ist der Schlüssel zu dieser Grundstimmung des Unbehagens, denn „keine Idee kann Trost sein im Dunkel, kein System hält den durchwachten Nächten stand. Unter der Analyse der Schlaflosigkeit fallen die Gewißheiten auseinander“ (LZ, S. 205). Das existentiell zermürbende Erlebnis der „nuits blanches“ erhebt Cioran „zur Kardinalmetapher, zum allgemeingültigen Symbol für das tragische Leiden […] des menschlichen Bewußtseins“ (Reschika 1995, S. 22). Cioran zufolge ergreift nämlich das Licht dieser ‚weißen‘ Nächte Besitz vom gesamten Leben des zum Wachsein Verdammten: „[N]icht ungestraft blickt man in die Finsternis, nicht ungefährdet geht man bei ihr in die Lehre; es gibt Augen, die nichts mehr zu lernen vermögen von der Sonne, und Seelen, die krank sind von Nächten, von denen sie niemals genesen werden …“ (LZ, S. 206). Ja, so paradox es klingen mag, die Insomnie wirkt in gewissem Sinn sogar stimulierend auf Cioran, und die „Einsamkeit der schlaflosen Nächte wird zur Basis und zum Agens seines Philosophierens und Schreibens“ (Reschika 1995, S. 21).4 Ciorans Demolierung der Gewissheiten, seine Radikalisierung der Negation aller Heilsverheißungen, die Unerbittlichkeit seines Zweifelns schöpfen aus der persönlichen Betroffenheit erlebter Zerrissenheit. Und dennoch geschieht diese bohrende In-Frage-Setzung und radikale Zerrüttung all der Sicherheitsfaktoren, die der Mensch im Bereich des Denkens, des Glaubens und des praktischen Lebens krampfhaft zu entdecken oder selber zu setzen sucht, […] nicht aus morbider Zerstörungslust, sondern aus intellektueller Redlichkeit und aus tiefer menschlicher Verantwortung. (von der Heyden-Rynsch 1980, S. 26)
Die Darstellung von Ciorans unbedingter Skepsis bliebe über Gebühr unvollständig, enthielte sie keinen Hinweis auf die Selbstmordthematik. Schon früh fasziniert Cioran „die Freiheit, Hand an uns zu legen“ (LZ, S. 48), und die Überzeugung, dass der Tod das „Solideste“ sei, „was das Leben bisher erfunden hat“ (G, S. 163), begleitet ihn ein Leben lang (vgl. ZF, S. 46). In zahlreichen literarischen Begegnungen mit dem Suizidgedanken (vgl. v. a. VS, 53–71) unternimmt er dessen Rehabilitierung angesichts seiner Jahrhunderte währenden Verdammung durch die Religionen. An die Stelle der Tat tritt allerdings der so beruhigende wie befreiende Effekt der Meditation ihrer Möglichkeit: „Ich lebe
4 Vgl. ZF, S. 13: „Man lernt mehr in einer schlaflosen Nacht als in einem Jahr guten Schlafs. Anders ausgedrückt: eine Tracht Prügel ist geistig unvergleichlich viel fruchtbarer als eine Siesta.“
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nur, weil es in meiner Macht steht zu sterben, wann es mir belieben wird: ohne die Idee des Selbstmordes hätte ich mich schon längst getötet“ (SB, S. 43). Die paradoxe Ambivalenz der ‚Obsession des Selbstmordes‘ macht nicht zuletzt die Strahlkraft von Ciorans Pessimismus aus. Kein Gedanke ist so zersetzend und zugleich so aufbauend wie der Todesgedanke. Zweifelsohne ist diese doppelte Eigenschaft der Grund, warum wir derart darüber nachgrübeln, daß wir nicht mehr davon loskommen. Welch ein Glück, im Inneren eines einzigen Momentes Gift und Arznei zu finden, eine Enthüllung, die uns tötet und lebendig macht, ein kräftigendes Gift! (ZF, S. 85)
Cioran unterscheidet auch sehr genau zwischen der theoretischen Option, die Wunde der Individuation durch die suizidale Befreiung vom Ich, von der Subjektivität zu schließen, und dem zwischenmenschlichen Umgang: Ich verbringe meine Zeit damit, den Selbstmord schriftlich zu empfehlen und mündlich von ihm abzuraten. Im ersteren Falle handelt es sich nämlich um eine philosophische Lösung; im letzteren um einen Menschen, um eine Stimme, um eine Klage … (G, S. 111)
Die Ablehnung des Selbstmordes in praxi ist letztlich auch deshalb keine Inkonsequenz, weil der wahre Skeptiker dazu wohl denkbar ungeeignet erscheint – denn „[s]ich umzubringen ist ein Glaubensakt“ (Savater 1985, S. 47). Cioran sieht die Widersprüche, die den Menschen formen und zu zerreißen drohen, und durchleuchtet sie bis in die dunkelsten Winkel, weil er sie selber erfährt und an sich austrägt. Verena von der Heyden-Rynsch resümiert die Summe der schillernden Paradoxien in der Person Ciorans und seinem Weltverständnis: Keiner formuliert so scharf und eingehend die Nutzlosigkeit des menschlichen Lebens, setzt sich aber praktisch so dafür ein wie er; keiner wird von Langeweile, Schlaflosigkeit und Überdruß so heimgesucht, interessiert sich aber so für die zermürbenden, alltäglichen Probleme der anderen; keiner entwirft so düstere Bilder der Zukunft, hat aber einen so tiefsinnigen Humor; und zuletzt: Keiner preist so das Nicht-Sein, den Selbstmord, verhilft aber anderen so zum Leben [sic!] wie er es durch seine Anwesenheit und durch seine Bücher tut. (von der Heyden-Rynsch 1980, S. 26)
Der freundliche Misanthrop Cioran beschäftigte sich letztlich nur mit zwei kardinalen Fragen: Wie man das Leben und wie man sich selbst ertragen kann. Schwierigere Aufgaben gibt es gar nicht. Und endgültige Antworten dazu fehlen. Jeder muß aber diese Probleme für sich wenigstens teilweise lösen.5
5 Georg Carpat-Focke, Im Zeitalter der Epigonen. „Ich zweifle, also bin ich.“ Ein Gespräch mit dem Philosophen Emil Cioran, in: Neuer Weg (10. und 17.04.1992), zit. nach: Mattheus (2007), S. 276.
Skeptische Athletik
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In der Musik fand der Lebenskünstler Cioran zeitweilig „[e]ine Welt ohne Zeit, ohne Schmerz, ohne Sünde […] Aus lichtdurchtränkten Heiterkeiten gewirkte, engelische Schwermut – Farbenspiel“ (BT, S. 92). Diese letzte Parallele zu Nietzsche erinnert nicht von ungefähr an dessen lebenserhaltenden „Olymp des Scheins“, wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe (Ruckenbauer 1997).
Bibliographie 1 Siglenverzeichnis: E. M. Cioran AZ: Der Absturz in die Zeit. Übers. von Kurt Leonhard. Stuttgart ²1980 (La chute dans le temps. Paris 1964). BT: Das Buch der Täuschungen. Übers. von Ferdinand Leopold. Frankfurt a. M. 1990 (Cartea amâgirilor. Bukarest 1936). C: Cahiers 1957–1972. Ausgew. und übers. von Verena von der Heyden-Rynsch. Frankfurt a. M. 2001 (Cahiers 1957–1972. Paris 1997). DV: Dasein als Versuchung. Übertragen von Kurt Leonhard. Stuttgart 1983 (La tentation d’exister. Paris 1956). G: Gevierteilt. Übers. von Bernd Mattheus. Frankfurt a. M. 1991 (Écartèlement. Paris 1979). GU: Geschichte und Utopie. Übers. von Kurt Leonhard. Stuttgart ²1979 (Histoire et utopie. Paris 1960). LZ: Lehre vom Zerfall. Übertragen von Paul Celan. Stuttgart ²1979 (Précis de décomposition. Paris 1949). NG: Vom Nachteil geboren zu sein. Übers. von François Bondy. Frankfurt a. M. 1979 (De l’inconvénient d’être né. Paris 1973). SB: Syllogismen der Bitterkeit. Übers. von Kurt Leonhard. Frankfurt a. M. 1995 (Syllogismes de l’amertume. Paris 1952). VS: Die verfehlte Schöpfung. Übers. von François Bondy u. Elmar Tophoven. Frankfurt a. M. 1979 (Le mauvais démiurge. Paris 1969). W: „Beim Wiederlesen der Lehre vom Zerfall“. Übers. von Verena von der Heyden-Rynsch. In: Akzente 26 (1979), S. 332–337. WK: Widersprüchliche Konturen. Literarische Porträts. Hrsg., übers. u. mit einem Nachw. von Verena von der Heyden-Rynsch. Frankfurt a. M. 1986 (Exercices d’admiration. Essais et portraits. Paris 1985). ZF: Der zersplitterte Fluch. Aphorismen. Übers. von Verena von der Heyden-Rynsch. Frankfurt a. M. 1987 (Aveux et anathèmes. Paris 1987).
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Hans-Walter Ruckenbauer
2 Literatur Bollon, Patrice (2006): Cioran, der Ketzer. Frankfurt a. M. Guth, Rupert (1990): Die Philosophie der einmaligen Augenblicke. Überlegungen zu E. M. Cioran (Epistemata Reihe Philosophie 72). Würzburg. Hell, Cornelius (1985): Skepsis, Mystik und Dualismus. Eine Einführung in das Werk E. M. Ciorans (Studien zur franz. Phil. d. 20. Jh. 11). Bonn. Hell, Cornelius (2005): „‚In eine nichtsakrale Tollheit stürzen‘. E. M. Ciorans Nähe und Distanz zur Mystik“. In: Mariano Delgado/Gotthard Fuchs (Hrsg.): Die Kirchenkritik der Mystiker. Prophetie aus Gotteserfahrung. Band 3: Von der Aufklärung bis zur Gegenwart (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 4). Stuttgart, S. 579–590. von der Heyden-Rynsch, Verena (1980): „Der Mensch: ein Rechenfehler der Natur. Wiederentdeckt: der Dichter und Theoretiker E. M. Cioran“. In: Die Zeit vom 18. Januar 1980. Hieber, Jochen (1983): „Nein zum Leben. E. M. Cioran – der radikale Zweifler unter den zeitgenössischen Denkern“. In: Die Zeit vom 8. April 1983. Kampits, Peter (1986): „Cioran“. In: Literatur und Kritik 21, S. 254–272. Mattheus, Bernd (2007): Cioran. Portrait eines radikalen Skeptikers. Berlin. Peters, Olaf (2008): „‚Staubdämonen‘. Alfred Kubin zwischen Wiener Moderne und Konservativer Revolution“. In: Annegret Hoberg (Hrsg.): Alfred Kubin. München, S. 107–121. Reschika, Richard (1995): E. M. Cioran zur Einführung (Zur Einführung 106). Hamburg. Ruckenbauer, Hans-Walter (1997): „Kann Kunst den ‚Tragisch-Erkennenden‘ erlösen? Blicke auf Emile M. Ciorans Geborgenheit im Nihilismus“. In: Gerhard Larcher (Hrsg.): Gott – Bild. Gebrochen durch die Moderne? Graz, S. 300–318. Savater, Fernando (1985): Versuch über Cioran. München. Sloterdijk, Peter (2001): Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger. Frankfurt a. M. Sloterdijk, Peter (2009): Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt a. M. Sontag, Susan (1990): Im Zeichen des Saturn. Essays. Frankfurt a. M. Zelle, Carsten (1995): Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart.
Carsten Schmieder
Die Differenz als kulturelle: Gilles Deleuze und seine Nietzsche-Lektüren In der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts vor Christus verfasste der römische Dichter Horaz folgende Zeilen: […] Graecia capta ferum victorem cepit et artis / intulit agresti Latio. … (Hor. ep. 2,1, v. 156-157) Das besiegte Griechenland besiegte den rohen Sieger und brachte die Künste / ins bäuerische Latium …
Was hier schlicht auf Sprachlich-Ästhetisches sich bezieht und lediglich Versmaße meint, verweist auf Kriege, die jenen Kulturimport initiierten und das bewerkstelligten, was nachmals als europäische Kulturgeschichte dem Kontinent das einbrachte, wovon er heute noch zehrt. So kam nach dem ersten Punischen Krieg das Theater nach Rom, nach dem dritten Punischen Krieg und dem Fall Korinths die korinthischen Kapitelle und schließlich 86 v. Chr. unter Sulla fiel Athen und damit die Akademie. Was später dann als artes liberales firmierte, begann somit seinen Weg durch Europa und die um einiges späteren akademischen Wissensinstitutionen. Ohne diese Ereignisse keine Magistri Artium, keine Philologen, keine Universitäten und keinen Professor Nietzsche in Basel. Dieser, nicht allzu lange nach seiner Berufung im Jahr 1868, meldet sich zum Sanitätsdienst – die Waffe untersagt ihm sein Professorenstatus in der Schweiz – im deutsch-französischen Krieg, wo er von Ende August bis lediglich Anfang September hinter den Linien sich aufhält. Später, im Rückblick, kulminieren Nietzsches Erlebnisse in Hinsicht auf diesen Krieg von 1870/71 in jener Analogie zur Horaz-Stelle, das kulturell überlegene Frankreich – die „elegantere Hälfte der Welt“ (UB III, KSA 1, S. 390) – sei vom kulturell unterentwickelten, jedoch militärisch stärkeren Deutschland – was heißen will: Preußen – besiegt worden. Diesem sei nun angelegen, „bei dem Besiegten etwas Kultur zu lernen“ (UB III, KSA 1, S. 390).1 Über zwei Weltkriege später, zu Beginn der 1960er Jahre, unternimmt ein französischer Philosoph, das Werk Nietzsches seinen Lektüren zu unterziehen. Gilles Deleuze, Mitarbeiter am CNRS, rückt dabei ins Zentrum seiner Arbeit 1 Vgl. auch UB I, KSA 1, S. 159–161: Deutschland als Großmacht, Frankreich als Kulturmacht.
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einen Text, der unter dem Titel Der Wille zur Macht – Versuch der Umwertung aller Werte wohl zuerst im Jahr 1899 bei C. G. Naumann in Leipzig im Band 8 einer Werkausgabe erschien.2 Weitere Ausgaben folgten in den Jahren 19013 bis 19284, ab 1911 auch im Kröner-Verlag. Hierbei handelt es sich um eine Kompilation nachgelassener Fragmente, die von Köselitz alias Peter Gast und Nietzsches Schwester – diese als Spiritus rector – zu jenem Band versammelt wurden.5 1903 und unter dem Titel La volonté de puissance erscheint diese Kompilation erstmals in Frankreich beim Verlag Mercure de France.6 Übersetzer und Herausgeber Henri Albert scheint – so läßt die Angabe nach dem übersetzten Vorwort vermuten – für seine zwei Bände die Naumannsche Ausgabe von 19017 zu Grunde gelegt zu haben. 1935 von Friedrich Würzbach bei Gallimard herausgegeben, erscheint La volonté de puissance erneut in Frankreich, und bereits 1942, nunmehr unter deutscher Besatzung, von diesem Werk im selben Verlag die 12. Auflage.8 (1940 wurde es übrigens der deutsche Ausgangstext unter dem Titel Das Vermächtnis
2 Staatsbibliothek Berlin, Signatur Ni 2480/4–8: Diese Ausgabe hat ein anonymes Vorwort ohne Datum; weiterhin Staatsbibliothek Berlin, Signatur Ni 2480/4–8 1901, Bd. 15 (siehe Anm. 4); zweite, völlig neugestaltete Auflage 1906, Bd. 9 u. 10 (Staatsbibliothek Berlin, Signatur Ni 2481–9 u. −10 mit insgesamt 1067 Aphorismen und einer Einleitung E. Förster-Nietzsches vom August 1906). 3 F. Nietzsche (1901): Staatsbibliothek Berlin, Signatur Ni 2480/4–15; enthält 483 Aphorismen – s. F. Nietzsche (1901), S. 489 f. – sowie ein Vorwort von Elisbeth Förster-Nietzsche vom Oktober 1901). 4 F. Nietzsche (1928) [Dünndruck-Ausgabe], Umfang: XXVIII/704 Seiten (11911 bei Kröner; Berliner Staatsbibliothek, Signatur Ni2480 2a-15); weitere Ausgaben: z.B. Stuttgart 1921 (neu ausgewählt und geordnet von Max Brahn: 696 Aphorismen; Staatsbibliothek Berlin, Signatur Nm 23770/5). 5 Zur Überlieferung von Nietzsches Werk allgemein siehe M. Montinari, Vorwort, in: KSA 14, S. 7–17, zu den nachgelassenen Fragmenten insbesondere S. 9–14; speziell zur Entstehung des Willens zur Macht siehe M. Montinari, Vorwort, in: KSA 14, S. 383–400; zur Vorgehensweise der Kompilatoren siehe insbesondere M. Montinari, Vorwort, in: KSA 14, S. 392 f. und S. 9 f.; dort übrigens weitere Literatur zum Problem. 6 F. Nietzsche (1903): Société du Mercure de France, mit einem Vorwort von E. Förster-Nietzsche vom Oktober 1901, S. 7–20); Nachdruck z.B. 1991 (Librairie générale française): Marc Sautet (1947-1998), wissenschaftlicher Herausgeber (= index établi par M.S.); Herzogin Anna Amalie Bibliothek Weimar, Signatur C 8072:1. 7 siehe Anm. 4. 8 F. Nietzsche (1942), S. 12, éd. (texte établi par Friedrich Würzbach et trad. par Geneviève Bianquis); Neu- bzw. Nachauflagen bei Gallimard (z.B. 1995); enthält jene 2.397 angeblichen Aphorismen.
Die Differenz als kulturelle: Gilles Deleuze und seine Nietzsche-Lektüren
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des Friedrich Nietzsche verlegt9). Diese bei Gallimard erschienene Ausgabe, die – so die laxe Angabe – auf eine Kröner-Ausgabe zurückgeht10, enthält in zwei Bänden knapp 2.400 – exakt 2.397 – angebliche Aphorismen. Solche Angabe bereits müsste verwundern und verweist auf einen fundamentalen Unterschied zwischen Nietzsche und Deleuze: Philologie und ihr Zweig der Textkritik als Grundlage allen Arbeitens mit Texten, wohl nicht zu unrecht als Leistung deutscher Wissenschaft geziehen und worin Nietzsche zu Hause war, müsste aller Philosophie vorzeitig sein, insbesondere solcher, wie sie bisweilen in Frankreich als ‚Spiel der Signifikanten‘ betrieben wurde bzw. noch wird. Denn eben jenes – und nicht nur – hatte Nietzsche zudem auch seinen philologischen Kollegen voraus: Er ahnte auf Grund seines philologischen Feingefühls wie sublimer Analyse, quasi mit Sicherheit eines untrüglichen Instinkts, dass für jenes certamen Homeri et Hesiodi Alkidamas der Urheber gewesen sein musste11, wie Papyrusfunde später bestätigten (Ugolini 2000, S. 160). Doch nicht allein bezüglich solch zweifelhafter Textgrundlage, auch und gerade bei deren Lektüre wird ein weiterer blinder Fleck bei Deleuze sichtbar. Bezüglich der volonté de puissance und unter Berücksichtigung de l’origine de ce vouloir (Deleuze 2010, S. 109) kommt er zur Frage „Qui?“ (Deleuze 2010, S. 56), was heißen will „Qui le veut?“. Eine Seite weiter heißt es dann daher explizierend „La force est ce qui peut, la volonté est ce qui veut“ (Deleuze 2010, S. 57). Dies jedoch wiederum impliziert die Frage nach dem Subjekt eines solchen Willens. Doch Deleuze bevorzugt es, diesen Willen als Prinzip12 zu begreifen, das ohne Subjekt will. Welcher auch immer der Grund dafür, gleichfalls unerfragt bleibt, wer denn schreibendes Subjekt, i.e. Autor seines Textes sei, den er unter der Sigle VP zitiert. Selbst welche der beiden genannten französischen Ausgaben dahinter sich verbirgt, bleibt in der Ausgabe von Presse Universitaire de France, kurz PUF, ebenso ungesagt. Selbst ein Vor- bzw. Nachwort – kritisch oder nicht – fehlt in dieser Ausgabe. Jene beiden französischen Ausgaben, problemlos in Frankreichs Bibliotheken zugänglich, werden noch heute, trotz Unzulänglichkeit, nachgedruckt sowie qua Buchhandel divulgiert. Ein Abgleich von Deleuze’s Zitaten mit bei-
9 Das Vermächtnis Friedrich Nietzsches (Aus dem Nachlaß und nach den Intentionen F. Nietzsches geordnet von Friedrich Würzbach), Salzburg, Leipzig 1940, Pustet[-Verlag] (Staatsbibliothek Berlin, Signatur 12983). 10 „… Les références en parenthèses renvoient à l‘édition Kröner. Nous n’avons pas signalisé les cas nombreux où nous n’avons traduit qu’une partie de l’alinéa ou du fragment“ (Würzbach 1942, S. 31). 11 Nietzsche 1870 sowie 1873. 12 „[…] l‘éternel retour est la synthèse dont la volonté de puissance est le principe“ (Deleuze 2010, 56).
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den erwies, sie stammen aus jener, von der es heißt: texte établi par Friedrich Wurzbach.13 Ist bereits Würzbachs Kreativität in Bezug auf sein Material wie dessen Anordnung mehr als erstaunlich und einer eigenen Untersuchung würdig, findet sich über jenen auf den Internetseiten der Uni Tübingen ein Dokument14 von Dr. Gerd Simon, seines Zeichens akademischer Oberrat an der Universität Tübingen, seit 2002 im Ruhestand. Die dortige Chronologie vermerkt unter dem Jahr 1934: „Friedrich Würzbach = Leiter der Vortragsabt. im Bayrischen Rundfunk.“ (Davor findet sich der Titel eines Aufsatzes Die Wiedergeburt des Geistes aus dem Blute …) Ein Jahr später dann: „Leiter der Abt. Weltanschauung im Reichssender München.“ Jedenfalls hatte dieser „jüd. Mischling I. Grades“, wie es in Simons Dokument heißt, als Abteilungsleiter beim Rundfunk und selbst als Vorsitzender der Nietzsche-Gesellschaft in München einige Probleme seiner Abstammung wegen mit den Nazis bekommen und wurde 1940 entlassen – trotz seines ‚arischen‘ Denkens. Würzbach nahm das nicht so hin … Doch dies wäre eine andere Geschichte. Wusste Deleuze, der die Würzbach-Ausgabe benutzte, nun um jene Sachverhalte oder nicht, die volonté de puissance wurde zu einem seiner zentralen Begriffe, der sein gesamtes Buch Nietzsche et la philosophie durchzieht. In Ermangelung einer kritischen Ausgabe der Nachlassfragmente, die erst später entstand15, und innerhalb dieser für den Willen zur Macht, wie ihn Mazzino Montinari in „Nietzsches Nachlaß 1885–1888 und der »Wille zur Macht«“16 herausstellt, ist einerseits Deleuze solcher Fehlgriff nicht vorzuwerfen, andererseits allerdings, dass er nicht Henri Alberts Übersetzung als das kleinere Übel heranzog. Zudem auch, dass er kaum Nietzsche selbst im Text aufsucht, als vielmehr dessen Willen zur Macht seinen französischen Auffassungen amalgamiert, wie sie ihm sein Verständnis des deutschen Philosophen, der ursprünglich Philologe war, aufnötige. Diese Perspektivität, wie sie die Kulturen als Differenz zwischen bzw. gegen sich konstituieren, wird allerdings in Deleuze’s Lektüren nicht eingerechnet, obgleich er das kulturelle Moment als violence,
13 Um zwei Beispiele zu nennen: Das wörtliche Zitat bei Deleuze 2010, S. 198, Anm. 1 („Ayant …“) mit der Sigle VP, I, 22 ist in der Mercure de France-Ausgabe von Henri Albert unter I, 22, S. 65, nicht zu finden, jedoch in Würzbach 1942, Bd. I, 35. Zudem beginnt Würzbach seine Zählung in jedem Buch neu (vgl. z.B. Deleuze 2010, S. 211, Anm. 2: VP, II, S. 8), was bei Alberts Ausgabe nicht der Fall ist, so dass besagter Aphorismus 8 im Buch II die Nr. 94 trägt und sich von S. 140–143 des Bd. I erstreckt, bei Würzbach allein auf S. 221 des Bd. I zu finden ist. 14 http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/ChrWuerzbach2.pdf (Stand: 12.10.2010). 15 Der erste Band mit kritisch edierten Nachlassfragmenten erscheint 1973 bei W. de Gruyter (KGW, Abteilung III, Bd. 2, Berlin, New York); weitere dann 1978, 1995 usw. 16 Leicht veränderte Fassung: KSA 14, S. 383–400 (siehe Anm. 6).
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die dem Denken widerfährt, festhält (vgl. Deleuze 2010, S. 124). Somit stellt Kultur wie der Begriff von ihr sich weniger gegen die Methode17, als vielmehr gerade Kultur es ist, die die Methode erzwingt wie in eins damit den Begriff ihrer selbst, ohne, obwohl vom Denken als Zwang bzw. Determinierendes verzeichnet, eine Differenz zwischen den Kulturen zu reflektieren. Denn auch wenn Deleuze die eigene Kultur auf Grund seiner Idiosynkrasie denunziert als Zustand d’abaisser la penser (Deleuze 2010, S. 125), so vermag er dennoch nicht herauszutreten aus diesem Horizont und in Nietzsches geo-kulturelles Universum, das zunächst und vor allem ein kulturphilosophisches ist. Doch wenn auch Multiplizität von Sinn und Interpretation explizit eingeräumt wird (Deleuze 2010, S. 38) – zumindest von Mallarmé, wie Deleuze ihn an dieser Stelle vorschiebt –, besteht er auf „l’unité du livre ou du texte incorruptible comme la loi …“ (Deleuze 2010, S. 38). Kritische Wissenschaft ist etwas anderes. Deleuze’s hermeneutische Anstrengung – definitorisch daherkommend – in Bezug darauf, was bei Nietzsche als „Willen“ figuriere, formuliert folgendes als Resultat: „Le concept de force est donc, chez Nietzsche, celui d’une force qui se rapporte à une autre force: sous cet e[a?]spect, la force s’appelle une volonté. La volonté (volonté de puissance) est l‘élément différentiel de la force. Il en résulte une nouvelle conception de la philosophie de la volonté; car la volonté … s’exerce sur une autre volonté“ (Deleuze 2010, S. 9). Als ‚Beweis‘ hierfür hält eine Stelle aus Jenseits von Gut und Böse (JGB, KSA 5, S. 54–55)18 her, gemäß der ein Wille nur auf einen Willen wirken könne, nicht auf Materie. Nur dieses Agieren eines Willens auf einen anderen könne festgestellt werden, und zwar dort, wo Wirkungen sich einstellen. Schlussfolgerung ist, dass der Wert einer Sache in der Hierarchie der Kräfte besteht, die in bzw. an dieser Sache zum Ausdruck kommen. Was so bei Deleuze vorgeblich physikalischmechanistisch daherkommt und mit Kraft/force benannt ist, die Wille sein soll, expliziert genannte Stelle bei Nietzsche biologistisch und genau anders herum: Begierden und Leidenschaften, was heißen will: „sämtliche organische Funktionen“ (u.a. „Ernährung, Ausscheidung, Stoffwechsel“: KSA 5, JGB, S. 55) werden als Wille gesetzt. Diese Prozesse, „eine Art Triebleben“ (JGB, KSA 5, S. 55), wirken lediglich aufeinander, und somit „Wille“ […] auf „Wille“, wobei Nietzsches Gebrauch der Anführungszeichen für den Willensbegriff überdeutlich die Übertragung der eigentlichen wie wörtlichen Bedeutung jenes Begriffs ins
17 „On ne comprendra ce concept de culture que si l’on saisit toutes les manières dont il s’oppose à la méthode“ (Deleuze 2010, S. 123). 18 Paradox genug, dass Deleuze’s Begriffsherleitung gerade nicht auf das Material des „Willens zur Macht“ sich gründet.
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Biologische signalisiert. Die Anerkennung der Wirkungen eines solchen ‚Willens‘ – auch hier uneigentlich gebraucht – wie die Annahme, darin werde „eine Kraft … thätig“ (JGB, KSA 5, S. 55), fungiert als perspektivische Umkehr, die eine Kraft dem so verstandenen Willen nachordnet und damit gleichfalls Physiologie eines Organismus meint, die wiederum dem eigentlichen Willen (d.h. ohne Anführungszeichen) in keiner Weise beeinflußbar ist. Deleuze’s metonymische Interpretation hingegen setzt force statt Individuum, oder schlicht: Mensch – ‚Subjekt‘ denunziert er mit Nietzsche als „fiction ou fonction grammaticale“ (Deleuze 2010, S. 141) –, das bzw. der gesellschaftlich-hierarchisch zueinander in Beziehung sich setzt, ohne eben sich gegenseitig zu subtrahieren bzw. addieren (vgl. Deleuze 2010, S. 9), wie es bei Kräften möglich ist. Nur deshalb erscheint bei Deleuze Hierarchie untrennbar von Genealogie (vgl. Deleuze 2010, S. 8–9), wobei Herkommen festlegt, was force dominante, was force dominée sei (Deleuze 2010, S. 8), und nur daher „c’est avec d’autre force que la force entre en relation. C’est avec une autre sorte de vie que la vie entre en lutte“ (Deleuze 2010, S. 9). Hierbei instrumentalisiert er Nietzsche, um gegen Hegel und dessen Rezeption en France (vgl. Reckermann 2003, S. 14, Anm. 36) ins Feld zu ziehen und Schopenhauers Ressentiment wider die Hegelei zu prolongieren wie auch ins eins damit jene forces ihre eigene Differenz zu anderen bejahen zu lassen.19 Reformuliert bedeutet dies, égalité unter Menschen sei ein grundlegender Irrtum: „Dans son rapport avec l’autre, la force qui se fait obéir ne nie pas l’autre ou ce qu’elle n’est pas, elle affirme sa propre différence et se jouit de cette différence“ (Deleuze 2010, S. 9). Solches, zugleich Herleitung des Begriffs Differenz, lässt bereits ahnen, wie zentral dieser für Deleuze werden wird. Derartiger Geistesaristokratismus wird auch seine Thèse d’État (= Habilitation) bestimmen, die, 1968 unter dem Titel Différence et répétition vorgelegt, jedoch den Differenzbegriff von Aristoteles und Porphyrios seinen Ausgang nehmen läßt (Deleuze 1968, S. 46–49; vgl. 49, Anm. 1). Diese différence, die bei Derrida als différance wiederkehren wird, die als Objekt des Willens gemäß Deleuzes Willen, wie er verschriftet ist, ihre Bejahung erfahren soll, wird es auch sein, die ewig wiederkehren und so als wiederkehrende Differenz Sinn und Wert jenes Nietzsche-Diktums stiften soll. Und hier schließt sich – schlicht gesprochen – der Kreis Deleuze’scher Terminologie: Diese Wiederkehr der Differenz soll vom Willen – ob zur Macht oder einem anderen, nimmt sich quasi nichts – gewollt werden als der Instanz, die hier als lediglich gedachte zum Entscheidungs-, das heißt Willenskriterium avanciert (Deleuze 2010, S. 217 u. passim).
19 Deleuze 2010, S. 10: „Ce que veut une volonté, c’est affirmer sa différence.“
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Hieran wird ablesbar, was Deleuze eigentlich tut: Er versammelt Momente Nietzsches Denken, wie sie über dessen Werk – Aphorismen, Kurzprosa oder eben nachgelassene Fragmente – verteilt sind, bemüht, sie zum System zu fügen, indem nach Vorgabe systematischer Wissenschaft er nicht nur zwischen Philosophen geistesgeschichtliche – venia sit verbo – Kontinuität herstellt, sondern solche selbst Nietzsche als Denker zu- und unterschiebt. Dies mag seiner Ausbildung geschuldet sein, von der er schreibt, er habe als einer der letzten Generation jene systematische Ausbildung durchlaufen (Deleuze 1980, S. 22), wie sie in Frankreich im letzten Jahrhundert an den Universitäten und Grandes Écoles exerziert wurde. Dass er nicht hinreichend dieser Formierung sich erwehren vermochte, es hier aber mittels Nietzsche nachholt, darf wohl einer nicht ausreichend vorhandenen oder retardierten – wie Gumprecht es kürzlich nannte – ‚ödipalen Energie‘ anzulasten sein. (Daher wohl auch – zusammen mit Félix Guattari – jenes Buch L’Anti-Œdipe). Wie es beim Nietzscheleser Deleuze und seinen Lektüren dazu kommen konnte, mag der französischen Wissenskultur anzulasten sein, die jenen blinden Fleck generierte. Denn das, was Nietzsche unter Genealogie – womit Deleuze sein erstes Kapitel überschrieb – denkt, versäumt dieser sich selbst wie seinem Denken zu applizieren und nach dessen Herkunft wie Genese zu fragen. Und nicht nur dabei übersieht er die Differenz – grundlegender wie sonst nichts –, wie sie als kulturelle Denken affiziert und als Missverständnis wortwörtlich sich ausschreibt. Reflektiert dies Nietzsche – zum „Philosoph der Differenz“ (Reckermann 2003, S. 14) geschlagen – hinreichend in Bezug auf Frankreich, so sind solche Betrachtungen bei Deleuze verkürzt und gehen auf die eigene Kultur und das Unbehagen in ihr, zumal sein Denken eher Worte und Begriffe fokussiert als kulturelle Gegebenheiten, von denen sie herkommen und ihre Wirkung erhalten, die diese hinter jenen entfalten. Solches wiederum gedeiht auf einem Boden, der jener ist, worauf unter anderem der Logozentrismus – ein ur-französisches produit – sich entwickelte, heranwuchs und Blüten trieb. Dass aber die puissance des Wortes in Deutschland eine andere war und ist wie auch im Unterschied von schön reden und präzis denken sich deklariert, hat gerade Nietzsche als Philologe wie kein anderer gewusst. Deleuze hingegen, dessen Verdienste unbestrittenen woanders liegen, kann daher auch vouloir als créer (Deleuze 2010, S. 78) lesen und verstehen, somit Philosophie als créer des concepts benennen und betreiben, wie in Qu’est-ce que la philosophie (Deleuze, Guattari S. 1991) (ebenfalls mit F. Guattari) es expliziert als auch praktiziert wird. Ihm dies – jenseits aller deutsch-französischen Kleinlichkeit – vorzurechnen, mag vielleicht als unhöflich gelten, bedeutet jedoch nicht mehr, als ihm beim Philosophieren auf die Finger zu schauen: Gedankliche Genauigkeit ist intellektueller Rechtschaffenheit unabkömmlich, auch wenn das Resultat nicht unbedingt Freunde macht.
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Carsten Schmieder
Zusammengenommen bedeutet dies die Unmöglichkeit, Philosophie nach Nietzsche als systematische Wissenschaft zu betreiben, auch wenn der Versuch, es trotzdem zu tun, inzwischen wieder Tradition hat. Philosophie jedoch ist es unmöglich – trotz objektiven Anspruchs – vom sie treibenden Subjekt loszukommen. Dies wiederum heißt, dass, um Nietzsche gerecht zu werden, dessen genealogisches Denken als wissenstheoretisches Paradigma auf ihn wie sein Werk selbst anzuwenden ist. Für eine Kultur hingegen, die die égalité ihrer Subjekte nicht nur proklamiert, vielmehr zur Staatsdoktrin erhebt, kann dieses – selbst in der Philosophie – nur bedeuten, dass gerade jene égalité es ist, die den Begriff der Differenz generiert, ihn zwangsläufig aus sich gebiert. Solches Verhältnis als auf der Suche zu benennen nach einem, „in dem Egalität und Differenz keinen Widerspruch mehr bilden“ (Teschke 2008, S. 30), formuliert zwar ein philosophisches Eschaton, – nötiger denn je –, unterschlägt jedoch erneut dessen genealogisches Moment auf die gleiche Weise, wie eine Guillotine – Konstruktion eines Deutschen – einst égalité zur Herrschaft brachte. Nietzsche-Lesen, wie Deleuze es tat, verlängert somit die Niederlage von 1870/71 auf philosophisches Terrain (worin übrigens auch Foucault folgt, der, statt Nietzsches genealogischem Denken sich zu öffnen, diesem seine ‚Archäologie‘ entgegensetzte), indem er nach dem Sieg der Alliierten über Deutschland versäumt, von den Besiegten, wenn schon nicht Kultur, so doch Philosophie und Philosophieren zu lernen. Was aber diese drei – Nietzsche, Foucault, Deleuze – eint, ist ein nicht ganz untragischer Tod – auch ohne Krieg. Rede von posthumer Geburt allerdings würde hier letztendlich kulturelle Missverständnisse sowie deren Folgen meinen und somit Fehlgeburt im Diskursgefecht philosophischer Schlachtfelder eines sich pazifistisch gebenden Nachkriegseuropa sein, das sich selbst nicht kennt.
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Die Differenz als kulturelle: Gilles Deleuze und seine Nietzsche-Lektüren
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Vanessa Lemm
The Spectrality of Responsibility The Posthumous in Nietzsche, Sartre and Derrida Everyone is familiar with how Nietzsche wrestles with the paradox that his writings are intended to elicit world-changing effects and yet appeared to have scarcely any reception in his time. To think through this paradox Nietzsche develops the category of the posthumous; that is, how something that no longer exists can nonetheless continue to have effects in its absence. On this account it is the posthumous afterlife of one’s vision of the future that has the greatest effect on the present: Posthumous human beings – like me, for instance – are not so well understood as timely ones, but they are listened to better. More precisely: we are never understood – and hence our authority … (GD, KSA 6, p. 61)1
Nietzsche thought that his responsibility as a writer lies with realizing the promise held by the self-overcoming of the human being. In the following, I will argue that this responsibility and promise cannot be thought apart from the category of the posthumous. To illustrate this point, I will draw on a comparison between the idea of the posthumous in Nietzsche and the idea of the signature in Derrida as well as that of the committed literature (littérature engagée) in Sartre.2 Whereas normally we say that a promise is a pledge to maintain something which is present unaltered in a future time, Nietzsche’s idea of the sovereign promise must be thought of as a counter-promise: one begins from the future that one wants, and then one asks what does the present have to become such that it will be the past of that envisioned future. In Nietzsche’s idea of the promise, the present has to be altered such that it becomes that “past”, what will have been in a future. In other words, the promise calls for giving oneself a posteriori a past from which one would have liked to derive. The promise alters the present because the return of the anticipated future opens a disjunction, an interruption within the present: the present returns to itself from the future it anticipates, a future which cannot be lived in the present and which therefore can only be experienced posthumously. The posthumous is the way in which this future, which does not exist, shapes and elicits effects in the
1 Friedrich Nietzsche (1968): Twilight of the Idols, translated by R. J. Hollingdale. London. 2 For an earlier version of this comparison, see Vanessa Lemm 2009.
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present. Nietzsche holds that “the significant human being gradually learns that insofar as he produces an effect he is a phantom in the heads of others” (Effect a phantom, not reality [Der Wirkende ein Phantom, keine Wirklichkeit], VM, KSA 2, p. 515). What impacts others is the human being’s becoming other (animal), as I argue elsewhere, or, in the terms of Derrida, her becoming a ghost, a specter. For a solitary person like Nietzsche, the knowledge that one’s posthumous afterlife, one’s life as a ghost in the head of others, offers a true consolation to the impossibility of affecting the present while being simultaneous to it: The hermit (Einsiedler) speaks again […] But there are other ways and tricks for “wandering amongst”, for “associating with”, people: for instance, as a ghost […] The latter is the trick of posthumous people par excellence. (“And what were you thinking?” one of them said impatiently; “Would we wish to endure this estrangement, coldness, and sepulchral silence enveloping us, the entire subterranean, hidden, mute, undiscovered loneliness that we call life but might as well be called death unless we knew what will become of us and that it is only after death that we come into our life and become alive – oh, very much alive, we posthumous ones!”). (FW, KSA 3, p. 613–14)3
Nietzsche’s vision of the future is that of the becoming overhuman of the human being. The promise of this becoming has its greatest impact (Wirkung) as a specter. Only if announced by a returning ghost, like Nietzsche himself, does the vision of the becoming overhuman of the human being have an effect. The overhuman and the promise of its (be)-coming does not describe a reality or a given, but is always only an anticipation of the future that spectralizes the present, shedding a critical light on the present, thereby furthering its overcoming in view of producing a “freer” future. The promise of the overhuman, Nietzsche’s vision of the future becoming of the human being, is effective only because it is virtual, “ein Wirken” (an effect), and not “eine Wirklichkeit” (a reality) (VM, KSA 2, p. 515). Concerning the posthumous, Deleuze distinguished between two kinds of promises in Nietzsche: One is the memory specific to the “man of resentment” i. e., a memory of the will that cannot forget, and the other is an active memory that is no longer a function of the past, but of the future. Deleuze identifies the latter kind of memory as a “memory of the future itself”, that is, a memory of something that never happened and sees this memory exemplified by the promise of the overhuman (Deleuze 1962, p. 131–133 and p. 153–155). This temporality of the promise in Nietzsche has strong affinities with the temporality of the signature in Derrida. The structure of the signature reflects the ambiva-
3 Friedrich Nietzsche (2001): The Gay Science, translated by J. Naukoff. Cambridge.
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lence between the performative and the constative aspects of the signature. In the constative aspect of signing, a present self promises to correspond to a stable “I” in the future. The signature here fixes and stabilizes the self for an indefinite period of time. Here, the signature is that trace which is the truth of the present self, what allows others to place their credit in the self. The signature is a form of memory that conserves the present and the presence of the self thereby stabilizing the self’s relationship to itself and to others. It implies all the risks of that monumentality which Nietzsche contests in his Untimely Considerations. However, the constative aspect of the signature does not itself have permanent value. The constative moment of the signature as a way of accumulating credit in the present, gains its true value only when it is expended in the realization of a promise coming from the future. This expenditure describes the performative aspect of the signature, the disruption of the fixed and stabilized “I” called for by the promised future. The signature then becomes that trace which designates the debt that the present self owes to its future becoming. In the performative aspect of signing, a posthumous self, a future self, is thus promising something to the present self, namely, that it will become the self that one is not yet. In this sense, the signature traces the ongoing struggle between the one who signs in the present and the one who signs posthumously. This struggle is entailed in Nietzsche’s idea of becoming who one is. The signature reflects a vision, a projected aim whose realization remains open, very much like Nietzsche’s vision (promise) of the becoming overhuman of the human being. In this sense, Derrida claims that the one who signs does not exist before the performance of signing. Whether she is able to become who she is depends on this performance. As such, the signature assigns to the one who signs a task, a responsibility that it cannot foresee, precisely because what is assigning this task is a future that was not determined from the present. Here it is the written which produces posthumously the writer, rather than the other way round. This is why for Nietzsche and Derrida (as well as for Sartre as well shall see), the writer can always only be a posthumous being. Whereas Derrida’s conception of the signature illuminates the different elements involved in Nietzsche’s idea of self-(over)-coming, Sartre’s idea of engaged literature shows how this relation of the self to itself has effects on other. Interestingly, throughout his work, Sartre thematizes the intimate connection he sees between the challenges of freedom as responsibility embodied in the writer who writes for her age and the posthumous afterlife. The posthumous afterlife of the promise in Nietzsche is comparable to the posthumous afterlife of the writer’s commitment to her age in Sartre. Sartre illustrates the
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posthumous effect of writing through the myth of the Marathon Messenger. (In parenthesis, Stefan Zweig had already compared Nietzsche as a writer with the figure of the Marathon Messenger before it was picked up by Sartre.) It was said that the courier of Marathon had died an hour before reaching Athens. He had died and was still running; he was running dead, announced the Greek victory dead. This is a fine myth; it shows that the dead still act for a little while as if they were living. For a little while, a year, ten years, perhaps fifty years; at any rate, a finite period; and then they are buried a second time. This is the measure we propose to the writer: as long as his books arouse anger, discomfort, shame, hatred, love, even if he is no more than a shade, he will live. Afterwards, the deluge. We stand for an ethics and art of the finite. (Sartre 1988, p. 245)
For Sartre, the myth of the Marathon Messenger is valuable because it illustrates the meaning of responsibility. When addressing the myth of the Marathon Messenger directly to the writer, Sartre does not seek to console her, like the “posthumous being” in Nietzsche’s imaginary dialogue (FW, KSA 3, p. 613). Instead, he wants to encourage the writer to take responsibility for her age. According to Sartre, to embrace this responsibility means to write for her age: “not to reflect it passively” but “to want to maintain it or to change it, thus to go beyond it towards the future” (Sartre 1988, p. 245). What is crucial in that the writer’s investment (engagement) of herself in the present age be understood as the bet or gamble (gage) of the future in the present. That is why this engagement for the future is also, in the case of the writer, always a going into the red, an exhausting of the reserves of credibility that she has accumulated in the present. Responsibility for Sartre, as for Nietzsche, is, above all, responsibility for the future as opposed to the present. The similarities between the two thinkers on this topic do not end here. The temporality of responsibility in Sartre is comparable to the temporality of the sovereign promise in Nietzsche. For both authors, responsibility concerns a return of the future to the present. In Sartre’s work, the future projection of the self is the “basis” to which one needs to “go back to” in order to interpret the meaning of the present (Sartre 1988, p. 243). For both authors, it is the (spectral) return of the future that gives meaning to the present. In other words, the present is meaningful only in light of its being a project, something which by definition will not render fruit in the present lifetime for the one who is engaged in it. This is why, according to Sartre, “one cannot be a human being or become a writer without tracing a horizon line beyond oneself” (Sartre 1988, p. 243). The human being, by virtue of projecting itself beyond its death, must be conceived of as the center of the unexpected and the unforeseeable in life, or, in Nietzschean terms, as the “miraculous” (UB III, KSA 1, p. 338).
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However, what is important in Sartre’s conception of responsibility is not simply that it is based on a projection into the future but that this projection into the future is not located in the present but overcomes it: the project must itself be something “promising”. Both in Sartre and in Nietzsche it is through the overcoming, the going beyond oneself (and one’s age), that one’s anticipation of the future becomes effective, that is, that it truly realizes the promise of the future. A promise of responsibility that does not consume itself in the overcoming of the present is like an empty promise that does not hold what it promises. It is a promise that does not carry future life. The overcoming of the present, the liberation of the present, further depends on a posthumous return of one’s projection into the future. Responsibility as the double movement of a projection into and a return from the future requires the self to become spectral. In Sartre’s terms, it requires a becoming other of the self (se faire autre, se deliverer). It is in the return of the other, the other that one has become in the investment of one’s self in one’s age, that one spectralizes the present and thereby effects its overcoming. The return of the becoming other of the self is illustrated by the running dead of the Marathon Messenger. The myth of the Marathon Messenger illustrates the idea that responsibility as a projection and an opening up of the future requires being ahead of, aside, and apart from one’s age. It requires, in Nietzschean terms, that one be “untimely”. The untimeliness of responsibility is yet another expression for responsibility as the becoming other (se faire autre) or spectral, the becoming of a ghost or shadow of the self. After all, only a posthumous being who returns from the future as a ghost anticipates that which cannot be anticipated. Derrida notes that if responsibility is understood as a relationship to the other as other, those to whom the “good news” is addressed have to be, in turn, spectral addressees (des destinataires aussi spectreux) or posthumous beings that are not yet alive, not yet born. The relationship between the writer and those to whom she addresses her message becomes a spectralized relationship among posthumous phantoms in a virtual space, where the one who is already dead speaks to those who are not yet born. Following Derrida, one could say that Nietzsche’s books are comparable to virtual spaces: they are written with the author’s awareness of their posthumous effect and are addressed to the readers of the future. According to Sartre, the posthumous return of the future is reflected in the death of the Marathon Messenger. The death of the messenger does not imply the absolute loss of the message, because the message is transmitted even after death. The message stays alive through the survival of the event to come, namely, the victory of Greece, the liberation of Athens. The returning dead, the radically other, becomes the mediator of freedom, the carrier of future life.
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The death of the Marathon Messenger expresses the idea that responsibility entails taking on risks, including the risk of death, which is the “gage (stake)” of the writers’ engagement, or what responsibility for their age costs them. For both Sartre and Nietzsche, risk-taking is indispensable because the human condition obliges us to choose in ignorance: “it is ignorance which makes morality possible” (Sartre 1988, p. 242). “If we gambled on a sure thing”, Sartre claims, “the risk would disappear; and with the risk, the courage, and the fear, the waiting, the final joy and the effort; we would be listless gods, but certainly not human beings” (Sartre 1988, p. 242). Responsibility cannot be attained through mastery and control over life and its becoming, but rather rests on an affirmation of human finitude as the site of greatness. The affirmation of human finitude is exemplified by the Marathon messengers crossing of an unknown space, a space that contains routes but no destinations. This enterprise requires perspicacity and the instinct of a blind person, as Derrida would say. Accordingly, the writer who adopts the “measure” of the Marathon Messenger’s courage must have qualities similar to those of Nietzsche’s spiritual nomad who willingly exposes her life and thought to the outside, to that which comes toward the self from another. The figure of the spiritual nomad in Nietzsche and that of the writer in Sartre resemble beings “without heads”. They are like André Masson’s Acéphale, guided entirely by their “guts”: “I love him who has a free spirit and a free heart: thus his head is only the entrails of his heart, but his heart drives him to go under” (Z, KSA 4, p. 18). Let me conclude by recapitulating the main ideas of this paper: First, the posthumous entails an engagement for the future that comes from a break with the present and its continuation into the future. The responsibility toward the future calls for a certain irresponsibility toward the present and the commitments it requires from us (mostly, commitments to maintain our personal and political stability). The nature of the disjunction with the present is captured, first, in Derrida’s idea of a struggle between the two senses of the signature. Thus, the signature of the posthumous writer – as a constative – is designed to capture the credibility of the present reader, while at the same time it – considered as a performative – this signature is a promise of another meaning or sense that cannot be properly understood by the present and for the present, and that therefore calls on the reader to make a bet on it, to risk its own stability and continuity in view of its future becoming. Second, the figure of the posthumous plays on an economic motif that is found throughout Nietzsche’s work, namely, the need to accumulate power or value during a certain amount of time for the sake of an enterprise which requires the expenditure of all reserves and whose returns are incalculable for the present, but also withhold the promise of being inexhaustible for the future. Third, the
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figure of the posthumous plays on a geo-philosophical terrain, namely, that of a spiritual nomadism which requires the crossing or transgression of known borders and boundaries, the art of self-experimentation and orientation which is open to receiving gifts from unknown places and beings.
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Jakob Dellinger
‚Sanitizing‘ Nietzsche? Bemerkungen zur Tendenz eines ‚naturalistischen‘ NietzscheBildes „[N]early everybody nowadays wants to be a ‚naturalist‘“ (Papineau 1993; vgl. Cox 1999, S. 5 ff.) lautet ein gern zitiertes Diktum David Papineaus, das sich praktisch ungebrochen auf weite Teile der angloamerikanischen Nietzscheforschung unserer Tage umlegen ließe.1 Auch Nietzsche soll nun – nachdem lange eher Bedenken hinsichtlich einer ‚naturalistischen‘ Verkürzung seines Denkens überwogen (vgl. z.B. Granier 1966, S. 210–211; Müller-Lauter 1974, S. 57; Abel 1984, S. 5) – ein ‚Naturalist‘ gewesen sein, wobei diese Etikettierung nicht selten mit einer Perhorreszierung des so genannten ‚postmodernen Nietzsche‘ und der mit ihm assoziierten Schreckgespenster von ‚Skeptizismus‘ und ‚Relativismus‘ einhergeht. Freilich: „Jeder, der sich ihm nähert, blickt fasziniert auf das, was seinem eigenen Denken oder Wunsch entgegenkommt; er löst wenige Teile aus dem Gesamten heraus und setzt sie zu seinem Nietzsche-Bild zusammen“ (Pütz 1967, S. 6). Doch die Vehemenz, mit der etwa Brian Leiter2 das ‚naturalistische‘ Nietzsche-Bild als korrektive Revision einer angeblich jahrzehntelang durch postmodernistischen Skeptizismus dominierten und derart grob fehlgeleiteten Forschungsgeschichte inszeniert, provoziert kritische Rückfragen. Wohlgemerkt ergibt sich, wenn ‚nearly everybody‘ sich und seinen Nietzsche als ‚naturalistic‘ versteht, zwangsläufig ein relativ diffuses Bedeutungsfeld. Will man den Erklärungswert des Begriffs ‚Naturalismus‘ jedoch nicht auf die sowohl in Bezug auf Nietzsche als auch in zeitgenössischen Debatten wenig kontroversielle Ablehnung ‚übernatürlicher‘ Erklärungsmuster reduzieren, bietet sich die methodische und inhaltliche Affinität zu den Naturwissenschaften als Definitionskriterium an.3 Leiter spricht mit Bezug auf Nietzsche von einem spekulativen methodischen Naturalismus, der etwa auf dem Gebiet der Psychologie durch genialische Spekulation spätere Einsichten der empirischen Wis1 Einer der wenigen Interpreten, die sich aktuell explizit gegen die Deutung Nietzsches als ‚Naturalist‘ wenden, ist Dirk Johnson (2010, S. 7–8), demzufolge sich Nietzsche in GM des ‚naturalistischen‘ Vokabulars seiner Zeit nur bediene, um den ‚Naturalismus‘ von innen her zu unterminieren. 2 Vgl. zum Folgenden: Leiter 2002, insbesondere S. 1–29. 3 Zur Problematik der Begriffsdefinition vgl. Gawlick 1984, S. 517 sowie Papineau 2010. Zur Kontroverse in Bezug auf Nietzsche siehe Janway 2007, S. 34–39 sowie Leiter 2012.
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senschaften antizipiert. Im Anschluss an Maudemarie Clark (siehe insbesondere Clark 1990) votiert er für eine dezidiert anti-radikale, von skeptischen Tendenzen befreite Lesart, derzufolge Nietzsche keineswegs bezweifle, dass die Naturwissenschaften über „objective knowledge of the truth“ (Leiter 2002, S. 22) verfügen. Ken Gemes und Christopher Janaway haben bereits die Frage aufgeworfen, ob es sich dabei nicht um eine Form von ‚sanitizing‘ – also eine Art bereinigender Entschärfung Nietzsches für ein angloamerikanisches Lesepublikum – handle, halten zugleich aber fest, dass Leiters Lektüren eine durchaus ernstzunehmende Herausforderung für all jene darstellen, denen ein derart entschärftes Nietzsche-Bild als grobes Missverständnis erscheint.4 Der folgende Beitrag will sich dieser Herausforderung an drei neuralgischen Punkten, nämlich den Problemkreisen von ‚Empirismus‘, ‚Wissenschaft‘ und ‚Wahrheit‘, stellen.5 Da der knappe Rahmen keine ausführliche Behandlung dieser ausufernden Themenkomplexe gestattet, erfolgt die Auseinandersetzung anhand von drei kurzen Textpassagen, auf die Leiter zur Stützung seiner Lesart verweist. Unbeachtet bleiben müssen dabei nahe liegende Kritikpunkte wie Clarks Entwicklungshypothese6, die Isolation deskriptiver und normativer Momente7, die Deutung des ‚homo natura‘ Motivs in JGB 2308 und 4 „[I]f Leiter’s version of Nietzsche’s naturalism is a sanitizing of Nietzsche for an AngloAmerican audience, it surpasses by leaps and bounds all other such attempts and brings an attention to the detail of Nietzsche’s texts that puts a clear onus on those who disagree with Leiter to articulate where that alleged shortfall lies“ (Gemes u. Janaway 2005, S. 739). 5 Wenn im Folgenden Facetten eines Gegenbildes zu Leiters ‚naturalistischer‘ Lektüre skizziert werden, handelt es sich der zitierten Diagnose Pützens entsprechend freilich gleichfalls um ein – durch den knappen Rahmen in verstärktem Maße – selektives ‚Bild‘. Ganz abgesehen von Fragen interpretativer Plausibilität kann allerdings festgehalten werden, dass eine Deutung Nietzsches, die auf seine Einsicht in die notwendige Perspektivität allen Verstehens fokussiert, immerhin den Vorteil genießt, ihre eigene ‚Bildhaftigkeit‘ als methodische Entsprechung reflektieren und sich allzu prätentiöse Beschwörungen eines ‚wahren Nietzsche‘ ersparen zu können. 6 Leiter folgt ausdrücklich Clarks breit kritisierter (vgl. z. B. Green 2002, S. 28–34) These, dass Nietzsche seine erkenntnisskeptische Grundhaltung spätestens mit GM aufgegeben hätte. 7 So unterscheidet Leiter 2012 einen ‚humeschen‘ Nietzsche, der sich streng der ‚naturalistischen‘ Wahrheit verpflichtet, und einen ‚therapeutischen‘ Nietzsche, der sich zum Zweck einer neuen Wertsetzung rhetorischer Stilmittel bedient. Wenn aber „die Werthschätzung ‚ich glaube, daß das und das so ist‘ als Wesen der ‚Wahrheit‘“ (NL, KSA 12, S. 352) gilt, scheint kein Raum mehr für eine Isolation von ‚Werth‘ und ‚Wahrheit‘ zu bleiben. Vgl. Gemes u. Janaway 2005, S. 739–740. 8 Wenn die ‚Natur‘, von der in JGB 230 die Rede ist, mit dem ‚Willen zur Macht‘ identifiziert werden kann (vgl. NL, KSA 12, S. 132), könnte darin auch ein wesentlich präskriptives Moment liegen, insofern Nietzsche ähnlich den Stoikern aus JGB 9 der ‚Natur‘ sein ‚Ideal‘
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nicht zuletzt Leiters fragwürdige Einstellung gegenüber der internationalen Forschung.9
Nietzsches ‚expliziter Empirismus‘ Leiter betont gegen die ‚skeptische Lesart‘, derzufolge Nietzsche die Möglichkeit objektiver Wahrheit und Erkenntnis in Frage stellt, seinen „explicit empiricism“ (Leiter 2002, S. 13). Als Empirist, so Leiter, erachte Nietzsche auf Sinneserfahrung basierende Erkenntnisansprüche als ‚epistemisch privilegiert‘, als mögliche Grundlage ‚objektiver Wahrheiten‘, bezüglich derer wir ‚objektive Erkenntnis‘ erlangen können. Manifestiert sieht Leiter diesen ‚expliziten Empirismus‘ in der kurzen Sentenz JGB 134:10 „Von den Sinnen her kommt erst alle Glaubwürdigkeit, alles gute Gewissen, aller Augenschein der Wahrheit“ (JGB, KSA 5, S. 96). Doch liegt darin tatsächlich ein Bekenntnis zum ‚Empirismus‘? Geht man Nietzsches Verwendung der Termini ‚Glaubwürdigkeit‘, ‚gutes Gewissen‘ und ‚Augenschein‘ nach, eröffnet sich eine andere, nahezu entgegengesetzte Deutungsperspektive: Schon der Begriff der ‚Glaubwürdigkeit‘ ist bei Nietzsche nicht durchgängig positiv besetzt, vielmehr wird etwa die Glaubwürdigkeit Schopenhauers (NL, KSA 9, S. 25), der „ernstesten Philosophen“ (FW, KSA 3, S. 442) oder die „Glaubwürdigkeit des Geistes selber“ (NL, KSA 11, S. 566) als Problem reflektiert. Noch weitaus deutlicher wird die Problematik von Leiters Interpretation durch einen Blick auf Nietzsches Verwendung des
des ‚Willens zur Macht‘ vorschreibt. Die von Paul van Tongeren (2000, S. 198–202 und 220– 228) herausgearbeitete Problematik des Naturbegriffs in JGB spricht ebenso gegen die Deutung des Motivs der ‚Zurückübersetzung‘ des Menschen in die ‚Natur‘ im Sinne eines szientistischen Naturalismus wie die von Eckhard Heftrich (1962, S. 137–143) aufgezeigte Parallele zum Problemfeld von Text und Interpretation in JGB 22, die es zweifelhaft erscheinen lässt, den „ewigen Grundtext homo natura“ (JGB, KSA 5, S. 169) im Sinne einer unproblematischen faktischen Realität zu verstehen. Beide Punkte legen es nahe, die Ambition „über die vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr [zu] werden, welche bisher über jenen ewigen Grundtext homo natura gekritzelt und gemalt wurden“ (JGB, KSA 5, S. 169) als Ausdruck eines interpretierenden ‚Willens zur Macht‘ zu verstehen, der sich gegen konkurrierende Interpretationen durchzusetzen sucht, indem er sich selbst als eternaler ‚Text‘ der Natur behauptet. Die Interpretation der Natur als ‚Wille zur Macht‘ wäre somit selbst ein Produkt des ‚Willens zur Macht‘. 9 Bezüglich Werner Stegmaiers Standardwerk zu GM bemerkt Leiter (2002, S. xi): „[L]ike much of the German secondary literature it does not probe deeply into philosophical and interpretive difficulties“. 10 Ähnliche Qualifikationen von JGB 134 fanden sich zuletzt bei Kail (2009, S. 7) und Doyle (2009, S. 69–70).
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Terminus ‚gutes Gewissen‘. So wird das ‚gute Gewissen‘ mit einem Versuch in Verbindung gebracht, „den Verstand und dessen Zweifel [zu] betäuben“ (MA, KSA 2, S. 341), und bezüglich des ‚guten Gewissens‘, dessen man zur „Schurkerei“ bedürfe, heißt es: „das versöhnt den Betrogenen beinahe mit dem Betruge“ (M, KSA 3, S. 250). In JGB selbst bezeichnet Nietzsche, aus der Perspektive der zu überwindenden ‚Jugend‘, „das gute Gewissen als eine Gefahr, gleichsam als Selbst-Verschleierung und Ermüdung der feineren Redlichkeit“ (JGB, KSA 5, S. 50). Auch die Bemerkung, dass „[d]er Mensch, ein vielfaches, verlogenes, künstliches und undurchsichtiges Thier, […] das gute Gewissen erfunden [hat], um seine Seele einmal als einfach zu geniessen“ (JGB, KSA 5, S. 235), ist bezeichnend. Eine Notiz aus dem Jahr 1883 begreift das „gute Gewissen“ gar als „einen Grad von eingefleischter Verlogenheit“ (NL, KSA 10, S. 621), eine weitere, 1888 (NL, KSA 13, S. 572) nochmals aufgegriffene lautet: „Was man nicht hat, aber nöthig hat, das soll man nehmen: also nahm ich mir das gute Gewissen“ (NL, KSA 10, S. 585). Angesichts des ‚guten Gewissens‘ christlicher Theologen heißt es: „es scheint mit dem ‚guten Gewissen‘ nicht viel auf sich zu haben!“ (NL, KSA 11, S. 572). Das hier anklingende Moment trügerischer, durch Selbsttäuschung oder mangelnde Redlichkeit bedingter Naivität gebietet Vorsicht gegenüber einer Deutung, die die Identifikation der ‚Sinne‘ als Quelle des ‚guten Gewissens‘ als ungebrochenes Bekenntnis zum Empirismus oder Sensualismus versteht.11 Nicht unähnlich verhält es sich mit dem Begriff des ‚Augenscheins‘:12 Nietzsche verwendet ‚Augenschein‘ zwar bisweilen durchaus als Ausdruck für sinnliche Evidenz, andererseits aber auch im Sinne einer naiven Sinnengläubigkeit oder, wie in FW 301, im Zusammenhang mit einem „Allerweltsglaube[n]“ (FW, KSA 3, S. 540). „Augenschein und Wahrheit“, so heißt es in einem frühen Notat, fallen „für die trägen Geister zusammen“ (NL, KSA 7, S. 627). Der ‚Augenschein‘ kann, wie Nietzsche 1881 notiert, „zum Advokaten alles Scheins und selbst der Lüge“ (NL, KSA 9, S. 649) werden. Auch in JGB besitzt der Begriff eine solche kritische Dimension, z.B. wenn es heißt, dass
11 Ähnliches gilt für den zuletzt intensiv diskutierten Aphorismus JGB 15: Die Debatten, ob sich Nietzsche hier einem Positivismus Machscher Prägung (Hussain 2004) oder einem postpositivistischen Sensualismus (Clark u. Dudrick, 2004) verschreibe, unterschlagen – neben dem offenen Ende des Textes – die grundsätzliche Brisanz des Begriffs des ‚guten Gewissens‘ in der Eingangswendung „Um Physiologie mit gutem Gewissen zu treiben, muss man […]“ (JGB, KSA 5, S. 29). Die Folgerung, Nietzsche sei „committed to pursuing physiology with a good conscience and so he concludes that the sense organs are not mere phenomena, but are causes“ (Clark u. Dudrick 2004, S. 373) erscheint nicht zuletzt aufgrund der kritischen Dimension des ‚guten Gewissens‘ übereilt. 12 Vgl. zum Folgenden: Schank u.a. 2004, S. 216–219.
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der Glaube an die Wahrheit synthetischer Urteile a priori nötig sei „als ein Vordergrunds-Glaube und Augenschein, der in die Perspektiven-Optik des Lebens gehört“ (JGB, KSA 5, S. 26)13 oder wenn Nietzsche vor der Einführung der ‚Redlichkeit‘ in JGB 227 am Ende des vorhergehenden Aphorismus erklärt: „[W]ir haben immer die Tölpel und den Augenschein gegen uns!“ (JGB, KSA 5, S. 162).14 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Begriffe ‚Glaubwürdigkeit‘, ‚gutes Gewissen‘ und ‚Augenschein‘ auch eine ganz andere Deutung von JGB 134 zulassen, nämlich die Sentenz nicht als Bekenntnis zum Empirismus, sondern als Warnung vor dem verführerisch einnehmenden Charakter sinnlicher ‚Evidenz‘ zu lesen. Will man beide Deutungsmöglichkeiten einbeziehen und reflektieren15, könnte man fragen, ob nicht Nietzsches Satz über den Augenschein der Wahrheit selbst zunächst einen solchen Augenschein erzeugt, nämlich jenen, ein gutes Gewissen zum Empirismus bekunden zu wollen, jedoch durch die – gerade in dieser Aneinanderreihung – ein Moment trügerischer Naivität transportierenden Termini gezielt Misstrauen provoziert und so seine eigene Glaubwürdigkeit fragwürdig macht. Das Problem von Augenschein, Glaubwürdigkeit und gutem Gewissen würde somit gleichsam vorgeführt, indem es der Text nicht einfach benennt, sondern an sich selbst demonstriert. Neben der inhaltlichen Fragwürdigkeit der Deutung der Sentenz als ‚explicit empiricism‘ ist auf die grundsätzliche methodische Problematik hinzuweisen, sich Nietzsches Texten mit der Erwartungshaltung zu nähern, darin philosophische Lehrmeinungen im traditionellen Sinn artikuliert zu finden. Versteht man Texte wie JGB 134 (auch JGB 15) als klassische erkenntnistheoretische Positionsbekundungen à la ‚Empirismus‘ oder ‚Sensualismus‘, unterstellt man dem Autor insgeheim eine Unfähigkeit, sich klar auszudrücken. Nicht nur verbirgt sich hinter der vermeintlich klaren, ‚positiven‘ Positionsbekundung vielfach ein subversiv-kritischer Sinn; das Kalkül jener Texte scheint 13 Vgl. dazu auch die oft zitierte Formulierung „Unsere Gesetze und Gesetzmäßigkeiten sind es, die wir in die Welt hineinlegen – so sehr der Augenschein das Umgekehrte lehrt und uns selber als die Folge jener Welt, jene Gesetze als die Gesetze derselben in ihrer Wirkung auf uns zu zeigen scheint“ (NL, KSA, 9, S. 637). 14 Wenn Leiter (2002, S. 14) im Anschluss an Walter Kaufmann „Augenschein“ in JGB 134 als „evidence“ übersetzt, geht dieser Bedeutungsaspekt des naiven, möglicherweise trügerischen Anscheins weitgehend verloren. Auch die neuere Übersetzung von Judith Norman (Nietzsche 2002, S. 67) gibt „Augenschein“ als „evidence“ wieder. 15 Dass Nietzsche solche Spannungsverhältnisse und deren Reflexion gerade bei kurzen Sentenzen einkalkuliert, zeigt folgendes Notat aus dem Jahr 1882: „Der Glaube in der Form, der Unglaube im Inhalt – das macht den Reiz der Sentenz aus – also eine moralische Paradoxie“ (NL, KSA 10, S. 68).
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schlechterdings nicht mehr dem traditionellen Muster des Artikulierens und Argumentierens von ‚Positionen‘ zu folgen.
Nietzsches ‚wissenschaftliche Weltanschauung‘16 Der Begriff der Wissenschaft spielt für das ‚naturalistische‘ Nietzsche-Bild eine Schlüsselrolle und wird von Autoren wie Clark oder Leiter gemäß der englischen Übersetzung als ‚science‘ vorrangig mit den modernen Naturwissenschaften assoziiert. Zwar darf durchaus bezweifelt werden, ob Nietzsche stets an die Naturwissenschaften denkt, wenn er von ‚Wissenschaft‘ spricht,17 doch dass er sie intensiv rezipiert und als Quelle genutzt hat, lässt sich kaum bestreiten. Aber implizieren Rekurse auf naturwissenschaftliche Topoi tatsächlich ein Bekenntnis zu einem epistemischen Primat der Naturwissenschaft? Könnte es sich nicht vielmehr um Momente einer perspektivistischen Denk- und Schreibpraxis handeln, die sich verschiedenster Vokabulare und Diskurse bedient, ohne damit strenge epistemologische oder gar ontologische Implikationen zu verbinden?18 Clark argumentiert in dieser Hinsicht, dass es sich bei Nietzsches 16 Vgl. Wetter 1935. Wetter kann dahingehend als Vorläufer ‚naturalistischer‘ Lesarten gelten, dass er gleichfalls unter Berufung auf Nietzsches Affinität zu den empirischen Wissenschaften gegen ‚irrationalistische‘ Deutungen zu Felde zieht. 17 Vgl. Dellinger 2012b. Wenn etwa der „Abgrund des wissenschaftlichen Gewissens“ (GM, KSA 5, S. 396) als Kern des asketischen Ideals ein rein methodisch-formales Prinzip des Misstrauens bildet und dem wissenschaftlichen ‚Willen zur Wahrheit‘ ein primär „[n]egativer Charakter der ‚Wahrheit‘ – als Beseitigung eine Irrthums, einer Illusion“ (NL, KSA 11, S. 58) entspricht, hätten Bekenntnisse zur ‚Wissenschaftlichkeit‘ in diesem Sinne nichts mit einem an Methoden, Inhalten und Ergebnissen der Naturwissenschaften orientierten ‚Naturalismus‘ zu tun. 18 Axel Pichler (2010, 169–177) hat in diesem Zusammenhang zuletzt den Ausdruck ‚virtuelle Ontologien‘ ins Spiel gebracht. Ein Indiz dafür, dass Nietzsche sich naturwissenschaftlicher Argumentationsmuster bedienen könnte, ohne sich auf deren epistemische Verbindlichkeit festzulegen, scheint z.B. in JGB 14 zu liegen: „Es dämmert jetzt vielleicht in fünf, sechs Köpfen, dass Physik auch nur eine Welt-Auslegung und -Zurechtlegung (nach uns! mit Verlaub gesagt) und nicht eine Welt-Erklärung ist: aber, insofern sie sich auf den Glauben an die Sinne stellt, gilt sie als mehr und muss auf lange hinaus noch als mehr, nämlich als Erklärung gelten. Sie hat Augen und Finger für sich, sie hat den Augenschein und die Handgreiflichkeit für sich: das wirkt auf ein Zeitalter mit plebejischem Grundgeschmack bezaubernd, überredend, überzeugend, – es folgt ja instinktiv dem Wahrheits-Kanon des ewig volksthümlichen Sensualismus“ (JGB, KSA 5, S. 28). Die Überzeugungskraft der ‚Physik‘ wird hier in aller Deutlichkeit an den sensualistischen Geschmack und ‚Wahrheits-Kanon‘ des Zeitalters gebunden, von dem sich Nietzsche – insofern er zu den ‚fünf, sechs Köpfen‘ gerechnet werden darf – ausdrücklich distanziert. Zwar kann hier nicht gezeigt werden, dass mit der Zurückweisung von ‚Erklärung‘ weit mehr als nur die Möglichkeit der Demonstration einer
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‚Perspektivismus‘ selbst um ein empirisch-naturwissenschaftlich fundiertes Theorem handle, das als solches den Objektivitätsanspruch der Naturwissenschaften per se gar nicht in Frage zu stellen vermöge (Clark 1998, 75). Leiter bedient sich eines ähnlichen Arguments, wenn er im Hinblick auf FW 354 betont, dass die dortigen Ausführungen zu „Phänomenalismus und Perspektivismus“ (FW, KSA 3, S. 593) die Wahrheit der wissenschaftlichen „Physiologie und Thiergeschichte“ (FW, KSA 3, S. 590) voraussetzen, an die zu Beginn des Aphorismus appelliert wird.19 Tatsächlich greift die Entwicklung des „Problem[s] des Bewusstseins“ (FW, KSA 3, S. 590) anhand der Kategorie der Nützlichkeit unbestreitbar auf das Vokabular des darwinistisch geprägten Zeitkontexts zurück, um daraus das Grundmotiv der Verfälschung zu entwickeln: [D]ie Natur des thierischen Bewusstseins bringt es mit sich, dass die Welt, deren wir bewusst werden können, nur eine Oberflächen- und Zeichenwelt ist, eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte Welt, – dass Alles, was bewusst wird, ebendamit flach, dünn, relativ-dumm, generell, Zeichen, Heerden-Merkzeichen wird, dass mit allem Bewusstwerden eine grosse gründliche Verderbniss, Fälschung, Veroberflächlichung und Generalisation verbunden ist. (FW, KSA 3, S. 593)
Doch gerade die zentrale Kategorie der Nützlichkeit wird durch die selbstbezügliche Wendung am Ende des Aphorismus massiv in Frage gestellt: [W]ir ‚wissen‘ (oder glauben oder bilden uns ein) gerade so viel als es im Interesse der Menschen-Heerde, der Gattung, nützlich sein mag: und selbst, was hier ‚Nützlichkeit‘ genannt wird, ist zuletzt auch nur ein Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene verhängnissvollste Dummheit, an der wir einst zu Grunde gehen. (FW, KSA 3, S. 593)
Nietzsches Bewusstseinskritik erweist sich hier als „wesentlich selbstbezüglich“ (Simon 2009, S. 47), insofern sie den zuvor mit der ‚Oberflächen- und
unbedingten Notwendigkeit des Weltgeschehens ausgeschlossen ist (so Clark u. Dudrick 2004, S. 374). Festhalten lässt sich jedoch, dass angesichts solcher Passagen ‚sensualistisch‘ oder ‚naturalistisch‘ anmutende Bemerkungen im Spätwerk mit Vorsicht behandelt werden sollten, insofern sie einer strategisch-agitatorischen Absicht entspringen könnten: Vielleicht will Nietzsche nur „ein derbes arbeitsames Geschlecht von Maschinisten und Brückenbauern der Zukunft, die lauter grobe Arbeit abzuthun haben“ (JGB, KSA 5, S. 29) mobilisieren, wenn er die ‚Physik‘ als ‚mehr‘ gelten lässt, als sie für ihn ‚ist‘? Clarks u. Dudricks (2004, S. 374) These, dass sich Nietzsche mit jenem ‚Geschlecht‘ identifiziere, entspricht weder dem Argumentationsstrang des Aphorismus noch der Verwendung von Attributen wie ‚derb‘ oder ‚grob‘. In der Abschätzigkeit gegen den „Sinnen-Pöbel“ (JGB, KSA 5, S. 28) fühlt sich Nietzsche offenbar selbst seinem Intimfeind Platon verbunden. 19 „[T]his passage […] presupposes the truth of ‚physiology and the history of animals‘, the sciences which ground the passage’s (purportedly true) claims about the origin of consciousness and language.“ (Leiter 2002, 18) Vgl. auch Clark 1990, S. 122.
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Zeichenwelt‘ verknüpften Begriff der Dummheit auf sich selbst anwendet und somit deutlich macht, dass der Rekurs auf die ‚Natur des thierischen Bewusstseins‘ nicht als Bezug auf einen ‚objektiven‘, der Perspektivismusproblematik entzogenen Erklärungsgrund verstanden werden darf.20 Insofern es sich bei der zunächst noch einmal ins Spiel gebrachten Kategorie der Nützlichkeit ‚auch nur‘ um einen ‚Glauben‘ und eine ‚Einbildung‘ handelt, wird das gesamte scheinbar ‚naturalistische‘ Argumentationsmuster seinerseits den perspektivistischen Konsequenzen unterworfen, wobei die Wortwahl keinen Zweifel darüber aufkommen lassen sollte, dass es somit kaum noch ‚objective knowledge of the truth‘ beanspruchen kann.21 FW 354 könnte somit einen Hinweis geben, wie sich eine ‚perspektivistische‘ Grundhaltung mit ‚naturalistischen‘ Motiven vereinbaren lassen könnte, nämlich insofern sie sich ihrer gerade in Nietzsches Zeitkontext vertrauten und bewährten diskursiven Überzeugungskraft zu erkenntniskritischen Zwecken bedient, von denen her sich aber auch jene Überzeugungskraft unterminiert, zumal sich die ‚naturalistischen‘ Erklärungen ihrerseits als Phänomene der perspektivischen ‚Oberflächen- und Zeichenwelt‘ erweisen.
Nietzsches ‚Entdeckung der Wahrheit‘ Leiters Auffassung nach stehen ‚skeptische‘ Interpretationen dahingehend im Widerspruch zu Nietzsches philosophischer Praxis, dass er beständig mit Begriffen wie ‚wahr‘, ‚falsch‘, ‚wirklich‘, ‚unwirklich‘ usw. operiert und es sich bei solchen „epistemic value terms“ um „concepts that presuppose the possibility of objective truth and our knowledge of it“ (Leiter 2002, S. 13) handle. Zum
20 Die wesentliche Selbstbezüglichkeit zeigt sich wohlgemerkt schon zuvor, etwa wenn es heißt, „dass unser Gedanke selbst fortwährend durch den Charakter des Bewusstseins […] gleichsam majorisirt und in die Heerden-Perspektive zurück-übersetzt wird“ (FW, KSA 3, S. 592). Der Ausdruck „unser Gedanke“ lässt sich sowohl auf das sich „in Worten, das heisst in Mittheilungszeichen“ vollziehende „bewusste Denken“ (FW, KSA 3, S. 592) im Allgemeinen beziehen als auch auf Nietzsches eigenen, hier vorgetragenen Gedanken, den er ausdrücklich mit der Wendung „Mein Gedanke ist, wie man sieht […]“ (FW, KSA 3, S. 592) einführt. Auch die selbstironische Hervorhebung der zuvor ja gerade ausgeschlossenen Individualität des Verstehens in der Formulierung „der eigentliche Phänomenalismus und Perspektivismus, wie ich ihn verstehe“ (FW, KSA 3, S. 593) zeigt, dass Nietzsche die selbstbezüglichen Implikationen des Gedankens der perspektivischen Vergröberung und Vereinfachung einkalkuliert. 21 Davon, dass hier der kantische Gegensatz von ‚Ding an sich‘ und ‚Erscheinung‘ durch jenen von naturwissenschaftlicher Erkenntnis und alltäglicher Illusionen ersetzt wird (vgl. Hill 2003, S. 190–191), kann demgemäß m. E. ebenfalls keine Rede sein.
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Beleg verweist Leiter unter anderem22 auf eine berühmte Formulierung aus Ecce homo: „Ich erst habe die Wahrheit entdeckt, dadurch dass ich zuerst die Lüge als Lüge empfand – roch …“ (EH, KSA 6, S. 366).23 Auch in diesem Fall ist jedoch – ganz abgesehen von der grundsätzlichen Inszenierungsproblematik in Ecce homo24 – schon aus rein philologischen Gründen Vorsicht geboten, denn Nietzsche verwendet den hervorgehobenen Begriff ‚entdecken‘ nicht nur im Sinne von ‚finden‘, sondern oftmals auch in der wörtlichen Bedeutung von ‚ent-decken‘, d. h. im Sinne von ‚entlarven‘.25 So behauptet er etwa wenige Seiten später, wiederum mit Hervorhebung des Begriffs, „die christliche Moral entdeckt zu haben“ (EH, KSA 6, S. 371). Die ‚Entdeckung‘ der Wahrheit bestünde somit nicht im Fund einer neuen Wahrheit, sondern vielmehr in der Entlarvung der vermeintlichen ‚Wahrheit‘ als Lüge, d.h. der ‚Lüge als Lüge‘.26 Doch so einfach lässt sich nicht bestreiten, dass Nietzsche in Ecce homo auf massive Weise ‚Wahrheit‘ beansprucht. Man denke nur an die wenige Zeilen zuvor stehende Formulierung, es „redet aus mir die Wahrheit“ (EH, KSA 6, S. 365), an die nach einem Gedankenstrich folgende Wendung „Aber meine Wahrheit ist furchtbar: denn man hiess bisher die Lüge Wahrheit.“ (EH, KSA 6, S. 365) oder die im Anschluss bekundete Aussicht, dass die „Wahrheit mit der Lüge von Jahrtausenden in Kampf tritt“ (EH, KSA 6, S. 366).27 Formulierungen wie diese machen es durchaus plausibel, ‚entdeckt‘ im Sinne von ‚gefun-
22 Weit weniger herausfordernd ist der Verweis auf Sätze wie „Je abstrakter die Wahrheit ist, die du lehren willst, um so mehr musst du noch die Sinne zu ihr verführen“ (JGB, KSA 5, S. 95). Warum eine solche Lehrambition einen starken Wahrheitsbegriff voraussetzen soll, scheint wenig einsichtig. 23 Zum hier nicht erschließbaren Kontext von Warum ich ein Schicksal bin 1 vgl. Stegmaier 2008, zur Wahrheitsproblematik S. 94 ff. 24 Das für diesen Text so zentrale Verfahren der Selbstinszenierung müsste bei einer eingehenden Interpretation solcher Aussagen ebenfalls einkalkuliert werden, was jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Für einige Hinweise zur Sprechsituation in EH vor dem Hintergrund der Affirmationsproblematik siehe Dellinger 2012a. 25 Darauf haben auch die Herausgeber des Nietzsche-Wörterbuchs (Schank u. a. 2004, S. XXI) in ihrer Einleitung hingewiesen. 26 Dass Nietzsche in EH nicht einfach hinter seine Wahrheitskritik zurückfällt bzw. zu einem traditionellen Wahrheitsbegriff zurückkehrt, zeigt sich z. B. wenn er schreibt, „dass Dante, gegen Zarathustra gehalten, bloss ein Gläubiger ist und nicht Einer, der die Wahrheit erst schafft“ (EH, KSA 6, S. 343) oder bezüglich der ‚Wahrheiten‘ aus GD erklärt: „Was man aber in die Hände bekommt, das ist nichts Fragwürdiges mehr, das sind Entscheidungen. Ich erst habe den Maassstab für ‚Wahrheiten‘ in der Hand, ich kann erst entscheiden“ (EH, KSA 6, S. 355). 27 Angesichts der (Über-)Strapazierung des Motivs heroischer Wahrhaftigkeit in EH lässt sich die ‚Entdeckung‘ auch als Endgestalt im Prozess der „Selbstüberwindung der Moral aus Wahrhaftigkeit“ (EH, KSA 6, S. 367) deuten (vgl. Conway 1997, S. 224–225).
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den‘ zu lesen, d. h. dahingehend, dass sich hier Nietzsches zuvor angekündigte, furchtbare Wahrheit ausspräche. Beide Lesarten werden durch den unmittelbaren Kontext gleichermaßen nahe gelegt, ihre Duplizität setzt das Verwirrspiel fort, das durch die kokettierende Zurückweisung der Heiligenrolle28, das Hanswurst-Motiv und das „trotzdem oder vielmehr nicht trotzdem“ (EH, KSA 6, S. 365) eingeleitet wurde und die gesicherte Identität des Sprechers ebenso wie die Eindeutigkeit seiner Rede gezielt fragwürdig macht. Nietzsches ‚furchtbare Wahrheit‘ könnte demgemäß gerade darin bestehen, dass ‚die Wahrheit‘ als Lüge entlarvt ist. Wohlgemerkt wäre es ein Leichtes gewesen, hier zwischen zwei Wahrheitsbegriffen (einer ‚neuen‘, gefundenen und einer ‚alten‘, als Lüge entlarvten Wahrheit) zu differenzieren, oder statt ‚entdecken‘ eindeutigere Ausdrücke wie ‚enttarnen‘ oder ‚erfassen‘ zu verwenden. Doch Nietzsche schreibt nicht „Ich erst habe die Wahrheit erfasst, indem ich die ‚Wahrheit‘ der Heiligen als Lüge enttarnt habe“. Vielleicht birgt jene Doppeldeutigkeit also einen spezifischen Sinn, nämlich insofern sich die ‚furchtbare Wahrheit‘ zugleich selbst in Frage stellen muss?29 Das klingt zwar paradox30, doch man könnte – wie hier nicht näher ausgeführt werden kann – durchaus so weit gehen, zu behaupten, dass Nietzsche eben diese selbstbezüglich-paradoxe Konstellation einer Wahrheit, die gerade in der Entlarvung von Wahrheit besteht, spätestens seit der Rede von der „zur Verzweiflung und zur Vernichtung“ führenden „Wahrheit, ewig zur Unwahrheit verdammt zu sein“ (CV, KSA 1, S. 760) verfolgt. Solche Formulierungen provozieren freilich den altbekannten, aber nach wie vor weite Teile der analytisch geprägten Diskussion wie ein Damoklesschwert begleitenden Vorwurf der selbstreferenziellen Inkonsistenz, und tatsächlich hebt sich die Wahrheit, dass die Wahrheit eine Lüge ist, unmittelbar selbst auf. Darin aber eine einfache, sie hinfällig machende ‚Inkonsistenz‘ zu sehen, hat schon Martin Heidegger zu recht als „leere[n] Scharfsinn“31 28 Nietzsche spricht hier in der Tat „wie ein Heiliger von der Wahrheit, aber als ein Heiliger, der ein Kreuz vor allen Heiligen macht“ (Stegmaier 2008, S. 95). Vgl. dazu auch den Briefentwurf an Kaiser Wilhelm II. von Anfang Dezember 1888 (KSB III/5, Nr. 1171), in dem statt von „Heiligen“ von „Propheten“ die Rede ist, so dass die Assoziation mit demjenigen, der von sich behauptet, dass aus ihm ‚die Wahrheit rede‘, noch stärker wirkt. 29 Als ‚Hanswurst‘ entspräche Nietzsche dem „Narren, dessen neue Wahrheit die Lehre ist, daß es keine Wahrheit gibt“ (Bröcker 1972, S. 139). Nietzsches ‚Wahrheit‘ schließt, wie Stegmaier im Ausgang von der Erklärung, „daß wir die Wahrheit nicht haben“ (NL, KSA 9, S. 52) demonstriert hat, „ihre eigene Negation ein“ (Stegmaier 1985, S. 72). 30 Zum Problem des Paradoxen bei Nietzsche vgl. Stegmaier 2009. 31 Heidegger 1961, S. 501. Vor allem die an Müller-Lauter anschließende Tradition hat umfangreiche Ansätze zu einem produktiven, über platte Inkonsistenzvorwürfe hinausgehenden Umgang mit den selbstbezüglichen Dimensionen von Nietzsches Wahrheits- und Erkenntniskritik entwickelt. Beispielsweise sei hier auf Josef Simons Lektüren (z. B. 1981) und Abels (1984, S. 162–184) Konzeption des ‚Interpretationszirkels‘ verwiesen. Vgl. auch die ebenfalls
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gebrandmarkt. Wenn sich die Wahrheit der Entlarvung der Wahrheit als Lüge ihrerseits als Lüge erweist, ist ihr gerade darin – und wohlgemerkt nur darin – zugleich entsprochen. Für eben diese Reflexionsstruktur einer sich selbst aufhebenden Wahrheit über die Wahrheit wäre die Doppeldeutigkeit des ‚Entdeckens‘ wesentlich: Es handelte sich um ein ‚Zugleich‘ von ‚finden‘ und ‚entlarven‘, wobei die Entlarvung die gefundene Wahrheit aufhebt und eben damit wieder auf eine gefundene, nun ihrerseits zu entlarvende Wahrheit verweist, so dass sich eine unabschließbare Oszillationsbewegung zwischen Behauptung und Relativierung, zwischen Anspruch und Selbstaufhebung, ergibt.32 Vielleicht ließe sich so auch erklären, warum Nietzsche nicht behauptet, ‚er‘ rede die Wahrheit, sondern die Wahrheit rede ‚aus ihm‘, nämlich weil es sich bei der Wahrheit, dass die Wahrheit eine Lüge ist, um eine Art von Wahrheit handeln könnte, die sich nicht mehr in unmittelbaren thetischen Setzungen erschließt, sondern nur noch vermittels der durch ihre Selbstaufhebung induzierten reflexiven Bewegung anzeigen kann.33 Die behauptete ‚Entdeckung‘ der Wahrheit stünde somit keineswegs im Widerspruch zu Nietzsches radikaler Wahrheitskritik, sie wäre vielmehr ein ihre selbstbezüglichen Implikationen konsequent reflektierender Ausdruck derselben.
Fazit: ‚Sanitizing‘ als Herausforderung Bernd Magnus hat in Bezug auf John Wilcox’ ‚kognitivistisches‘ Nietzsche-Bild einmal davor gewarnt, „this raging lion into a meek kitten“ (Magnus 1980, S. 261) zu verwandeln. Leiter zitiert Wilcox also nicht umsonst als Vorläufer der Gegenbewegung zur ‚skeptischen Lesart‘, die in Nietzsche einen radikalen Kritiker traditioneller Konzeptionen von Wahrheit und Erkenntnis sieht (vgl. Leiter 2002, S. 13). Die Tendenz zu einer ‚naturalistischen‘ Deutung mag bei Anhängern eines solchen skeptischeren Nietzsche-Bildes gemäß der eingangs zitierten Einschätzung Gemes und Janways den Eindruck von ‚Sanitizing‘ erwecken, stellt sie jedoch gerade damit vor eine interessante Herausforderung: an Müller-Lauter anschließende Diskussion der Selbstwiderspruchsproblematik bei Babette Babich (1994, 37–56). Babich spricht von einer „coherent self-contradiction“ (Babich 1994, S. 41) und erklärt die „apparent self-contradiction in Nietzsche’s perspectivalism“ für „selfreferentially consistent“ (Babich 1994, S. 45). 32 Paul van Tongeren (2000, S. 167 f.) spricht in diesem Sinne von einer „contradictory dividedness of a knowing which enforces itself dogmatically and at the same time relativizes its own dogmatism“. 33 Zum Anzeigecharakter dieses Wahrheitsbegriffs und möglichen Verbindungslinien zu Hegelschen Denkfiguren (vgl. Dellinger 2009).
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Sollen nämlich die von Leiter ins Zentrum gerückten, seiner Auffassung nach im Widerspruch zu einer ‚skeptischen‘ Deutung stehenden augenscheinlichen ‚Wahrheitsansprüche‘ oder Rekurse auf naturwissenschaftliche Erklärungsmuster im Horizont eines solchen Nietzsche-Bildes plausibel gemacht werden, gilt es mehr denn je, die komplexe Vielfalt subversiver bzw. autosubversiver, einfache Festlegungen unterlaufender Textstrategien und Denkkonstellationen zu rekonstruieren, vermittels derer sich Nietzsches philosophischer Duktus dem naturalistischen ‚Sanitizing‘ entzieht.
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Tobias Dahlkvist
Genie, Entartung, Wahnsinn Anmerkungen zu Nietzsche als Pathograph und Objekt der Pathographie In der Geschichte der Wissenschaften ist das Interesse der Medizin für das Genie um die Jahrhundertwende 1900 eine ganz sonderbare Erscheinung. Zwar hat man seit der Antike Kreativität und Intelligenz mit dem Wahnsinn assoziiert, und besonders in der Romantik wird das wahnsinnige Genie zu einem Topos. Aber im späten 19. Jahrhundert fängt man plötzlich an, diese Idee einer Verwandtschaft zwischen Genie und Wahnsinn von Seite der Wissenschaft ernst zu nehmen. Maßgebend war hier vor allem der italienische Psychiater Cesare Lombroso, der Vater der Kriminalanthropologie, der dem Genie vier Bücher gewidmet hat.1 Aber auch andere Wissenschaftler haben sich mit dem Genie beschäftigt: zum Beispiel Francis Galton und Henry Maudsley in Großbritannien, Charles Richet und Jacques-Joseph Moreau de Tours in Frankreich, Paul Julius Möbius in Deutschland. In Spezialstudien, sogenannten Pathographien, wurden auch verschiedene Schriftsteller, Künstler und Denker Gegenstand psychiatrischer Aufmerksamkeit. Schon 1872 hat der Arzt Carl von Seydlitz ein Büchlein über Schopenhauer geschrieben: Doktor Arthur Schopenhauer vom medizinischen Standpunkt aus. 1873 hat ein anderer praktizierender Arzt, Theodor Puschmann, Richard Wagner. Eine psychiatrische Studie geschrieben. Um die Jahrhundertwende wurden auch Bücher über Strindberg, Rousseau und Hölderlin geschrieben. Der Arzt Paul Julius Möbius – der Erfinder des Terminus Pathographie – schrieb in Ueber Schopenhauer (1899), dass eine Begabung wie die Schopenhauers ohne gewisse krankhafte Störungen nicht denkbar sei: Wir finden hier einen Mann von einer in gewissen Sinne zwar einseitigen, aber so außerordentlich großen geistigen Begabung, daß wir offenbar eine Hyperplasie des Gehirns anzunehmen haben, einen Zustand, der nicht möglich ist, ohne daß zugleich im engeren Sinne krankhafte Störungen beständen. (Möbius 1899, S. 8–9)
Es bestehen Unterschiede zwischen den verschiedenen Theorien zum Genie. Das gilt vor allem bei den Krankheiten, mit denen das Genie seine angebliche
1 Genio e follia (1862); L’uomo di genio (1887); Genio e degenerazione (1897); Nuovi studi sul genio (1901/02); deutsch: Genie und Irrsinn (1887), Der geniale Mensch (1890), Entartung und Genie (1894), Studien über Genie und Entartung (1910).
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Verwandtschaft habe. Lombroso beschreibt das Genie als eine epileptoide Neurose (oder sogar als eine Psychose), die eine Entartungserscheinung sei. Das Genie wurde aber auch mit anderen Krankheiten verknüpft, zum Beispiel mit Neurasthenie, Melancholie und Hysterie. Diese Krankheiten haben alles, was man mit Susan Sontag als eine metaphorische Qualität bezeichnen könnte (Sontag 1991). Die Epilepsie ist nicht nur ein biologisches Faktum, sondern trägt auch religiöse Konnotationen; die Hysterie ist seit der Antike weiblich konnotiert, und wenn das Genie als eine Art Hysterie betrachtet wird, dann wird damit die androgyne Seite des Genies zugleich betont. Andere haben die Pathologie des Genies bestritten: vor allem Max Nordau sieht das Genie als an sich gesund. Es scheint aber, dass die meisten darin einig waren, dass das Genie eine Überempfindlichkeit sei, die an sich zwar nicht notwendig pathologisch war, aber doch abnorm und ein Degenerationssymptom. Das Genie wird in der Medizin der Jahrhundertwende öfters als „dégénérescensce superieure“ bezeichnet, also als eine höhere Entartung.2 Ich werde hier versuchen zu zeigen, dass Nietzsches Denken in zwei Hinsichten von seinem Interesse an diesen medizinischen Diskursen zeugt. Erstens seine Kritik gegen gewisse Schriftsteller, Künstler und Denker, was ich vor allem durch seine Kommentare zum italienischen Dichter Leopardi illustrieren werde, über dessen Werk ich längere Zeit gearbeitet habe und das ich deshalb als Beispiel verwenden kann. Zweitens werde ich versuchen zu zeigen, dass auch die Überlegungen zum Klima in Ecce homo und im späten Nachlass Nietzsches im Einklang mit der medizinischen Auffassung vom Genie im späten neunzehnten Jahrhundert steht. Giacomo Leopardi (1798–1837) gehörte zu des jungen Nietzsches Lieblingsdichtern. In seinem Briefwechsel von ungefähr 1870 gibt es eine Menge Briefe – Briefe von Nietzsche sowohl als von seinen Freunden – in denen Leopardis Verse als Illustrationen von Gefühlen und Stimmungen verwendet werden. In der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung spielt er auf zwei seiner Gedichte an, in der Fröhlichen Wissenschaft wird Leopardi noch als Meister der Prosa apostrophiert. Später verändert sich das völlig: Leopardi wird zum Muster eines dekadenten Dichters (z. B. GD, KSA 6, S. 133–134). Das hängt mit der Umwertung des Pessimismus zusammen: mit seiner pessimistischen Lyrik ist Leopardi der Vertreter einer lebensfeindlichen Denkweise, die Nietzsche als décadent bezeichnet (dazu Dahlkvist 2007, Kapitel 5.3). In einem Fragment vom Sommer oder Herbst 1884, also zu einem Zeitpunkt, wo die décadence noch nicht ein explizites Thema bei ihm ist, schreibt Nietzsche: 2 Der Ausdruck stammt aus Moreau de Tours La psychologie morbide dans ses rapports avec la philosophie d’histoire, 1859.
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Die Art Hölderlin und Leopardi: ich bin hart genug, um über deren Zugrundegehen zu lachen. Man hat eine falsche Vorstellung davon. Solche Ultra-Platoniker, denen immer die Naivetät abgeht, enden schlecht. Irgend Etwas muß derb und grob sein am Menschen: sonst geht er auf eine lächerliche Weise zu Grunde vor lauter Widersprüchen mit den einfachsten Thatsachen: z. B. mit der Thatsache, daß ein Mann von Zeit zu Zeit ein Weib nöthig hat, wie er von Zeit zu Zeit eine rechtschaffene Mahlzeit nöthig hat. Zuletzt haben die Jesuiten herausgebracht, daß Leo – – –. (NL, KSA 11, S. 257)
Das Fragment bricht ab, so wissen wir nicht, was die Jesuiten herausgebracht haben. Einige Monate später kommt er aber zu Leopardi zurück: Gegen den falschen Idealismus, wo durch übertriebene Feinheit sich die besten Naturen der Welt entfremden. Wie schade, daß der ganze Süden Europas um die Vererbung jener gebändigten Sinnlichkeit gekommen ist, durch die Abstinenz der Geistlichen! Und daß solche Shelleys, Hölderlins, Leopardis zu Grunde gehn, ist billig, ich halte gar nicht viel von solchen Menschen. Es ergötzt mich, an die Revanchen zu denken, welche die derbe Natürlichkeit der Natur bei solcher Art Menschen nimmt z. B. wenn ich höre, daß L früher On trieb, später impotent war. (NL, KSA 11, S. 451)
Die Leopardi-Rezeption im neunzehnten Jahrhundert besteht vor allem aus zwei Strömungen. Erstens haben die Pessimisten – vor allem Schopenhauer und Philipp Mainländer – Leopardi als einen Pessimisten gedeutet, und er wurde in der Folge dessen als pessimistischer Philosoph im Sinne der nachschopenhauerschen deutschen Philosophie betrachtet. In dieser Strömung hat man Leopardis Düsterkeit, seine positive Wertung des Selbstmordes und so weiter als Zeichen des Mutes gedeutet und ihn als Geistesgenossen betrachtet. Zweitens gibt es eine Strömung, deren Vertreter Leopardi auf Grund eben dieser Düsterkeit und auf Grund seiner Biographie als einen krankhaften Denker deuten wollten.3 Es gehört zum wissenschaftlichen Bild des Genies, dass es mit geschlechtlichen Störungen verbunden sei; Lombroso zum Beispiel redet in Genio e degenerazione von „la frequente psicopatia sessuale del genio“ (Lombroso 1897, S. 168). Im Falle Leopardis war das wissenschaftliche Interesse an seinem Sexualleben außergewöhnlich groß. Es gab Gerüchte, dass er homosexuell wäre, aber vor allem haben diese Gerüchte mit Onanie zu tun gehabt. In einem biographischen Vorwort zu der ersten Gesamtausgabe seiner Schriften aus dem Jahre 1845, berichtet der Herausgeber Antonio Ranieri, dass Leopardi „die
3 Ausfürlicher in Dahlkvist 2010, S. 43–93.
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Blume seiner Virginität intakt in das Grab hinein“ getragen habe.4 Diese Worte wurden – natürlich – als eine Andeutung, dass Leopardi Probleme mit Onanie hätte, gedeutet. Max Nordau redet in Paradoxe in Bezug auf Leopardi von „gewissen geschlechtlichen Verirrungen, die dem Irrenarzt wohlbekannt sind“ (Nordau 1885, S. 11). Lombroso zitiert einen gewissen Corradi, der nachgewiesen haben soll, „daß alles Unglück Leopardis und zum nicht geringen Teil auch die philosophischen Anschauungen desselben der ersten Regung jener mehrfach erwähnten großen Empfindlichkeit und der Nichtbefriedigung des Liebesbedürfnisses entsprungen seien“ (Lombroso 1887, S. 21). Später fügt er hinzu, dass es eine bekannte Tatsache sei, dass Leopardi vom Missbrauch der Masturbation bucklig geworden sei.5 Es ist also klar, dass Nietzsche mit seinen Kommentaren zum Untergang Leopardis an der Onanie in der Denkweise der zeitgenössischen Medizin steht. In Nietzsches Bibliothek befanden sich Bücher von z. B. Charles Richet und Francis Galton zur Psychologie und Physiologie der großen Künstler, und er hat sich auch an der physiologischen Kunst- und Literaturkritik Paul Bourgets und Ferdinand Brunetières orientiert (siehe dazu Campioni et al 2003). Einige Jahre später findet man in Nietzsches Nachlass ein Fragment, das für unser Thema sehr wichtig ist, und zwar Fragment 14 [222] aus dem Frühjahr 1888: Die modernen Pessimisten als décadents: Schopenhauer Leopardi Baudelaire Mainländer Goncourt Dostoiewsky man hat den geschmacklosen Versuch gemacht, Wagner und Schopenhauer unter die Geisteskranken zu subsumiren: was der Wahrheit ganz entsprach, war die scharfe Betonung der physiologischen décadence in ihrem Typus hervorzuheben… (NL, KSA 13, 14 [222], S. 395)
Die modernen Pessimisten – und unter ihnen also Leopardi – seien nicht wahnsinnig gewesen, sondern physiologisch décadent, oder mit dem üblichen 4 Ranieri 1845, S. 100: „Quest’uomo, degno per tutte le parti di un secolo migliore, si portò intatto nel sepolcro il fiore della sua verginità; e, per questo medesimo, amò due volte (benchè senza speranza) come mai nessun uomo aveva amato sulla terra. “ („Dieser Mann, der in allem ein besseres Jahrhundert verdient hätte, hat die Blume seiner Virginität intakt in den Grab hinein getragen; und aus demselben Grund hat er zweimal geliebt (obwohl ohne Hoffnung) wie kein Mann auf dieser Erde je liebte.“) 5 „È noto come egli fosse divenuto gibboso per gli abusi della masturbazione fino dalla più tenera età, e come fosse altrettanto precoce nella letteratura.“ Lombroso (1897), S. 67. Vgl. Patrizi (1896), S. 96: „Alcuni scrittori invece attribuiscono all’onanismo una gran parte delle malattie e delle tristezze del poeta.“
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Begriffsgebrauch der Zeit: entartet. Nietzsche sieht also nicht Schopenhauer, Wagner, Leopardi und andere als wahnsinnige Genies im Sinne der romantischen Tradition. Sondern – ganz gemäß der Medizin seiner Zeit – betrachtet er ihr Denken und Schaffen als ein Entartungssymptom.6 In der Götzen-Dämmerung erläutert Nietzsche das Genie weiter. Im Stück 44 Mein Begriff vom Genie der Streifzüge eines Unzeitgemässen diskutiert er das Genie als einen Explosivstoff: Zwischen einem Genie und seiner Zeit besteht ein Verhältniss, wie zwischen stark und schwach, auch wie zwischen alt und jung: die Zeit ist relativ immer viel jünger, dünner, unmündiger, unsicherer, kindischer. – Dass man hierüber in Frankreich heute sehr anders denkt (in Deutschland auch: aber daran liegt nichts), dass dort die Theorie vom milieu, eine wahre Neurotiker-Theorie, sakrosankt und beinahe wissenschaftlich geworden ist und bis unten den Physiologen Glauben findet, das „riecht nicht gut“, das macht Einem traurige Gedanken. (GD, KSA 6, S. 145)
Die Einstufung dieses Stückes im Buch ist wichtig. Nach ihm wird der Verbrecher-Typus diskutiert7, und das ist natürlich das Problem par excellence für Lombroso und seine Kollegen. Der Verbrecher sei nach Nietzsches Meinung, ein krank gemachter starker Mensch. Im Briefwechsel mit dem schwedischen Schriftsteller Strindberg greift dieser Nietzsches Deutung des Verbrechers an. Mit Lombroso meint er, der Verbrecher sei „un animal inférieur, un dégénéré“ (Brief von August Strindberg an Nietzsche von Anfang Dezember 1888, KGW III/6, S. 376). Nietzsche antwortet am 8. Dezember 1888, dass Francis Galton doch gezeigt habe, dass die Geschichten der großen Verbrecherfamilien immer auf „einen zu starken Menschen für ein gewisses sociales Niveau“ (Brief Nietzsches an August Strindberg vom 8. Dezember 1888, KGW III/5, S. 507) zurückführe. Das Verhältnis zwischen einem Genie und der Zeit sei also das Verhältnis zwischen stark und schwach. Und die Entartung des Verbrechers sei das Ergebnis der Stärke unter ungünstigen Bedingungen. Die Explosivität des Genies werde so von seiner extremen Empfindlichkeit verursacht, von dem, was man in der Wissenschaft der Zeit als Hyperästhesie bezeichnete. In der Götzen-Dämmerung wird das Wesentliche am dionysischen Zustande als „die Leichtigkeit der Metamorphose, die Unfähigkeit, nicht zu reagiren (– ähnlich wie bei gewissen Hysterischen, die auch auf jeden Wink hin in jede Rolle eintreten)“ (GD, KSA 6, S. 117) beschrieben. Der dionysische Zustand, die Stärke des Explosivstoffes Genie, stammt also aus ihrem quasi-
6 Laut Moore (2001), S. 251 ist die Distinktion zwischen décadence und Geisteskrankheit hier gegen Puschmann (1873) gerichtet. 7 „Der Verbrecher und was ihm verwandt ist“, GD, KSA 6, S. 146 ff.
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pathologischen Ursprung. In der Götzen-Dämmerung diskutiert Nietzsche die Mittel dieser gefährlichen Erscheinung, die sie fruchtbar zu machen: Noch ein Problem der Diät. – Die Mittel, mit denen Julius Cäsar sich gegen Kränklichkeiten und Kopfschmerz vertheidigte: ungeheure Märsche, einfachste Lebensweise, ununterbrochner Aufenthalt im Freien, beständige Strapazen – das sind, in’s Grosse gerechnet, die Erhaltungs- und Schutz-Maassregeln überhaupt gegen die extreme Verletzlichkeit jener subtilen und unter höchstem Druck arbeitenden Maschine, welche Genie heisst. (GD, KSA 6, S. 130)
Die Nähe zwischen Genie und Krankheit ist natürlich ein ganz wichtiges Thema in Nietzsches Spätschriften. Im Vorwort zum Fall Wagner bezeichnet sich Nietzsche als einen Dekadenten, der sich gegen seine Dekadenz hat verteidigen können. Vor allem aber ist es in Ecce homo, wo Nietzsche die Verletzlichkeit dieser empfindlichen Maschine erörtert. In Ecce homo, meines Erachtens ein sehr untergeschätztes Buch, präsentiert Nietzsche die Lösung, die er zum Problem der Überempfindlichkeit des Genies gefunden hat. Wahrscheinlich mit Montaigne als Vorbild, diskutiert er systematisch die Faktoren, die zu beobachten sind: „Ernährung, Ort, Clima, Erholung, die ganze Casuistik der Selbstsucht“ (EH, KSA 6, S. 295). Mich interessiert hier vor allem das Klima. Im zweiten Stück des Abschnittes Warum ich so klug bin schreibt Nietzsche: Es steht niemandem frei, überall zu leben; und wer grosse Aufgaben zu lösen hat, die seine ganze Kraft herausfordern, hat hier sogar eine sehr enge Wahl. Der klimatische Einfluss auf den Stoffwechsel, seine Hemmung, seine Beschleunigung, geht so weit, dass ein Fehlgriff in Ort und Klima nicht nur seiner Aufgabe entfremden, sondern ihm dieselbe überhaupt vorenthalten kann: er bekommt sie nie zu Gesicht. (EH, KSA 6, S. 281–282)
Schon in der antiken Medizin hat man einen Zusammenhang zwischen Klima und Gesundheit gesehen, und wahrscheinlich gehören hierher für Nietzsche unter anderen auch Hippolyte Taine und Montesquieu zum geistesgeschichtlichen Kontext. Aber bei ihm scheinen diese Betrachtungen auch ihre Verwandtschaft mit der Medizin der Zeit zu verraten: Eine zur schlechten Gewohnheit gewordne noch so kleine Eingeweide-Trägheit genügt vollständig, um aus einem Genie etwas Mittelmässiges, etwas „Deutsches“ zu machen; das deutsche Klima allein ist ausreichend, um starke und selbst heroisch angelegte Eingeweide zu entmuthigen. Das Tempo des Stoffwechsels steht in einem genauen Verhältniss zur Beweglichkeit oder Lahmheit der Füsse des Geistes; der „Geist“ selbst ist ja nur eine Art dieses Stoffwechsels. Man stelle die Orte zusammen, wo es geistreiche Menschen giebt und gab, wo Witz, Raffinement, Bosheit zum Glück gehörten, wo das Genie sich fast nothwendig sich heimisch machte: sie haben alle eine ausgezeichnet trockne Luft. Paris, die Provence, Florenz, Jerusalem, Athen – diese Namen beweisen Etwas: das Genie ist bedingt durch trockne Luft, durch reinen Himmel, – das heisst durch rapiden Stoffwech-
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sel, durch die Möglichkeit, grosse, selbst ungeheuere Mengen Kraft sich immer wieder zuzuführen. (EH, KSA 6, S. 282)
Das alles klingt fast, als ob Nietzsche Lombrosos Gedanken zum Genie in eine Lebensphilosophie hätte umwandeln wollen. Das Genie ist für Lombroso sehr wichtig, weil es ein Gegenstück zum geborenen Verbrecher ist: das Genie ist zwar entartet, aber es ist eine Entartung mit positiven Konsequenzen oder mit den Worten der italienischen Wissenschaftshistorikerin Delia Frigessi: „Das Genie erscheint Lombroso als Protagonist der Evolution, der wichtigste Akteur einer Abnormalität und einer Abweichung, die die Welt bewegen und den Gang der Geschichte verändern mit ihrer transgressiven Kraft.“8 Der moderne Mensch ist also der Entartung besonders ausgesetzt. Die Entartung kann in zwei Richtungen führen: sie kann sich als Genie oder als Hang zur Kriminalität äußern. Lombroso untersucht nun, unter welchen Bedingungen das Ergebnis Genie ist. Für Lombroso wie für Nietzsche ist Florenz eine Stadt, deren Klima günstig für das Genie ist. Er vergleicht Florenz mit Pisa. In Florenz hat es natürlich unendlich viele Künstler, Denker, Schriftsteller etc. gegeben; in Pisa hingegen wenige, obwohl Pisa seit langem die wichtigste Universitätsstadt der Region ist. Laut Lombroso hat das mit dem Luftdruck zu tun. Pisa und Florenz liegen dicht aneinander, nur etwa 80 Kilometer voneinander entfernt. Die beiden Städte unterscheiden sich aber in einer wichtigen Hinsicht: „Der einzige Unterschied aber, der zwischen beiden Städten besteht, ist, daß Pisa in flacher Ebene und Florenz im Hügelland liegt“ (Lombroso 1887, S. 65). Da das Genie von einem mäßigen Luftdruck bedingt sei, sei Florenz also eine Stadt mit sehr guten Bedingungen für das geniale Schaffen. Auch die Temperatur in Florenz ist günstig für das Genie. Das Genie braucht Wärme, aber keine Hitze. Für Lombroso ist auch das eine Erklärung, warum die italienische Kunst so reich ist. Bei uns im Norden ist es einfach zu kalt. Denn die Bedingungen für das Genie seien den Bedingungen für den Wahnsinn ähnlich, laut Lombroso. Er sucht das statistisch zu beweisen: die Ausbrüche von Wahnsinn und die Schaffung genialer Kunstwerke sind im späten Frühling und in den frühen Herbstmonate am zahlreichsten (Lombroso 1887, S. 35, 42, 54–55). In Nietzsches Schriften findet man fast keine Hinweise auf Lombroso. In Nietzsches Bibliothek standen seine Bücher nicht. Und Lombroso scheint auch an Nietzsche nicht interessiert gewesen zu sein. In Genio e degenerazione aus 8 Frigessi 2003, S. 291: „Il genio appare a Lombroso il protagonista dell’evoluzione, il principale attore di un’anormalità e di una devianza che riesce a smuovere il mondo e a cambiare il corso della storia con la sua forza trasgressiva.“
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1897 gibt es einen Hinweis an „l’inventore dell‘Uebermensch“ (Lombroso 1897, S. 189), aber Nietzsches Name wird nicht erwähnt, und in den vielen langen Kapiteln mit Diskussionen krankhafter Genies sucht man Nietzsche vergebens. Aber da sie beide in derselben Stadt (Turin) lebten, sie beide ein leidenschaftliches Interesse für das entartete Genie hegten, beide sehr viel lasen, finde ich es wenig wahrscheinlich, dass sie nicht mindestens mit den Hauptgedanken des anderen bekannt waren. Ob nun Nietzsche mit Lombroso bekannt war oder nicht, es besteht die Tatsache, dass Nietzsches Denken zum Thema Genie viele gemeinsame Züge mit dem wissenschaftlichen Genie-Diskurs seiner Zeit hat. Sein Versuch, Leopardi als Opfer der Onanie zu betrachten und sein Versuch das Klima auszunutzen, um das eigene Genie möglichst produktiv zu machen, sind zwei wichtige Bespiele, dass Nietzsche, der große Unzeitgemäße, in sehr vielen Dingen seiner Zeit Dank schuldig war.
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II. Ästhetik, Künste und Kultur
Renate Reschke
Utopien und Kritik mit Dionysos Zwischen Macht und Rebellion, Gewalt und Illusion
Ich, Dionysos […] / Was wären die Menschen ohne mich? Nüchtern. / Über die wichtigste Frage, die / ich nie stellte, brüten Hunderte Professoren und / werden immer stumpfsinniger dabei. (Xago, Gebet des Dionysos, 2010)
Unter dem Zeichen des Dionysos Wo die Spur aufnehmen, die Friedrich Nietzsche mit der Erfindung seines Dionysos aus dem Geiste der Antike und aus der Kritik der Zeit gelegt hat, um die existenzielle Situation des modernen Menschen zu begreifen, der auf dem Wege sei, seine Zukunft einer ungeheuren Hybris anheimzustellen und um der Krise der kulturellen Moderne, die sich dem Dilemma ihrer inneren Widersprüchlichkeit widerstandslos zu ergeben bereit sei, andere, lebbare Perspektiven zu eröffnen? In welche Richtungen gehen Nietzsches Fingerzeige, in welche Labyrinthe verführen die Masken des Gottes? Ist nicht die Annahme eines dionysischen Philosophierens eine contradictio in adiecto oder ist sie des Pudels Kern des Nietzscheschen Denkens? Was hat Dionysos mit Utopien zu tun, warum traut Nietzsche dem Gott zu, gleich einem Atlanten, die Kultur der Zukunft zu schultern? Warum sind nachfolgende Philosophen, Künstler, Intellektuelle ihm darin gefolgt, haben den Faden aufgenommen, mit Dionysos eine Zukunft zu imaginieren, jenseits der erfahrenen Gegenwart? Was haben sie verändert, was angenommen? Welche Interessen haben sie hervorgehoben, mit welchen Momenten des Gottes-Entwurfes ihre eigenen Visionen bestimmt und kenntlich gemacht? Warum haben so unterschiedliche Denker sich des Bildes bedient, das Nietzsche vorgezeichnet hat? 1899 hat Robert Musil unter dem Titel Etwas über Nietzsche in sein Tagebuch notiert: Seine Werke lesen sich wie geistreiche Spielereien. Mir kommt er vor wie jemand, der hundert neue Möglichkeiten erschlossen hat und keine ausgeführt. Daher lieben ihn die Leute, denen neue Möglichkeiten Bedürfnis sind […] Nietzsche […] und zehn tüchtige geistige Arbeiter, die das tun was er nur zeigte, brächten uns einen Kulturfortschritt von tausend Jahren. (Musil 1955, S. 42–43)
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Musil öffnet mit dieser Sicht den Blick für die Generierung von Nietzsches Denken in die Zukunft, behauptet eine utopische Tendenz über jede Inanspruchnahme als Modephilosophen. Paul Ernst hat ihn so genannt (Ernst 1978, S. 65), um seine plötzliche Wirkung seit den Endachtzigern des 19. Jahrhunderts zu erklären und über jede Verunglimpfung als „Rattenfänger von Sehnsuchtshausen“ (Richard Dehmels Reaktion auf eine als zu groß erahnte Nähe, Dehmel 1978, S. 15) hinaus. Darin stecken viele Missverständnisse, aber ebenso die von Musil bezeichneten Potentiale. Sie treffen auch die Dimension des Dionysos und des Dionysischen. Das Phänomen Dionysos bediente und stillte einen geistig-kulturellen Hunger nach Befreiung aus einer sinnen- und lustfeindlichen Moral, aber auch aus den intellektuellen Fängen einer Geisteslandschaft, deren Philosophie sich in zu dünner (Nietzsche hätte gesagt, in anämischer, lebensfeindlicher) Luft neohegelianischer und neukantianischer Denksysteme bewegte und deren Künste sich in bigott-verschämten Bildern von Sinnlichkeit und dürrer Lebensfülle übten. Was Wunder, wenn das Bild des trunkenen Gottes mit seinen Ekstasen und Dithyramben auf eine unverstellte Sinnlichkeit als großer Wurf einer Befreiung wörtlich genommen und mit überzeichneten Sprach- und Gedankenorgien (mit dem missverstehenden Hauch der Rauschapotheosen) geantwortet wurde. Lebensweltliche und intellektuelle Turbulenzen schwappten über den Rand ästhetischer (meist literarischer) und philosophischer Einfriedungen. In den einzelnen sehr unterschiedlichen hart- oder weichgezeichneten Enthusiasmen und Romantizismen wohnte ein Gemeinsames: Die Begeisterung für alles Rauschhafte, das als Machtgefühl und dieses als Ausdruck individueller Freiheit erkannt und bis zum Exzess beschrieben, gemalt, gelebt wurde. Mit einer Tendenz zum Abgrund hin, eingedenk der Tatsache, dass es sich nicht nur um eine „intellektuelle Sinnlichkeit“ (Mann 1972, S. 96), wie Heinrich Mann es zeitweise verstand, gehandelt hat. Mit Recht ist davon gesprochen worden, die Nietzsche-Rezeption habe mit trivialer Verfälschung begonnen. Mit Zarathustra und Dionysos als Gewährsfiguren ließen sich alle Praktiken egoistischer Luststeigerungen, entfesselter Machtgefühle, Enthemmungen und Grenzüberschreitungen ins Besinnungslose der Drogen- und Sexualorgien ebenso legitimieren wie mystisch-dumpfe, in gewaltsame Männer- und Politphantasien abdriftende Zukunftsbilder oder in triviale Möchtegernaristokraten-Sehnsüchte eintauchende Lebensprophetien. Mit Dionysos im Leibe ließ sich vortrefflich ein Lebensgefühl stilisieren, mit dem sich jegliche Rücksichtslosigkeit mit rauschsäuselnder Selbstbeweihräucherung ausstatten ließ. Jeder Verdächtigung in Richtung ‚zahmer Barbarei‘ (wie Nietzsche es genannt hat) ließ sich mit dem Hinweis auf das dionysische KulturElement der Boden entziehen. Zudem mit dem Attribut des Aktivistischen und
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Tatvollen versehen, war es vollends der Kritik entzogen. Namen seien nur wenige und stellvertretend genannt: Adolf Wilbrandts Roman Die Osterinsel (1910), Michael Georg Conrads In purpurner Finsterniß (1895), Hermann Conradis Triumph des Übermenschen (1911), und Josef Victor Widmanns Schauspiel in drei Aufzügen Jenseits von Gut und Böse (1893). Bei den kritischen Stimmen ist quasi ex negativo die Begeisterung für den dionysischen Aufbruch eingeschrieben: Sie reflektierten dessen problematische Seite. Leo Bergs Friedrich Nietzsche (1889), Johannes Schlafs Prüderie (1890), Bruno Willes Die Philosophie des reinen Mittels (1892), Wilhelm Bölsches Die Gefahren der Nietzscheschen Philosophie (1893) – geboren aus der Negativbilanz des Zeitgeistes und formuliert aus der Beobachtung, Nietzsche laufe Gefahr, in die Hände falscher Gralshüter und Propheten zu geraten, wenn nicht sogar selbst einer zu werden. Nur wenige begriffen damals die Reichweite eines Philosophierens mit Dionysos und dass er nicht zu trennen sei von seinem Götterbruder, dem auf Klarheit und Reflexion ausgerichteten Apollon, dass erst und nur durch die widersprüchliche Einheit beider dem Dionysischen jene Wirkmächtigkeit zukomme, deren fortgesetzte Faszination die Konturen der Auseinandersetzung bestimmt hat. Und noch immer bestimmt. Heinrich Mann gehörte dazu, er sah Nietzsches Anhängerschar als „zweifelhaftes Gefolge“ (Mann 1978, S. 106), insistierte mit sinnlich-befreiender Erotik seiner Romanfiguren auf eine lustvolle Befreiung des menschlichen Daseins in der Komplexität einer Lebensvorstellung, die sich jeder zurechtgeschnittenen Moral entzieht, die in der Verteufelung alles Sinnlich-Leiblichen gipfelte. Im geistigen Gleichklang dazu hat Johannes Schlaf ein halbes Dezennium zuvor die Prüderie als zeitgenössische „Haupt- und Cardinalkunst“ angeprangert, als Sprödigkeit und „Schamlosigkeit“ und den dionysischen Menschen Nietzsches als gerades Gegenteil dazu gesehen: Es ist das Bild eines Menschen mit großem, weltklugen Auge […] das Bild einer in ihren Trieben gesunden, einer gefestigten, reifen Natur. Das Bild eines Wesens, verfeinert, complicirt in seinen Instinkten und inneren Kräften, modern und doch eines griechischen Namens würdig […] Diese Statue ist der ‚dionysische Mensch‘ Friedrich Nietzsche’s. (Schlaf 1978, S. 69)
Dionysos als kulturelle Alternative, als Potential dessen, was die in sich selbst (be-)gefangene Moderne verweigert oder unmöglich macht. Rainer Maria Rilke bringt es 1900 auf den Punkt: „Das Dionysische Leben ist ein unbegrenztes InAllem-Leben, zu dem der Alltag sich wie eine lächerliche kleine Verkleidung verhält“ (Rilke 1978, S. 131), damit das Thema Dionysos auffaltend als allgemeines, anthropologisches, kulturelles es in ein philosophisches verwandelnd, dem das Phänomen der Steigerung, der Kraftpotenzierung, des Machtstrebens,
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des Herrschens, des Gewaltsamen (wenn auch vorerst in den sublimierten Formen des künstlerischen Gestaltens oder der psychologischen Ausgestaltung) innewohnt. Nach der Jahrhundertwende wird der Ton deutschtümelnder und imperialer. Dem allgemeinen Rauschgefühl gesellt sich das Gift nationalistisch werdender Überheblichkeit. Dionysisches wird mit Nietzsche zur Rechtfertigungsstrategie offen vorgetragener politischer Herrschaftsansprüche, Dionysisches wird zum Kampfgeist, dem Gewalt eine kriegerische Tugend ist, die Nietzsche vorgelebt habe.1 Neben solchen Tendenzen ins Völkische und den Tornister schon gepackt, steht die Reklamation des Nietzscheschen Dionysos für ein allen Unbilden enthobenes Heroentum mit dem Anspruch auf ein Lebensideal, an dem nur eines hervorzuheben ist: seine unbedingte Opferbereitschaft und immerwährende Steigerung in die historische Unantastbarkeit. Ein Beispiel muss genügen: Viktor von Andrejanoffs 1895 in der Zeitschrift Die Kritik erschienene Gedichttrilogie Friedrich Nietzsche mit den Teilen Also sprach Zarathustra, Antichrist und Dionysos. Von Flammenpfeilen und Sturmgeißeln als göttlichen Waffen ist die Rede, die heroische Attitüde ist allgegenwärtig, die Aufforderung zur Nachahmung und Nachfolge ebenso: Der Berg, wo Zarathustra einst gestanden, Trägt nun Dionysos, den ewig jungen, In seinen Gold- und Purpurprachtgewanden, […] Steigt er zur Höh‘, an der die Stürme branden Und fruchtlos lecken Thales-Dämmerungen; Dort breitet er die Arme sonnenentgegen. (Andrejanoff 1895, S. 245)
Eine epochemachende Geste im Stil von Fidus und des fin de siècle, dem Zeitgeist bildungsbürgerlich Tribut zollend durch historische Entrücktheit in eine antikisierende Sonnenumflutung, die eher Apollon zu Gesichte gestanden hätte als der Rauschapotheose des weintrunkenen Bruders. So verwischen sich die Grenzen, entfernen sich von beiden, von der mythologischen Vorgabe und der philosophischen Erfindung. Und propagieren eine paradoxe Entsinnlichung der gerade wieder gewonnenen Körperlichkeit. Doch man täusche sich nicht. Auch diesem Bild-Konstrukt ist ein gerüttelt Maß an Machtsehnsucht, die auf ihre Stunde wartet, eingeschrieben und eine 1 „Uns bleibt nur Zeit,/ Um deutsch zu sein – deutsch, wie du selber warst – / Damals – vom Lehrstuhl aus der sich’ren Schweiz/ Herzugeeilt beim Schall der Kriegsfanfare!/ Nicht Mühsal, noch Gefahr hat dich geschreckt./ Und Leiden, brennend heiß vom Qualm der Schlacht, Hat deine Pflegerhand gelindert. Dank“ (Gnade [1914]).
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Utopie von männlicher Kraft, die skrupellos auf ein Machtgefühl vertraut, das Siegesgewissheit und Unterwerfung als die zwei entscheidenden Seiten eines alternativen Kulturbildes zusammenschließt. Da gehen sehr unterschiedliche Bestimmungsmomente des Dionysischen eine vertrackte Symbiose ein, werden durch eine angemaßte Deutungshoheit in eine Einheit gezwungen, an der sich im 20. Jahrhundert die Geister scheiden. Zum einen orientieren sich Künstler wie Philosophen an einem Dionysos Nietzsches, den sie zum Ausgangspunkt ihrer, auf eine neue Körperlichkeit orientierenden Befreiungsphilosophie und Befreiungskunst à la Lebensreformbewegung und einer kosmisch anmutenden Wiedervereinigung mit der Natur machen, zum zweiten entdeckt die kulturund sozialkritische Geisteselite an Nietzsches Gott das Moment des rebellierenden Mitstreiters auf dem Wege in eine politisch andere Zukunftsgesellschaft, zum dritten werden am Leitfaden des Dionysos ideologieaufbrechende und entlarvende Denkszenarien möglich, die noch in den entlegendsten Winkeln des Geistes, der gesellschaftlichen Realitäten und kulturellen Verhaltensweisen, in künstlerischen, ästhetischen, philosophischen Reflexionen den verdeckten Macht- und Herrschaftsapotheosen nachspüren, die sich den Mantel des Dionysischen umgelegt haben, um sie durch Offenlegung zu desavouieren. Die Namen der Diskursbeteiligten klingen wie eine Starparade der philosophischen und künstlerischen Geister. Sie alle haben Nietzsches Dionysos zu ihrem Thema gemacht und mit ihm ihre eigene Sicht auf die Welt, auf ihre Zeit profiliert, haben Nietzsche, mal mehr, mal weniger kongenial weitergeschrieben, haben vor allem auf eines aufmerksam gemacht: Nicht nur, dass (wie Nietzsche selbst keinen Zweifel daran hat aufkommen lassen) Dionysos und Apollon nicht ohne Schaden zu separieren und als Einzelphänomene zu verstehen und zu deuten sind, ihrer beider Signifikanz eine wechselseitig aufeinander bezogene ist, sondern vor allem, dass durch diese Tatsache Dionysos für Nietzsche eine Projektionsfläche, eine Metapher, ein Topos, eine Denkfigur (wie immer man die Priorität setzen will) war, mit der er buchstäblich Wein auf die Mühlen des affirmativen oder kritischen Nachdenkens über die Mechanismen der Macht und Herrschaftsstrukturen moderner Kulturen und kultureller Verhaltenskodizes sowie über Möglichkeiten ihrer Transparenz und ihrer Überwindung gegossen hat. Um einige dieser Projekte, um solche, die den utopischen Impuls aufnehmen und um solche, die ihn konterkarieren, wird es nachfolgend gehen. Doch nicht ohne einen kurzen Blick auf den Gott.
Nietzsches Dionysos Dionysos gehört zu den Prunkstücken der provokativen Bilder Nietzsches, mit denen er den Schauplatz der Philosophie nicht nur zu einem Streitplatz des
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Nachdenkens über die Antike, sondern vor allem zu einem Diskursfeld über die Perspektiven des modernen Menschen gemacht hat. Gottfried Benn hat davon gesprochen, Nietzsche habe bewusst alles zerbrochen, was ihm begegnete, die Inhalte zerstört und die Substanzen vernichtet, um „die Bruchflächen funkeln zu lassen auf jede Gefahr und ohne Rücksicht auf die Ergebnisse“ (Benn 1978, S. 303), um sie in einem Kaleidoskop zu verdichten und zusammenstürzen zu lassen zu ausdrucksstarken Bildern von radikaler Exklusivität. Auch im Fall Dionysos tauchen verstörende Bruchstücke auf, haben die Bilder eine Intensität, mit der vergessene Träume bisweilen überfallen, verunsichern, irritieren und überraschen. Dionysos in seiner „[g]öttliche[n] Wildheit“ (Detienne 1995, S. 3), im stürmischen Siegeszug über das Griechentum und mit dem Ansinnen seiner Herrschaft, der machtvolle Gott mit den Waffen des Außer-sich-Setzens seiner Gefolgschaft, der Versetzung in die Besinnungs- und Willenlosigkeit, des Aufzwingens seines eigenen Wollens. Mit der Kraft des Weines und Rausches schlägt er in den Wahn, um Gehorsam sich gegenüber durchzusetzen, ist unberechenbar in seinen Epiphanien, daher der unvorhergesehen Überwältigende, der in Schrecken versetzende und todbringende Gott, der, der Opfer verlangt. Wo er auftaucht, springend und tanzend, bringt er Raserei, setzt Normen und Werte außer Kraft: „Dionysos, der Gott, der brutal Besitz ergreift, sein Opfer straucheln läßt und es in Wahnsinn, Mord, Befleckung zerrt“, aber zugleich auch der, „der Trauben an einem Tag reifen und Wein aus Brunnen sprudeln läßt, der Gott des betörenden Tranks und leidenschaftlicher Wallung“ (Detienne 1995, S. 8–9), ein zweigestaltiger, zwiespältiger Gott. Nietzsche kannte seine mythologische Vita, wusste um seine vielfältigen Masken, war vertraut mit seinen Auftritten in den großen Tragödien und mit den Huldigungsfesten zu seinen Ehren, den frühen naturverbundenen und den Staatskulten im Festkalender der Polit-Gemeinschaften. Das Rauschhafte hat den Philosophen interessiert, ihm verdankt sich die exorbitante Rolle des Gottes im ästhetischen Konzept seiner Kunst- und Kulturerneuerung für die und in der Moderne in der Geburt der Tragödie. Nachdem er an dieser nicht nur den schopenhauerschen und metaphysischen Ballast abgetragen hat, wie in der Selbstkritik von 1886 geschehen, sondern auch die angestrengte ästhetische Überdehnung zurückgenommen hat, stand Dionysos zur Verfügung, zum tatsächlichen philosophischen Widersacher und Gegenspieler des christlichen Gottessohnes zu werden, der spiegelverkehrt alles das besaß, was von dem letzteren abgezogen war. Und von dem Nietzsche wusste, dass ein untilgbarer Zusammenhang zwischen ihnen bestand. Wenn der sich auch nur in der spät proklamierten Identität des Philosophen selbst zeigte und beide ihm als dionysische Masken dienten. Um schließlich Dionysos’ Namen für eine Philosophie zu geben, deren Hauptthemen, als dionysische apostrophiert, jenseits der tra-
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ditionellen Philosophien angesiedelt sein sollten, um als Umwertungsdenken das Bild einer neuen Philosophie zu profilieren. Leibphilosophie sollte sie sein, die große Vernunft des Leibes, Macht- und Lebenssteigerungsdenken, SinnenRehabilitation, zwar ohne artistenmetaphysisches, aber mit ästhetischem Fundament, als Basis für alles Erkennen und Handeln gleichermaßen. „Ja, was ist dionysisch?“ (GT, KSA 1, S. 15) fragt Nietzsche im Versuch einer Selbstkritik. Und antwortet mit einer Kaskade an Elogen auf die griechische Kultur, wie er sie versteht und mit einer unversöhnlichen Kritik an der das Leben bedrohenden christlichen Kultur und Moral. Dionysos gerät zur Kampfansage gegen den vernünftelnden Optimismus der Moderne, gegen bigotte Bürgermoral unter dem Zeichen des Kreuzes. Als solche vereinigt er alles Starke, Kraftvolle, Lustvolle, Steigerungswillige auf sich, fokussiert alle Umwertung der Werte auf den grundlegenden Wert eines Daseins, in der Spannung zwischen Leben und Leiden, Machtwillen und interner Tragik. Dionysos gerinnt zum Gegenbild zu den kulturellen Eckdaten der modernen Kultur: „Müdigkeit, Missmuthigkeit, Erschöpfung, Verarmung des Lebens“, gegen den „heimliche[n] Instinkt der Vernichtung“ (GT, KSA 1, S. 18–19), gegen Verfall, Verkleinerung und Verleumdung. Die dionysische Weltanschauung als zukunftsweisend, kraftvoll, aber auch als realistisch einsichtig in die Daseinsbedingungen für alles Leben, als die reflektierende Seite einer Überlebensstrategie, die um die Notwendigkeit rauschhaften Selbstbetruges als Form der Selbstbehauptung weiß, ohne den das Leben nicht zu ertragen, zu leben wäre. Dass es Apollon ist, der die Transparenz und Bewusstheit dieser Situation zu verantworten und zu gewährleisten hat, soll hier nur erwähnt sein. Ebenso, dass ohne ihn Dionysos nicht der wäre, als den Nietzsche ihn imaginiert. Unter dem Zeichen des Dionysos zu philosophieren, heißt Perspektiven umzustellen, schöpferisch zu sein, ein Schaffender, der vernichten muss, um schaffen zu können: Ich kenne die Lust am Vernichten in einem Grade, die meiner Kraft zum Vernichten gemäss ist, – in Beidem gehorche ich meiner dionysischen Natur […] Ich bin der erste Immoralist: damit bin ich der Vernichter par excellence. (EH, KSA 6, S. 366)
Dies heißt, mit dem Hammer umgehen zu können und zu müssen: Für eine dionysische Aufgabe gehört die Härte des Hammers, die Lust selbst am Vernichten […] die unterste Gewissheit darüber, dass alle Schaffenden hart sind, ist das eigentliche Abzeichen einer dionysischen Natur. (EH, KSA 6, S. 349)
Und warum dies alles? Um den Menschen zu befreien aus zweitausend Jahren Widernatur, nicht nur, um ihm seine natürliche Kraft und Größe wiederzugeben, sondern um ihn selbst als ein Naturwesen in höchstem Maße (und darin
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sieht Nietzsche seine Auszeichnung) zu verstehen, das aus seiner Natürlichkeit das Recht ableiten kann, Herr der Erde zu sein oder zu werden, Herrschaft über sie auszuüben, ein per definitionem herrschendes Wesen zu sein, um diese Bestimmung zum Grundmuster und Gradmesser seiner Kultur zu machen.
Dionysos: politisch, revolutionär Der Umwertungsfaktor Dionysos ist nicht zu unterschätzen. Dionysos als Zukunftsformel, das bedeutet, andere Konturen einzuzeichnen in die gegebene Kulturlandschaft, bedeutet, sich nicht abzufinden mit dem Vorhandenen. Es bedeutet, Dionysos mit Nietzsche als eine Utopie ins Menschlichere zu verstehen, Kräfte und Handlungsmuster zu entwerfen, ihr näher zu kommen. Es kann auch heißen, den Gott unter dem Blickwinkel seiner Politisierung zu sehen, das dionysische Moment einer Kultur als das ihr innewohnende revolutionäre Potential zu bestimmen. Das ist im 20. Jahrhundert vor allem das Metier linksgerichteter (eingedenk der Problematik des Attributes) Denker und Literaten gewesen. Vier Beispiele seien vorgestellt: Ernst Blochs frühe Utopie einer Kultur jenseits der bürgerlichen Gesellschaft, Walter Benjamins entlarvender Blick auf die herrschende Kultur in der Jahrhundertmitte, Antonio Negris Staatskritik in der Postmoderne als ‚Arbeit des Dionysos‘ und Guido Bachmanns Roman Dionysos am Ende des Jahrhunderts, in dem die Hauptperson Dino Bodoni alias Dionysos mit Nietzsche-Zitaten als Möchtegern-Terrorist daran scheitert, sich und die Welt zu verändern. 1. Blochs Essay Der Impuls Nietzsche stammt von 1913.2 In ihm spielt Dionysos die Rolle „als Zeichen für abstrakt-phantastische Flucht in Anarchie“; so erst „begreif[e] man Nietzsches ernste Gewalt auf die Zeit“, damit habe er „seine Zeit in Parolen gefaßt, in Parolen undeutlicher Gegenbewegung des ‚Subjekts‘ gegen die Objektivität, welche es vorfindet.“3 Wie Nietzsche geht es Bloch um die Möglichkeiten der Kultur, um die, die sie dem Menschen zur Verfügung stellt und um die, die sie ihm verweigert, verhindert oder unausgeschöpft lässt. Bloch denkt aus dem Blickwinkel einer Hoffnung, die bestehenden gesellschaftlichen, mit eklatanten Mängeln behafteten Bedingungen der Kultur zu revolutionieren, Nietzsche ging es darum, bestehende Macht-Götzen zu zertrümmern und den Menschen aus selbst zu verantwortenden lebensfeindlichen 2 Veröffentlicht wurde der Text erstmals im Sammelband Durch die Wüste bei Paul Cassirer, Berlin 1923 und dann in Erbschaft dieser Zeit, Zürich 1934/35. 3 Bloch 1962, S. 268 (im Text als BL, Seitenzahl).
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Kulturzuständen zu befreien durch die ausdrückliche Freisetzung seiner sinnlichen Kreativität und natürlichen Instinkthaftigkeit. Bloch sieht darin die problematische Crux des Nietzscheschen Dionysos, nicht nur seine verhängnisvolle Unbestimmtheit und den Ballast mythischer Verdunkelung, sondern auch die Reklamation des Gottes unter dem Vorzeichen des Übermenschen für die Rechtfertigung aller Arten von Machtwillen, Gewalt und kriegslüsternen Prophetien: „In seinem Namen blühen seitdem Sport, Tanz, Kriegsfurie, Jugendbünde“; Dionysos ist mehr als der „hemmungslose Reflex des Kapitals, das Zucht, Maß, Recht, Bürgertugend beizeiten abbauen läßt, sondern er ist formale Ausschweifung in ein unbestimmtes Außersichsein“ (BL, S. 268). Der Vorwurf einer solchen Inanspruchnahme ist unüberlesbar. So teilt Bloch Dionysos als von Nietzsche hingeworfene Gedankenbeute: „Das Schiff ist angekommen; nun gilt es, nicht in Ansehung des ‚Übermenschen‘ (der ist bereits sonnenklarer Fascismus), wohl aber der Dionysiaka, die Beute zu teilen“ (BL, S. 268). Dies hieß, sie neu und anders zu interpretieren, die berühmten Blochschen Goldkörner darin zu finden, die nicht Störung im Getriebe der Kultur sind und auf Agonie zielen, sonders Stimulanz ihrer steten Selbsterneuerung, die der Unbestimmtheit nicht nur einen Namen geben, sondern ihre Maske als Vorgriff in die Zukunft begreifen. Der Gewalt, die das Leben bedeutet, ihr dunkles Moment nehmen, sie in revolutionäre Potenz wandeln. Bloch will die „Mischung […] von Sprengpulver und Räucherwerk, von Morgen und Urvorgestern, von ‚freien Geistern‘ und thrakischem Nibelungenring, von Revolte und Archaismen“ aufsprengen, den bloß „archaischen, scheinbewegten Protest“ umlenken in tatsächliche soziale Bewegung. In eine, die der gefährlichen, ins Barbarische driftenden, die Romantik auf Brand und Archaismus auf Bestie setzt, radikal entgegensteht. Keine Flucht ins bloße Außersichsein, sondern den alles negierenden „Amoklauf“ des Dionysos (BL, S. 269) umlenken in die Richtung „revolutionäre[r] Dialektik der Geschichte“, auf den Grundwiderspruch des Menschen zwischen Entäußerung und Entfremdung, Außersichsein und Beisichsein: Auf die richtige Seite der Beute kommt daher nicht Dionysos als bloße frühere Bewußtseinsstufe, blutbesudelt, kreißende Ananke und Mordnatur, Höhlen-Gegensatz zum Licht. Sondern gerade ein Dionysos als Zeichen des Ungekommenen, Ungewordenen im Menschen, als Gott der Gärung, aber der weinsuchenden, lichtrufenen. (BL, S. 270)
Gärung ist das Stichwort für die Veränderung, Ungewordenes im Menschen zur Realität zu bringen, erscheint als Ziel: Utopie ist der historische Nicht-Ort für die Dialektik von Möglichem und Wirklichem. So deutet Bloch Nietzsches späteren Auszug mit dem Genueser Schiff mit Dionysos als Kapitän: Dorthin will ich […] mit der Ausfahrt in unterdrückte Weite, mit einer besseren Welt als der den Sklaven und – den Herren gewordenen. Dann leuchtet die Musik eines noch
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nicht gelebten Lebens auf, macht sich das Nicht-Entsagenkönnen, die Unersättlichkeit der Hoffnung schöpferisch, um ihre tausend Flaschen und Essenzen ins Werk zu gießen; dann zieht ein unwendendes Wollen, ein motorisches Denken des Neuen herauf, das der Welt ein Ziel setzt. Ein abstraktes Ziel bei Nietzsche, ein privates, aristokratisch-reaktionär tingiertes und vermummtes, eine romantische Utopie, ohne Kontakt mit der Geschichte, gar mit der heute entscheidenden Klasse; aber die Geschichte nimmt sich ihren Kontakt selber, die List der Vernunft ist groß. (BL, S. 270)
Hier schlägt Blochs Stunde, dem dionysischen Schiff seine konkrete Fahrt in zukünftige Geschichte vorzuzeigen. Sein Anteil daran ist nicht so unbescheiden wie es auf den ersten Blick scheint. Die List der Vernunft sorgt selbst für die Kursbestimmung; ihr Anstoß gilt der Dialektik von Individuum und Gesellschaft, die durch bürgerliche Verhältnisse eine gestörte, verbogene sei. Der Widerspruch zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, Aneignung, Freiheit und Entfremdung hat eine Situation entstehen lassen, in der sich das menschliche Individuum nicht mehr oder noch nicht wieder als freies soziales Wesen erfahren kann. Dionysos als der die Sklavenmoral sprengende, Saturnalien feiernde, den Sinn des bloßen Habens, der nach Karl Marx für die allgemeine Verdummung und dafür verantwortlich ist, dass der Mensch seine Bestimmung zum frei vergesellschafteten Wesen nicht leben kann – Bloch kannte seinen Marx! – als der verneinende und sprengende Gott: ‚Dionysos’ ist eines der kräftigsten, wenn nicht das kräftigste Zeichen des Menschen, der noch außer sich ist und falsche Formen zerbricht: und er ist es nicht an einem fertigen, großkapitalistisch visierten Anfang der Geschichte, sondern immer nur in ihr darin, an ihren neuen Einsatz- und Wendepunkten. (BL, S. 271)
Dass der moderne bürgerliche Mensch am Anfang des 20. Jahrhundert sich selten dieser Dimension bewusst ist und oft, weil die eigenen kleinen Begierden befriedigend, von der Peitsche und sich damit als Herr träumt und das Großkapital den propagierten Machtwillen in Kriegspropaganda ideologisiert, liege, so Bloch, an der Undeutlichkeit, die Nietzsche dem Bild seines Dionysos gegeben habe: Es ändere aber nichts an der ihm eingeschriebenen Potenz, auf ein „in utopische Feuer gesetztes Diesseits“ zu orientieren, auf „das Problem des unfertigen Menschen und seiner Welt“ (BL, 272). Nur so könne man begreifen, warum Nietzsches Dionysos etwas von dem besitze, was man den „glühenden Kern im ‚Menschen‘“ nennen kann; diesen neu oder wiederzuentdecken, gelte alle Anstrengung (BL, 273). Es sei die Diesseits-Teleologie, die Nietzsche dazu gebracht habe, seines Gottes Tendenz zu den heroischen Geschichtsfiguren, zum Übermenschen, zu den Raubtiergestalten der Renaissance zu wenden, weil sich gezeigt habe:
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Dionysos weiß hier mit einem Male zu genau, was er will, weil er in Wahrheit zu wenig weiß, zu unbestimmt weiß, was er will. Indem sich die formale Emportendenz an Feudalund Statik-Bildern faßt, dankt sie zu einer Art barbarischem Klassizismus ab. (BL, S. 272)
Ob dies eine kongeniale Nachfolge im Sinne Nietzsche ist, sei dahin gestellt. Aber es gelingt Bloch, in dem er behauptet, Nietzsche selbst habe dem antiken Gott und der nach ihm benannten Tendenz menschlichen Strebens, diese innere Offenheit gegeben (Dionysos als das „Ende des geschlossenen Weltblicks“, BL, S. 272), ihn denk- und bildtauglich zu machen für Konfliktlösungen im angebrochenen Jahrhundert und für die generelle Krisensituation spätkapitalistischer Kultur. Kulturkritisch und philosophisch fundiert ist diese Position bei Bloch darin, das menschliche Individuum als ein freies, sich selbst bestimmendes zu sehen, in einer Subjekt-Philosophie, die danach fragt, inwieweit geschichtlich konkret menschliche Bedingungen für ein menschliches Leben möglich und wie sie zu realisieren sind. Und: „welches ‚Subjekt‘ erschien in Nietzsches […] Dionysos? – doch nur das selber schlecht bestimmte […] zwischen Unmensch und Übermensch […] ein ungefähres Subjekt“: Es sei mit keiner Klasse identisch, weder, so Bloch, mit dem Proletariat noch mit der herrschenden bürgerlichen Klasse. Das Subjekt des Dionysos ist nur sinnvoll zu bestimmen als „Krieg gegen jede Entäußerung, als das feuerhaft-revolutionäre Element jeder Erhebung gegen ‚Zeus‘; und nur insofern, als gegen jedes Innen, Außen und Oben gerichtet, das nicht das des völlig befreiten Menschen ist“ (BL, S. 274). Dionysos als Revolutionär des Subjekts – was nicht ohne Nietzschesche Ironie ist. Summa summarum: Dionysos ist nicht die Ruine oder die Nacht, wohin die Reaktion flüchtet, nicht die dampfende Natur ‚am Grunde‘, sondern – als auf die Fahnen der Revolution gesetzt – die Feuerschlange oder der utopische Blitz. (BL, S. 274)
Nietzsches Kulturphilosophie, in seinem Dionysos präsent, deren Ausdruck der Gott (den apollinischen Part in Gedanken dazugestellt) ist, darin sieht Bloch eine Philosophie der Befreiung, eine radikale Aufklärung, ein Modernisierungskonzept für die Kultur und Gesellschaft der Moderne (BL, S. 274; Caysa 2003, S. 698 ff.). In Über das Problem Nietzsches apostrophiert er Dionysos schon 19064 als den Zerstörer der Individualität, indem er diese in die Welt auflöse, ganz im Gegensatz zu seinem Bruder Apollon, dem eine Hineinnahme der Welt in das Individuum Ziel und Inhalt seiner Herrschaft war. Bloch
4 Der Essay Das Problem Nietzsches ist 1906 in der Zeitschrift Das freie Wort erstmals veröffentlicht.
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schwebt eine dialektische Symbiose vor, wiewohl die Auflösung der Entgegensetzung von Dionysos und Apollon eher aus dem Zweifel gegenüber der Kultivierungswahrscheinlichkeit des Dionysischen aus sich heraus, geboren zu sein scheint als aus der Gewissheit seiner nachhaltigen, nicht nur Kultur revolutionierenden, sondern sie auch definierenden Wirkmächtigkeit resultiert. Dennoch: Blochs Nietzschescher Dionysos vereinigt auf sich alle Attribute eines revolutionierenden Impulses, er bringt Herrschaft zu Fall und stiftet Herrschaft, lebt den abgründigen Augenblick, wobei dieses Erleben die Dauer der weiteren Existenz sichert, er ist der idealtypische Protest gegen jegliche Verkrüppelungen und Einspruch gegen alles den Menschen in seinem sinnlichen Dasein beschränkende, er ist die jasagende Instanz für das Leben schlechthin und (durch seine Negativität) die zwar ungedeckte, aber kraftvolle Hoffnung auf die Perspektiven einer Lebenswelt, einerseits jenseits jeder Dumpfheit mystifizierender kultureller Besinnungslosigkeit, andererseits auch jenseits jener Rauschapotheosen, die Nietzsche dem trunkenen Gott als Kennzeichen zugeordnet hat. Vielmehr als Möglichkeitsfeld für eine wirklichkeitstaugliche, den Menschen als obersten Wert und gesellschaftliches Wesen, als zoon politikon, sehenden Utopie (Caysa 2003, S. 704). Eine diabolische Inanspruchnahme für den großen Traum von einer Moderne, die an Nietzsches Dionysos das entdeckt, was seinem geistigen Vater entgangen war: dass es diejenigen sind, die in seinem Namen die Zukunft buchstabieren, denen er keine tragende Kulturrolle zugedacht hatte. 2. Walter Benjamin denkt in gleicher Spur, mit gleichem Impetus. Auch er sieht in der Aufnahme und Weiterführung des Nietzscheschen Götter-Duos seine wesentliche Matrix, nimmt sie als Paradigmen für die Besichtigung einer (deutschen) Moderne, die auf dem Wege war, sich und die Welt in die selbst gewählte Katastrophe zu stürzen. Dionysos, bei Nietzsche das große Korrektiv gegen die rationalisierte, technisierte und entvitalisierte Lebenswelt und Vernunftherrschaft, nimmt Benjamin an den Möglichkeitshorizont der Jetzt-Zeit und exponiert seine Attribute einer inhärenten Tragik und Kreativität als gesellschaftlichen Gestaltungswillen, als Gegenbewegung zur scheinbaren oder realen Inkommensurabilität von instrumenteller Vernunft und Humanität, Vernunft und Kultur, Vernunft und Geschichte (Carsten Bäuerl 2003). Dionysischer Rausch: Benjamin sieht in ihm die Möglichkeit für Revolte und Subversion, Zerstörung und Aufbruch: Dionysos als Verführer zum Widerstand gegen die Macht-Mythen der Herrschenden, gegen ihre Herrschaftsgesten und GewaltInszenierungen. Der Gott selbst einerseits als Ausdruck von Macht und Herrschaft und zugleich als Einspruch gegen die Machtselbstverständlichkeit der herrschenden Klassen und ihrer Kultur. Der Inszenierung von Herrschaft, ihren
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Drohgebärden und ideologischen Obsessionen eine Gegenwehr zu sein, ihr mit einer großen Kritik der Gewalt zu begegnen (Benjamin 1955, S. 22), darin liegt für Benjamin die moderne Bedeutung des Dionysos. Seine Tragödien-Schrift diagnostiziert dies unter der Optik ästhetischer Relevanz. Das Gewaltphänomen als Machtausdruck: Seine Arretierung im Erhabenen zeigt den Prozess einer Überschneidung von Ästhetischem und Gesellschaftlichem, Künstlerischem und Politischem, deren wechselseitige Transgression und Transformation. Die Liaison eines Pathos der Macht mit der ihr innewohnenden Faszination, die im Kontinuum der Geschichte eingelagert sind, aufzubrechen im Dionysischen. Mit Dionysos aufzubrechen bedeutet mindestens zweierlei: zum einen sich (wie es die sechste These Über den Begriff der Geschichte formuliert) des gefahrvollen Augenblicks bewusst zu sein, in dem Macht und Geschichte aufblitzen (Benjamin 1984, S. 158), zum anderen sich der grausamen Macht des Gottes und seinem Hang, auf der Seite der Sieger zu stehen, zu stellen, um ihm durch die Dekonstruktion seiner eigenen Machtgelüste, indem er an ihm den Zusammenschluss von Verführung und Gewalt, Macht und Göttlichkeit demonstriert (Bohrer 2009, Zugriff: 02.10.2010), gegen den Strich zu deuten, um ihm seine, diese Machtkonstellationen aufbrechenden, Eigenschaften zu entlocken und notorisch zu machen. Die Geschichtsthesen, Benjamins Aufzeichnungen von 1939/40, orientieren auf die Kritik einer Geschichtsschreibung, die sich allein in die Sieger und Herrschenden einfühle. Es komme darauf an, die verschwiegene Seite der Geschichte ans Licht zu bringen und zu begreifen, dass Geschichte ein Prozess von Gewalt und Herrschaft, der Gewalt der Herrschenden ist, die tradiert und für selbstverständlich erklärt wird: Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugut […] Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter. (Benjamin 1984, S. 159)
Dass Dionysos an diesem Triumphzug eine Aktie besaß, wusste Nietzsche und hat dies im Sinne der Sieger, als kulturelle Notwendigkeit akzeptiert: „Deshalb dürfen wir auch die herrliche Kultur mit einem bluttriefenden Sieger vergleichen, der bei seinem Triumphzuge die an seinem Wagen gefesselten Besiegten als Sklaven mitschleppt“ (CV, KSA 1, S. 768 f.). Benjamin dagegen argumentiert für die andere Seite. Er macht Dionysos den Siegern streitig und ihn selbst zu einem anderen: Wie Bloch Mitte der dreißiger Jahre in Erbschaft dieser Zeit überträgt er dem Gott prometheische
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Züge, macht ihn zu einem seiner berühmten positiven Barbaren (Reschke 2000), der die destruktiven Potenzen seiner Vitalität für die Zerstörung der etablierten Herrschaftsverhältnisse einsetzt, um rebellierend Freiräume für neue kulturelle Verhältnisse zu schaffen. Zusätzlich ausgestattet mit den Attributen des Kulturbringers, des nach Marx vornehmsten Heiligen im philosophischen Kalender, erobert Dionysos für Benjamin das Terrain gesellschaftsverändernder Aktivitäten, kann mit ihm die Revolution, deren Ziel die Autonomie und Freiheit des Einzelnen wie der Gesellschaft sein soll, vorgeführt werden. Politisch gewendet, tritt Dionysos so vermittelt auf die Bretter der Weltgeschichte, um einen tatsächlichen Ausnahmezustand herbeizuführen. Für Benjamin eine Voraussetzung, „unsere Position im Kampf gegen den Faschismus [zu] verbessern“ (Benjamin 1984, S. 160). Fügt man den Gedanken des Tigersprunges hinzu, mit dem Benjamin die Jetzt-Zeit lösen will vom Diktat des Vergangenen und der Herrschaft der Sieger, findet sich Dionysos wieder in einer „Arena“, in der nicht mehr „die herrschende Klasse kommandiert“, sondern: „Derselbe Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte ist der dialektische als den Marx die Revolution begriffen hat“ (Benjamin 1984 S. 164). 3. Der auf der Vorderseite des Umschlages dargestellte Kranke Bacchus (1593/ 94) des frühen Michelangelo Caravaggio, gibt der Erwartung Gewissheit, Antonio Negri wird in seinen Studien zur Staatskritik zwischen 1974 und 1994, in deutscher Übersetzung 1997 unter dem Titel Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne erschienen5, den Gott bei seiner Arbeit beobachten und sie analysieren. Dass für die deutsche Ausgabe ein Bild des kranken Bacchus gewählt wurde, ist symptomatisch. Es zeigt ihn weintrunken, mit Efeu bekränzt, düster-sinnlich, erotisch-lasziv, elend. Man ahnt eine mögliche Symbolik: Dionysos, am Tische der spätkapitalistischen Kultur und ihr sinnlich-wahrnehmbares Spiegelbild, ist dem sezierenden Blick materialistischer Gesellschaftskritik anheimgegeben, um den Krankheitszustand einer Kultur zu konstatieren, an ihren Sozial- und Politstrukturen wie ein offenes Buch abzulesen. Doch das gewählte Bild passt nicht zum eigentlichen Thema des Autors. Im Vorwort, das mit Dionysos überschrieben ist, wird das Anliegen der Studien benannt: Lebendige Arbeit, die nicht in die Umklammerung absoluter Abhängigkeit und Entfremdung treibt, sondern die im Sinne der Marxschen Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie das gestaltende Feuer gegen die Vergänglichkeit sei und tätige Praxis des vergesellschafteten Menschen, Selbstausdruck des freien Subjekts und Affirmation seiner Macht. Diesem
5 Negri, Antonio/Hardt, Michael (1997): Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne. Berlin: Alle Zitate im Text: N, Seitenzahl.
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Arbeitsverständnis Realität zu geben (eine „Affirmation des Lebendigen selbst“) sei das Ziel der Analyse: „Unter dem zugleich fester und feiner werdenden Joch der gegenwärtigen kapitalistischen Verhältnisse gewinnt die lebendige Arbeit noch an Stärke und zeigt, daß sie schließlich unbezähmbar ist“ (N, S. 5 f.). Unter Bezug auf den Passus aus dem Kommunistischen Manifest, die bürgerliche Gesellschaft habe gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgebracht und gleiche daher „dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor“ (Marx/ Engels 1962, S. 467), heißt es: „Unsere Arbeit ist diesen schöpferischen, dionysischen Gewalten der Unterwelt gewidmet“ (N, S. 6). Damit ist das Feld abgesteckt, in dem zur „Überraschung oder auch zum Unmut“ der Leser nicht nur von Arbeit und Kapitalismus geredet wird, sondern auch von „proletarischen Kämpfen und kommunistischen Perspektiven“ (N, S. 7). Nietzsches Name fällt dabei in Zusammenhängen des Aufbrechens bestehender Herrschaftsstrukturen. Wie sehr oder wie wenig kongenial solche Optik sein mag: sie steht für den Versuch der Formulierung einer Utopie einer Gesellschaft und Kultur jenseits postmoderner Beliebig- und Abhängigkeiten. Weil der Begriff der Arbeit außer Gebrauch gekommen sei, fehle den postmodernen Kritiken der in die Tiefe gehende Biss. Man könne aber nicht anders, als die Arbeit als die „Grundlage aller menschlichen Geschichte“ anzusehen und müsse darin weiter gehen, als Marx es getan habe (N, S. 16). Subjekt und Subjektivität müssen „in Begriffen gedacht werden, die den sozialen Prozessen entsprechen, die der Herausbildung von Subjektivität unterliegen“, wobei (mit Michel Foucault) Grenzüberschreitungen und Subversivität eingerechnet sind und das Subjekt als „Produkt und Produzent, konstituiert und konstituierend in den weiten Netzwerken gesellschaftlicher Arbeit“ zu denken sei (N, S. 17). So werde ein widerständiges Terrain der Kritik abgesteckt, in der Nachfolge einer Tradition „von Machiavelli über Spinoza zu Marx und schließlich von Nietzsche und Heidegger bis Foucault und Deleuze“ (N, S. 22). Es steht moderner materialistischer Gesellschafts- und Staatskritik gut an, an die Fundamente zu gehen und die „Dynamiken der Herrschaft [zu] rekonstruieren, das Funktionieren des Staats und des Rechts als die absurden und abgewrackten Maschinerien eines bereits abgestorbenen Zusammenhangs [zu] analysieren“, wofür die Kritik-Metaphern für die Herrschaft des Kapitals „aus dem Reich der Vampire und Zombies“ (N, S. 27) zu entlehnen sind. Nur so kommt man an den Grund der Gesellschaft, zu denen, die den lastenreicheren Teil des KapitalArbeit-Widerspruches zu tragen haben, das heißt zu ihren dionysischen, vom Grund her wirkenden Kräften: „Unsere Kritik […]“, so Negri folgerichtig, „ ist immer wieder aufs Neue kommunistisch – eine totale, bejahende, dionysische Kritik. Kommunismus ist die einzige dionysische Schöpfung“ (N, S. 27). Ganz
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im Sinne radikal-anarchistischer Kritik wird dem kapitalistischen Staat die Rolle eines Molochs zuerkannt und mit der Forderung nach radikaler Demokratie von unten pariert. Ohne soziale und politische Aktivität von unten seien weder verknöcherte Staatsstrukturen aufzubrechen noch Abhängigkeitsverhältnisse zu durchbrechen. Nötig sei es, die Disziplinarmacht des Staates auszuhebeln und Strukturen sozialer Interaktionen so zu organisieren, dass die gesellschaftlichen Subjekte das reale Feld ihrer Macht nutzen können, um Konflikte nicht zu meiden, sondern auszutragen (N, S. 93 ff.), was nichts als die „Verschiebung von den Disziplinargesellschaften hin zu Kontrollgesellschaften, wie sie Gilles Deleuze in Michel Foucaults Werk erkennt“ (N, S. 117), meint. Der Begriff der Zivilgesellschaft findet hier Eingang in den Diskurs, er zählt zu den Voraussetzungen dionysischer Umwandlung der Gesellschaft. Da sich der Charakter der Arbeit grundlegend verändere, sich durch eine neue Qualität „hochgradige[r] Konsolidierung kollektiver Subjektivität“ (N, S. 141) auszeichne, sich paradox aber aus subjektiven Aktivitäten speise, die sozial anerkannt werden, spitze sich der interne Widerspruch zu, dränge nach neuen Bewegungsformen: Diese Krise verneint die Moderne nicht, sondern befreit zweifellos eines ihrer Potentiale, ihre lebendige und produktive Alternative […] Tatsächlich wird in dieser Krise eine andere Postmoderne entfesselt: die Macht lebendiger Arbeit […] Dies ist die Autonomie der Massen, der Ausdruck produktiver und politischer Subjektivität. (N, S. 148)
Dem Moment intendierter revolutionärer Gewalt und Machtausübung kommt dabei die Bestimmung zu, dass „ihre Wirkungen nicht auf etwas ihr selbst Äußerliches, auf irgendeine Repräsentation ausgerichtet ist“ (N, S. 158), sondern als konstituierende Macht einzig auf die Errichtung der Autonomie der Subjekte. Es sei eine Illusion, gesellschaftliche Subjekte jenseits von Gewalt zu imaginieren. Unter Berufung auf Nietzsche, der Leben und Gewalt im Zusammenhang gesehen hat, ist für Negri diese „Komplizenschaft“ mit der Gewalt eine Bedingung unserer gesellschaftlichen Existenz (N, S. 156). Es geht um die Akzeptanz von Gewalt, die, auf Befreiung hin angelegt, dionysische Züge trägt. Sie legitimiert sich unter konkreten Bedingungen: „Das Gewaltmonopol gehört dem Ensemble der Subjekte in ihrer Aktion, im Ganzen ihrer verfahrensmäßigen Übereinkünfte, und nur in diesem Rahmen wird es möglich, daß die Ausübung von Gewalt legitim ist“ (N, S. 177). Das Stichwort der multitudo Baruch Spinozas, das Negri als Demokratie der Gleichen, die sich auf die Absolutheit des produktiven Vermögens ihrer Subjekte gründe, interpretiert, erweitert er um die Vorstellung von der konstituierenden Macht gegenüber der konstituierten, eine Vorstellung, die „die Autonomie und die Produktivität der Gesellschaft in der citoyenneté der produktiven Arbeit“ zusammenbringt und als
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„singuläre Subjektivität“ danach fragt, „wie sie in einer Gesellschaft situiert ist und wie sie ihre eigene Kreativität entwickeln kann“ (N, S. 176). Es sei keine Utopie6, vielmehr das Aufzeigen des einzigen Weges, das gegenwärtige Gerüst der umfassenden konstituierten Macht ins Wanken und zum Einsturz zu bringen und die konstituierende Macht der Multitude der Subjekte durchzusetzen. Ein Prozess, dessen Erfolg nicht garantiert ist: „Wenn es eine Dialektik gibt […] zwischen dem Delirium der Macht des postmodernen Staats und der Konstruktion der Demokratie durch die Multitude, dann wohnt sie dieser tödlichen Gefahr inne“, einer Gefahr, die aus der wahrscheinlichen Implosion des postmodernen Staates in seine eigene Leere, resultiert (N, S. 178). An der Grenze zu diesem Risiko, das meint: offenen Auges am Abgrund, vollzieht sich der Prozess der Autonomiewerdung des Subjekts in einer permanenten Grenzüberschreitung: „Freiheit kann nur wirklich werden als Bruch mit den Alternativen der Moderne, indem das in diesem Einschnitt enthaltene tödliche Risiko angenommen wird“ (N, S. 178). Solche dramatische Wucht entbehrt bei aller Analytik nicht einer anarchistischen Dimension und schließt auf den zu verhandelnden Zusammenhang zurück: Dionysisches, hier in der Maske des kritisch-marxistisch Revolutionären, gerinnt zum Ferment des sozial und politisch Gärenden, zur auf Veränderung drängenden Bewegung. Als innere Dynamik, die (wie die antike Vorlage und Nietzsches Entwurf) nicht ohne die Potenz des Selbstzerstörerischen ist. Eine kluge Einsicht, kein voraus auseilendes Fortschrittszertifikat zu vergeben. 4. Guido Bachmanns Roman Dionysos ist 1990 erschienen7, nach dem der Autor bereits mit Gilgamesch (1966), Echnaton (1982) und Der Basilisk (1987) seine fulminante Sprachkraft unter Beweis gestellt und die großen Gestalten der Historie, alle Zeitebenen durcheinander wirbelnd, in die literarische Gegenwart geholt hat. Mit atemberaubenden Turbulenzen bricht der wilde Gott der Griechen in die ruhige Schweizer Beschaulichkeit und auf die Bühne europäischer Politgeschichte. So intensiv, dass man geneigt ist, Bachmann darin zu folgen, der Mythos Dionysos habe nie geendet, die Gegenwart sei nichts als die Verlängerung seiner eigenen Zeitlosigkeit. Es ist kein Roman über den antiken Gott, vielmehr ein Netzwerk aus Mythologischem, Historischem und Heutigem: Dionysos lebt in vielen Gestalten, ist mythische Figur in Nonnos Dionysiaka, schlüpft in den Körper und Geist Dino Bodonis und wird zur kosmischen Supernova Dionysos, in die alles versinkt und neue Gestalt wird. Dionysos lebt gestern, heute und morgen, ist immer ein anderer
6 „Wir entwerfen keine Utopie“ (N, S. 177). 7 Bachmann, Guido (1990): Dionysos. Basel: Alle Zitate im Text: B, Seitenzahl.
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und immer sich gleich. Der unmittelbare Vermittler über die Zeitebenen hinweg dabei ist kein anderer als Nietzsche. Dino Bodoni, der Künstler und Terrorist, ganz ein Zeitgenosse des ausgehenden 20. Jahrhunderts, lebt mit den Schriften des Philosophen unter dem Arm sein Leben, findet bei ihm Seelenund Gedankenverwandtschaft: mit dessen Dionysos und Zarathustra in die Welt. Dabei geht es im Roman um vieles: um Freundschaften, Homosexualität, Liebe und Hass, um weltumstürzende Ideen und ihre scheiternde Umsetzung, um griechische Landschaften, Schweizer Berge, um Vulkanausbrüche, Erdbeben und Atlantis-Saga, deutsche Gefängnisse und die RAF, um Mord, Banküberfälle und Terroranschläge, um sexuelle Gewalt und Krieg, die Übermacht der Rationalität und Technikwahn, um Angst und Lust, Phallussymbole und Geburtstraumata, um Literatur und Philosophie, um Jesus Christus und Apollon, um Tanz und Tod, Totentanz und Unsterblichkeit. Vor allem aber geht um die Hauptperson Dino Bodoni, um sein Leben, das, zu einem Sekundenbruchteil von 0,0108 Sekunden verdichtet, vor uns abläuft. Vergangenes und Gegenwärtiges, Zukünftiges und nie Gewesenes, Visionen und Hoffnungen, Ängste und Schrecken, Natur- und seelische Katastrophen sind nur dazu ineinanderwebt, um sie wieder aufzusplittern und in unerwarteten Bildern neu zusammenzusetzen. Eruptiv und gleitend, schrill und leise, hemmungslos und stilbewusst, phantasievoll feinfühlend und mit brutalem Realitätssinn (Villiger-Heilig 1990; Dean 1990). Ein Leben, als Sinnbild der als dramatisch bedrohten condition humaine, als imaginierte Grenzsituation einer von Katastrophen, Untergangsmythen, Hadesinszenierungen umstellten apokalyptischen Existenz. Dino Bodoni, geboren am 9. Juli 1956, stirbt am 4. Oktober 1987 auf Santorin mit Blick auf die Caldera. Wie er zu Tode kommt, bleibt ungewiss. In den letzten Hundertstelsekunden stürzen Erinnerungen zusammen: erfüllte und unerfüllte Wünsche, Selbstbespiegelungen und Selbstbetrug. Ein Fleckenteppich mit Patchwork-Partien aus Dionysos-Identifizierungen, Nietzsche-Vergegenwärtigungen, erlebten oder erdachten Gewaltphantasien. Der eigene Tod fällt zusammen mit dem Untergang von Atlantis, das persönliche Ende verwebt sich mit Erdbeben von 1956 und dieses scheint der Nachhall des Supergaus von Atlantis zu sein. Was trauerst du, Dionysos? Hat dich die Welt verlassen, jetzt, nach der Eruption? Flüstert dir kein Gott mehr ins Ohr? Oder hörst du diese Stimme? Meine Stimme? […] Sage dir deinen Namen vor, Dino Bodoni! Ach nein? […] Jetzt, da […] deine Ariadne, die du verloren glaubtest an jenem Herrn, der auf einer Bank sitzt, auf dem Kirchplatz vorbeigeht und zu dir will? Ja, ein Herr mit Schnurrbart, sitzt dort, altmodisch, sehr kurzsichtig: klingen dir Nietzsches Dionysos-Dithyramben im Ohr? (B, S. 7 f.)
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Nietzsches vermeintlicher Satyrtanz in Turin rauscht vorbei, Dionysos flüstert sich Dino ins Ohr, macht ihn sich identisch. Und schlägt die Brücke der Namensvetterschaft zu Giambattista Bodoni in Parma, den italienischen Buchdrucker antiker Werke um die Wende zum 19. Jahrhundert, in die Untergrundwelt der terroristischen Revolte: Du Namensvetter eines Schriftenerfinders […] Auch du, Bodoni, auch du. Eine kleine Untergrunddruckerei in Stuttgart. Fälschungen für die RAF […] Du hast die Genossen beschissen. Aber nicht sie verfolgen dich, sondern ihre Feinde. Seltsam, seltsam. Stell dich nicht so blöd an, jetzt, zwischen zwei Nichtse eingekrümmt, ein Fragezeichen, ein müdes Rätsel. (B, S. 8)
Versatzstücke der Realität und späte Erinnerungsstücke gehen aufhellende Symbiosen ein. Dino Bodoni, der dionysische Aufrührer, schafft es nur bis zum Möchtegern-Terroristen: „Ich will mit den Genossen Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin die Welt gerade biegen. Ich sammle alles über sie. Ich schneide Zeitungsberichte aus, ich lebe mit ihnen, aber sie wissen nichts von mir“ (B, S. 54 f.). Die Aktionen der RAF verfolgt er als medienvermittelter Voyeur: „Du hast es im Fernsehen mitgekriegt, Abendunterhaltung: Terrorismus live“ (B, S. 193). Zwar geht er später Baader suchen, aber er findet ihn nicht, trauert um Ulrike Meinhof bei ihrer Beerdigung, lässt sich für kleinere konspirative Aufträge einspannen, aber in entscheidenden Augenblicken zögert er, zuckt zurück, begeht Verrat aus Kleingeistigkeit, nicht aus Einsicht. Bei der Nachricht vom Bombenattentat auf eine amerikanische Kaserne in Heidelberg stöhnt er vor Freude: Die Warnung des Freundes Nonnos: „Sie beginnen zu morden, Dino – das taten sie früher nicht. Das ist keine Verschwörung mehr“ (B, S. 181) trifft auf taube Ohren. Dino klammert sich an das Bekennerschreiben mit den martialischen Sprüchen gegen die Verbrechen des Imperialismus, den Kampf der Volksmassen, die Rettung der Welt. Erst als der väterliche Freund ihm Nietzsche als Musterschüler, der auf Bürgerschreck mimt, als halbblinden Dionysos madig macht (B, S. 182 ff.) und die hochgejubelten Taten des Dionysos als historisch-mythologische Lügen auffliegen lässt, wird Dino Bodoni nachdenklich. Für den Augenblick wenigstens. Er sieht sich seine Umgebung, seine Freunde, sich selbst dionysisch revolutionär zu Recht, verwischt Wunsch und Realität: Frauen um ihn werden zu Mänaden, seine Mutter zu Semele, seine Geburt gleicht er der des Dionysos an, gibt sich den Decknamen ‚Zagreus‘ (B, S. 192), Freund Veit wird zu Apollo. Selbst der Großvater im Zweiten Weltkrieg sieht einem tragischen antiken Helden ähnlicher als dem Partisanen, der er war. Die eigene Flucht vor drohender Verhaftung gerinnt zu einer fast homerischen Großtat. Apropos Apollo: Veit, den Jugendfreund, nenne er Apollo, weil er selbst Dionysos heiße: Er habe ihn verloren, schreit Dino Bodoni klagend in die Welt,
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habe ihn zuletzt in Berlin gesehen vor fünfzehn Jahren. Von Apollo habe er die Begeisterung für alles Radikale: „Er zündet mich politisch an, und ich werde sofort radikal. Ah, diese Glut! Revolution! Krieg! Terrorismus! Das will ich, ja, das will ich fortan“ (B, S. 53). Eine Verbindung, eine Zwei-Einheit, die beim Dionysos-Fest mit Silenen, Satyrn, Mänaden und Knaben im weintrunkenen sexuellen Rausch ihre Erfüllung und ihr Ende findet: Das Symposion ist zum Leichenmahl geworden. Eine Nänie auf Veit, der davonläuft, einsam in die Nacht hinaus, dich zurücklassend, der du Ordnung schaffst […], ein gekreuzigter Dionysos, die Dithyramben repetierend. (B, S. 174)
Keine wechselseitige Identität mehr: „[K]einer von uns weiss, wer von beiden das Ich ist“ (B, S. 162). Die Eruption habe Ich und Du auseinandergerissen, die Differenz unwiderruflich ins Wissen eingeschrieben. Veit-Apollo zieht sich danach zurück, überlässt, erschreckt über sich, Dino-Dionysos fortan das Terrain apokalyptischer Umsturzpläne. So scheitert auf Dauer ihre Vereinigung im sexuellen Rausch und in einer angestrebten unio mystica gleichermaßen. Eine Stimme in ihm hatte es vorausgesehen: „Hüte dich vor Veit Schütz, deinem Apollo“ (B, S. 13): Dionysisches Ja-sagen zum Entsetzlichsten passe nicht zur apollinischen Reflexion. Was bleibt, sind ein Einsamkeitsgefühl, das ihn in eine seelische Hochform versetzt (Nietzsche lässt grüßen, B, S. 91), Bodonis Dionysos-Identitäten und sein Rebellionspotential. Vor dem hatte ihn Apollo abringen wollen: „,Die RAF sei ein Traum‘, sagt er, ‚du bist kein Terrorist‘, sagt er“ (B, S. 161). Aber vergebens. Des Gottes wilde Natur, seine alles Normierende zerstörenden Kräfte, konzentriert Bodoni als Trauerarbeit am Verlust des Apollinischen, auf Befreiungsphantasien, die RAF-Aktivisten aus dem Gefängnis zu befreien: „Reise zu ihnen und befreie sie!“ (B, S. 191). Doch daraus wird nichts. Es reicht nur zum Banküberfall, mit gestohlenem Audi und geladener Pistole. Die revolutionären Energien mutieren zu bloß kriminellen: „Du hältst von der Tür aus vier Kunden in Schach. Die Firebird ist geladen. Würdest du schiessen? Natürlich würdest du schiessen“ (B, S. 205). Das Ende der Geschichte? Dionysos ein Gejagter, Verfolgter, Verhafteter, Flüchtender nach Griechenland, nach Athen und Santorin, den Verfolgern immer nur einen Schritt voraus und darin alle Energien erschöpfend. Schuldig des Vergehens an fremdem Eigentum. Einer, der als Terrorist die Welt bessern wollte und es nur zum Bankräuber bringt. Die Karriere des Dionysos in der späten Moderne? Er wollte, „dass es ein Ende nimmt mit der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Das ist schon alles“ (B, S. 199). Dazu der Untergrundkampf, gefälschte Dokumente, großmäulige Parolen: „Man muss Schrecken verbreiten, wenn Freiheit das Ziel sein soll“ (S. 199). Um am Ende zu sagen, Terrorist sei man nicht gewesen, allenfalls Anarchist (B, S. 192). Um
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sich zu rechtfertigen, die eigene Haut zu retten? Dionysos muss sich sagen lassen: „Sie sind ein Radikaler […] und wie alle Radikalen sind Sie eigentlich unpolitisch […] Sie sind ein Revolutionär ohne Ziel“ (B, S. 199). Da bleibt nicht viel: Die großen Utopien am Anfang des 20. Jahrhunderts, mit Dionysos als wegweisendem Leuchtpunkt, sind herabgekommen zu terroristischen Aktionen, die aufbrechende dionysische Energie erschöpft sich in bloßer Revolte, versiegt („Der Traum zwischen Welt und Unterwelt ist ausgeträumt“, B, S. 224) angesichts der massiven Widerstände in selbstauslöschenden Akten, verströmt in umgeleitete Kanäle, die nur noch zum Selbstmitleid taugen: „Der Tempel des Dionysos ist von der Agora her über eine breite Treppe zugänglich, und du sinkst nieder, und du weinst. Schutt und Steine. Du weinst […] Das war das Heiligtum des Dionysos. Du weinst. Die Abendsonne kommt“ (B, S. 219). Oder zum Tanz, nicht mehr auf dem Vulkan, aber noch gegen die technisierte Welt, gegen die Ordnung, das Rationale, die logischen Gesetze (B, S. 209). Ein Tanz, im oder mit Hades, dem tanzenden Tod (B, S. 217), der den Untergang aller Utopien bedeutet: „Wir reisen in diesen 0,0108 Sekunden immer geradeaus, um zwingend an den Ausgangspunkt Hades zu gelangen. Hier ist Utopia Atlantis geworden“ (B, S. 223). Bis der Zeitpfeil das Ziel erreicht und mit dem Fallen in die Caldera alle Zeit aufhört und alles konkrete Wollen: Ich nackter Gott habe jede Kontur verloren […] ich falle, ich falle ins sphärische Loch! Der Schatten des Untergangs küsst mich. Ich bin die Größe Null […] ein Atemrauben! […] Was trauerst du, Dionysos? Hast du dich verloren im Zeitnetz? […] Hörst du Nietzsches Klage der Ariadne […] hör ihm zu, dem schnauzbärtigen Professor aus Basel […] Steh still im Bereich des Hades! Hier! Jetzt! Ja, ein Blitz. Dionysos wird in smaragdener Schönheit sichtbar. (B, S. 145)
Letzteres ein pures Nietzsche-Zitat (DD, KSA, 6, S. 401). Das Thema wird kosmisch, galaktisch: „[Wir] sind zum Zeitpfeil geworden und wollen Uns an den Himmel setzen und zum Stern werden. Der Stern wird Dionysos heissen […] Wir werden zum Stern Dionysos. Unsere Geburtsstunde ist die Vollendung der 0,0108 Sekunden [Wir] produzieren laufend Eruptionen“ (B, S. 228 f.). Sichtbar nur noch im Infrarotbereich.
Republik Dionysos? Eine Utopie kommt im Virtuellen zur Realität Nicht im Infrarotbereich und nicht als Supernova, sondern als Republik Dionysos feiert der Gott eine weitere Existenz. Utopien seien nicht mehr in, hat schon
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Mitte der achtziger Jahres des letzten Jahrhunderts der französische Soziologe Pierre Bourdieu verkündet. Dies trifft auch Dionysos und dionysisches Leben. Also geht es um eine Weiterexistenz des Gottes außerhalb von Utopien. Unter Verzicht seiner ihm innewohnenden utopischen Tendenz sozusagen. Findige Köpfe haben kurzerhand eine Republik mit seinem Namen gegründet. Es gibt sie wirklich. Sie liegt auf dem Kontinent Antica bzw. Arethanien, ist einer der bedeutendsten Staaten innerhalb der Mikronationen und Mitglied der United Virtual Nations Organisation und im Rat der Nationen. Jeder kann ihr Bürger und in die höchsten Staatsämter gewählt werden, wenn er mindestens vier Wochen in Dionysos gelebt hat, er kann demokratisch mitbestimmen, Parteigänger sein, Orden erhalten für Verdienste um die Republik, teilhaben an einem exzellenten Bildungssystem, an Kultur und Kunst, kann an der Börse spekulieren, sich in den Medien äußern, sich eines vielgestaltigen Kommunikationssystems bedienen und, dies vor allem, er entscheidet selbst über sein Leben, lebt als freier, selbstbestimmter Bürger. Virtuell, in den Tiefen des World Wide Web existiert diese Republik, erreichbar unter http… und ist so real wie alle Virtualität überhaupt. Man kann sich jederzeit einloggen mit eigenem Passwort und Passbild und schon ist man Teil eines scheinbar anderen Lebens, Teil einer Parallelrepublik, die mindestens ebenso konfliktreich und lustvoll ist wie die, die den Einstieg in sie und überhaupt ihre Existenz erst durch ihre Technik ermöglicht. Schaut man sich die Republik Dionysos genauer an, tut sich Erstaunliches auf. Sie gleicht zum Verwechseln dem Gemeinwesen, aus dem ihre Bewohner ausgewandert sind und den Wechsel ins Virtuelle gewagt haben. Sie haben nicht nur ihr Leben mitgenommen. Auch ihre Vorstellungen einer anderen Wirklichkeit haben in Dionysos Gestalt erfahren, sind die Grundlage für die virtuellen sozialen, politischen, kulturellen Strukturen. Ihre Vorstellungen stimmen auf den Punkt mit den realen überein. Dionysos ist nicht eine andere Republik, sondern die reale noch einmal, versetzt in das virtuelle Netz: „Dionysos ist ein föderalistischer Staat“, „ein demokratischer Rechtsstaat“8, mit eigener Amtssprache (Dionysch), Bundesländern und Freistaaten, einer Hauptstadt (Klauth), eigener Währung (1 Dion = 100 Sypolous), Parteien (Dionysche Volks-Partei [DVP], Dionysche Demokratische Allianz [DDA], Liberale Partei Dionysos [LPD], Sozialdemokratische Partei Dionysos [SPD]), einem eigenen Bankensystem, einer eigenen Börse für Kapitalanlagen und dem Aktienindex DYX, Oberstem Gerichtshof und Verfassungsschutz, Botschaftsvertretungen, einer umfänglichen Medienlandschaft (Das Boulevardmagazin, News Net Dionysos, Ostdionysche Allgemeine Zeitung, der Radiosender Dionysos FM, der 8 http://mnwiki.de/index.php?title=Dionysos (Zugriff: 01.10.2010).
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Fernsehsender Dionysos 1), mit einer angesehenen Elite-Universität, die Freie Universität Papyrie, einer eigenen Airline, erfolgreichen Firmen, Holdings, Aktiengesellschaften, mittelständischen Firmen: „Das Fortschreiten der Technologien ist auch in Dionysos spürbar. In den Industrieräumen […] sind die modernen Wachstumsindustrien […] bereits stark vertreten“9, die Tourismusbranche boomt („Die schöne Landschaft und die freundliche Bevölkerung garantieren einen angenehmen und erholsamen Aufenthalt“10; der eigene Urlaub ist im Bürgermenü unter ‚Einstellungen‘ zu aktivieren). Dionysos’ Nationalfahne zeigt eine weiße Taube auf blauem Grund, die Republik ist ohne Armee, setzt auf friedliche Kommunikation. Im eigenen Kalender heißt der fünfte Wochentag Frieden11, der Name Dionysos besitzt dreifache Bedeutung: er ist Staatsname, Name der höchsten Gottheit und Bezeichnung für den zweiten Tag der dionyschen Woche. Der 4. März ist Nationalfeiertag, Tag der Freiheit, der Tag der Befreiung von der „Schreckensherrschaft der Diktatur“12, dessen Ablauf von Historikern erforscht wird. Wie überhaupt der Geschichte größte Aufmerksamkeit geschenkt wird. Man weiß seit einiger Zeit, dass die Entwicklung des dionyschen Nationalstaates mit den erfolgreichen Aufständen der Dioner gegen die Isfahner Anfang des 19. Jahrhunderts begonnen habe, die Geschichte davor wird in Frühzeit, Klassik und Spätzeit eingeteilt. Der Beginn der dionysischen Zeitrechnung und Religion liegt in der frühen Phase, die Hochzeiten historischer Kultur und Kunst erwartungsgemäß in der Klassik (mit „bildnerisch gestalteten Vasen, lebensgroßen Skulpturen und dem Bau von steinernen Tempeln“13). Dies alles scheint wenig mit Dionysos zu tun zu haben. Die Republik scheint vielmehr der Abglanz einer in das virtuelle Spiel verabschiedeten Utopie zu sein. ‚Stinos‘ sind ihre Einwohner, Stinknormale, brave Bürger, auf Prestige und Auskommen orientiert und Erfüllung findend in der Ausübung öffentlicher Ämter, belohnt durch (wenn man Glück hat) den höchsten Orden, den Dionysos-Orden. Die Rebellion, das Stürmische, das Unruhemoment, das Utopische, das dem Gott im Prinzip zukommt, eingefriedet in virtueller Kommunikation und zum bloßen Freizeitspiel heruntergezoomt. – Wenn da nicht die Kultur, besser: die Festtagskultur wäre, an der auch die Nationalhymne gesungen wird. Wie überhaupt das dionysche Volk sich als ein überaus musikalisches und festsüchtiges darstellt: „Findet sich […] ein Anlass stürmen die Dio9 http://republik-dionysos.com/index.php?page=allgemeines (Zugriff: 01.10.2010). 10 http://republik-dionysos.com/index.php?page=allgemeines (Zugriff: 01.10.2010). 11 Glossarium Dionysos, in: http://www.republik-dionysos.com/glossar/index.php?seite=6 (Zugriff: 02.10.2010) 12 http://www.republik-dionysos.com/glossar/index.php?seite=10 (Zugriff: 02.10.2010). 13 http://mnwiki.de/index.php?title=Dionysos (Zugriff: 24.09.2010).
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ner die Straßen und feiern mit viel Dionka, einem Kräuterschnaps aus der Dionkawurzel, bis in den frühen Morgen hinein.“14 Das klingt nach antikem Festumzug. Der weinselige komos in virtueller Gestalt? Der Text der Nationalhymne unterstützt diese Annahme: Dionysos ist unser Land/ Benannt nach unserem großen Herrn/ Der den Wein für uns erfand/ Und suchte, unser Volk/ zu nähren/ Dionysos nahm uns den Zwang,/ Erfüllte uns mit Freude,/ […] Dionysos ist unser Herr,/ Wir feiern in Ekstase,/ Unsre Insel im Meer, Die fruchtbare Oase.15
Ein Lobgesang doch noch auf die Attribute des Gottes. Das Ganze als mediale Inszenierung und digitale Plattform für Selbstinszenierungen. Ernsthaft, doch ohne wirklichen Biss. Ganz Dionysosland, ironisch, selbstironisch und funky. Um es abschließend neudeutsch zu sagen.
Bibliographie 1. Siglenverzeichnis B: Bachmann, Guido (1990): Dionysos. Basel. BL: Bloch, Ernst (1962): „Der Impuls Nietzsche“. In: Gesammelte Werke. Bd. 4 (Erbschaft dieser Zeit). Frankfurt a. M. N: Negri, Antonio/Hardt, Michael (1997): Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne. Berlin.
2. Literaturverzeichnis Andrejanoff, Victor von (1895): „Friedrich Nietzsche“. In: Karl Schmidt (Hrsg.): Die Kritik. Wochenschau des öffentlichen Lebens. Nr. 60 (23.11.1895). Bäuerl, Carsten (2003): Zwischen Rausch und Kritik 1. Auf den Spuren von Nietzsche, Bataille, Adorno und Benjamin. Bielefeld. Benn, Gottfried (1978): „Nietzsche nach 50 Jahren“ (1950). In: Bruno Hillebrand (Hrsg.): Nietzsche und die deutsche Literatur. Bd. 1 (Nietzsche-Rezeption 1873–1963). Tübingen, S. 300–306. Benjamin, Walter (1955): „Zur Kritik der Gewalt“. In: Walter Benjamin: Schriften. Bd. 1. Hrsg. von Theodor W. Adorno und Gretel Adorno. Frankfurt a. M., S. 19-32.
14 http://mnwiki.de/index.php?title=Dionysos (Zugriff: 24.09.2010). 15 http://republik-dionysos.com/index.php?page=allgemeines (Zugriff: 24.09.2010).
Utopien und Kritik mit Dionysos
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Die ‚dionysische Linie‘. Zu einem Syndrom der Wende zum 20. Jahrhundert Über mehrere Jahre habe ich ein größeres interdisziplinär angelegtes Forschungsprojekt betrieben zur Faszinationsgeschichte der geschwungenen Linie zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert; daraus ist ein Buch hervorgegangen mit dem Titel Experiment Linie. Künste und ihre Wissenschaften um 1900 (2010). Ich möchte in meinem Vortrag eingangs das Anliegen des Buches skizzieren, dann, nach einem kurzen Blick auf die damals aktuelle Einfühlungsästhetik, einen Programmtext jener Zeit zur Linie vorstellen und dabei Beziehungen zu Gedanken Nietzsches aufzeigen; einen wesentlichen Aspekt der neu konzipierten Linie werde ich abschließend noch einmal an einer Zeichnung verdeutlichen. Ich beginne mit einem Zitat des damals sehr wichtigen Kunsthistorikers und Kunstschriftstellers Julius Meier-Graefe: „Wie einst Xenophons Griechen nach dem Meere, so stammelt heute alles nach der Linie. Man sucht sie im Kostüm und in der Haltung, und steigt in alle möglichen fremden Gefilde hinauf und hinab, um sie zu finden. Professoren die früher Archäologie trieben, reden drüber, und in den Museen werden neben mikroskopischen Bildern Projektionen von Maschinenteilen gezeigt, um den Sinn für das lineare Element zu steigern“ (MeierGraefe 1904, II, S. 681),
so eine Äußerung von 1904. (Meier-Graefe hat allerdings nicht nur gespöttelt, er hat seinerzeit den Gegenstand dieses Spotts auch selbst nachdrücklich unterstützt und gefördert). Als elegante Kurve mit elastischer Spannung und unvorhersehbarem, oft asymmetrischem Verlauf ist das ‚lineare Element‘ Markenzeichen eines ausgehenden und eines beginnenden Jahrhunderts. Die Linie ist ein ‚heißer Gegenstand‘, ein Kultobjekt, ein Fetisch. Einige Abbildungen dazu sollen zeigen, in welchen Zusammenhängen diese Linie überall auftaucht. In dem Zitat wurde schon eine ganze Reihe genannt, aber es sind noch sehr viel mehr. Die Beispiele stammen aus Graphik, Kleidung, Architektur, Chronophotographie, Physiologie, Maschinenbau, Ornamentik, Tanz (Abb. 1–9), und sie ließen sich leicht vermehren. Wie soll man diese unverkennbare Linie benennen: ‚bewegte‘, ‚dynamische‘, ‚geschwungene Linie‘, fließende, gleitende Kurve, verschlungenes Lineament, elegante Biegung? Sie hat keinen wirklichen Namen, aber dennoch ist sie allen bekannt, sie ist in aller Augen und in vieler Sinn. Oft heißt sie einfach
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Abb. 1: Jan Thorn Prikker, Schwertfische (1904), aus: Julius Meier-Graefe, Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst. Vergleichende Betrachtung der bildenden Künste, als Beitrag zu einer neuen Ästhetik, 3 Bde., Stuttgart 1904, II, S. 659 [Abb. hier gedreht]. Abb. 2: Henry van de Velde, Kleid (um 1895), aus: Henry van de Velde. Ein europäischer Künstler seiner Zeit, hg. v. Klaus-Jürgen Sembach, Birgit Schulte, Köln 1992, S. 218. Abb. 3: Unbekannter Fotograf, Loïe Fuller (um 1900/bis 1905), Paris, Musée Rodin, aus: Michel Frizot (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998, S. 257 unten.
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Abb. 4: Henry van de Velde, Kapitell, Folkwang-Museum Hagen 1902, aus: Linie und Form. Erläuterndes Verzeichnis der Ausstellung formenschöner Erzeugnisse der Natur, Kunst und Technik im Kaiser-WilhelmMuseum zu Krefeld, April und Mai 1904, Krefeld 1904, Tafel 1.
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Abb. 5: Kreuzer Prinzeß Wilhelm, aus: Linie und Form. Erläuterndes Verzeichnis der Ausstellung formenschöner Erzeugnisse der Natur, Kunst und Technik im Kaiser-Wilhelm-Museum zu Krefeld, April und Mai 1904, Krefeld 1904, Tafel 2.
Abb. 6: August Endell, Atelier Elvira, München (1896), aus: Die Münchner Schule 1850–1914, München 1979, S. 101.
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Abb. 7: Walter Crane, man bowling (1900), aus Walter Crane: Line and Form, London 1900, S. 15.
Abb. 8: Etienne-Jules Marey, Gehender Mann (1883), aus: Mannoni, Laurent: Etienne-Jules Marey. La Mémoire de l‘œil, Mailand 1999, S. 168.
Abb. 9: Wilhelm Wundt, Atem- und Volumpulskurve bei einem Schreckaffekt, nach Lehmann, aus ders.: Grundzüge der physiologischen Psychologie, 1908–1911, Bd. III, S. 197, Fig. 347.
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‚die moderne‘ Linie oder verabsolutierend ‚die Linie‘ schlechthin. (Im Französischen bürgert sich in dieser Zeit der Ausdruck ‚la ligne‘ für die weibliche Toilette ein). Diese Unbestimmtheit ist dabei ebenso signifikant wie die Emphase. Der enormen Attraktivität der Line lässt sich nicht rein kunstwissenschaftlich beikommen. Die künstlerische Linie wird im Lauf des 19. Jahrhunderts neu konzipiert. Die akademische Tradition hatte in den Mittelpunkt der Kunsttheorie und Kunstlehre den Begriff des disegno gestellt. Das Wort heißt ‚Zeichnung‘, aber es bedeutet sehr viel mehr: Der Begriff meint (seit der Renaissance) das ganze Konzeptuelle an der bildenden Kunst, den concetto, die Idee, den Plan – das enthält auch das Maß, die Proportionen –, in rhetorischen Kategorien gedacht die inventio, die Bilderfindung, und – ganz entscheidend – die Umrisslinie, die klare, eine identifizierbare Gestalt bezeichnende Kontur. Dieses Intelligible an der visuellen Kunst hat im Rahmen eines mehr oder weniger platonisch imprägnierten Denkens jeweils einen höheren Wert als sein Komplement. Einfach gesagt: Der Kopf dirigiert die Hand, die Zeichnung hat Vorrang vor der Farbe, auf den Linienverlauf kommt es an, der Strich, d. h. die Faktur der Linie, muss dagegen tendenziell unsichtbar sein – kurz: das Materielle, Sinnliche, Körperliche ist untergeordnet und sekundär. Diese Hierarchie und die dazugehörigen Entgegensetzungen werden spätestens seit 1800 in Frage gestellt. Zeichnung und Farbe z. B. bilden keine Dichotomie mehr wie in einer langen Tradition, die dem ‚Geistigen‘ der Zeichnung den sinnlichen ‚Reiz‘ der Farbe entgegenstellt und ganze Malerschulen und Kunstrichtungen in Opposition sieht (so etwa ‚Florenz‘ gegen ‚Venedig‘). Vor allem aber: Die Linie verliert die bis dato entscheidende Funktion als designierende Kontur. Sie verschwindet z. B. in der Malerei des Neoimpressionismus, bei Seurat u. a., völlig, oder sie entwickelt wie im Art Nouveau als Linie ein eigenständiges Leben. Was mit ihr um 1900 passiert, ist ein Teil dieses umfassenden Revisionsvorgangs. Aber die Tragweite der Veränderungen im Feld der Kunst und Ästhetik wird erst deutlich, wenn man diesen Bereich verlässt und stattdessen ein komplexes diskursives Beziehungsfeld ins Auge fasst. Ein derartiges Feld suche ich für die Zeit zwischen den 1880er Jahren und etwa dem Ersten Weltkrieg herzustellen. Es besteht aus einer ganzen Reihe von verschiedenen Komponenten: Die erste und nächstliegende sind Texte von Künstlern, Architekten, Museumsdirektoren, Kunstkritikern, Kunstpädagogen u. a. Dazu kommen zeitgenössische Kunstgeschichte und -philosophie, wissenschaftliche Ästhetiken, physiologische und psychologische Theorien von Wahrnehmung und Emotion, schließlich anthropologische Überlegungen zur Zeichen- oder Symboltheorie. Weitere Komponenten sind literarische Texte und bildnerische Arbeiten (beide im weiten Sinn dieser Begriffe). All diese Komponenten – die Theorien und die künstlerische Praxis, das Verbale und das Visu-
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elle, die Äußerungen von Künstlern und die Schriften von Wissenschaftlern und Philosophen – gelten in dem Beziehungsfeld als gleichrangig. Anders gesagt: Es ist nicht das eine nur ‚Hintergrund‘ für das andere oder umgekehrt nur ‚Illustration‘, es geht nicht um ‚Einflüsse‘ etwa der Wissenschaft auf die Kunst o. ä., sondern um ein In- und Miteinander und um reziproken Austausch zwischen den Beteiligten. Das Faszinosum Linie begegnet in diesem diskursiven Feld auf mannigfaltige Weise: Die Linie ist leiblich-motorischer künstlerischer Akt, epistemologische Metapher, visuelles Medium wissenschaftlicher Experimente, poetologischer Graphismus, Sprache der Affekte und Stimmungen, kulturkritischer Kampfbegriff, stilgeschichtliches Indiz u. v. a. m. Dementsprechend versucht mein Buch, dieses mannigfache Funktionieren und Agieren der Linie in einem reichhaltigen historischen Beziehungsgeflecht zu beschreiben. Als zeittypische visuelle Erscheinung ist die Linie eine dynamische in mehrfachem Sinn: Die Künste explorieren sie und loten ihre Möglichkeiten aus; in einem Ausstellungskatalog von 1904 heißt es, „man experimentiert mit der Linie“ (Linie und Form 1904, S. 36). Und sie dynamisiert auch ihrerseits, nämlich Grenzen und Einteilungen: So werden die Trennungen zwischen bildkünstlerischen Gattungen aufgeweicht (zwischen Ornament und Architektur, zwischen autonomer Kunst und Kunstgewerbe); mediale Differenzen wie die zwischen Schreiben und Zeichnen werden mit ihr überspielt (z. B. bei Paul Valéry); positionelle Gegensätze mindern sich, wie die zwischen formalistischen kunstgeschichtlichen oder ästhetischen Ansätzen und ihren Gegnern (z. B. der sogenannten Einfühlungsästhetik); Stile, die sonst gegeneinander ausgespielt werden, etwa Art Nouveau auf der einen Seite und Expressionismus, Abstrakte Kunst etc. auf der anderen, rücken zusammen; Behauptungen von historischen Zäsuren und ‚Überwindungen‘ erscheinen – wenn man den Blick auf die Frage der Linie fokussiert – fraglich, und das Gleiche gilt für Monopolansprüche auf Modernität, wie sie z. B. von Seiten der ‚Avantgarden‘ des 20. Jahrhunderts erhoben werden. Nicht zuletzt konvergieren in den damaligen Konzeptionen der Linie gegensätzliche Leistungen, nämlich kognitive und expressive, oder, im Vokabular der Zeit gesagt: Abstraktion und Ausdruck. In diesem Sinn hat die Linie sozusagen einen apollinisch-dionysischen Doppelcharakter (dazu dann noch Näheres). In Hinsicht auf die anthropologische Wende der Kunstauffassung in jener Epoche kann man auch sagen: In der Linie konvergieren die grundlegenden menschlichen Leistungen von Welterzeugung und Angstbewältigung. Das Verhältnis von Kunst zu elementarer Furcht wird z. B. in den Studien zum Ornament reflektiert; es ist zentral bei dem damals sehr wirkungsvollen Kunsthistoriker Wilhelm Worringer, dessen Gedanken Deleuze aufgreifen wird, und bei Aby Warburg, der für kulturwissen-
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schaftliche Fragen inzwischen ähnlich wichtig geworden ist wie Walter Benjamin. Die Linie um 1900 wird zeitweise emphatisch, aber bald nur noch klischeehaft mit ‚Leben‘ konnotiert. Diese Konnotation läßt sich nicht zureichend mit Rekurs auf bioästhetische, lebensphilosophische, oder naturmimetische Referenzen erläutern. Ihr ‚Leben‘ liegt vielmehr in den zahlreichen Bezügen, in die sie seinerzeit tritt; sie machen ihre Lebendigkeit aus. Und diese ist attraktiv – nicht nur um die vorletzte Jahrhundertwende. Der damalige wissenschaftliche Diskurs steht im Zeichen von Kraft und Energie; auch die Linie wird so betrachtet. „Eine Linie ist eine Kraft“.1 Das ist für den belgischen Gestalter und Architekten Henry van de Velde nicht einfach eine Metapher, sondern ein Axiom. Inwiefern kann die Linie eine Kraft sein? Diese Frage beantwortet die damals hochaktuelle, von Erkenntnissen der Wahrnehmungsphysiologie und -psychologie herkommende Einfühlungsästhetik, namentlich die von Theodor Lipps. Die Kraft wird der Linie vom Subjekt geliehen. Ein unendlich tätiges Ich projiziert sein Selbstgefühl, sein Tun, seine Lebendigkeit und Vitalität in die Formen und belebt sie damit. Linien werden dann beschrieben als Sich-Dehnen, als Spannung, Widerstand-Leisten, Elastizität usw. Je nachdem, ob die leiblich-seelischen Vollzüge des Ich dabei befördert oder behindert werden, erlebt dieses Ich sich selbst in den Formen; ästhetische Lust besteht darin, dass jene Vollzüge unbehindert, also frei vonstatten gehen; die ästhetische Lust ist in diesem Sinn „objektivirter Selbstgenuß“ (Lipps 1906, S. 152). (Das ist die Formel, die Lipps dafür findet; Künstler wie van de Velde oder auch August Endell können daran produktiv anschließen). Dabei spielen abstrakte Formen – die einfache Linie v. a. – eine Schlüsselrolle: Denn gerade an abstrakten geometrischen Formen, dem scheinbar Unlebendigsten, beweist sich die Tätigkeit des Ich als das Entscheidende für unsere Wahrnehmung; wir erschaffen den visuellen Gegenstand und seinen Ausdruck durch unsere Aktivität, und daher ist das Leben der Formen bzw. Linien dasjenige eines agilen, seine psycho-physiologischen Funktionen vollziehenden Ich. Dieses Interesse für die abstrakten Linien und ihren Ausdruckswert findet sich in allen möglichen wissenschaftlichen, künstlerischen und literarischen Überlegungen der Zeit. Von verschiedenen Seiten her wird eine Art Psychologie oder Ausdruckslehre der Linie entwickelt. Linien sind darin nicht mehr – wie in der eingangs erwähnten Tradition – schlechthin Werkzeuge eines ‚Geistes‘, der sich des Körpers nur sekundär bedient, um Ideen sichtbar zu machen. 1 Van de Velde 1955c, S. 130. Im Original kursiv.
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Linien sind nun vielmehr konstruktive Akte und zugleich emotionsgeladene Gesten, sie sind formgebend und expressiv, eigenständige Erzeugung von Welt und Manifestation von psychischer Erregung. Ich versuche, das etwas zu konkretisieren, und zwar anhand eines Textes mit Manifestcharakter; es ist ein Aufsatz von van de Velde mit dem Titel ‚Die Linie‘ von 1908 (Van de Velde 1955b, S. 181–195): Er argumentiert darin auf der Folie von Wilhelm Wundts Psychologie und Nietzsches Produktionsästhetik in der Geburt der Tragödie. Van de Velde hat Nietzsche rezipiert, aber wohl aus zweiter Hand, d.h., er hat eine Textzusammenstellung in französischer Übersetzung gelesen. Zu seiner Lektüre der Geburt der Tragödie gibt es keine genaueren Informationen, aber mit dem Zarathustra hat er sich nachweislich näher beschäftigt: Er hat Nietzsches Text eine monumentale Buchgestaltung angedeihen lassen (Abb. 10).2 Wie für das Ganze, so gibt es zu jedem der vier Teile ein Titel-Ornament (Abb. 11). Auch eine Schrift hat er eigens entworfen und das Layout der Buchseite auf höchst prunkvolle Art gestaltet. Die Ornamente sind nicht nur Schmuck, sondern beziehen sich auch auf den Text. Was der Künstler sich aber strikt versagt (und das ist bemerkenswert), sind gegenständliche Darstellungen, also etwa die der Symboltiere; es gibt hier keinen Adler, keine Löwen, keine Schlange, und vor allem bleibt dem Betrachter der Anblick eines Übermenschen erspart. Van de Velde will vielmehr allein mit abstrakten linearen Formen eine ausdruckshafte Entsprechung zum Text schaffen. Tatsächlich kann man auch Beziehungen zum Text sehen oder Anspielungen darauf, etwa in den Farben Purpur und Gold. Oder ein anderes Beispiel: Der Kreis taucht als Form erst auf, nachdem der Gedanke von der ewigen Wiederkehr verkündet Abb. 10: Henry van de Velde, Friedrich Nietzsche: „Also sprach Zarathustra“, (1908), Doppeltitel, aus: http://prome theus.uni-koeln.de, Quelldatenbank: Diathek online, Technische Universität Dresden, Institut für Kunstgeschichte, Dresden.
2 Vgl. dazu v.a. Weber 1994.
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Abb. 11: Henry van de Velde, Friedrich Nietzsche: „Also sprach Zarathustra“, (1908), Deckblätter der Vier Teile, aus: Klaus Weber: Henry van de Velde. Das buchkünstlerische Werk, Freiburg im Breisgau, Rombach, S. 352–353.
worden ist; das geschieht im dritten Teil. Für diesen Teil zeigt das Ornament Stücke eines Kreises, für den vierten Teil dann erst den ganzen. Auch die Erstausgabe des Ecce homo von 1908 ist eindrucksvoll gestaltet (s. Abb. 12).3 In beiden Buchausstattungen hat das Lineament bedeutungstragende Funktion: Es wirkt machtvoll, erhaben, dynamisch, die Formen sind frei erfundene abstrakte, aber dennoch haben sie starken Ausdruck. Die Linien scheinen spannungs- und energiegeladen, sie bewegen sich nach verschiedenen Richtungen; zugleich ist die Bewegung aber gebändigt und diszipliniert durch Symmetrie und Kreisverläufe, die die Kraft wieder in sich zurückführen. Statt sich nach allen Richtungen zu zerstreuen, wird sie gesammelt und konzentriert; es ergibt sich eine Art Rotationsbewegung. Man hat derart den Eindruck von einem dynamischen Ganzen, in dem die Energie erhalten bleibt, d. h., es ist eine visuelle Inszenierung von Kraft, Wiederholung und Unendlichkeit, ohne dass das Ganze monoton wäre. 3 Wie van de Veldes Also sprach Zarathustra ist auch dieses Nietzsche-Buch im Insel-Verlag Leipzig erschienen.
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Abb. 12: Henry van de Velde, Friedrich Nietzsche: „Ecce Homo“, (1908), Doppeltitel, aus: Klaus Weber: Henry van de Velde. Das buchkünstlerische Werk, Freiburg im Breisgau, Rombach, S. 357.
Zurück zu dem Aufsatz. Die enorme Bedeutung und die Leistungsfähigkeit der Linie wird darin theoretisiert: In einer weit ausgreifenden anthropologischen und ursprungsgeschichtlichen Spekulation beschreibt van de Velde hier etwas wie „die Geburt der Linie“ (Van de Velde 1955b, S. 185) aus der inneren Erregung. Er entwirft eine menschheitspsychologische Stilgeschichte von der Vorzeit bis in die Gegenwart. Der Aufsatz zur Linie ist also ein ambitionierter Text; die Linienkunst, die der Verfasser und andere in dieser Zeit betreiben, und die Propagierungen und Apologien dieser gestalterischen Praxis erhalten darin einen großen kunsttheoretischen Rahmen. Van de Velde macht offenkundig Anleihen bei Nietzsches polaren Kunsttrieben des Dionysischen und des Apollinischen, aber er nennt den Namen und die Begriffe nicht. Er unterscheidet nämlich zwei „Neigungen“, und diese bringen zwei Arten von Linien hervor: die sogenannte „Gemütslinie“ und die sogenannte „mitteilende“ Linie (Van de Velde 1955b, S. 184–185). Er behauptet, sich an die zeitgenössische Psychologie anzulehnen, also wohl an Überlegungen von Wilhelm Wundt zu Gebärden und zur Mitteilung von Emotionen, zu bei Wundt sogenannten „Gemütsbewegungen“.4 Man kann annehmen, dass der Ausdruck ‚Gemütslinie‘ ‚Gemütsbewegungslinie‘ meint: Sie ist die sichtbare Spur einer inneren Bewegung, eines Affekts, eines Gefühls, einer Willensregung etc. Die ‚Gemütslinie‘ ist von den beiden Grundtypen die ältere, und ihre Bestimmung ist umfassender als die der ‚mitteilenden‘ Linie: In der elementaren Form sind Linien laut van de Velde „übertragene Gebärden – offenkundige psychische Äußerungen“. Damit sind sie Zeugen „von latenten Kräften“; die psychischen Kräfte agieren dabei analog zu den natürlichen: Die einen schaffen „kapriziöse[], vergängliche[] Arabesken im bewegten Wasser“, die anderen „wollüstige[] Gebärden“, „Tänze“ und „lineare Ornamentik“. Jüngere Entwick4 Vgl. dazu Wundt 1908–1911, I, S. 406–409.
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lungen schreiben dann die Eigenschaften dieser Erzeugnisse, also die Eigenschaften von Tanz, Gebärden, Ornamenten, die eigentlich zu Ritual und Magie gehören, dem Bild zu. (Das Bild im Sinn des Tafelbildes ist ja kunsthistorisch eine vergleichsweise späte Erscheinung; zuerst befinden sich Bilder auf Gefäßen, Wänden etc.) ‚Bild‘ aber heißt auch Abbild, repräsentierende, mimetische Kunst. Sobald es diese gibt, liegen nach van de Velde die „Neigung“ zu „Taumel“ und „Wonnetrunkenheit“ und die andere „Neigung“, die zu „Darstellung“ und „formelle[r] Disziplin“, miteinander im „Kampf“.5 Und der Widerstreit dieser beiden Neigungen macht nach van de Velde die Kunstgeschichte aus. Gemeint ist damit diejenige Geschichte, die ohne Namen auskommt, nämlich die des kollektiven Ausdrucks, der Stile; diese zeigen sich jeweils in der Ornamentik der verschiedenen Epochen und Kulturen. Die ‚Gemütslinie‘ ist also eine fixierte Gebärde, die visuelle Äußerung eines psychischen Erregungszustandes; sie steht rituellem Tanz und magischen Zeichen nahe. Die ‚mitteilende‘ Linie wird dagegen mit naturalistischer Zeichnung konnotiert. Ein ‚Wille zur Darstellung‘ ist darin am Werk; er wirkt regelhaft und strebt jeweils zu einem Endziel und zur Vollkommenheit. Das impliziert Schulung, Dressur, Willensbeherrschung. Die ‚Gemütslinie‘ ist ganz anders: Sie „verfolgt ein unbestimmtes Ziel; verfügt frei über ihre Mittel […]. Sie ist eine Kraft, die spontan aus uns herausstrebt, die sich aufschwingt und zurücksinkt, die gleitend und windend sich fortbewegt, die uns emporhebt und unsere Seele in einen Zustand versetzt, wie ihn nur Gesang und Tanz in uns erwecken können“ (Van de Velde 1955b, S. 188–189). Sie ist also ateleologisch, sie unduliert, sie mäandert. Ihre Verwandten sind die performativen Körperkünste, die noch einem weiten Begriff von ‚Künsten‘ angehören: Neben Gesang und Tanz erwähnt der Essay Festzug, Triumphmarsch, Wagenrennen, Karneval. All das sind kollektive Veranstaltungen, Künste, die von ‚Massen‘ ausgeübt werden. Des Weiteren markieren musikalische Metaphern die historischen Manifestationen und Wiederkehren der ‚Gemütslinie‘; ein zeittypisches Stichwort dafür heißt immer wieder: Rhythmus. Diese Linie kann man wohl eine ‚dionysische‘ nennen. Van de Velde markiert „die freie dionysische Natur der Linie“ und stellt sie dem „sentimentale[n] Hang zur Darstellung und [dem] Bedürfnis der Symbole“ entgegen.6 In der realen Kunstgeschichte dürfte jene Linie nicht pur auftreten, ja, als Reinform ist sie wohl am ehesten ein Konstrukt, eine Hypothese, während die tatsächlichen künstlerischen Artikulationen, selbst der Tanz, selbst magische Zeichen, wohl
5 Alle Zitate: Van de Velde 1955b, S. 181–186. 6 So in der Version des Aufsatzes Die Linie, die 1908 in der Zeitschrift Die neue Rundschau erschien, S. 1042. In Van de Velde 1955b fehlen diese Passagen.
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immer etwas von beiden ‚Neigungen‘ haben, von ‚Gemütslinie‘ und von ‚mitteilender‘ Linie. In Nietzsches Geburt der Tragödie wirken die beiden gegensätzlichen Kunsttriebe immer zusammen, und Stil ist jeweils ein Resultat aus beiden. Van de Velde geht darauf nicht ein; doch wenn man seine eigene künstlerische Praxis zu seinen Äußerungen ins Verhältnis setzt, sieht man, dass es etwa in der abstrakten Ornamentik des Zarathustra-Buches auch ‚mitteilende‘ Linien gibt, nämlich z. B. den goldenen Kreis. Er ist nicht nur eine abstrakte Form, sondern steht auch für die Sonne, mit der Zarathustra identifiziert wird. Der Kreis ist also ein sehr zurückgenommenes, aber doch mimetisches Element und in unserem visuellen Code auch ein leicht verständliches Zeichen oder Symbol. Van de Velde konstruiert Kunst- bzw. Stilgeschichte auf der Basis der beiden ‚Neigungen‘ als einen Kampf, oder man könnte sagen: als eine Geschichte von Verdrängung und Wiederkehr jener potenten ‚dionysischen‘ Linie oder ‚Gemütslinie‘. Dazu einige Beispiele aus dem gleichen Aufsatz: Die gebärdenhafte Linie des Stils gilt van de Velde als „zuverlässige Auskunft über die Gefühle und Charaktere“ ganzer „Nationen und Epochen“, „Rassen und Zivilisationen“, kurz: Sie ist der Schlüssel in einer Kulturphysiognomik oder in einer Art Völkerpsychologie, die er skizziert. Diese hat in ihrer methodischen Hemmungslosigkeit geradezu wilde Züge. Es gibt den „erhabenen Manierismus“ der ägyptischen Linie, „eine elegante stolze Würde“ der griechischen und im Gegenzug die „römische Linie, hart und gewalttätig“; einen neuen Rhythmus bringt die gotische mit ihrer „wagende[n] Kühnheit“. Sie „steigt und steigt und bleibt ewig unersättlich“, aber erstmals, seit ägyptischer und griechischer, „gleicht ihr Lauf wieder einem Gesang“. Barock- und Rokokolinie feiern ausgelassen Karneval, die Linie des Empire tut „Buße“, bis endlich die „moderne Linie“ erscheint. Die neo-impressionistische Malerei weist sie auf7, und flankiert wird sie von der „Gewalt“ und dem „verwegne[n] Mut“ der japanischen Linie. Die neuen, gegenwärtigen Linien (also die um 1900) sind „die Linien des Ingenieurs“: Sie zeigen stolz ihre Spontaneität und konstruktive „Tätigkeit“ vor und gelangen, ihrer „Schicksalsbahn“ folgend, mit dieser Art der „Vollendung“8 auf die Höhe der griechischen Kunst. Wie jede Zeit hier an ihrer charakteristischen Linie zu erkennen ist, so gibt die Ingenieurarchitektur der Gegenwart ihr lineares Wahrzeichen: „Der Flachbogen der Eisenkonstruktion […] ist über unserer Epoche ausgespannt“ (Van de Velde 1955a, S. 167). Van de Velde ist kein Wissenschaftler, kein Historiker und kein Denker, sondern seine Schriften – und es gibt eine ganze Menge – sind Texte eines 7 Bei Seurat etwa in den Rahmen. Zu seinem Liniensymbolismus vgl. Mainberger 2010, S. 92–96. 8 Alle Zitate: Van de Velde 1955b, S. 186–194.
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Praktikers und Pamphletisten, der polemisch ästhetische Missstände der Zeit anprangert und mit viel Elan für seine Ideen eintritt. Die Texte haben zum Teil einen sehr literarischen Charakter und zuweilen bemerkenswerte Sprachgewalt. Auffallend an van de Veldes Stilphysiognomien ist aber auch eine sozusagen vortheoretische Buntheit. Der überbordenden Phantasie gemäß wird dann auch die Grundidee vom Kampf der ‚Gemütslinie‘ und der ‚mitteilenden‘ Linie nicht durchgehalten. Der Ansatz von der Verdrängung des ‚primitiven‘ Linienausdrucks und dessen Wiedergewinnung, kurz: das Heroisch-Dramatische eines derartigen Narrativs, verliert sich in den geradezu burlesken Charakterisierungen. Und die vorgeblich verschiedenen Manifestationen dieser beiden Tendenzen folgen aufeinander wie Varieténummern. Die ‚dionysisch‘ aufgefasste Linie findet sich in dieser Zeit nicht allein bei van de Velde. Auch in Frankreich, bei Maurice Denis etwa und bei Matisse, gibt es Vergleichbares. Die Linie wird also von verschiedenen Seiten her neu konzipiert. Ein Novum ist diese ‚dionysische Linie‘ aber innerhalb der Kunsttheorie, denn in der europäischen Tradition ist, wie gesagt, die Linie immer mit dem Intellekt konnotiert. Bei der Anwendung von Nietzsches Begriffspaar auf die bildende Kunst läge es daher nahe, die Linie bzw. die Zeichnung mit dem Apollinischen zu verbinden und die Farbe mit dem Dionysischen. Hier ist es jedoch anders: Die Linie bekommt nun beide Valenzen zugeschrieben, wobei nur die neue der Erklärung und Rechtfertigung bedarf: Die ersten Linien gelten als „Äußerungen von Lebenskraft und Erregung, kindlicher Freude, rückhaltloser Lust“ (Van de Velde 1955b, S. 181). Damit wird etwas wie Ekstase aufgerufen, aber nicht das Katastrophische und Gewalttätige der Mänaden, sondern das Vitale und Lebensbejahende. (Die Charakterisierung erinnert auch an Lipps’ These, dass ästhetische Lust objektivierter Selbstgenuss sei; van de Velde zitiert diesen Gedanken an anderer Stelle). Die ersten Linien gelten als zweckfreie Manifestationen der eigenen Befähigungen und Tätigkeiten. Und die Graphismen des Ornaments, die bereits weniger direkter Natur sind als Gesang, Gebärde und Tanz, reichen laut van de Velde noch in diese primäre Schicht zurück. Sie sind deren „Schrift“ oder, wie schon zitiert, „übertragene Gebärden“.9 In diesem Terminus sind Nähe zum Ursprung und Entfernung davon, Kraft und Transformation der Kraft, zusammengespannt: Eine ‚übertragene‘ Gebärde ist schon eine vermittelte Unmittelbarkeit, eine Umwandlung oder Übersetzung des Körperlichen. Hier liegen auch wieder Parallelen zu Nietzsche, nämlich zu den Überlegungen in Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne: Van de Velde kannte diesen (erst 1896 erschienenen) Text wohl nicht, aber der belgische Künstler und der deutsche Philosoph partizipieren an einem 9 Van de Velde 1955b, S. 183, 181; Hervorhebung S.M.
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gemeinsamen Diskurs. In der Sinnesphysiologie dieser Zeit liegt ein Modell von Wahrnehmung vor, demzufolge das Gesehene ein Produkt von subjektiven Verarbeitungen und Interpretationen von Reizen ist; das heißt, der körperliche Vorgang selbst ist schon zeichen- oder symboltheoretisch gedacht, Wahrnehmung selbst wird schon als Zeichenprozess begriffen. Am folgenreichsten hat dieses Prinzip Hermann von Helmholtz formuliert. Diese Auffassung des Wahrnehmungsvorgangs betrifft aber auch grundsätzlich das Verhältnis von Ich oder Subjekt und Außenwelt. Die Übertragungs-, Interpretations-, Deutungsvorgänge, die bereits innerleiblich stattfinden, sind ein anderes Erklärungsmodell für das, was am Denken um 1900 üblicherweise als monistisches Träumen von Alleinheit beschrieben wird: Das Subjekt sehnt sich nicht regressiv nach einem Verschmelzen mit der Natur, sondern es projiziert seine eigenen leibseelischen Vorgänge auf die Dinge. Die Einfühlungstheorie sagt, das Ich ‚fühlt seine Befindlichkeiten, Stimmungen in das Gegenüber ein‘ – das Verb ‚einfühlen‘ wird hier transitiv gebraucht –, und dieses Einfühlen ist nichts Mystisches, sondern ein psycho-physiologisch unvermeidliches Tun. Das menschliche Subjekt erzeugt auf diese Weise Bedeutung, das aktive, transitive Einfühlen ist seine grundlegende symbolisierende Tätigkeit. Im Zentrum dieses von der Sinnesphysiologie bestimmten Denkens steht dabei eine Metapher; sie wurde schon erwähnt: Es ist die der Projektion oder Übertragung (vgl. Müller-Tamm 2005). Und diese Metapher findet sich bekanntlich auch an entscheidender Stelle bei Nietzsche, nämlich in seinen berühmten sprach- und erkenntnisskeptischen Thesen: „Was ist ein Wort?“ (WL, KSA 1, S. 878) und damit: Was ist Sprache? lautet die Frage in Über Wahrheit und Lüge, und die Antwort lautet: „Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher“ (WL, KSA 1, 879). Worte und Begriffe gehen also aus Übertragungen von Nervenreizen in Bilder hervor, und Bilder werden wiederum in Laute übertragen; Worte und Begriffe sind demnach Metaphern und Metaphern von Metaphern. Vom ‚Wesen der Dinge‘ wissen sie nichts. Ihr verbaler Ausdruck beruht vielmehr auf Übersetzungs- oder Deutungsvorgängen, die schon im Körper stattfinden. Analog dazu denkt van de Velde die Linien: Erregungen zeigen sich als Gesten und Tanz, und Linien sind deren Schrift, also auch sie sind Übertragungen von Übertragungen. Bei Nietzsche dient das zitierte Argument einer radikalen Kritik an den Begriffen; ihr Anspruch auf Erkenntnis wird fundamental in Frage gestellt. Zugleich führen diese Überlegungen aber auch zu einer enormen Aufwertung der rhetorisch-literarischen Seite der Sprache, allem voran der Metapher. Sie ist das eigentlich welterzeugende Verfahren. Analog verhält es sich bei van de Velde: Dass Linien ‚übertragene Gebärden‘ sind, stellt grundsätzlich in Frage, dass etwas wie die ‚mitteilende‘, also Kontur ziehende, bezeichnende Linie
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(der traditionelle disegno) beanspruchen könnte, das konstitutive Moment der visuellen Kunst zu sein. Dieser Anspruch wird durch den Hinweis auf die Herkunft der Linie aus dem Leib, durch kritische Genealogie also, zurückgewiesen, und die traditionelle Linie der Zeichnung wird zu einem abgeleiteten, sekundären Element degradiert. Das ist gewissermaßen eine zeichnungstheoretische ‚Umwertung der Werte‘. Vor allem aber artikuliert sich darin eine Bild- und genauer eine Abbildungsskepsis: Ebenso wenig wie die Begriffe und die Worte die Dinge erfassen, wie sie sind, lässt die mimetische, die sichtbaren Gegenstände repräsentierende Linie die Welt sehen, wie sie ist. Das heißt, wie bei Nietzsche ein naiver Sprachbegriff außer Kraft gesetzt wird, so hier ein naiver Bildbegriff: Einer Auffassung, die der späten Erfindung einer gegenständlich darstellenden Linie vertraut und meint, Zeichnung und Malerei würden die Dinge wahrheitsgetreu abbilden, wird eine Absage erteilt. Die Überlegungen zur Linie bringen hier also – bei aller theoretischen Unklarheit – eines nachdrücklich zur Geltung: Linien ziehen heißt nicht die Welt wiedergeben, sondern eine Welt schaffen, und dieses Schaffen vollbringt ein leibliches Wesen. Linien visualisieren nicht Ideen, die von ihren Produzenten unabhängig sein könnten, sondern sie zeigen, wie Menschen sich in der Welt befinden. Und in den verschiedene Epochen und Kulturen sind es jeweils verschiedene Welten: In den Stilen bzw. in den Ornamenten, die den Stil jeweils ausmachen, manifestiert sich eine je andere Deutung der Welt (wenn sie auch nicht gänzlich kulturrelativistisch alle als gleichwertig erscheinen). Ich möchte zum Schluss noch an einem zeichnerischen Beispiel aus der Zeit verdeutlichen, was mit der Infragestellung der Kontur- und Mimesisfunktion der Linie und mit ihrer eigenen schaffenden Potenz gemeint ist. Das Beispiel stammt aus den USA, es ist ein Blatt von Will H. Bradley aus dem Jahr 1894 mit dem Titel The Serpentine Dance (Abb. 13); er bezieht sich auf die seinerzeit sensationellen Darbietungen der amerikanischen Bühnentänzerin Loïe Fuller. Sie hatte einen Tanz mit wehenden Schleiern erfunden, der außerordentlichen Eindruck machte. (Abb. 3) Die Kritik damals sprach von einer danse mystique. Bradleys Zeichnung zeigt aber nun nicht die Tänzerin, sondern den Effekt ihres Auftritts: Man sieht nur dynamische Schwünge und Schleifen, auf den ersten Blick nichts als ein abstraktes, sehr bewegtes Ornament. Die geschwungenen Linien ziehen über das ganze Blatt und über seine Ränder hinweg, aber sie umziehen nichts, sie sind keine Umrisslinien. Daran, dass hier doch etwas dargestellt wird, dass es in diesen Bewegungen noch ein Subjekt gibt, von dem sie ausgehen, einen menschlichen Akteur, nämlich eine Frau, daran erinnern nur die angedeuteten Füße. Sie erst geben dieser Komposition aus Schlangenlinien eine Unterscheidung in Oben und Unten, Darüber und Darunter; sie erst
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Abb. 13: Will H. Bradley, The Serpentine Dance (1894), aus: Will H. Bradley: American Artist in Print. A Collector’s Guide, hg. v. Robert Koch, Vorw. v. Janet Zapata, New York/Manchester 2002, S. 43.
suggerieren einen Raum und einen Körper und erlauben dem Betrachter, sich zu orientieren. Hat man sie einmal entdeckt, dann wird aus dem Blatt allerdings etwas ganz anderes: Denn nun kann der Blick hin und her gehen zwischen der Wahrnehmung abstrakter Formen und der Wahrnehmung einer unter ihren Schleiern fast, aber doch nicht ganz verschwundenen Frau. Die Tänzerin spielt mit ihren Schleiern ein altes Spiel: das vom züchtigen SichVerbergen und koketten Sich-Zeigen. Aber eben dieses Spiel von Sichtbarmachen und dem Blick Entziehen spielt hier auch das Bild selbst: Das Motiv ist zugleich sein formales Verfahren, es ist nicht nur Gegenstand der Darstellung, sondern obendrein dessen poietologisches Prinzip. Der Betrachter kann alternieren zwischen Ornament und figuraler Darstellung; was er sieht, hängt von seiner eigenen Aktivität ab. Dass sein Sehen selbst aber derart das Bild erst erzeugt, das lassen ihn die Linien und ihr kleiner Zusatz erfahren; sie machen hier das Sehen selbst sichtbar.
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Bibliographie [ohne Autoren- und Herausgebernamen] 1904: Linie und Form. Erläuterndes Verzeichnis der Ausstellung formenschöner Erzeugnisse der Natur, Kunst und Technik im Kaiser-WilhelmMuseum zu Krefeld, April und Mai 1904. Krefeld. Lipps, Theodor (1906): „Einfühlung und ästhetischer Genuß“. In: Ästhetik. Hrsg. v. Emil Utitz. Berlin 21924, S. 152–167. Meier-Graefe, Julius (1904): Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst. Vergleichende Betrachtung der bildenden Künste, als Beitrag zu einer neuen Ästhetik. 3 Bde. Stuttgart. Mainberger, Sabine (2010): Experiment Linie. Künste und ihre Wissenschaften um 1900. Berlin. Müller-Tamm, Jutta (2005): Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne. Freiburg i. Br. Van de Velde, Henry (1908): „Die Linie“. In: Die neue Rundschau. 19. Jahrgang der freien Bühne. Dritter Band, S. 1035–1050. Van de Velde, Henry (1955a): „Der neue Stil“. In: Henry van de Velde: Zum neuen Stil. Aus seinen Schriften ausgew. u eingel. v. Hans Curjel. München, S. 156–168. Van de Velde, Henry (1955b): „Die Linie“. In: Henry van de Velde: Zum neuen Stil. Aus seinen Schriften ausgew. u eingel. v. Hans Curjel. München, S. 181–195. Van de Velde, Henry (1955c): „Prinzipielle Erklärungen“. In: Henry van de Velde: Zum neuen Stil. Aus seinen Schriften ausgew. u eingel. v. Hans Curjel. München, S. 115–134. Weber, Klaus (1994): Henry van de Velde. Das buchkünstlerische Werk. Freiburg i. Br. Wundt, Wilhelm (1908–1911): Grundzüge der physiologischen Psychologie. 6., umgearb. Auflage. 3 Bde. Leipzig.
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Also baute Zarathustra 1. Das Wohnhaus von Peter Behrens in Darmstadt und die Wirkung Nietzsches auf die Baukunst und die Dinge des Gebrauchs Die Darmstädter Künstlerkolonie, die der junge Hessische Großherzog Ernst Ludwig 1899 mit sieben Künstlern einberief, sollte die Münchner und Wiener Reformbewegung in Kunstgewerbe und Architektur für die Förderung des heimischen Gewerbes nutzen, allerdings mit dem mutigen Ziel, nicht das etablierte, historistische Wohnungsgewerbe, keine Hofkunst oder Luxuskunst, sondern eine noch kleine und junge Gruppe von Neuerern zu unterstützen, bis hinunter zur Planung eines Modellhauses für Opel-Arbeiter. Die Gesamtplanung der einzelnen Künstlerhäuser und des zentralen Kunsthauses lag in den Händen von Joseph Maria Olbrich, einem Schüler des großen Wiener Architekten der Moderne, Otto Wagner. In einem variablen Personalstil entwarf er fünf verschiedene und doch ähnliche Häuser, für sich selbst und die anderen Darmstädter Künstler, ohne expliziten Gestus eines „Neuanfangs“. So musste es „wohl auffallen, als plötzlich Behrens mit seinem Entschluss auftrat, er wolle sein Haus […] selber und allein bauen“1 (Abb. 1). Der gelernte Maler, seit Herbst 1897 auch autodidaktischer Kunstgewerbler (Abb. 2), begann damit im Jahre 1900, ohne Ausbildung und ohne jede Erfahrung als Architekt seine glanzvolle Laufbahn als einer der großen Baumeister des 20. Jahrhunderts. Alle künstlerischen Energien sind auf das Innere gerichtet, das in seiner hochgradig stilisierten Bilderwelt und seiner geometrischen Ornamentik Aussagen über die Zielsetzungen des Bauherrn macht. Es war Friedrich Ahlers-Hestermann in seinem Buch Stilwende von 1941, in dem vom Aufbruch der Jugend und vom „Zarathustra-Stil“ um 1900 gesprochen wird. Schon 1901 fühlte sich der Hamburger Baumeister Fritz Schumacher im Hause von Behrens an „Zarathustras Gesänge“ erinnert.2 1980 habe ich auf diese ikonographischen Elemente hingewiesen, die Nietzsches Zarathustra aufgreifen: Diese Studie soll das Behrens-Haus noch präziser aus dem Werk Nietzsches herleiten. Zum Schluss soll schließlich auf den massiven Widerstand aus Deutschland, Frankreich und England gegen die
1 Hoeber 1912, S. 9; ferner Renate Ulmer 1976. 2 Siehe: Zeitschrift Dekorative Kunst 4, 1900/1901, S. 428
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Abb. 1: Straßenseite, Haus Peter Behrens, von Nordwesten (Dr. Franz Stoedtner, Heinz Klemm, Foto Marburg)
scheinbar heitere Idylle des Jugendstils hingewiesen werden. Nietzsche wird bei seinen geschäftlichen und ideologischen Gegnern zum Schreckbild des Verführers zu einem krankhaften und dilettantischen Anarchismus.
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Abb. 2: Peter Behrens (14.04.1868 – 27.02.1940), Portraitaufnahme von Wilhelm Weimer, Darmstadt 1901 (Foto: Landesgewerbeanstalt Bayern, Nürnberg, Bibliothek, Sig: 2641)
Wir beginnen mit einer Betrachtung der Nietzscheschen Bildmetaphern im Hause Behrens. Zwei nur kurz aufgestellte Banner am Eingang trugen zwei stilisierte Adler, das Lieblingstier Zarathustras, der auch auf dem Tor zur Straße und auf der Haustür als geistiger Hausherr erscheint (Abb. 3). Der Freund von Behrens, Kurt Breysig (Breysig 1901/02, S. 130–196), Professor für Universalgeschichte an der Friedrich Wilhelms-Universität Berlin, zugleich Nietzscheaner und Georgianer der ersten Stunde3, hat diese Tür in seinem Essay über das Behrenshaus in der Festschrift zur Darmstädter Ausstellung von 1901 genau beschrieben4, in einer entrückten pathetischen Höhenlage, die die „begeisterte“ Zustimmung vom Künstler fand, sich aber nur sehr oberflächlich der sprachlichen Bildkraft des Zarathustra nähert: Die Linien des goldgelben Metallornaments auf dem violett getönten Grau der Thüre sind so wundersam fremd und heilig zugleich, daß sie dem Tempel irgend eines längst verschollenen Götterdienstes den Eingang schmücken dürften. Sie wirken wie eine weite, priesterlich segnende Gebärde, allein sie heischen auch Ehrfurcht und erwecken hieratische Schauer, die fast zu niederdrückend sind für den heiteren weltlichen Zweck dieses Hauses. (Katalog Behrens und Nürnberg, S. 38)
3 Zu Kurt Breysig, dem frühen Förderer seines Vetters August Endell, siehe jetzt die eindringliche Untersuchung von Helge David 2008, passim. 4 Siehe Tilmann Buddensieg 1980, S. 37 ff. (Im Folgenden zitiert: Katalog Behrens und Nürnberg).
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Abb. 3: Haustür (Archiv, Buddensieg)
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Abb. 4: Mosaik (Archiv, Buddensieg)
Hier wird ein Konflikt in dem Behrens-Haus deutlich zwischen dem Nietzscheschen Ideal einer profanen „Einfachheit“ und emotionaler „Nähe“ der Dinge des täglichen Gebrauchs, und einem sich von Nietzsche entfernenden Schönheitskult von Behrens ohne „priesterlichen Segen“ und „hieratischem Schauer“. Im kleinen Eingangsvestibül und Treppenhaus findet sich der Besucher auf einem Fußbodenmosaik (Abb. 4), das in vierfacher Verschränkung noch einmal den hochgradig stilisierten Adler Zarathustras zeigt. Wie ein Wagnersches Leitmotiv kehrt der Adler in der Ausstattung des Hauses, auch als Banalmotiv der Heizkörperverkleidung, wieder.5 Diese plakative Usurpation Zara5 Siehe zeichnerische Umsetzung im genannten Aufsatz von Breysig 1901/02, S. 336, sowie Behrens 1901, S. 364.
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thustras mit naturalistischen Allegorien fehlt van de Veldes energischer und bildloser Analogiebildung zu Nietzsche in der Weimarer Bibliothek und dem Archiv. Blickt der Besucher nach oben und zurück zur Haustür, so nimmt er das zweite Leitmotiv des Hauses wahr, Zarathustras Kristall: In der stilisierten Form der Lampe und in ihrer vierfachen Umrahmung über dem Mosaik, im Strahlenbündel über dem Treppenaufgang und im gläsernen Tympanon über der Adlertür des Eingangs. Behrens beschreibt das Motiv in der Festschrift und gibt ihm eine hymnische Begründung weit ab von der Funktion als Beleuchtungskörper: „Und wo der ewige Glanz der Sterne durch blauen Aether zu uns strahlt, von dort und hier crystallene Helle uns durchdringt, der großen Ordnung klarer Geist in einem Demant uns sich offenbart, da erkennen wir in ernster Lust das Recht auf neues Leben“6, ohne Dimension der Geschichte. Zu seinem Dienst entsteht ein neuer Kult. Ihm will Behrens „ein Haus errichten“ (Behrens 1901, S. 11). Damit meint er sein eigenes Haus, das allerdings zu schönheitstrunken gerät, um Gelassenheit und Wohlbefinden zu vermitteln. Sätze, die belegen, dass Behrens’ primäres Ausdrucksmedium die Raumgestaltung, der Entwurf von Dingen des Gebrauchs war, nicht deren sprachliche Verklärung. Zum „Geiste unserer Zeit […] Schönheit geben“ (Behrens 1901, S. 10). Alle Konvention und alle Erinnerung soll durch ein immer Neues, nur Neues, verdrängt werden, gewichtige Dinge neben nur gewichtigen Dingen stehen, auch wenn es nur eine Serviette ist. Die Ursprünge und die Begründung für das hochgemute Konzept fand Behrens, wie andere Künstler der Zeit und wie die fördernden Publizisten und Freunde Kurt Breysig, Julius Meier-Graefe, Karl Scheffler, um nur diese zu nennen, im Werk von Friedrich Nietzsche. Die Bedeutung Nietzsches für Behrens ist mit einem Brief belegt, den der Darmstädter Baumeister am 6. Dezember 1902 an Elisabeth Förster-Nietzsche schrieb. Überschwänglich dankt er für die Übersendung von Werken ihres „Unsterblichen Bruders“. Mit der Einladung nach Weimar werde uns „ein Wunsch erfüllt, den wir schon seit langer Zeit empfinden. Ich schätze mich glücklich, all meine Verehrung und tiefste Bewunderung für den weisen Künstler vor Ihnen ausschütten zu dürfen“. Es folgt dann eine edel formulierte Künstlerhommage an Nietzsche, die keinen Zweifel lässt an dessen machtvoller manchmal gar übermächtiger Wirkung auf Behrens: „Ich wünschte mir, die Kraft zu besitzen, deren ich bedürfte, um meine Gefühle als Werke erstehen zu lassen“. Im Darmstädter Haus sind seine
6 In diesen Strahlen- und Kristall-Zusammenhang gehört auch der Einband des Zarathustra von Behrens, entstanden 1902: Katalog Behrens und Nürnberg, S. 26, Nr. 57.
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„Gefühle“ und ist seine „Verehrung und tiefste Bewunderung für den weisen Künstler“ (Katalog Behrens und Nürnberg, S. 407) manifest geworden. Dazu darf auch der verlorene Buch-Einband von Behrens für Also sprach Zarathustra gerechnet werden. Wir folgen nun dem vorgeschriebenen Weg vom Vestibül durch die doppelte Schiebetür ins Musikzimmer, dem eigentlichen Zentrum des Hauses, zusammen mit dem Speisezimmer. Behrens war ein leidenschaftlicher Musikfreund. Vorherrschend war seine Verehrung für Richard Wagner. Das bestätigt die Auskunft seiner Tochter Petra. Er war mit Richard Strauss und Gustav Mahler bekannt. Seine Theaterpläne in Darmstadt sollten ‚Raum, Musik und Vers, Farbe und Form‘ zu einem Gesamtkunstwerk vereinen. Am 27. Mai 1903 schreibt Behrens aus Düsseldorf an seinen Freund Josef Hoffmann in Wien: „Daß morgen Tristan gegeben wird und daß das Grund sei, schnell ein Billet nach Wien zu kaufen, das dürfen Sie mir gar nicht schreiben, denn ich wäre im Stande und thäte ‚Amt und Würden‘ liegen lassen und davon fahren“.7 Das war die epochale Wiener Aufführung des Tristan unter der Leitung von Gustav Mahler.
Grundriss Ein bürgerlicher Salon, ein Herrenzimmer wird ebenso demonstrativ vermieden wie eine große, alle Wege in die Zimmer öffnende Halle. Nur über das Musikzimmer, durch eine breite Doppeltür, war das Speisezimmer zu erreichen. Das Zimmer der Dame war nur durch Musik- und Speisezimmer oder vom Garten aus zugänglich (Abb. 5). Umgeben von den Nietzscheanischen Metaphern des Adlers und des Kristalls verwundern die gleißenden Kristall- und Strahlenmotive nicht, die auf dem vergoldeten Doppelportal erscheinen, das den Besucher zwei Stufen hinab ins Musikzimmer führt.8 Da die Räume des Hauses im letzten Kriege zerstört wurden, sind wir wieder auf die Beschreibungen und Abbildungen von Kurt
7 Moeller 1991, S. 386, Anm. 137. Zur Wagnerverehrung von Behrens, siehe darin den Hinweis auf Robert Breuer, in: Deutsche Kunst und Dekoration 24, 1909, S. 342. 8 Die Schiebetür aus vergoldeter Aluminiumbronze hatte Behrens in Berlin zu einem Schrank umarbeiten lassen, den er dem Architekten Himmel, seinem letzten Bürochef, in den dreißiger Jahren zur Hochzeit schenkte. Aus dessen Nachlass tauchte der Schrank 1997 im Moabiter Trödel auf, von wo das außerordentliche Werk zum Glück für die Sammlung der Künstlerkolonie Darmstadt erworben werden konnte.
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Abb. 5: Grundriss des Erdgeschosses (Archiv, Buddensieg)
Breysig und Karl Scheffler, sowie Alfred Lichtwark angewiesen (Abb. 6 und Abb. 7).
Musikzimmer Nach der Diele öffnet sich dem Besucher mit der vergoldeten Schiebetür ein ganz anderer Raum von verwirrender Vielfalt der farbigen Materialien, Spiegelungen, kristallenen Lichtbrechungen als Strahlenbündel auf dem Boden, in der Zimmerdecke, auf den Möbeln, auf dem selbst entworfenem Flügel. Zwei „feierliche Kandelaber tragen starke Riesenkerzen“ (Breysig 1901/02, S. 148),
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Abb. 6: Musikzimmer (Dr. Franz Stoedtner, Heinz Klemm, Foto Marburg)
vor einer mit rotem Marmor gerahmten Nische, die von einem großen Bild gefüllt wird. Mit dem Titel Traum. Man darf in der durchsichtig gekleideten Gestalt die mythologisch stilisierte Hausherrin vermuten, in Erinnerung an eine Venus von Botticelli, in dem liegenden jungen Mann mit der Geige den Hausherrn. Ein Hocker, fünf Sessel, vier Tischchen und eine Bank laden den Besucher zum Sitzen ein. Breysig schildert „die schwere Pracht“ dieser feierlichen Gegenstände, „[…] gebändigt durch den einen ganz vollen […] Farben-Thon, der von allen Seiten […] rings hereinklingt: durch das stille, tiefe Blau der mit Glas belegten Wände“ (Breysig 1901/02, S. 148 ). Zwei fremdartige ägyptische Mosaikgöttinnen, vielleicht Nietzsches „neue[] Lichtbringer“ (UB IV, KSA 1, S. 464), beleuchteten eine leere, „vollkommen linienlose Fläche edelgrauen Silber-Ahornholzes“ (Breysig 1901/02, S. 148). „[…] [d]ie Gegenwart überwinden, nämlich unbemerkbar machen und gleichsam übermalen“ (UB III, KSA 1, S. 361), – diese Aufgabe stellte Nietzsche der Philosophie im Hinblick auf ihr kritisches Verhältnis zur Gegenwart. Der von der Außenwelt abschließbare Raum diente dem Zweck der Versenkung in die Musik, in einer Symbiose aller nichtverbalen Künste, befördert von einem
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Abb. 7: Schrank, mit Schiebetür aus dem Musikzimmer (Museum Darmstadt, Foto: Tobias Buddensieg)
Konzert der Farben, Materialien, Spiegelungen und Lichtreflexen auf irrealen Wänden und leeren silbernen Flächen. Der in Berlin lebende, im Künstlerlokal Zum schwarzen Ferkel verkehrende polnische Schriftsteller Stanislaus Przybyszewski (1868–1927) hat in seiner seltenen frühen Schrift, Zur Psychologie des Individuums, I. Chopin und Nietzsche von 1891/92, diese beiden Künstler als die „beiden Rauschkünstler“ bezeichnet, von denen „die neue Kunst ausgehen“ werde, eine Kunst, die aufhöre, „in verschiedene Zweige getrennt“ zu werden, „wo es eine ununterbrochene Skala vom Ton bis zum Worte und zur Farbe ohne die jetzt bestehenden Grenzen“, wo endlich „die Kunst in ihrer Totalität […] als Selbsterlebtes, Selbstdurchfühltes und Durchdachtes in allen Ausdrucksmitteln mit gleicher Intensität genossen“ werde.9 Dieser Synthese der Künste hat der Hamburger Behrens in seinem Haus eine norddeutsche Bühne errichtet. Vorbei an den zwei Lichtgestalten, die das Leitmotiv des Kristalls in Händen halten10, nähert sich der Besucher einer breiten Tür, die sich nach außen 9 So die letzten Seiten des Büchleins, S. 47. 10 Die gleichen Priesterinnen rahmen die Programmschrift von Behrens Feste des Lebens und der Kunst, Eine Betrachtung des Theaters als höchsten Kultursymbols bei Eugen Diederichs Leipzig 1900, S. 4.
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in zwei Flügeln öffnet. Der Weg vom Musikzimmer in das Speisezimmer führt über zwei Stufen hinauf von einem dunkel leuchtenden Innenraum ohne Grenzen zu einem strahlenden, offenen Raum mit sehr vielen praktischen Gegenständen zum gemeinsamen Mahl, vor allem dem selbstentworfenen Speisegeschirr, den Bestecken und Servietten. Im Musik-Zimmer ist Behrens der Schöpfer eines Raumes fast ohne Bezug zum realen Außenraum – im Gegensatz zur konventionellen Konstruktion fester Oberflächen und Mauern für begrenzte, zweckbestimmte Räume (so Shand 1934/1981, S 83 ff. (1934), S. 20 (1981)) (Abb. 8, Abb. 9, Abb. 10, Abb. 11).
Abb. 8: Speisezimmertisch, ausgestellt in München, 1899 (Archiv, Buddensieg)
Abb. 9: Ovale Platte, Peter Behrens, 1898 Villeroy & Boch, Mettlach (Kunsthistorisches Institut der Universität Bonn)
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Abb. 10: Gläsersatz, Peter Behrens (1898), Benedikt von Poschinger (ehem. Sammlung Buddensieg, Foto Barbara Frommann, Bonn)
Abb. 11: Haus Behrens, Speisezimmer (Archiv, Buddensieg)
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Esszimmer Radikal anderen Formprinzipien folgt das Esszimmer. Man muss die vielen Vorhänge öffnen, die die Photographen zugezogen haben: Dann sieht man die drei großen Fenster der Veranda, die nicht einzeln eine Mauer öffnen, sondern ein horizontales Fenster-Kontinuum zur Gartenseite zustande bringen. Dieses Gestaltungselement von Fenstern, die sich zu Reihen verbinden, mit blau verglasten Wänden hat Mies van der Rohe, der Lieblingsschüler von Behrens, für seine Experimente der Wand-Öffnung, endlich des Wand-Verzichtes aufgegriffen (Dziewor 2005, S. 136, Anm. 211). Ein wirkungsvoller Einfall war es auch, auf jede Form von Gesimsen zwischen Decke und der Wand des Speisezimmers zu verzichten. Damit erreicht Behrens die erstaunliche Modernität eines lockeren Zusammenhalts von der Decke im Esszimmer mit rahmenlosem Übergang von den durchlaufenden Fensterflächen zwischen Decke und Boden. Das ist konsequent weiterentwickelt in dem Erker des Hauses Schede von 1904.11 Dieser kurze Blick auf Fenster- und Wandgestaltung belegt das von Nietzsche herbei gewünschte „kräftige[], gedankenreiche[] Belieben“, im Verzicht auf die Gesetze, „die einmal die allgemeine Hast und sodann die allgemeine Bequemlichkeits-Sucht vorschreiben“ (UB II, KSA 1, S. 275). Das helle Licht im Speisesaal kommt von der weißen Decke, den weißen Möbeln und dem Tageslicht. Leuchtende Farben setzte Behrens gegen das Weiß der Möbel und der Decke: die roten Lederpolster der Möbel, die dunkelroten Tapeten sowie die Vorhänge, und mit voller Wirkung die dunkelroten Füße der schönsten Weingläser der Moderne, von Behrens für sein Haus entworfen.12 Der Mosaikfußboden war leuchtend gelb.13 Zarathustra hätte im Darmstädter Esszimmer „das tiefe Gelb und das heisse Roth“ gefunden, „so will es mein Geschmack, der mischt Blut zu allen Farben“. „Wer aber sein Haus weiss tüncht, der verräth mir eine weissgetünchte Seele“ (Z, KSA 4, S. 244; Katalog Behrens und Nürnberg, S. 39).
11 Katalog Behrens und Nürnberg, Abb. 18, S.47; Moeller 1991, S. 427 ff. 12 Rheinische Glashütten AG, Köln-Ehrenfeld: Katalog Behrens und Nürnberg, S. 62, Nr. 72 mit weiteren Angaben. 13 Als hätte Zarathustra die Mathildenhöhe besucht, trennt er das „männliche“ Haus von Behrens von den „kindischen“ Häusern von Olbrich: „Und ein Mal sah er eine Reihe neuer Häuser; da wunderte er sich und sagte: Was bedeuten diese Häuser? Wahrlich keine grosse Seele stellte sie hin, sich zum Gleichnisse! Nahm wohl ein blödes Kind sie aus seiner Spielschachtel? Dass doch ein anderes Kind sie wieder in seine Schachtel thäte! Und diese Stuben und Kammern: können Männer da aus- und eingehen? Gemacht dünken sie mich für Seiden-Puppen; oder für Naschkatzen, die auch wohl an sich naschen lassen“ (Z, KSA 4, S. 211).
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Das Esszimmer ist beherrscht von der Fülle der Dinge des täglichen Gebrauchs. Sie alle folgen einem einheitlichen Stil und Dekor. Behrens wertet die Objekte damit ungemein auf, verbindet auch das unscheinbarste Objekt mit dem wohlerwogenen Ganzen des Ensembles (Abb. 12 und Abb. 13).
Abb. 12: Essgedeck, Peter Behrens (1901), Porzellanfabrik Gebr. Bauscher, Weiden (Oberpfalz) (Foto Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg)
Abb. 13: Gläsersatz, Peter Behrens, Rubingläser (1900), Rheinische Glashütten AG, KölnEhrenfeld (Kaiser-Wilhelm-Museum-Krefeld, Fotostelle Stadt Krefeld)
Er webt „das Vereinzelte zum Ganzen“, er legt „eine Einheit des Planes in die Dinge“ (UB II, KSA 1, S. 290). Zarathustra fordert: Und „[A]ller Dinge Werth werde neu von euch gesetzt!“ (Z, KSA 4, S. 100) „Alle Dinge“ seien „verkettet, verfädelt, verliebt“ (Z, KSA 4, S. 402). Wie Zarathustra es wünschte, stellte Behrens überall jene „kleine, guten vollkommene Dinge um euch, ihr höheren Menschen! Deren goldene Reife heilt das Herz. Vollkommenes lehrt hoffen“ (Z, KSA 4, S. 364). „Alle Dinge sehnen sich nach dir.“ „Zerbrecht, zerbrecht mir
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die Tafeln der Nimmer-Frohen!“ (Z, KSA 4, S. 256). Denn, so schrieb Nietzsche in Menschliches Allzumenschliches: „Man kann bei Tische über die feinsten Geheimnisse der Künste Aufschlüsse erhalten“ (WS, KSA 2, S. 597).14 Nur in seltenen Fällen erwähnt Nietzsche konkrete Objekte, die er gesehen hat oder in Gebrauch nimmt. Ein geschenkter Lederkoffer scheint ihn „zu stolz“, „vielleicht wird er mit mir nicht reisen wollen!“ (KSB II/5, Brief-Nr. 922, Brief an die Schwester vom 29.12.1879). In dem Brief vom Dezember 1885 findet sich die Erwähnung eines Drehrades zum Schlagen von Eierschnee, gelegentlich heute noch in Gebrauch. „Inzwischen ist auch das allerliebste Maschinchen angelangt; […] Es soll mir viel Vergnügen machen und mich immer schön an Dich erinnern“ (KSB III/3, Brief-Nr. 653, Brief an Elisabeth Förster vom 20.12.1885). Dieses Küchengerät hat Man Ray zu Beginn seiner Freundschaft mit Marcel Duchamp 1919 fotografiert. Er hat es Man genannt im Bezug auf seinen Vornamen und wie auch als „Mensch“ in der Bedeutung als „Man“. Vielleicht darf man den personalen Bezug Nietzsches dem Ähnlichen von Man Ray vergleichen (Abb. 14). Nietzsche will „die von allen Seiten verachteten […] niedrigen Dinge wichtig“ nehmen – „wir geben dagegen die ‚schönen Gefühle‘ wohlfeil“ (NL, KSA
Abb. 14: Man Ray, Eierschnee, 1919
14 Nietzsche fährt fort: „Man beachte, was schmeckt, wann es schmeckt, wonach und wie lange es schmeckt“ (WS, KSA 2, S. 597).
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13, 236). Schon in Menschliches, Allzumenschliches wirbt er für die kleinsten, alltäglichen und allernächsten Dinge als Objekte „des stätigen unbefangenen und allgemeinen Nachdenkens […], zum Beispiel für Essen, Wohnen, Sich-Kleiden, Verkehren“ (WS, KSA 2, S. 541). Nietzsche vertritt schon eine Generation vor Dürerbund und Werkbund, vor Bauhaus und Ulm einen Begriff der Qualität vernünftiger Erzeugnisse, gegen den werblichen ‚Trug‘, ‚Effekt‘ und ‚Schein‘. Friedrich Naumannn, der nationalliberale Politiker und einer der Gründer des Werkbundes, wettert gegen die „Marktverderber“. Deren „Schund […] füllte Räume mit Plunder und Scheinkunst“. Naumann bekennt die „Gewohnheit, täglich oder wöchentlich einige Tropfen Nietzsche zu sich zu nehmen“ (Naumann 1964, S. 80). Behrens beschreibt sein Entwurfsverfahren für die gesamte Ausstattung seines Hauses: „Diese praktischen Gegenstände scheinen uns nicht mehr ganz prosaisch, nur ihrem bloßen Zweck zu dienen, denn mit ihrem Nutzen verbindet sich ein Wohlgefallen.“ Diesen direkten Zusammenhang zeigt die folgende Auswahl aus Nietzsches Schriften zu den „kleinen guten Dinge“ Zarathustras! (Abb. 15) Im Wanderer und sein Schatten erfreut den „Schatten“ die „Verheissung“, ihr wollt „wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden“ (WS, KSA 2, S. 703). Nietzsche
Abb. 15: Metalleinband Also sprach Zarathustra (verschollen) (Archiv, Buddensieg)
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erlöste „die Dinge von der Knechtschaft unter dem Zwecke“.15 Der nächste Schritt war: „zu allen Dingen reden: und wahrlich, wie Lob klingt es in ihren Ohren, dass Einer mit allen Dingen – gerade redet!“ (Z, KSA 4, S. 231 f.) Das bringt auch die Dinge selbst zum Reden, es gelingt der Dialog: „Hier kommen alle Dinge liebkosend zu deiner Rede und schmeicheln dir: denn sie wollen auf deinem Rücken reiten“ (Z, KSA 4, S. 231). So öffnet Nietzsche den Dialog mit den einfachen Dingen zu einer Zwiesprache: „Sind nicht den Dingen Namen und Töne geschenkt, dass der Mensch sich an den Dingen erquicke?“ „Alle Dinge sehnen sich nach dir […] Alle Dinge wollen deine Ärzte sein!“ (Z, KSA 4, S. 272). In den späten Fragmenten heißt es: „Was allein kann uns wieder herstellen? Der Anblick des Vollkommenen: ich lasse das Auge trunken herumschweifen“ (NL, KSA 13, S. 507). Das führt sogar zur Vorstellung einer Identität „der Dinge“, mit ihrem Betrachter als „ein Reflex der eigenen Fülle und Vollkommenheit“ (NL, KSA 13, S. 356). Nietzsche nimmt mit dieser leidenschaftlichen Neubewertung der „vollkommenen Dinge“, deren Neugestaltung durch den Jugendstil vorweg. „Die Eigenschaften eines Dinges erregen unsere Empfindungen […] – alles ist mit Lust- und Unlustempfindungen und folglich mit Vertrauen, Neigung, Lust zur Annäherung oder Furcht usw. verknüpft“ (NL, KSA 9, S. 437). Nur im emotionalen Bereich menschlicher Beziehungen sind solche Intensitäten der Gefühle geschildert worden. So verwundert es nicht, dass der unvergleichliche Selbstanalytiker Nietzsche, gleichzeitig mit dem eben zitierten Fragment, den schmerzlichen Satz eingetragen hat: „Ich muß zu den Dingen reden, ich bin zu lange allein und ohne Zwiegespräch gewesen; ich will ihnen schmeicheln und ihnen Gutes nachsagen“ (NL, KSA 9, S. 366). Diese Vollkommenheit und Schönheit der Dinge muss sich für Nietzsche mit dem Nützlichen eines alltäglichen Gebrauchs verbinden, denn „das Schöne scheint uns zuletzt nur ein Zustand, den das allseitig Nützliche hervorbringt“, als „eine Harmonie vieler Nützlichkeiten, die zum Klingen kommt“ (NL, KSA 9, S. 281) (Abb. 16). Angesichts des grundsätzlich verschiedenen Charakters des Musikzimmers und des Speisezimmers, die das Hauptgeschoss des Hauses beherrschen, sei die Möglichkeit erwogen, Behrens habe in diesen Räumen Nietzsches so populäres Gegensatzpaar apollinisch-dionysisch als zwei Formen auch der privaten Lebensgestaltung darstellen wollen. Natürlich war dem Baumeister Nietzsches Geburt der Tragödie bekannt. Vorsichtige Annäherungen sollen genügen. Die „dionysischen Zustände“ der „Selbstvergessenheit“, in denen auch für ein bür-
15 Naumann 1964, S. 80, und: „Diese Freiheit und Himmels Heiterkeit stellte ich gleich azurner Glocke über alle Dinge“ (Z, KSA 4, S. 209).
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Abb. 16: Arbeitszimmer (Dr. Franz Stoedtner, Heinz Klemm, Foto Marburg)
gerliches „Individuum“ die „gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins“ vernichtet wurden, solche Zustände wollte Behrens in seinem Musikzimmer ermöglichen. Auch in seinem „Isistempel“ der Musik konnten sich die „alltägliche und die dionysische Wirklichkeit“ voneinander „abscheiden“ (GT, KSA 1, S. 594). Das Esszimmer dagegen ist durchflutet von „Helligkeit“ (GT, KSA 1, S. 64), es ist ein „Lichtbild“ (GT, KSA 1, S. 150) von „durchleuchteter Allsichtbarkeit“ (GT, KSA 1, S. 64). Die kunstvolle Form der täglichen Gegenstände des Gebrauchs macht den Speisetisch zum Ort einer erhöhten Handlung. Die roten Weingläser sind zeremonielle Kelche für profanen Genuss. Nietzsche hatte eine lebenslange Sympathie für „die Dinge des Gebrauchs“, er wollte „immer mehr lernen, das Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen: – so werde ich Einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen“ (FW, KSA 3, S. 521) – das war nichts weniger als eine ästheti-
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sche Revolution. Denn alle klassische Ästhetik geht von der Bedingung der Zweckfreiheit des Schönen aus. Das „Nützliche“ stellte er „über das Angenehme“, weil es nicht „nur auf den Augenblick“ berechnet war und weil das Nützliche „nie sich selber Zweck, sondern Wohlgefühl des Angenehmen ist“ (NL, KSA 8, S. 537). Alfred Lichtwark, der Direktor der Hamburger Kunsthalle, schildert anschaulich diese „Stimmung freudigen Staunens, die sich in Bewunderung und Entzücken ausdrückte.“ Er berichtet, wie „hingerissen, […] namentlich die Frauen“ über diesen radikalen Ausbruch aus der „absoluten Banalität“ reagierten: „die jungen Mädchen und Frauen konnten von ihren männlichen Begleitern, deren Auge noch nicht so viel empfindet, nur nach wiederholten Bemühungen weiter geschleppt werden“ (Lichtwark 1923, S. 447 ff., zit. bei Rechberg 1976, S. 179 f.). Zwei Briefe von Ida, der Frau von Richard Dehmel, machen anschaulich, wie gerade die Frauen von diesem „Entwurf, einer neuen Art zu leben“, von der Suggestionskraft des Hauses und der schönen Dinge alltäglichen Gebrauchs verzaubert wurden: „Behrens’ Haus“, schreibt Ida Dehmel an die tüchtige Malerin Julia Wolfthorn, sei „so wundervoll, daß ich überhaupt nichts darüber sagen mag. Mir thut jeder Mensch leid, der es nicht sehen kann“. Julie Bassermann, die Frau des Führers der nationalliberalen Partei, Ernst Bassermann, interessierte sich für die Gebrauchskunst von Behrens: „Sie kriegen das schönste Glas, das es überhaupt von Peter Behrens giebt!“.16 Schon im Februar 1902, nach einem Jahr des Lebens im eigenen Haus, stellt sich bei seinem Schöpfer Überdruss, das Gefühl der Enge und der Wunsch nach einem Ortswechsel, nach Berlin, ein. In einem Brief an seinen Freund Kurt Breysig beklagt er sich über „das hiesige beengte Milieu“, und er erkennt, dass er „nicht mehr in der Lage sei, freizügig traumverheißenen Sonnen nachzuwandern“ (Katalog Behrens und Nürnberg, S. 45). Ohne Zweifel waren es die erheblichen Mittel aus der Hamburger Erbschaft, man spricht von 100.000 Goldmark, die Behrens „der Kunst zum Opfer gebracht“ habe17, die in keinem Verhältnis zum äußerst geringen wirtschaftlichen Erfolg seines Hauses und seiner Ausstattung standen und die Behrens nach einer neuen kulturellen Betätigung mit einem „wirtschaftlichen Resultat“ suchen ließ. So beteiligte er sich im Herbst 1902 an der Ausstellung moderner Wohnräume im Warenhaus Wertheim (Katalog Behrens und Nürnberg, S. 57, Nr. 61; Moeller 1991, S. 416 f.). Max Osborn, der sozialdemokratische Kunstkritiker, sah in diesem Einzug
16 Ida Dehmel, 1870–1942. Ausstellung 14. 1. – 27.02.1970, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nr. 111, 115. 17 Brief von Behrens vom 08.03.1903 an Kurt Breysig (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Nachlass Breysig); siehe auch Katalog Behrens und Nürnberg, S. 45.
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preiswerter Gegenstände eines neuen Wohnstiles in das große Warenhaus das hoffnungsvolle Anzeichen einer kommenden „demokratischen Kultur“.18 War das ein Vorläufer von IKEA? Vermutlich ergriff ihn der Überdruss, jedem Stück und Gerät Tag und Nacht als einem Stück von sich selbst als „künstlerischen Ausdruck seines eigenen Wesens“ begegnen zu müssen.19 Wieder ist es Nietzsche, der die treffenden Worte niedergeschrieben hat: „Das Feierliche ist mir zuwider geworden: was sind wir!“ (NL, KSA 8, S. 561). Musste sich Behrens nach der Darmstädter Ernüchterung nicht fragen, ob „die schönen Worte […] mit uns durch[gegangen] sind?“ (NL, KSA 8, S. 560). Die Dinge, die ewige Jugend verhießen, begannen zu altern. Apollos Gesetzgebung: „[S]o soll es immer sein“, versagte vor der „Vergänglichkeit“ des Dionysos (NL, KSA 12, S. 113).
2. Verteidigung „felsenfester Kunst- und Schönheitsgesetze“. Die Feindschaft der konservativen Wohnungsausstatter Angesichts des publizistischen Erfolges einer Gruppe begabter Münchner, Berliner, Dresdner, Weimarer Formgestalter der Moderne im sensiblen GeschäftsBereich mächtiger konservativer Wohnungs-Ausstatter wird die Wand einer geschlossenen Feindschaft vergessen, die diesen Geschmackswandel des Jugendstils von akademischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Breitenwirkung zu verhindern suchte. Als starker Gegenspieler des Deutschen Werkbundes und seiner fortschrittlichen Formgestalter wurde der Fachverband für die wirtschaftlichen Interessen des Kunstgewerbes gegründet. Auf seinem dritten Kongress im Juni 1909 richtete der Direktor Behr aus Mainz scharfe Angriffe „gegen die modernen Kunstrichtungen“. „Die Mehrzahl der großen Wohnungs- und Hauseinrichtungen“ seien „in traditionellen Formen gehalten“. „Nur wo die Mittel beschränkt sind, wendet man sich dem Modernen zu, da dieses die Einfachheit der Form als Programm aufgestellt hat und daher der Stil der Minderbemittelten geworden“ sei.20 Diese Feindschaft schlug sich in der Verbindung von Berufungen auf Professuren an Kunstakademien, in der Verweigerung von Ankäufen für Museen – 18 Siehe: Deutsche Kunst und Dekoration 1902/03, S. 259. 19 Brief von Behrens an Breysig. 20 Referat des Vortrages im Berliner Tageblatt, 22.06.1909, Zweites Beiblatt, 23.06.1909, Parlamentsausgabe. Siehe auch Tilmann Buddensieg 1979, S. 16, Anm. 26–28.
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mit wenigen Ausnahmen – sowie durch die Blockade der modernen Kunstrichtungen vom großbürgerlichen Ausstattungsmarkt. Über diese Vorgänge wissen wir wenig. Am Rande, aber mächtig, wird Nietzsche ins Spiel der polemischen Argumente gebracht, als der eigentliche Anreger und anarchistische Verführer der modernen, vielfach autodidaktischen Künstler und der studierenden Jugend. Ein signifikantes Beispiel betrifft die bayerische Akademie der Schönen Künste.21 Am 13. 5. und am 25.06.1902 hat deren Direktion ein „Gutachten“ über eine „Denkschrift des Professors Peter Behrens in Darmstadt“ verfasst, „im Betreff der Organisation des kunstgewerblichen Unterrichtes“. Das Schriftstück von Behrens handelte „Von der künstlerischen und wirtschaftlichen Bedeutung der angewandten Kunst“. Offenbar hat es Bestrebungen gegeben, Behrens nach München zu berufen, wo er seit 1889 lebte und studierte. Ein unbekannt bleibender Herr von Lange von der Akademie, kritisierte das Schriftstück in Grund und Boden. Schon die Umbenennung von „Kunstgewerbe“ in „angewandte Kunst“ sei „vollkommen willkürlich“. Das Gutachten ist von einer nicht zu überbietenden verleumderischen Ablehnung: Die Arbeiten von Behrens „ruhten auf keinem ernsten und gewissenhaften Studium“. „Dieser Künstler“ sei „eine krankhafte Erscheinung in dem nach Abwechslung verlangenden Getriebe der Neuzeit“. Behrens sei der Vertreter „einer ungesunden, auf der Negation felsenfester Kunst- und Schönheitsgesetze beruhenden Kunstrichtung, der in dieser Kunstrichtung zudem noch eine exklusive und extreme Stellung einnimmt.“ Das Gutachten beruft sich auf den Aufsatz von Kurt Breysig von 1902; sodann bezieht man sich auf das Ergebnis der von Behrens erfolgreich geleiteten „Meisterkurse in Nürnberg“. Diese Berufung sei „in seinen Konsequenzen eine schwere Schädigung ernster Kunstpflege, zumal der kunstgewerbliche Unterricht zur Folge haben würde, einer so beschränkten, ungesunden und verkehrten Geschmacksrichtung Eingang und Gleichberechtigung in staatlichen Schulen zu gewähren“. Es hieße, dem Studium jeden Ernst und gedeihlichen Boden rauben und den Dilettantismus großziehen. Das Lehrerkollegium glaubt vielmehr seine Aufgabe darin zu erkennen, an den durch alle Zeiten bewährten Lehrprinzipien und Kunstidealen nach wie vor festzuhalten, dabei allen gesunden Anregungen und Aufgaben der Neuzeit gebührende Berücksichtigung und Würdigung zu schenken, dagegen alles Extreme, Unwahre und Unschöne aus dem ihm übertragenen Unterricht fern zu halten. (Moeller 1991, S. 7 f.)
Den prominenten Versuch eines „Gegenangriffs“ des kunstgewerblichen und architektonischen Establishments gegen die Münchner Neuerer unternahm
21 Gutachten 1902, Abt. I, MK 14095; siehe: Moeller 1991, S. 7 f.
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Hermann Otzen (1831–1911), geheimer Baurat und seit 1904 Präsident der Akademie der Künste, Berlin.22 In zwei Vorträgen im Jahre 1900 in Berlin und in Paris greift Otzen „die moderne Bewegung“ an, nennt nur zwei Bauten, Hortas Maison du peuple und August Endells Photoatelier Elvira, 1887 in München erbaut, im Kriege ausgebrannt. Bei letzterem kommt Otzen zur Sache: „Das ist keine ernst gemeinte Kunst, das sind stammelnde Laute eines Kindes“. Er nennt in bemerkenswerter Klarsicht den eigentlichen Anreger der modernen Baukunst – Nietzsche. In seiner Beschreibung der „Übermenschen-Ornamentik“ denkt Otzen ohne Zweifel an Endells skandalumwitterten Elvira-Drachen: die moderne Baukunst liebt den übertriebenen Maassstab, sie hat Nietzsche mit Gewinn studirt, der Übermensch spukt in den Gebilden und verliert jede gesunde Beurteilung der Wirklichkeit. Das so gebildete Übermensch-Ornament ist nicht mehr Ausdruck irgendeiner baulichen Funktion, sondern etwas total Willkürliches, dem persönlichen Belieben Unterworfenes.
Ein gefährliches „Unglück“ wird diese Auswirkung der Philosophie Nietzsches auf die Architektur für Otzen dann, wenn der „Individualismus“ in die Hörsäle„ [eindringt] und „einen wissenschaftlichen Anarchismus [erzeugt], dem ein Künstlerischer folgt.“23 Die Furcht vor der „totalen Willkür“ und das Unverständnis für „kindisches Stammeln“ muss sich nur noch mit der Angst vor „anarchistischen Zertrümmerungsversuchen“, vor „der Rohheit des Krankhaften“ verbünden, um die Münchner Künstler um Hermann Obrist, Otto Eckmann und den „Künstleranarchisten“ van de Velde, vor allem aber August Endell, als Inkarnation eines solchen gefährlichen und kindischen Künstlertums erscheinen zu lassen. Behrens ergreift schon in Darmstadt das Bedürfnis nach einer unpersönlichen Handschrift im Planen und Formen von industriell produzierten Dingen und nach einer personal entleerten Architektursprache (Abb. 17). Gisela Moeller hat dieses große Thema der Behrens’schen Arbeit nach Darmstadt in Düsseldorf auf eine neue Grundlage gestellt (Moeller 1991). Behrens wohnt nie wieder in einem selbstgebauten und ausgestatteten Haus. Nach seiner Düsseldorfer Zeit von 1903 an und dann ab 1907 in Berlin erreicht er mit dem Jahrhundertauftrag als „künstlerischer Beirat“ der AEG den Höhepunkt seines Schaffens.
22 Tilmann Buddensieg 1981, S. 223–250, Anm. 7; Siehe jetzt die umfassende Untersuchung des künstlerischen und ästhetischen Wirkens von August Endell bei David 2008. 23 Vortrag, gehalten vor der Vereinigung Berliner Architekten: Johannes Otzen (1900), S. 143–148; Vortrag gehalten in Paris am 1. August 1900 in der Ecole des Beaux Arts: Otzen 1901, S. 225–230.
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Abb. 17: Das Haus Behrens (1901) (Archiv, Buddensieg)
Bald schon sprach man von dem „gewaltigen Abstand“, der die „wilden Jahre“ eines „zügellosen“, „dionysisch sich gebärdenden“ Temperaments, „in Erfindungen schäumend, genial im Irrtum und verzerrt bis zum Geschmacklosen“, unterschied von der „absoluten Reinheit“ eines nunmehr „apollinischen Kunstideals“ (Lux 1908a, S. 46 Lux 1908b, S. 175; Moeller 1991, S. 209). 1895 schon gelang es dem belgischen Gestalter Henry van de Velde und dem Berliner Kunstkritiker Julius Meier-Graefe, zwei Nietzsche-Lesern24, den Hamburger und Pariser Kunsthändler japanischer Graphik, Siegfried Bing von 24 Die gründlichste Untersuchung zu van de Veldes Bezug zu Nietzsche stammt von Alexandres Kostka 2003, S. 57 ff.
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der Vision des soeben verstorbenen Nietzsche als Propheten einer Synthese von Kunst und Leben zu überzeugen, also von der Notwendigkeit, die schwächliche Zwecklosigkeit der Kunstgegenstände in Museumsvitrinen, oder nutzlos an Wänden hängenden Dinge des Gebrauchs in das lebendige Ganze von Zimmereinrichtungen zu integrieren und zugleich der übergreifenden Handschrift eines Künstlers anzuvertrauen. Offenbar hatte der Besuch des gerade fertig gestellten Hauses Bloemenwerf van de Veldes in der Nähe von Brüssel den Hamburger Kunsthändler Bing, den belgischen Hausbauer und den Berliner Kunstkritiker Meier-Graefe zu diesem Kraftakt einer Synthese der alltäglichen Gebrauchsgegenstände bewegt. 1895 organisierte der, aus einer alten wohlhabenden jüdischen Kunsthändlerfamilie in Hamburg stammende Siegfried Bing das Konzept seiner Pariser Kunsthandlung zum zweiten Mal völlig um, nach einer führenden Rolle im Handel vor allem mit japanischer Grafik. Vielleicht wollte er auch die sich regenden europäischen Reformkräfte unterstützen durch die Schaffung eines Marktes. So definierte der Ausstattungsgestalter und Architekt van de Velde Siegfried Bings neues Interesse am Kunstgewerbe und dessen lustvolle tägliche Brauchbarkeit. Nach dem Besuch Meier-Graefes und Siegfried Bings im Haus Bloemenwerf von van de Velde beauftragte Bing den belgischen Künstler mit dem „Löwenanteil“ der neuen Ausstellung einer Wohnungs-Ausstattung mit vier Zimmern in einer neuen Galerie unter dem Namen L’Art Nouveau. Schockartig und ganz unvorbereitet wurden die Hoffnungen Bings auf die Akzeptanz seines Konzepts feindselig enttäuscht.25 Angeführt vom Figaro, machte die Pariser Presse Bings Ausstellung mit unverhohlen nationalistischen Tönen lächerlich: Glaubte der Hamburger Neufranzose Siegfried Bing wirklich, die vielen ausländischen Produkte seiner Ausstellung seien besser als die der Pariser Künstler? Der Figaro attestierte Bings Art Nouveau „den Geruch des Engländers, des morphinistischen Juden und des gerissenen Belgiers“. Wie konnte sich ein vernünftiger Geschäftsmann wie Bing dem formlosen Gestammel, dem Chaos von Farben und Linien in Van de Veldes Räumen für Neurotiker mit Verdauungsproblemen hingeben. Kein Geringerer als Rodin stieß auf der Straße vor der Galerie Verwünschungen aus, so berichtet van de Velde in seinen Lebenserinnerungen (Van de Velde 1986, S. 106 und besonders S. 109), an die Adresse von Meier-Graefe als dem Schuldigen, „dass Bing der französischen Tradition abgeschworen und sich dem abscheulichsten Internationalismus angeschlossen hatte.“ In der englischen Presse waren nicht minder scharfe Verrisse der MorrisJünger zu lesen, seit einem schrillen Leserbrief in der Times im Juli 1901. Sie 25 Weisberg (2004) hat diese düstere Rezeptionsgeschichte rekonstruiert.
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vermissten „simplicity of form and honesty of construction“ und fürchteten Schaden „for our national art“. Doch damit gaben sich die Kritiker nicht zufrieden. Das Magazine of Art vom Januar 1901 sieht in diesen Möbeln nur „pretentious trash“, „nightmares of diseased minds, to frighten the naughty children“. Anstößig waren vor allem die vier Zimmer Bings von Henry van de Velde. Bing und Meier-Graefe ließen sie 1897 nach dem Reinfall in Paris mit großem Erfolg in Dresden ausstellen. Leider gelten sie als verschollen. Sie begründeten die glanzvolle Tätigkeit des belgischen Künstlers in Deutschland bis zum ersten Weltkrieg, unterstützt von Harry Graf Kessler. Das überragende Werk dieser Zeit ist das Nietzsche-Gedenkhaus in Weimar von 1903. Das Haus von Peter Behrens ist bei einem Bombenangriff 1944 ausgebrannt.
Bibliographie Behrens, Peter (1901): Ein Dokument deutscher Kunst: Die Ausstellung der Künstler-Kolonie in Darmstadt 1901. Vorwort Peter Behrens. München. Breysig, Kurt (1901/1902): „Das Haus Behrens, mit einem Versuch über Kunst und Leben“. In: Deutsche Kunst und Dekoration 9. Buddensieg, Tilmann, in Zusammenarbeit mit Henning Rogge (1979): Industriekultur. Peter Behrens und die AEG 1907–1914. Berlin. Buddensieg, Tilmann (1980): „Das Wohnhaus als Kultbau. Zum Darmstädter Haus von Behrens“. In: Peter Klaus Schuster (Hrsg.): Peter Behrens und Nürnberg. Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. München. (Im Folgenden zitiert: Katalog, Behrens und Nürnberg). Buddensieg, Tilmann (1981): „Die Frühzeit von August Endell. Seine Münchner Briefe an Kurt Breysig“. In: Justus Müller-Hofstede/Werner Spies (Hrsg.): Festschrift für Eduard Trier zum 60. Geburtstag. Berlin. David, Helge (2008): An die Schönheit. August Endells Texte zu Kunst und Ästhetik 1896– 1925. Weimar. Dziewor, Yilmaz (2005): Mies van der Rohe. Blick durch den Spiegel. Köln. Gutachten (1902): Gutachten über Peter Behrens (Bayerischen Hauptstaatsarchiv, München, Frühjahr bis Sommer 1902, Abt. I, MK 14095). Hoeber, Fritz (1912): Peter Behrens. München. Kostka, Alexandres (2003): „Henry van de Veldes Projekt eines Nietzsche-Denkmals für das Kröller-Müller Museum. Eine Hommage an Van Gogh?“. In: Birgit Schulte (Hrsg.): „…Für den neuen Stil kämpfen“. Henry van de Veldes Beitrag zum Start in die Moderne vor 100 Jahren. Hagener Hefte zur Kunst & Kulturgeschichte 5. Hagen. Lichtwark, Alfred (1923): Briefe an die Kommission für die Verwaltung der Kunsthalle. Hrsg. Gustav Pauli. Bd. I. Hamburg. Lux, J. A. (1908a): Die hohe Warte IV. Lux, J. A. (1908b): Das neue Kunstgewerbe in Deutschland. Leipzig. Moeller, Gisela (1991): Peter Behrens in Düsseldorf die Jahre von 1903 bis 1907. Weinheim. Naumann, Friedrich (1964): Werke, 6. Bd., Ästhetische Schriften. Hrsg. von Heinz Ladendorf. Opladen.
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Otzen, Johannes (1900): „Das Persönliche in Architektur und Kunstgewerbe“. In: Deutsche Bauzeitung 34, 21.03.1900. Otzen, Johannes (1901): „Die moderne Kunst in der Architektur und deren Einfluss auf die Schule“ (Vortrag gehalten in Paris am 1. August 1900 in der Ecole des Beaux Arts). In: Berliner Architekturwelt 3. Przybyszewski, Stanislaus (1981/1982): Zur Psychologie des Individuums, F. Chopin und Nietzsche. Rechberg, Brigitte (1976): In: Renate Ulmer (Hrsg.): Ein Dokument Deutscher Kunst 1901– 1976. Darmstadt. Scheffler, Karl (1901): „Das Haus Behrens“. In: Dekorative Kunst 5. Oktober 1901. Shand, Morton (1934/1981): Architectural Review, September 1934, S. 83 ff., zit. bei Alan Windsor: Peter Behrens, Architect and Designer 1868–1940. London 1981. Ulmer, Renate (Hrsg.) (1976): Museum Künstlerkolonie Darmstadt. Darmstadt (darin: Peter Behrens, S. 3 ff.; Ein Dokument deutscher Kunst 1901–1976). Van de Velde, Henry (1986): Geschichte meines Lebens. Hrsg. von Hans Curjel (Vorwort: Klaus Jürgen Sembach). München. Weisberg, Gabriel (2004): L‘ Art Nouveau – La Maison Bing. Stuttgart. Windsor, Alan (1981): Peter Behrens, Architect and Designer 1868–1940. London.
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Der Gekreuzigte Zur Nietzsche-Rezeption bei Otto Dix Von Nietzsche zu Nietzsche, so könnte man die intellektuelle und auch die künstlerische Biographie Otto Dix’ überschreiben. Es ist die Geschichte einer lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Denken Friedrich Nietzsches, die im Werk des Malers ihren künstlerischen Ausdruck gefunden hat. Auf einer konkret-gegenständlichen Ebene beginnt Dix seine künstlerische Laufbahn mit einer ausdrucksstarken Nietzsche-Büste, von der Kritiker sagten, sie hätte Max Klinger belehren können, wie der Übermensch zu gestalten sei (vgl. Schmidt 1923).
Otto Dix, Nietzsche-Büste, 1914 Hierbei handelt es sich um die einzige plastische Arbeit von Dix, eine ca. 60 cm hohe Porträtbüste in grün getöntem Gips (Abb. 1), die aller Wahrscheinlichkeit
Abb. 1: Otto Dix, Nietzsche-Büste (1914); © VG Bild-Kunst, Bonn 2011
nach nicht, wie allgemein behauptet, 1912, sondern erst im Frühjahr 1914 entstanden ist.1 Diese Büste wurde Anfang 1920 durch Paul Ferdinand Schmidt 1 Dies geht aus Dokumenten des Kummer-Nachlasses hervor.
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für das Stadtmuseum Dresden angekauft und nach 1933 von den Nazis zusammen mit 260 weiteren Werken des Künstlers beschlagnahmt. 1939 wurde sie auf der berühmt-berüchtigten Auktion „entarteter Kunst“ der Galerie Fischer in Luzern unter dem harmlosen Titel „Gemälde und Plastiken moderner Meister aus deutschen Museen“ zum Verkauf angeboten. Danach verliert sich die Spur und die Büste ist bis heute verschollen. Sie ist jedoch unter allen verlorengegangenen Arbeiten das einzige Werk, das Dix in seinem letzten Lebensjahr noch einmal rekonstruieren wollte. Dies zeigt, wie wichtig diese Büste ihm war. Bedingt durch seine Krankheit, war er dazu allerdings nicht mehr in der Lage, und so beendete er sein künstlerisches Schaffen mit einem anderen Nietzsche gewidmeten Werk, jener Lithographie des gekreuzigten Nietzsche, die nur wenige Wochen vor seinem Tod entstanden ist (Abb. 2).
Abb. 2: Otto Dix, Der Gekreuzigte, Lithographie (1969); © VG Bild-Kunst, Bonn 2011
Diese Lithographie wurde erst vor wenigen Jahren als Nietzsche-Portrait identifiziert2, dabei sind die Zeichen eindeutig: Der da am Kreuz hängt, trägt einen buschigen Bart, die Haare stehen ihm zu Berge und die Bildunterschrift lautet: Der Gekreuzigte. So hat Nietzsche seine letzten Wahnsinnszettel unterzeichnet. Dix kannte die Wahnsinnszettel, die Nietzsche im Januar 1889 angesichts seines geistigen Erlöschens als „der Gekreuzigte“ unterzeichnet hat. Der
2 Das Verdienst, dies als erster erkannt zu haben, kommt Wolfgang Wiemer von der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg zu (vgl. Wiemer 2002, S. S. 1270–1271).
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von mehreren Schlaganfällen gezeichnete Otto Dix wusste zu dem Zeitpunkt, da er dieses vorletzte Werk zu Papier brachte, dass auch sein eigenes Ende unmittelbar bevorstand, und so hat er den Gekreuzigten mit den Zügen desjenigen ausgestattet, von dem er noch im hohen Alter sagen sollte, dass seine Philosophie „die einzig richtige“ sei.3 Otto Dix, der sich ein Leben lang wie kein anderer mit der Philosophie Nietzsches auf der einen und dem Menschen Jesus Christus auf der anderen Seite auseinandergesetzt hat, schuf in einem letzten schöpferischen Impuls eine grandiose Synthese, die den eigenen bevorstehenden Tod und den Wahnsinn Nietzsches im Bild des gemarterten Christus aufhebt. Diese Synthese hat sich schon früh angebahnt. Als Dix in den ersten Weltkrieg zog, hatte er nur zwei Bücher im Tornister: Nietzsches Die Fröhliche Wissenschaft und die Bibel. Es mag erstaunen, dass die wahre Identität dieses Gekreuzigten erst so spät erkannt worden ist, wo doch die große Nähe Dix’ zur Philosophie Nietzsches von Anfang an bekannt war. Paul Ferdinand Schmidt hat diese Nähe bereits 1923 betont. Danach war es vor allem Otto Conzelmann, der nachdrücklich darauf hingewiesen hat.4 Weder Florian Karsch (Karsch 1970) in seinem Verzeichnis des graphischen Werkes, noch Adolf Smitmans in seiner Abhandlung über biblische Themen und religiöse Bilder des jungen Dix (Smitmans 2000, S. 144–152) ist die Übereinstimmung aufgefallen. Smitmans fühlte sich vielmehr an den Colmarer Gekreuzigten Matthias Grünewalds erinnert5, dabei hatte Dix bereits 1933 in einem anderen Werk aus dem biblischen Themenkreis die Brücke zu Nietzsche geschlagen: Nach der fristlosen Entlassung aus seinem Lehramt an der Dresdner Akademie am 6. April 1933 malte er Die Sieben Todsünden (Abb. 3), sein erstes Werk der Widerstandskunst gegen die Nazis. Darin hockt Hitler als bösartiger Neidzwerg auf der Geizhexe, im Hintergrund an der Wand das Nietzsche-Menetekel aus dem Zarathustra „Die Wüste wächst: weh Dem, der Wüsten birgt!“ (Z, KSA 4, S. 385).
3 In einem Gespräch, zit. nach: Schmidt 1981, S. 280. 4 Vgl. Schmidt 1923 und besonders Conzelmann 1959, aber auch Conzelmann 1983 und Schmidt 1981 sowie jüngst Rainer Beck (2003). Beck stellt den Nietzscheaner Dix ins Zentrum seiner Ausführungen. Er kannte bei der Abfassung seines Werkes auch bereits die Abhandlung Wiemers (2003), die er auf S. 174 erwähnt. 5 Smitmans schreibt: „Viel später zeigt Dix’ letzte Graphik [es ist eigentl. die vorletzte, d. Verf.] in der Voraussicht des eigenen Sterbens mit äußerster Radikalität in Form und Sinn den qualvollen Tod des Gekreuzigten. Dazu ist an das nach dem Matthäusevangelium letzte Wort Jesu am Kreuz zu erinnern: ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?‘ (Mt. 27,46). Vor Dix ist vielleicht nur der Colmarer Gekreuzigte der Paradoxie dieses Glaubens so nahe gekommen“, Smitmans 2000, S. 152.
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Abb. 3: Otto Dix, Die sieben Todsünden, Mischtechnik auf Holz (1933); © VG Bild-Kunst, Bonn 2011
Zu Dix’ Nietzsche-Lektüre Dix hat nicht nur schon sehr früh Die fröhliche Wissenschaft und Also sprach Zarathustra gelesen und gekannt, sondern auch Menschliches, Allzumenschliches, wie aus den Briefen an seinen Freund Hans Bretschneider in Gera hervorgeht: „Hältst Du es für Sünde“, fragt er den Freund 1911, „wenn man die Ansichten großer Männer studiert? Oder wenn man wissenschaftlich sein möchte? Nietzsche sagt zu den Künstlern ‚Könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?‘“6 In Dix’ Briefen, Gesprächen und Interviews stoßen wir ständig auf Nietzsche-Zitate, die mit einer solchen Selbstverständlichkeit eingeflochten sind, wie sie nur aus großer Vertrautheit hervorgehen kann. Der Nietzsche-Duktus ist unüberhörbar, wenn Dix etwa seinem Freund Kurt Günther aus Gera schreibt:
6 Smitmans 2000, S. 267–268. In Wirklichkeit spricht hier nicht Nietzsche, sondern Christus (Matth. 26,40). Der dem Zitat zu Grunde liegende Aphorismus 29 aus Menschliches, Allzumenschliches lautet: „Auf Gethsemane. – Das Schmerzlichste, was der Denker zu den Künstlern sagen kann, lautet so: ‚könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?‘“ (VM (MA II), KSA 2, S. 392).
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Meine Bilder existieren und werden wahrscheinlich bis auf weiteres das böse Gewissen aller Kunsthändler, Ästheten, Expressionisten und anderer alter Tanten und Gänse sein. ‚Macht ihrs gut, so wollen wir schweigen, macht ihrs schlimm, so wollen wir lachen und es immer schlimmer machen‘. […] Ich habe einstweilen wieder neue Sachen gemacht, die für schwache Nerven Gelegenheit zum Nervenschocken sind; für Moralisten das Entsetzen und für Tänzer lustige Seile und Springböcke.7
An anderer Stelle schreibt Dix: Vielleicht ist es manchmal gut, wenn man vom Schicksal ‚stillgelegt‘ wird, auch wenn man darüber flucht. Ich selbst bin ja quasi auch monatelang leer gewesen, bin es heut noch irgendwie und außer ein paar Aquarellen und 2 fertigen Ölbildern habe ich nichts gemacht. ‚Ich warte, worauf warte ich doch?‘ Oder ‚hier saß ich wartend doch auf nichts‘, bloß leider nicht ‚jenseits von Gut und Böse‘ wie jener.8
An Ludwig Kassak in Budapest schreibt er ganz im Sinne seines Meisters: „Es gibt in der Kunst keinen Fortschritt. […] Die moderne Kunst sucht den Urbildern näher zu kommen. […] Alle Werte sind schwankend, wenn nicht teils entwertet.“9 Und in einem Gespräch mit Richard Seyffahrt bemerkt Dix ganz beiläufig: „Die dritte Person in einem Gespräch ist der Kork, der verhindert, daß das Gespräch in die Tiefe geht“.10 Ein andermal wird en passant Zarathustras Geist der Schwere evoziert.11 Nietzsche ist auf eine ganz selbstverständliche Weise in Dix’ Reden und Schreiben präsent. Auf die Frage nach seinem politi-
7 Februar 1919 aus Dresden an Kurt Günther in Gera, zit. nach Schmidt 1981, S. 201. Die entsprechende Stelle bei Nietzsche findet sich in Menschliches, Allzumenschliches I, Unter Freunden: „Macht’ ich’s gut, so woll’n wir schweigen;/ Macht’ ich’s schlimm —, so woll’n wir lachen/ Und es immer schlimmer machen,/ Schlimmer machen, schlimmer lachen,/ Bis wir in die Grube steigen“ (MA, KSA 2, S. 365). 8 An Otto Conzelmann in Denzlingen, Hemmenhofen, Mai 1954. Die entsprechende Stelle bei Nietzsche findet sich in der fröhlichen Wissenschaft in dem Gedicht Sils-Maria: „Hier sass ich, wartend, wartend, – doch auf Nichts,/ Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts/ Geniessend, bald des Schattens, ganz nur Spiel,/ Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel./ Da, plötzlich, Freundin! wurde Eins zu Zwei – / – Und Zarathustra gieng an mir vorbei …“ (FW, KSA 3, S. 649). 9 An Lajos Kassàk in Budapest, Hemmenhofen, 24. Juli 1958, zit. nach Schmidt 1981, S. 229. Vgl. Nietzsche: „Künstler dürfen den Fortschritt leugnen. […] die Kunst zieht den Künstler zu älteren Anschauungen zurück“ (NL, KSA 8, S. 475). 10 Vgl. Also sprach Zarathustra I, Die Reden Zarathustras: „Der Dritte ist der Kork, der verhindert, dass das Gespräch der Zweie in die Tiefe sinkt“ (Z, KSA 4, S. 71). Das Gespräch fand am 1. Oktober 1962 statt, zit. nach Schmidt 1981, S. 255. 11 An Richard Seyffahrt in Dresden, Hemmenhofen, 12. Januar 1964: „Wir sitzen hier jetzt seit 2 Tagen in der schönsten Schneelandschaft, eine Lust fürs Auge und für einen, der nicht, wie ich, vom Geist der Schwere befallen ist“, zit. nach Schmidt 1981, S. 261.
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schen Engagement, antwortete Dix, er habe sich nie einem politischen Programm angeschlossen, weil er „diese Phrasen“ nicht ertrug: Wir waren Nihilisten, waren gegen alles. Schon 1911 habe ich Nietzsche gelesen und mich gründlich mit seinen Ansichten befaßt. Darum hat es mich auch so erbost, als die Nazis ihn für sich in Anspruch nahmen – ihn mit ihrer totalitären Machttheorie völlig falsch verstanden … verstehen wollten.12
Die „Lust am Schaffen“, auch hierin ist er seinem Meister eng verwandt, hat Dix als den eigentlichen Antrieb seines Schaffens bezeichnet (Schmidt 1981, S. 269) und ebenso die Lust am Gegensätzlichen: wie immer alles auf der Welt dialektisch ist. Wie die Gegensätze nebeneinander stehen. Hier ist das Feierliche und gleich daneben das Komische. […] das war eine Lust für mich, dass das Leben so ist. […] Wenn es darauf ankommt können sie den Menschen groß – und auch ganz klein sehen, sogar viehmäßig. Das gehört zur Vollständigkeit seiner Anlage. (Schmidt 1981, S. 259–260)
„Man muß ja sagen können zu den menschlichen Äußerungen, die da sind und immer da sein werden. Die außerordentlichen Situationen zeigen den Menschen in seiner ganzen Größe, aber auch in seiner ganzen Verworfenheit, ja Viehmäßigkeit.“13 Nietzsches Philosophie sei für ihn „die einzig richtige Philosophie“ gewesen (Schmidt 1981, S. 280). Der zweite große Referenzpunkt ist für Dix – ebenfalls ein Leben lang – Jesus Christus. Auf die Frage, warum er so häufig das Leiden Christi dargestellt habe, antwortete er Fritz Löffler: Zu einer überzeugenden Darstellung dieses christlichen Themas gehört eine gewisse Härte. […] Man muß auch eine Marter ansehen können, ohne in Mitleid zu zerfließen. […] Man muß ja sagen können, ja zu den menschlichen Äußerungen, die da sind und immer sein werden, das heißt nicht ja zu imperialistischen Kriegen, sondern zu einem Schicksal, das unter gegebenen Umständen an den Menschen herantritt und in dem er sich bewähren muß.14
In einem Gespräch mit Freunden am Bodensee über Kunst, Religion und Krieg untermauerte Dix dieses dionysische Jasagen des Künstlers zum Leben auch in seinen härtesten Formen: Verstehen Sie. Er will extra noch sehen. Er will auch das ganze Unsympathische, das ganz stinkige dreckige will er sehen. Alles will er sehen. Das ist nämlich menschlich. Er
12 Ein harter Mann, dieser Maler. Gespräch mit Maria Wetzel, 1965, zit. nach Schmidt 1981, S. 266–267. 13 Aus einem Gespräch, zit. nach Schmidt 1981, S. 280. 14 Interview mit Fritz Löffler im August 1957, zit. nach: Schmidt 1981, S. 225.
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will das selber sehen und selber erleben, nicht sich erzählen lassen, nicht wahr. Das Leiden Christi, das kannste Dir ja in der Bibel erzählen lassen. Aber eigentlich mußt Du es selber erleben. […] Wenn ihr in die niedrigsten Tiefen gegangen seid […] dann seid ihr Helden. […] Was verstehst du denn von Sünde, wenn du sie nie begangen hast. Du kannst nie in den Himmel kommen, wenn du nicht in tiefster Hölle15 … Niemals kann ein Reicher oder ein Pharisäer, ein Gelehrter in den Himmel kommen, sondern der Sünder und Hurer und der Zöllner. Also dieses ist meine Meinung. Aber diese Meinung ist eine sehr verhaltene, meine Herren. Eine geheime Geschichte, nicht wahr. […] Aber das da rede nicht ich, sondern es redet bei mir, es redet, verstehen sie. Ich bin, mir scheint, ich bin ein Mensch, der also wie aus dem Instinkt redet, gar nicht so sehr aus dem Verstand, nicht wahr. Sondern eben: es redet, es, es redet aus mir. […] Ich folge lieber meinem Dämon, der mich irgendwohin führt.
Am Ende dieses Gesprächs wird noch einmal deutlich, warum gerade das Leben und Leiden Jesus Christus’ eine so zentrale Rolle in seinen Bildern gespielt hat und ihn ein Leben nicht mehr los ließ bis in die allerletzte künstlerische Äußerung hinein, nur wenige Monate vor dem eigenen Tod: Dieses Leben dieses Jesus, das ist eine ganz kümmerliche Angelegenheit gewesen. […] und jetzt stellen wir ihn dar als kolossal geleckten Bärtling der mit seinen Jüngern durchs Kornfeld kegelte. Große Scheiße! Große Scheiße! Große Scheiße! […] Der Kummer. Die Armseligkeit dieses Menschen wird nie gesehen. […] Da hängt man ihn dann als Ballettänzer ans Kreuz, nicht wahr, schön und poliert und schön, wunderbar gewaschen, nicht wahr. Und wenn man dann ne genaue Beschreibung liest, wie ein Kreuzestod ist, ja, das ist so etwas Gräßliches, so etwas Fürchterliches. Wie die Glieder anschwellen, nicht wahr. Wie er Atemnot kriegt. Wie das Gesicht sich verfärbt. Wie der einen grässlichen, einen ganz grässlichen Tod stirbt. […] Die haben das dargestellt, als wär das geradezu ein Haupttheater gewesen. Das war schlimmer als wie im Krieg. Er war einsam. Als einzelner musste er es erleben. Kein Mensch hat ihm geholfen. Kein Mensch war bei ihm. Alle haben ihn verlassen. Eine großartige Schilderung des Menschen, der allein ist! Großartig! Des genialen Menschen, er allein ist! Und wer begreift denn das. […] Eine harte Sache ist das. Hart ist es auch wie er spricht. Gar nicht etwa verbindlich, sondern hart und energisch spricht er. Sehr hart ist er. Gegen alles so hart. Er ist unbedingt in seiner Forderung. Also es ist gar nichts Süßes oder Mildes an diesem Menschen. Er ist gar nicht mild. Er versteht. Er versteht viel. Aber er ist trotzdem ein harter, unbedingter Mensch. Sie müssen bloß mal das Evangelium lesen. […] Da stehen nämlich sehr problematische Dinge drin, die er gesagt hat. Sehr problematisch. Die eigentlich gar nicht wieder zu ihm passen, verstehen sie. Und darin zeigt sich, daß das ganz stimmt.16
Das tertium comparationis also ist die Einsamkeit und Härte des genialen, schöpferischen Mensch. Hierin begegnen sich alle drei: der sich für die Sünden der Welt opfernde Christus, Nietzsche, dieser einsamste und härteste Mensch 15 Vgl.: „Jeder, der irgendwann einmal einen ‚neuen Himmel‘ gebaut hat, fand die Macht dazu erst in der eignen Hölle…“ (GM, KSA 5, S. 360, 3. Abh., Aph. 10). 16 Das Gespräch fand im Dezember 1963 statt; zit. nach Schmidt 1981, S. 255 ff.
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gegen sich selbst und der sterbende Otto Dix am Ende eines kompromisslosen schöpferischen Lebens. Dass Dix’ letzte Auseinandersetzung mit dem eigenen körperlichen Verfall und dem nahen Ende im Zeichen Friedrich Nietzsches steht, belegt unter anderem eine Erinnerung seines Sohnes Ursus. Dieser berichtet, der Vater habe ihm bei seiner letzten Begegnung zum Abschied die gerade entstandene Lithograhie „Hahn“ (Karsch 1970, Nr. 32) überreicht mit der Inschrift „Ich bin dem Asklepius noch einen Hahn schuldig“.17 Selbstverständlich kannte Dix die einschlägige Interpretation dieser Worte des sterbenden Sokrates aus der Fröhlichen Wissenschaft. Diese Worte waren Nietzsche ein Indiz für die Lebensverachtung des Sokrates: „Dieses lächerliche und furchtbare ‚letzte Wort‘ heisst für Den, der Ohren hat: ‚Oh Kriton, das Leben ist eine Krankheit!‘“ Nietzsche fragt, ob es denn möglich, dass ein Mann wie Sokrates, der „vor Aller Augen wie ein Soldat gelebt hat“ Pessimist war? Im Grunde, so seine Antwort, habe Sokrates nur eine gute Miene zum Leben gemacht, in seinem Innersten jedoch als Pessimist daran gelitten.18 Der nach mehreren Schlaganfällen vom Tod gezeichnete Dix hatte Ohren für Nietzsches eigenwillige Interpretation der letzten Worte des sterbenden Sokrates. So kehrt der Philosoph, mit dem Dix 1914, am Beginn seines Schaffens, in noch jungen Jahren schon einmal die existentiell bedrohliche Nähe
17 Über die letzte Begegnung mit seinem Vater berichtet Ursus Dix: „Beim Abschied gab er mir sein vor kurzem geschaffenes Litho ‚Hahn‘ mit Widmung und der Inschrift ‚Ich bin dem Asklepius noch einen Hahn schuldig‘ (Sokrates) – den letzten Worten des Philosophen. Das war das letzte Mal daß ich ihn am Leben sah“ Zit. nach Otto Dix 1891–1969, Ausstellungskatalog Kamakura, Japan 1988/89, S. 26 (Ursus Dix, Erinnerungen). 18 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 340: „Der sterbende Sokrates. – Ich bewundere die Tapferkeit und Weisheit des Sokrates in Allem, was er that, sagte – und nicht sagte. Dieser spöttische und verliebte Unhold und Rattenfänger Athens, der die übermüthigsten Jünglinge zittern und schluchzen machte, war nicht nur der weiseste Schwätzer, den es gegeben hat: er war ebenso gross im Schweigen. Ich wollte, er wäre auch im letzten Augenblicke des Lebens schweigsam gewesen, – vielleicht gehörte er dann in eine noch höhere Ordnung der Geister. War es nun der Tod oder das Gift oder die Frömmigkeit oder die Bosheit – irgend Etwas löste ihm in jenem Augenblick die Zunge und er sagte: ‚Oh Kriton, ich bin dem Asklepios einen Hahn schuldig.‘ Dieses lächerliche und furchtbare ‚letzte Wort‘ heisst für Den, der Ohren hat: ‚Oh Kriton, das Leben ist eine Krankheit!‘ Ist es möglich! Ein Mann, wie er, der heiter und vor Aller Augen wie ein Soldat gelebt hat, – war Pessimist! Er hatte eben nur eine gute Miene zum Leben gemacht und zeitlebens sein letztes Urtheil, sein innerstes Gefühl versteckt! Sokrates, Sokrates hat am Leben gelitten! Und er hat noch seine Rache dafür genommen – mit jenem verhüllten, schauerlichen, frommen und blasphemischen Worte! Musste ein Sokrates sich auch noch rächen? War ein Gran Grossmuth zu wenig in seiner überreichen Tugend? – Ach Freunde! Wir müssen auch die Griechen überwinden!“ (FW, KSA 3, S. 569–570).
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des Todes im Angesicht des Krieges bewältigt hat, am Ende seines Lebens wieder, um ihm erneut bei der Bewältigung des Todes zu assistieren. Nietzsche, der sterbende Sokrates und der vom Schlaganfall gezeichnete Dix vereinen sich in der Lithographie Der Hahn zu drei am Leben Leidenden, dem Gott der Heilkunst Opfernden. Sollte auch Otto Dix am Ende Pessimist gewesen sein?
Bibliographie Beck, Rainer (2003): Otto Dix. Die kosmischen Bilder. Dresden. Conzelmann, Otto (1959): Otto Dix. Hannover. Conzelmann, Otto (1983): Der andere Dix. Sein Bild vom Menschen und vom Krieg. Stuttgart. Dix, Ursus (1988/89): „Erinnerungen“. In: Otto Dix 1891–1969. Ausstellungskatalog. Kamakura, Japan. Karsch, Florian (1970): Otto Dix. Das graphische Werk, mit einer Einleitung von Hans Kinkel. Hannover, Nr. 326. Lorenz, Ulrike (Hrsg.) (2000): Dix avant Dix. Das Jugend- und Frühwerk 1903–1914. Gera. Nietzsche, Friedrich (1980): Sämtliche Werke, kritische Studienausgabe. 15 Bde. München, Berlin. Schmidt, Diether (1981): Otto Dix im Selbstbildnis. Berlin. Schmidt, Paul Ferdinand (1923): Otto Dix. Köln. Smitmans, Adolf (2000): „Themen der Bibel und andere religiöse Bilder im Werk des jungen Dix“. In: Ulrike Lorenz (Hrsg.): Dix avant Dix. Das Jugend- und Frühwerk 1903–1914. Gera, S. 144–152. Wiemer, Wolfgang (2002): „Der Gekreuzigte. Otto Dix und Nietzsche“. In: Weltkunst 72. Nr. 9, September, S. 1270–1271.
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Friedrich Nietzsche und Giorgio de Chirico Das Raumverständnis de Chiricos in den Jahren 1909–1915 1912 notierte de Chirico über einen Besuch der Stadt Rom: Dann las ich die Werke von Friedrich Nietzsche. Während einer Reise, die mich im Oktober nach Rom führte, wurde mir daraufhin klar, dass es eine Menge von seltsamen, unbekannten und einsamen Dingen gibt, die man in Malerei transportieren kann. Ich meditierte lange Zeit. Ich hatte meine ersten Bildvisionen.1
Folgender Beitrag, der sich mit den Raumkonzeptionen de Chiricos in den Jahren ab 1909 auseinandersetzt, soll die enge Beziehung zwischen der Malerei de Chiricos und Friedrich Nietzsches darlegen. Überdies soll die Funktion des philosophischen Gedankenguts in den dargestellten Bildräumen de Chiricos diskutiert werden. Widmen wir uns der Raumkonzeption de Chiricos, so lässt sich beispielsweise in „Geheimnis und Rätsel einer Straße“ von 1914 (Abb. 1) eine Pluralität von Fluchtpunkten feststellen. Durch gekonnte Manipulation erzielte de Chirico eine räumliche Inkongruenz. In der erstellten perspektivische Studie der Verfasserin (Abb. 2) wird deutlich, dass sich die Fluchtlinien der beiden Kolonnaden negieren. Die linke Kolonnade bedient einen hohen Horizont und die rechte bohrt sich in die abfallende Bodenfläche. Unter den entgegengesetzten Bedingungen liegt der Horizont irgendwo unterhalb der Bildmitte.2 Der Wagen, der als isolierter Block ohne Bezug zur Architektur ins Bildfeld gesetzt wird, verstärkt die räumliche Unstimmigkeit. De Chiricos abschüssige Grundflächen schaffen einen Raum, der, wenngleich nicht ausgesprochen verunklärt, doch zugleich seicht und Schwindel erregend wirkt. 1 De Chirico, Giorgio: Auf dem Wege in die Zukunft„, Absätze aus dem ersten Teil des Appendix A: Manuscript from the collection of the late Paul Eluard (1911–1915), in: Soby 1955, S. 246–247. Übertragen nach der englischen Fassung, zit. n. de Chirico 1973, S. 20. 2 Vgl. Arnheim 1965, S. 255. Arnheim beschrieb das Werk „Geheimnis und Melancholie einer Straße“ im Hinblick auf das Unheimliche, das de Chirico durch die sich negierenden Fluchtpunkte erreicht. Ubl ordnete dieses Werk de Chiricos aufgrund des Waggons mit aufgeklappten Türflügeln den Werken zu, die durch Picassos „papiers collés“ beeinflusst wurden (siehe Ubl 2005, S. 392). In diesem Zusammenhang verwies er in Fußnote 18 auf Arnheim, dessen Beschreibung des Bildes seiner Ansicht nach bereits auf die Poetik des Knickens hindeuten würde: „At first glance the scene looks solid enough, and yet we feel that the unconcerned girl with the hoop is endangered by a world about to crack along invisible seams“ (siehe Arnheim 1969, S. 289).
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Abb.1: Giorgio de Chirico: Geheimnis und Rätsel einer Straße, 1914, Öl auf Leinwand, 87 x 71,5 cm; © VG Bild-Kunst, Bonn 2012
Eine Untersuchung der Funktion der räumlichen Unstimmigkeit in den Werken de Chiricos bedingt eine Auseinandersetzung mit dem philosophischen Gedankengut Friedrich Nietzsches und Arthur Schopenhauers. Vorliegender Beitrag wird sich aufgrund der Thematik der Tagung, aus der dieser Beitrag hervorgeht, ausschließlich mit der Beziehung Friedrich Nietzsches und
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Abb. 2: Perspektivische Studie der Verfasserin zu Geheimnis und Rätsel einer Straße, 2005
Giorgio de Chiricos auseinandersetzen. In de Chiricos Beschäftigung mit Fragen zur Malerei nimmt Nietzsche grundsätzlich eine entscheidende Rolle ein. Mit Nietzsche fühlte sich de Chirico wesensverwandt. In seinem ersten Selbstbildnis von 1911 (Abb. 3) malte sich de Chirico in der Pose Nietzsches: den Kopf in die Hand gestützt, den Blick in eine ungewisse Ferne gerichtet. Darunter schrieb er: „Et quid amabo nisi quod aenigma est?“ („Was sonst soll ich
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Abb. 3: Giorgio de Chirico: Selbstporträt, 1911, Öl auf Leinwand, 72,5 x 55 cm; © VG BildKunst, Bonn 2012
lieben, wenn nicht das Rätsel?“). Die Liebe zum Rätsel hat de Chirico mit Nietzsche gemein.3 In den Jahren 1909 bis 1911 las de Chirico von Nietzsche Menschliches. Allzumenschliches, Also sprach Zarathustra, Die Geburt der Tragödie, 3 Siehe dazu auch Rainbow-Vigourt 1988, S. 295–303.
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Morgenröte, Die fröhliche Wissenschaft, Der Fall Wagner, Ecce homo sowie dessen Briefe aus dem Jahr 1888.4 Während de Chiricos Münchner Studienjahre kam Nietzsche ein bedeutender Stellenwert zu.5 De Chirico schrieb sich nach bestandener Aufnahmeprüfung an der Königlichen Akademie der Bildenden Künste in München ein und studierte dort von Anfang Oktober 1906 bis zum Frühsommer 1909. Die deutsche Sprache stellte kein Hindernis für de Chirico dar, denn er beherrschte sie bereits vor seinem Aufenthalt. Für die Eltern de Chiricos war es selbstverständlich, dass die beiden Söhne Giorgio und Andrea von ihren Hauslehrern nicht nur Lektionen in Italienisch und Französisch erhielten, sondern auch in Deutsch unterrichtet wurden. De Chirico war griechischer Abstammung. Er wurde 1888 in der griechischen Hafenstadt Volos geboren. Seine Kindheit verbrachte er in Griechenland. Lange vor seinem Aufenthalt in München hatte de Chirico bereits Goethe, Hölderlin und Heine im Original gelesen. Anneliese Plaga verwies in ihrer Dissertation von 2008 Sprachbilder als Kunst. Friedrich Nietzsche in den Bildwelten von Edvard Munch und Giorgio de Chirico darauf, dass die künstlerische Szene in Deutschland um 1900 nietzscheanisch geprägt war.6 In der Literatur wurde de Chiricos Nietzsche-Rezeption häufig erwähnt, aber meist nur oberflächlich abgehandelt.7 Der dargestellte Bildraum in „Geheimnis und Rätsel einer Straße“ lässt deutlich erkennen, dass die neu entwickelte Raumkonzeption nicht, wie von manchen Forschern fälschlicherweise angenommen, zur Präsentation der Perspektive des 15. Jahrhunderts führen sollte, sondern im Gegenteil dazu, die verbindliche Perspektive in Frage zu stellen.8 In der Stadtansicht aus Urbino 4 Nachweise bei Baldacci 1997, S. 67–71 und S. 84; Roos 1999, S. 283–291. 5 Schubert 1981/82; Aschheim 2000; Erbsmehl 1993. Siehe dazu auch Plaga 2008, S. 12. 6 Plaga 2008, S. 139. Verschiedene Projekte wie beispielsweise ein Nietzsche-Tempel und eine Nietzsche-Gedenkhalle sollten ihn als Genie feiern. Zahlreiche Zeitschriften und Journale in der Zeit zwischen 1890 und 1914 veröffentlichten Gedichte Nietzsches, Illustrationen zu Nietzsche-Themen sowie Nietzsche-Porträts (vgl. Plaga 2008, S. 12; Krause 1984, S. 119– 153; Aschheim 2000, S. 32; Meyer 1993, S. 238–242). 7 Walter Schulz: „Schopenhauer und Nietzsche. Gemeinsamkeiten und Differenzen“, in: Schirmacher 1991, S. 21–34. (Zur Rezeption Arthur Schopenhauers in der bildenden Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts: Baum und Birnbacher 2005, S. 80). Forschungen zu Nietzsche und de Chirico: Soby 1955, S. 28; Schmied 1989, S. 41–60; Lista 1983; ders. (Hg.): „Giorgio de Chirico: L’art métaphysique. Textes réunis et présentes“, Paris 1991, S. 21–24, S. 35–36.; Rubin 1982, S. 75, Anm. 20; Fagiolo dell’Arco, Maurizio: „Giorgio de Chirico à Paris, 1911– 1914“, in Ausst.-Kat. 1982 B, S. 18, S. 24, S. 27, S. 30, S. 41–45. 8 Raffaele Carrieri schrieb über de Chiricos Werke, dass sie „mit perfekter Kenntnis der Regeln der Perspektive“ ausgeführt sind (Carrieri 1949, S. 72). H.H. Arnason vertrat die Meinung, dass „de Chiricos Raum kompromißlos derjenige der Renaissance-Perspektive ist“ („History of Modern Art“, New York 1968, S. 286). Sogar Soby sprach von einer „Erneuerung“ der „illusionistischen, linearen Perspektive“ („The Scuola Metafisica“, in: Twenthieth
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Abb. 4: Ideale Stadt, Unbekannter Künstler, spätes 15. Jahrhundert, Öl auf Holz, Urbino, Galleria Nazionale delle Marche e Palazzo Ducale (aus: Ruth Eaton, Die ideale Stadt. Von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 2001, S. 41)
aus dem 15. Jahrhundert (Abb. 4) wird der Rezipient im Vergleich zu de Chiricos Raum mit einer idealen Stadtansicht konfrontiert. Der Betrachter des 15. Jahrhunderts sah den Bildraum als eine illusionistische Fortsetzung seines eigenen Raumes; sein Standort in Bezug auf das im Bild Gegebene und auch weiterführend auf die allgemeine Ordnung der Dinge war klar und logisch. Die Einheit dieses Beziehungssystems wurde in der Perspektive des 15. Jahrhunderts mathematisch und visuell durch einen systematischen Fokus ausgedrückt, der alle rechten Winkel in einem einzigen Fluchtpunkt zusammenzieht. Die Perspektive dient traditionell dazu, Personen und auch Gegenstände in ihren Raum und gleichzeitig in die Zeit einzubinden.9 Bei de Chirico wird ihre Existenz hinterfragt. Personen, Gegenstände und Fragmente werden ihrem Kontext entrissen. Vergänglichkeit und Zeitlosigkeit stellen sich ein (vgl. Schmied 1998, S. 213). Die räumliche Inkongruenz wird noch verstärkt durch die im Bild auftretenden Schatten. Betrachtet man in „Geheimnis und Rätsel der Straße“ den
Century Italian Art, Museum of Modern Art, New York 1949, S. 19). Schmied dagegen stellte in seinem Aufsatz „Capricci bei de Chirico, Max Ernst, Magritte, Dalí?“ die dargestellte Perspektive de Chiricos in Frage, in: Mai u. Rees 1998, S. 212. 9 Von der Renaissance bis Ende des 19. Jahrhunderts war die Perspektive das wichtigste Mittel der Malerei. Der dreidimensionale Raum der Renaissance ist der Raum der euklidischen Geometrie (von dem griechischen Mathematiker Euklid um 300 v. Chr. zusammengestellte geometrische Axiome und Definitionen, die in der Ebene oder in einem ungekrümmten Raum gelten; darin enthalten sind die wesentlichen Axiome, wie sie heute noch in der Schule gelehrt werden und wie sie die Geometer zur Landvermessung anwenden). Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die nichteuklidische Geometrie, die sich mit mehr Dimensionen befasste. Ähnlich wie die Wissenschaftler erkannten auch die Künstler, dass die einfachen klassischen Konzeptionen von Raum und Volumen begrenzt und einseitig waren. Raum und Zeit werden in der modernen Physik als relative Größen angesehen, relativ zu einem in Bewegung befindlichem Punkt als Beispiel.
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in der oberen Bildhälfte dargestellten Schatten, so ist weder ein Schatten werfendes Objekt noch eine dezidierte Lichtquelle ausfindig zu machen. Michael Baxandall definierte die physikalische Voraussetzung für die Entstehung eines Schattens in seinem 1998 publizierten Buch Löcher im Licht als örtliche und relative Defizienz an sichtbarem Licht (vgl. Baxandall 1998, S. 17). Drei Komponenten sind demnach für einen Schatten verantwortlich: Eine Lichtquelle, eine Oberfläche, die das Licht reflektiert und die lichtlose Zone an der Rückseite.10 Der durch einen eingeschobenen Körper bedingte Lichtmangel schlägt sich in Form eines Schlagschattens nieder, der auf der Projektionsfläche des Lichts auftritt. Es gilt zu klären, welche Funktion der Schatten in den Werken de Chiricos übernimmt, wenn wir weder ein Objekt noch eine Lichtquelle ausfindig machen können. Ohne Objekt und Lichtquelle fehlt es dem Betrachter an Informationen über das Schatten werfende Objekt; Gegenstand und Schatten treten nicht mehr in einer Einheit auf. Der Schatten wird zum Hauptakteur im Bild. Auch das Mädchen links unten erscheint im Gegenlicht nur als dunkle Silhouette. Es bewegt sich mit seinem Reifen auf einer beleuchteten Straße dem Licht entgegen. Rubin definierte diesen Schatten als „entkörperten Schatten“. Er behauptete sogar, dass dieser Schatten vielleicht das auffälligste poetische Kunstmittel de Chiricos sei, das später von einigen Surrealisten nachgeahmt wurde (Rubin 1982, S. 56). Der untere rechte Teil der Bildfläche dagegen entschwindet in die Dunkelheit. Zudem befindet sich rechts unten ein Schatten, der möglicherweise durch die Architektur im Bild hervorgerufen wird. Diese Schatten sind für die Raumkonzeption von erheblicher Relevanz. Um hier eine Distinktion hinsichtlich der „entkörperten Schatten“ zu treffen, soll diese Art von Schatten als „architektonischer Schatten“ bezeichnet werden. Dieser beansprucht oftmals ein Drittel oder sogar die Hälfte eines Bildraumes für sich. Durch die unklare Herkunft dieses Schattens erfährt die Wahrnehmung des Rezipienten eine zusätzliche Irritation. Nicht selten verdeckt solch ein Schatten die untere Bodenfläche und verstärkt dadurch die Wirkung der ins Bodenlose absinkenden Fläche, so beispielsweise im Werk „Der rote Turm von 1913“ (Abb. 5). Für eine zusätzliche Irritation in diesem Werk sorgt auch der Schlagschatten des Reiterdenkmals, der sich in der oberen Bildhälfte von rechts in den Raum hinein schiebt. Im Gegensatz zu „Geheimnis und Rätsel einer Straße“ kann im Werk „Der rote Turm“ das Schatten werfende Objekt ausge-
10 Licht ist die Strömung von Masse-Energie-Einheiten, die von einer Strahlungsquelle, der Sonne oder einer Kerzenflamme, ausgehen. Von der Lichtquelle abhängig ist die Beleuchtungsstärke. Sie bringt drei Faktoren ins Spiel: das Medium, durch welches das Licht auf seinem Weg zu den reflektierenden Oberflächen der Szene hindurchgeht, die Stärke des Lichts, seine Färbung und vor allem seine Diffusität. Ausführlicher dazu: Baxandall 1998, ab S. 17.
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Abb. 5: Giorgio de Chirico: Der rote Turm, 1913, Öl auf Leinwand, 73,5 x 100,5 cm; © VG BildKunst, Bonn 2012
macht werden, allerdings sorgt das Denkmal durch seinen schattenhaften Charakter selbst für Verwirrung. De Chirico verweist durch die Nicht-Darstellung des Ursprünglichen auf Abwesendes. Erneut gelingt es ihm, den Betrachter zu verunsichern, beziehungsweise zu verwirren. Zu den Schatten äußerte sich de Chirico folgendermaßen: „Auf den Stadtplätzen legen Schatten ihre geometrischen Rätsel aus“ oder „Im Schatten eines Mannes, der in der Sonne geht, sind mehr Rätsel als in allen Religionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“.11 Ein Schatten in der Malerei steht in Abhängigkeit von der Perspektive. Er steht für die Wirklichkeit und Logik der realen Welt, indem er das Konkrete fester Gegenstände bezeugt, die den Einfall des Lichtes blockieren (vgl. auch Rubin 1982, S. 55). Der Schatten tritt als Objekt der Wahrnehmung bei der Dechiffrierung des Bildraumes als Hindernis auf. Ein weiteres Mal stellt de Chirico die Bildlogik in Frage. Zweifelsohne kann bei de Chirico nicht von einer Unkenntnis über die Regeln der Perspektive gesprochen werden, denn mit seinem Studium der Malerei, das er an einer der berühmtesten Kunstakademien jener Zeit absolvierte, erhielt er eine streng akademische Ausbildung. Zu
11 De Chirico, Giorgio: „Auf dem Wege in die Zukunft“, de Chirico 1973, S. 18; S. 23.
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Beginn des 20. Jahrhunderts gehörte die Perspektivlehre noch zu den wichtigsten Bestandteilen der akademischen Ausbildung.12 Nachweislich benutzte de Chirico Max Kleibers Katechismus der angewandten Perspektive. Nebst Erläuterungen über Schattenkonstruktionen und Spiegelbilder von 1892.13 Es kann also davon ausgegangen werden, dass de Chirico die Gesetze der Perspektive kannte. Durch den Einsatz unterschiedlicher Perspektiven und die im Bild auftretenden „entkörperten Schatten“ sowie der „architektonischen Schatten“ wird deutlich, dass de Chirico die Gesetze nicht falsch anwandte, sondern vielmehr manipulierte. De Chirico emanzipierte den Raum und befreite ihn von allen bisherigen Regeln. So konstatierte er in seinem Aufsatz Das Mysterium der Kreation: […] Was vor allem anderen Not täte: die Kunst von allem Hergebrachten zu entrümpeln, von jedem Sujet, jeder Idee, jedem Gedanken, jedem abgestandenen Symbol. […] Die Inspiration zu einem Werk, die Konzeption eines Bildes müsste etwas sein, das keinen Sinn in sich hat, auch kein Sujet, und unter den Gesichtspunkten der menschlichen Logik ¸ überhaupt nichts mehr besagt.14
In Auf dem Wege in die Zukunft betonte er noch einmal: „Was vor allem Not tut: Die Kunst von allem zu säubern, das bisher ihr Inhalt war. Jeden Gegenstand, jede Idee, jedes Denken und Symbol beiseite schieben.“15 In den Bildräumen de Chiricos verlor die klassische Linearperspektive ihre ursprüngliche Bedeutung. De Chirico setzte verschiedene Perspektiven ein und ermöglichte dadurch eine Koexistenz von Fluchtpunkten. Die Architektur sowie die Figuren in den Bildräumen de Chiricos befinden sich ohne Beziehung zum Raum und ihrem Umfeld im Raum. Der Betrachter verspürt Orientierungslosigkeit und Unsicherheit. Die Verfremdung des Schattens ist in ihrer beabsichtigten Wirkung gleich zu setzen mit der bewussten Verunsicherung des Betrachters, die durch die Manipulation der Perspektive bewirkt wird (vgl. Stoichita 1997, S. 39). Als entscheidenden Beweggrund für den neuen Umgang mit der Perspektive und der sich daraus ergebenden neuen Konzeption des Raumes gab de Chirico an: Wir Maler sind nicht als erste auf die Idee gekommen, in der Kunst den logischen Sinn aufzugeben […] Die Kunst ist durch die modernen Philosophen und Dichter befreit worden
12 Vgl. Zacharias 1985, S. 329 u. Schmied, Wieland 1988, S. 47–52. 13 Kleiber, Max: „Katechismus der angewandten Perspektive. Nebst Erläuterungen über Schattenkonstruktionen und Spiegelbilder“, Leipzig 1892. 14 De Chirico, Giorgio: „Das Mysterium der Kreation“; „Le mystère de la création“; „Mystery and creation“, in: de Chirico 1973, S. 16. 15 De Chirico, Giorgio: „Auf dem Wege in die Zukunft“, de Chirico 1973, S. 21.
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[…] Schopenhauer und Nietzsche lehrten als erste, welche profunde Bedeutung der NichtSinn des Lebens hat. Sie lehrten auch, wie dieser Nicht-Sinn in Kunst umgesetzt werden könnte.16
Die entscheidende Inspiration, den Nicht-Sinn des Lebens in Kunst umzusetzen, ging also von den philosophischen Schriften Schopenhauers und Nietzsches aus. Den Nicht-Sinn erreichte de Chirico durch den eindeutigen Bruch mit der Tradition. Die profunde Bedeutung des Nicht-Sinns in der Kunst ist die Befreiung des Kunstwerks von Konventionen. De Chirico bemerkte dazu einmal: „Entscheidender als alles ist: Der Künstler holt etwas Neues aus dem Nichts, etwas, das vorher nicht existierte.“17 De Chirico sprach also über Nietzsche und dessen Methode, wenn es darum ging, das Kunstwerk von Konventionen zu befreien. Dies kommt noch einmal deutlich in folgender Aussage zur Geltung: Welchen Zweck wird die künftige Malerei haben? Keinen anderen als Dichtung, Musik und Philosophie: geistig-sinnliche Empfindungen auszulösen, die früher niemand kannte; die Kunst zugunsten einer ästhetischen Synthese vom Allgemeinen und Anerkannten, von allem Gegenständlichen zu befreien; das Bild des Menschen auszumerzen, ob es nun Leitgestalt oder Träger von Symbolen, Gefühlen und Gedanken war; die Malerei ein für allemal vom Anthropomorphismus zu erlösen, die das Bild erstickt hat; jedes Ding, auch den Menschen, nur als Sache zu betrachten. Das war die Methode Nietzsches. Auf die Malerei angewandt, könnte sie außergewöhnliche Ergebnisse haben. Das ist es, das ich in meinen Bildern darzulegen versuche.18
Um eine Antwort auf die Frage zu finden, warum die modernen Philosophen de Chirico dazu brachten, den Nicht-Sinn in Kunst umzusetzen, ist es notwendig, auf philosophisches Gedankengut einzugehen. Den Ausgangspunkt für die vorliegende Untersuchung bildeten die Vorstellungen Schopenhauers und Nietzsches sowie die Frage nach der Bedeutung der Kunst bei beiden Philosophen. Schopenhauer wie Nietzsche sahen die Kunst als die eigentliche metaphysische Tätigkeit an. Sie räumten dem künstlerischen Genie einen herausragenden Rang ein. Der Augenblick der Kunst lässt als Augenblick der Wahrheit bei Schopenhauer ein humanes Leben aufblitzen, und Nietzsches „ArtistenMetaphysik“ beansprucht für den Augenblick Ewigkeit (Schirmacher 1991, S. 15). In Nietzsches Augen ist Kunst Schein oder all das, was „nicht die Wahrheit“ ist (NL, KSA 13, S. 522), denn nur das Kunstwerk „ist die einzige und wirkliche Realität der Dinge“. „Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der 16 De Chirico, Giorgio: „Wir Metaphysiker“; „Noi Metafisici“, de Chirico 1973, S. 38–39. 17 De Chirico, Giorgio: „Der Impressionismus und Ich“, de Chirico 1973, S. 18. 18 De Chirico, Giorgio: „Meditationen eines Malers“; „Meditations of a painter“, de Chirico 1973, S. 29.
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Wahrheit zu Grunde gehen“, so heißt es in Nietzsches Aufzeichnungen zum „Wille zur Macht“. Kunst bedeutete für ihn das „große Stimulans des Leben“ (NL, KSA 13, S. 228, vgl. NL, KSA 13, S. 229–230, S. 409). Der Künstler erscheint bei Nietzsche als der eigentlich Schaffende; er hat durch sein Schaffen in höchstem Maße teil am Sein. Das Sein aber fasste Nietzsche als ein Werden auf, und dieses Werden ist durch den Willen zur Macht charakterisiert. Da Kunst Schaffen, Erzeugen und Hervorbringen bedeutet, steht es in diesem Dienste (vgl. Schmied 1989, S. 55). Die Überwindung des Nihilismus durch die „schöpferische Lust“ ist ein genuin Nietzschescher Gedanke: „Die Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens, die Kunst als dessen metaphysische Tätigkeit“ und damit schließlich „die Kunst als einzig überlegene Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens, als das Antinihilistische […] par excellence“ (NL, KSA 13, S. 521). Die Gedanken Nietzsches über das schöpferische Leben, den schaffenden Künstler und der metaphysischen Kunst waren für de Chirico von prägender Kraft. Nietzsche sah den Nihilismus primär als geistiges Phänomen, als Ausdruck der geistigen Situation Europas. Er verstand sich selbst als „der erste vollkommene Nihilist Europas“ (NL, KSA 13, S. 190), der aber den Nihilismus schon „hinter sich“ habe, welcher die nächsten beiden Jahrhunderte bestimmen werde, um in späterer Zukunft durch die „Gegenbewegung“ der Umwertung aller Werte abgelöst zu werden. Zu dieser aber bedürfe es der Züchtung des Übermenschen.19 In ihm soll der Wille zur Macht seine höchste schöpferische Ausprägung erfahren. Der Nihilismus war für Nietzsche Ausdruck einer geistigen Krise. Er definierte ihn als „pathologischen Zwischenzustand“, als „Ausdruck der decadence“, den es zu überwinden gelte.20 Nietzsche nannte ihn die Erledigung der Wahrheit und die Fundamentierung des Stils. In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage einer kausalen Abhängigkeit des bewusst dargestellten leeren Bildraums in den Werken de Chiricos und des „Nietzscheanischen Nihilismus“ auf. De Chirico äußerte sich selbst über die vorherrschende Leere in seinen Werken mit den Worten: „Mit Bezug auf diese Malerei hat man von einem leeren Raum gesprochen, der Phänomene der Erwartung und der Architektur aus sich erschaffe. […] Ob der leere Raum
19 Ausführliches zur Entwicklung und Ästhetik des Übermenschen bei Nietzsche: Manthey 1989, S. 204–233. 20 Zit. n. Meyer 1993, S. 436. Die Lektüre von Paul Bourgets (1852–1935) „Essais de psychologie contemporaine“ (1893) hat Nietzsches Verständnis des Nihilismus wesentlich beeinflusst.
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etwas zu sagen hat oder nicht, weiß ich nicht.“21 Wie so oft lässt uns de Chirico mit seiner Aussage im Unklaren. Eine zweite Bemerkung aus dem Jahre 1919 gibt dagegen Aufschluss: „Die entstandene erschreckende Leere hat dieselbe unsinnige und gelassene Schönheit wie die Materie.“22 De Chiricos Umwertung der „erschreckenden Leere“ in ein positives Empfinden entspricht dem philosophischen Gedankengut am Ende des 19. Jahrhunderts. Schopenhauer sah eine innere Leerheit und Langeweile durch die Sucht nach Gesellschaft, Zerstreuung, Vergnügen und Luxus jeder Art nur schlecht kaschiert.23 Und Nietzsche formulierte zur positiven Empfindung der Leere: „Man muss bemüht sein über die ungeheure Leere die gerade durch die Ausweitung der Kenntnisse hervorgerufen ist, über dies furchtbare Gefühl der Oede hinwegzukommen, und sei es durch ein wohllüstiges Empfinden der Leere selber.“24 Dies bedeutet: negativ empfundene Leere wird in ein positives Gefühl umgewandelt, indem man der Leere selbst positive Kraft zuspricht. Diese Denkweise entspricht der Vorstellung Nietzsches, und auch er gestand der Leere eine ambivalente Stellung zu. Die Leere de Chiricos, die sich als selbständig ausgeformte Formulierung auf der Bildfläche präsentiert, wirkt für den Betrachter verunsichernd. Die Voraussetzung dafür, dass die Leere als eigenständige Größe fungieren kann, ist nur dann gegeben, wenn sie die gewohnten Erwartungen des Rezipienten umgeht oder aufbricht. Es handelt sich in diesem Fall nicht mehr um einen Mangel,25 sondern um eine Eigenschaft ihrer Dimension.26 In „Die Freuden des Dichters“ von 1913 (Abb. 6) wird die Bildmitte durch einen leeren Platz eingenommen. Inmitten dieser Leere befindet sich ein Springbrunnen, rechts davon, oberhalb eines mächtigen Schattens, steht eine einsam in Gedan-
21 De Chirico, Giorgio: „Rückblicke eines Malers“; „L’Europeo chiede tutta la verità a de Chirico“, in: de Chirico 1973, S. 180–186. 22 De Chirico, Giorgio: „Wir Metaphysiker“; „Noi Metafisici“, in: de Chirico 1973, S. 38–39. 23 Schopenhauer 19381, S. 349. (Heidrich 1974) 24 Nietzsche 1920–29, Musarion-Ausgabe (MusA), Bd. 16, S. 387 (Heidrich 1974). 25 Die Leere de Chiricos ist keineswegs mit dem Nichts identisch. Als Stellvertreter des Mangels fungiert sie gegensätzlich zur Leere in Lacans negativer Anthropologie als transzendentale Bedingungsmöglichkeit für die Konstitution des Objekts. Ausführlich zu Leere bei Jacques Lacan, Paris 2000, S. 324. Die Bedeutung der zentralen Leere erweise sich schon in Freuds Dezentrierung des Cartesianismus zum „Ich denke nicht“, das den Subjekteffekt bewirkt. Der Seinsmangel, der die Entfremdung hervorrufe, sei Statthalter der Kastration: „Tel est le vide si incommode à approcher. Il est maniable d‘être enveloppé du contenant qu’il crée. Retrouvant pour ce faire les chutes qui témoignent que le sujet n’est qu’effet de langage: nous les avons promues comme objets a.“ 26 Vgl. Heidegger 2007, S. 12: „Vermutlich ist jedoch die Leere gerade mit dem Eigentümlichen des Ortes verschwistert und darum kein Fehlen, sondern ein Hervorbringen. […] Die Leere ist nicht nichts. Sie ist auch kein Mangel.“
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Abb. 6: Giorgio de Chirico: Die Freuden des Dichters, 1912, Öl auf Leinwand, 69,5 x 86,3 cm; © VG Bild-Kunst, Bonn 2012
ken versunkene Figur, umgeben von sich ausbreitender Leere und eingerahmt von Schatten und Architektur. Die Leere hat den bedeutsamsten Ort der Bildfläche für sich eingenommen. Sie wird durch bewusste Darstellung im Bild aufgezeigt. Durch die unverhältnismäßig klein dargestellten Figuren in Bezug zu ihrem leeren Raum avanciert die Leere zu einer machtvollen Bildsprache. Es existiert keine Verbindung zwischen Gegenständlichem und der Leere. Die Leere de Chiricos ist eine bewusst bildnerisch gestaltete Leere. Diese sinnentleerte Leere führt ein weiteres Mal zu Nietzsche. Der gemalten Leere de Chiricos ist Nietzsches Philosophie immanent; seine existentielle Grunderfahrung war die Einsamkeit. Die Einsamkeit als Schlüssel- und Leitmotiv, als Modus der Existenz, ist in ihrem Verhalten aber ambivalent; denn einerseits drückt sie sich aus durch Leere, und andererseits schafft sie die Voraussetzung für Kreativität. Die Einsamkeit, die Konfrontation mit dem Nichts, besitzt eine positive Kraft, da das Selbstsein und die Kreativität bei Nietzsche nur in der Einsamkeit möglich sind.
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Aus der Einsamkeit erwächst der Monologismus. Er ist die höchste, letztmögliche Form der künstlerischen Selbstaussprache. Nietzsches Begriff der „monologischen Kunst“ ist ein Schlüsselbegriff. Nietzsche grenzte die „monologische Kunst“ gegen die „Kunst vor Zeugen“ ab. Sein monologisches Subjekt ist ein expansives Ich, das die Weltverwandlung anstrebt. Das Ich ist, bei aller abgründigen Einsamkeit, erfüllt von Enthusiasmus, Lebensintensität und Zukunftserwartung. Nietzsches Monolog ist ein expansiver Monolog (vgl. Meyer 1993, S. 398). Im Kern meinte Nietzsche, wenn er von „monologischer Kunst“ sprach, den monologischen Monolog, das tiefe existentielle Selbstgespräch. Die „monologische Kunst“ ist ein „Zwiegespräch mit Gott“, weil sie existentielle, metaphysische Fragen aufwirft, weil es in ihr um das Menschsein selbst geht. Sie ist für Nietzsche die wahre Kunst.27 Der Monolog ist Ausdruck der Einsamkeit. Die Einsamkeit Nietzsches ist eine absolute Einsamkeit. In seinen schriftlichen Aufsätzen erfährt das Gefühl der Einsamkeit eine bis dahin nicht gekannte Zuspitzung (Meyer 1993, S. 146). Nietzsche verstand sich selbst sogar als die Personifikation der Einsamkeit: „Ich bin die Einsamkeit als Mensch. […] Daß mich nie ein Wort erreicht hat, das zwang mich, mich selber zu erreichen […]“ (NL, KSA 13, S. 641). Die Einsamkeit bei Nietzsche beinhaltet – wie bereits erläutert – nicht nur eine elementare Bedrohung, sondern sie ist auch kreativer Zustand. Das Verhältnis Nietzsches zur Einsamkeit ist von doppeldeutiger, zwiespältiger Art geprägt. Einerseits ist die absolute Einsamkeit negativ zu werten, und andererseits stellt sie die notwendige Voraussetzung der Lebenssteigerung dar (vgl. Meyer 1993, S. 148). In Ecce homo pries Nietzsche sie sogar hymnisch: „Aber ich habe Einsamkeit nöthig, will sagen, Genesung, Rückkehr zu mir, den Athem einer freien leichten spielenden Luft. […] Mein ganzer Zarathustra ist ein Dithyrambus auf die Einsamkeit, oder, wenn man mich verstanden hat, auf die Reinheit […]“ (EH, KSA 6, S. 276). Es gilt zu klären, welche Bedeutung der Einsamkeit bei de Chirico zukommt. Könnte auch sie von einer solchen Ambivalenz getragen sein? Im Manuskript „Sull’arte metafisica“ äußerte sich de Chirico zur Einsamkeit: Jedes ernsthafte Kunstwerk trägt zwiefach Einsamkeit in sich. Die eine könnte man die bildnerische Einsamkeit nennen. Sie ist die kontemplative Seligkeit, die sich aus der genialen Konstruktion und Kombination der Formen ergibt. Die zweite Einsamkeit wäre
27 Die demagogische Kunst, d. h. die Kunst der suggestiven Verführung, wie er sie vor allem bei Wagner vorzufinden glaubt wird von ihm verworfen. Mit solchen Klassifikationen versucht Nietzsche, sich seines eigenen ästhetischen Standorts zu vergewissern und seine eigene Position zu rechtfertigen. Sein Anliegen ist die monologische Kunst. (Siehe dazu ausführlicher: Meyer 1993, S. 145–151)
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die der Sinnbilder. Sie ist eminent metaphysisch. […] Das metaphysische Kunstwerk wirkt fröhlich. Man hat jedoch den Eindruck, dass sich in dieser frohen Welt etwas ereignen müsse. […] Das ist ein Symptom des Dranges, die bewohnte Tiefe zu erforschen. (De Chirico 1973, S. 45)
De Chiricos Ambivalenz drückt sich einerseits durch Einsamkeit aus, die sich bildhaft darstellt, und andererseits durch metaphysische Einsamkeit, die Heiterkeit und Sinnlichkeit mit Drang zu Neuem verbindet. Die Äußerungen de Chiricos bestätigen einen inhaltlichen Zusammenhang zu Nietzsches Einsamkeit, denn auch de Chiricos Einsamkeit definiert sich durch einen doppeldeutigen Charakter. Sie ist wie Nietzsches Einsamkeit eine funktionale Einsamkeit. Vorliegender Beitrag, der sich mit der Raumkonzeption de Chiricos auseinandersetzte, zeigte, dass de Chirico ein Spiel mit der Perspektive anstrebte, das auf Verwirrung und Verunsicherung des Betrachters hinzielte. Mittels bewusster Manipulation der Perspektive gelang es de Chirico, die bisherige Raumauffassung in Frage zu stellen. In Abhängigkeit zur neuen Raumauffassung veränderte sich auch die Raum-Zeit-Beziehung. Neben der Diskussion der Raum-Zeit-Beziehung in den Werken de Chiricos ist eine Untersuchung der vorherrschenden Leere entscheidend. Sie wird in den Bildräumen de Chiricos durch die quasi direkte Darstellung im Bild bewusst aufgezeigt. Sowohl für die neue Konzeption des Raumes, als auch für die zu transportierende Bildaussage der dargestellten Leere sind die Vorstellungen Friedrich Nietzsches von grundlegender Bedeutung. De Chirico griff dezidiert das Gedankengut Nietzsches auf und verwandelte es in eine machtvolle philosophische Bildsprache. Dessen Ursprung bildeten die Theorien Nietzsches über den Nicht-Sinn und den Nihilismus.
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Nietzsche und Beuys „… radikal gesagt gibt es überhaupt keine andere Methode, die noch übrig bleibt, als die Kunst.“ (Joseph Beuys)
In einem Brief an Josef Viktor Widmann vom 4. Februar 1888 schreibt Nietzsche: Die Schwierigkeit meiner Schriften liegt darin, daß es in ihnen ein Uebergewicht der seltneren und neuen Zustände der Seele über die normalen giebt. Ich lobe das nicht; aber es ist so. Für diese ungefaßten und oft kaum faßbaren Zustände suche ich Zeichen; es scheint mir, daß ich darin meine Erfindsamkeit habe (KGB III/5, Nr. 985).
Im Rahmen einer geläufig gewordenen Wirkungsgeschichte, die Nietzsche als Wertezertrümmerer, Psychologen des Ressentiments, Bekämpfer des Christentums und, in der Nachfolge Heideggers, als Triumphator der neuzeitlichen Subjektivität für sich fruchtbar gemacht hat, ist es fast nebensächlich geworden, dass es verborgen unter dieser offiziellen Schicht einen Nietzsche gibt, der sich von der unruhigen Aufgabe der Zeichenfindung umgetrieben fand für neue, seltene und schwer fassbare Seelenzustände, und der, wie es in einem Brief aus derselben Zeit an den Freund Erwin Rohde heißt, als „gründlicher Nihilist“ noch immer „nicht daran verzweif[elt ist], den Ausweg und das Loch zu finden, durch das man in’s ‚Etwas‘ kommt“ (KGB III/5, Nr. 852). Ich meine Nietzsche als Ontologen. Die Ontologie als Lehre vom Sein zeigt sich freilich seit der Transzendentalphilosophie Kants in einem gewandelten Licht. Die Seinskategorien sind jetzt als apriorische Schemata erkannt, mit denen wir den Dingen, und damit in einem tieferen Sinne auch uns selbst, immer schon zuvorkommen. Nach Nietzsche bringen wir diese Schemata jedoch nicht selbstverständlich mit, sondern unser eigenes Dasein hängt unmittelbar davon ab, inwiefern es uns nach einem berühmten Wort aus der 2. Unzeitgemäßen Betrachtung gelingt, an unser eigenes Sein zu glauben und in diesem aktiven Glauben einen Horizont um unsere von sich her chaotische und fließende Natur zu ziehen. Nietzsche bezeichnet den Menschen daher auch als ein „formen- und rhythmenbildendes Geschöpf“; sein „Mittel, sich zu ernähren und die Dinge sich anzueignen [ist], sie in ‚Formen‘ und Rhythmen zu bringen“, das Begreifen daher ein „Schaffen der ‚Dinge‘“, „Erkenntniß“ ein, wie es heißt, „Mittel der Ernährung“ (NL, KSA 10, S. 650–651).
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Joseph Beuys scheint mir in seinem Kunstschaffen ein Erbe dieser poietischen Ontologie und „Erfindsamkeit“ Nietzsches zu sein, ein Erbe also jener eigentümlichen Kehrtwendung, die in der Erfahrung des Nihilismus als eines ebenso tödlichen wie fruchtbaren Chaos liegt, und die mit der Genese der Sichtbarkeit, also dem, wie „man in’s ‚Etwas‘ kommt“, zusammenhängt. Ich möchte diese behauptete Nähe im Folgenden in drei Schritten umreißen. Sie beinhalten zunächst weniger eine konkrete Spurensuche im Werk von Beuys, als dass sie die Hervorhebung eines gemeinsamen Ausgangspunktes im Auge haben, aus dem sich weitere Gemeinsamkeiten ergeben. Der Ausgangspunkt besteht darin, die Formen- und Rhythmenbildung der (wenn wir den Terminus aus der zitierten Briefstelle Nietzsches beibehalten) ‚Seele‘ als ein Zeichen für den bewegten Naturgrund allen Seins zu nehmen. Ich betone: allen Seins, nicht nur desjenigen des Menschen. Meine drei Schritte sind überschrieben mit: 1. Quantitatives und qualitatives Kontinuum (Naturwissenschaft), 2. Plastische Kraft, und 3. Nihilismus („Sonnenfinsternis und Corona“ – der Titel einer auf Nietzsche bezogenen Arbeit von Beuys). Insbesondere in den beiden ersten Überlegungen werde ich Bezug nehmen auf die frühen Aquarelle und Zeichnungen, von denen Beuys immer wieder hervorgehoben hat, dass sie das Reservoir all seiner späteren zeitkritischen und auch politischen Aktivitäten darstellen.
1 Sowohl Nietzsche als auch Beuys nehmen ihren Ausgang zunächst von einer intensiven Beschäftigung mit der modernen Naturwissenschaft. Beuys wollte ursprünglich Medizin studieren und zeigte sich seit seiner Kindheit an naturwissenschaftlichen Fragestellungen interessiert. Nietzsches Bibliothek umfasste zu zwei Dritteln naturwissenschaftliche Schriften, und er war zweifellos einer der ersten, der den ungeheuren Einbruch erkannte, den die neuzeitliche Naturwissenschaft und alle weitere nach ihrem Vorbild entwickelte Wissenschaft für das menschliche Selbstverständnis darstellt. Ihr entscheidender Schritt liegt in der Annahme eines allem Sein zugrunde liegenden mathematischen Kontinuums, d. h. in der zunächst ausdrücklich methodischen, gesellschaftlich-faktisch jedoch längst als neue Ontologie durchgesetzten Annahme, dass es quantitative Strukturen sind, die den innersten Kern der Wirklichkeit bestimmen. Der Wirklichkeit, oder sagen wir auch, dem Leben mathematische Strukturen zugrunde zu legen bedeutet, es auf ein Gerüst zurückzuführen, das als in sich abgeschlossen und nicht mehr tangierbar gesetzt wird und das als solches und nur als solches erlaubt, die Gesamtheit seiner Erscheinungen in
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der Weise rein analytischer Notwendigkeit zu bestimmen. Problematisch erscheint Nietzsche daran nun weniger der starke hypothetische Charakter dieser Annahme (d. h. ihr impliziter Anthropozentrismus) als vielmehr die Tendenz des Subjekts, sich selbst in diese eigentümlich tote Objektivität zurückzunehmen, so wie wir uns heute zunehmend der wissenschaftlichen Konstruktion der DNA als sogenanntem ‚Code des Lebens‘ anvertrauen. Denn in ihr (also in der Spiegelung der lebendigen Subjektivität im mathematischen Kontinuum) spricht sich nach Nietzsche eine „Willenslähmung“ aus, das heißt eine Auflösung jener oben genannten formen- und rhythmenbildenden Kraft, mittels derer es überhaupt so etwas wie eine menschliche Welt gibt. Die Konsequenz Nietzsches aus der Einsicht in den willenslähmenden Charakter der Wissenschaft besteht nun darin, das ihr zugrunde liegende Gerüst in zwei Schritten zu destruieren. Zunächst hält er gegen die Rückführung allen Seins auf seine mathematische Materialität fest, dass das Seiende „als Empfindung“ gedacht werden soll, „welchem nichts Empfindungsloses mehr zugrundeliegt“ (NL, KSA 10, S. 650). Die geschichts- und leblose Stofflichkeit der Atome wird somit aufgebrochen, sie bekommen einen offenen, zeitlichen Charakter, einen, der durch die Tangierbarkeit und Wirkung bezeichnet ist, die jedes auf der einen Seite „übt“ und der es auf der andren „widersteht“. Es fehlt jetzt die „Adiaphorie“, wie Nietzsche sagt, die Gleichgültigkeit gegeneinander, die für das mathematische Kontinuum unabdingbar war. Zum anderen erweitert Nietzsche den ganz auf äußere, visualisierbare Vorgänge reduzierten Begriff der Bewegung, indem er auch ihn von innen heraus deutet. „Alle Bewegungen sind Zeichen eines inneren Geschehens“, notiert er, deswegen sind sie „als Gebärden aufzufassen, als eine Art Sprache, wodurch sich die Kräfte verstehen“ (NL, KSA 12, S. 16). Durch diese zwei Schritte der Revitalisierung des mathematisch-quantitativen Naturkontinuums gewinnt er ein lebendiges, qualitatives Kontinuum zurück. Diesem ist eigentümlich, dass es im Gegensatz zur modernen Naturauffassung die Natur von innen heraus beleuchtet oder mit Nietzsches Worten, auf ihren „‚intelligiblen Charakter‘ hin“, genauer auf ihren Charakter als „Wille zur Macht“ (JGB, KSA 5, S. 55). Eine solche Rückübersetzung der für wissenschaftliche Zwecke zubereiteten Natur in ein lebendiges Kontinuum erkennen wir auch in den Zeichnungen und Aquarellen von Joseph Beuys. So haben die frühen Zeichnungen Beuys’ aus den 1940er Jahren zunächst den Charakter Linnéscher Systematizität: Blätter, Gräser, Blüten, Stücke von Rinde usw. werden aus ihrem Zusammenhang genommen, vor den stummen hyletischen Hintergrund weißen Papiers gebracht und begrifflich fixiert. Nach und nach findet jedoch fast unmerklich eine Verschiebung statt: Der zurückhaltende, aseptische Papierhintergrund beginnt sich in seiner eigenen Bewegtheit und Geschichtlichkeit hervorzudrän-
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gen. Er trägt nun Spuren, ist befleckt, zerknittert, speckig, bereits aus einem anderen Zusammenhang heraus sprechend (so verwendet Beuys jetzt beispielsweise alte Briefumschläge, Tüten, Rechnungen oder Notizzettel als Papiergrund sowie Materialien wie Tee, Blut, Säfte, Pflanzensud, Fette, Oxide und andere organische Flüssigkeiten). Die Blätter sind nun oft titellos und weisen nur in Klammern eine, man möchte fast sagen vorübergehende, schon wieder im Übergang befindliche, Bestimmung auf. Beuys hat dieses sukzessive Aufbrechen der lebendigen Natur in Bezug auf die wissenschaftlichen Methoden der Reduktion ausdrücklich reflektiert. Während der qualitative Zusammenhang des Lebens auf seiner Innenwahrnehmung basiert, die das lebendige Prinzip darin erkennt, gründet die mathematische oder materialistische Naturauffassung auf einem, wie er sagt, „Prozeß des Todes“, insofern sie nach Größen vorgeht, die „eine tote Materie zum Gegenstand haben“.1 Auch das Christentum gehört nach Beuys in diese „Substanz des Todes“, die auf das Analytische, die Abstraktion, die radikale Entfernung des Menschen aus seinen naturalen Zusammenhängen drängt. Ich werde auf diese „Todesmoral“ (Zweite 1991, S. 17) abendländischer Philosophie und Wissenschaft im Zusammenhang der Problematik des Nihilismus an späterer Stelle noch einmal zurückkommen. Beuys Arbeiten zeigen sich dagegen zunehmend orientiert an einer qualitativen Morphologie der Naturphänomene, an ihren Trieb- und Richtkräften, ihrem Keimen, Sichregen, ihrem Wachstum in die Gestalt. Qualitativ bedeutet dabei, dass all das, was die Naturwissenschaft seit Galileo und Newton als sogenannte sekundäre Qualitäten ausgewiesen hatte – also die unmittelbaren Sinneswahrnehmungen, den Geschmack, die Gerüche und Töne, Licht und Farben, die Leiblichkeit, den Moment usw. – wieder hervorholt und ihnen ihren eigentlich primären Charakter zurückerstattet. Die Welt begegnet nicht aus einem Gegenüber, sondern erwächst aus einer inneren Berührbarkeit und Erregung, die sich in den Prozess des Werdens involvieren und ihn aus der eigenen existenziellen Belangtheit vernehmbar werden lässt. Das Hineinverfasstsein menschlichen Seins in den qualitativen Zusammenhang einer unablässig schaffenden und vernichtenden Natur findet Ausdruck in dem sogenannten Belvedere-Blatt, das im Frühjahr 1942 nach einem Besuch von Beuys im Weimarer Nietzsche-Archiv entstanden sein soll. Wie ein feines, selbst aus dem „Drängen und Streben“, dem „Zittern“ und der „ungeheure[n] Spannung“ der Natur vernehmlich werdendes Gewächs lesen wir hier die Worte: „Diese
1 Beuys, zit. nach Zweite 1986, S. 79. Der späte Beuys wird in einer Installation mit dem Titel thermisch-plastisches Urmeter (1984) dem napoleonischen Urmeter als dem Paradigma der quantitativen Normierung durch einen plastischen Urmeter von innen entgegentreten.
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unendliche Kraft, dies dionysische Erbe u. Überquellen schafft der Mensch durch seine geistige Schau der Realitäten in der Natur zum Idealbild […].“ Alles: Pflanze, Mensch und Tier „wuchern und überwuchern ohne Grenzen aus immer neuen Quellen aus einer unüberwindlichen biologischen Schöpfungskraft“.2 Das „dionysische Erbe“ hat Beuys mit dem Hören als einem Sinn zusammengebracht, der die Grenzen verflüssigt und damit als eine Art „Wärme-Sinn“ fungiert. Während das Auge die Dinge als individuierte, für sich umrissene Gestalten heraushebt, ist das Hören dadurch charakterisiert, dass es die im Retinalen gefangene Gestalt wieder losbindet und in den Zusammenhang des Ganzen zurücknimmt. Hörend werden wir in unserem Lebenssinn überhaupt getroffen; es spricht unmittelbarer und umfassender an und zwingt das Subjekt aus seiner Vereinzelung heraus. Dionysische Kunst ist für Beuys daher ebenso wie für den Nietzsche der Geburt der Tragödie ein Mittel, die „Isolation [des Menschen] zu durchbrechen und die Wahrheit der Gesamtzusammenhänge zu finden“ (zit. nach Zweite 1991, S. 15). In dieser Zurückübersetzung des Menschen in die Natur, nicht als Objekt, sondern als Welt des Werdens, besteht also der erste gemeinsame Ausgangspunkt von Nietzsche und Beuys. Von ihm aus erscheint die Frage der Wissenschaft, wie Beuys sagt, „eigentlich einer Frage der Schöpfungsprinzipien im Ganzen angegliedert“.3 Sein „erweiterter Wissenschaftsbegriff“ ist dadurch ausgezeichnet, dass er das Prinzip der Mathematisierbarkeit hintergeht und seine Begriffe aus einer tieferen Wurzel her erfasst. Beuys nennt diese Wurzel Imagination, Ein-Bildung, Nietzsche spricht vom Willen zur Macht oder (weniger verfänglich) von Interpretation. Mit diesem, jetzt aus dem inneren Prinzip der Ein-Bildung vollzogenen Schritt in die Materialität komme ich zum zweiten Punkt meiner Ausführungen, zum Thema der ‚plastischen Kraft‘.
2 Was Nietzsche betrifft, so finden wir einen ersten Versuch einer solchen Deutung der Natur von innen heraus in seiner sogenannten Zeitatomenlehre, die in das Jahr 1873, also in den Umkreis der Geburt der Tragödie und der Unzeitge-
2 Entnommen aus Harlan u. a. 1991, S. 15. 3 Beuys, zit. nach Bunk 1983, S. 263. „Dass ich an einem isolierten, positivistischen Wissenschaftsbegriff wenig Freude gewann, hat mich eben dazu gebracht, das Plastische aufzusuchen, was zum positivistischen naturwissenschaftlichen Begriff dazu kommen muss; auf diese Weise ergibt sich auf einen Schlag der erweiterte Kunstbegriff und der erweiterte Wissenschaftsbegriff“ (Beuys, zit. nach Vischer 1983, S. 33).
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mäßen Betrachtungen fällt. Ich greife auf diese eher unbekannte Zeitatomenlehre zurück deshalb, weil mir wichtig erscheint, dass Nietzsche die Thematik der plastischen Kraft zumindest in seinen privaten Notizen von Anfang an als einen Ansatz verfolgte, der die Natur oder das Leben im Ganzen umfasst, und nicht allein eine existenzielle oder ästhetische Dimension des Menschseins. Der Grundgedanke der Zeitatomenlehre ist der, dass alle sichtbare Gestalt, und damit auch die Natur als Materie, auf die oben angesprochene lebendige Formen- oder Rhythmenbildung zurückgeführt werden muss. Ihr fassbarer, für die Wissenschaft allein wirklicher Kern erweist sich nämlich als bis in die atomaren Strukturen hinein durchströmt von einer unfassbaren, chaotischen Offenheit, von einem überschießenden Trieb des Leidens und Sichverlierens, den Nietzsche in der Geburt der Tragödie bekanntlich mit dem Dionysischen, hier jedoch mit dem spekulativen Gedanken der Zeitlichkeit bzw. Empfänglichkeit schlechthin zusammenbringt. Jedes Atom ist, zieht man den letzten Erdenrest von ihm ab, nichts anderes, als ein offener, unwiederholbarer Moment der Zeit, oder auch, wie Nietzsche sagt, ein offener Moment des Leidens, der reinen Empfindung. Weil die reine Zeit oder die reine Empfindung jedoch dazu verurteilt sind, unablässig zu vergehen (sie können sich nämlich keinen Moment lang als Seiende behaupten), müssen wir in Anbetracht der phänomenalen Welt diese Offenheit als zugleich befähigt zur schöpferischen Bewältigung denken, d. h. befähigt dazu, „dem Werden“, also der reinen Zeit, „den Charakter des Seins aufzuprägen“ (KSA 12, S. 312). Mit einem Ausdruck der Antike könnte man sagen: die innerste Natur des Lebens ist eine dynamis tou poiein kai paschein, eine verschieden zutage tretende Fähigkeit zum pathos und zur poiesis, zur Angreifbarkeit und zum Widerstand, zum Schmerz und zur plastischen Kraft in einem. Es ist nun gerade dieses innerste „Schwingen und Zittern“ (KSA 7, S. 446), was die Gegenwart, die Perspektive, den Rhythmus oder eben den Willen zur Macht einer bestimmten Lebensform ausmacht. Nietzsche spricht später auch von „dynamischen Quanta“, die in einem „Spannungsverhältnis zu allen anderen dynamischen Quanten stehen“ (KSA 13, S. 259), ja deren Qualität und Wesen gerade in diesem offenen Spannungsverhältnis besteht; sie gelten nun nicht mehr physikalisch als letzte Fundamente, sondern vielmehr als etwas „Wachsendes, Kämpfendes, Sich-Vermehrendes und Wieder-Absterbendes: so daß ihre Zahl unbeständig wechselt, und unser Leben wie jegliches Leben zugleich ein fortwährendes Sterben ist“ (KSA 11, S. 577). Die vorhandene Welt bestünde demnach in der „Sichtbarwerdung“ dieser perspektivischen KraftProportionen und Rhythmen, das heißt in der Sichtbarwerdung dieser innersten Schwingung zwischen Leiden und Tun in Bewegungen, Bildern, Körpern, Lauten, Skizzen, Gesten, Gedanken, Handlungen usw. Alles, was in den Bereich der Sichtbarkeit tritt, ist von innen her als, wie Nietzsche sagt, „Gebärde“ aufzu-
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fassen: „Der Reichthum an Leben verräth sich durch Reichthum an Gebärden“ (KGB III/1, Bf. 280). Werfen wir von hier auch ein Licht auf die „Plastische Theorie“ von Joseph Beuys. Maßgeblich scheint zunächst die aller Gestalt vorangehende strittige Polarität aus chaotischer, richtungsloser Kraft und einem kristallinen Formprinzip zu sein. Der traditionelle Begriff von Plastik greift nicht tief genug, weil er am optischen Prinzip haften bleibt und die innere Genese der Form, das aus dem Leiden heraus vollzogene Umsetzen und Umbilden nicht einbezieht. Diese Ein-Bildung, oder genauer, die an dieser Genese stets neu und anders beteiligten Stimmen, hat Beuys immer wieder in sogenannten „Partituren“ dargelegt, beispielsweise in der Partitur für Dieter Koepplin von 1969. In dem unteren der beiden Blätter finden wir unter dem Namen ‚Plastik‘ einander gegenübergestellt: das Unterbewusste, die chaotische oder amorphe Energie, den (unterstrichen) Willen auf der einen, und (ebenfalls unterstrichen) den Intellekt, die Idee, das Denken bzw. die Form auf der anderen Seite. Dazwischen – und dieses Zwischen scheint nichts anderes als die Welt der verschiedenen, vom Anorganischen über das Organische bis in die Geistigkeit übergreifenden Formen des Lebens zu sein – nennt Beuys ganz ähnlich wie Nietzsche: Bewegung, Rhythmus, Seele bzw. Empfinden, und hält fest: „die Substanz ist allein schon ein seelischer Prozeß“.4 „Ästhetik = Mensch“ oder „Plastik = Mensch“ oder „Plastik = Denken“ – mit solchen Gleichungen weist Beuys darüber hinaus darauf hin, dass Ästhetik und Plastik keine beliebigen Zutaten sind zu einem bereits vorhandenen Menschsein, sondern dieses selbst erst gewissermaßen hervorholen und bilden – vorausgesetzt, wir vernehmen in diesen Titeln die ursprünglichen Tätigkeiten der bis ins Vegetative durchdringenden aisthesis auf der einen, des Formens und Bildens auf der anderen Seite, und nicht die Titel disziplinärer Einrichtungen. Die Quelle von aisthesis und plastischer Kraft und damit die Quelle des Lebens überhaupt scheint dabei maßgeblich in der zunächst ganz richtungslosen Energie des Gestaltlosen, Prä- und Amorphen zu liegen, das in Beuys’ Arbeiten in Stoffen wie Wachs, Fetten, Teigigem und Flüssigem gegenwärtig ist, und das er (ganz wie Nietzsche) positiv fasst: „Ich sage euch: man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können“ (Z, KSA, 4, S. 18), heißt es im Zarathustra. Beuys spricht auch vom „heilsame[n] Chaos“, von der „heilsame[n] Amorphisierung in eine gewußte Richtung, die bewußt eine erkaltete, erstarrte Vergangenheitsform […] durch Auflösung erwärmt und [so] zukünftige Gestalt erst möglich macht“.5 Damit komme ich zu meinem dritten Schritt: Nihilismus (Sonnenfinsternis und Corona). 4 Beuys, zit. nach Schloss Moyland 2002, S. 19. 5 Beuys, zit. nach Beuys 1969, S. 11.
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3 Sowohl Nietzsche als auch Beuys gehen wie angedeutet davon aus, dass die dynamis tou paschein kai poiein bis in die tiefsten Regionen des Lebens greift und das Wachstum oder die Bildung von Materie gleichermaßen wie das von Gedanken und Werken, ja selbst das Werden des gesamten Kosmos umfasst. Dieser (unter Vorbehalt gesprochen) naturphilosophische Ansatz hängt jedoch aufs Engste zusammen mit einer Art geschichtsphilosophischer Lagebestimmung, die unsere Gegenwart berührt und der Nietzsche einen Namen gegeben hat: europäischer Nihilismus. Von dem geschichtlichen Ort her, von dem aus Nietzsche und Beuys sprechen, muss man also sagen: Die Ontologie als Reformulierung des Materialismus aus dem Geiste der Natur ist zugleich eine Reformulierung oder Revision der traditionellen Ontologie aus dem Geiste des Nihilismus. Beuys hat der Vielschichtigkeit dieser Situation in einer zweiteiligen Collage Ausdruck verliehen, die den Titel trägt: Sonnenfinsternis und Corona (1978). Was zeigt die Arbeit? Im oberen Teil sehen wir die seitenverkehrte Ansicht der Fotographie einer Radierung, die Hans Olde 1899, ein Jahr vor dem Tod des bereits seit zehn Jahren geistig umnachteten Nietzsche angefertigt hat. Darunter ist ein zweites Foto montiert, das ein verwüstetes Kontor oder Büro zeigt. Durch die leeren Fensterrahmen des Raumes sieht man die gegenüberliegende Hausfassade, auf der die Namen offensichtlich jüdischer Firmenbesitzer zu lesen sind. Auch hier sind die Scheiben herausgeschlagen, der Blick fällt in eine gähnende Leere. Beide Bilder sind je mit einem Papierlocher dreimal diagonal durchstanzt. Mit brauner Ölfarbe hat Beuys jedes dieser Löcher mit einer Art Strahlenkranz versehen. Betrachten wir zunächst den ersten Teil des Titels der Arbeit bzw. den in ihm fallenden Begriff der Sonnenfinsternis. Wenn wir an Beuys’ frühe Zeichnungen des Keimens, Werdens und Wachsens denken, die nichts wären ohne das Licht und die Erwärmung, sodann an Nietzsche, der in einem Brief an Georg Brandes notiert, er glaube „wie eine Pflanze glaubt, an die Sonne“ (KGB III/5, Nr. 1009) und der seinen Zarathustra mit den Worten enden lässt: „Dies ist mein Morgen, mein Tag hebt an […]“ (Z, KSA 4, S. 408), und wenn wir nicht zuletzt an die maßgebliche Rolle denken, die der Blitz, das Licht, der Tag in der abendländischen Metaphysik gespielt haben, dann kann der Titel, den Beuys dieser Arbeit gibt, gar nicht schwer genug genommen werden. Er markiert offensichtlich einen Ort, an dem diese Voraussetzungen des Lebens und damit dieses selbst in einer radikalen Weise fragwürdig geworden sind. Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang an die innerhalb von Beuys’ Wissenschaftskritik explizierte These, der Zustand der Vereisung und Kristalli-
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Abb. 1: Joseph Beuys „Sonnenfinsternis und Corona“, 1978; © VG Bild-Kunst, Bonn 2011
sation sei eine Konsequenz des analytischen Denkens, das mittels seiner Methodik der Reduktion das ‚Prinzip des Todes‘ herausgearbeitet habe. Seiner Herrschaft entsprechen nicht nur das Herausstellen der Natur als gesetzmäßige Materie und die hierdurch möglich gewordene Erfolgsgeschichte von Wissenschaft und Technik, sondern auch die atmosphärische Kälte, die Nietzsche im viel zitierten Aphorismus 125 der Fröhlichen Wissenschaft zum Ausdruck bringt: „Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? […]
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Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden?“ (FW, KSA 3, S. 481). Es geht Beuys aber nicht einfach darum, gegen das kalte, tödliche Prinzip des Denkens ein warmes, lebendiges Naturkontinuum geltend zu machen. Worauf er im Anschluss an Nietzsche hinweist, ist, dass die Geschichte der Wissenschaft als Geschichte der annihilierenden und materialisierenden Vernunft in eine Lage geführt hat, in der der Mensch, wie Beuys sagt, „knallhart in der Materie ankommt“ und erkennen muss, dass kein Gott, kein Gutes an sich, keine meta-physische Instanz, kein Gesetz ihn innerhalb dieser Materie berücksichtigt. Erst jetzt ist der Mensch „inkarniert“, d. h. in den Grundtext homo natura zurückgestellt, der, wie es im Belvedere-Blatt von 1942 hieß, „grenzenlos wuchert und überwuchert“ (zit. nach Hertl 2007, S. 76– 77), also in seinem ewigen Werden und Vergehen keine Rücksicht auf den Einzelnen, ja den Menschen überhaupt nimmt. Bei einer so massiven Form der Abkühlung kann es geschehen, dass in der Atmosphäre Wassertropfen gefrieren, die sich in ruhiger Luft parallel zueinander ausrichten. Das Sonnenlicht bricht sich dann durch sie in einer Weise, dass helle Ringe neben Sonne und Mond, sogenannte Nebensonnen am Himmel erscheinen. Gewähren sie Licht oder täuschen sie nur über die völlige Dunkelheit hinweg? Narren sie den Menschen, wie es im vorletzten Lied von Schuberts Winterreise heißt6 oder wenden sie das Erlöschen, die Verwüstung, die Liquidationen in einen neuen Anfang? Der Titel, den Beuys der Collage gibt, spricht von beidem: Sonnenfinsternis und Corona. Die Sonne, das täglich neu heraufziehende und den Tag herantragende Licht, wird verdunkelt bzw. entzieht sich. Mit ihr versinken nicht nur Umriss und Gestalt – die Möglichkeit (das Joch) des Sehens und Gesehenwerdens als Ganzes zerfällt. Im Moment dieses Entzuges jedoch entsteht das einen kurzen Augenblick dauernde Wunder der an den Rändern der sich verdunkelnden Sonne hervorbrechenden Corona, dem (hier durch die braune Ölfarbe dargestellten) Strahlenkranz der Protuberanzen, der dem scheinbar alltäglichen Sonnengestirn, von dem alles Wachstum und Leben auf dieser Erde abhängt, einen bisher nie gesehenen Glanz verleiht. Finsternis und Corona verhalten sich somit zueinander wie das Negativ und das Positiv einer Photographie: das eine hat das andere notwendig im Rücken, ja das eine gibt es ohne das andere nicht. Nietzsche hat die Auslotung des Nihilismus, der von der dionysischen, alle Grenzen niederreißenden „Bejahung“ bis zu den Massenvernichtungen des 6 „Drei Sonnen sah ich am Himmel stehn, hab lang und fest sie angesehn, und sie auch standen da so stier, als wollten sie nicht weg von mir. Ach meine Sonnen seid ihr nicht! Schaut andern doch ins Angesicht! Ja neulich hatt ich auch wohl drei: nun sind hinab die besten zwei. Ging nur die dritt erst hinterdrein! Im Dunkeln wird mir wohler sein!“ (Müller 1906, S. 121).
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letzten Jahrhunderts reicht, als das eigentliche „Experiment“ (FW, KSA 3, S. 471) verstanden, in das wir heute, maßgeblicher als in alle anderen Experimente und Projekte der Wissenschaften, hineinverfasst sind. Die schmerzvolle Suche nach einem „Ausweg“ und „Loch“, durch das man „in’s ‚Etwas‘ kommt“ (KGB III/5, Nr. 852), steht demnach in unmittelbarem Zusammenhang mit dem, was Nietzsche plastische Kraft nennt, also der Kraft, „aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen“ (UB II, KSA 1, S. 251). Diese Kraft (oder „Erfindsamkeit“, wie es im Eingangszitat hieß) bedarf nicht nur jenes in der 2. Unzeitgemäßen Betrachtung beschworenen „unhistorischen Elementes“, das von allem absehen und sich wie ein „blitzender Lichtschein“, ein „kleiner lebendiger Wirbel in einem todten Meere von Nacht und Vergessen“ (UB II, KSA 1, S. 253) wähnen kann – sie muss zugleich, wie Nietzsche sagt, „jener Traurigkeit fähig“ (MA I, KSA 2, S. 105) sein, die weiß, dass in jeden Aufgang der Untergang bereits eingezeichnet ist und dass er dennoch das volle Recht des Anfangs für sich in Anspruch nehmen kann. Diese Traurigkeit, mitsamt der ihr entspringenden Kraft, nährt sich dabei daraus, das „Bedürfniß des Zusammenhanges ahnen zu lassen!“ (KGB III/1, Nr. 143). Zu diesem „Bedürfniß“ schreibt er im Frühjahr 1887 an Peter Gast: „Sie empfinden, wovon meine sonstigen Leser keine Ahnung haben, ‚das Ganze‘, Sie sehen, daß es ein Ganzes giebt, Etwas, das wächst, zugleich, wie mir scheint, in die Erde hinein (hinab!) und hinaus in den blauen Himmel…“ (KGB III/5, Nr. 829). Der Beuys-Forscher Armin Zweite hat einmal darauf hingewiesen, dass der radikale ganzheitliche Ansatz von Beuys, der als „‚erweiterter Kunstbegriff‘ ontologische und auch ethische Kategorien miteinschließt, im Grunde auch innerhalb der heutigen Kunstbewegungen solitär dasteht“. Seine Bedeutung liege nicht zuletzt darin begründet, dass Beuys beabsichtigte, „gegen den seit Jahrzehnten andauernden Trend der Avantgardebewegungen den ursprünglichen, metaphysischen Anspruch der Kreativität […] einzulösen“.7 Worauf Zweite hinaus will, wird nicht zuletzt deutlich durch eine herausfordernde Rückfrage, die Beuys einmal in einem Interview stellt und mit der ich meine Ausführungen beenden möchte. Sie lautet: „Warum beschäftigt sich jeder so sehr mit Duchamp? Wieso hat keiner ein bißchen länger über […] Nietzsche nachgedacht?“8
7 Zweite 1986, S. 9 (Hervorh. C. N.). 8 Beuys, zit. in Zweite 1986, S. 77.
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Bibliographie Beuys (1969): Joseph Beuys – Werke aus der Sammlung Karl Ströher (Katalog zur Ausstellung des Kunstmuseums Basel, 16. November1969–4. Januar 1970). Basel. Bunk, Renate L. (1991): Natur und Kunst bei Leonardo da Vinci, Paul Klee und Joseph Beuys. Zum Selbstverständnis künstlerischer Produktion und seiner Relevanz für ästhetische Erziehung. Dortmund. Harlan, Volker/Koepplin, Dieter/Velhagen, Rudolf (Hrsg.) (1991): Joseph Beuys-Tagung (Basel 1. – 4. Mai 1991). Basel. Hertl, Michael (2007): Der Mythos Friedrich Nietzsche und seine Totenmasken. Optische Manifeste seines Kults und Bildzitate in der Kunst. Würzburg. Müller, Wilhelm (1906): Gedichte von Wilhelm Müller. Vollständige kritische Ausgabe, bearbeitet von James Taft Hatfield. Berlin. Schloss Moyland (2002): Paul Klee trifft Joseph Beuys. Ein Fetzen Gemeinschaft. Hrsg. von der Stiftung Museum Schloss Moyland, Sammlung van der Grinten. Joseph Beuys Archiv des Landes Nordrhein-Westfalen. Vischer, Theodora (1983): Beuys und die Romantik – individuelle Ikonographie, individuelle Mythologie? Köln. Zweite, Armin (Hrsg.) (1986): Beuys zu Ehren (Katalog zur Ausstellung der Städtischen Galerie im Lenbachhaus München, 16. Juli – 2. November 1986). München. Zweite, Armin (1991): „Die plastische Theorie von Joseph Beuys und das Reservoir seiner Motive“. In: Joseph Beuys. Natur, Materie, Form (Katalog zur Ausstellung der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, 30. November 1991–9. Februar 1992). München, Paris, London, S. 11–19.
Jutta Georg-Lauer
Zarathustra in der Oper Nietzsches Einfluss auf die Komponisten der klassischen Moderne, auf Richard Strauss, Franz Schreker und Gustav Mahler war außerordentlich. Zu nennen ist hier an erster Stelle seine Zarathustradichtung, aber auch Reflexionen über ein Jenseits von Gut und Böse, der Topos des Übermenschen, der Willensbegriff, die Bejahung von Stärke und Schönheit und der Topos vom Antichrist. Vorausgeschickt werden muss, dass es sich hierbei nicht um affirmative Adaptationen oder klischierte Intonierungen von Nietzsches Philosophie handelt, sondern um eigenwillige Kompositionen, deren Motivation und Anregung sich Nietzsches Denken verdanken, dessen Erkenntnisse und Reflexionen wie ein Vulkan in der Künstlerszene der Gründerzeit einschlugen. So sind die postwagnerianischen Komponisten zwar noch sehr nachhaltig von Richard Wagner beeinflusst, aber auch von Nietzsche fasziniert, und nicht zuletzt durch sein Denken zu Kompositionen angeregt worden. Sie haben damit die alten Antipoden Nietzsche und Wagner versöhnt, sehr zum Missfallen von Cosima Wagner, die auf Strauss’ Nietzsche Schwärmerei mit eisigem Schweigen reagierte. Auch bei Gustav Mahler, dessen Kunst von Bruno Walter in den Begriffen des Apollinischen und des Dionysischen gefasst wurde, letzteres manifestiert sich in einer grenzenlosen Fantasie und als Neigung zum Exzess, ist Nietzsches Einfluss schon in den frühen Liedern zu spüren und zeigt sich ebenso in den Symphonien. Nietzsches Ausbuchstabierung des Genius als eines großen Menschen, der ganz er selbst und eines freien Sinnes ist, trifft uneingeschränkt auf Gustav Mahler zu. Daneben gibt es den Bezug zu Siegfried Lipiner, von dem Nietzsche beeindruckt war und der einer der engsten Freunde Gustav Mahlers gewesen ist. In Mahlers dritter Symphonie erklingt Nietzsches NachtwandlerLied: „Oh Mensch! Gieb Acht! / Was spricht die tiefe Mitternacht? / Ich schlief, ich schlief –, / Aus tiefem Traum bin ich erwacht: – / Die Welt ist tief, Und tiefer als der Tag gedacht. / Tief ist ihr Weh –, / Lust – tiefer noch als Herzeleid: / Weh spricht: Vergeh! / Doch alle Lust will Ewigkeit –, / – will tiefe, tiefe Ewigkeit!“ (Z, KSA 4, S. 404)
Über dieses Werk sagt Mahler, er habe etwas komponiert, was die Welt noch nicht hörte und damit der Natur (der dionysischen) eine Stimme gegeben. Und wer würde sich da nicht sofort an Nietzsches Ausspruch erinnern, mit dem Zarathustra der Welt etwas Unvergleichliches, das größte Geschenk, gemacht zu haben. Ursprünglich wollte Mahler seine dritte Symphonie „Die fröhliche Wissenschaft“ nennen, wiewohl hier nicht nur Gedanken aus diesem Werk und
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aus Also sprach Zarathustra, sondern auch aus der Die Geburt der Tragödie Eingang fanden. Die Einleitung zum ersten Satz lässt den Hörereindruck von Naturlauten sehr nahe sein und daraus entwickelt er eine Art Stufenfolge zu immer höheren Exemplaren: Blume, Tier, Mensch, bis zum Übermenschen. Die Einleitung symbolisiert eine aggressive Sommerhitze, eine gleißende Glut, in der jede Bewegung erstickt ist, alles scheint angehalten zu sein. Das Adagio beginnt mit Nietzsches Nachtwandler-Lied. Anders als bei Strauss’ Vertonung des Zarathustra ist die musikalische Umsetzung hier impressionistisch verhalten, jedenfalls nicht expressiv und dass alle Lust Ewigkeit will, wird mit einer Notenführung verbunden, die um die Vergeblichkeit dieses Wollens weiß. Über Jahrzehnte hinweg, beginnend mit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, wurde Franz Schreker ein tönender Illusionismus vorgeworfen; er wurde als Komponist eines Illusionsklanges abqualifiziert. Dagegen verkörpert sein Meisterwerk Die Gezeichneten ein antithetisches Element, eine Desillusionierung der Illusion, ja sogar eine Negation von Kunst, als einer tragfähigen Gegenwelt zur Realität. Der Klang dieser Oper tönt in einer eindringlich expressiven Weise von der Lust, die Ewigkeit will und offenbart dabei den Konflikt zwischen Trieb und Triebverdrängung. Schreker rührt mit seiner Oper am irrational triebhaften Untergrund der menschlichen Psyche, ihren libidinösen, aber auch destruktiven Emanationen. Kompositorisch steht der Klang, den Schreker als „schönheit- und unheilbringender Lebenstrieb, als verführerische, berauschende, neu schaffende Sinnmacht“ (Bekker, Schreker 1919, S. 26) klassifiziert im Zentrum des Kunstwerks. Bei dem Terminus Lebenstrieb werden wir nicht nur an Schopenhauer und Freud, sondern auch an Nietzsches Philosophie des Willens zur Macht erinnert. Schreker intoniert und symbolisiert den Lebenstrieb durch einen amorphen Klang, der vor allem der Figur des Alviano leitmotivisch zugedacht ist. Eine dionysische Steigerung erfährt er als überschwemmendes und fortreißendes, ozeanisches Klangszenario in den Szenen zwischen Alviano und Carlotta. Auch die Kunst – so Schrekers Botschaft in Die Gezeichneten – ist kein Rettungsanker vor der Übermacht der Triebe; vielmehr ist es der Tatmensch Tamare, der sich das anzueignen vermag, was dem Künstler verschlossen bleibt. Im Zentrum des Geschehens stehen die schicksalhaften Verflechtungen zwischen dem hässlichen, zwergenhaften Aristokraten Alviano, der Malerin Carlotta, die durch ihre Herzkrankheit eine Gezeichnete ist und dem Dionysiker Vitelozzo Tamare. Ihre Gemeinsamkeit besteht in ihrem Luststreben, das vor allem bei Alviano und Tamare als unbändiges auftritt. Carlotta versucht ihren Trieb durch ihre Malerei zu sublimieren, muss jedoch die Vergeblichkeit dieses Ansinnens erkennen. Ihre Neigung zu Alviano kann nicht sinnlich gelebt werden, weil er in der Situation, in der alles möglich ist, einen Rückzieher macht.
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Befriedigung und Glück findet sie allein in der sexuellen Vereinigung mit Tamare, der den Gegensatz von Geist und Humanität verkörpert, ein gnadenloser Eroberer ist, ein Triebtäter, der direkt auf sein Ziel zugeht und gewohnt ist, immer zu gewinnen, und so gewinnt er auch Carlotta: Ihre Lippen baten um Schonung; stammelten wirr das uralte Lied angstvollen Sich-Wehrens. Doch ihre Augen flehten um Lust. Aus ihrem Munde rang sich los ein qualvoll Bekenntnis; Angst und Entsetzen – doch in den Augen, wild unbändig, sprühten die Funken entfachter Begierde. Endlich brach es sich Bahn: Größer als Du – schuf sie sich frei. Dem glitzernden Tanz in den lachenden Augen gesellte sich wild ihrer Lippen toll = trunkener Sang: ‚Gib Tod‘ jauchzte ihr Blick – ‚Gib Glück!' gierte ihr Wort. (Schreker 1920, S. 80–81)
Alviano gegenüber rechtfertigt er sein Tun mit den Worten:– „Weiß nicht, was da höher zu werten ist – ein freudlos Leben, ein langsam Siechen – oder ein Tod in Rausch und Verklärung, in brünst’ger Umarmungen ein selig Sterben!“ (Schreker 1920, S. 80–81). Am Ende tötet ihn Alviano, der dem Wahnsinn verfällt, ohne dass Tamare seinen Verrat bereuen würde. In dem Moment, in dem Alviano wahnsinnig wird, erklingt das Sehnsuchtsmotiv des Vorspiels und symbolisiert die Suche des Gezeichneten nach der Verschmelzung. Carlotta stirbt in den Armen Tamares, bereichert durch die Erfahrung höchsten Glücks. In Richard Strauss’ Komposition Also sprach Zarathustra – Tondichtung frei nach Nietzsche werden die verschiedenen Entwicklungsstufen eines freien Geistes kompositorisch umgesetzt, jene Stufen, die durchlaufen werden müssen, um zum Übermenschen zu gelangen. Aber nicht allein auf Strauss und Mahler hatte Nietzsches Zarathustra eine faszinierende Wirkung, auch auf Arnold Schönberg, Emil Nikolaus, von Reznicek, Frederic Delius, Carl Orff und viele andere haben sich mit dieser Dichtung auseinandergesetzt. Nietzsches Zarathustra besticht durch einen kompositorischen Sprachmodus, eine emotionale Rhetorik, die Melodie der dichterischen Metapher, und man kann eine gewisse Nähe zu Lied, Gesang und Hymnus feststellen. Wie sehr Strauss’ Tondichtung sich an Nietzsches Schrift anlehnt, wird schon zu Beginn deutlich, weil sie mit dem Abstieg Zarathustras von seiner zehnjährigen Einsamkeit im Gebirge hinunter zu den Menschen – hörbar durch Trommelwirbel, ein Tremolo in den Kontrabässen und einem Trompetensignal beginnt. Die Untertitel der Symphonie stammen alle aus Nietzsches Schrift: Von den Hinterweltlern, umgesetzt durch einen deprimierenden Musikeindruck. In Von der großen Sehnsucht sprengt die Musik den Choral und tönt als aufwärtsstrebende Dynamik. Von den Freuden und Leidenschaften wird von Straus in c-Moll ausgedrückt: Die Instrumentierung changiert zwischen Violoncelli und Violinen und kulminiert in einem vulkanischen Ausbruch, bis sie abklingend in Das Grablied einmündet. In einem Wechsel von h-Moll zu fis-Moll wird die Trauer ausgedrückt, weil
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Zarathustra hier die „Gräber seiner Jugend“ besingt. In Von der Wissenschaft zeigt Strauss über eine Vereinigung divergenter Tonarten in einer Zwölftonmelodie die Wissenschaft durch eine mehrstimmige Verarbeitung der Melodie. In Der Genesende blüht die Musik zu einer expressiven Klangfülle auf und verkörpert so die Entwicklung hin zur Genesung. Das Tanzlied ist ein schwungvoller Walzer, der in Strauss’ Zeit nicht zuletzt für Erotik und Begierde stand. Das Nachtwanderlied, im Zarathustra eine Metapher für das Unstillbare und Ungestillte, wird bei Strauss als Gegenüberstellung von c-Dur- und h-Dur-Klängen ausgedrückt, mit einem offenen Schluss, weil die Natur und der Mensch nicht versöhnt werden können, kompositorisch umgesetzt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Strauss in seinem Zarathustra den Übermenschen nicht als einen brutalen Helden zeigt, sondern als einen, der zu lachen versteht und sich distanziert und ironisch auf die Welt einlässt. Innerhalb des musikalischen Ablaufs nimmt Der Genesende eine Sonderstellung ein. Strauss vertont hier Zarathustras Zusammenbruch und seine Wiedergenesung, und setzt als Endpunkt eine Generalpause, worauf im zweiten Teil, nach Zarathustras Genesung, ein tänzerischer Rhythmus dominiert. Wenn wir auf die Einleitung schauen, treffen wir auf ein Leitmotiv, das wie ein musikalischer Markenname die Konzertsäle erobert hat und Filmgeschichte schrieb. Es besteht aus einer plakativen Symbolik mit einer ungeheuren Suggestivwirkung in der Klangentfaltung, die ins Gigantische gesteigert einen impulsiven Rhythmus und eine expressive Formgestaltung aufweist. In diesem Anfang ist gut hegelisch die gesamte Thematik der Symphonie schon enthalten, und sie passt sich mimetisch, wie ein maßgeschneidertes Kleid, an die Textur des Zarathustra an. Die Musik verkündet einen konvulsivischen Aufbruch, ein nicht endendes dynamisches Geschehen, einen überwältigenden Sog, mit dem alle Zeichen noch einmal auf Anfang gestellt werden. Strauss setzt nicht mehr und nicht weniger als Nietzsches Topos vom „grossen Mittag“ musikalisch um und macht damit Nietzsches ekstatische Kraftmetaphorik und sein emphatisches Sprachspiel in einer extensiven Tonsprache passgenau hörbar. Strauss hat das Wechselspiel zwischen dem Vertreter des Dionysischen und dem der ewigen Wiederkunft des Gleichen in verschiedenen Tonarten gefasst, was zu einer bipolaren Totalitätsstruktur im Werk führt.1 1 „Eines der wichtigsten der werkkonstituierenden Merkmale der Zarathustra-Vertonung ist der zweiteilige Formaufbau, der durch eine Art ‚Rahmenhandlung‘ verklammert wird: Die Einleitung dient dazu, das Individuen und damit das Künstler-Ego, in dessen Inneren sich die Konflikte abspielen, als Trägerfigur vorzustellen, der Epilog gibt dem Komponisten Gelegenheit, mit einem Kommentar zur Tondichtung selbst zu Wort zu kommen. Die Generalpause, in der sich der Zusammenbruch des Protagonisten manifestiert, fungiert in ihrer peripetischen Funktion als dramaturgische Schlüsselstelle, an der sich der Durchbruch zum Dionysischen vollzieht. Der zweistufige Aufbau, der sich als Vision (Kampf um die Freiheit) und Realisation
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Kommen wir zum Topos des Antichristen, der nicht erst in Strauss’ Alpensymphonie hörbar wird, sondern schon in seinem Zarathustra. Anders als bei Nietzsche, ist bei Strauss das Antichristliche nicht zwingend das Antireligiöse, es benennt Freiheit und Selbstverantwortung. Und so war ihm Nietzsche der Garant für eine künstlerische Haltung, die eine rückhaltlose Freiheit und Selbstbestimmung gegen ein restauratives, hemmendes Philistertum vertritt. Ihn faszinierte Nietzsches authentische Radikalität, und er erkannte in ihm den geistverwandten Aristokraten. Strauss hatte zunächst den Plan, seine Alpensymphonie „Antichrist“ zu nennen, um damit ihre Thematik einer sittlichen Selbstreinigung und einer Anbetung der Natur in einer nietzscheanischen Semantik auszudrücken. Im Mittelpunkt steht der Auftrag das Christentum zu überwinden, von daher liegt die Überschrift „Antichrist“ nahe. Gegen das Christentum setzt er eine Verehrung von Natur und Arbeit. Symbolhaft für den Aufstieg des Menschen ist die Bergbesteigung musikalisch als Fuge ausgedrückt. Strauss thematisiert eine pastorales Naturidyll: Jagd, Wald, Wasserfall, blumige Wiesen. Am Ende auf dem Gipfel steht der Höhenmensch und erinnert uns an Nietzsches Übermenschen. Der Musik von Strauss gelingt es, die Vision von Größe und Freigeistigkeit des Übermenschen expressiv auszudrücken und weiß sich damit mit der Szenographie von Nietzsches Zarathustrakomposition eins. Nichts schätzte Nietzsche höher als die Musik: Sie sei eine heilige Kunst, mache den Geist frei und gebe den Gedanken Flügel: ‚dass man umso mehr Philosoph wird, je mehr man Musiker wird‘. Seine Einsicht, dass alle Lust Ewigkeit, tiefe, tiefe Ewigkeit will, ist allein in der Musik, im Rausch, im dionysischen Rausch auszudrücken. Ein Prozess, der die Individualität aufsaugt, denn sie besteht nicht zuletzt in dem unendlichen Genuss der Verschmelzung mit dem Gefühl der Lust, in der Vereinigung, die weder Norm noch Moral, Anfang noch Ende, Raum und Zeit kennt. Und darum wäre ohne Musik das Leben ein Irrtum, wie Nietzsche es wusste. Weil diese Lust, durch die Musik hervorgerufen, ein bis aufs Äußerste gesteigertes Erleben ermöglicht, das ohne diese Stimulation eine existenzielle Erfahrung verlöre. Mit Musik ist bei Nietzsche auch der Tanz assoziiert, als eine vollständige Entäußerung und Selbstüberwindung, eine uneingeschränkte Bejahung phy(Erreichen der Freiheit) begreifen läßt, bringt eine musikalische Architektur hervor, die dem traditionellen viersätzigen Schema der Symphonie und der Dreiteiligkeit des Sonatensatzes zutiefst widerspricht. Denn Strauss geht es um die lineare symphonische Entwicklung, um den Vollzug eines unaufhaltsam dem abschließenden Kulminationspunkt zustrebenden Prozesses, der mit reprisenartigen Gestaltungsweisen, kontrastierender Mehrsätzigkeit und anderen herkömmlichen Formprinzipien nicht mehr zu realisieren war“ (Liebscher 1994, S. 90).
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siologischer Potenzen. Und schon sind wir bei den Figuren der Salome und Elektra, den Protagonistinnen der Opern von Richard Strauss, für deren Dramaturgie der Tanz eine exklusive, nicht substituiere Bedeutung hat. In der Salome, eine Literaturvertonung des Dramas über das Unbewusste und seiner Kräfte von Oscar Wilde, stehen sich erotisches Verlangen und dekadenter Voyeurismus gegenüber. Sie beginnt ohne Vorspiel mit einer Sentenz Narraboths, der die Schönheit Salomes beschwört. In diesem Satz werden Verführung und Verheißung, Versuchung und Verfall ausgedrückt; die Schönheit steht für Sieg und für Niederlage. All das ist inkarniert in der souveränen Sinnlichkeit der Kindfrau Salome, die unerhört in den Propheten Jochanaan verliebt ist: Jochanaan! Ich bin verliebt in deinen Leib, Jochanaan! Dein Leib ist weiß wie die Lilien auf dem Felde, von der Sichel nie berührt. Dein Leib ist weiß wie der Schnee auf den Bergen Judäas. Die Rosen im Garten von Arabiens Königin sind nicht so weiß wie dein Leib, nicht die Rosen im Garten der Königin, nicht die Füße der Dämmerung auf den Blättern, nicht die Brüste des Mondes auf dem Meere, nichts in der Welt ist so weiß wie dein Leib. Laß ihn mich berühren deinen Leib! (Strauss 1933, S. 15)
Salome überzieht die Natur mit sexuellen Metaphern, die Brüste des Mondes, um ihre Begierde zu Jochanaan auszudrücken, zu seinem weißen Leib, der für die Unschuld steht, ihn will sie durch ihre Begierde beflecken, seine Reinheit soll unrein werden; sie will ihn sexualisieren. Aber Jochanaan lässt sich nicht auf ihr Spiel und ihre Forderung, seinen Mund zu küssen, ein: Tochter der Unzucht, es lebt nur Einer, der dich retten kann. Geh‘, such ihn. Er ist in einem Nachen auf dem See von Galiläa und redet zu seinen Jüngern. Knie nieder am Ufer des Sees, ruf ihn an und rufe ihn beim Namen. Wenn er zu dir kommt, und er kommt zu allen, die ihn rufen, dann bücke dich zu seinen Füßen, daß er dir deine Sünden vergebe! (Strauss 1933, S. 17)
Salomes Erwiderung besteht in der Erneuerung ihrer Forderung den Mund des Jochanaan zu küssen, worauf er ihr entgegen schreit: „Ich will dich nicht ansehen. Du bist verflucht, Salome du bist verflucht“ (Strauss 1933, S. 17). Dieser Prophet, der auch ein Erlöser ist wie Zarathustra, sagt bei seinem ersten Auftritt: „Nach mir wird Einer kommen, der ist stärker als ich“ (Strauss 1933, S. 6). Der Kommende wird ein Rächer sein. Diese Prophezeiung lässt die Dekadenten Herodes und Herodias erzittern. Und diese Stärke, die übermenschlich ist, lässt uns an die des Übermenschen denken. Der Bitte ihres Stiefvaters Herodes den Tanz der sieben Schleier zu tanzen, entspricht Salome, um danach jeden Wunsch von ihm erfüllt zu bekommen. Und so fordert sie den Kopf des Jochanaan auf einem Silbertablett, um ihn zu küssen, nachdem er sich ihr verweigert hatte:
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Ah! Warum hast du mich nicht angesehen, Jochanaan? Du legtest über deine Augen die Binde eines, der seinen Gott schauen wollte. Wohl! Du hast deinen Gott gesehen, Jochanaan, aber mich hast du nie gesehen. Hättest du mich gesehen, du hättest mich geliebt! Ich dürste nach deiner Schönheit. Ich hungre nach deinem Leib. Nicht Wein noch Äpfel können mein Verlangen stillen … Was soll ich jetzt tun, Jochanaan? Nicht die Fluten noch die großen Wasser können dieses brünstige Begehren löschen…Oh! Warum sahst du mich nicht an? Hättest du mich angesehen, du hättest mich geliebt. Ich weiß es wohl, du hättest mich geliebt. Und das Geheimnis der Liebe ist größer als das Geheimnis des Todes […]. (Strauss 1933, S. 35)
Mit diesem Bekenntnis am Ende der Oper stellt Salome die Liebe über alle anderen Mächte, namentlich über die des Glaubens. Erlösung findet das Individuum allein in der Erfüllung der fleischlichen Begierde, nicht in der Natur, nicht in der Religion, nur in einem dionysischen Ja zu den Leidenschaften. Jochanaan und Salome haben übermenschliche Züge, während der ängstliche Herrscher Herodes und seine Frau Herodias für Dekadenz stehen. Salome hat die Botschaft der Liebe und Jochanaan die des Erlösers, und beide sind zu Opfern und Selbstopfern fraglos und klaglos bereit. Der Tanz, von dem Zarathustra sagt, er sei die höchste Erfüllung des neuen Menschen und des neuen Geistes in seiner Leichtigkeit, Eleganz und Sinnlichkeit, wird von Salome verkörpert. Schon zu Beginn der Oper sagt Narraboth: „Sie ist sehr seltsam. Wie eine kleine Prinzessin, deren Füße weiße Tauben sind. Man könnte meinen, sie tanzt“ (Strauss 1933, S. 5). Im Tanz, in dem Salome Jochanaans Kopf durch die Luft schwenkend, zeigt sich die unentrinnbare Verklammerung von Liebe und Tod als ein archaisches Symbol. Er ist die dramaturgische Wende der Oper. Strauss hat für die Oper eine vibrierende, irisierende Musik komponiert, die von Anbeginn mehrdeutig ist und die Botschaft des Todes in sich trägt. Der Tanz, als Inkarnation von Leidenschaft und Extase, wird in einer fremden Harmonik und über bizarre Kadenzen ausgedrückt. Der Tanz Salomes ist ein erotisch-exhibitionistischer Totentanz. Salome, als Oper des Unbewussten, zeigt die Psyche des Menschen als Signatur der nicht steuerbaren Triebe und Leidenschaften, die zum Untergang ziehen. In Nietzsches Semantik zeigt sie die Dynamik des Willens zur Macht als ewige Wiederkehr des Gleichen. Auch Elektra tanzt. Sie tanzt sich in den Tod. Strauss erkannte in dem antiken Stoff eine Parabel auf die Gegenwart, auch hier, wie bei der Salome, treffen wir auf ein psychologisches Drama der Begierden und Albträume, vom Unbewussten inszeniert. Und wie die Salome beginnt die Elektra ohne ein Vorspiel. Sie beginnt mit bedrohlichen von der Pauke erzeugten Schlägen, und durch das tiefe B der Bassklarinette wird eine dämonische Atmosphäre erzeugt. Elektra will den Mord ihrer Mutter an ihrem Vater Agamemnon rächen, und so jubelt sie:
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Vater! Agamemnon! dein Tag wird kommen! […] dann tanzen wir, dein Blut rings um dein Grab: und über Leichen gehen werd‘ ich das Knie hochheben, Schritt für Schritt, und die mich werden so tanzen sehn, ja, die meinen Schritt von weitem nur so werden tanzen sehn, die werden sagen: einem großen König wird hier ein großes Prunkfest angestellt. (Strauss 1936, S. 14–15)
Gleichsam wie eine Bebilderung von Nietzsches Rauschmetaphorik des Dionysischen werden im Tanz der Elektra der Wahnsinn, die Hysterie und die Rache ausgedrückt, in Strauss’ Musik als ein gesteigerter Reigen im Sechsachteltakt. Als Gegenspielerin des Dionysischen, als Vernunftwesen, treffen wir auf Chrysothemis, Elektras Schwester – sie will das Erlebte verdrängen. Aber Elektra mahnt sie an ihre moralische Pflicht das Verbrechen zu sühnen. Klytämnestra hat vor ihrer Tochter Elektra große Angst, und Elektra prophezeit ihr Rache: Was bluten muß? Dein eigenes Genick, wenn dich der Jäger abgefangen hat! Ich hör’ ihn durch die Zimmer gehen, ich hör‘ ihn den Vorhang von dem Bette heben: wer schlachtet ein Opfertier im Schlaf? Er jagt dich auf, schreiend entfliehst du, aber er, er ist hintendrein: er treibt dich durch das Haus! Willst du nach rechts, da steht das Bett! Nach links, da schäumt das Bad. […] Da steh ich vor dir, und nun liest du mit starrem Aug’ das ungeheure Wort, das mir in mein Gesicht geschrieben ist: Erhängt ist dir die Seele in der selbstgedrehten Schlinge, sausend fällt das Beil, und ich steh da und seh dich endlich sterben! Dann träumst du nicht mehr, dann brauche ich nicht mehr zu träumen. und wer dann noch lebt, der jauchzt und kann sich seines Lebens freun. (Strauss 1936, S. 31 ff.)
Diese Botschaft der Elektra kann als eine tragische Bejahung im Sinne Nietzsches, als Ausdruck ihres Amor Fati verstanden werden – zuerst die Rache und dann das Leben, das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Elektra fragt Klytämnestra, ob der Grund für ihre Angst die erwartete Rache durch ihren Bruder Orest sein könnte? Die Mutter behauptet, der würde seit langem an einem fremden Ort leben, was eine falsche Annahme ist. Orest kommt zurück und offenbart sich Elektra, er tötet Mutter und Stiefvater und Elektra tanzt: Ob ich nicht höre? ob ich die Musik nicht höre? sie kommt doch aus mir. Die Tausende, die Fackeln tragen und deren Tritte, deren uferlose Myriaden Tritte überall die Erde dumpf dröhnen machen, alle warten auf mich: ich weiß doch, dass sie alle warten, weil ich den Reigen führen muß, und ich kann nicht, der Ozean, der ungeheure, der zwanzigfache Ozean begräbt mir jedes Glied mit seiner Wucht, ich kann mich nicht heben. […] Alle müssen herbei! hier schließt euch an! Ich trage die Last des Glückes, und ich tanze vor euch her. (Strauss 1936, S. 61 ff.)
Durch ihre Rache an der Mutter und ihren Tanz, der unaufhaltsam ihre Selbstauslöschung bringt, die sie bejaht, hat sie eine Vorbildfunktion. In der Liebe zu ihrem Schicksal, zu ihrem Auftrag ist sie eins geworden mit den Mächten
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der Natur. Amor Fati, das sei eure Botschaft, so Nietzsche. Und in diesem Tanz der Elektra bewahrheitet sich Zarathustras Sentenz: Nur im Tanz weiß ich der höchsten Dinge Gleichnis zu reden. Als einen göttlichen Tänzer, der sich im Rausch dem Gefühl der höchsten Machtsteigerung hingibt, der eins ist mit dem kosmischen Geschehen und dessen elaborierten Modus genießt, sieht Nietzsche Dionysos. Nach einer Regieanweisung Hofmannsthals für Elektras Tanz schreitet sie „[…] von der Schwelle herunter. Sie hat den Kopf zurückgeworfen wie eine Mänade. Sie wirft die Knie, sie reckt die Arme aus, es ist ein namenloser Tanz, in welchem sie nach vorwärts schreitet“ (Strauss 1936, S. 63). Am Ende dieses Tanzes, dessen Namenlosigkeit Strauss in ungebändigten Sechsviertel Rhythmen umgesetzt, bricht Elektra zusammen. Die musikalische und szenische Gewalt, die blutrünstig veristische Dramatik dieser Oper führten zu einer ambivalenten, ja negativen Aufnahme beim Publikum. Ganz anders als bei der Salome, die ein Riesenerfolg war. Vielleicht wurde die Parabel auf die Gegenwart, die Strauss in dem antiken Stoff erkannte, von Unterbewusstsein der Kritiker nur zu gut erfasst.
Bibliographie Bekker, Paul/Schreker, Franz (1919): Studie zur Kritik der modernen Oper. Berlin. Liebscher, Julia (1994): Richard Strauss Also sprach Zarathustra. Tondichtung (frei nach Friedr. Nietzsche) für großes Orchester op. 30. München. Schreker, Franz (1920): Die Gezeichneten (Textbuch). Wien. Strauss, Richard (1933): Salome. London. Strauss, Richard (1936): Elektra. London.
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Dass der Mensch zum Kunstwerk wird Nietzsches Einfluss auf den modernen Tanz: von Isadora Duncan zu Pina Bausch Der Denker, so wie Kierkegaard ihn in seiner Erzählung Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est beschreibt, schwankt zwischen zwei Stimmungen: einer fröhlichen und einer schwermütigen. Der Philosoph ist derjenige, der manchmal wie ein Tänzer läuft „sein Gang [war] leicht, beinahe schwebend“, die andern Male aber eher melancholisch, angstvoll und verzweifelt fortschreitet. Bei Nietzsche finden wir eine ähnliche Konstellation: Obwohl er gerade diesen melancholischen, pessimistischen Moment zu überwinden strebt, weiß er auch, dass dieser sich nicht gänzlich vermeiden lässt. Ganz im Gegenteil; allein Zarathustra wäre ohne seine „[s]tillste Stunde“ völlig undenkbar, genauso wie die „große“ bzw. „neue Gesundheit“ ohne die Krankheit unerreichbar bleibt. Es ist eben so, wie Nietzsche in seinen nachgelassenen Fragmenten schreibt: „[B]evor man tanzen lernt, muß man gehen lernen“ (NL, KSA 10, S. 577). In der DW vergleicht Nietzsche den Tänzer mit dem instinktiven Dichter und dem dionysischen Menschen, die weder von einer umschleiernden Schönheit geblendet werden, noch die rohe Wahrheit tragen, sondern in einer „Mittelwelt zwischen Schönheit und Wahrheit“ schweben (DW, KSA 1, S. 567). Der Tänzer ist also derjenige, der: „[…] über die Schönheit hinaus [geht] und […] doch die Wahrheit nicht [sucht]. […] Er strebt nicht nach dem schönen Schein, aber wohl nach dem Schein, nicht nach der Wahrheit, aber nach Wahrscheinlichkeit“ (DW, KSA 1, S. 567). Das heißt, mit der Figur des Tänzers scheint Nietzsche gerade diejenigen zu bezeichnen, die einen Weg gefunden haben, die Schwere des dunkelsten und tiefsten Gedankens zu überwinden, jedoch ohne sie dabei völlig zu verkennen. Die Wahrheit des Silen, dass das Beste, was dem Menschen hätte passieren können, gewesen wäre, gar nicht erst geboren zu werden, lässt sich auch als Tod Gottes oder als radikaler Relativismus formulieren, so dass der Tänzer derjenige ist, der den Nihilismus zu ertragen und zu überwältigen weiß. Zarathustra wird als Tänzer von dem Greis im Walde wiedererkannt, und er behauptet sein „A und O“ sei, „dass alles Schwere Licht, aller Leib Tänzer […] werde“ (Z, KSA 4, S. 291). Und indem es für eine gewisse Form von Denken, Leben und Fühlen steht, bezeichnet das Tanzen dasjenige, was Zarathustra dem Menschen beibringen will. Oder anders gewendet, das Tanzen ist Ausdruck für das dionysische noch einmal, wie Nietzsche in EH schreibt:
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Zarathustra ist ein Tänzer – ; wie der, welcher die härteste, die furchtbarste Einsicht in die Realität hat, welcher den »abgründlichsten Gedanken« gedacht hat, trotzdem darin keinen Einwand gegen das Dasein, selbst nicht gegen dessen ewige Wiederkunft findet, – vielmehr einen Grund noch hinzu, das ewige Ja zu allen Dingen selbst zu sein, „das ungeheure unbegrenzte Ja- und Amen-sagen“ … (EH, KSA 6, S. 345)
Doch das Tanzen an sich ist nicht nur für Zarathustra wichtig, sondern kann auch als eine der entscheidendsten Metaphern verstanden werden, die Nietzsches eigenes Philosophieren erfasst und bestimmt. Denn das Denken, so Nietzsche, muss gelernt werden; es muss geübt werden, und zwar „als eine Art Tanzen“( GD, KSA 6, S. 109). Die Tatsache, dass Immanuel Kant das Tanzen von dem von ihm vorgeschlagenen Erziehungsplan ausschloss, ist sicherlich nicht unbedeutend, wenn Nietzsche schreibt: – Man kann nämlich das Tanzen in jeder Form nicht von der vornehmen Erziehung abrechnen, Tanzenkönnen mit den Füssen, mit den Begriffen, mit den Worten; habe ich noch zu sagen, dass man es auch mit der Feder können muss, – dass man schreiben lernen muss? – Aber an dieser Stelle würde ich deutschen Lesern vollkommen zum Räthsel werden … (GD, KSA 6, S. 110)
Indem Nietzsche das wünschenswerte Denken mit einer Art Tanzen vergleicht (im klaren Gegensatz zu einem reinen Gehen oder Fortschreiten), scheint er eine, von den konventionellen Argumentationsmustern befreite Form von Denken, Schreiben und Philosophieren zu verlangen, die jene Schwere (sowohl die inhaltliche – den Nihilismus – als auch die stilistische „Schwere und dialektische Unlustigkeit des Deutschen“, GT, KSA 1, S. 14) ständig zu überwinden versucht. Das Denken muss auch ein Denken über und ein Spielen und Tanzen mit den kleinsten Nuancen, mit der Vieldeutigkeit und der Lebendigkeit der Sprache sein. Auf diese Art und Weise ist es der Philosophie als einer plumpen Folge von Begriffen radikal entgegengesetzt. Gleichzeitig verweist Nietzsche darauf, dass der Leser selber ein Tänzer sein muss, um in der Lage zu sein, seinen Tanz, seinen Text zu verstehen, der sonst unzugänglich bliebe (vgl. Stegmaier 2011). Schon in der FW erklärt Nietzsche, dass „jeder vornehmere Geist und Geschmack sich, wenn er sich mittheilen will, auch seine Zuhörer [wählt]“ (FW, KSA 3, S. 634, Hervorhebung – K. H.). Das Tanzen bezeichnet eine gewisse Form von Denken und einen gewissen Stil von Schreiben, dem nicht jeder folgen kann. Denn es geht darum, Gedanken auszudrücken, niemals jedoch darum, wie Nietzsche in MA betont, „das Denken der Gedanken“ (MA I, KSA 2, S. 163) selbst mitzuteilen. Philosophie darf nicht im Stil einer Kühlschrankanweisung verfasst werden. Man muss – wie ein Tänzer – fähig sein, die Tiefe der Gedanken in ihrem eigenen Tempo und ihrer eigenen Geschwindigkeit darzustellen: „ – ich wüsste
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nicht“, schreibt Nietzsche: „[…] was der Geist eines Philosophen mehr zu sein wünschte, als ein guter Tänzer. Der Tanz nämlich ist sein Ideal, auch seine Kunst, zuletzt auch seine einzige Frömmigkeit, sein ‚Gottesdienst‘ …“ (FW, KSA 3, S. 635). Dass die Figur des Tänzers so eine große Bedeutung für Nietzsches Ideal des Denkens gewinnen konnte, muss sicherlich auch als Teil seiner Kritik an der Metaphysik und an seinen philosophischen Vorgängern verstanden werden. Doch das Interessante dabei ist, dass diese unmittelbare Assoziation des Tanzes mit einer gewissen spontaneren, leichteren, selbstständigeren Ausdrucksweise oder mit einer Art, um Nietzsche selbst zu zitieren, dionysischer „Erlösung vom ‚Ich‘“ (GT, KSA 1, S. 43) keineswegs selbstverständlich war. Ganz im Gegenteil, dieses Verständnis von Tanz, losgelöst von allen unnatürlichen Regeln und Konventionen, ist vielmehr die Basis, auf der die Entstehung des modernen Tanzes selbst beruht. Das heißt, Nietzsches initiierte Kritik der Metaphysik sowie sein Bruch mit den starren Darstellungsformen der traditionellen Philosophie, war nicht nur für die Entwicklung künftiger Ausdrucksweisen und Einstellungen innerhalb der Philosophie nötig, sondern darüber hinaus auch für die Entwicklung der Künste überhaupt; insbesondere für die Entstehung der modernen Tanzformen, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts, im Gegensatz zum klassischen Ballett, entwickelt wurden: von dem von Isadora Duncan eingeleiteten „Ausdruckstanz“ zum „freien Tanz“, zum „KunstTanz“ oder dem „Tanz-Theater“ mit ihrer Hauptrepräsentantin Pina Bausch. Es wäre allerdings irrtümlich, zu denken, dass Nietzsches Einfluss auf den modernen Tanz lediglich auf seine eher seltenen unmittelbaren Äußerungen zum Tanz zurückzuführen sei. Vielmehr geht es um sein Denken, seine besondere Lebenseinstellung und seine Kunstdeutung, die sowohl die Philosophie als auch die Künste bewegt und inspiriert hat. Es sind Nietzsches Texte im Allgemeinen, die einen direkten Einfluss auf Tänzer und Choreografen ausgeübt haben. So behauptet Isadora Duncan, in ihrem Aufsatz The Art of the Dance (Duncan 1928, S. 48), dass Nietzsche einer (zusammen mit Beethoven und Wagner) der größten Vorläufer des modernen Tanzes sei und meint, Nietzsches Geburt der Tragödie sei ihre Bibel gewesen (Duncan 1928, S. 108). Die ganze Konzeption des Dionysischen und des Apollinischen sowie die Idee eines trans-individualen Willens und schließlich auch Nietzsches unbedingte Hoffnung auf die Zukunft sind sowohl in ihren theoretischen Texten als auch in ihrem Stil und ihrer von ihr selbst erfundenen und eingeführten Art zu tanzen, nachweisbar (Duncan 1928, S. 63). In seiner Geburt der Tragödie beschreibt Nietzsche jenen, der bildlichen Kraft entgegengesetzten, doch für die Entstehung der Kunst erforderlichen Zustand des dionysischen Rausches als einen Zustand der Versöhnung mit der Natur und der Selbstvergessenheit:
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Singend und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung […] wie ein Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden. ( GT, KSA 1, S. 30, Hervorhebung – K. H.)
Gerade dieser Zustand oder diese künstlerische Macht, die aber, wie Nietzsche selber betont „aus der Natur selbst, ohne Vermittelung des menschlichen Künstlers, hervorbr[icht]“ (GT, KSA 1, S. 30), ist dasjenige, was Isadora Duncan durch ihren Tanz zum Ausdruck bringen wollte. Das zum Kunstwerk gewordene Ich ist der wahre schöpferische Tänzer; derjenige nämlich, der die Bewegungen des Universums darstellt: Er (oder sie) drückt sich in Bewegungen aus, die von ihm/ihr selbst stammen und insofern persönlich sind, und trotzdem bezieht er/sie sich hiermit gleichzeitig auf eine Bewegung jenseits aller Subjektivität: „This truly creative dancer, natural but not imitative, speaking in movements out of himself and out of something greater than all selves“ (Duncan 1928, S. 108). Diese Bewegung des Universums, sagt Duncan, ist das, was man „Wille“ nennt. Nietzsche scheint etwas Ähnliches zu behaupten, wenn er sagt, dass der dionysische Künstler, nachdem er „gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden“, „[…] das Abbild dieses UrEinen als Musik“ produziert (GT, KSA 1, S. 44). Die Musik ist für Nietzsche als „eine Wiederholung der Welt und ein Zweiter Abguss derselben“ (ebd.) zu verstehen; sie ist unmittelbar Abbild des Willens selbst [...] und [stellt] also zu allem Physischen der Welt des Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich dar (Ebd, S. 104). Auch Duncan betrachtet die Musik als Manifestation des Willens und behauptet, die Musik sei der Ursprung der Lust zu tanzen (Duncan 1928, S. 52). Wie wir sehen, geht es den beiden Autoren darum, die Figur des Künstlers als Verkörperung oder Verbildlichung – als Medium – einer universalen, unfassbaren und völlig formlosen Macht zu erklären, des Willens: „[T]he dance should simply be then the natural gravitation of this will of the individual, which, in the end, is no more no less than a human translation of the gravitation of the universe“ (Duncan 1928, S. 55). Beide beziehen sich auf eine Art höhere Kraft, die den Künstler dazu bewegt, jene innere Einheit mit der Welt, ja mit dem Willen selbst, zu veranschaulichen: „Im Dionysischen dithyrambus […] drängt sich etwas Nieempfundenes zur Äusserung, […] das Einssein als Genius der Gattung, ja der Natur“ (GT, KSA 1, 34). Duncan unterscheidet zwischen drei verschiedenen Tänzer-Typen: denjenigen, für die das Tanzen aus einer Folge von gymnastischen Übungen und unpersönlichen Arabesken bestehen muss; denjenigen, die persönliche, ver-
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gangene Emotionen darzustellen streben; und schließlich denjenigen, die – wie sie – ihren Körper in etwas Leuchtendes und Flüssiges zu verwandeln suchen – etwas, in dem sich ihre ganze Göttlichkeit manifestieren kann. In diesem Fall wird der Körper eins mit der Seele; es scheint, als ob der Körper keine Schwere mehr hätte. Um diesen fast mystischen Zustand, nach dem jeder Tänzer strebt, zu erlangen, sollte der Tänzer jedoch keinesfalls die Schwerkraft durch irgendeine artifizielle Haltung zu vermeiden versuchen. Das Tanzen kann nicht, genauso wie wir es oben metaphorisch bei Nietzsche interpretiert haben, eine Flucht vor der Schwere bedeuten, sondern soll vielmehr eine Art Aufhebung oder Überwindung durch Anerkennung und Bejahung derselben sein. Dementsprechend kritisiert Duncan die klassischen Ballett-Tänzer, die so tun als ob es die natürliche Schwerkraft nicht gäbe. Diese Bewegungen, meint sie, seien unnatürlich und steril, da sie keine neuen Bewegungen gebären, sondern stattdessen genauso sterben, wie sie geboren wurden (Duncan 1928, S. 55 f.). Die Bewegungen müssen harmonisch sein und der jeweiligen Natur des Tänzers entsprechen, d. h. jeder Tänzer muss anders tanzen, da jeder Mensch verschieden ist. Jeder Tanz entsteht als Ausdruck des Verhältnisses zwischen dem Tänzer und seinem eigenen Wesen: [M]ovements will always have to depend on and correspond to the form that is moving. The movements of a beetle correspond to its form. So do those of the horse. Even so the movements of the human body must correspond to its form. The dances of no two persons should be alike. (Duncan 1928, S. 58)
Diese Bemerkung ist natürlich auch gegen die geschulten Ballett-Tänzer gerichtet, die nicht fähig waren, ihre eigenen Bewegungen zu entwickeln und sich von den Konventionen zu befreien. Die Pionierin des modernen Tanzes hingegen konnte, wie Kristina Soldati bemerkt, „als einzelne Persönlichkeiten ihre individuellen Stile kompromissloser entwickeln“ (Soldati 2008). Durch die Verteidigung des Individuellen und der Originalität des Tänzers wird deutlich, dass die sogenannte Erlösung des Ichs für Duncan, genauso wie für Nietzsche, keineswegs impliziert, dass der Künstler bzw. der Tänzer völlig verschwinden und unsichtbar werden muss. Im Gegenteil, das Paradoxon oder die Spannung ist eben, dass der Tänzer eine neue Form von Subjektivität erreicht, durch welche die sozusagen schlechte Subjektivität aufgehoben wird. Seine neue Subjektivität ist nun, wie Nietzsche sagt: „eine Einbildung“ (GT, KSA 1, S. 44). So gilt für Duncans Tänzer dasselbe wie für Nietzsches Lyriker: [D]ie Bilder des Lyrikers [sind] nichts als er selbst und gleichsam nur verschiedene Objectivationen von ihm, weshalb er als bewegender Mittelpunkt jener Welt „ich“ sagen darf: nur ist diese Ichheit nicht dieselbe, wie die des wachen, empirisch-realen Menschen,
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sondern die einzige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im Grunde der Dinge ruhende Ichheit, durch deren Abbilder der lyrische Genius bis auf jenen Grund der Dinge hindurchsieht. (GT, KSA 1, S. 46)
In Berlin und Paris haben Künstler (wie etwa Rodin), Tänzer und Theaterleiter die Nietzscheanerin Isadora Duncan, die barfüßig auf der Bühne trat, für ihren Stil und ihre Einzigartigkeit bewundert. Freilich ist ihre Lektüre von Nietzsches Texten diskutierbar, aber Duncan ist sicherlich eine der ersten Personen, die Nietzsches berühmten Gedanken, ‚dass das Dasein und die Welt nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt ist‘ (vgl. GT, KSA 1, S. 17), bewusst zu seinen letzten Konsequenzen geführt haben. Doch vielleicht ist es gerade diese Einheit von Leben und Werk, dieser fließende Übergang zwischen Kunst, Leben und Philosophie, was alle modernen Tänzer gemeinsam haben. Nietzsche unterscheidet in seiner Geburt der Tragödie zwischen drei verschiedenen Kunstformen: der dionysischen, der apollinischen und der Kunst, die gleichsam aus dem Bruderbund der beiden vorangehenden entsteht, wobei er an die griechische Tragödie denkt. Vor diesem Hintergrund scheint es schwierig, genau zu bestimmen, welcher Kunstform Duncans Barfuß-Tanz entspricht. Denn eigentlich scheint es, als ob Duncan einen Teil des notwendigen Leidens nicht thematisiert, nämlich jene, um mich in Schellings Worten auszudrücken, „tiefe unzerstörliche Melancholie alles Lebens“ (Schelling 1856ff, S. 399), die aber auch für Nietzsche eine wesentliche Komponente der Entgegensetzung zwischen den Apollinischen und Dionysischen Kräften ausmacht. Bei Duncan scheint die Einheit mit der Natur, das Harmonische, die Schönheit, zu überwiegen. Es gibt keine Diskontinuität, sondern, jede Bewegung muss, wie sie selber sagt, eine neue Bewegung hervorbringen, so dass alles eine ewige Bewegung, ein ewiges Fließen ist. Keinen Bruch, denn auch die Spannung zwischen Form und Musik, zwischen Ausdruck und Wille, wird in Duncans Tanz völlig versöhnt. Doch gerade diese Spannung wurde von anderen von Nietzsche inspirierten Tänzern wie Maurice Béjart zum Leitmotiv ihrer Choreografien gemacht. Darüber hinaus beschreibt Béjart seine Inszenierung von Ravels Bolero als einen Kampf zwischen Melodie und Rhythmus (Mortier 1962). Ein Tänzer tanzt in der Mitte einer erhöhten Bühne die Melodie, die Formen, während mehrere um ihn herum gruppierte Tänzer den Rhythmus darstellen (vgl. GT, KSA 1, S. 60). Es ist ein Kampf zwischen Form und Formlosigkeit, zwischen Individuation und Ununterscheidbarkeit. Mit Nietzsche könnten wir noch hinzufügen: Ravels Musik ist in diesem Stück „als Wellenschlag des Rhythmus“ zu verstehen, „dessen bildnerische Kraft zur Darstellung apollinischer Zustände entwickelt wurde“ (GT, KSA 1, S. 33).
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Nietzsches Auslegung nach entsteht die griechische Tragödie als Vision, als Traum oder Projektion des Chors: „Nach dieser Erkenntniss“ schreibt Nietzsche: […] haben wir die griechische Tragödie als den dionysischen Chor zu verstehen, der sich immer von neuem wieder in einer apollinischen Bilderwelt entladet. Jene Chorpartien, mit denen die Tragödie durchflochten ist, sind also gewissermaassen der Mutterschooss […] des eigentlichen Dramas. In mehreren auf einander folgenden Entladungen strahlt dieser Urgrund der Tragödie jene Vision des Dramas aus […]. Somit ist das Drama die apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen. (GT, KSA 1, S. 62)
Das heißt, durch die ständigen Auftritte des Chors zeigt uns die Tragödie zugleich die Art und Weise wie sie entstanden ist. Der Chor symbolisiert die ewigen Möglichkeiten, oder mit Deleuze gesagt, das reine Virtuelle, das im dramatischen Dialog aktualisiert bzw. kristallisiert wird. Und genau das sehen wir in Béjarts Inszenierung: Es ist als ob die Hauptfigur, d. h. also die einzige individualisierte Gestalt, eine Projektion der anderen Tänzer wäre, welche in sich alle mögliche Bewegungen enthalten. In der Tat, das Faszinierende von Nietzsches Einfluss auf den modernen Tanz ist nicht der Einfluss allein (siehe u. a. Vogel 1966, Calendoli 1986, Aschheim 1994, Fraleigh 1996), sondern vielmehr, zu sehen, wie die grundlegenden Kunstkonzeptionen, die er unter anderem in seiner Geburt der Tragödie entwickelt hat, für die Auslegung zeitgenössischer Tanzvorstellungen immer noch fruchtbar sind. So lässt sich z. B. auch Alain Platels letzte Inszenierung von Out of Context- For Pina anhand von Nietzsches Auslegung des Chors der griechischen Tragödie interpretieren. Man könnte sogar behaupten, dass es in Platels Out of Context tatsächlich darum geht, die Geburt des Tanztheaters darzustellen, und zwar genau so wie die Tragödie bei Nietzsche entsteht: als „eine Vision [des] Satyrchors“ (GT, KSA 1, S. 56). Auch bei Platel geht es nämlich, wie in der Entstehung der Tragödie, um die Auseinandersetzung, Entgegensetzung und Versöhnung von zwei radikal verschiedenen Kräften; auch hier wird jede Form aus dem Chaos geboren, welches Chaos zyklisch wieder eingesetzt wird. Durch Unterbrechungen und Veränderungen in der Musik oder durch plötzliche, überraschende Bewegungen verlieren die Tänzer für eine kurze Zeit ihre Individualität, um sie danach aber wieder zu gewinnen. Die Tänzer fangen allmählich wieder an, neue Formen, neue Bewegungen anzunehmen: Ein neuer Tanz wird geboren, eine neue Welt wird entdeckt. Wirklichkeit und reine Potenzialität folgen nacheinander. Und so wie uns jede wahre Tragödie, wie Nietzsche schreibt, mit einer Art metaphysischen Trosts entlässt, so zeigen auch Platels Tänzer, dass „das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll“ (GT, KSA 1, S. 56) ist.
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Bei Pina Bausch hingegen sind Musik und Tanz vielmehr ineinander verflochten, da beide nur einen Teil des Ganzen bzw. einen Teil des ganzen Theaters ausmachen. Für das Theater indes ist alles wichtig: Kostüme, Bühne, Musik, Tanz, Sprache, Geste…. Alles soll dazu dienen, etwas zum Ausdruck zu bringen. Interessant dabei ist aber, dass dasjenige, was ausgedrückt wird – die Gefühle –, teilweise erst im Theater, in der Erfahrung des Theaters entstehen. Oder anders gesagt, Pina radikalisiert Duncans Konzept „movements are as eloquent as words“ (Duncan 1988, S. 50), denn für sie sind die Bewegungen nicht nur Ausdruck von etwas, sondern auch Quelle von neuen Erfahrungen und Erlebnissen, die dann das Leben, die Wirklichkeit, erneut konstituieren. Das Leben wird im Theater oder im Tanz nicht bloß dargestellt oder zum Ausdruck gebracht, sondern vielmehr neu entdeckt. Für Pina bietet der Tanz, genauso wie für Nietzsche, die Möglichkeit anders zu fühlen und anders zu denken, anders zu leben und zu erfahren. Das heißt, es geht auch bei Pina nicht nur um die Erlösung des Ichs, sondern vielmehr um seine Konstitution. Und dazu gehört alles: Einheit und Zerrissenheit, Liebe und Hass, Freude und Angst.
Bibliographie Aschheim, Steven A. (1994): The Nietzsche Legacy in Germany 1880–1990. California. Brown, Isemene (2010): Theartsdesk Q&A: Meeting Pina Bausch. In: http://www.theartsdesk. com/index.php?option=com_k2&view=item&id= 1260:theartsdesk-pina-bausch-interview&Itemid=22 Calendoli, Giovanni (1986): Tanz: Kult-Rhythmus-Kunst. Braunschweig. Duncan, Isadora (1928): The Art of the Dance. New York. Duncan, Isadora (1929): Der Tanz der Zukunft. Eine Vorlesung. Übersetzt und eingeleitet von Karl Federn. Leipzig. Fraleigh, Sondra Horton (1996): Dance and the Lived Body. A Descriptive Aesthetics. Pittsburg. Kierkegaard, Søren (1952): Gesammelte Werke, Philosophische Brocken. De Omnibus Dubitandum est (10. Abt.). Übers. und hrsg. v. Emanuel Hirsch. Düsseldorf. Köln (= PB). Mortier, Gerard (1962): Ballet du XX Siècle (Maurice Béjart, artistic director). Salzburg. Philonenko, Alexis (1990): „Introduction“. In: Kant: Réflexions sur l‘éducation. Introduction et traduction de A. Philonenko. Paris. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1856ff): Sämtliche Werke, hrsg. v. K. F. A. Schelling. Stuttgart, Augsburg. Soldati, Kristina (2008): Die Anfänge des Modern Dance. In: http://www.tanzkritik.net/2008/ 01/erster-ensuite-artikel_05.html Stegmaier, Werner (2011): „Fearless findings. Instinct and Language in Book V of Gay Science“. In: João Constâncio/Maria João Branco (Hrsg.): Nietzsche on Instinct and Language. Berlin, New York, S. 185–202. Vogel, Martin (1966): Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums. Regensburg.
III. Literatur und Medien
Aldo Venturelli
Perspektiven für ein zukünftiges Geschichtsbewusstsein 1
Aspekte der Nietzsche-Rezeption bei Robert Musil
1 Kurz nach Robert Musils fünfzigstem Geburtstag kam Ende November 1930 der erste Band von Der Mann ohne Eigenschaften in die Buchhandlungen. In einigen Schlüsselkapiteln dieses ersten Teils des Romans geht der Autor auf den Vorschlag einer Erfindung der Geschichte ein, den der Protagonist Ulrich formuliert, indem er über die von seiner Freundin Clarisse, einer glühenden Nietzsche-Verehrerin, in die Parallelaktion eingebrachte Idee nachdenkt, ein Nietzsche-Jahr zu begehen. Musil greift in diesen Kapiteln einige der Ideen auf, die er in früheren Essays dargelegt hatte, namentlich in Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste von 1922 und in Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind, eine polemische Schrift gegen Oswald Spengler, die im Jahre davor erschienen war. Zweifellos wird die Geschichtsauffassung im Roman im Vergleich zu den in diesen beiden Essays dargelegten Gedanken stark ausgeweitet und verbindet sich zudem mit einer Reflexion über die ästhetische Dimension und ihren Wert im Verhältnis zur gewohnten Wirklichkeit. Doch verdient die Tatsache Beachtung, dass Musil die Darstellung seiner Geschichtssicht im Roman mit einer Reflexion über seine Beziehung zu Nietzsches Denken verknüpft. Zwischen den Zeilen kehrt auch in diesen Romankapiteln die Differenzierung zwischen der Selbstdarstellung des Protagonisten als freier Geist und der Kennzeichnung seiner Jugendfreunde Clarisse und Walter als dekadenten Vertretern eines unglaubwürdigen Nietzsche-Kultus wieder. Außerdem wird als theoretische Grundlage dieser Kapitel und der darin dargelegten Geschichtsauffassung der Gegensatz zwischen Oswald Spengler und Wolfgang Köhler, einem Protagonisten der Berliner Schule der Gestaltpsychologie, erneut thematisiert, dessen 1920 erschienenes Buch Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand Musil in Das hilflose Europa nachdrücklich erwähnt hatte.2 1 Aus dem Italienischen von Leonie Schröder. 2 Vgl. Musil 1978, Bd. 8, S. 1085. Diese Ausgabe wird im Folgenden mit der Sigle GW im fließenden Text zitiert. Der vorliegende Beitrag greift Themen aus meinen Arbeiten Dichtung und Erkenntnis. Zu Musils philosophischen Studien und zu seinem Verhältnis zur Gestaltpsychologie und Die Kunst als fröhliche Wissenschaft. Zum Verhältnis Musils zu Nietzsche auf,
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Musils Beziehung zu Köhler und zur Gestaltpsychologie hat sich in den letzten Jahren zu einem wichtigen Forschungsthema entwickelt. Die Beziehung war in den Jahren entstanden, als der Schriftsteller bei Carl Stumpf in Berlin studierte. Zum Abschluss dieses Studiums legte er seine Doktorarbeit zum Denken von Ernst Mach vor.3 In meinem Beitrag beschränke ich mich auf die Vertiefung eines einzigen Elements von Musils Universitätsstudien in Berlin, nämlich auf seine wahrscheinlich in das Jahr 1904 fallende Lektüre der Logischen Untersuchungen von Edmund Husserl, die bedeutsamerweise Carl Stumpf zugeeignet sind. Außerdem soll überprüft werden, ob einige Anregungen von Musils Auseinandersetzung mit Husserl möglicherweise mit anderen Denkanstößen, die aus seiner ersten Begegnung mit Friedrich Nietzsches Denken resultieren, in seinem literarischen Werk zusammengeflossen sind und sich überlagert haben.4 Es mag scheinen, als habe eine auf die Beziehung Musil-Husserl-Nietzsche beschränkte Untersuchung nichts mit der von Musil vertretenen Geschichtsauffassung zu tun. Aber es steht außer Zweifel, dass dieses Beziehungsgeflecht sich auf vollendete Weise vor allem im ersten Teil des Romans herausbildete, der wie gesagt 1930 zu Ende geführt wurde. Mitte Oktober, wenige Wochen vor Erscheinen von Musils Roman, hatte Thomas Mann bekanntlich das Programm eines Vortrags im Berliner Beethoven-Saal abgeändert und ihm einen stärker politischen Zuschnitt verliehen, um sich entschieden von dem großen Erfolg des Nationalsozialismus bei den Septemberwahlen desselben Jahres zu distanzieren. Diese berühmte Deutsche Ansprache von Thomas Mann wurde von einer von Albert Bronnen angeführten Gruppe Intellektueller stürmisch unterbrochen, zu der auch Georg und Ernst Jünger zählten und die in Begleitung von Vertretern nationalsozialistischer paramilitärischer Formationen zu dem Vor-
die beide abgedruckt sind in Venturelli 1988, S. 27–180. Von besonderer Bedeutung für die hier behandelten Themen sind die Studien von Silvia Bonacchi, insbesondere Bonacchi 1998 und Bonacchi 1992. Für eine allgemeinere Darstellung siehe auch Venturelli 2010. 3 Robert Musil promovierte 1908 mit einer Dissertation zum Thema Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs. Um die Bedeutung von Musils Berliner Studium für seine literarische Produktion abzuschätzen, ist die Ermittlung der von Carl Stumpf übernommenen Elemente in dieser Dissertation wesentlich; vgl. dazu neben Venturelli 1987 und den bereits zitierten Arbeiten von Bonacchi die Studie von Catrin Misselhorn, Naturalismus zwischen Empirismus und Idealismus. Robert Musils philosophische Lehrjahre in Berlin, in Daigger, Henninger 2008, S. 85 ff. Zur möglichen Beziehung zwischen Ernst Mach und Friedrich Nietzsche siehe Gori 2009. 4 Zu Musils Beziehung zu Nietzsche vgl. neben Venturelli 1988 insbesondere Rzehak 1993, Pieper 2002, De Angelis 2007 und Neymeyr 2009.
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trag erschienen war.5 Erwähnenswert ist außerdem, dass Musil auf Anregung von Franz Blei im Dezember desselben Jahres Carl Schmitt traf. Der negative Eindruck, den er aus dieser Begegnung gewann, spiegelt sich noch in einigen kritischen Anmerkungen in seiner letzten öffentlichen Rede wider, die er 1937 in Wien zu dem bezeichnenden Thema Über die Dummheit hielt.6 Um den allgemeinen Kontext besser zu verstehen, in dem Musils Stellungnahmen zur Geschichte im Roman anzusiedeln sind, sollte auch nicht vergessen werden, dass ein Jahr vorher, im Frühjahr 1929, in Davos die berühmte Auseinandersetzung zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger stattgefunden hatte. Musil, der einige Texte Cassirers später mit Bewunderung las und auch Gelegenheit hatte, ihn kennen zu lernen, hätte wohl kaum Heideggers Partei ergriffen, der in den in Davos präsentierten Thesen zum Teil die Gedanken zur Geschichte weiter ausgearbeitet hatte, die er – nicht ohne Hinweis auf Nietzsche – in den Schlusskapiteln seines 1927 erstmals erschienenen Sein und Zeit zum Ausdruck gebracht hat.7
2 Kehren wir mit einem zeitlichen Sprung zu Musils Lektüre der Logischen Untersuchungen von Edmund Husserl zur Zeit seines Studiums in Berlin zurück. Er las das Werk nicht lang nach seinem ersten Erscheinen, als es noch nicht zur Bildung irgendeiner Schule geführt hatte. Niemand hat die grundlegende Bedeutung, die Husserls Logische Untersuchungen dann für das philosophische Denken des 20. Jahrhunderts erlangten, eindrücklicher benannt als Martin Heidegger, auch wenn er sich freilich auf eine spätere Phase der philosophischen Debatte bezog.8 Für Musil bedeutete die Lektüre von Husserls Werk scheinbar 5 Sorgfältig rekonstruiert wird dieser Vorfall in Kurzke 1999, S. 363 ff. Auf den Symbolwert des Vorfalls in der Kulturgeschichte der Weimarer Republik habe ich hingewiesen in Venturelli 2009, S. 62 ff. 6 Musils Rede ist abgedruckt in GW 8, S. 1270 ff. Für die kritische Anspielung auf Carl Schmitt vgl. GW 8, S. 1284–1285. Eine eingehende Rekonstruktion der Begegnung zwischen Musil und Carl Schmitt findet sich in dem fundamentalen Buch von Corino 2003, S. 1064 ff. 7 Über die Davoser Begegnung berichtet Safranski 1994, S. 219 ff. ausführlich. Wesentlich für die Stellungnahme zur Geschichte in Sein und Zeit sind die abschließenden Kapitel 5 und 6, in denen neben Hegel die Beziehung zu Diltheys Denken und zur zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung von Nietzsche grundlegend ist (vgl. Heidegger 1977, S. 525 ff.). Zur Beziehung Musil-Ernst Cassirer vgl. Corino 2003, 1918, 1932, 1934 und De Angelis 2004, S. 181. 8 Mit besonderer Sorgfalt rekonstruiert Heidegger seine Lesart und Auseinandersetzung mit Husserls Logischen Untersuchungen in dem Vortrag von 1963 Mein Weg in die Phänomenologie (Heidegger 2007). Zu Heideggers Beziehung zu Husserl vgl. insbesondere Herrmann 1985.
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keine tiefe Wende. Es mag so wirken, als sei sie durch bestimmte Aspekte seines Studiums motiviert gewesen, die dem Autor zum Teil innerlich fremd blieben, und als verdanke sie sich vor allem der Notwendigkeit, die theoretischen Voraussetzungen für seine Untersuchung zu Mach mit Blick auf die Dissertation zu präzisieren, die er 1908 diskutierte. Das Thema, dem Musil seine Aufmerksamkeit bei der Lektüre der Logischen Untersuchungen hauptsächlich zuwendet, ist die Beziehung zwischen Logik und Psychologie. Besonders aufmerksam las er die Kapitel 4, 7 und 9 – in diesem Fall vor allem den Schlussparagraphen – des ersten Bandes von Husserls Werk mit dem Titel Prolegomena zur reinen Logik. In diesen Kapiteln geht es um die Empiristischen Konsequenzen des Psychologismus, den Psychologismus als skeptischer Relativismus und das Prinzip der Denkökonomie und die Logik. Im Allgemeinen sind Musils Exzerpte zugleich eine freie Erarbeitung und bringen folglich eine persönliche Einschätzung der von Husserl behandelten Themen zum Ausdruck. Diese erste Lektürephase, die Karl Corino auf den Herbst 1904 datiert, wurde unterbrochen durch Betrachtungen zur Beziehung zwischen Physischem und Psychischem bei Fechner und Helmholtz und durch einige Überlegungen literarischer Art. Obwohl es nicht sehr wahrscheinlich ist, kann nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass Musils Lektüre des husserlschen Werks sich nicht kontinuierlich, sondern in mehreren, zeitlich auch weit auseinanderliegenden Phasen vollzog.9 Jedenfalls widmete Musil sich bei Wiederaufnahme seiner Aufzeichnungen den Kapiteln 2, 3 und 5 aus der zweiten Untersuchung, Die ideale Einheit der Spezies und die neueren Abstraktionstheorien, insbesondere Husserls Kritik am Nominalismus und seinen Positionen zur Abstraktionstheorie von Hume. Musils Aufzeichnungen zu Husserls Werk werden erneut unterbrochen, diesmal durch Beobachtungen zu Tachistoskop-Experimenten, die aber mit den von Husserl behandelten Themen zusammenhängen, und in jedem Fall werden sie fortgesetzt. Eine wichtige Betrachtung zeugt von Musils Auseinandersetzung mit dem vierten Kapitel, Studie über fundierende Vorstellungen mit besonderer Rücksicht auf die Lehre vom Urteil, aus der fünften Untersuchung, Über intentionale Erlebnisse und ihre „Inhalte“. Zum Teil lassen sich diese Aufzeichnungen auf den Wunsch zurückführen, bestimmte Aspekte von Husserls Kritik am Nominalismus zu vertiefen. In einer erneuten Unterbrechung kehrt Musil zur Auseinandersetzung mit Fechner und vor allem mit der Logik von Christoph Sigwart zurück, die in 9 Musils Betrachtungen zu Husserls Werk (vgl. Corino 2003), stehen in Musil, Tagebücher, hrsg. von Adolf Frisé, S. 119–133; im Folgenden werden sie im Text zitiert mit den Siglen T (Bd. 1) und T II (Bd. 2). Husserl hatte die erste Ausgabe seiner Logischen Untersuchungen in den Jahren 1900–1902 veröffentlicht.
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Husserls Werk einen konstanten Bezugspunkt darstellt. Nach einer ausführlichen und grundlegenden Betrachtung zur ersten husserlschen Untersuchung, Ausdruck und Bedeutung, der später auch Heidegger besondere Beachtung schenkte, kommt Musil, fast am Schluss seiner Aufzeichnungen, zum Ausgangspunkt seiner Betrachtungen zurück, nämlich zu Husserls Psychologismus-Kritik. Weiterhin im Zusammenhang mit Themen Husserls widmet Musil sich anschließend der Lektüre zweier wichtiger Studien von Alexius Meinong und Stephan Witasek, um die Ergebnisse seiner Lektüre dann in einer persönlicher gefassten Überlegung von tendenziell literarischem Charakter zu verarbeiten. Auch in einigen allgemeineren und stärker erkenntnistheoretischen Überlegungen greift Musil die in dieser Studienphase behandelten Themen auf, ohne sich dabei allerdings ausschließlich auf Husserl zu beziehen. Gerade die Spezifik seiner Betrachtungen legt nahe, dass sie unmittelbar von Musils Berliner Universitätsstudien zeugen und folglich von der intellektuellen Atmosphäre an dem von Carl Stumpf geleiteten Institut. Die sorgfältige Auseinandersetzung mit Husserl war fraglos eine wichtige Vorbereitung für die Ausarbeitung der Dissertation über Ernst Machs Theorien. Daneben ergeben sich aber aus Musils Lektüreaufzeichnungen Hinweise allgemeinerer Art, die seine Kunst- und Literaturauffassung stark beeinflussten. So entnimmt er der Husserl-Lektüre neben der Beziehung zwischen Logik und Psychologie ein weiteres grundlegendes Thema, nämlich das der Sprache und ihrer objektiven Grundlage. Auf die Sprachauffassung lässt sich auch Musils Interesse für die Beziehung zwischen Akt und Vorstellung zurückführen, über die er später weiter nachdachte,10 so wie die Beziehung zwischen Logik und Psychologie ihn zu wichtigen Überlegungen zu den Ursprüngen der Logik und zum Fortbestehen vorlogischer Elemente in jeder Form menschlichen Denkens bewog. Die verschiedenen Betrachtungen Musils hängen also miteinander zusammen und bilden ein kohärentes, einheitliches Ganzes. Wie wir sehen werden, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie bereits die Schlussphase der Entstehung seines ersten Romans, Die Verwirrungen des Zöglings Törless, beeinflussten, dessen Manuskript Musil im Februar 1905 fertigstellte; allerdings kam das Werk erst im Oktober 1906 nach weiteren Manuskriptkorrekturen und einer sorgfältigen Druckfahnenkorrektur in enger Zusammenarbeit mit Alfred Kerr heraus. Zumindest blieben die aus der Husserl-Lektüre gezogenen Gedanken ein bedeutendes Ferment in der ganzen komplexen Phase des Neudurchdenkens der Funktion der Literatur, die auf die Veröffentlichung des Törless folgte und
10 Musil zog seine frühen Lektüreaufzeichnungen zu Husserl 1939 für die Abfassung einiger zentraler Kapitel der geplanten Fortsetzung von Band 2 seines Hauptwerks Der Mann ohne Eigenschaften heran; vgl. dazu die eingehende Analyse von De Angelis 2004, S. 196 ff.
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als erstes Resultat die Publikation der Novellen Vereinigungen im Jahr 1911 als Höhepunkt des ästhetischen Experimentalismus des Autors hervorbrachte.11 Genau durch diese Projektion der aus der Beschäftigung mit Husserl entsprungenen Reflexionen auf eine ästhetische Dimension lässt sich genauer verstehen, auf welche Weise sich die Lektüre der Logischen Untersuchungen in Musil mit den Anregungen verband, die die Lektüre einiger grundlegender Werke Nietzsches ihm lieferte. Im Gegensatz zu Husserls Versuch einer Neubegründung der reinen Logik gibt Musil in seinen Betrachtungen immer wieder der Überzeugung Ausdruck, dass das Denken letztlich „ein psychologisches Geschehen“ (T, S. 120) bleibt. Gerade aufgrund dieses Charakters unterliege das Denken „der Naturcausalität. Innerhalb derselben sind allerdings die psychologischen und physiologischen ‚Spuren‘ der logischen Gesetze mitbestimmend“ (T, S. 120). Diese Perspektive, die Musil schon bei der ersten Lektüre der Logischen Untersuchungen anlegte, wird auch in seinen abschließenden Betrachtungen bestätigt, als er erneut über die Seiten der Prolegomena zur reinen Logik nachdachte, von denen er ausgegangen war: Wenn wir denken, „alle A sind B“, „alle B sind C“, so müssen wir denken, „alle A sind C“ (…) Das ist eine Tatsache, kein Gesetz. Die psychologische Erklärung nähert sich nun erfolglos von einer Seite; wir finden keine befriedigende, exakte Erklärung. Das „logische Gesetz“ versucht nicht den logischen Tatsachenkomplex in den psychologischen einzuordnen, es begnügt sich die in ihm herrschenden Regelmäßigkeiten festzustellen; es konstatiert Tatsachen. Dies ist der Unterschied. Vage psychologische Gesetze können nicht in exakter Weise die logischen (wie die psychologischen) Tatsachen erklären; das liegt in ihrer Unvollkommenheit. Die Exaktheit des logischen Gesetzes folgt aber aus einem Verzicht auf eine höhere, mindestens umfassendere Erklärungsart. Die logische Erklärung richtet sich in ihrem Gebiete häuslich ein, die psychologische versucht vergeblich, die Anpassung an ein weiteres Gebiet. (T, 129–130)
Wie wir sehen, gehen Musils kritische Betrachtungen in zwei Richtungen und berühren sowohl die Logik wie die Psychologie. In erster Linie hat das, was die Logik feststellen kann, keinen normativen Charakter, weil sie sich ausschließlich auf eine bloße Feststellung von Tatsachen und deren Wiederholung und vermeintliche Regelmäßigkeit beschränkt. Zweifellos sind diese Tatsachen keine einfachen Elemente, sondern bilden einen Komplex. Dies impliziert
11 Eingehend analysiert Musil die nach Erscheinen seines ersten Romans in seiner literarischen Produktion eingetretene Wende in einigen vorbereitenden Fragmenten zur Einleitung, die er den 1936 in Nachlaß zu Lebzeiten gesammelten Erzählungen voranstellte (vgl. GW 7, S. 965 ff.). Zur Untersuchung der Beziehung zwischen dem Apperzeptor-Fragment und den Novellen Vereinigungen vgl. Venturelli 1988, S. 135 ff. und Bonacchi 2010.
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bereits eine klare Abgrenzung Musils von der bloßen Assoziationspsychologie, wie Ernst Mach sie vertrat. Von dieser Distanz gegenüber Mach zeugt auch die Beachtung, die Musil der Beziehung zwischen Vorstellung und Akt, mithin der Intentionalität und dem als intentionales Erlebnis gedachten Bewusstsein schenkt. Er war sich also darüber im Klaren, dass Husserls Phänomenologie einen grundlegenden und innovativen Beitrag zur Möglichkeit einer vertieften psychologischen Analyse darstellte. Denn in dem vorstehenden Zitat übt Musil, wie man leicht sehen kann, wiederholt Kritik an der Unvollkommenheit der Psychologie, der es nicht gelingt, die Grundlage der logischen Gesetze genau zu bestimmen. Seines Erachtens kann aus dieser Unvollkommenheit der Psychologie allerdings durchaus keine Überlegenheit der Logik abgeleitet werden. Im Gegenteil. Die vermeintliche Objektivität der logischen Gesetze ist einfach die Folge eines Verzichts auf jede umfassendere Erklärung. Das Problem einer neuen und fruchtbaren Beziehung zwischen Phänomenologie und Psychologie, die den psychologischen Spuren in den logischen Gesetzen genauer nachforschen würde, bleibt in Musils Augen also ganz und gar offen. Aus dieser Analyse der Beziehung zwischen Logik und Psychologie folgt für Musil in erster Linie die Unmöglichkeit, die Wahrheit als objektive, unveränderliche Gegebenheit zu begreifen. Diese Ablehnung einer objektiven Wahrheit kehrt in seinen Betrachtungen zu den Logischen Untersuchungen mehrfach wieder und wird als unmittelbare Folge seiner Weigerung formuliert, die Logik als gesetzmäßig zu erachten: Die Frage wird eben sein, ob Husserl die Berechtigung nachweisen kann die logische Tatsachenbeschreibung eine gesetzmäßige zu nennen. Zur objektiven Wahrheit: Eine objektive Wahrheit, eine Wahrheit schlechtweg, – gibt es nicht. Es gibt nur Denkinhalte, die wahr sind. An diese Inhalte ist das Gefühl der Evidenz geknüpft, d. h. wo immer sie auftreten, müssen sie wahr sein. (T, S. 130)
Eben weil die Logik eine bloße Tatsachenbeschreibung ist, kann sie keine objektive Wahrheit festlegen. Auch in diesem Fall kann die Wahrheit nach Ansicht des Autors jedoch nicht als Ergebnis von bloßen Gefühlsassoziationen gedacht werden. Was gewöhnlich als Wahrheit bezeichnet wird, ist das Ergebnis von Denkinhalten, die den Charakter der Evidenz besitzen. Schon in diesen Überlegungen tritt ein grundlegendes Thema hervor, das Musil im Rahmen der Entwürfe für den Abschluss von Teil 2 seines Hauptwerks mit besonderem Eifer angehen wird. Die Denkinhalte sind nämlich als Akte zu konzipieren, wie Husserl gezeigt hatte, und innerhalb dieser Akte spielt die komplexe Beziehung zwischen Rationalität und Gefühl eine ausschlaggebende Rolle, weil gerade die Evidenz, die zur Bestimmung der Wahrheit gehört, den Charakter eines Gefühls besitzt. In dieser Richtung müssen also die weniger vagen und umfas-
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senderen psychologischen Gesetze gesucht werden, die auch die Verfahren der logischen Bestimmungen mit einschließen. Um diese Forschungsrichtung zu verstehen, die Musil in seiner Auseinandersetzung mit den Logischen Untersuchungen erkennt, ist seine Interpretation der ersten Untersuchung grundlegend, die Husserl dem Thema Ausdruck und Bedeutung gewidmet hatte. In seinen Betrachtungen geht Musil von der Analyse des logischen Urteils aus und stellt fest, dass dessen Formulierung von einer unüberwindlichen Ungewissheit begleitet ist. Der sprachliche Ausdruck, mit dessen Hilfe das Urteil formuliert wird, weist nämlich immer Schwankungen auf, Valenzen, die innerhalb des Urteils bestimmt werden müssen. So stellt er abschließend fest: Wir müssen sagen, der Sinn des Urteils besteht in einer gegenseitigen Modifikation von S und P. Im fertigen Urteil darf man daher von S und P nicht ebenso sprechen wie ein Vorzustand des Urteils; im fertigen Urteile enthält P etwas von S und S etwas von P; im fertigen Urteile sind sie nicht voneinander zu trennen. Was wir aber gewöhnlich S und P nennen, sind gar nicht die im Urteile selbst liegenden Bedeutungen, sondern die Bedeutungen, die in das Urteil eintreten sollen. Wir werden sagen: Sowohl S als P entsprechen einer Anzahl „Valenzen“, Urteilswerte, möglicher Verbindungen. Durch das Urteil wird eine wirklich. S und P im fertigen Urteile bestehen aus einer Reihe möglicher und einer verwirklichten Valenz. (T, S. 129)
Wie es keine objektive Wahrheit gibt und der Akt des Urteilens für Musil stets „ein psychologischer Begriff“ (T, S. 129) bleibt, so besteht seines Erachtens auch nicht die Möglichkeit einer eindeutigen Bedeutungsbestimmung der Wörter, mit denen das Urteil ausgedrückt wird. Innerhalb des Urteils bedingen sich Subjekt und Prädikat gegenseitig, sie gehen eine Wechselbeziehung ein, und erst so verdichten sich die zahlreichen Valenzen und Bedeutungsmöglichkeiten beider Begriffe zu einer klaren Bedeutung. Die logische Bestimmung selbst beruht seiner Meinung nach unvermeidlich auf der Möglichkeit. Das Mögliche geht der objektiven Bestimmung des Wirklichen also voraus. Dem jeder Benennung innewohnenden Schwanken hatte Musil schon in einer früheren Aufzeichnung zu den Logischen Untersuchungen seine Aufmerksamkeit zugewandt. Da die Erkenntnis sich auf die Feststellung von Ähnlichkeiten stützt, die anfänglich jedoch „namen-los und unbewußt“ (T, S. 124) sind, geht das Bewusstwerden solcher Ähnlichkeiten mit der Festlegung allgemeiner Namen einher. Auch diese Namengebung, die stets verschiedene mögliche Bedeutungen einschließt, spiegelt keine objektive, abstrakte Wahrheit wider, sondern wird von Musil wiederum als psychischer Vorgang betrachtet. Wichtig ist auch Musils Interpretation der Beziehung zwischen Vorstellung und Akt, auf die er die mögliche Bedeutung eines Urteils zurückführt. Auch in diesem Fall entspringt das Urteil nicht aus der Hinzufügung eines Prädikats zu einem Subjekt,
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sondern beruht letztlich auf einem Gefühlsakt, „eher noch in dem Negativen, dem Erstaunen“ (T, S. 125). Durch diese Hervorhebung der Uneindeutigkeit von Bedeutungen wird Musil sich des wesentlichen Symbolcharakters der Sprache und ihrer dynamischen Natur bewusst. Als nehme er gleichsam eine literarische Ausarbeitung seiner Überlegungen zu Husserl vorweg, schreibt er nämlich am Ende derselben: Man kann nicht sagen, das einzelne Wort bezeichne nichts. Es ist immer ein Symbol, etwas Anzeigendes, eine „leere Intention“. Denn freilich ohne mögliche Aussagen bleibt es ein Schemen ähnlich dem Ding an sich. Die Erfüllung kann dann in Anschauung oder in Urteilen liegen. (…) Das Verhältnis von Symbol und Bedeutung und Erfüllung ist hier auch ein anderes. (T, S. 133)
Ohne dass in diesem Fall unmittelbar auf die Logischen Untersuchungen Bezug genommen würde, liefert eine weitere Betrachtung Musils in demselben Heft der Tagebücher, das bereits einige grundlegende Seiten von Der Mann ohne Eigenschaften zu antizipieren scheint, eine klare Beschreibung der dynamischen Natur und des Möglichkeitscharakters der Sprache, wodurch im Grunde ein fruchtbarer Dialog zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und ästhetischer Dimension möglich wird: Das Wort braucht seine Ergänzung im Satz, der Satz in der Periode, die Periode im Ganzen. Es ist ein durchgängiger Eindruckszusammenhang, wahrscheinlich individuell verschieden je nach dem Ganzen. Nur dadurch, daß jedes über sich hinausweist, sind gewisse Gedankenreihen möglich. Das wissenschaftliche Denken ist nur ein Spezialfall. (T, S. 127)
Zwei Grundtendenzen von Musils späterer intellektueller Arbeit ergeben sich also aus seiner Auseinandersetzung mit den Logischen Untersuchungen: die erste betrifft die Forderung nach einer fruchtbaren Beziehung zwischen Phänomenologie und Psychologie, die den psychologischen Spuren jeder logischen Bestimmung genauer nachforscht. Mit dieser Forderung erweist sich der Autor als treuer Schüler Carl Stumpfs und überzeugter Vertreter der neuen Strömungen der Berliner Gestaltpsychologie, die sich mit Max Wertheimer und Erich Maria von Hornbostel herauszukristallisieren beginnen und sich dann vor allem durch Wolfgang Köhler und Kurt Lewin durchsetzen werden. Die zweite Tendenz entsteht aus der Feststellung der schwankenden, möglichen Natur von Sprache und Bedeutung. Auch die scharfsinnigsten und innovativsten Formen der Gestaltpsychologie bleiben nach Ansicht des Autors nämlich spezifische Formen wissenschaftlichen Denkens. Durch seine genannte Einsicht erschließt sich dem geistigen und ästhetischen Horizont Musils dagegen
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eine andere Form des Denkens, die sich auf das sprachliche Experiment und die unendlichen Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache konzentriert und so die Möglichkeit einer anderen Beziehung zwischen Symbol, Bedeutung und Erfüllung auszuloten versteht. Auf diese Form des Denkens, die auch eine neue Beziehung zwischen Erkenntnis und Gefühl erprobt und dergestalt eine andere Form von Evidenz und Erstaunen erreicht, stützt sich in wachsendem Maße seine Idee der Literatur.12
3 Es kann kaum mit Sicherheit gesagt werden, ob auch Nietzsche einen direkten Einfluss auf diese Sprachauffassung ausgeübt hat oder Hinweise, die der Autor aus der Lektüre von Nietzsches Werken bezogen hatte, relevante Spuren in seiner Lesart der Logischen Untersuchungen hinterlassen haben. Im Zuge seiner ersten aufmerksamen Nietzsche-Lektüre im Jahr 1902 hatte Musil folgenden Passus aus der Götzendämmerung wortgetreu notiert: Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugnis der Sinne anzunehmen, – als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten. Der Rest ist Missgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft: will sagen Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnisstheorie. Oder Formal-Wissenschaft, Zeichenlehre: wie die Logik und jene angewandte Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit
12 Gemeinhin wird der Brief, den Musil Anfang 1909 an Alexius Meinong schrieb, um die von diesem angebotene Assistentenstelle an der Universität Graz abzulehnen, ausschließlich aus der Perspektive der biografischen Lebensumstände betrachtet. Gegenwärtig erfährt bekanntlich das Denken von Alexius Meinong und der Grazer Schule eine bedeutende Aufwertung. M. E. ist Musils Entschluss in diesen Zusammenhang einzuordnen, um seine Entscheidung für die Literatur und gegen die Fortsetzung der universitären Tätigkeit im Rahmen der neuen, mit der Ausarbeitung der Gestaltpsychologie zusammenhängenden philosophischen Versuche besser zu verstehen. Trotz einiger Einzelstudien fehlt es an einer erschöpfenden Forschungsarbeit zur besonderen Verknüpfung von Philosophie und experimentellen Wissenschaften, die Carl Stumpf und später Wolfgang Köhler, bis er Deutschland 1935 verließ, auf originelle, fruchtbare Weise praktizierten. Durch eine solche Forschungsarbeit ließe sich auch die Bedeutung von Musils literarischer Produktion im Kontext der für die Moderne kennzeichnenden Beziehung zwischen Denken und Dichtung genauer erfassen. Will man die Reichweite der Wende genau verstehen, die Musil nach Abschluss seines Universitätsstudiums vollzog, darf freilich das biografische Substrat seiner Entscheidungen nicht übersehen werden. Der Tod von Herma Dietz, die Begegnung mit Martha Heimann Marcovaldi, die Eheschließung zwischen Gustav Donath und Alice Charlemont bildeten wesentliche Momente in der Biografie des Schriftstellers, die tiefe Spuren in seinem literarischen Werk hinterließen. Dieses biografische Substrat wurde von Corino 2003, S. 273 ff., meisterlich analysiert.
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gar nicht vor, nicht einmal als Problem; ebenso wenig als die Frage, welchen Werth überhaupt eine solche Zeichen-Convention, wie die Logik ist, hat. (T, S. 32–33)
Musil könnte also schon vor seiner Husserl-Lektüre ein Bewusstsein vom Symbolcharakter der Sprache und von der Logik als „Zeichen-Konvention“ erlangt haben, wie Nietzsche sie theoretisiert hatte.13 Auf jeden Fall gelangt Musil dank seiner Auseinandersetzung mit Husserl zu einer bedeutenden Genealogie der Logik, die sich insbesondere auf die Analyse des Übergangs vom vorlogischen Stadium des menschlichen Denkens zur allmählichen Entstehung der Logik durch die fortwährende Reproduktion bestimmter Vorstellungen stützt. Die spätere Unterscheidung zwischen einem ratioiden und einem nicht-ratioiden Gebiet, die in der gesamten Ästhetik-Auffassung Musils grundlegend ist, deutet sich bereits in dieser genealogischen Rekonstruktion der Ursprünge der Logik an, auf die aller Wahrscheinlichkeit nach zumindest ein entferntes Echo von Nietzsche-Interpretationen seinen Einfluss hatte. Der Zwang zum logischen Denken sei, so Musil, eine angeborene Disposition, ein Erfahrungsniederschlag früherer Generationen, der in die ziellosen Associationen der Gegenwart eingreift. Wie weit läßt sich dies halten? Wo gedacht wurde, wurde schon logisch gedacht. Der Entwicklungsstand zwischen logischem alogischem Denken muß schon in prähistorischen Zeiten stattgefunden haben. Jetzt sehen wir aber an uns, wie alogisch noch wir sehr häufig denken; und oft fällt auch dem unrichtigen Denken das richtige Resultat zu. Was für Verhältnisse müssen es also gewesen sein, in denen der logische Gedankengang vor dem unlogischen auffiel, sich auszeichnete, dem Gedächtnis einprägte? Die „Konstanz der Vorstellung“ ist etwas vorlogisches; sie muß schon dem Handeln der Tiere zugrunde liegen. Der Keim der Logik ist damit schon gegeben. Und auf dieser Stufe ist er entschieden förderlich. Mit seinem Bewußtwerden ist das Prinzip der Identität gegeben. Gegen dieses Prinzip wird auch nie gefehlt: die Identität wird in zahlreichen Fällen bloß nicht erkannt. (T, 130)
Wenn also kaum mit Sicherheit behauptet werden kann, dass die NietzscheLektüre Musil bei seiner Auseinandersetzung mit Husserl vor Augen stand, so
13 Rückblickend betrachtet scheint die Beziehung zwischen Logik, Psychologie und Sprache in den Formen, in denen Musil sie während seiner Husserl-Lektüre analysierte, wichtige Berührungspunkte zu Nietzsches Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne aufzuweisen, das 1895 erstmals veröffentlicht wurde. Es ist durchaus unwahrscheinlich, dass Musil Gelegenheit hatte, diese Schrift kennenzulernen, die Nietzsche nicht für die Veröffentlichung bestimmt hatte. Erwähnenswert ist indes, dass Zanucchi 2010 diese Nietzsche-Schrift als Quelle von erstrangiger Bedeutung für die von Hugo von Hofmannsthal in Ein Brief vertretene Sprachauffassung dargestellt hat. Dies könnte ein Beleg dafür sein, dass Nietzsches Sprachauffassungen die österreichische, namentlich die Wiener Literatur und Kultur der Jahrhundertwende erheblich beeinflusst haben.
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ist dagegen unübersehbar, dass Anregungen, die der eine und der andere ihm lieferten, auf sehr originelle Weise in seiner literarischen Produktion zusammentrafen. Dies war bereits in Die Verwirrungen des Zöglings Törless der Fall, insbesondere in den Schlussbetrachtungen zur Unterscheidung zwischen lebendigen und toten Gedanken, die in Musils gesamtem Werk grundlegend bleiben wird. Der logische Wert der Gedanken – vor allem der logische Wert der Sätze, mit denen wir unsere logisch begründeten Urteile äußern – erschöpft unser Denken und unsere Erkenntnis nicht; es gibt ein Element unserer Erkenntnis, „das nicht mehr Denken, nicht mehr logisch ist“ (GW 6, S. 137). Die Bestimmung dieses Elements führt zur Forderung nach einer genaueren Erforschung der Beziehung zwischen Logik und Psychologie und zwischen Denken und Gefühl zurück, die Musil schon im Verlauf seiner Lektüre der Logischen Untersuchungen erhoben hatte. Außerdem verweist dieses Element auf das Bewusstsein, dass das Denken keine bloße Empfindungsassoziation, sondern ein Akt ist, den Musil in seinem ersten Roman noch als „Seelenzustand“ definiert. Die Erprobung dieser Erkenntnisform, die umfassender ist im Vergleich zu derjenigen, welche sich nur durch den normativen Charakter der Logik definieren lässt, kommt der ästhetischen Dimension zu. So schreibt der Autor am Schluss seines ersten Romans: Eine große Erkenntnis vollzieht sich nur zur Hälfte im Lichtkreise des Gehirns, zur anderen Hälfte in dem dunklen Boden des Innersten, und sie ist vor allem ein Seelenzustand, auf dessen äußerster Spitze der Gedanke nur wie eine Blüte sitzt. ( GW 6, S. 137)
Ein deutlicher Widerhall der Nietzsche-Lektüre ist in der Kennzeichnung der Perspektive dieser großen Erkenntnis zu vernehmen, denn diese ist Ausdruck einer Wahrheit, die wir fühlen, „jenseits vor aller Rechtfertigung, wie einen Anker, der von ihm [dem Gedanken] aus ins durchblutete, lebendige Fleisch riß“ (GW 6, S. 137). Nietzsches Wahrheitsauffassung wird weiter durch die Tatsache bekräftigt, dass der Protagonist von Musils Roman, während er seiner Unterscheidung zwischen den beiden Denkzuständen vor dem zur Beurteilung seines Verhaltens einberufenen Lehrerkollegium Ausdruck verleiht, an die zuvor empfundenen Gefühle zurückdenkt, als er versucht hatte, all seine Verwirrungen seinem Tagebuch anzuvertrauen, und erneut über Kant nachgedacht hatte: „So mußte es gehen: so mußte er die Wahrheiten finden, ohne das Leben, das lebendige, komplizierte, fragwürdige Leben, aus den Händen zu verlieren…“ (GW 6, S. 95). Die neue Beziehung zwischen Wahrheit und Leben, die über Kants Auffassung der Wahrheit – vor allem aber über die neukantianische – hinausgeht,14 14 Wie verschiedene Stellen seiner Tagebücher belegen, bildete sich der junge Musil in einer vom Neukantianismus beherrschten philosophischen Atmosphäre heran. In ihrem Bei-
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ist ein offensichtliches Zeugnis für den tiefen Einfluss, den Nietzsche auf die Entstehung der Verwirrungen des Zöglings Törless ausgeübt hat. Aber in dem Moment, da dieser Einfluss mit den Denkanstößen durch die Auseinandersetzung mit Husserls Logischen Untersuchungen zusammentrifft, erreicht Musil jene Ausdrucksfähigkeit, die durch die Empfindungen des Romanprotagonisten vorweggenommen wird, als er aufgerufen ist, seine Verwirrungen vor dem Lehrerkollegium zu klären: „Törleß fühlte, daß der Augenblick gekommen sei, wo er klar, deutlich, siegesbewußt von dem sprechen werde, das erst undeutlich und quälend, dann leblos und ohne Kraft in ihm gewesen war“ (GW 6, 136). Es ist gewiss keine unzulässige Verallgemeinerung, wenn man diese Worte des Romanprotagonisten als Zeugnis für eine beeindruckende Verschmelzung von nietzscheanischen Elementen – in diesem Fall beispielsweise die Idee eines Siegesbewusstseins – mit Elementen wie der Klarheit und Deutlichkeit interpretiert, die entschieden von der intellektuellen Atmosphäre im von Carl Stumpf geleiteten Institut und von jenem tiefen und gewissenhaften Ernst eines nüchternen rationalen Denkens geprägt sind, das Musil noch 1939 nachdrücklich an Husserl lobt.15 Musil erreicht diese Verschmelzung im Moment der Vollendung seines ersten Romans, als es ihm zugleich gelingt, in der Unterscheidung zwischen lebendigen und toten Gedanken eine tragende Achse seiner gesamten literarischen und essayistischen Produktion zu formulieren. Um zu verstehen, welche Möglichkeiten für eine neue ästhetische Dimension die Verschmelzung von Nietzsche und Husserl eröffnet, kann ein weiteres Element betrachtet werden, das auf diesen letzten Seiten des Zöglings Törless auftaucht. Der Protagonist spricht dort nämlich von früheren Empfindungen und Visionen wie dem leisen Rieseln einer Mauer oder dem schweigenden Leben des plötzlich erhellten Staubes. Derlei Eindrücke, die Törless empfindet, weisen tiefe Analogien zum Empfinden des Malte Laurids Brigge auf, als er bei seinem ziellosen Umherirren in Paris die Mauer eines abgerissenen Hauses trag Robert Musils Berliner Studienjahre hat Silvia Bonacchi (2008) erwähnt, dass der junge Autor möglicherweise vom Neukantianismus Alois Riehls beeinflusst war, der damals in Berlin lehrte. 15 Dieser Hinweis auf Husserl steht in T, S. 776, wo dessen Denken auf die tief reichende methodologische Wende durch Descartes zurückgeführt wird. Er verdankt sich der zuvor erwähnten Cassirer-Lektüre und erlangt im Zusammenhang der gleichzeitigen Arbeit an der Fortsetzung des Mann ohne Eigenschaften (vgl. Anm. 9) besondere Bedeutung. Es ist allseits bekannt, dass die Auseinandersetzung mit Descartes eine wichtige Rolle für Heideggers Denken und seine Nietzsche-Interpretation gespielt hat. Für die Analyse der Beziehung Descartes-Husserl-Cassirer nach den unterschiedlichen Interpretationen Heideggers und Musils kann ein indirekter Vergleich zwischen Musils literarischer Produktion und gewissen philosophischen Positionen Heideggers erhellend sein.
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erblickt. Mit ungewohnter Ausführlichkeit hat Heidegger diesen Passus aus Rainer Maria Rilkes Roman an einer zentralen Stelle seiner Vorlesungen vom Sommersemester 1927 zu den Grundproblemen der Phänomenologie zitiert, die eng verknüpft sind mit Sein und Zeit. Das lange Rilke-Zitat, das auch eine stillschweigende Würdigung des wenig zuvor verstorbenen Dichters darstellt, wurde von Heidegger verwendet, um das der Dichtung eigene „elementare Zum-Wort-Kommen“ zu charakterisieren, das sich seines Erachtens mit dem „Entdecktwerden der Existenz als des In-der-Welt-Seins“ deckt.16 Die besondere Stellung, die Heidegger der Dichtung zuschreibt, verweist letztlich auf den Übergang von einer Phänomenologie des Bewusstseins, wie Husserl sie theoretisiert, zur von Heidegger selbst theoretisierten Phänomenologie des Daseins. Dieser Übergang schließt eine grundsätzliche Neuinterpretation bestimmter Kategorien der husserlschen Philosophie ein, insbesondere der Kategorie der Intentionalität. Aus der Neuinterpretation ergibt sich unter anderem die Nachbarschaft zwischen Denken und Dichtung, die in Heideggers Reflexion ein wachsendes Gewicht erlangte und von Musil auf besonders originelle Weise ins Werk gesetzt wurde.17 So trägt die Beziehung zwischen Nietzsche und Husserl, die meines Erachtens schon am Schluss des ersten Musil-Romans tiefe Spuren hinterlässt, entscheidend dazu bei, eine neue ästhetische Dimension zu erschließen, die in Kunst und Literatur der Moderne eine große Bedeutung erlangen wird. Musils besondere Originalität im Kontext dieser neuen ästhetischen Dimension verdankt sich der Beziehung zwischen Kunst und Wissenschaft – und folglich zwischen Gefühl und Ratio –, die er auch nach Abschluss seiner Dissertation bei Carl Stumpf in Berlin in immer neuen Formen zu verwirklichen sucht. Vor allem die Fragmente zur Theorie des Apperceptors, die die Abfassung der Novellen Vereinigungen vorbereiten und begleiten, zeigen, wie Musil gewisse Aspekte seiner Berliner Studien und seiner Auseinandersetzung mit Husserls 16 Vgl. dazu Heidegger 1975, S. 244 ff. Für eine allgemeinere Bewertung der Beziehung zu Rilke in den Vorlesungen des Jahres 1927 vgl. Herrmann 1985, S. 181 ff. Das Rilke-Zitat bildet einen wichtigen Anfang des Vergleichs zwischen Denken und Dichtung, wie Heidegger ihn in Der Ursprung des Kunstwerkes von 1935/36 auslegt, sowie der eingehenden Auseinandersetzung mit Rilkes Dichtung, die 1946 in Wozu Dichter? ihren Höhepunkt fand. Zu dieser Thematik Herrmann 1994. 17 Affinitäten zwischen Heidegger und Musil – namentlich was die Auffassung des Man und der Eigenschaftslosigkeit angeht, wie u. a. Safranski 1994, S. 194, feststellt – lassen sich unschwer ermitteln. Abgesehen von der Bezugnahme beider auf Husserls Logische Untersuchungen – wenngleich zu unterschiedlicher Zeit und mit ganz verschiedenen Ergebnissen – ermöglichen m. E. die Beschäftigung Heideggers und Musils mit Rilke und die Bedeutung, die dessen Tod für beide erlangte, eine genauere Analyse ihrer philosophischen und ästhetischen Optionen.
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Denken weiterentwickelt, um auf fruchtbare Weise mit einer neuen Literaturauffassung zu experimentieren. In den Apperceptor-Fragmenten versucht Musil nämlich, die Beziehung zwischen Gefühl und Verstand genauer zu umreißen. Er analysiert darin die verschiedenen Wahrnehmungskomponenten, und diese Analyse führt ihn zur Unterscheidung zwischen der objektiven Welt, den Organen ihrer Wahrnehmung, und dem Apperceptor, den er als ein „Constituens der Ichvorstellung“ fasst.18 So wirken seiner Meinung nach in jeder Wahrnehmungsform ein Gefühlsfaktor und ein intellektueller Faktor, die gewöhnlich einen Gleichgewichtszustand erreichen. Aber in bestimmten psychologischen Zuständen, vor allem in Situationen der Entfremdung oder Depersonalisation, wird dieses Gleichgewicht der beiden Faktoren gestört und die von dem Gefühlsfaktor in der Wahrnehmung erfüllte Funktion tritt stärker hervor. Die Aufgabe, die Musil der Literatur zuschreibt, besteht genau in der Gestaltung von Situationen, in denen das gewohnte Gleichgewicht der beiden Faktoren in die Krise gerät und andere Lebens- und Wahrnehmungsmöglichkeiten zu Tage gefördert werden. So ahnt man „neben der scheinbar objectiven, festen und rationalen Welt“ eine „bewegliche, singuläre, visionäre und irrationale“ Welt (T II, 930). Insbesondere die Geschichte Claudines in einer der beiden Novellen Vereinigungen – Die Vollendung der Liebe – setzt die theoretischen Grundlagen der Fragmente über den Apperceptor vorbildlich um.19 Zwei grundlegende Erzählstränge des Mann ohne Eigenschaften, die gleichzeitig mit der Entstehung der Novellen Gestalt anzunehmen beginnen – d. h. die Geschichte von Clarisse, der glühenden Anhängerin von Nietzsches Ideen, und die der Zwillingsschwester des Protagonisten Agathe – zeigen ebenfalls tiefe Verbindungen zur Theorie über den Apperceptor. Auch in diesem Fall bewerkstelligt Musil auf literarischer Ebene eine fruchtbare Überlagerung nietzeanischer Themen – wie vor allem die Figur Clarissens deutlich macht –, solcher, die mit den Entwicklungen der Gestaltpsychologie am Institut von Carl Stumpf verknüpft sind, wie beispielsweise die experimentelle Erforschung der verschiedenen Wahrnehmungskomponeten,
18 Die Fragmente der Theorie über den Apperceptor sind in T II, S. 927, wiedergegeben; zu deren Analyse vgl. Venturelli 1988, S. 135 ff. und Bonacchi 1998, S. 99 ff. In demselben Beitrag (S. 94ff) hat Bonacchi sich zudem einigen Aspekten des Werks von Traugott Konstantin Oesterreich in Bezug zur Theorie über den Apperceptor zugewandt. Oesterreich hatte sich auch mit Themen der husserlschen Theorie befasst und war eine wichtige Quelle für Musils Beschäftigung mit Husserl in den Jahren nach Abschluss seines Studiums, wie auch De Angelis 2004, S. 196 ff., erwähnt. 19 Vgl. auch dazu Venturelli 1988, S. 139 ff. und Bonacchi 2010.
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und anderer Motive, wie etwa die auf die Ichvorstellung bezogenen, die sich auf Husserls Denken zurückführen lassen.20 Auf die komplexen Beziehungen zwischen einer „festen Welt“ und der Sphäre eines Gedichts, „das die im ganzen Dasein versteckte Unruhe, Unstetheit und Stückhaftigkeit nicht vergessen kann“ (GW 8, S. 1240), kommt Musil am Schluss seiner Rede zur Rilke-Feier zurück, die er zu Ehren des kurz zuvor verstorbenen Dichters im Januar 1927 in Berlin hielt, also wenige Monate, bevor Heidegger, wie weiter oben erwähnt, in seinen Vorlesungen des Sommersemesters im selben Jahr das lange Rilke-Zitat anführte. In Musils Augen geht es in Rilkes Dichtung, in der alle Dinge und Vorgänge durch die Sprache untereinander verwandt sind, „um das Gefühl als Ganzes, auf dem die Welt wie eine Insel ruht“ (GW 8, S. 1240). Die Rilke-Rede ist ein besonders bedeutendes Zeugnis der poetologischen Reflexion und der Ausarbeitung einer ästhetischen Theorie, die auf der originellen Fortentwicklung experimenteller, aus der Gestaltpsychologie gewonnener Ideen beruht, wie Musil sie während der ganzen komplexen Entstehung von Band 1 des Mann ohne Eigenschaften und auch später fortsetzte.21 Spuren dieser poetologischen Reflexion finden sich in der Idee einer Erfindung der Geschichte, die der Protagonist in einigen Schlüsselkapiteln aus Teil 1 des Romans vertritt, um eine angemessene Antwort auf Clarissens Vorschlag der Feier eines Nietzsche-Jahres zu geben. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Musil immer noch an Rilke dachte, als er einige Jahre später in Der Mann ohne Eigen20 Für die literarische Gestaltung der Geisteskrankheit von Alice Donath, d. h. für die Entstehung der Clarisse-Figur in Der Mann ohne Eigenschaften, war die Lektüre von Ecce Homo im Dezember 1911 in der 1908 erschienenen, von van de Velde grafisch gestalteten Edition von großer Bedeutung. Obgleich das Agathe-Thema im Roman erst nach dem Ersten Weltkrieg in Musil Gestalt anzunehmen begann, fand die Italienreise von Robert und Martha Musil, die ebenfalls erst nach dem Ersten Weltkrieg literarisch verarbeitet wurde, im September-Dezember 1910 statt. Zur Beziehung Musils zu Nietzsche, Stumpf und Husserl vgl. Venturelli 1988, Bonacchi 1998. 21 Diese poetologische Reflexion über gewisse Entwicklungen der Gestaltpsychologie nahm 1921 mit der Rezension des Bandes Wege zur Kunstbetrachtung, von seinem Freund Gustav Johannes Allesch, ihren Anfang. Auch Allesch war Schüler von Carl Stumpf, Assistent am von diesem geleiteten Institut und zum Teil wirkliches Vorbild für die Walter-Figur in Der Mann ohne Eigenschaften. Ihren Höhepunkt fand die Reflexion im Essay Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu vom September 1931. Vor allem in den Schlusskapiteln von Teil 1 des Romans tritt die Wechselbeziehung zwischen dem erzählerischen Schreiben und der poetologischen Reflexion deutlich hervor. Für die Auffassung des Romans als Gestalt sind die Briefe, die Musil 1929 und 1930 an Allesch schrieb, besonders aufschlussreich. Natürlich blieb der Zusammenhang zwischen der Konzeption des Romans und der Gestaltpsychologie auch für die Fortsetzung des Werkes wesentlich, insbesondere für den zweiten Teil Für die Untersuchung dieser Themen vgl. Venturelli 1988, Bonacchi 1998, De Angelis 2004 und Fanta 2000.
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schaften die Idee einer Erfindung der Geschichte mit ganz ähnlichen Worten erklärte wie in der Rede von 1927: „Vollends ein Gedicht mit seinem Geheimnis schneidet ja den Sinn der Welt, wie er an tausenden alltäglichen Worten hängt, mitten durch und macht ihn zu einem davonfliegenden Ballon“ (GW 2, S. 367). Die Bedeutung dieser Beziehung zwischen Gefühl, Sinn, Sprache und Geschichte lässt sich kaum verstehen, ohne den Zusammenhang zwischen Gestaltpsychologie und Literaturauffassung zu berücksichtigen, der das wichtigste Resultat von Musils Studium bei Carl Stumpf in Berlin darstellt. Erst die tiefe Beziehung zwischen Kunst und Wissenschaft, die Musil stets gemäß Nietzsches Idee des freien Geistes konzipierte, macht verständlich, wie die Auffassung der ästhetischen Schönheit sich in seinem Werk mit einem scharfen Bewusstsein von der radikalen Wende der Geschichte verbinden konnte, die im Laufe des Ersten Weltkriegs und nach dessen Ende eingetreten war: Jetzt war „die Zeit der heroisch-politischen Geschichte, die vom Zufall und seinen Rittern gemacht wird“, endgültig vorbei, und das Bewusstsein hatte sich breitgemacht, dass sie abgelöst werden musste „durch eine planmäßige Lösung, an der alle beteiligt sind, die es angeht“ (GW 2, 362). Nach Meinung des Autors setzt eine solche Teilnahme an einem authentischen Projekt auch eine Neubestimmung unserer Wahrnehmungsweise der objektiven Wirklichkeit voraus. Deshalb hinterfragte er die Beziehungen zwischen intellektuellen Komponenten und Gefühlskomponenten, die unser gesamtes Verhältnis zur Geschichte und zur Welt bedingen. Wie wir gesehen haben, wäre die Erforschung dieser Beziehungen kaum möglich gewesen ohne die einzigartige Verknüpfung zwischen Nietzsche, Husserl und Gestaltpsychologie, die Musils spezifischen und originellen Ort innerhalb der Nietzsche-Rezeption ausmacht.22
Bibliographie 1. Siglenverzeichnis GW: Musil, Robert (1978): Gesammelte Werke in neun Bänden. Hrsg. von Adolf Frisé.: Bde. 1.–5.: Der Mann ohne Eigenschaften; Bd. 6.: Prosa und Stücke; Bd. 7.: Kleine Prosa Aphorismen Autobiographisches; Bd. 8.: Essays und Reden; Bd. 9.: Kritik. Hamburg. T: Musil, Robert (1983): Tagebücher. Hrsg. von Adolf Frisé. Bd. 1.: Tagebücher. Hamburg. T II: Musil, Robert (1983): Tagebücher. Hrsg. von Adolf Frisé. Bd. 2.: Tagebücher. Anmerkungen Anhang Register. Hamburg.
22 Gedanken zu dieser Konzeption der Erfindung der Geschichte finden sich in dem Kapitel Über die Eigenschaftslosigkeit in Venturelli (1988), 201 ff. Für ein eingehenderes Verständnis von Musils Geschichtsauffassung kann sich die Auseinandersetzung mit den (siehe Anm. 6)
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2. Literaturverzeichnis Bonacchi, Silvia (1992): Robert Musils Studienjahre in Berlin (1903–1908). Saarbrücken. Bonacchi, Silvia (1998): Die Gestalt der Dichtung. Der Einfluß der Gestalttheorie auf das Werk Robert Musils. Bern u. a. Bonacchi, Silvia (2010): Robert Musils „Vereinigungen“ als Erzählexperiment. In: Raul Calzoni/Massimo Salgaro (Hrsg.): „Ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment“. Literatur und Wissenschaft nah Neunzehnhundert. Göttingen, S. 191–214. Corino, Karl (2003): Robert Musil. Eine Biographie. Hamburg. Daigger, Annette/Henninger, Peter (Hrsg.) (2008): Robert Musils Drang nach Berlin. Internationales Kolloquium zum 125. Geburtstag des Schriftstellers. Bern u. a. De Angelis, Enrico (2004): Der Nachlaßband von Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Pisa. De Angelis, Enrico (2007): „Nietzsches Zarathustra“. In: Sandro Barbera/Renate Müller-Buck (Hrsg.): Nietzsche nach dem ersten Weltkrieg. Bd. 1. Pisa, S. 89–111. Fanta, Walter (2000): Die Entstehungsgeschichte des „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil. Wien u. a. Gori, Pietro (2009): „The Usefulness of Substances. Knowledge, Science and Metaphysics in Nietzsche and Mach“. In: Nietzsche-Studien 38, S. 111–155. Heidegger, Martin (1975): Gesamtausgabe. Bd. 24.: Die Grundprobleme der Phänomenologie. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M. Heidegger, Martin (1977): Gesamtausgabe. Bd. 2: Sein und Zeit. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M. Heidegger, Martin (2007): Gesamtausgabe. Bd. 14: Zur Sache des Denkens. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M. Herrmann, Friedrich-Wilhelm von (1985): Subjekt und Dasein. Interpretationen zu „Sein und Zeit“. Frankfurt a. M. Herrmann, Friedrich-Wilhelm von (1994): Heideggers Philosophie der Kunst. Frankfurt a. M. Husserl, Edmund (1980): Logische Untersuchungen. Bd. 1.: Prolegomena zur reinen Logik; Bd. 2/1.: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis; Bd. 2/2.: Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis. 6. Auflage. Tübingen. Köhler, Wolfgang (1922): Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand. Braunschweig. Kurzke, Hermann (2000): Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie. München. Neymeyr, Barbara (2009): „Identitätskrise – Kulturkritik – Experimentalpoesie. Zur Bedeutung der Nietzsche-Rezeption in Musils Roman ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘“. In:
Schlusskapiteln von Sein und Zeit als fruchtbar erweisen. Entsprechend Heideggers Kritik an Hegel betrachtet auch Musil die Geschichte nicht mehr als Entfaltung des Geistes in der Zeit, zugleich ist seine Beziehung zu Nietzsche aber, wenigstens auf der Ebene seiner literarischen Produktion, umfassender und komplexer als diejenige, die Heidegger in Sein und Zeit mit seiner Interpretation der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung aus einer stark von Dilthey geprägten Perspektive entwickelt. Ganz verschieden im Vergleich zu Heidegger bleibt bei Musil die Beziehung zwischen Kunst und Wissenschaft, die auch seine Geschichtsauffassung erheblich beeinflusst. Auch in dieser Hinsicht spielt Musils Werk in der Geschichte der Nietzsche-Rezeption im 20. Jahrhundert eine wesentliche Rolle.
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Thorsten Valk (Hrsg.): Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne. Berlin u. a., S. 163–182. Pieper, Hans-Joachim (2002): Musils Philosophie. Essayismus und Dichtung im Spannungsfeld der Theorie Nietzsches und Machs. Würzburg. Rzehak, Wolfgang (1993): Musil und Nietzsche: Beziehungen der Erkenntnisperspektiven. Bern u. a. Safranski, Rüdiger (1994): Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit. München u. a. Venturelli, Aldo (1988): Robert Musil und das Projekt der Moderne. Bern u. a. Venturelli, Aldo (2009): L’età del moderno. La letteratura tedesca del primo Novecento (1900– 1933). Roma. Venturelli, Aldo (2010): „Robert Musil und die Idee einer ‚klassischen Moderne‘“. In: Mauro Ponzi (Hrsg.): Klassische Moderne. Ein Paradigma des 20. Jahrhunderts. Würzburg, S. 17–34. Zanucchi, Mario (2010): „Nietzsches Abhandlung Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne als Quelle von Hofmannsthals Ein Brief“. In: Jahrbuch der Deutschen SchillerGesellschaft 54, S. 264–290.
Sebastian Hüsch
Nietzsche in Vollendung? Robert Musil und die Krise der abendländischen Philosophie Im Rahmen der posthumen Wirkung Nietzsches den Namen Musils aufzurufen ist sicherlich nicht die überraschendste und revolutionärste aller Ideen. Wenn in dem vorliegenden Beitrag beide Denker zueinander in Beziehung gerückt werden, dann soll damit selbstverständlich nicht der Anspruch erhoben werden, die sehr umfangreiche, ja mittlerweile fast unüberschaubare Musil-Forschung zu diesem Thema neu zu erfinden. Im Grunde sollen folgende Überlegungen auch nicht primär dazu dienen, einen Nachweis konkreter Einflüsse Nietzsches auf Musil zu leisten, oder jedenfalls nur am Rande.1 Vielmehr werde ich mich im Folgenden vor allem darum bemühen, einen ganz besonderen Aspekt im Schreiben Musils herauszustellen und zwar als ein zentrales Charakteristikum genuin Musilscher Reflexion und Ausweis von dessen erkenntnisphilosophischer Behutsamkeit, um darauf aufbauend zu fragen, wie diese Überlegungen an seine Auseinandersetzung mit Nietzsche rückgebunden werden können. Konkret soll es darum gehen zu fragen, in welcher Art und Weise bei Robert Musil das Problem der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und der ihm eigene Schreibstil aufeinander verweisen. Dabei soll die These vertreten wer1 Dass Musil bereits in zahlreichen Arbeiten und aus den verschiedensten Perspektiven in den Kontext der Nietzscheschen Philosophie gestellt wurde, das ergibt bereits ein flüchtiger Blick in die Sekundärliteratur. Das Spektrum reicht dabei von Interpretationen, die den Mann ohne Eigenschaften quasi zur literarischen Umsetzung der Philosophie Nietzsches machen, wie die einschlägige Arbeit Dressler-Brumme, die in der Hauptfigur Ulrich „Parallelen zum geistigen Werdegang Nietzsches“ (Dressler-Brumme 1987, S. 65) entdeckt und einen Großteil der Musilschen Reflexionen im Roman auf Nietzsche zurückführt. Gegen eine solche Leseart einzuwenden wäre zuallererst Musils Ablehnung jeder Art von Epigonenschaft. Diese Ablehnung zeigt sich deutlich in der Figur der Clarisse in Musils Roman, die eindringlich das Missverständnis einer ‚Nachfolge‘ veranschaulicht, wie Vatan (2000, S. 38), zutreffend hervorhebt: „Sous l’effet de sa fascination, Clarisse enfreint la règle d’or musilienne selon laquelle tout idéal pris à lettre se meut en son contraire.“ Am anderen Ende des Spektrums stehen Überlegungen Maurice Blanchots, der der Überzeugung ist, dass Musil Nietzsches Philosophie, von der er freilich Einflüsse aufnehme, letztlich abgelehnt habe (vgl. Blanchot 1962, S. 189). Vermutlich liegt die Wahrheit wohl wie meist irgendwo zwischen diesen Extremen und die Beziehung sowohl des Romans als auch seines Autors zur Philosophie Nietzsches ist dahingehend ambivalent, dass dessen Ideen zum einen satirisch aufgenommen und so indirekt kritisiert werden, zum anderen aber auch – zu denken wäre etwa an den Perspektivismus – in die Grundkonzeption des Romans eingegangen sind.
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den, dass Musil in Bezug auf die Einschätzung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit durchaus in der Nähe von Nietzsche steht, dass er aber zugleich von dieser Grundlage aus einen eigenen Weg einschlägt, dessen philosophische Pertinenz sich letztlich ganz besonders im Wie der Darstellung niederschlägt. Dabei, so möchte ich argumentieren, erlaubt ihm sein eigenes methodologisches Vorgehen, erkenntnistheoretisch mit Nietzsche auf Augenhöhe zu bleiben und dennoch über Nietzsche hinauszugehen. Meine Überlegungen sollen ihren Ausgang nehmen von einer bekannten Notiz Musils, die dessen Schreiben fast explizit in einen nietzscheanischen Kontext stellt. So notiert Robert Musil bereits recht früh (Hefte der Jahre 1899– 1904) in seinem Tagebuch: Das Charakteristische liegt darin, daß er [Nietzsche] sagt: dies könnte so sein und jenes so. Und darauf könnte man dies und darauf jenes bauen. Kurz: er spricht von lauter Möglichkeiten, lauter Combinationen, ohne eine einzige ausgeführt zu zeigen. (Tb, S. 19)2
Diese Bemerkung wird dann von Musils weiter präzisiert, indem er vom Verwies auf den Mangel an ausgeführten Möglichkeiten zu der folgenden kritischen Überlegung gelangt: Daß man aber nur dann denn Werth einer Idee beurtheilen kann, ja überhaupt dann erst sieht, mit wem man es zu thun hat, ist klar. Es ist nichts Lebendiges in dieser Art – das Gehirn phantasiert. Hier ist es ja allerdings noch das +++ Gehirn Nietzsches – aber es giebt Leute, bei denen diese Art ganz unerträglich wird, ein Leben für sich. Siehe Nietzsche. Welches Fiasco sobald man in ihm ein System finden will, außer dem der geistigen Willkür des Weisen. (Tb, S. 19)3
Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass die Kritik Nietzsche trifft und sie ihn zugleich nicht trifft, insofern die Tiefe seines Denkens gleichsam kompensato2 1899 notiert Musil an anderer Stelle und in die gleiche Richtung gehend: „Etwas über Nietzsche. Man nennt ihn unphilosophisch. Seine Werke lesen sich wie geistreiche Spielereien. Mir kommt er vor wie jemand der hundert neue Möglichkeiten erschlossen hat und keine ausgeführt. Daher lieben ihn die Leute denen neue Möglichkeiten Bedürfnis sind, und nennen ihn jene unphilosophisch die das mathematisch berechnete Resultat nicht missen können. Nietzsche an sich >Jugendliche Anmaßung!< hat keinen zu großen Wert. Nietzsche aber und zehn tüchtige geistige Arbeiter, die das thun, was er nur zeigte, brächten uns einen Culturfortschritt von tausend Jahren. – Nietzsche ist wie ein Park, der Benutzung des Publikums übergeben – aber es geht niemand hinein!“ (Tb, S. 50). Es ist kaum überraschend, dass diese Überlegungen Musils zu Nietzsche in der Sekundärliteratur verschiedentlich mit dem Romanprojekt Der Mann ohne Eigenschaften in Verbindung gebracht wurden. Vgl. Luft 1980, S. 41; Pieper 2002, S. 150. 3 Hier findet sich dieser Gedanke quasi im ‚Rohzustand‘. Die in dieser Notiz enthaltene Positionierung im Verhältnis zu Nietzsches Philosophie wird dann in philosophisch tragfähiger Art und Weise im Mann ohne Eigenschaften wieder auftauchen.
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risch wirkt in Bezug auf den Mangel an Ausführung. Mehr als gegen Nietzsche selbst richtet sich die Notiz Musils wohl gegen jene Epigonen, die sich dem Nietzscheanismus verschrieben haben.4 Was mich hier zunächst an dem Zitat interessiert, ist die Tatsache, dass Musil mit dem Betonen der Combinationen und Möglichkeiten auf den für das Denken Nietzsches charakteristischen Perspektivismus verweist, aus dem eine ganz fundamentale erkenntnistheoretische Konsequenz zu ziehen ist. Ein Denken, das den epistemologischen Perspektivismus ernst nimmt und ihm gerecht werden will, kann niemals in ein System überführt werden. Der Versuch, es dennoch zu tun, muss, wie Musil es ausdrückt, unweigerlich zum Fiasco führen. Ein ähnlicher Gedanke findet sich dann im Mann ohne Eigenschaften wieder, wo er den Erzähler über Ulrich sagen lässt: Er war kein Philosoph. Philosophen sind Gewalttäter, die keine Armee zur Verfügung haben und sich deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, daß sie sie in ein System sperren. (MoE, S. 53)5
Diese Tagebuchnotiz und die obige kurze Reflexion über Ulrich aus dem Mann ohne Eigenschaften sollen den Rahmen der folgenden Überlegungen bilden, um darauf aufbauend zu versuchen den titelgebenden Gedanken zu entwickeln, dass Musil in gewisser Hinsicht Nietzsche in Vollendung ist. Während die Aufzeichnungen aus dem Tagebuch auf den Perspektivismus verweisen – der bei Musil als „Essayismus“ (MoE, S. 247) beziehungsweise „Möglichkeitssinn“ (MoE, S. 16) wiederkehrt – macht die Passage aus Musils Roman auf die Notwendigkeit aufmerksam, eine dem Denken in Möglichkeiten angemessenen Form zu finden, die nicht die des philosophischen Systems, ja nicht einmal die einer systematisch-philosophischen Abhandlung sein kann. Anders gesagt geht es darum, dass der erkenntnistheoretischen Einsicht der Unhintergehbarkeit der Perspektivität formal, das heißt im Stil, Rechnung getragen wird.6 Der Roman Der Mann ohne Eigenschaften scheint mir direkt aus dieser Problemkonstellation hervorzugehen, und zwar selbstverständlich zunächst einmal insofern als der Roman als literarischer Text der Möglichkeitsraum par excel4 Diese Kritik findet sich selbstverständlich auch im Mann ohne Eigenschaften wieder, in dem ein ganzes ‚Kabinett‘ von Nietzsche-Epigonen aufgefahren wird. Vgl. Vatan 2000, S. 36– 37. 5 Diese Bemerkung lässt selbstverständlich recht unmittelbar an Nietzsche selbst denken, der in der Götzendämmerung notiert hatte: „Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille um System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit“ (GD, KSA 6, S. 63). 6 Zur Bedeutung des Stils als Ausweis des methodologischen Vorgehens vgl. Granger 1968, Granger 1990 und Frank 1995.
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lence ist, in dem Musil Möglichkeiten als Möglichkeiten denken und als solche auch ausführen kann, womit er dem bei Nietzsche konstatierten Defizit fehlender Entwicklung abzuhelfen trachtet. Der literarische Rahmen des Romans schafft einen Raum, der nicht den Bedingungen der romanexternen Wirklichkeit unterliegt, zugleich aber innerhalb seiner eigenen Fiktion jene romaninterne Wirklichkeit erzeugen kann, in der Möglichkeiten überhaupt erst entwickelt werden können (vgl. hierzu Horn 1981, S. 18 ff.). In Bezug auf die Bedeutung der Wahl des Romans als Medium ist im Übrigen eine Lektürenotiz Musils überaus aufschlussreich – und zwar notiert er die folgende Reflexion Friedrich Schlegels: „Die Romane sind die Sokratischen Dialoge unserer Zeit. In diese liberale Form hat sich die Lebensweisheit vor der Schulweisheit geflüchtet“ (KA II, S. 149).7 Der Musilsche Roman scheint mir als eine ebensolche im Schlegelschen Sinne liberale Form des Philosophierens begriffen werden zu können.8 Dasselbe könnte selbstverständlich bereits von Nietzsches Stil gesagt werden, besonders vom fragmentarischen Charakter als Ausdruck des Perspektivismus.9 Der Roman in seiner Musilschen Variante erlaubt es aber, noch einen Schritt weiter zu gehen, indem Musil hier Combinationen systematisch entfalten kann, ohne jedoch damit zugleich die Falle des philosophischen Systems zu geraten. Wenn also Nietzsche Möglichkeiten und Combinationen zunächst einmal überhaupt aufzeigt und gegen die traditionelle systematische, auf Eindeutigkeit und Letztbegründungen basierende abendländische Philosophie ins Feld führt, setzt Musil diesen Ansatz auf seine Art fort, wenn er den Roman als textuellen Raum nutzt, in dem solche Möglichkeiten und Combinationen dann auch entwickelt werden können. Der Roman ist in diesem Sinne angewandter Essayismus, in dessen Rahmen Ideen hervorgebracht, entwickelt, relativiert, kritisiert und verworfen werden können und damit gelingt Musil, wie Hans Joachim Pieper zutreffend konstatiert, „literarisch, was theoretisch stets mißlingt: der relativistische Perspektivismus wird seinerseits perspektivistisch relativiert“.10 Aber meines Erachtens geht Musil nicht nur an dieser Stelle über Nietzsche hinaus, sondern er ‚korrigiert‘ Nietzsche noch in einem weiteren, gerade im epistemologischen Kontext entscheidenden Punkt: Nietzsches Kritik an der 7 Vgl. Musil GW III, S. 722. 8 Musils Schreiben verweist durchaus in Richtung auf eine Art von „Transcendentalpoesie“, wie sie von der Frühromantik postuliert wird, insofern Musil im Mann ohne Eigenschaften bemüht ist, auch die sprachlichen Grenzen des philosophischen Diskurses zu transzendieren. Vgl. Jakob 1992, S. 13–24, Hüsch 2004, S. 296 ff. 9 Vgl. zum Fragment als Ausdruck philosophischen Stils Frank 1989. 10 Pieper 2002, S. 150, Hervorhebung im Original.
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Metaphysik und der Erkenntnistheorie der abendländischen Tradition dreht sich fundamental immer wieder besonders um zwei Aspekte: Das ist zum einen das, was Nietzsche für den Grundirrtum der Philosophie hält, nämlich das Letzte und das Erste zu verwechseln und damit die aus den Lebensprozessen hervorgegangene Vernunft als dem Leben vorgehend zu begreifen (vgl. GD, KSA 6, S. 76). Daraus resultiere die für die abendländische Philosophie charakteristische maßlose Überschätzung der Tragfähigkeit der menschlichen Vernunft, genauso wie in letzter Konsequenz der Glaube an Gott, der vom Begriff zur Entität werde, womit es so aussieht als sei „[d]as Letzte, Dünnste, Leerste“ das Erste, die „Ursache an sich, [das] ens realissimum“ (GD, KSA 6, S. 76). Daneben kritisiert er immer wieder die erkenntnistheoretisch nicht gedeckte Introduktion einer hinter unserer ‚Scheinwelt‘ verborgenen ‚wahren‘ und idealen Hinterwelt: „Aber damit wird Heraklit ewig Recht behalten, dass das Sein eine leere Fiktion ist. Die ‚scheinbare‘ Welt ist die einzige: die ‚wahre Welt‘ ist nur hinzugelogen“ (GD, KSA 6, S. 75). Gegenüber der Überhöhung der menschlichen Vernunft betont Nietzsche deren Ursprung in und Abhängigkeit von biologischen Prozessen11 und gegen die Annahme eines ewigen Seins mit Heraklit die Veränderung, das Entstehen und Vergehen. Im Endergebnis wird auf dieser Grundlage Erkenntnis im traditionellen Sinne der abendländischen Philosophie schlechterdings unmöglich.12 Wie verhält es sich bezüglich dieser Fundamentalkritik mit Musil? Auch Musil ist bemüht, sein Denken diesseits der Fragwürdigkeit traditioneller Erkenntnisprinzipien zu platzieren. Zugleich scheint er jedoch zumindest auf den ersten Blick hinter Nietzsche zurückzubleiben und zwar gerade im Hinblick auf die Frage der Existenz einer Hinterwelt beziehungsweise eines transzendenten Prinzips. Denn im Mann ohne Eigenschaften geht es eben nicht nur um eine Relativierung des Anspruchs der Vernunft,13 sondern letztlich vor 11 Die bescheidene Tragweite der Vernunft hatte selbstverständlich schon Blaise Pascal betont, der namentlich in den Pensées ihr nicht nur eine Erkenntnis Gottes nicht zutraut (wie Ferreyrolles zutreffend notiert: „La raison chez Pascal ne cède qu‘à elle-meme quand elle reconnaît un au-delà de la raison“; Vorwort der Pensées, S. 28), sondern sie vor allem der menschlichen Vorstellungskraft ausgeliefert sieht und letztlich zu dem Fazit gelangt: „La raison a beau crier, elle ne peut mettre le prix aux choses“ (Pensées, Fragment 78, S. 66). 12 Hinzu käme selbstverständlich noch ein weiterer zentraler Aspekt, und zwar das, was Nietzsche in über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne als den metaphorischen Charakter der Sprache expliziert (vgl. WL, KSA 1, S. 880 ff.), d.h. die Dependenz der ‚Wahrheit‘ von der Grammatik. Dieser Aspekt gehört sicherlich ebenfalls in den hier behandelten Kontext, muss aber aus Platzgründen ausgeklammert werden. 13 Vgl. das Musilsche „Prinzip des unzureichenden Grundes“, das gleichsam eine ‚negative Kausalität‘ konstruiert, die besagt, dass immer genau das geschehe, „was eigentlich keinen rechten Grund hat“ (MoE, S. 134). Vgl. hierzu auch Bouveresse 1993.
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allem auch um den Versuch einer Aussöhnung von Vernunft und Mystik (vgl. Peters 1978, S. 10) und um die Einholung dessen, was Musil den „anderen Zustand“ (MoE, S. 1254) nennt. Im Kontext der Darstellung des anderen Zustands erscheint die Hauptfigur Ulrich durchaus als so etwas wie ein Gottsuchender, der nach transzendenter Sinnfundierung strebt.14 Seine Haltung bleibt in diesem Kontext zwar über die gesamte Romandauer ambivalent,15 jedoch scheint mir dieses Element unleugbar und von unbestreitbarer Wichtigkeit als eine der im Rahmen des Romans entwickelten Möglichkeiten.16 Diese Affinität zum Göttlichen und Hoffnung auf die Möglichkeit eines anderen Zustands lässt also durchaus den Verdacht aufkommen, als falle Musil hinter Nietzsche zurück, insofern er die ausgetretenen Pfade des Glaubens an eine Hinterwelt zumindest als Möglichkeit zurückkehren lässt. Jedoch ließe sich auch fragen, ob es sich hier nicht genau umgekehrt verhält. Nietzsche versucht, die Vernunft als dasjenige plausibel zu machen, was als ‚Letztes‘ gekommen ist und argumentiert, der Versuch, über die Vernunft die Existenz Gottes oder einer wie auch immer gearteten Hinterwelt nachzuweisen, gehe auf eine Überschätzung der Vernunft zurück und sei zum Scheitern verurteilt. Radikal stellt Nietzsche der traditionellen Ansicht vom göttlichen Ursprung der Vernunft die Behauptung entgegen, diese sei nicht mehr als ein Instrument von allein immanenter Reichweite.17 Damit gerät aber auch die für Nietzsche zentrale Position, dass eine Hinterwelt nur hinzugelogen sei, in Gefahr und man könnte den Vorwurf genauso umkehren und sagen, dass 14 So sagt Musil selbst in der ihm eigenen paradoxen Weise, der Mann ohne Eigenschaften sei „religiös unter den Voraussetzungen der Ungläubigen“ (MoE, S. 1940). Auch der Versuch einer Aufwertung der Mystik und das Experiment des anderen Zustands scheinen mir in diese Richtung deutbar. Vgl. dazu auch von Heydebrand 1966, 159 ff., Schöne 1961, S. 212– 213.; Bouveresse 2001, S. 71. 15 In diesem ambivalenten Schwanken findet sich freilich eine überaus interessante Parallele zu Friedrich Schlegels Postulat eines Alternierens von Enthusiasmus und Ironie. 16 Diese Orientierung wird namentlich in einer Reflexion über die Essayisen als Erdenker neuer Möglichkeiten sichtbar: „Es hat nicht wenige solcher Essayisten und Meister des innerlich schwebenden Lebens gegeben, aber es würde keinen Zweck haben, sie zu nennen; ihr Reich liegt zwischen Religion und Wissen, zwischen Beispiel und Lehre, zwischen amor intellectualis und Gedicht, sie sind Heilige mit und ohne Religion, und manchmal sind sie auch einfach nur Männer, die sich in einem Abenteuer verirrt haben“ (MoE, S. 253–254). Vgl. auch von Heydebrand 1966, S. 160: „Nach [Musils]Vorstellung ist Gott der Schöpfer oder der schöpferische Impuls einer bestimmten Art von Welt, die noch im Werden ist und zu ihrer Vervollkommnung der aktiven Mitarbeit des Menschen bedarf. Es ist die Welt der offenen Möglichkeiten und des Möglichkeitsmenschen.“ 17 Vgl. WL, KSA 1, S. 876, wo Nietzsche die Vernunft als „Hülfsmittel“ bezeichnet, das allein dazu geeignet sei, die „unglücklichsten delikatesten vergänglichsten Wesen […] eine Minute im Dasein festzuhalten“.
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Nietzsche eine Hinterwelt hinweglügt – zumindest als Möglichkeit. Denn seine eigene Vernunftkritik untergräbt ja gerade die Möglichkeit, diesbezüglich im Rückgang auf die Vernunft überhaupt etwas sagen zu können.18 Genau dieser Schwierigkeit scheint mir Musil in besonderer Weise methodisch Rechnung zu tragen, indem er die Hinterwelt nicht als hinzugelogen verabschiedet, sondern die Existenz einer solchen als möglich expliziert. Gerade hier nun spielt die formale Gestaltung der Entfaltung dieser Möglichkeit eine zentrale Rolle. Wie gesehen konstituiert der Roman für Musil eine Art Rückzugsgebiet, ein philosophisches Spielfeld außerhalb der „Schulphilosophie“. Dabei verwendet er die literarische Form nicht nur, um der Wirklichkeit die Möglichkeit einer literarischen Fiktion entgegenzustellen, innerhalb derer er Möglichkeiten und Combinationen entwickeln kann, sondern der Roman eröffnet ihm zugleich die Möglichkeit, Erkenntnis und Erkenntniskritik zusammenzuführen – und zwar indem er die Möglichkeit der romaninternen Wirklichkeit durch ein Erzählen im Modus der Ironie auf romaninterner Ebene erneut bricht und somit dem Roman als Möglichkeit gegenüber der romanexternen Wirklichkeit auch noch die Möglichkeit einer potenzierten Vermöglichung der Möglichkeit einschreibt. In diesem Sinne ist alles, was im Roman philosophisch gesagt wird, mehrfach reflexiv gebrochen, so dass man sagen könnte, dass nicht nur der relativistische Perspektivismus seinerseits perspektivistisch relativiert wird, sondern im Grunde auch die Relativierung des relativistischen Perspektivismus ihrerseits wieder perspektivisch relativiert wird.19 Die multiple Brechung erfolgt zunächst durch die Literarizität des literarischen Textes als solchen, dann aber vor allem durch die Überführung des literarischen Textes in den Modus der Ironie. Dieserart vermeidet Musil in seinem eigenen Schreiben mit einer skrupulös an einem Erhalt des Modus der Möglichkeit orientierter Methodik die bei Nietzsche durchaus feststellbare Neigung, „sich als Zerstörer einer Welt, als Erahner neuer, ganz unbekannter Lebensformen zu verstehen, prophetische Aussagen zu treffen und über alles und jeden Urteile zu fällen.“20 Wo Nietzsche bewusst provokant mit dem Hammer philosophiert und das Denken des Abendlandes zum Einsturz bringen will, da hüllt
18 In analoger Weise kritisiert (Gabriel 1997, S. 42), an Nietzsches Einwand gegen die Logik, dass in der philosophischen Begriffsbildung die Wirklichkeit zu einer Fälschung verkomme: „Von ‚Fälschung‘ zu sprechen, hätte überhaupt nur Sinn, wenn es – was von Nietzsche gerade bestritten wird – einen Zugang zur Wirklichkeit an sich gäbe, so dass die Fälschung als Fälschung entlarvt werden könnte.“ 19 Auch in diesen multiplen Spiegelungen nähert sich Musils Schreiben selbstverständlich der frühromantischen Theorie (vgl. Frank 1995). 20 Petersdorff 2004, S. 39. Dieser konstatiert zudem zutreffend, dass „[m]anche von Nietzsches Verehrern […] solche Schwächen noch heute [ausblenden]“ (Petersdorff 2004, S. 39).
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Musil behutsam philosophische Reflexion literarisch in Konjunktive, äußert Bedenken unter Vorbehalt, um diese dann sogleich vorsichtig in der Ironie wieder zurückzunehmen. Mir scheint eine zentrale methodische Differenz zwischen Nietzsche und Musil nicht zuletzt in dieser besonderen Musilschen konjunktivischen Ironie zu liegen, die als Ausdruck der Erkenntnisskepsis, das heißt des immer unzureichenden epistemologischen Fundaments zwar durchaus bei Nietzsche ihr Äquivalent hat,21 sich aber in anderer – und im vorliegenden Zusammenhang fundamentaler – Hinsicht von der Ironie Nietzsches unterscheidet. Die Nietzschesche Ironie dient wesentlich dazu, zum einen seine Einsicht in und Bejahung des ironischen Charakters der Welt zum Ausdruck zu bringen22 und zum anderen verwendet Nietzsche Ironie wie eine Art ‚Gegengift‘, mit dem er eigene Exzessivitäten relativiert, um so das Bewusstsein des dünnen Fundaments seiner fundamentalen Philosophiekritik sichtbar zu halten.23 Die Musilsche Ironie hingegen ist vor allem als ein genuin epistemologischer Modus angelegt, der die Ausgangsbasis eines Erkenntnisprozesses bilden soll, wobei der Ironie eine doppelte Funktion zukommt, für deren Realisierung wiederum die Romanform unerlässliches Hilfsmittel ist. So scheint zum einen allein die literarische Form es ihm zu ermöglichen, ein gesamtes philosophisches Projekt hypothetisch-ironisch zu konstruieren und zum anderen erhält die Musilsche Ironie noch eine ganz besondere Verweisfunktion. Musil versucht, im Modus der Ironie einen Raum zu schaffen, in dem durch das ironisch Gesagte auf das verwiesen wird, was jenseits der Sagbarkeit nur angedeutet werden kann.24 Damit gelingt es Musil zwar selbstverständlich nicht, das
21 Was mit einschließt, wie Petersdorff 2004, S. 38, in Bezug auf Nietzsche feststellt – was aber in gleicher Weise für die Musilsche Variante gilt –, dass die Ironie sich immer selbst hinsichtlich ihrer eigenen Gültigkeit befragen muss. 22 Vgl. Behler 1997 S. 284 und S. 305, wo er zutreffend von einer „affirmation nietzschéenne de l’ironie“ im Sinne einer universellen Ironie spricht. 23 Dies ist auch das Argument, mit dem Petersdorff 2004, S. 38, versucht, den Nietzsche gemachten Vorwurf eines Hangs zur Apodiktik wieder zu relativieren. Jedoch scheint mir der Versucht, die Ironie Nietzsches somit letztlich in eine Reihe mit der der Frühromantik zu stellen, weniger überzeugend. Vielmehr sind meines Erachtens die Differenzen, die von Petersdorff benennt (Petersdorff 2004, S. 42), so gewichtig, dass die frühromantische und die Nietzschesche Ironie trotz durchaus vorhandener Gemeinsamkeiten letztlich eine andere Stoßrichtung nehmen. 24 Vgl. hierzu Kampits 1992, S. 157, der gerade hier eine interessante Parallele zum philosophischen Projekt Wittgensteins zieht: „Wo Wittgenstein sich bewusst und gleichsam asketisch Grenzen auferlegt, die auch das Philosophieren […] zu einem qualvollen Anrennen gegen die Grenzen der Sprache machen, versucht Musil gewissermaßen diese Grenzen der Sprache immer weiter hinauszuschieben […] durch die Veränderung der Optik, in einem
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Unsagbare sprachlich fassbar zu machen, aber durch ein Verweisen kann er in den Sinnhorizont einholen, was indikativisch ungreifbar bleiben muss – und in den Bereich des sich sprachlich Entziehenden wäre selbstverständlich auch die Möglichkeit eines anderen Zustands einzuordnen.25 In diesen Zusammenhang der besonderen Musilschen Ironie gehört sicherlich auch die Verwendung des Konjunktivs, die bei Musil tendenziell in eine andere Richtung weist als bei Nietzsche. Während Nietzsche bemüht ist, über die Konjunktive Verblendungszusammenhänge der philosophischen Tradition aufzudecken,26 haben diese bei Musil im Wesentlichen die Funktion hypothetisch auf die Möglichkeit eines Andersseinkönnens zu verweisen. Bei Musil ist der Konjunktiv jene unabdingbare Zutat, die es ihm im Roman erlaubt, den trivialen „wirklichen Möglichkeiten“ (MoE, S. 17) hypothetisch-utopische „mögliche Wirklichkeiten“ (MoE, S. 17) entgegenzustellen. Wenn das Konjunktivische bis zu einem gewissen Grade Ausdruck desselben epistemologischen Perspektivismus ist, trägt Musil diesem jedoch in anderer Weise stilistisch und damit auch inhaltlich Rechnung – und zwar indem er den Konjunktiv für einen bewussten und behutsamen Utopismus nutzbar macht. nahezu barocken Einholen aller nur möglichen Perspektiven, wie dies der Möglichkeitssinn des Mannes ohne Eigenschaften nahelegt.“ 25 Sicherlich unterscheidet sich die Ironie bei Musil und bei Nietzsche noch in weiteren Aspekten. So könnte man mit Vladimir Jankélévitchs die Musilsche Ironie als eine einfühlsam-vorsichtige, offene Ironie bezeichnen, die gleichsam Ausdruck einer geistigen Einheit und Verbindung ist (vgl. Jankélévitch 1968, S. 184: „[L]’ironie ouverte est finalement principe d’entente et de communauté spirituelle.“) Er unterscheidet also eine ‚offene‘ von einer sich abschließenden Ironie, was sich auch so ausdrücken lässt, dass erstere ‚mitleidend‘ und letztere ‚misanthropisch‘ ist: „Alors que l’ironie misanthrope garde par rapport aux hommes l’attitude polémique, l’humour compatit avec la chose plaisantée; il est secrètement complice du ridicule, se sent de connivence avec lui“ (Jankélévitch 1968, S. 184). Die Ironie Nietzsches wäre in diesem Sinne eher als eine „aristokratische“ zu betrachten (vgl. Behler 1997, 314), als ‚exklusive‘ Ironie gegenüber der ‚offenen‘ Musils. Der von Jankélévitch geäußerte Gedanke einer connivence, eines unausgesprochenen Einverständnisses, welches eine solche offene Ironie enthalten muss, findet im Übrigen in Musils Tagebuchaufzeichnungen sein Äquivalent, wo es heißt. „Ironie muß etwas Leidendes enthalten (sonst ist sie Besserwisserei) […]“ (Tb I, S. 500). Musil stellt sich also explizit gegen eine Art aristokratischer oder gar misanthropischer Ironie. Ein weiterer Unterschied ist sicherlich, dass Nietzsche die Ironie auch in ihrer ursprünglichen Form als rhetorische Figur verwendet, um die traditionelle Metaphysik als Lüge zu entlarven, eine Verwendung der Ironie, die bei Musil überaus selten zu finden ist. 26 Eine häufig von Nietzsche verwendete rhetorische Figur illustriert beispielsweise der Aphorismus 12 aus dem ersten Buch der Fröhlichen Wissenschaft: „Wie? Das letzte Ziel der Wissenschaft sei, dem Menschen möglichst viel Lust und möglichst wenig Unlust zu schaffen? Wie, wenn nun Lust und Unlust so mit einem Stricke zusammengeknüpft wären, dass … “ (FW, KSA 3, S. 382).
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So findet das philosophische Unternehmen Musils einen Weg, Philosophie als Möglichkeit zu konstruieren und nicht als Wirklichkeit zu setzen. Anders als indikativisches Sprechen findet Musils ‚Philosophie‘ stets eine unüberschreitbare und unhintergehbare epistemologische Grenze und einen Vorbehalt in der Ironie. Durch diese methodische Behutsamkeit gelingt ihm etwas, woran Nietzsche zwar insofern nicht scheitert, als dies nicht sein Anspruch war; aber wenn Nietzsche der abendländischen Metaphysik positiv eine immanente und vitalistische Daseinsauslegung entgegenstellt, ruft er zwangsläufig die Frage auf den Plan, ob beziehungsweise wodurch letztere vor dem Hintergrund seiner eigenen erkenntnistheoretischen Einsichten überhaupt gedeckt ist. Wenn man die Nietzschesche Kritik an der Begrenztheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit ernst nimmt, dann muss man nämlich nicht nur mit Nietzsche zugeben, dass die abendländische Philosophie erkenntnistheoretisch ohne Fundament dasteht, sondern genauso, dass diese nur dann als „Lüge“ bezeichnet werden kann, wenn sie wider besseres Wissen als gesicherte Wahrheit ausgegeben wird. Denn es ist unbestreitbar, dass auf der Basis der Nietzscheschen Erkenntniskritik eine Hinterwelt letztlich dennoch möglich bleibt. Die Kritik Nietzsches geht mithin in ihrer Tragweite über ihre eigene Erkenntnisfähigkeit hinaus, insofern sie mit den bekannten Vorwürfen an Platonismus und Christentum zumindest impliziert, dass es eine Hinterwelt nicht geben kann. Genau an dieser Stelle, das heißt, da wo Nietzsche über den berechtigten Einwand, die Behauptung einer Hinterwelt liege jenseits unserer Erkenntnisfähigkeit, hinausgeht und die Destruktion der Fundamente abendländischer Metaphysik als „erlogen“ betreibt, folgt Musil ihm nicht mehr. Vielmehr respektiert er an dieser Stelle skrupulös die Unübersteigbarkeit der Grenze des Wissbaren, aber auch des Sagbaren. Freilich kommt ihm diese Grenzziehung auch durchaus gut zupass, insofern er so die von Nietzsche verworfene Transzendenz zumindest als Möglichkeit zurückzuholen vermag. Damit kann er zum einen in der Skepsis an der traditionellen Metaphysik mitgehen, zugleich aber braucht er nicht zwangsläufig sein Heil in der Immanenz zu suchen, womit seine Philosophie gleichsam im ironischen Spiel verschiedene Erkenntnisse gegeneinander ins Feld bringen kann. Dabei steht es freilich weder ihm noch dem Leser frei, deren Pertinenz abschließend beweisen oder widerlegen zu können. Die traditionelle Philosophie wird bei Musil somit lediglich in ihrer Unzulänglichkeit bloßgestellt, ohne dass sie als ‚falsch‘ verworfen würde, insofern Musil nicht über die Möglichkeit verfügt, einen solchen Schritt zu gehen. Erkenntnisphilosophische Defizite werden so enthüllt in der einzigen Form, die aufgrund der conditio humana legitim erscheint, in der Form der Ironie. Das Sprechen im Modus der Ironie erlaubt es Musil, philosophische Hypothesen zu testen, ohne sie positiv zu setzen, so dass sich letztlich zentrale von Musil ausgeführte Combinationen gleichsam ex nega-
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tivo im Relief des ironisch Gesagten abzeichnen, dabei aber immer konjunktivisch bleiben und verweisenden Charakter haben.
Fazit So ließe sich letztlich das Postulat von Musil als Nietzsche in Vollendung dahingehend plausibilisieren, dass Musil im Mann ohne Eigenschaften dem Anspruch gerecht wird, Combinationen und Möglichkeiten nicht nur zu erdenken, sondern zu entwickeln. Insofern er sie dichterisch entwickelt, wird der literarische Text bei Musil zu einem veritablen Laboratorium von Möglichkeiten, von Existenz-Möglichkeiten. Zugleich gelingt es ihm, indem er diese Entwicklungen nicht philosophisch postuliert, sondern literarisch-ironisch suggeriert, der Nietzscheschen Schwierigkeit auszuweichen, aus der Kritik an der Überschätzung der Vernunft einen performativen Selbstwiderspruch zu erzeugen, der die Grenzen der Vernunft wiederum unzulässig übersteigt. Musil bemüht sich, indem er den philosophischen Diskurs in ironisch-literarische Sprache transponiert, mit seiner Vernunft innerhalb der Grenzen der Vernunft zu verbleiben, also nicht der bekannten philosophischen Versuchung zu erliegen, die Grenzen der Vernunft ‚von außen‘ ziehen zu wollen. Das Musilsche ironische Sprechen erlaubt genau dies: die Grenzen der Vernunft von innen offen zu legen, indem es mit dem ihm eigenen Möglichkeitssinn Nietzsches Perspektivismus perspektiviert. Musil ist mithin genauso konsequent wie Nietzsche, wenn es darum geht, Defizite des überkommenen Denkens aufzudecken, aber möglicherweise konsequenter, wenn es darum geht, aus dieser Einsicht ein eigenes Vorgehen zu entwickeln und zwar insofern er sich auf ein Philosophieren im Modus der Möglichkeit beschränkt und nicht Metaphysik als Lüge verwirft, sondern Möglichkeiten einander gegenüberstellt. Abschließend sei ein zusätzliches – aber aus dem Gesagten hervorgehendes – Element hervorgehoben, das mich in Versuchung geführt hat, Musils Mann ohne Eigenschaften als ‚Nietzsche in Vollendung‘ zu bezeichnen, und zwar insofern Musil einem von Nietzsche in Anlehnung an Heraklit aufgestellten Postulat gerecht zu werden bemüht ist: Bei Musil ist Denken immer Denken im Werden. Die Romanform ist letztlich auch Ausdruck dieses Bestrebens, der Lebendigkeit des Denken gerecht zu werden und zwar insofern sich der Sinn des literarischen Textes erst in der Interaktion zwischen Text und Leser formt27 27 Vgl. Iser, der für das (literarische) Werk zwei Pole identifiziert, einen künstlerischen und einen ästhetischen, „wobei der künstlerische den vom Autor geschaffenen Text und der ästhetische die vom Leser geleistete Konkretisation bezeichnet“. Danach ist es so, dass sich das „Werk“ erst im Spannungsfeld dieser beiden Pole, des Textes und des Lesers, als Werk
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und somit der Text gleichsam nie fertig ist, sondern immer wieder aufs Neue im Werden. Dieser Gedanke des Werdens spiegelt sich im Übrigen in einer Notiz Musils, in der es heißt: „Am liebsten wäre mir, ich würde am Ende einer Seite mitten in einem Satz mit einem Komma aufhören“ (Fontana 1960, S. 336). Dies ist Musil unfreiwillig schließlich auch gelungen, da er mitten in der Arbeit an der Fortsetzung des Romans verstorben ist. Insofern also ist auch hier Musils Roman Nietzsche in Vollendung, gerade weil er unvollendet geblieben und damit in ausgezeichneter Weise offen ist, womit er Symbol für die Unabgeschlossenheit und Unabschließbarkeit der menschlichen Erkenntnis(bemühungen) ist.
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Anatoly Livry
Le Surhomme de Nabokov „Ich wandle unter Menschen als den Bruchstücken der Zukunft: einer Zukunft, die ich schaue.“ Friedrich Nietzsche
L’une des phrases les plus significatives que Vladimir Nabokov avait émise dans ses „interviews-autobiographies“ demeure jusqu’à ce jour obscure: „[…] un jour viendra un chercheur qui rayera tout ce qui fut dit jusqu’à présent à mon propos et déclarera urbi et orbi qu’en effet, j’étais un moraliste strict […].“1 Ce n’est pas une moralité triviale qu’annonce Nabokov, mais une „outremoralité“ totale, faisant ainsi valoir sa qualité de nietzschéen (Livry 2010, p. 311). Il s’agit en effet de l’avènement déclaré d’une moralité future charnellement liée à l’humanité à venir – réel et unique destinataire de la création nabokovienne, comme l’énonce cet écrivain-philosophe dans son manifeste romanesque d’un antidémocrate luttant contre son temps: „Le véritable écrivain devrait ignorer tous les lecteurs sauf un, celui de l’avenir qui, à son tour, n’est nul autre que l’auteur réfléchi dans le temps“ (Nabokov 1992, p. 502). Nabokov se projette ainsi, comme nous pouvons le constater, dans ce lendemain où règne cette inégalité civique chère à l’artiste que celui-ci, vomissant toute revendication révolutionnaire des masses „alexandrines“, considère comme étant le cadre indispensable à toute création vraie. D’ailleurs, si le vieux socialiste Platon chasse de sa cité idéale le poète non impliqué dans la vie de la polis, ce dernier se réjouit et s’enorgueillit de cet ostracisme: Oh, que tout passe et soit oublié – et dans deux cent ans, une fois encore, un raté ambitieux se déchargera de sa frustration sur les niais qui rêvent d’une vie agréable (c’està-dire si mon royaume n’arrive pas, où chacun fait bande à part et où il n’y a pas d‘égalité et pas d’autorité, mais si vous n’en voulez pas, je n’insiste pas et je m’en fous).2
Dans cette exclamation trop humaine – „je m’en fous“ – résonne la légèreté „hors-la-morale“ de Zarathoustra envers l’humain: „Missrieth aber der Mensch: wohlan! wohlauf!“ (Z, KSA 4, p. 364). Ce posant, notre article sera pour nous l’occasion de rendre compte de cet acte démiurgique auquel se livre Nabokov en suivant les traces de son éducateur germanophone.
1 Tselkova 2006, p. 122, nous traduisons. 2 Nabokov 1992, p. 529–530, c’est Nabokov qui souligne.
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Rappelons tout d’abord que les thèses „dangereuses“3 de Nietzsche furent connues dans un premier temps de Nabokov, garçon anglophone4, grâce à l’„écrivain nietzschéen pour adolescents“ Jack London5 (alors que le père de Nabokov lisait Nietzsche en prison6). Puis, après avoir fréquenté l’école moderniste du prince Ténicheff7 – dont l’épouse fut la correspondante pétersbourgeoise de Nietzsche8 et sa première, bien que dilettante, éditrice russe9 –, Nabokov finit par se pencher sérieusement sur les ouvrages nietzschéens vers 18 ans, au moment où il devint, comme le philosophe lui-même, heimatlos: „Il se trouva un professeur de latin à Yalta et dressa une liste très personnelle des lectures qu’il ferait à la bibliothèque municipale: entomologie, duels, explorateurs, naturalistes, Nietzsche“ (Boyd 1992, p. 182). Huit ans plus tard, il introduit la thèse „héraclitéenne“ de Nietzsche dans son premier roman, Machenka: 3 Nous pensons à l’article de Dr. V. Widmann, rédacteur au Bund helvétique, „Nietzsche’s gefährliches Buch“ mentionné par le philosophe dans son autobiographie: Friedrich Nietzsche, EH, KSA 6, p. 299. 4 „J’ai appris à lire l’anglais avant le russe“ : Nabokov 1990, t. 4, p. 174, nous traduisons. 5 Il arrive à Nabokov, écrivain nouvellement américain, de prendre comme cible de ses moqueries la méconnaissance de Jack London par les habitants des États-Unis: „Il porta sous le bras son achat enveloppé d’un papier sombre et retenu d’un scotch puis entra dans une librairie et demanda Martin Eden. – Eden, Eden, Eden, répéta la préposée, grande et brune, en se frottant le front, que je réfléchisse un peu, vous voulez dire ce livre sur l’homme d‘État britannique? non? – Je veux dire, expliqua Pnin, une œuvre célèbre du célèbre écrivain américain Jack London. – London, London, London dit la dame, en se tenant les tempes. Pipe en main, son époux, un Mister Tweed qui écrivait des poésies de circonstance, vint à la rescousse. Non sans quelque recherche il apporta des profondeurs poudreuses du magasin assez peu prospère, une vieille édition du Fils du Loup. – Je crains, dit-il, que ce soit tout ce que nous possédons de cet auteur. – Étrange, dit Pnin. Les vicissitudes de la célébrité ! En Russie, je me rappelle, tout le monde, les petits enfants, les grandes personnes, les médecins et les avocats, tout le monde lisait et relisait Jack London. Ce n’est pas le meilleur de ses livres, mais O.K. ! O.K. ! Je le prends“: Nabokov 1962, p. 112–113. Nous avions déjà analysé, de façon plus étendue, cette influence de Jack London sur Nabokov dans notre article „Nietzsche und Nabokov und ihre dionysischen Wurzeln“ dans Der Europäer, Basel, N 2–3, décembre 2008 – janvier 2009, p. 32–34, puis, de manière plus ample encore, dans „Nabokov le Bacchant“ dans Nietzscheforschung 16, Berlin, 2009, p. 305–31. 6 „S’astreignant à un emploi du temps rigoureux, il en profita pour lire Dostoïevski, Nietzsche, Knut Hamsun, Anatole France, Zola, Hugo, Wilde et bien d’autres encore“: Boyd 1992, p. 85. 7 Nous utilisons l’orthographe des noms russes tels qu’ils apparaissaient à l’époque et tels que Nietzsche lui-même les utilisait. 8 Friedrich Nietzsche, An Heinrich Köselitz in Berlin, Turin, den 14. Oktober 1888 (KSB 8, p. 452). 9 Anna Dmitrievna Ténicheff, grâce à l’intermédiaire de Georg Brandes, est entrée en correspondance avec Nietzsche qui lui avait envoyé son Fall Wagner dont la version russe vit le jour grâce à elle en 1894.
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„J’ai lu autrefois quelque chose sur l’‚éternel retour‘. Mais qu’arrive-t-il quand ce jeu de patience compliqué ne réussit pas une seconde fois?“ (Nabokov 1993, p. 66). Et, après avoir étudié pendant plusieurs décennies les parlés de Zarathoustra, les paroles du Perse retentissent dans le poème nabokovien composé, exactement comme le livre-matrice, en quatre parties. Nous pouvons ainsi lire chez Nietzsche: „Einst war der Frevel an Gott der grösste Frevel, aber Gott starb, und damit starben auch diese Frevelhaften“ (Z, KSA 4, p. 14), ce qui se retrouve chez Nabokov en ces termes: „Mon Dieu mourut jeune. Je trouvais la théolâtrie / Avilissante, et ses prémisses, incertaines. / Nul homme libre n’a besoin d’un Dieu ; mais étais-je libre?“ (Nabokov 1965, p. 64). Ces paroles sont celles du protagoniste de Feu pâle – qui apparaît également dans Ada, or ardor: a family chronicle10 – au nom tiré d’Ainsi parlait Zarathoustra, Shade, qui devient ce faisant l’homonyme du héros de l’essai de Nietzsche, Der Wanderer und sein Schatten, cette „Ombre“ que présente Zarathoustra préoccupé par la réclame des ouvrages nietzschéens: „Aber es wird mein Schatten gewesen sein. Ihr hörtet wohl schon Einiges vom Wanderer und seinem Schatten?“ (Z, KSA 4, p. 171). Effectivement, Zarathoustra est aussi un Wanderer et c’est donc à lui-même qu’il dédie sa première locution de la troisième partie du livre suite à laquelle arrive sur les pages d’Ainsi parlait Zarathoustra l’Ombre, un voyageur sans patrie, semblable en cela au prophète: „Ein Wanderer bin ich, der viel schon hinter deinen Fersen her gieng: immer unterwegs, aber ohne Ziel, auch ohne Heim“ (Z, KSA 4, p. 339). Si Nabokov, ancien professeur de lettres à l’Université Cornell, fait ressurgir, dans Feu pâle, l’Ombre du criminel Zarathoustra, ce chantre de la grande délinquance devant l’Éternel „décédé“ („Ist in allem Leben selber nicht – Rauben und Todtschlagen? Und dass solche Worte heilig hießen, wurde damit die Wahrheit selber nicht – todtgeschlagen“, Z, KSA 4, p. 25311), c’est parce que Wilde (qui avait d’ailleurs retenu l’intérêt de Nabokov-professeur) avait introduit dans la littérature anglaise une Ombre malfaisante, âme séparée du corps dans une conception clairement anti-christique. Pensons à ce propos à cette phrase de Wilde martelée comme dans une épopée cyclique: Ce que les hommes appellent l’ombre du corps, ce n’est pas l’ombre du corps, mais c’est le corps de l’âme. Tiens-toi sur le rivage de la mer en tournant le dos à la lune, et découpe d’autour de tes pieds, au couteau, ton ombre qui est le corps de ton âme; ordonne alors à ton âme de te quitter, et elle le fera (Wilde 2000, p. 253).
10 „Space is a swarming in the eyes, and Time a singing in the ears, says John Shade, a modern poet […] “: Nabokov 1990b, p. 542. 11 C’est Nietzsche qui souligne.
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Ainsi, dans Feu pâle, Nabokov s’inscrit dans les pas du littérateur anglophone apatride, décédé en exil et ouvertement nietzschéen, Oscar Wilde, qui avait composé son conte Le Pêcheur et son âme en 1891 – ce qui lui a donné amplement le temps de prendre connaissance d’Ainsi parlait Zarathoustra. Mais comment Nabokov a-t-il pu se permettre, tout en demeurant au-delà de la morale (car souvenons-nous qu’aucun critique n’a osé classer Lolita parmi les ouvrages prêchant la „moralité“), de lancer un appel au futur chercheur censé examiner le suc de son œuvre sous l’angle de ladite „moralité“? Quelle construction philosophique élabore ce nietzschéen qui, par un auto-perfectionnement stylistique permanent et un approfondissement de sa connaissance des travaux de Nietzsche, était parvenu à une finesse extrême dans la maîtrise des mystères extatiques exclusivement familiers à de grands hellénistes (Сf. Livry 2011)? Nous essayerons bien sûr de répondre à ces questions et l’Ombre que Nabokov – via Wilde – a empruntée à Nietzsche nous sera d’un grand secours dans notre développement. Commençons par les bases écrites de notre civilisation, à savoir par Platon – dont les dialogues furent examinés par Nietzsche dès son plus jeune âge (Сf. Nietzsche 1994, p. 118) – et plus particulièrement par l’ouvrage préféré du jeune Nietzsche, Le Banquet12: Sachez d’abord que l’humanité comprenait trois genres, et non pas deux, mâle et femelle, comme à présent; non, il en existait en outre un troisième, tenant des deux autres réunis et dont le nom subsiste encore aujourd’hui, quoique la chose ait disparu : en ce tempslà l’androgyne était un genre distinct et qui, pour la forme comme pour le nom, tenait des deux autres, à la fois du mâle et de la femelle; aujourd’hui ce n’est plus au contraire qu’un nom chargé d’opprobre.13
Telle est la généalogie de l’humanité proposée par Aristophane, cet esprit qui „sanctifie“ – l’expression est de Nietzsche lui-même14 – toute forme de lutte contra Socrate. Elle sera notre point de départ pour défendre la thèse selon laquelle la quasi-totalité des Weltanschauungen nietzschéennes (qu’il s’agisse de l’inégalité entre les „hommes“ qui justifie le mépris de Nietzsche envers l’égalitarisme15, de l’„homme“ comme étape intermédiaire entre le singe et le 12 „Zugleich erwuchs zunehmend meine Neigung für klassische Studien; ich gedenke mit der angenehmsten Erinnerung der ersten Eindrücke des Sophokles, des Aeschylos, des Plato vornehmlich in meiner Lieblingsdichtung, dem Symposion, dann der griechischen Lyriker“, citation donnée dans Nietzsche 1994, p. 60. 13 Platon, Le Banquet, 189 d – e, Paris, traduit par Léon Robin, 1929, p. 29–30. 14 „[…] beim heiligen Aristophanes!“ (JGB, KSA 5, p. 171). 15 „Mit diesen Predigern der Gleichheit will ich nicht vermischt und verwechselt sein. Denn so redet mir die Gerechtigkeit: ‚die Menschen sind nicht gleich.‘ Und sie sollen es auch nicht werden! Was wäre denn meine Liebe zum Übermenschen, wenn ich anders spräche?“ (Z, KSA 4, p. 130).
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Surhomme16 résultant d’une image empruntée par Nietzsche non chez un Darwin honni17 mais, par l’intermédiaire du même Platon, chez son prédécesseur éphésien18 ou du Surhomme qui constitue le but par excellence de la réflexion philosophico-dionysiaque de Nietzsche19) furent conçues et générées à la table d’Agathon. Cependant, s’il s’inscrit à la suite de l’Aristophane platonicien, Nietzsche fait preuve de davantage de pessimisme dans son objectivité face à l’„humanité“ contemporaine: Wahrlich, meine Freunde, ich wandle unter den Menschen wie unter den Bruchstücken und Gliedmaassen von Menschen! Diess ist meinem Auge das Fürchterliche, dass ich den Menschen zertrümmert finde und zerstreuet wie über ein Schlachtund Schlächterfeld hin. Und flüchtet mein Auge von Jetzt zum Ehemals: es findet immer das Gleiche: Bruchstücke und Gliedmaassen und grause Zufälle – aber keine Menschen! (Z, KSA 4, p. 178–179)
Nietzsche dissèque l’„homme“ en dizaines de parcelles et le „dernier homme“ – ce minuscule résidu de la quasi-perfection de jadis – contamine tout, jusqu’à la planète elle-même, par son infection lilliputienne, ce qui arrache un cri de désespoir à Zarathoustra, et cela dès le „Prologue“: „Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten.“ (Z, KSA 4, p. 19). Dans une longue et nuancée attaque à l’encontre de l’envie divine et de sa politique „divide et impera“ apparaît la mission que Nietzsche s’assigne: d’abord recréer l’„homme“ naguère morcelé, puis former l’Homme Élevé afin de parvenir au but réel de son ecclesia militans, le Surhomme – jusqu’à présent inconnu car souvenons-nous que Nietzsche ne l’expose pas sur les pages de Zarathoustra. Ce titanesque, et inéluctablement hasardeux, processus de reconquista charnelle devrait se terminer par une unia mystica avec ce Dieu ostracisé d’Europe par la dialectique socratique et chanté par Nietzsche dans La Naissance de la tragédie, Dionysos. Ainsi la vraie tragédie – littéralement „passage initiatique“20 vers la supra-humanité future –, et non point son ersatz classi-
16 „Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham“ (Z, KSA 4, p. 14). 17 Cf. Friedrich Nietzsche, Anti-Darwin dans Götzen-Dämmerung (GD, KSA 6, p. 120–121). 18 „Cet Héraclite, que tu évoques, ne dit-il pas de la même manière que le plus savant des hommes, comparé à un dieu, n’est qu’un singe pour la science, pour la beauté et pour tout en général?“ (Platon, Hippias majeur, 289 b, Paris 1921, traduit par Alfred Croiset, p. 19). 19 „Ich bin ein Jünger des Philosophen Dionysos […]“ (EH, KSA 6, p. 258). 20 À propos de la tragédie non comme «chant du bouc» mais comme «rite de passage», cf. par exemple Dreyfus, „Introduction générale“ dans Tragiques grecs, Paris 1967, p. XVII.
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ciste, deviendrait une colle entre les mains du néo-démiurge contemporain pour assembler les morceaux du futur Surhomme. Quant à Zarathoustra, la passerelle humaine vers le Surhomme ne l’intéresse guère: sa „sagesse sauvage“, parente du Bromios et donc constamment glorifiée par le Perse21, éprouve trop de mépris envers elle. La dernière partie d’Ainsi parlait Zarathoustra est toute entière consacrée à la création de l’Homme Élevé: le prophète, appelé par un cri et désirant porter secours, commet cet acte lui-même, ramassant les débris humains, un par un, sur le sentier de sa montagne. Voici la promesse explicitement hippocratique que Zarathoustra donne à une parcelle de l’être complexe qu’il forgera: Dort hinauf führt der Weg zu meiner Höhle: heute Nacht sollst du dort mein lieber Gast sein! Gerne möchte ich’s auch an deinem Leibe wieder gut machen, dass Zarathustra dich mit Füssen trat: darüber denke ich nach. Jetzt aber ruft mich ein Nothschrei eilig fort von dir. (Z, KSA 4, p. 312)
Le philosophe est médecin. Cependant, ce n’est point un organisme civique qu’il est destiné à guérir – vaine et ingrate car trop optimiste besogne! – mais la substance „humaine“ elle-même. Zarathoustra ne s’acquitte pas de cette tâche conceptuellement, mais surpasse réellement une corporalité jugée insuffisante. C’est ainsi que quelques heures après sa promesse faite à la parcelle du futur être complexe, Zarathoustra, par sa volonté, forge, dans sa caverne, à partir de neuf hommes et trois animaux, une nouvelle créature qui ne peut manquer de trahir son caractère unifié: Am später Nachmittage war es erst, dass Zarathustra, nach langem umsonstigen Suchen und Umherstreifen, wieder zu seiner Höhle heimkam. Als er aber derselben gegenüberstand, nicht zwanzig Schritt mehr von ihr ferne, da geschah das, was er jetzt am wenigsten erwartete: von Neuem hörte er den grossen Nothschrei. Und, erstaunlich! diess Mal kam derselbige aus seiner eignen Höhle. Es war aber ein langer vielfältiger seltsamer Schrei, und Zarathustra unterschied deutlich, dass er sich aus vielen Stimmen zusammensetze: mochte er schon, aus der Ferne gehört, gleich dem Schrei aus einem einzigen Munde klingen. (Z, KSA 4, p. 346)
Nietzsche a donc surpassé Socrate dans la science de la maïeutique – au sens premier du terme – et Platon dans celle de la mythologie. La caverne du prophète est devenue la matrice d’où est sorti l’Homme Élevé, se transformant ainsi sur-le-champ en crèche pour un être fabuleux grandissant dans une rapidité éclatante. N’est-ce pas pour cela que Zarathoustra, une fois le nouveau-
21 „Dem Segel gleich, zitternd vor dem Ungestüm des Geistes, geht meine Weisheit über das Meer – meine wilde Weisheit!“ (Z, KSA 4, p. 135).
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né nourri et partiellement éduqué, qualifie lui-même son habitat de „chambre d’enfant“: „Aber nun lasst mir diese Kinderstube, meine eigne Höhle, wo heute alle Kinderei zu Hause ist. Kühlt hier draussen euren heissen Kinder-Übermuth und Herzenslärm ab!“ (Z, KSA 4, p. 393)? Lorsque Nietzsche effectue ce travail stylistique nuancé autour de la caverne de Zarathoustra, il se comporte encore en pur helléniste, puisant ses références chez le néoplatonicien Porphyre découvert en Europe durant la seconde moitié du XIXe siècle. Ce philosophe défendait la thèse selon laquelle l’Univers était apparu „par hasard“22 et se moquait des Chrétiens23, ce qui ne pouvait que plaire à l’„Antéchrist Nietzsche“ qui connaissait ses œuvres.24 D’ailleurs, dans son homérique Antre des Nymphes, Porphyre présente le vrai mage Zarathoustra comme le fondateur par excellence de l’amour de la sagesse pratiquée dans les cavernes, faisant de lui le premier présocratique et, simultanément, l’adorateur de Mithra-Hélios.25 Cette influence de Porphyre sur Nietzsche expliquerait également pourquoi la locution initiale du Zarathoustra de ce dernier est une messe solaire.26 Ayant créé l’Homme Élevé, Nietzsche insiste une seconde fois sur la nonfragmentation de son logos, démontrant par cela l’indivisibilité du corps généré qui émet désormais un verbe homogène. Saisi d’horreur face au signe annonçant l’avènement du Surhomme, l’Homme Élevé vocifère et Nietzsche, philosophe dionysiaque connaissant l’impact de la violence bachique sur l’orthographe, brutalise les règles de la langue allemande – „Einem“ écrit Nietzsche avec une majuscule au milieu de sa phrase: „[…] die höheren Menschen aber, als sie ihn brüllen hörten, schrien alle auf, wie mit Einem (sic!) Munde, und flohen zurück und waren im Nu verschwunden“ (Z, KSA 4, p. 407).
22 Cf. Porphyre, Antre des Nymphes, V. 23 Porphyre, auteur du pamphlet Contre les Chrétiens dont Nietzsche a certainement eu connaissance; cf. Anatoly Livry, „Strindberg: de Rhadamanthe à Busiris et l’Etna de Zarathoustra“ dans Nietzscheforschung, Bd. 18, Berlin 2011b. 24 Dans la bibliothèque de Nietzsche se trouvaient des ouvrages traitant de Porphyre: Diogenes Laertios, De clarorum philosophorum vitis, dogmatibus et apophtegmaticus libri decem. Ex italicis codicibus nunc primum excussis recensuit C.Gabr. Cobet. Accedunt Olympiodori, Ammonii, Jamblichi, Porphyrii et aliorum vitae Platonis, Aristotels, Pythagorae, Plotini et Isidori, Ant. Westremanno et Marini vita Procli J. F. Boissonadio edentibus. Grace et Latine cum indicibus et aussi Schmidt, R. Programme d’invitation à l’examen public du Collège Royal Français, fixé au 27 septembre 1850. Contenu. 1. De Plutarchea q. v. f. Homeri vita Porphyrio vindicanda. Scr. R. Schmidt, 2. Tableau historique du collège pendant l’année 1849/50, Berlin 1850, 30 S., 25 cm dans Campioni/D’Iorio/Fornari/Fronterotta/Orsucci 2003. 25 Cf. Porphyre, Antre des Nymphes, VI. 26 „[…] eines Morgens stand er mit der Morgenröthe auf, trat vor die Sonne hin und sprach zu ihr also: ‚Du grosses Gestirn! […]‘“ (Z, KSA 4, p. 11).
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Voyons maintenant comment Nabokov le nietzschéen utilise la thèse principale de son éducateur. C’est bien étape par étape qu’il accomplit le schéma du Aristophane platonicien, le suivant à la lettre mais à rebours: du morcèlement à l’union. Il débute ainsi par la récréation d’un „simple“ androgyne, le protagoniste du Guetteur: premièrement, la rupture lors de laquelle Smourov est frôlé par Thanatos („Je me tenais, je ne sais pourquoi, sur les genoux, désirant m’appuyer par terre. Mais ma main est plongée dans une eau sans fond“27), puis, vers la fin de ce bref roman, l’heureuse réunion indissociablement liée à la ré-acquisition de son identité: „J’ai pris la poignée de la porte et vis comment, à côté, dans le miroir, mon reflet se précipitait vers moi: un jeune homme tenant un bouquet. Le reflet s’est uni à moi et je suis sorti dans la rue.“28 Enhardi par cette réussite, Nabokov entame des expériences plus complexes encore, mais sans oser, pour l’instant, toucher au Surhomme. Ainsi, les protagonistes des Don et Invitation au supplice – composés en même temps – sont des parcelles d’Hommes Élevés, conscients de leur position d’élus et se mettant en quête, chacun à sa manière, de leurs morceaux humains absents. Mais avant de toucher aux hommes, Nabokov, en zoologiste professionnel, teste ses forces démiurgiques sur des animaux dont les images éclatées symbolisent la punition de l’„humanité“ affligée par Zeus: […] il y avait, soit dit en passant, une remarquable clôture faite avec une autre qui avait été démontée quelque part ailleurs (peut-être dans une autre ville) et qui avait entouré auparavant le camp d’un cirque ambulant; mais à présent, les planches avaient été placées n’importe comment, comme si elle avaient été clouées ensemble par un aveugle, de telle sorte que les animaux de cirque qui avaient été entremêlés en cours de route, s‘étaient désintégrés en leurs parties composantes – ici, une jambe de zèbre, là, le dos d’un tigre; et l’arrière-train d’un animal apparaissait à côté de la patte renversée d’une autre créature […]. (Nabokov 1992, p. 263–264)
C’est justement face à cette clôture que le héros du Don rencontre sa part manquante. Il a incontestablement de la chance précise Nabokov en sa qualité de nietzschéen, le hasard supra-noble est intervenu pour son héros afin de lui permettre de faire la rarissime rencontre: Et non seulement Zina avait été habillement et élégamment faite à sa mesure par un destin très appliqué, mais, formant une seule ombre, ils étaient faits tous les deux à la mesure de quelque chose qui n‘était pas tout à fait compréhensible, mais merveilleux et bienveillant, et qui les entourait continuellement. (Nabokov 1992, p. 265)
27 Nabokov 1990c, t. 2 p. 218, nous traduisons. 28 Nous traduisons.
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Nabokov est un nietzschéen antisocratique authentique puisqu’il manifeste son credo proférant l’inutilité de la connaissance – voire sa nuisibilité – et renonce, joyeusement, à cette „compréhension“ au profit des merveilles dionysiaques, celles de la création d’un Homme Élevé par l’union du protagoniste et de la deutéragoniste – les deux Heimatlos du Don. Lorsque Nabokov ose baptiser cet être, il parle, en se mettant sur les traces de Zarathoustra le montagnard, du Schatten uni – „une seule ombre“. Quant à l’Invitation au supplice, le Zeus malveillant s’y offre la grande liberté de manifester sa vengeance envers l’antique pseudo-menace que constituerait la révolte du troisième genre. Ainsi, l’éclair imaginé par Aristophane sévit dans la ville natale de Cincinnatus, démembrant les images sculptées de l’Androgyne platonicien: „En arrière du square, la statue blanche et rebondie était fendue en deux – par la foudre, écrivaient les journaux“ (Nabokov 1960, p. 243). Cependant, cette exécution publique ne satisfait nullement le dieu envieux et Nabokov, suivant à la lettre le programme décrit dans Le Banquet, dirige la foudre vers les restes „humains“, les fractionnant encore davantage: „De la statue du capitaine Songe il ne restait que les jambes jusqu’aux hanches, ceintes de roses – probablement que la foudre l’avait aussi touchée“ (Nabokov 1960, p. 244). Du Don et de l’Invitation au supplice arrivons à Ada ou l’ardeur, chronique familiale où Nabokov parvient à l’ultime réalisation nietzschéenne. L’écrivain commence par ses expériences habituelles de zoologiste, puis, encouragé par les succès passés, il s’attaque directement à l’„humain“: Le corps renversé dans une courbe gracieuse, les jambes brunes hissées comme une voile tarentine, les chevilles accolées changeant d’amures, les paumes agrippant le front même de la gravité, Van allait, venait, virait, faisait un pas de côté, la bouche ouverte à l’envers et les yeux clignant d’une drôle de façon dans cette position extraordinaire qui fait de la paupière supérieure une écuelle de bilboquet. Ce qui semblait plus prodigieux encore que la variété et la vélocité des mouvements par lesquels il reproduisait ceux des pattes postérieures de divers animaux, c’était l’absence d’effort, l’aisance de son maintien. (Nabokov 1997, p. 120–121)
Nabokov analyse cet animal qu’est devenu Van – appuyant sur cette bestialité soudainement apparue – se tenant tantôt droit sur ses jambes, tantôt tête vers le sol. Puis, il se prend à déplacer des séquences de mots, étant donné que, chez un créateur, le Verbe se calque sur la démarche qui le sous-tend, l’examen correct d’un être se faisant tant par son nom que par sa forme, Aristophane dixit29: „King Wing l’avait averti que le grand Vektchelo, professionnel de
29 Platon 1929, Le Banquet, 189 e, p. 30.
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Yukon, avait perdu le don à l’âge de vingt-deux ans!“ (Nabokov 1997, p. 121). Nabokov avait, indiscutablement, saisi le sens de la pensée nietzschéenne et, dans la mesure où c’est elle qui l’avait guidé vers sa destinée – entamée en tant que littérateur russe –, la doctrine de Nietzsche déclenche indubitablement chez lui un reflexe de lettré russe. C’est pour cette raison que Nabokov introduit dans le texte original anglais ce „Chelovek“, „être humain“ („человек“ en russe), en modifiant seulement la disposition des syllabes, donnant ainsi naissance à un „Vekchelo“ (Nabokov 1997, p. 82), manifestation de l’art de l’anagramme trilingue dans lequel Nabokov était passé maître et qui a également pour origine le dionysisme de l’esprit nietzschéen. Par ailleurs, en introduisant ce jeu de mots russe dans son roman américain rédigé en Suisse, Nabokov confirme qu’il a retenu les leçons basiques de Zarathoustra: toute belle création doit signifier, et non afficher, les mystères sacrés, une vraie œuvre n’étant rédigée pour personne. Ainsi, pour accéder à la compréhension d’Ada ou l’ardeur, il est obligatoire de maîtriser, et en finesse, à la fois le russe, l’anglais et la pensée germanique hellénisée – le nombre de lecteurs effectifs diminue donc formidablement, ce qui ne pouvait déplaire à cet anti-plébéien nietzschéen. Mais surtout, n’omettons pas le point culminant d’Ada ou l’ardeur – cette gloire concrète de Zarathoustra – lorsqu’après avoir décrit la tentative du héros, Van Veen, de quitter le Cercle de l’Éternel Retour face au rocher pyramidal du lac de Silvaplana30, Nabokov assemble les trois parties de l’Homme Élevé. En effet, malgré le „petit homme“ tentant de faire échouer l’entreprise à force de pitié („ – Ne ricane pas! – s’exclama Ada. Pauvre, pauvre petit homme! Comment oses-tu te moquer?“, Nabokov 1997, p. 682), Van et Ada, qui avaient précédemment aspiré Lucette31, deviennent cette bête criminelle à la face de Zeus. Et lorsque Nabokov le signifie, il ne peut contenir un cri victorieux – „we, writers “ (Nabokov 1997, p. 584) –, écho au Wir Philologen de Nietzsche adressé aux lecteurs élus : Je veux dire que le héros et l’héroïne devraient être si proches l’un de l’autre au moment où commence l’horreur, si organiquement proches, qu’ils s’enchevêtrent, s’entrecroisent et entre-souffrent, et que, même si la fin de Vaniada est racontée dans l‘épilogue, nous,
30 Cf. Livry 2006, p. 239–246, Acte du Nietzsche-Kolloquium, de Sils-Maria 2005, puis Livry 2010, p. 199–200. 31 Cf. l’un des nombreux exemples que nous avons choisis car il mentionne les „ombres symétriques“ multiples: „[…] il se trouvait aussitôt après en train de regarder à travers des lunettes noires les ombres symétriques qui longeaient une épine dorsale luisante, marquée entre les côtes d’ombres moins appuyées, et qui appartenait à Lucette ou à Ada, assise un peu plus loin sur un serviette de plage“: Nabokov 1997, p. 670–671.
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auteurs et lecteurs, soyons incapables de discerner (myopes, myopes) quel est celui qui survit à l’autre, Dava ou Vada, Anda ou Vanda.32
Ces êtres se confondent „organiquement“ souligne Nabokov, l’union charnelle se reflétant dans la fusion des prénoms de Van et d’Ada, nés, souvenons-nous, en 1870 et en 1872 (Nabokov 1997, p. 11), années de rédaction et de publication de la (Re)Naissance de la Tragédie. In summa, si l’on analyse le destin créatif de Nabokov et utilise le vocabulaire si cher à ce joueur d’échecs, Dionysos commence et gagne. Il s’agit de la totale gloire du Nabokov le nietzschéen ayant ressenti les parlés de Zarathoustra et étant parvenu, avant de descendre chez Dionysos-Hadès, à combler la totalité des lacunes charnelles afin que la tant désirée création de l’Homme Élevé soit accomplie. Nous ne pouvons donc taire l’acmé, pour l’instant inatteignable, de ses efforts – l’arrivée future du Surhomme.
Bibliographie: Boyd, Brian (1992): Vladimir Nabokov, Les Années russes, traduit par Philippe Delamare. Paris. Campioni, Giuliano/D’Iorio, Paolo/Fornari, Maria Cristina/Fronterotta, Francesco/Orsucci, Andrea (Hrsg.) (2003): Nietzsches persönliche Bibliothek, unter Mitarbeit von Renate Müller-Buck, Berlin, New York. Dreyfus, Rарhaël (1967): Tragiques grecs. Paris. Livry, Anatoly (2006): „Vladimir Nabokov, der Nietzsche–Anhänger“. In: Nietzscheforschung 13, S. 239–246. Livry, Anatoly (2008/2009): „Nietzsche und Nabokov und ihre dionysischen Wurzeln“. In: Der Europäer 2–3, S. 32–34. Livry, Anatoly (2009): „Nabokov le Bacchant“. In: Nietzscheforschung 16, S. 305–31. Livry, Anatoly (2010): Nabokov le nietzschéen. Paris. Livry, Anatoly (2011): ȹизиология Сверxчеловека, Введение в Третье Тысячелетие. Sankt Petersburg. Livry, Anatoly (2011b): „Strindberg: de Rhadamanthe à Busiris et l’Etna de Zarathoustra“. In: Nietzscheforschung 18, S. 123–135. Nabokov, Vladimir (1960): Invitation au supplice, traduit par Jarl Priel. Paris. Nabokov, Vladimir (1962): Pnin, traduit par Michel Chrestien. Paris. Nabokov, Vladimir (1965): Feu pâle, traduit de l’anglais par Raymond Girard et Maurice-Edgar Coindreau. Paris.
32 Nabokov 1997, p. 584, c’est Nabokov qui souligne. Nous sommes obligés de réparer les graves erreurs de la version française qui omet les italiques de Nabokov en nous appuyant sur le texte original où le terme „organically“ est mis en relief par ladite typographie choisie (Nabokov 1997, p. 584).
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Anatoly Livry
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Paolo Stellino
Unamunos Auseinandersetzung mit dem Übermenschen am Beispiel des Romans Amor y pedagogía Nietzsches Denken wird oft als der wichtigste Einfluss auf die spanische „Generation von 1898“ gesehen. Dieser Einfluss lässt sich besonders bei dem Schriftsteller und Philosophen Miguel de Unamuno (1864–1936) erkennen. Obwohl Unamuno gestand, Nietzsches Philosophie nur fragmentarisch und indirekt zu kennen, sind die Spuren des deutschen Denkers in Unamunos Werken deutlich erkennbar. Anhand des Romans Amor y pedagogía (Liebe und Pädagogik) untersuche ich im vorliegenden Aufsatz exemplarisch Unamunos Auseinandersetzung mit dem Begriff „Übermensch“. Für diese Analyse richtet sich meine Aufmerksamkeit auf folgende Schwerpunkte: 1. Die spanische Rezeption des Denkens Nietzsches zwischen dem Ende des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts, 2. Unamunos frühe Auseinandersetzung mit dem Begriff des Übermenschen, 3. Das Beispiel des Romans Amor y pedagogía und 4. Unamunos spätere Auseinandersetzung mit dem Begriff des Übermenschen.
1. Der Kontext Es wird oft behauptet, dass Nietzsches Denken den wichtigsten und entscheidendsten Einfluss auf die Schriftsteller der „Generation von 1898“ ausgeübt hat.1 In dieser Hinsicht ist es zunächst von Bedeutung, wie Nietzsches Philosophie zwischen dem Ende des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts in die spanische Kultur einfloss. Bemerkenswert ist, dass die erste Übersetzung Nietzsches nicht auf Spanisch, sondern auf Katalanisch publiziert wurde. 1893 1 Der Ausdruck „Generation von 1898“ bezeichnet eine Gruppe von spanischen Schriftstellern, Dichtern und Essayisten (Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno, Ramiro de Maetzu, Pio Baroja, Azorín, Antonio Machado und Vicente Blasco Ibañez u. a.), die von einer tiefen moralischen, politischen und sozialen Krise innerlich berührt wurden. Der Auslöser dieser Krise war der Spanisch-Amerikanische Krieg von 1898, der mit der Niederlage Spaniens und der Besetzung Kubas, Puerto Ricos, Guams und der Philippinen durch die USA endete. Angesichts einer solchen Krise ging es für die „Generation von 1898“ um eine moralische Regeneration des europäischen und vor allem spanischen Menschen. Es verwundert folglich nicht, dass die Mitglieder dieser Generation und – wie hier gezeigt werden soll – besonders Unamuno an Nietzsches Übermenschen interessiert waren.
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veröffentlichte der katalanische Dichter Joan Maragall in der Zeitschrift L’avenç einige Fragmente von Also sprach Zarathustra (auf Katalanisch: Així va parler Zarathustra); im selben Jahr veröffentlichte er in derselben Zeitschrift auch einen Artikel mit dem Titel Nietzsche (vgl. Sobejano 2004, S. 38–40). Bald fing man auch in Madrid an, über Nietzsche zu sprechen. Unter den spanischen Schriftstellern zeichnete sich am Ende des 19. Jahrhunderts ein Wille zur Europäisierung (vgl. Sobejano 2004, S. 24–25) ab: Sie interessierten sich sowohl für den russischen Roman (Gogol, Turgenjew, Dostojewskij und Tolstoi), für Ibsen, Verlaine und eben auch für Nietzsche. 1897 veröffentlichte der Schriftsteller Juan Valera in der Zeitschrift La España Moderna einen Artikel mit dem Titel El Superhombre. Ab diesem Zeitpunkt begannen Wörter wie superhombre (Übermensch), superhumanidad (Übermenschlichkeit) und superhumanismo (Überhumanismus) in den kulturellen Kreisen Madrids bekannt zu werden (vgl. Sobejano 2004, S. 50). Allerdings fand sich eine Aufgeschlossenheit gegenüber Nietzsches Übermenschen nur bei den Schriftstellern der neuen Generation (die später unter der Bezeichnung „Generation von 1898“ bekannt wurde). Für die meisten Intellektuellen der alten Generation war der Philosoph lediglich ein Anarchist und gefährlicher Denker, der die christlichen Wurzeln der abendländischen Kultur in Frage stellte. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert begann man also in Spanien positiv oder negativ über Nietzsche zu sprechen, aber seltsamerweise fand sich bis 1900 noch kein einziges Werk Nietzsches vollständig ins Spanische übersetzt. Bis zu diesem Zeitpunkt war die französische Monographie La philosophie de Nietzsche von Henri Lichtenberger die Hauptinformationsquelle für eine spanische Rezeption.2 Zwischen 1900 und 1910 fanden Übersetzungen Nietzsches dagegen eine weite Verbreitung. Die Übersetzer der genannten Ausgaben blieben meist anonym oder versteckten sich hinter einem Pseudonym: Nietzsches Denken wurde noch immer als gefährlich betrachtet und man fürchtete, als Übersetzer seiner Werke als Jünger des Philosophen verstanden zu werden. Verschiedene Werke Nietzsches wurden außer in Madrid auch in Barcelona und Valencia übersetzt, wobei viele Ausgaben auf französische Vorlagen und Übersetzungen zurückgriffen und nicht auf das deutsche Original. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Werke Nietzsches ab 1900 in Spanien zunehmend Verbreitung fanden. Obwohl die Qualität der Übersetzun2 Lichtenberger 1898. Vgl. Rukser 1962, S. 38: „Vor allem das Buch von Henri Lichtenberger war orientierend. Es wurde viel gelesen und ging, wie Azorín sagt, ‚von Hand zu Hand‘. Heute wirkt es oberflächlich, aber damals weckte und lenkte es das Interesse. Man lernte so einen idealisierten N. kennen, einen großen Menschen, der originell, scharfsinnig, raffiniert und von einem aristokratischen Credo war; man hörte von einem heroischen Pessimismus und der Hoffnung auf künftige Größe.“
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gen meistens nur mittelmäßig war, gewann Nietzsches Philosophie durch die große Anzahl der Übersetzungen in Spanien bald größere Bekanntheit.3 Während dieser Zeit wurden noch keine Monographien über den Philosophen geschrieben, aber es erschienen bereits viele Artikel in spanischen Zeitschriften oder literarischen Revuen. Die neue Generation begeisterte sich für Nietzsche, die alte lehnte seine Philosophie in den meisten Fällen ab. Die folgende Betrachtung von Udo Rukser fasst den besonderen Kontext zusammen, in dem sich Unamunos Auseinandersetzung mit Nietzsche und mit dem Übermenschen entwickelte: Aus einer Distanz von 60 Jahren zurückblickend, gewinnt man den Eindruck, daß alles, was sich in Spanien im Laufe langer Jahre an Zündstoff angesammelt hatte, durch N. zur Explosion gebracht wurde. Durch ihn wurde die Stagnation Spaniens erschüttert, wurden Dämme eingerissen und Kräfte freigesetzt, die ein neues Zeitalter heraufführten. Was die damalige Generation innerlich beschäftigte, glaubte sie bei N. formuliert und legitimiert zu finden. Daher der Enthusiasmus der einen und die Empörung der anderen. Es schien nur ein Entweder-Oder zu geben, wo sich die Geister scheiden.4
2. Unamunos frühe Auseinandersetzung mit dem Begriff des Übermenschen In einem in Salamanca verfassten Artikel von 1915 schrieb Unamuno unter dem Titel Algo sobre Nietzsche (Etwas über Nietzsche): […] das Wenige was ich von ihm in seiner eigenen Sprache kenne, zeigt sich mir als eine dichterische Prosa, rhythmisch verlaufend, dem Sprachreim folgend, und nicht ohne Kraft in den kurzen Sätzen; ich hatte kein großes Interesse ihn zu lesen, aber aus anderen Gründen; ich kannte seine Lehren aus verschiedenen Verweisen, aus zahlreichen und längeren Zitaten seiner Werke, aus deren Analysen und aufgrund eines gewissen französischen Büchleins, von Lichtenberger, in welchem alle diese zu finden waren.5
3 Vgl. Rukser 1962, S. 37–38: „Dabei ist bemerkenswert, daß diese Übersetzungen zu recht billigen Preisen herauskamen. Alle Berichte stimmen darin überein, daß sie viel gekauft und mehrfach aufgelegt wurden. Trotz aller unvermeidlichen Mißverständnisse, Irrtümer und Flüchtigkeiten trugen sie entscheidend dazu bei, N.s Gedanken zu verbreiten.“ 4 Rukser 1962, S. 31. Pedro Ribas ist der Auffassung, dass diese Sichtweise Ruksers eine Übertreibung darstellt, da Nietzsche damals weder als Revolutionär, noch als Anarchist betrachtet worden sei, denn der spanische Anarchismus habe Nietzsches Denken wegen seines Elitarismus abgelehnt (vgl. Ribas 1987, S. 251). Dennoch bringt m. E. die zitierte Stelle Ruksers die damalige ambivalente Haltung der spanischen Intellektuellen gegenüber dem deutschen Philosophen gut zum Ausdruck. 5 Unamuno 1966, IV, S. 1370. Vgl. Unamuno 1966, IV, S. 1390. Ich danke Christian König für die freundliche Hilfe bei der deutschen Übersetzung der Stellen Unamunos.
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Noch in seinem 50. Lebensjahr behauptete Unamuno, Nietzsches Philosophie nur fragmentarisch und indirekt zu kennen. In der zitierten Passage spielte Unamuno auf „zahlreiche und längere Zitate“ sowie auf das bereits erwähnte Buch von Lichtenberger an. Wenn wir ihm Glauben schenken sollen, hatte er sich mit Nietzsche, d. h. mit einem derjenigen Autoren, die einen entscheidenden Einfluss auf die ganze „Generation von 1898“ ausgeübt hatten – nur wenig auseinander gesetzt. Aber war es tatsächlich so? Kannte Unamuno den deutschen Philosophen nur unzureichend und nur durch indirekte Quellen? Um auf diese Fragen antworten zu können, sollen im Folgenden die zahlreichen Anspielungen auf Nietzsche in Unamunos Opus einer Analyse unterzogen werden. Laut Pedro Ribas ist die erste Erwähnung Nietzsches durch Unamuno in einem Artikel vom 15. Februar 1895 zu finden.6 Derselbe Artikel wurde ein Jahr danach in erweiterter Form unter dem Titel La dignidad humana (Die Menschenwürde) veröffentlicht. Dort spielte der spanische Schriftsteller auf „tief unmoralische Lehren“ an, die Nietzsches Übermenschen (sobre-hombre) und Carlyles hero-worship missverstanden. Nach Unamuno konnte der Übermensch ein schönes Symbol sein, aber nur, wenn es richtig verstanden wurde. Wenn man die Menschenwürde vergaß und man aus Nietzsches Theorien tief unmoralische Lehren machte, dann hatte man den deutschen Philosophen falsch verstanden. In diesem Zusammenhang ist der Gebrauch des Adjektivs „arm“ in Bezug auf Nietzsche besonders von Bedeutung, denn arm ist das mitleidige Beiwort, das Unamuno im Verhältnis zu dem deutschen Philosophen oft wiederholen wird (Unamuno 1966, I, S. 974). In einem im selben Jahr erschienen Essay über die Erneuerung des spanischen Theaters ist eine weitere Anspielung auf den „armen Nietzsche“ und den Übermenschen zu finden, in dem der nietzschesche Begriff positiv aufgefasst wurde. Der spanische Schriftsteller erklärte, wie er Nietzsches Ausdruck verstand: Die Zeit des Übermenschen, die kommen sollte, war nicht die Zeit der Un-Menschen oder der Klügsten, sondern die der Guten und der Menschen, d. h. derjenigen mit größerer Menschlichkeit (humanidad), größerem menschlichem Gefühl.7 Diese Auffassung bekräftigte Unamuno in seinem Essay La educación (Die Erziehung) von 1902, indem Nietzsche gar zum religiösen Denker wurde. Seine Irreligiosität war „eine starke Art von Religion“ (Unamuno 1966, I, S. 1018). Sein armer Geist (immer wieder das Beiwort arm) war von einer metaphysischen und religiösen Angst und dazu von dem Problem der Unsterblichkeit gequält 6 Ribas 1987, S. 252. Es handelt sich um den Artikel Der Absolute Werth des Menschen und die Krankheit des Jahrhunderts, der in Der Sozialistische Akademiker veröffentlicht wurde (vgl. Unamuno 1966, IX, S. 515–518). 7 Unamuno 1966, I, S. 910. Der Essay La regeneración del teatro español wurde im Juli 1896 in der Zeitschrift La España Moderna veröffentlicht.
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(genau diese Qual liegt laut Unamuno der ewigen Wiederkehr zugrunde).8 Unamuno lehnte die Interpretation des Übermenschen als starken Menschen kategorisch ab und fragte hingegen: Wer sind überhaupt die Starken? Wer sind die Schwachen? Sind die christlichen Werte (aktive) Resignation, Milde und Geduld nicht „eine mächtige Waffe im Kampf um das Leben“ (Unamuno 1966, I, S. 1019)? Hier zeigten sich klar die christlichen Wurzeln der mitleidigen Haltung Unamunos. Der spanische Schriftsteller lehnte nicht Nietzsches Übermenschen ab, sondern jene Interpretationen, die dieses Symbol dem Christentum entgegensetzten. Dieser Aspekt ist von höchster Bedeutung, will man Unamunos Auseinandersetzung mit dem deutschen Philosophen richtig verstehen. 1900 tauchte in einem Essay Unamunos Nietzsches Übermensch wieder auf, und zwar in der kleinen Schrift La fe (Der Glaube).9 Hier legte der spanische Schriftsteller seine eigene Konzeption vom christlichen Glauben dar, und auf eine für den Nietzsche-Leser erstaunliche Weise verstand er den Übermenschen als perfekten Christen: Denn was ist jener zukünftige Mensch, dieser Übermensch [sobre-hombre], von dem ihr redet, anders als der perfekte Christ, der wie ein zukünftiger Schmetterling in den christlichen Larven oder Puppen von heute schläft? Wird jener Übermensch etwas anderes sein als der perfekte Christ, wenn er den gnostischen Kokón aufbrechen wird, in dem er eingesperrt ist […]? (Unamuno 1966, I, S. 965)
Der in jener Zeit gewöhnlichen Darstellung des Übermenschen als des starken oder unmoralischen Menschen stellte Unamuno eine ganz andere Interpretation entgegen: Wenn man die Gefahr des Nihilismus heraufbeschwören mochte, musste man den Übermenschen als Christen verstehen, der in geistlicher Gemeinschaft mit Jesus Christus lebte. Nur auf diese Weise konnte Nietzsches Begriff ein positives Symbol werden.10
3. Amor y pedagogía Amor y pedagogía wurde 1902 veröffentlicht. Mit dieser Novelle wollte Unamuno zeigen, welche gefährlichen Folgen ein falsches Verständnis des 8 Über Unamunos Verständnis von Nietzsches ewiger Wiederkehr siehe folgende Stellen: Unamuno 1966, III, S. 570; IV, S. 1372; VII, S. 168, 660. Vgl. auch Lavoie 1976, S. 112–114. 9 Zur Problematik des Glaubens bei Unamuno und Nietzsche siehe den kürzlich erschienenen Aufsatz von Gómez (2010). 10 In den Notizheften Unamunos wiederholt sich die christliche Interpretation des Übermenschen mehrmals (vgl. Unamuno 1966, VIII, S. 778, S. 800, S. 863). Laut Unamanuno war die Lehre vom Übermenschen bereits bei Paulus zu finden (vgl. Unamuno 1966, VIII, S. 860).
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Übermenschen haben können bzw. könnten. Die Handlung ist recht einfach: Avito Carrascal ist ein Förderer des Fortschritts und ein Vertreter soziologischer Pädagogik: Durch sie will er aus seinem Kind Apolodoro ein Genie machen. Avito, der Vater, erzieht sein Kind nach den strengen Prinzipien der wissenschaftlichen Pädagogik. Im Leben Apolodoros gibt es keinen Raum für die Liebe: Pädagogik und Liebe passen nicht zusammen, sie sind nicht kompatibel, erklärt der Vater seinem Sohn. Die Liebe ist anti-pädagogisch, anti-soziologisch und anti-wissenschaftlich, so Avito Carrascal. Dementsprechend ist die Existenz Apolodoros auf rationalistische Weise geplant: Er wurde geboren, nicht etwa um sein Glück zu finden, sondern um ein Genie zu werden. Und das Genie muss unbedingt männlich sein: das Weib ist der Anti-Übermensch (anti-sobre-hombre ist das Wort, das Unamuno in diesem Kontext benutzt) (Unamuno 1966, II, S. 357). Avito, der Vater, ist fest davon überzeugt, dass es möglich ist, durch die Prinzipien der Pädagogik ein Genie schaffen zu können. In dieser Überzeugung wird er von dem Philosophen Don Fulgencio Entrambosmares unterstützt. Unamuno charakterisiert diese Figur mit feiner Ironie. Das Leserpublikum habe die tiefe und geniale Forschung von Don Fulgencio nicht verstanden, seine Philosophie sei eine übermenschliche (sobrehumana) Philosophie und seine Werke bestehen aus Aphorismen. Ist das nicht eine kaum verhüllte Anspielung auf Nietzsche? Im Laufe der Jahre wird Apolodoro sich bewusst, dass er kein Genie ist und macht seinen Vater und den Philosophen Entrambosmares für sein Unglücks verantwortlich. Nur die Liebe kann ihn retten. Wenn aber Clarita, das von Apolodoro geliebte Mädchen, die Hoffnungen des jungen Mannes enttäuscht, kann die Novelle nur mit einer tragischen Schlussszene enden: Apolodoro, unglücklich und frustriert, bringt sich um. Avito und die moderne wissenschaftliche Pädagogik haben keinen Übermenschen ans Licht gebracht, sie haben einfach ein Leben ruiniert. Hier kritisierte Unamuno erneut nicht die Hoffnungen eines neuen Menschen – eine Hoffnung, die er dagegen sogar teilte, sondern dasjenige Ideal des Übermenschen, wie es in den Kreisen der spanischen NietzscheAnhänger verstanden wurde.
4. Christus als Übermensch? Nach der Veröffentlichung von Amor y pedagogía setzte sich die Beschäftigung Unamunos mit Nietzsche und mit dem Übermenschen fort. 1905 erschien die erste Ausgabe von Vida de Don Quijote y Sancho (deutsch: Leben von Don Quixote und Sancho), wo Unamuno eine ganz originelle Interpretation des
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Meisterwerkes von Cervantes’ lieferte. Gonzalo Sobejano hat bereits die zahlreichen Ähnlichkeiten zwischen dem Werk Unamunos und Nietzsches Also sprach Zarathustra ans Licht gebracht (Sobejano 2004, S. 293–297). Im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes ist es jedoch wichtiger zu betonen, wie der spanische Schriftsteller die Figur des Don Quixote als Vorbild eines unsterblichen und christlichen Helden, quasi als einen Übermenschen (im Sinne Unamunos) darstellte (Sobejano 2004, S. 297–299). Ebenfalls in Zusammenhang mit Cervantes stand die Übersetzung des Wortes „Übermensch“, die Unamuno in dem Artikel El trashumanismo (deutsch: Die Übermenschlichkeit) aus dem Jahre 1909 vorschlug. Zuerst verweilte der spanische Schriftsteller bei den damaligen Übersetzungen des Wortes „Übermensch“ und erklärte dem Leser, dass der deutsche Ausdruck Übermensch auf drei verschiedene Weisen übersetzt wurde: superhomo, sobrehombre und superhombre (die letztgenannte ist die heute übliche Übersetzung). Unamuno schlug seinerseits eine neue Übersetzung vor: trashombre, in Analogie zu dem Wort trastrigo, das von Cervantes stammt.11 In einem vom 18. November 1910 datierten und in Salamanca verfassten Gedicht mit dem Titel A Nietzsche (deutsch: An Nietzsche) ist vielleicht das offensichtlichste Zeichen zu sehen, dass Unamunos Auseinandersetzung mit Nietzsche weder oberflächlich noch zeitlich beschränkt war. In diesem Ehrengedicht, das eine Synthese des Denkens Nietzsches darstellt (vgl. López Castro 2010, S. 140), wurde die endgültige Metamorphose des Übermenschen in Christus vollzogen: Weil du kein Christus konntest sein, verfluchtest du ihn, des Übermenschen Urbild Hunger nach Ewigkeit war der ganze Reiz deiner armen Seele, bis zum traurigen Tod. Deinem gequälten Herz gabst du die ewige Wiederkehr, um zu zerstören den Gedenkstein des Jenseits. Oh, neuer Ödipus! Opfer der Sphinx, die du zu überwinden glaubtest. Im Innern warst du Sklave, besangst die Herrschaft, aber das Lachen des mutigen Löwen klang wie eine Klage.
11 Unamuno 1966, VII, S. 1312 . Hier spielt Unamuno auf Cervantes’ Satz „buscar pan de trastrigo“ (deutsch: „Überweißbrot suchen“) an. Mit dem Ausdruck pan de trastrigo (Überweißbrot) meinte Cervantes etwas Besseres als das normale pan de trigo (Weißbrot). Auf gleiche Weise ist Unamunos Meinung nach der Übermensch (trashombre) etwas Besseres als der normale Mensch (hombre).
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Du kämpftest gegen das Schicksal, im unruhigen Wunsch zu dauern, um endlich zu sterben, frei von Vernunft, unserer Qual.12
In diesem Gedicht werden verschiedene Themen berührt. Der Ton ist weder aggressiv noch kritisch (wie an anderen Stellen des Opus von Unamuno, die sich auf Nietzsche beziehen), sondern mitleidig. Ein ungesättigter Hunger nach Ewigkeit, Qual einer armen Seele, und die Illusion, dem Tod entfliehen zu können, liegen dem Gedanken der ewigen Wiederkehr zugrunde. Der Lobpreis der Herrschaft genügt nicht, die innere Sklaverei eines kranken und schwachen Menschen zu verbergen. Das Bild von Nietzsche, das Unamuno hier entwirft, ist ganz anders als jenes des antichristlichen und unmoralischen Philosophen, welches die Zustimmung der jüngeren Schwärmer Nietzsches damals fand. Der arme Nietzsche, der den Erlöser verfluchte, liebte ihn heimlich. Mehr noch: Der Philosoph war ihm neidisch. Er selbst wollte Christus sein, er wünschte von den Menschen vergöttert zu werden, er träumte die Apotheose: Das war der wahre Grund für Nietzsches antichristliche Haltung. „Armer Mensch!“, ruft Unamuno im erwähnten Artikel Algo sobre Nietzsche aus (Unamuno 1966, IV, S. 1371). Während der Jahre des ersten Weltkrieges wurde Unamunos Haltung zur Philosophie Nietzsches kritischer. In zwei Artikeln (Uebermensch von 1914 und Algo sobre Nietzsche von 1915), die dem deutschen Philosophen in dieser Zeit gewidmet wurden, kann man deutlich erkennen, wie der zeitgenössische politisch-historische Kontext eine polemische Bewertung Nietzsches beeinflusste. Das Beiwort „arm“ wurde im Bezug auf den deutschen Philosophen zwar wiederholt, Nietzsche war aber jetzt auch ein Pedant und sein Begriff des Übermenschen eine Pedanterie. Seine Philosophie war eine falsche Philosophie der Stärke. Er selbst war schwach und zielte mit seiner Philosophie darauf, seine Schwäche zu verbergen. Der Übermensch wurde jetzt unter der Optik der damaligen Rassentheorien interpretiert. Ein Volk, das sich davon überzeugen mochte, dass es selbst ein Übervolk war und damit die anderen Völker verachtete, war ein verlorenes Volk, schrieb Unamuno. Ein Mensch sein war alles, 12 Unamuno 1966, VI, S. 396. In seinem bekannten Werk Del sentimiento trágico de la vida (deutsch: Das tragische Lebensgefühl) aus dem Jahre 1913 ist eine Stelle zu finden, die das zitierte Gedicht zusammenfasst und paraphrasiert (vgl. Unamuno 1966, VII, S. 139). Unamunos Gedicht in der Originalfassung: „Al no poder ser Cristo maldijiste/ de Cristo, el sobrehombre en arquetipo,/ hambre de eternidad fué todo el hipo/ de tu pobre alma, hasta la muerte triste./ A tu aquejado corazón le diste/ la vuelta eterna, así queriendo el cipo/ de ultratumba romper, ¡oh nuevo Edipo!,/ víctima de la Esfinge a que creíste/ vencer. Sintiéndote por dentro esclavo/ dominación cantaste y fué lamento/ lo que a risa sonó de león bravo;/ luchaste con el hado en turbulento/ querer durar, para morir al cabo/ libre de la razón, nuestro tormento.“
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wonach man streben konnte: „Ein Mensch sein […] ist Etwas mehr sein als ein halber Gott, weil ein halber Gott nichts Anderes ist, als ein halber Mensch. Ein vollkommener Mensch sein: das heißt, ein Held sein“ (Unamuno 1966, IV, S. 1367). Auch im späten Werk La agonía del cristianismo (deutsch: Die Agonie des Christentums) aus dem Jahre 1925 blieb die Haltung Unamunos gegenüber dem Übermenschen kritisch: „Die Lehre des Fortschritts ist die des Übermenschen Nietzsches: der Christ muss aber glauben, dass man nicht Übermensch, sondern unsterblicher Mensch, d. h. Christ werden muss“ (Unamuno 1966, VII, S. 343). Mit den Worten González Urbanos lässt sich zusammenfassend sagen, dass Unamuno im Laufe seines Lebens immer zwischen Bewunderung und Verachtung des deutschen Philosophen schwankte.13 Viele Kritiker haben sich mit der Bedeutung der Auseinandersetzung Unamunos mit Nietzsche beschäftigt und sind dabei zu verschiedenen Schlüssen und Interpretationen gekommen. M. E. erweist sich die Schlussbetrachtung Sobejanos auch heute noch als völlig zutreffend: „Unamuno wollte kein geistiger Bruder Nietzsches sein, war es aber zu großen Teilen, und, um seine eigene Sprache zu benutzen, er war ein ‚Agonist‘ von jenem im vollen tragischen Lebensgefühl“ (Sobejano 2004, S. 318). Was die Auseinandersetzung des spanischen Schriftstellers mit dem Übermenschen betrifft, so lässt sich die ambivalente Haltung Unamunos gegenüber Nietzsche auch in diesem Fall erkennen. Der Spanier lehnte nicht in toto den Übermenschen ab, sondern nur seine Interpretation als den starken, unmoralischen oder gottlosen Menschen. Unamuno spürte das Bedürfnis einer moralischen Regeneration des Menschen und interpretierte Nietzsches Begriff unter der Optik dieses Bedürfnisses. In dieser Hinsicht bekam der Übermensch bei Unamuno ein ganz anderes Gesicht, und zwar das von Christus, dem wahren Archetypus des Übermenschen.
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13 Gónzalez Urbano 1986, S. 18. Seinerseits spricht Sobejano von Anziehung und Abneigung oder Neid (Sobejano 2004, S. 317).
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Paolo Stellino
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Yannick Souladié
Geisterkrieg und Geisterfrieden Nietzsche, Deleuze, Pasolini und der Faschismus Aufgrund seiner Kritik der Demokratie und seiner kriegerischen Redeweise hat man Nietzsche oft mit dem Faschismus des 20. Jahrhunderts verbunden. Nietzsche wollte eine „Kriegspartei“ (NL, KSA 13, S. 93) und behauptete den Krieg zu bringen (NL, KSA 13, S. 637). Er dachte, dass es nach seiner Umwertung aller Werte Kriege „wie es noch keine auf Erden gegeben hat“ geben würde (EH, KSA 6, S. 366). Wenn Der Antichrist sich fragt: „Was ist gut?“, antwortet er: „nicht Friede überhaupt, sondern Krieg“ (AC, KSA 6, S. 170). Dieser Satz wurde manchmal als eine Lobrede der Gewalt und des Krieges verstanden, besonders in Frankreich wegen der schlechten Übersetzung: man hat „nicht Friede überhaupt“ mit „surtout pas la paix“ übersetzt (auf Deutsch: „überhaupt nicht Friede“ oder „vor allem nicht Friede“).1 So wurde Nietzsche wegen dieser Kriegsrede als ein Vorläufer des Faschismus des 20. Jahrhunderts betrachtet. Dieser Beitrag wird Nietzsche mit zwei Autoren des 20. Jahrhunderts zusammenbringen, deren radikale Worte manchmal auch für zweideutig gehalten wurden. Gilles Deleuze und Pier Paolo Pasolini haben auch den Willen zum Frieden um jeden Preis, den Willen zur Sicherheit um jeden Preis, für gefährlicher als den Krieg gehalten. Sie haben ihn als eine neue Art Faschismus bezeichnet.
1. Gilles Deleuze und das Sicherheitsproblem Nach dem Verbot2 des Filmes von Daniel Schmid „L’Ombre des anges“ reagiert Gilles Deleuze in Le Monde vom 18. Februar 1977: Le vieux fascisme si actuel et puissant qu’il soit dans beaucoup de pays, n’est pas le nouveau problème actuel. On nous prépare d’autres fascismes. Tout un néo-fascisme s’installe par rapport auquel l’ancien fascisme fait figure de folklore […]. Au lieu d‘être une politique et une économie de guerre, le néo-fascisme est une entente mondiale pour la sécurité, pour la gestion d’une «paix» non moins terrible, avec organisation concertée
1 Ich würde diesen Satz mit „Non pas la paix avant tout“ übersetzen. 2 Das französische Bildungsministerium hatte am 13. Februar 1977 „L’Ombre des anges“ verboten.
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de toutes les petites peurs, de toutes les petites angoisses qui font de nous autant de microfascistes, chargés d‘étouffer chaque chose, chaque visage, chaque parole un peu forte, dans sa rue, son quartier, sa salle de cinéma. (Deleuze 2003, S. 125)
Deleuze erkennt zwei Arten Faschismus. Er unterscheidet einen „Neofaschismus“ von einem alten Faschismus, der in unseren abendländischen Gesellschaften veraltet ist und ihm als Vogelscheuche gilt. Der Artikel in Le Monde ist interessant, weil er behauptet, dass die neue neofaschistische Zensur den Film von Schmid im Namen des Kampfes gegen den Antisemitismus verboten hat – unter den Vorwand, dass der Film von Schmid antisemitisch sei (Deleuze 2003, S. 123–124). Für Deleuze baut der Neofaschismus sein Nest innerhalb unserer Demokratien im Namen des Kampfes gegen den Antisemitismus, der jedermann sofort an den Kampf gegen den Nazismus erinnert. Der Neofaschismus behauptet, er wäre eine Schutzwehr gegen eine vermeintliche Rückkehr des alten Faschismus. Für Deleuze ist Neofaschismus nur eine reine Gewalt, die sich mit den Attributen der Gesetzlichkeit und der Achtbarkeit schminkt. Wie Huly Long und Geoffrey Barraclough (Pasolini 2000, S. 149: Corriere, 09.09.1975), behauptet auch Deleuze, dass der neue Faschismus in unserer Gesellschaft sich nur als Antifaschismus durchsetzen kann. Für Deleuze besteht der „neue Faschismus“ aus einer Abstimmung für den „Frieden“, für die Sicherheit (Deleuze 2003, S. 125). Dieser Faschismus kann sein „Nest“ innerhalb der Demokratie nur durch die Verschärfung aller kleinen Ängste bauen. Dann entsteht das Projekt einer Gesellschaft, die uns vor allen möglichen Risiken schützten könnte. Der Wille zur „Risikolosigkeit“ führt zu einem Willen zur „Toleranzlosigkeit“ gegenüber allen Meinungsverschiedenheiten. Er führt zu einer Gesellschaft, die die bloße Möglichkeit, es könnte ein Risiko geben, nicht mehr zulässt. Für Deleuze stellt diese Abstimmung für den Frieden, für die Sicherheit, keine Schutzwehr gegen den Faschismus, sondern im Gegenteil ein neue Art Faschismus dar (Deleuze 2003, S. 125–126). In Nietzsche et la philosophie schreibt Deleuze, dass die „Lebensart“ des Philosophen für Nietzsche wegen seines Charakters, der im Grunde aktiv und nicht reaktiv ist, den „Angriff“, die „Aggressivität“ und die „Bosheit“ nach sich zieht (Deleuze 1998, S. 3). Folglich versteht Deleuze Nietzsches kriegerische Redeweise als eine Lobrede auf die geistige Lebenskraft. Und in der Tät meint Nietzsche, wenn er in Ecce Homo schreibt, dass „es Kriege geben [wird], wie es noch keine auf Erden gegeben hat“, dass sie „Geisterkriege“ (EH, KSA 6, S. 366) sein werden und nicht Kriege „zwischen Volk und Volk“ oder „zwischen Ständen“.3 Wie Heraklit 3 „Ich bringe den Krieg. Nicht zwischen Volk und Volk: ich habe kein Wort, um meine Verachtung für die fluchtwürdige Interessen-Politik europäischer Dynastien auszudrücken, welche aus der Aufreizung zur Selbstsucht Selbstüberhebung der Völker gegen einander ein Prinzip
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es früher getan hatte (cf. Heraklit 1991, S. 15: Diels-Kranz, B 8), rühmt Nietzsche das griechische agôn, die Zwietracht, und denkt, dass die schönste Harmonie aus dem Konflikt hervorgeht. So soll vielmehr diese Wendung aus dem Antichrist („nicht Friede überhaupt“) im Sinne von „nicht Friede um jeden Preis“ verstanden werden. Das heißt, dass man dem Frieden nicht alles opfern darf, dass er nicht der allerhöchste Wert ist. Der Wille zum Frieden um jeden Preis, zur Sicherheit um jeden Preis, erweist sich schädlicher als der Krieg.
2. Pasolini und das Erziehungsproblem Zwei Jahre vor Deleuzes Artikel in Le Monde nahm Pasolini zum Problem des Faschismus und der Vereinheitlichung des Lebens genauso wie in seinen letzten Werken Stellung: der Film Salo oder die 120 Tage von Sodom (1975) und die unvollendeten Lutherbriefe (1976). Im Gegensatz zu Deleuze beruft sich Pasolini in diesen Werken nicht direkt auf Nietzsche. Es gibt aber einige bedeutungsvolle Ähnlichkeiten, die ich betonen möchte. Salo und die Lutherbriefe entstanden im Zusammenhang mit einer Rückkehr des alten Faschismus: in Italien beriefen sich einige Splittergruppen auf den Faschismus und benutzten Symbole aus Mussolinis Zeit. Aber für Pasolini (wie für Deleuze) stellen diese Agitatoren nicht das ganze Problem des Faschismus dar. In den Lutherbriefen unterscheidet auch Pasolini zwischen einem „alten Faschismus“ (Mussolini) und einem „neuen Faschismus“ (die vollkommene Konsumgesellschaft; Pasolini 2000, S. 16). In einem Interview sagt der alte Pasolini: „der eigentliche Faschismus ist die Vernichtungsmacht der Konsumgesellschaft“ (Pasolini 2009: Interview im Bonus). Dies sind harte Worte. Aber im Antichrist waren auch die Worte des späten Nietzsche gegen Deutschland und das Christentum sehr hart. – Pasolinis Satz ist keine bloße Metapher. Die zukünftige Salo-Republik bezeichnet er nicht als eine Diktatur, sondern als eine „faschistische Republik“ (Pasolini 2009: Vorspann). In den Lutherbriefen vergleicht Pasolini die italienische christliche Demokratie mit der Diktatur der Obristen in Griechenland (Pasolini 2000, S .136: Corriere, 24.08.1975). Nach Pasolini ist die vollkommene Konsumgesellschaft faschistisch. Wir leben aber
und beinahe eine Pflicht macht. Nicht zwischen Ständen. Denn wir haben keine höheren Stände, folglich auch keine niederen […] Ich bringe den Krieg quer durch alle absurden Zufälle von Volk, Stand, Rasse, Beruf, Erziehung, Bildung: ein Krieg wie zwischen Aufgang und Niedergang, zwischen Willen zum Leben und Rachsucht gegen das Leben, zwischen Rechtschaffenheit und tückischer Verlogenheit…“ (NL, KSA 13, S. 637).
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noch in einer unvollkommenen Konsumgesellschaft. Wir sind noch unterwegs, genauso wie das Schloss von Marzabotto, in dem fast der ganze Film gedreht wurde, ein Ort des Übergangs zu einer faschistischen Gesellschaft (der zukünftigen Republik von Salo) war. Nach Pasolini hatte Italien einen großen Rückstand gegenüber dem Rest von Europa – er vergleicht die 60er Jahre in Italien mit der ersten industriellen Revolution in England und Frankreich. Nach Pasolini hätte Italien seine zwei industriellen Revolutionen gleichzeitig erlebt (Pasolini 2000, S. 102: Corriere 24.07.1975). Salo macht keinen Unterscheid zwischen Nazismus und Faschismus. Im Vorspann ist von einer „nazifascista“-Besetzung die Rede. Man hat Pasolini diesen unterschiedslosen Begriff oft vorgeworfen. Aber dieser Neologismus „nazifascista“ zeigt, dass Pasolini das Wesen des Faschismus, das allen faschistischen Staatformen gemeinsam ist, zu finden versucht. Pasolini bewirkt mit dem Wort „nazifascista“ eine historische Dekonstruktion. Salo ist kein historischer Film, Salo ist kein Film über den alten Faschismus, sondern ein Film gegen den neuen Faschismus. Salo handelt von der italienischen Gesellschaft der 70er Jahre, von diesem neuen italienischen Faschismus, der natürlich auf einen unzeitgemäßen und wesentlichen Faschismus verweist. Salo ist ein Film über die zukünftige italienische Gesellschaft, über die zukünftige abendländische Gesellschaft. Der Film heißt Salo, obwohl die Handlung nicht in der Republik von Salo, sondern im Schloss von Marzabotto spielt, das ein vollkommen hermetischer Ort ist. Die Republik von Salo wird erst am Ende des Filmes genannt, als ein Ort, wohin die überlebenden Opfer gehen würden. Der Film spielt also vor Salo, vor dieser Realität, die für die überlebenden jungen Leute tatsächlich Salo sein wird. Marzabotto ist gewissermaßen eine Vorbereitung auf Salo. Die faschistische „Republik“ von Salo stellt sich nicht als das Ende einer Welt vor, nicht als die letzte Verdorbenheit vor dem Ende – was das historische Salo wirklich war. Sondern sie erscheint als eine dauerhafte zukünftige Gesellschaft. In Salo stellen die Meister oder die Kuppelmütter den alten Faschismus dar, während die jungen Leute die zukünftige Gesellschaft darstellen. Man muss anmerken, dass die alten Leute nicht als Faschisten verkleidet sind, im Gegensatz zu den jungen Leuten, die Uniformen und vor allem Waffen tragen. Salo zeigt uns in Wirklichkeit einen Erziehungsprozess zum Faschismus. Der Film ergänzt die Lutherbriefe. Pasolini stellt die Lutherbriefe als einen pädagogischen Vertrag dar. Sie sind nicht Rousseau, sondern dem Marquis de Sade gewidmet (Pasolini 2000, S. 42: Corriere, 03.04.1975). Im Schloss von Marzabotto werden die jungen Leute zur Unterwerfung, zum Gehorsam erzogen. Sie leben in einer Atmosphäre von Angst, die die Denunziation als den
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entscheidenden Faktor jeder faschistischen Gesellschaft erzeugt. Die Lehre der Herren und Kuppelmütter soll diese jungen Leute zu vollkommenen Faschisten erziehen. Die jungen Opfer selbst haben die Möglichkeit, Faschisten zu werden. Hier befindet sich zweifellos der Hauptpunkt des Filmes: die Unterschiedslosigkeit zwischen Faschisten und Opfern. Beim ersten Blick ist es manchmal schwer, die jungen Faschisten von den Opfern zu differenzieren. Salos Hauptthema ist so die Erziehung der Jugend. Die dem Film zugrundeliegende Frage heißt also: Kann die Erziehung, die die jungen Leute heute in Italien bekommen, aus ihnen Faschisten machen?
3. Der „kulturelle Genozid“ Nach Pasolini verhielt sich der alte Faschismus öffentlich diskriminierend dem Unterproletariat gegenüber, das in Salo von den schwarzen Dienern verkörpert wird. Der alte Faschismus versuchte nicht das Unterproletariat zu evangelisieren. Der neue Faschismus ist bösartiger und scharfsinniger. Nach Pasolini wird er die Kultur dieses Proletariats vernichten (Pasolini 2000, S. 179–187: Corriere, 08.10.1975). Die Vernichtung der Volkskultur und Volkssprache ist ein Leitmotiv in den Schriften Pasolinis. Die Lutherbriefe behaupten, dass das italienische Unterproletariat eine andere „Rasse“ darstellt (Pasolini 2000, S. 181: Corriere, 08.10.1975). Pasolini schreibt, dass die Menschen dieser Klasse eine ganz andere Farbe haben, dass sie „schwarz“ (Pasolini 2000, S. 180: Corriere, 08.10.1975) sind. Nach Pasolini wird der neue Faschismus wie schon sein Vorgänger auch einen Genozid begehen. Er wird das Unterproletariat (die Schwarzen) vernichten. Aber dieser Genozid wird kein „körperlicher“, sondern ein „kultureller Genozid“ sein (Pasolini 2000, S. 182: Corriere, 08.10.1975). Nach diesem Genozid wird es keine Kultur mehr geben, sondern eine einzige Ideologie, eine Ideologie bourgeoise, die eine schreckliche Mischung von abgestorbenen Kulturen darstellt (Pasolini 2000, S. 179–180: Corriere, 08.10.1975). Dies ist in dem Film durch die Mischung von Zitaten in der Rede der Herren symbolisiert, wie auch durch die Bilder an der Wand, die wirkliche Patchworks von Stilen darstellen. Der Zweck dieses Genozids besteht darin, dass der Unterproletarier seine eigene Kultur nicht mehr verstehen kann4, dass er sich ein einziges Ziel gibt: Bürger zu sein. Pasolini sieht und kritisiert darin eine Art von Marxismus, die den Proletarier nur in einen Bürger umwandeln will (Pasolini 2000, S. 177, 226: Corriere, 4 Pasolini (2000), S. 183; Corriere (08.10.1975). Vgl. De Giusti (1981), S.94.
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28.09.1975). Ein Marxismus, der die Kultur des Proletariats verneint. Aber für Pasolini ist die Ideologie des neuen Faschismus eine Lüge. Nach Marx werde es, so schreibt er, im neuen Faschismus immer eine Kluft zwischen den Klassen geben – aber kein Klassenbewusstsein mehr (Pasolini 2000, S. 209–210: Corriere, 29.10.1975). Der neue Faschismus beruht auf einer einzigen Ideologie. Er lehnt alles ab, was eine andere Kultur ausdrücken könnte, alles, was „farbig“ ist. Der neue Faschismus weiß, dass sein Sieg in der Unterwerfung aller unter seine einzige Ideologie besteht, besonders in der Unterwerfung des Proletariats. Der alte Faschismus forderte durch Zwang eine direkte Unterwerfung. Der neue Faschismus ist bösartiger. Nach Pasolini fordert er nicht Gehorsamkeit, sondern im Gegenteil „Ungehorsamkeit“ (Pasolini 2000, S. 93 ff.: Corriere, 18.07.1975). Pasolini behauptet, dass die Rebellion der italienischen Jugend in den 70er Jahren mit dem Faschismus vergleichbar ist (vgl. Renard 1976, S. 13). Er wurde dafür schwer kritisiert (die Linke hat ihn als einen Reaktionär bezeichnet). Nach ihm sei diese Rebellion in Wirklichkeit eine neue Art Konformismus (vgl. Schérer 2006). Die jungen Leute halten sich für Revolutionäre, weil sie das Gesetz übertreten. Aber für Pasolini ist diese Kultur der Übertretung nur eine Form der kapitalistischen Ideologie, die will, dass der Mensch seinen Nachbarn verschlingt. Es fehlt diesen jungen Leuten vollkommen an einer Gesamtkonzeption der Gesellschaft und an Klassenbewusstsein. In den Lutherbriefen behauptet Pasolini, dass der Tod der Volkskulturen zusammen mit einer Verallgemeinerung der Kriminalität in Italien entstanden ist (Pasolini 2000, S.84– 85; S. 93–94: Corriere, 09.11.1975; 18.07.1975). Heute betrachtet sich kein junger Mensch in Italien als „gehorsam“. Eine wirkliche Kultur des Ungehorsams gegen die Regeln und die Gesetze der Gesellschaft ist entstanden (Pasolini 2000, S. 93: Corriere, 18.07.1975). Die jungen Leute nehmen an einer verneinenden Ideologie teil, die die sozialen Bindungen zerstört, das heißt für Pasolini an einer faschistischen Ideologie. Die Herren von Salo sagen folgendes: „Wir Faschisten sind die einzigen wahren Anarchisten. Ich meine, wenn wir zur Macht emporkommen. Tatsächlich ist die wirkliche Anarchie eine Anarchie der Macht.“ Diese „Anarchie“, diese Ungehorsamkeit ist nur die Wiederspiegelung der Macht. Und die vier alten Faschisten sind das obere Symbol dieser Kultur der Ungehorsamkeit, die man im Untenproletariat finden kann. Der Faschismus besteht genau in dieser Missachtung der sozialen Bindungen, die in Salo durch die vielfältige Verirrung symbolisiert ist. Der Geistliche bewundert, was er Phantasie nennt: „Wissen Sie, dass ich alle Geschmäcke, alle Phantasien respektiere. Ich finde sie alle respektabel, wie barock sie sein könnten.“
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Diese Rede ist symptomatisch für die „falsche Freigebigkeit“ (Pasolini 2000, S. 143: Corriere; 24.08.1975) und Toleranz der Konsumgesellschaft. Nach Pasolini tut diese Gesellschaft, als ob sie Ungehorsamkeit akzeptieren würde, während die Ungehorsamkeit in Wirklichkeit seiner Ideologie Recht gibt. In den Lutherbriefen beschreibt Pasolini diese Kultur der Ungehorsamkeit als sozialen Konformismus. Die jungen Leute haben Angst davor, von ihren Altersgenossen verbannt zu werden, falls sie nicht ungehorsam sind (Pasolini 2000, S. 64: Corriere, 15.05.1975). Nach Pasolini hat die Konsumgesellschaft die lebendige Kultur des italienischen Unterproletariats vernichtet. Er behauptet, dass er in Salos Zeit Accattone nicht mehr drehen könnte (Pasolini 2000, S. 182: Corriere, 08.10.1975), weil es einen kulturellen Genozid gab (Pasolini 2000, S. 194: Il Mondo, 16.10.1975). Man könnte Pasolinis Kritik der Ungehorsamkeit mit Nietzsches Kritik der Toleranz der Demokratien vergleichen. Vgl. Der Antichrist Aphorismus 1: An dieser Modernität waren wir krank, – am faulen Frieden, am feigen Compromiss, an der ganzen tugendhaften Unsauberkeit des modernen Ja und Nein. Diese Toleranz und largeur des Herzens, die Alles „verzeiht“, weil sie Alles „begreift“, ist Scirocco für uns. Lieber im Eise leben als unter modernen Tugenden und andren Südwinden! (AC, KSA 6, S. 169)
Pasolini bezeichnet die „falsche Freigebigkeit“ der Konsumgesellschaft als das Gegenteil der „Farbe“. In den Lutherbriefen erwähnt er wieder seine Auseinandersetzung mit der italienischen Linken und mit der radikalen Linken, auf die er sich immer berufen hat. Pasolini behauptet, dass seine Rede zu stark und neu war, als dass sie von den verschiedenen Parteien hätte verstanden werden können. Seine Stimme war zu laut, er war zu „farbig“ (Pasolini 2000, S. 31: Corriere, 13.03.1975). Pasolini wird sich als einen farbigen Menschen darstellen: als einen „Schwarzen“ (Pasolini 2000, S. 29: Corriere, 13.03.1975), wie er es in den Lutherbriefen schreibt. Die Ablehnung seiner eigenen Farbe von der italienischen Linken ist für ihn nur eine weitere Äußerung des bürgerlichen Konformismus. Der Tod des schwarzen Dienstmädchens symbolisiert in Salo die Vollendung des kulturellen Genozids: damit hat man die Farbe getötet. Man kann jetzt den letzten Kreis betreten (es gibt drei Kreise in Salo), den Kreis des Todes.
4. Schluss Das Hauptproblem Pasolinis in Salo und in den Lutherbriefen ist das Problem der Erziehung. Das war auch das Problem Nietzsches im Antichrist. – Auf wel-
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che zukünftige Gesellschaft bereitet die Erziehung unsere Kinder vor? Von Anfang an hat sich Nietzsche um dieses Problem der Erziehung gekümmert. Pasolini fürchtete, dass die farbenfeindliche Erziehung der Konsumgesellschaft zu einer neuen Art Faschismus führen würde. Nietzsche fürchtete im Antichrist, dass der Wille zum Frieden um jeden Preis die Entstehung eines kranken Herdenmenschen, eines „décadent“ (AC, KSA 6, S. 230) hervorrufen würde. Nach seiner Kritik des Friedens im Aphorismus 2, schreibt er im dritten Aphorismus, dass dieser Wille auf die Verbannung des höherwertigeren Typus des Menschen hinzielt. Dieser höherwerthigere Typus […] ist er gerade am besten gefürchtet worden, er war bisher beinahe das Furchtbare; – und aus der Furcht heraus wurde der umgekehrte Typus gewollt, gezüchtet, erreicht: das Hausthier, das Heerdenthier, das kranke Thier Mensch, – der Christ … (AC, KSA 6, S. 170)
Der Antichrist identifiziert den Willen, den Menschen zu standardisieren und zu entkultivieren mit der christlichen Moral. Er bezeichnet diese Moral als eine totalitäre Bewegung, die sich nur durch die Verschärfung der Angst und der Furcht vor dem Bösen, vor dem Antichristen sich verbreiten konnte. Hat man bemerkt, daß im Himmel alle interessanten Menschen fehlen? […] Denkt man ein wenig consequent und außerdem mit einer vertieften Einsicht in das, was ein „großer Mensch“ ist, so unterliegt es keinem Zweifel, daß die Kirche alle „großen Menschen“ in die Hölle schickt –, sie kämpft gegen alle „Größe des Menschen“ … (NL, KSA 13, S. 73)
Für Nietzsche, Deleuze und Pasolini ist der Sicherheits- und Friedenswille um jeden Preis grundsätzlich nihilistisch, weil er zu einer Ablehnung, einer Verbannung aller dionysischen Menschen, aller Antichristen (Nietzsche), aller „starken Stimmen“ in der Kunst (Deleuze), aller „Farbe“ (Pasolini) führt. Das heißt in jedem Fall eine Ablehnung der Kunst.5 Alle Faschismusarten haben immer die Kunst angegriffen. Am Ende von Salo verübt die Pianistin Selbstmord. Die Kunst ist tot. Jetzt können die überlebenden jungen Leute Marzabotto verlassen, und in die faschistische „Republik“ von Salo einziehen.
5 In der Götzendämmerung beschreibt Nietzsche den echten christlichen „Zustand“ als „Antikünstlerthum des Instinkts“ (GD, KSA 6, S. 117).
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Bibliographie De Giusti, Luciano (1981): „Le cinéma de la réalité“. In: Cahiers du cinéma, Hors Série n°9, mars 1981, „Pasolini cinéaste“, Übersetzung von Bernard Mangiante et Alain Bergala, S. 93–94. Deleuze, Gilles (1998): Nietzsche et la philosophie. Paris. Deleuze, Gilles (2003): „Le Juif riche“ (1977). In: Deux régimes de fous (textes et entretiens 1975–1995). Hrsg. von David Lapoujade. Paris. Heraklit (1991): Fragments. Übersetzung von Roger Munier. Paris. Pasolini, Pier Paolo (2000): Lettres luthériennes (1976). Übersetzung von Anna Rocchi Pullberg. Paris [Die Veröffentlichungsdaten dieser Briefe in Il Corriere della sera und in Il Mondo sind im Text angegeben]. Pasolini, Pier Paolo (2009): „Interview“. In: Bonus der DVD Salo ou les 120 jours de Sodome (1975). Paris: Carlotta Films. Renard, Philippe (1976): „Pasolini poète“. In: Etudes cinématographiques 109–111. Paris, S. 5–14. Schérer, René (2006): „Pasolini, sensualité et mystique“. Actes du colloque „Pasolini, penseur de la résistance contemporaine“. In: Revue Silène, Université de Nanterre-La Défense, 17 février 2006, URL: http://www.litterature-poetique.com/pdf/schrer.pdf
Nicola Nicodemo
Die Poetik der Geschichte und die Krise des Historismus Nietzsches ästhetische Geschichtsauffassung im Lichte der Metageschichte von Hayden White
1. Die Frage nach der Geschichte In seinem eindrucksvollen Buch Metahistory entwickelt Hayden White seine Theorie der Geschichtsschreibung. Er beabsichtigt, eine Geschichte des europäischen Geschichtsdenkens im 19. Jahrhundert darzustellen, doch zugleich auch einen Beitrag zur zeitgenössischen Diskussion über das Problem der historischen Erkenntnis zu liefern. Er entwirft eine allgemeine Theorie der Struktur dieser Denkweise, welche die „historische“ genannt wird, indem er das Problem des Geschichtsdenkens im 19. Jahrhundert aufwirft, und zwar bezogen auf die nach wie vor umstrittene Frage: ‚Wie ist Geschichte zu schreiben?‘ bzw. ‚Wie lässt sich der Geschichte ein Sinn zuschreiben?‘ White verfolgt den Zweck, durch eine eingehende Analyse die Ursachen zu ermitteln, welche die „Krise des Historismus“1 verursacht und zur theoretischen Erstarrung herausragender Arbeiten der modernen akademischen Geschichtswissenschaft sowie zu zahlreichen die Literatur, die Sozialwissenschaften und die Philosophie des 20. Jahrhunderts kennzeichnenden Rebellionen gegen historisches Denken überhaupt geführt haben. Er geht fest davon aus, dass die Geschichtsschreibung sowie die Geschichtsphilosophie sich auf ein präfiguriertes Geflecht verschiedener literarischer Tropen, das heißt eine Metaebene bzw. Metageschichte, stützen. Aus diesem Grund unternimmt er eine Untersuchung zur Tiefenstruktur der historischen Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, in der er den zur vorherrschenden Form professioneller Geschichtswissenschaft gediehenen Tropus der Ironie als das für die Krise des Historismus verantwortliche Phänomen erklärt. Damit werden Burckhardt und Nietzsche verurteilt, indem beide – vor allem aber Nietzsche – die Historie in der Form der Ironie erstarren ließen, „so dass der moderne Mensch zunehmend in die Tiefen des ironi1 „Die Krise des Historismus, in die das Geschichtsdenken während der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts geriet, war […] eng verknüpft mit der Einsicht in die Unmöglichkeit, zwischen den verschiedenen Betrachtungen der Geschichte, die diese alternativen Deutungsstrategien zuließen, theoretisch angemessen eine Wahl zu treffen“ (White 1991, S. 560).
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schen Bewusstseins getrieben, des Glaubens an seine Vernunft, Einbildungskraft und seinen Willen beraubt und zuletzt der Verzweiflung am Leben ausgeliefert wird“ (White 1991, S. 481). Mit anderen Worten wird Geschichte in den Augen Whites zum Nihilismus. Inwiefern Hayden White Nietzsche mit dieser Ansicht jedoch missverstanden hat, soll im Folgenden dargelegt werden.
2. Die Poetik der Geschichte Mittels einer sorgfältigen Gegenüberstellung der im 19. Jahrhunderts entwickelten Theorien bedeutender Geschichtsphilosophen wie Hegel, Marx, Nietzsche, Croce und Geschichtsschreibern wie Michelet, Ranke, Tocqueville und Burckhardt will White zeigen, dass all diese Theorien sich in dem, was man manchmal die ‚eigentliche Historie‘ nennt, lediglich in der Blickführung, nicht im Gehalt unterscheiden. Was bei den Historikern implizit bleibt, wird in den Werken der großen Geschichtsphilosophen ans Licht gebracht und systematisch entfaltet (White 1991, S. 12).
Um seine Thesen wissenschaftlich zu untermauern, stellt White eine allgemeine Theorie der Struktur der historischen Darstellung an den Anfang, welche auf Kategorien der Literaturtheorie zurückgreift. Er konzentriert sich bei der Darstellung eines Ereigniskomplexes jeweils auf die Bestimmung der Strukturmomente und zielt auf die Feststellung einer formalen Theorie der Arbeit des Historikers ab, die er „als offensichtlich verbale Struktur in der Form einer Erzählung“ (White 1991, S. 9) versteht. Indem ein Historiker die Begriffsstrategie zur Erklärung oder Darstellung der Daten auswählt, um sie zu einer Geschichte zu kombinieren, vollzieht er tatsächlich „einen wesentlich poetischen Akt, der das historische Feld präfiguriert und deren Bereich konstituiert, in dem er die besonderen Theorien entwickelt, die zeigen sollen, ‚was wirklich geschehen ist‘“ (White 1991, S. 11). Diese Präfiguration kann White zufolge verschiedene Formen annehmen, die nach den vier Tropen der poetischen Sprache benannt werden: der Metapher, der Metonymie, der Synekdoche und der Ironie. Was spezifisch den Tropus der Ironie betrifft, bildet [dieser] das sprachliche Paradigma einer Denkweise, die radikal selbstkritisch nicht nur im Hinblick auf eine bestimmte Beschreibung der Erfahrung, sondern bereits gegenüber der Annahme ist, die Wahrheit der Dinge angemessen in der Sprache erfassen zu können. Sie ist ein Modell des sprachlichen Protokolls, dessen Ausdrucksform sich der
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erkenntnistheoretische Skeptizismus und der ethische Relativismus in der Regel bedienen.2
White ist nun der Meinung, dass aufs Ganze gesehen die Arbeiten von Historikern und Geschichtsphilosophen auf einem tiefenstrukturellen poetischen und insbesondere sprachlichen Gehalt beruhen, der als das vorkritisch akzeptierte Paradigma fungiert, welches die Rolle des „metahistorischen“ Elements spielt und deswegen den Historikern (sowie den Geschichtsphilosophen) ermöglicht, den „Anschein der Erklärung“ zu erzeugen. Dazu kann sich der Historiker dreier verschiedener Strategien bedienen, von denen es wiederum jeweils vier Formen gibt.3 So wird denn der von White genannte historiographische Stil eines bestimmten Historikers oder Geschichtsphilosophen von einer eigentümlichen Kombination typischer Schreibweisen gekennzeichnet. Die einer historischen Darstellung zugrundeliegende Struktur ist also White zufolge eine vor-kritische, vor-fabrizierte, vor-strukturierte Struktur, welche eben deshalb nicht nur von epistemologischen, sondern auch von ethischen und ästhetischen Momenten abhängt. Die Geschichte ergibt sich mithin nicht als eine reine Wissenschaft, sondern vielmehr als eine Erfindung, die einem Prozess der Begriffsbildung unterliegt. Unter diesen Bedingungen sind „die Kriterien für die Bevorzugung einer Geschichte vor den anderen moralischer oder ästhetischer Natur“ (White 1991, S. 563).
3. Die historische Einbildungskraft zwischen Metapher und Ironie In seiner Analyse behandelt White die Einbildungskraft nicht nur theoretisch, sondern auch historisch. Mit der Theorie der Tropen verfügt er „über ein Werk2 „Daher repräsentiert die Ironie eine Bewußtseinsstufe, auf der die problematische Natur der Sprache selbst offenbar geworden ist. Sie verweist ebenso auf das potentielle Scheitern aller sprachlichen Beschreibung der Wirklichkeit wie auf den Widersinn der Überzeugungen, die sie parodiert“ (White 1991, S. 56). 3 „Bei den hier untersuchten Historikern konnten dabei unter Berufung auf Stephen C. Peppers Konzept der ‚Welthypothesen‘ vier Wahrheitstheorien (oder Kombinationen von ihnen) unterschieden werden: Formativismus, Machanismus, Organizismus und Kontextualismus. In Anlehnung an Natorp Fryes Theorie der fiktionalen Literatur haben sich vier archetypischen Handlungsstruktur bestimmen lassen, mit denen Historiker den Geschichtsprozess in ihren Erzählungen als Geschichten gestalten können, nämlich: Romanze, Tragödie, Komödie und Satire. Und schließlich habe ich im Gefolge der von Karl Mannheim entwickelten Ideologietheorie vier Strategien der ideologischen Implikation herauspräpariert, mit denen die Historiker ihren Lesern die Bedeutung ihrer Studien über die Vergangenheit für ein Verständnis der
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zeug, um die Tiefenstruktur der historischen Einbildungskraft in einer bestimmten Epoche ihrer Entwicklung bzw. in der Zeit zwischen der Französischen Revolution und dem ersten Weltkrieg4, zu klassifizieren“ (White 1991, S. 50). Daher vermag er die Gründe darzulegen, die zur Krise des Historismus beigesteuert hätten. Er geht davon aus, dass in dem Zeitraum zwischen der Aufklärung und dem deutschen Idealismus die europäische Kultur von der Idee realistischer Weltbetrachtung geradezu besessen gewesen sei: Realist zu sein, bedeutete die Dinge klar zu sehen: so wie sie wirklich sind, und daraus die angemessenen Folgerungen für eine überlegte Lebensführung zu ziehen. So betrachtet haben Ansprüche auf einen ‚echten Realismus’ sowohl epistemologische als auch eine ethische Komponente. (White 1991, S. 66)
Das Hauptmerkmal der aufklärerischen Geschichtsphilosophie war ihr sogenannter Optimismus und die mit diesem häufig einhergehende Fortschrittslehre. Die Aufklärer konzipierten das Geschichtsfeld als Schlachtfeld, auf dem sich zwei gegensätzliche Mächte – Vernunft und Unvernunft – ewig bekriegen, bis eine den Einfluss der anderen vollständig ausgelöscht haben würde. Indem die Aufklärer der Vernunft die Einbildungskraft gegenüberstellten, arbeiteten sie außerdem die Idee heraus, dass der Fortschritt „nicht die Entwicklung der Vernunft aus der Unvernunft, sondern – rein quantitativ – die Ausdehnung einer ursprünglich begrenzten Vernunft auf jene Erfahrungsbereiche erweist, die formal von den Leidenschaften, Emotionen, von Unwissenheit und Aberglauben besetzt waren“ (White 1991, S. 89). Das historische Feld wurde als ein Gelände von Ursache-Wirkung-Verhältnissen beschrieben und die Einbildungskraft als eine Gefahr für die Vernunft angesehen; „nur unter strengen rationalen Auflagen sollte sie agieren dürfen“ (White 1991, S. 96). Doch keine Theorie oder Erfahrung vermochte dieses Verständnis von geschichtlicher Bedeutung endgültig zu bestätigen oder zu entkräften. „So verwandelte sich denn die Argumentation des Hauptstroms der Aufklärung zunehmend von einer ursprünglich metonymischen in eine ironische“ (White 1991, S. 2). Dass den Historikern und Philosophen des 18. Jahrhunderts eine solche Begründung misslungen war, wirkte sich so stark auf den ‚Realismus‘ im historischen Denken des 19. Jahrhunderts aus, dass Historiker und Philosophen sich in diesem Zeitalter entweder der Suche nach einer hinlänglichen Begründung für Optimismus und Fortschrittsglauben widmeten, oder sie – dies betrifft insbeson-
Gegenwart deutlich machen können, nämlich Anarchismus, Radikalismus, Konservativismus und Liberalismus“ (White 1991, S. 553). 4 Vgl. White 1991, S. 66.
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dere Tocqueville und Burckhardt – die Befürchtung des unvermeidlichen Scheiterns einer solchen Begründung hegten (vgl. White 1991, S. 68).
4. Nietzsche: Die poetische Verteidigung der Geschichte durch die Metapher Die „fiktive“ Natur historischer Reflexion, welche in der Aufklärung das Bewusstsein der Produktivität der ironischen Wahrnehmung kennzeichnet, wird, so White, auch von Nietzsche übernommen. Auf den Spuren von Burckhardt wandelnd aber und im Unterschied zu den Aufklärern war darüber hinaus „Nietzsche sich über die ‚fiktive‘ Natur seiner ironischen Erkenntnis im klaren und bot seine eigenen Traumkräfte dagegen auf, indem er einen ‚ungeschichtlichen‘ Standpunkt wählte, von dem aus er die Bemühungen der Historiker beobachtete, dem Geschichtsverlauf in antiquarischer, monumentalischer oder kritischer Manier ‚Sinn zu verleihen‘“ (White 1991, S. 96). Er bemühte sich darum, „die Historie in eine Kunst zu übersetzen, aber auch, eine ästhetische Anschauung mit einer gleichzeitig tragischen und komischen Lebensauffassung zu verschwistern“ (White 1991, S. 430). White vertritt die These, dass Nietzsche seine gesamte philosophische Schaffensperiode hindurch das Ziel verfolgt habe, die Ironie zu überwinden. Dies zeige sich daran, dass er den Versuch gemacht habe, die Geschichtsschreibung in eine mit dem Traum vergleichbare schöpferische Tätigkeit umzudeuten, d. h. sie in eine tragische Kunst verwandeln zu können. White fügt hinzu: „So gesehen sind Nietzsches Reflexionen zur Geschichte eine Erweiterung seiner Reflexionen über die Tragödie“ (White 1991, S. 428). Dies sei von ihm insbesondere in drei Werken realisiert: Die Geburt der Tragödie, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben und Zur Genealogie der Moral. White ist der Ansicht, dass Nietzsche mit seiner demaskierenden Haltung den poetischen Ursprung der Geschichte entlarvte und dadurch offenlege, „in welchem Maße die das Geschichtsdenken beherrschenden Regeln ihren Ursprung in den Sprachhaltungen und Sprachkonventionen haben.“5 In Die Geburt der Tragödie verortet Nietzsche das menschliche Dasein in den Wechselbeziehungen zwischen dem Bewusstsein des Chaos und dem Willen zur Form und stellt somit die ästhetische Rechtfertigung der Welt und des menschlichen Daseins heraus. Er erkennt die grundsätzliche Sinnlosigkeit des
5 White 1991, S. 428. Auf diese Weise ziehe Nietzsche nach White die von Hegel vermiedenen Schlussfolgerungen.
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Lebens6 und betont deshalb die Notwendigkeit, Geschichte als Mythos zu betreiben.7 In Vom Nutzen und Nachteil der Historie prüft er die Implikationen dieses Gedankens unter dem Aspekt der Zeit. Diese Schrift beschäftigt sich mit dem Kräftespiel von Erinnerung und Vergessen, in dem Nietzsche ein unverwechselbares Merkmal der conditio humana erkennt (vgl. White 1991, S. 446). Er gelangt dabei zu der Schlussfolgerung, dass Objektivität nichts anders als „Komposition“ sei, „deren Resultat wohl ein künstlerisch wahres, nicht ein historisch wahres Gemälde sein wird“ (vgl. UB II, KSA 1, S. 290). Daher lenkt Nietzsche die Aufmerksamkeit auf das Geschichtsbewusstsein, das allein dem Individuum ermöglicht, der Geschichte bzw. dem Leben einen Sinn zuzuweisen. Die Historie könne nun dem Leben insofern dienlich sein, als sie zu einer Kunstform werde. Das bedeutet, dass die Historie zum Diener der individuellen menschlichen Bedürfnisse werden müsse. In Zur Genealogie der Moral, die White als „eine historisch-psychologische Darstellung der Ursprünge der Trinität des traditionellen Humanismus: des Schönen, Guten, Wahren“ (White 1991, S. 478), sieht, zeigt Nietzsche, dass sich dieses Geschichtsbewusstsein in einen „Sündenfall“, d. h. ein Gewissen umwandelt. Die Geschichte erweist sich als Schlachtfeld, auf dem die Starken gegen die Schwachen kämpfen, um der Geschichte ihre eigene Bedeutung aufzuprägen. Das geschieht mit der Unterdrückung oder Sublimierung des Willens zur Macht8 und mittels der Ersetzung der Dichotomie von „Gut“ und „Schlecht“ durch die von „Gut“ und „Böse“. Das Ergebnis dieser Ersetzung ist die Umwandlung des Übertragungsprozesses der Verbildlichung und zwar der metaphorischen Präfiguration, auf der die Historie beruht, in den der „Verbegrifflichung“. Durch diesen Prozess wird nach 6 Vgl. GT, KSA 1, S. 35 und UB II, KSA 1, S. 302. 7 „Jener Untergang der Tragödie war zugleich der Untergang des Mythus. Bis dahin waren die Griechen unwillkürlich genöthigt, alles Erlebte sofort an ihre Mythen anzuknüpfen, ja es nur durch diese Anknüpfung zu begreifen: wodurch auch die nächste Gegenwart ihnen sofort sub specie aeterni und in gewissem Sinne als zeitlos erscheinen musste. In diesen Strom des Zeitlosen aber tauchte sich eben so der Staat wie die Kunst, um in ihm vor der Last und der Gier des Augenblicks Ruhe zu finden. Und gerade nur so viel ist ein Volk – wie übrigens auch ein Mensch – werth, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken vermag: denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewusste innerliche Ueberzeugung von der Relativität der Zeit und von der wahren, d.h. der metaphysischen Bedeutung des Lebens. Das Gegentheil davon tritt ein, wenn ein Volk anfängt, sich historisch zu begreifen und die mythischen Bollwerke um sich herum zu zertrümmern […]“ (GT, KSA 1, S. 148). 8 „In diesem Werk der Zerstörung und Schöpfung spielt auch die Historiographie ihre Rolle, indem sie sich zu jener überhistorischen Kunst bilde, die Nietzsche selbst in Zur Genealogie der Moral entworfen hat“ (White 1991, S. 478). Und: „Historische Darstellung wird erneut ganz zur Fabel – keine Handlung, keine Erklärung, keine ideologischen Implikationen mehr; sie wird zum ‚Mythos‘ im ursprünglichen Sinn, zum ‚Fabulieren‘“ (White 1991, S. 482).
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Nietzsche Historie lebensfeindlich und zugleich erstarrt das Leben. Historie bzw. Leben ist aber für ihn ein unablässiger Prozess der Sinnverschiebung und zwar der Fluktuanz (siehe Stegmaier 1992). Nietzsche fasst seine historische Einsicht in der Formel zusammen: „Die Form ist flüssig, der ‚Sinn‘ ist es aber noch mehr…“ (GM, KSA 5, S. 315).9 Damit legt er seinen „Haupt-Gesichtspunkt der historischen Methodik“ (GM, KSA 5, S. 315) fest. Trotzdem ist Nietzsches Verteidigung der Geschichte durch die Metapher White zufolge zum Scheitern verurteilt, weil der Übertragungsprozess im individuellen ästhetischen Lustprinzip und infolgedessen in die Ironie mündet, so dass Nietzsche gleich Marx den Boden für die „Krise des Historismus“ bereite: Dem „Guten“ steht wiederum nicht das „Böse“ gegenüber, sondern das „Schlechte“, also das, was dem souveränen Willen Unlustgefühle bereitet. So wird historische Erkenntnis wie Philosophie, die Wissenschaft und auch die Religion der Herrschaft des Lustprinzips unterworfen. Es ist wohl der Gipfel der Ironie, wenn Nietzsche, der Feind aller Ästheten seiner Zeit, am Ende nicht nur bei der Vergötterung einer ästhetischen Geschichtskonzeption anlangt, sondern überdies die ästhetische Wahrnehmung den Imperativen des Willens zur Macht unterordnet. […] Nietzsche nahm an, mit der Trennung der Kunst von Wissenschaft, Religion und Philosophie die Einheit des Lebens wiederherzustellen. In Wirklichkeit schuf er die Voraussetzungen dafür, sie gegen das menschliche Dasein zu wenden. Er vermählte die künstlerische Sensibilität mit dem Willen zur Macht und entzog dem Leben auch jene Weltkenntnis, ohne die nichts hervorgebracht werden kann, was allen zum Nutzen gereichte. (White 1991, S. 484)
Eine Überwindung der Ironie wird nach White nur von Benedetto Croce ermöglicht, indem er eine über ihre Grenzen ironisch aufgeklärte Historisierung der Philosophie entwickelt. Daher zeigt sich die Ironie als „eine unter vielen möglichen Mitteln der Geschichtsschreibung […], von denen jede unter poetischen und moralischen Aspekten ihre Berechtigung hat.“10
9 Vgl. GM, KSA 5, S. 315. Siehe auch NL, KSA 13, S. 570, 20 [127]. 10 „Die Erkenntnis der ironischen Perspektive kann, wie ich meine, sehr wohl den Anstoß zu ihrer Überwindung liefern. Wenn sich zeigen läßt, dass die Ironie eine unter vielen möglichen Mitteln der Geschichtsschreibung ist, von denen jede unter poetischen und moralischen Aspekten ihre Berechtigung hat, dann wird die ironische Haltung ihres Scheins einer notwendigen Haltung entkleidet. Historiker und Geschichtsphilosophen sind dann frei, in derjenigen Denkform die Geschichte begrifflich zu entwerfen, ihre Inhalte wahrzunehmen und erzählende Darstellungen ihrer Verläufe aufzeichnen, die zu ihren eigenen ästhetischen und moralischen Imperativen paßt. Es steht uns offen, das Geschichtsdenken wieder mit den großen poetischen, wissenschaftlichen und philosophischen Programmen zu verknüpfen, welche die inzwischen zu Klassikern avancierten Praktiker und Theoretiker der Historiographie in deren Goldenem Zeitalter, dem 19. Jahrhundert, beflügelt haben“ (White 1991, S. 563– 564).
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5. Hayden Whites Missdeutung der ästhetischen Geschichtsauffassung von Friedrich Nietzsche Wenn man Whites Schlussfolgerungen in Bezug auf Nietzsches Einstellung zur Historie unter die Lupe der gegenwärtigen interpretationsorientierten Nietzsche-Forschung nimmt, die das Nietzschesche Denken konstruktiv interpretiert, im Gegensatz zu den vorigen Strömungen, von denen sein Denken nur aus ideologischen, kritischen oder dekonstruktivistischen Perspektiven her aufgefasst wurde, kann man auch das lebensdienliche Potential seiner Geschichtsauffassung ans Licht bringen. Daher sind Nietzsches „ästhetische Betrachtungen“ über die Geschichte also nicht auf der Grundlage einer literarisch-metakritischen Konzeption der Geschichtsschreibung zu beurteilen, sondern vielmehr vom Standpunkt seiner „ästhetischen Revolution“ (siehe Gerhardt 1988a) aus. Seine lebenslange Aufgabe lässt sich in den wirkungsvollen Worten, die er in der dritten Ausgabe der Geburt der Tragödie, im Versuch einer Selbstkritik niederschrieb, zusammenfassen: „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens …“ (GT, KSA 1, Selbstkritik, S. 14). Im Mittelpunkt der Philosophie Nietzsches steht nun das Leben und seitdem wird es (auch dank des anregenden Denkens von Wilhelm Dilthey) zum Angelpunkt der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Schon seit der Tragödienschrift und der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung verfolgt Nietzsche den Zweck, die Erkenntnis bzw. die Geschichte in den Dienst des Lebens zu stellen11, indem er deutlich macht, was für das Leben schädlich und was „für die Gesundheit eines Einzelnen, eines Volkes und einer Cultur nöthig [ist]“ (UB II, KSA 1, S. 252). Um nicht am Übermaß von Geschichte zu erkranken und infolgedessen nicht zugrunde zu gehen, führt er als Heilmittel „das Unhistorische“ und „das Überhistorische“ ein. Somit wird neben dem Vergessen auch die Kraft der Kunst gelobt, welche allein dem Menschen ermöglicht, eine umhüllende Atmosphäre zu bilden, in dem er seine Handlung sinnvoll einbetten kann (vgl. UB II, KSA 1, S. 251–252).
11 „Niemand wird zweifeln: das Leben ist die höhere, die herrschende Gewalt, denn ein Erkennen, welches das Leben vernichtete, würde sich selbst mit vernichtet haben. Das Erkennen setzt das Leben voraus, hat also an der Erhaltung des Lebens dasselbe Interesse, welches jedes Wesen an seiner eignen Fortexistenz hat. So bedarf die Wissenschaft einer höheren Aufsicht und Ueberwachung; eine Gesundheitslehre des Lebens stellt sich dicht neben die Wissenschaft; und ein Satz dieser Gesundheitslehre würde eben lauten: das Unhistorische und das Ueberhistorische sind die natürlichen Gegenmittel gegen die Ueberwucherung des Lebens durch das Historische, gegen die historische Krankheit“ (UB II, KSA 1, S. 331).
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1875 notiert Nietzsche: „[…] Wer nicht begreift, wie brutal und sinnlos die Geschichte ist, der wird auch den Antrieb gar nicht verstehn die Geschichte sinnvoll zu machen […]“ (NL, KSA 8, S. 57, 5[58]). Zehn Jahre später schreibt er in einem anderen nachgelassenen Fragment: „Was uns ebenso von Kant, wie von Plato und Leibnitz trennt: wir glauben an das Werden allein auch im Geistigen, wir sind historisch durch und durch. Dies ist der große Umschwung […]“ (NL, KSA 11, S. 442, 34[73]). Nietzsche will nicht pauschal die Historie abschaffen oder sie lediglich ästhetisieren. Der „große Umschwung“ ist für ihn vielmehr eine „Umwertung“ derselben. Bei der Geschichte handelt es sich nicht um die Entwicklung des reinen Geistes, der auf seinen Vollzug in der Zeit zielt. Geschichte ist nicht einmal ein teleologischer, vernünftiger Prozess. Sie ist aber ohnehin etwas Geistiges. Was Geschichte genannt wird, ist in Nietzsches Augen der Versuch, eine Rechtfertigung der Welt und des Daseins in Bezug und mit Rücksicht auf die „echten“, gesellschaftlichen, kulturellen „Bedürfnisse“ des Menschen zu bilden. Dies ermöglicht dem Menschen, die Sinnlosigkeit des Lebens zugunsten seiner Zukunft zu verklären, d. h. zu überwinden, um sich einen eigenen Stil bzw. einen Handlungshorizont zu verschaffen. Als Konsequenz lässt sich dann nicht mehr die Frage stellen: Wie ist Geschichte zu schreiben? sondern ‚Wie ist Geschichte zu treiben? Wozu Geschichte? Was heißt historisch denken?‘ Die Beantwortung dieser letzten Frage liegt in der Genealogie. Wenn diese einerseits als historische Forschungsmethode angewendet werden kann, kann sie andererseits als Nietzsches Hypothese des physiologischen, psychologischen und philosophischen Ursprungs der moralischen Vorstellungen und Empfindungen gelten. Die Genealogie der Moral hat aber ihre Wurzel in der mittleren Schaffensperiode Nietzschescher Philosophie. In Menschliches, Allzumenschliches führt Nietzsche durch eine „Entstehungsgeschichte des Denkens“ (Vgl. MA, KSA 2, S. 37) bzw. „das historische Philosophieren“ (Vgl. MA, KSA 2, S. 25) das Denken auf „die unlogische Grundstellung des Menschen zu allen Dingen“ (MA, KSA 2, S. 52) zurück. Ihm zufolge beruht das Denken auf dem Glauben, dass es gleiche Dinge gibt.12 Außerdem weist er in Morgenröthe das dichtende Wesen 12 Nietzsches ganzes Philosophieren ist von dieser Überzeugung geprägt. Ausschlaggebend und zutreffend aber ist eine Nachlass-Notiz von 1872, wo Nietzsche vom metaphorischen Vorgang der Erkenntnis mit Bezug auf Tropen spricht: „Tropen sind’s, nicht unbewußte Schlüsse, auf denen unsre Sinneswahrnehmungen beruhn. Ähnliches mit Ähnlichem identificiren – irgend welche Ähnlichkeit an einem und einem andern Ding ausfindig machen ist der Urprozeß. Das Gedächtniß lebt von dieser Thätigkeit und übt sich fortwährend. Die Verwechslung ist das Urphänomen. – Dies setzt voraus das Gestaltensehen. Das Bild im Auge ist für unser Erkennen maßgebend, dann der Rhythmus unseres Gehörs. Vom Auge aus würden wir
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der Vernunft (Vgl. M, KSA 3, S. 111–114) auf, dass sie „auf ein unvernünftige Weise… in die Welt gekommen ist“ (M, KSA 3, S. 116) und dass „nur der Grad der Vernunft in der Kraft entscheidend“ ist (M, KSA 3, S. 318). Auch in diesem Fall will Nietzsche die Vernunft nicht pauschal verwerfen. Im Gegenteil. Er will sie „umwerten“, d. h. erneuern, indem er ihre Fähigkeit radikal beschränkt, ihr poietisches Potential in den Vordergrund und sie in den Dienst des Leibes stellt. Außerdem legt er in Die fröhliche Wissenschaft den perspektivischen Charakter des menschlichen Lebens (vgl. FW, KSA 3, S. 626–627) fest. Es ist aber nur in seinem Spätwerk, dass Nietzsche solche Überlegungen in einem umfassenderen Kontext dadurch einbezieht, dass er sie auf den Leib, den Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr des Gleichen bezieht. Damit kann er zum einen die ewige Wiederkehr des Gleichen als geschichtlichen (metaphysischen) Horizont13 konzipieren und zum anderen den Wert aller Werte hinterfragen und physiologische, psychologische und kulturelle Grundzüge bzw. Dynamiken des menschlichen Lebens genealogisch ausgraben. Der „historische Sinn“ ist – so Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse Nr. 224 – die Fähigkeit in sich selbst das Verhältnis der Wertschätzungen eines Volkes, einer Kultur oder eines Individuums zu den jeweiligen Lebensbedingungen und mithin „die kleinen kurzen und höchsten Glückfälle und Verklärungen des menschlichen Lebens“ (JGB, KSA 5, S. 159–160) nachzubilden. Unter diesen Bedingungen „[wäre] die vollendet gedachte Historie kosmisches Selbstbewusstsein“ (VM, KSA 2, S. 461) jedoch keinesfalls, wie White Nietzsche unterstellt, eine Ästhetisierung. Im Gegenteil, aus Nietzsches Sicht braucht man Geschichte eben gerade zum Leben und zur Tat. Wenn also Nietzsche von antiquarischer, monumentaler und kritischer Historie spricht, beabsichtigt er drei Formen geschichtlicher Erfahrung und nicht drei verschiedene Interpretationsstrategien von Geschichtsschreibung zu bezeichnen. Nietzsches „Reduktion“ der Geschichte auf Ästhetik ergibt sich infolgedessen als eine individuelle Sinnstiftung unter den Bedingungen des Lebens. Da Nietzsche die Notwendigkeit sieht, dass man nie zur Zeitvorstellung kommen, vom Ohre aus nie zur Raumvorstellung. Dem Tastgefühl entspricht die Kausalitätsempfindung. Von vornherein sehen wir ja die Bilder im Auge nur in uns, wir hören den Ton nur in uns – von da zur Annahme einer Außenwelt ist ein weiter Schritt. Die Pflanze z.B. empfindet keine Außenwelt. Das Tastgefühl, und zugleich das Gesichtsbild geben zwei Empfindungen nebeneinander empirisch, diese, weil sie immer mit einander erscheinen, erwecken die Vorstellung eines Zusammenhangs (durch Metapher – denn nicht alles Miteinander-Erscheinende hängt zusammen). Die Abstraktion ist ein höchst wichtiges Erzeugniß. Es ist ein dauernder im Gedächtniß festgehaltener und hartgewordener Eindruck, der auf sehr viele Erscheinungen paßt und deshalb, jeder Einzelnen gegenüber, sehr grob und unzureichend ist“ (NL, KSA 7, S. 487). 13 Vgl. Gerhardt 20064, insbesondere S. 193–204.
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Historie (antiquarisch, monumental und kritisch) nur hinsichtlich der echten Bedürfnisse betreiben solle, sind Whites obige Schlussfolgerungen vorweggenommen und mithin entkräftet. Zudem lässt sich White der Vorwurf einer Ästhetisierung der Geschichtsschreibung machen, weil er auf die verschiedene Interpretationsstrategien der Geschichtsschreibung literarische Tropen anwendet. Zusammenfassend ist es meines Erachtens angebracht, uns zwar um die Überwindung des Nietzscheschen Nihilismus zu bemühen, aber auch die von Nietzsche jeweils betonte Problematik in Bezug auf den Sinn der Geschichte nicht als theoretisch wie praktisch unfruchtbar zu erklären und sie daher zu verneinen. Nietzsches Philosophie darf nicht als bloßer Nihilismus verurteilt werden. Sie kann in den Nihilismus einmünden: das ist aber nur eine von verschiedenen psychologischen und historischen Ergebnissen.14 Wenn Nietzsche die Geschichtsschreibung in Zweifel zieht, dann tut er das vornehmlich zugunsten der Demaskierung seines Zeitalters als Dekadenz und der Fundierung einer neuen Kultur als „verklärte Physis“15 sowie eines neuen Denkens und Handelns unter den Bedingungen des Lebens. Indem er zeigt, dass Geschichte wie Leben gleichermaßen aus einer Not und aus Machtverhältnissen entstehen, stellt er nicht am Leitfaden Kants die Frage: Wie ist Geschichtsschreibung als Wissenschaft möglich? Sondern stattdessen: „Wie ist unter den Bedingungen wissenschaftlicher Geschichtsschreibung menschliches Leben möglich?“ (vgl. Gerhardt 1988b, S. 156–157). In diesem Sinne kann Nietzsche meiner Meinung nach noch Wirkungen auf uns ausüben und uns dabei helfen, zumindest zwei strittige und trotzdem unausweichliche und entscheidende Fragen aufzuwerfen: „Ist das Leben überhaupt wert?“16 Und: Was heißt Denken? 14 Dieses Manko an Whites tropologischer Ausführung wurde auch von Bourquin ermittelt: „Die durch die Inflation des Quellenmaterials bedingte Verschiebung aller Perspektiven ‚ins Unendliche hinein‘ (HL, KSA 1, S. 272) impliziert nicht nur den Orientierungszerfall, in dem der ‚systematische Zusammenhang zwischen [historistischer] Epistemologie und Nihilismus‘ kristallisiert. Die Logik des Historismus impliziert auch und gerade, dass die Beurteilung eines historischen Standpunktes aufgrund der perspektivischen Standpunktrelativität und -inkommensurabilität in ihr Gegenteil ausschlagen kann. Die Ironie ‚für die, welche sich der kritischen Historie zum Leben bedienen‘, liegt darin, ‚zu wissen, dass auch jene erste Natur irgend wann einmal eine zweite Natur war und dass jede siegende zweite Natur zu einer ersten wird.‘(HL, KSA 1, S. 270)“ (Bourquin 2009, S. 109). An dieser Stelle ist auch auf die Arbeit von Claus Zittel zu verweisen. Er versucht, „die artistischen Verfahren als kognitiv valent zu explizieren und einen Beitrag zur Theorie der ästhetischen Rationalität zu leisten[…] und Bausteine zur Grundlegung einer Ästhetik des Nihilismus zusammenzutragen“ (Claus Zittel 2000, S. 21). 15 Vgl. UB III, KSA 1, S. 362. Siehe auch Löwith 1995, S. 326–329. 16 Vgl. Nietzsche, PHG, KSA 1, S. 809; und Aphorismus 357 der Fröhlichen Wissenschaft.
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Bibliographie Bourquin, Christophe (2009): „Die Rhetorik der antiken Mnemotechnik als Leitfaden von Nietzsches Zweiter Unzeitgemässer Betrachtung“. In: Nietzsche-Studien 38, S. 93–110. Gerhardt, Volker (1988a): „Nietzsches ästhetische Revolution“. In: Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches. Stuttgart. Gerhardt, Volker (1988b): „Leben und Geschichte. Menschliches Handeln und historischer Sinn in Nietzsches zweiter ‚Unzeitgemäßer Betrachtung‘“. In: Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches. Stuttgart. Gerhardt, Volker (20064): Friedrich Nietzsche. München. Löwith, Karl (1995): Von Hegel zu Nietzsche. Hamburg. Stegmaier, Werner (1992): Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche. Göttingen. White, Hayden (1991): Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa [1973]. Übersetzt von Peter Kohlhaas. Frankfurt a. M. Zittel, Claus (2000): Das ästhetische Kalkül von Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“. Würzburg.
IV. Politik und Zeitgeschichte
Herman W. Siemens
Nietzsche’s “post-Nietzschean” political “Wirkung” 1
The Rise of Agonistic Democratic Theory
One of the most surprising developments over the last twenty years has been the surge of interest in Nietzsche on the part of Anglo-American democratic theorists. They include the likes of Judith Butler, Wendy Brown, William Connolly, Daniel Conway, Thomas Dumm, Bonnie Honig, Moira Gatens, Michel Foucault, Gilles Deleuze, Lawrence Hatab, George Kateb, Brian Massumi, Melissa Orlie, David Owen, Michael Shapiro, Paul Patton, Keith Ansell-Pearson and Bernard Williams. Yet Nietzsche’s hostility to modern democracy, his searing criticisms and his aristocratic sympathies are all well-known – so (a.) Why Nietzsche and democracy? What motivates contemporary democratic theorists to look to such an unlikely source of inspiration? And (b.) What kinds of interpretation or appropriation are involved? What does it take to put Nietzsche’s anti-democratic thought to work for democratic theory? And (c.) How good are they as interpretations or appropriations of Nietzsche’s thought? Are they viable examples of thinking “with and against” Nietzsche that are valuable for showing us a way – perhaps the only way – to make Nietzsche’s legacy or Wirkung for political thought constructive? Or does Nietzsche’s thought rather offer critical perspectives on these appropriations that expose crucial weaknesses in the positions they advocate? In the present context I will limit myself to the motivational question (a.) and (c.) the evaluative question and restrict the discussion to a few Nietzsche-inspired agonistic democrats: Lawrence Hatab, Bonnie Honig, David Owen and William Connolly.2 In evaluating agonistic appropriations (§ II.), I will concentrate on William Connolly’s work.
I. Why Nietzsche and democracy? Radical democratic theory has its sources in the present, in concerns that are quite alien to Nietzsche. Radical or “agonistic” democratic theorists are a 1 This paper builds on some of the analyses and conclusions in the review article: “Nietzsche’s Political Philosophy. A Review of Recent Literature”, in: Nietzsche-Studien 30, 2001, pp. 509–526. 2 I will also make reference to Chantal Mouffe, whose relation to Nietzsche is only indirect – via Carl Schmitt.
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diverse group, each with their own preoccupations, but in broad terms it can be said that radical democratic theory emerged in 1990’s from a dissatisfaction with (a) the state of democratic politics today, and (b) mainstream democratic theory.
I a. Democratic politics today All these agonistic theorists are good democrats concerned with the democratic deficits of our actual democracies. Their question is: How to stay true to our democratic aspirations to liberty, equality and justice in the face of actual democracy’s patent failures? More than that, they are left-leaning, Foucaultinspired theorists concerned with the persistent inequalities in contemporary democracies, with minority groups that remain marginalised and below the threshold of legitimate identity and political participation.3 In practical terms, then, their question is: How to empower those marginalised in their emancipatory struggle against inequality? How to theorise democracy so as to allow for legitimate forms of resistance or opposition to existing power-regimes in current democracies? Clearly, these are both concerns that are quite alien to the central problems driving Nietzsche’s thought. Nietzsche’s thought on democracy is overwhelmingly critical, especially in later years, where it is driven by the problem of Nihilism, the perceived threat it poses to the future of human species and the demand for a “transvaluation of all values” oriented towards diversity and the enhancement of the species (see Siemens 2009, p. 20–37). The connection with Nietzsche only becomes clearer when we see how radical democrats respond to these concerns. What unites them is the claim that antagonism, division and struggle are inherent to democratic politics;4 hence the nomenclature “agonistic democracy”. As good democrats they seek to oppose the “law- and rule-induced sclerosis” of modern, bureaucratic democracies” by recuperating original sense of democracy as incessant contestation.5 In this regard, Nietzschean agonism is not so much a new political theory as a reminder that democracy has always been agonistic (Hatab 2008, p. 89). As left-wing theorists they seek to oppose the marginalisation or exclusion of minority groups, by theorising a politics of resistance and emancipation: a struggle against the radical inequalities in contemporary democracies.
3 Connolly 2007, p. 144; Mouffe 2005, p. 6, p. 20; Honig 1993, p. 14; Villa 2000, p. 225. 4 Mouffe 2005, p. 15 f., p. 32 f.; Fossen 2011. 5 Villa 2000, p. 225, p. 242. Also: Owen 1995, p. 16–19.
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In broad terms, their claim is (1) that antagonism, struggle, contestation, disagreement and dissensus are ineradicable, a daily and incessant part of democratic politics; but also (2) that they are desirable: a valuable (emancipatory, productive) feature of democracy, to be affirmed and celebrated, because they make genuine pluralism possible and are essential to questioning, resisting and transforming power-relations . Antagonism is both a descriptive principle and an axiological principle.
I b. Mainstream democratic theory These claims encapsulate the key criticisms levelled by radical or agonistic democrats against mainstream democratic theory, the deliberative theories of democracy that emerged in the 1970’s and 1980’s with the work of John Rawls and Jürgen Habermas. What unites them, as figureheads of the two main schools of deliberative theory, is the effort to formulate a concept of Public Reason that is normative: one that can secure the legitimacy of democratic institutions by ensuring that all decisions are the result of an exchange of arguments among free and equal rational citizens, citizens who reach a rational consensus that is maximally inclusive, because it represents an impartial standpoint which is equally in the interests of all (Mouffe 2005, p. 45 ff., p. 81 ff.). Dissatisfaction with these theories is expressed in three key claims: 1. Antagonism or dissensus contra consensus: Against the deliberative ideal of an all-inclusive consensus supposed to represent an impartial standpoint, agonists emphasise the importance of dissensus, disagreement as a daily part of democratic life: where virtually nothing is in principle excluded from contestation and contestation is not susceptible to final solutions. Against the ideal of consensus, agonists also emphasise the structural and conceptual impossibility of all-inclusive consensus, and the violence, the exclusionary effects and remainders that attend any attempt at closure.6 These claims are supposedly derived from Nietzsche, as well as from poststructuralism. 2. Pluralism is inherently antagonistic: Antagonism, dissensus are also valued as the condition for genuine pluralism (under contemporary conditions). Liberalism is charged with attempting to depoliticise pluralism by confining it to the private sphere in favour of (overlapping) consensus in a value-neutral public sphere. The notion of a universal public reason deployed in deliberations oriented toward consensus fails to address ade6 Honig 1993 p. 129; Connolly 1991, p. 93; Mouffe 2005, p. 45.
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quately the character of pluralism in contemporary democracy. The notion of pluralism at stake here is both descriptive and normative: something we have both to acknowledge and promote.7 The linkage between pluralism and antagonism is supposedly derived from Nietzsche. Power is inherently antagonistic: Agonistic theorists hold an anti-liberal concept of power, in which antagonism is intrinsic to power. Power is not something essentially negative and prohibitive, something that a pre-constituted subject can possess as a “right” and/or transfer through a juridical act that guards against oppression. Rather, power is constitutive of all identities, subjectivities and socio-political relations. This is missed by the deliberative ideal of a non-coercive consensus among rational agents (Mouffe 2005, p. 98–99., p. 105, p. 135). Under “power”, agonists understand on the one hand, (macro- and micro-) power-relations of subordination, subjection / subjectification and exclusion at work in any democratic polity: power-relations are relations of domination. On the other hand, they emphasise the emancipatory value of antagonism and struggle in democracy, seen as essential to questioning, resisting and transforming powerrelations. This constitutive theory of power is supposedly derived (via Foucault) from Nietzsche.
Even if the problem-background of contemporary agonistic theorists, as leftleaning pro-democrats, is alien to Nietzsche, we can still ask: How Nietzschean is their solution? How Nietzschean is the affirmative concept of struggle or agon that forms the basis for their three charges against liberalism? To begin, some general remarks on their concept of struggle or agon in relation to Nietzsche. The first thing to note is that agonistic theorists are divided over how exactly “to cash out the notion of politics as struggle” in contemporary democracies (Fossen 2011). For example: Several authors (Hatab, Owen) emphasise the deep compatibility of Nietzsche’s concept of the agon and his agonistic concept of power with liberal-democratic practices and procedures at all levels.8 Hatab emphasi7 Mouffe 2005, p. 17, p. 19, p. 33–4.; Connolly 2007, p. 4; Honig 1993, p. 130. 8 “Political judgments are not preordained or dictated; outcomes depend upon a contest of speeches where one view wins and other views lose in a tabulation of votes; since the results are binding and backed by the coercive power of the government, democratic elections and procedures establish temporary control and subordination – which, however, can always be altered or reversed because of the succession of periodic political contests […] Democratic elections allow for, and depend upon, peaceful exchanges and transitions of power […] [L]anguage is the weapon in democratic contests. The binding results, however, produce tangible effects of gain and loss that make political exchanges more than just talk or a game […] The urgency of such political contests is that losers must yield to, and live
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ses the contest of speeches, where policy is determined by winning; but also the temporary and contestable nature of any settlement. Most recently, he has highlighted the agonistic or adversarial style of democratic legal practice (Hatab 2008, p. 185–186). Owen’s focus is on the agonistic, dissensual nature of democratic deliberation and reason-giving. “Agonistic deliberation” is conceived as deliberative contestation within and over the terms of democratic citizenship. That is to say, deliberation involves not just participation in democratic-constitutional institutions, but also deliberation over those institutions themselves. In a recent volume of essays on the relation between political agonism and law (Schaap 2009), he argues against drawing too sharp a distinction between contestation within a legal-political order, and contestation over the terms of such an order: agonistic deliberation presupposes rule of law, civil liberties and public reason while also opening their implementation up to contestation. These political agonisms exhibit two formal elements that bear directly on Nietzsche’s concept of the agon in Homer’s Wettkampf (CV 5): 1. The first is the open-ended, counter-final character of agonism: no results are permanent, all settlements remain open to contestation, so that contestation is incessant, continuous. In CV 5, this is implied by the exclusion of the “hervorragende Individuum” from Nietzsche’s account of agon; that is, the conclusive victor who cannot be challenged. This implies that the agon can only work and thrive where a plurality of antagonistic “forces (Kräfte) or “geniuses”” are engaged in an inconclusive, open-ended contestation of victory (CV 5, KSA 1, p. 789). The agon admits mastery between the contests – temporary, intermittent victors like the Olympic champion or the winner of the contest of tragedies this year. The emergence of an absolute victor kills the agon. 2. The other formal element concerns the scope of contestation. Contestation does not just take place within a specific political-legal-institutional order, but also over the very terms of that order; political agonism does not just follow a set of rules and procedures but is also contestation over those very rules, procedures and criteria. This formal characteristic coheres with the anomalous character of agon as game, as described by Nietzsche in CV 5 and MA 170 (see Siemens 1998). The measure or standard of victory is not given or fixed independently of each contest; it is the actual issue of contestation, so that the agonal antagonist does not just want to win; his ambition is to determine what counts as winning, so that you have a
under, the policies of the winner; we notice, therefore, specific configurations of power, of domination and submission in democratic politics.” Hatab 1995, p. 63.
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contest of judgements of victory or a contestation of justice – of the very standard or measure of victory. These formal convergences give some substance to the appeal by agonistic democrats to Nietzsche’s agon as the source of inspiration. Beyond these two points of convergence, however, things become a lot murkier and the appeal to Nietzsche becomes problematic, if not untenable. Agonistic politics, I shall argue, is informed by an ontology of struggle and power that is quite unNietzschean. The attempt by agonistic democrats to anchor agonism in democracy is perhaps the murkiest issue in this affair. In Hatab’s case it begins with the claim that there are deep compatibilities between Nietzsche’s thought and democracy, or at least: democracy under a certain description. They concern not just (1) the notion of agon, but also (2) perspectivism and the open category of interpretation (in place of foundationalist claims to absolute, objective knowledge), and (3) the Nietzschean suspicion of the underlying power-claims at stake in moral and cognitive claims (Hatab 1995, pp. 55–77: Ch 3). In his 1995 book “A Nietzschean Defense of Democracy”, he argues that Nietzsche opens the possibility of redescribing democracy in non-metaphysical terms that incorporate critical insights of post-modernism and enable us to dispense with a positive concept of equality, with its irreducibly metaphysical / theological foundations. That is to say, Hatab takes one aspect of Nietzsche’s critique of democracy on board: the critique of equality, but argues that we can theorise democracy without a substantive concept of equality. In place of equality, he proposes an ethos of agonistic respect for opponents, grounded in Will to Power (I shall return to this below). Connolly and Owen exhibit a perfectionist strain of agonistic democratic theory. Their driving question is how to “ennoble” democracy, and both argue against Nietzsche that the kinds of nobility of character and culture he advanced are better anchored and expressed in democratic practices than he imagined. Nietzschean nobility, glossed by Connolly in terms of self-experimentation, grace and plurality, exhibits traits that he contends are appropriate to fast-paced world.9 Indeed, in Connolly’s view, Nietzsche offers unique constructive resources for rethinking key democratic ideas in a present that seems to be outpacing slow pace of democratic deliberation, as well as the ideals bequeathed by classical democrats such as Rousseau, Tocqueville, Mill, or even contemporaries like Rawls or Habermas.
9 Connolly 2008, pp. 128 ff. See also Owen 2008, pp. 162 ff.
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II. Evaluation: agonistic respect Do these political appropriations, as cases of thinking “with and against” Nietzsche, show us a way – perhaps the only way – to make his legacy or Wirkung on political thought constructive? Or is it rather the case that Nietzsche’s thought offers critical perspectives on these appropriations that expose weaknesses in the positions they advocate? In what follows, these questions will be addressed by focusing on the concept of agonistic respect, especially in Connolly’s work, as a “case study”. Any agonistic theory of democracy must in one way or another confront the problem of limits or measure: How to contain political struggle so that it remains this side of mutual annihilation? In CV 5 this is the question of the relation between the Wett-kampf and the Vernichtungs-kampf, between the “good” and the “evil Eris”. As part of their response, almost all agonists (Hatab, Owen, Connolly, Mouffe) appeal to some form of respect – “agonistic respect” – for the opponent as legitimate. That is to say, they appeal to selfrestraint on the part of the agonist guided by a certain attitude, disposition or ethos. This ethos, in turn, is supposedly derived in one way or another from Nietzschean insights. In what follows, two examples will be considered. 1. The first is Hatab. In dispensing with a substantive notion of equality, Hatab tries to replace it with an ethos of equal regard (Hatab 1995, p. 60, pp. 97–99, p. 107) and agonistic respect (Hatab 1995, pp. 68–70, p. 189, p. 191, p. 220). This ethos is supposedly derived from the antagonists’ insight into their agonistic interdependence, which in turn is presented by Hatab as a consequence of Nietzsche’s will to power: [T]he will to power expresses an agonistic force-field, wherein any achievement or production of meaning is constituted by an overcoming of some opposing force. Consequently, my Other is always implicated in my nature; the annulment of my Other would be the annulment of myself […] This is why Nietzsche often speaks of the need to affirm our opponents as opponents, since they figure in our self-development. (Hatab 1995, p. 68)
– and upon this Hatab builds his concept of agonistic respect. Agonistic respect is a consequence of my insight into the reciprocity and interdependence of antagonistic forces. Since “the annulment of my Other would be the annulment of myself” (or again: “The elimination or degradation of the Other would be self-defeating”, Hatab 1995, p. 69), I am bound to affirm my opponent as opponent. There are, I believe, at least three problems with this position. First, as the language of “my Other” etc. indicates, this is a subjectivist-psychologistic account of the Will to Power. It is as if relations of force and the “logic” of
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force-relations can be translated onto the plane of subjective self-awareness, so as to inform and influence one’s self-relation and relation to others. But I am not a Will to Power, and others are not opposing Wills to Power. We are all derivative, provisional unities resulting from the infinitely complex, preconscious, subject-less organisations of Wills to Power. Secondly, Hatab’s is a “soft”, altogether sanitised interpretation of the Will to Power. In reading Hatab one wonders what happened to the dynamic of creation-destruction, the dynamic of expansion through incorporation or functionalisation of opposing Will to Power complexes, to the logic of exploitation. In Nietzsche’s thought there is a tension between the agon and the Will to Power, one that can be referred to the moment of measure or limits in the agon: in precluding injury and exploitation it divides the agon against life as Will to Power, insofar as Will to Power includes injury and exploitation.10 This tension is overlooked by Hatab, who effectively reads agonal restraint back into the “logic” of the Will to Power. The third problem applies to agonism in general. It concerns the moment of recognition or acknowledgement of the Other that supposedly motivates agonist self-restraint. For we can ask: How far does this affirmation of the Other go? How deep does the reciprocity of antagonism run? Hatab appeals to a “mixture of perspectives” in Nietzsche. In the first place, a perspective “needs its Other as an agonistic correlate, since opposition is part of a perspective’s constitution; and second, a perspective can never escape a certain complicity with elements of its Other” (Hatab 1995, p. 48). But there are reasons to suspect that the value placed by one Will to Power complex on an opposing one is instrumental: as a means for its own expansion, disregarding the specificity of its content.11 2. In the case of Connolly, we can see even more clearly than in Hatab that agonistic politics is based on an ontology of struggle and power that is quite un-Nietzschean. Connolly’s point of departure is a theory of identity, supposedly informed by Nietzsche and Foucault, one that is designed to address 10 “Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung” (JGB 259). In CV 5, this divide is articulated in the crucial difference between the Wett-kampf and the pervasive Vernichtungs-kampf, without however being problematised as life-negation. 11 The strongest challenge to Hatab’s “complicity” comes from Müller-Lauter’s account of Nietzsche’s strong type: “In welchem Masse der Starke […] auch immer die seinem Ideal entgegenstehenden Ideale berücksichtigt, ihr Dasein sogar heraufbeschwört : sie bleiben für ihn das, von dem ihn eine unüberbrückbare Kluft trennt. Sie zu erkennen, kann für ihn nicht heissen, sie anzuerkennen. Genauer: nur ihr Gegenwirken wird anerkannt, weil es geeignet ist, die eigene Mächtigkeit zu erhalten und zu steigern, – nicht jedoch die Besonderheit ihrer Inhalte.” (Müller-Lauter 1971, p. 122).
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adequately and affirm the specific character of pluralism in late modern democracies; what he calls “the paradox of difference that haunts social life in late modern democracies” (Connolly 1993, pp. 190 ff.). In a world of flux without design, he argues, any life-form or self, in order to subsist as a unity, needs an identity “to organise and resist the chaos of raw sensibility”.12 Identity (personal, group, collective) “is defined and specified by the way it constitutes difference: identity needs difference to be, but difference threatens the security and certainty of self-identity” (Connolly 1993, p. 190). Connolly’s question is, then: How best to respond to this paradox politically? Before considering Connolly’s response, it can already be said that he seems to hold a reactive theory of identity, or that his concept of identity is haunted by a reactive theory of power. While Connolly’s starting point in a world of flux without design is recognisably Nietzschean, his account of identity – like that of Honig and Mouffe – rests on the logic of the “constitutive outside” derived from Derrida.13 On Connolly’s account this logic translates into the claim that identity is determined by (1) dependence on external forces that (2) constitute a threat to identity. From a Nietzschean point of view, this account seems bereft of activity as a source of identity; instead, the emphasis is on any identity’s dependence on difference. Such dependence places identity in a position of weakness; it predicates identity on a lack or on something external that threatens it. Viewed in this light, we can ask the critical question: What is to distinguish identity-formation on this account from the slave-revolt of morality? Connolly – like other agonistic democrats – seems peculiarly insensitive to this Nietzschean suspicion, and to its connection with Nietzsche’s critical genealogy of democratic values in a reactive complex of ressentiment, misarchism and the slave-revolt.14 For a more active sense of identity, we can consider another formulation of Connolly’s, one that is based on a Nietzschean or “post-Nietzschean” concept of life as “excess over identity”. Here he argues that “[l]ife provides a precondition for identity while resisting [because exceeding – HS] the comple-
12 Possibly a reference to the Nachlass note 9[106] (NL, KSA 12, p. 395): „der Gegensatz dieser Phänomenal-Welt ist nicht ‚die wahre Welt‘, sondern die formlos-unformulirbare Welt des Sensationen-Chaos, – also eine andere Art Phänomenal-Welt, eine für uns ‚unerkennbare‘.“ 13 Mouffe 2005, pp. 12, 21, 32, 48, 135; see also Connolly 1991, p. 64. The formulation “constitutive outside” is from Staten 1984, p. 16. 14 See e.g. 35[22] (KSA 11, pp. 517 ff.) and Siemens 2009. This problem is perhaps clearest in Mouffe’s case, since her theory of identity relies in part on Carl Schmitt, for whom the threat of annihilation is the condition for political identity. Schmitt’s political ontology is informed by Hobbes’s theory of power, whose reactive character contrasts with Nietzsche’s active concept of power (see Patton 2001).
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tion of any form of identity” (Connolly 1993, pp. 194 ff.). Life, understood as an excess of energy propelling possibilities into being, “exceeds any purpose or identity to which people already conform; for every way of life, settled practice or fixed identity produces difference in and around itself in the very process of specifying itself” (ibid.). While this does suggest a more active concept of identity and identity-formation, the nature of this activity seems again to follow a post-structuralist logic, as a process of “constituting” or “producing” difference. In Nietzsche’s ontology of life, by contrast, difference – like activity – is a precondition (or presupposition) for (thinking) identity as a lifeprocess. It is by virtue of differential relations with other forces, in the very process of confronting the resistance they offer, that any derivative identity is possible. Identity, understood as the process whereby a complex or organisation of Wills to Power is formed, does not produce difference; rather it seeks out resistance and difference in order to expand by commanding and incorporating that which resists it (see Aydin 2007). We can now turn to Connolly’s question: How best to respond to this paradox of difference politically? The paradigmatic response, he maintains, is to deny the constitutive role of the other and to seek the self-certainty of identity through closure against the other, that is, by defining the other as evil or (in the case of deliberative theory) irrational, while making claims to absolute truth and value for oneself.15 Connolly’s agonistic alternative to this response begins with the need to acknowledge the contingency and incompleteness of identity, and its constitutive dependence on difference and opposition. What is needed instead, so Connolly, are identities that can affirm themselves without denying their constructed, relational, paradoxical character; only this will allow for a pluralisation of identities appropriate to our contemporary world. The hope is that insight into our agonistic dependence on the other can act as an incentive towards “agonistic respect”, which he characterises as an “empathy for what we are not”, a “care for difference”.16 Such empathy or care is supposed to issue from the insight that the constitutive function of others makes them part of our identity. Connolly’s “hope”, to be clear, is that an insight (into our dependence on difference or others) will engender a moral sentiment (care, empathy) or sensitivity to a normative claim made by (the) 15 For a lucid account of this “politics of enmity” and a Nietzschean critique based on the “spiritualisation of enmity” in GD Widernatur, see Bergoffen 2008. 16 See Connolly 1991, p. 10: “The primary question is not for a command that answers “why” or a ground that establishes “what” but for ways to cultivate care for identity and difference in a world already permeated by ethical proclivities and predispositions to identity.” See also: Connolly 1991, pp. 159, 166, 178; Connolly 1997, p. 8; Connolly 2000, p. 313; Connolly 2007, p. 142.
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other(s). What is not clear, is how a rather sophisticated philosophical insight into the structure of identity gives rise to a moral sentiment; much less, from a Nietzschean point of view, what the sources of this normative claim made by the other are supposed to be. For Connolly, agonistic respect is a “civic virtue”, one that goes as far as “deep respect”, by which he means that “those who bestow it acknowledge the dignity of those who embrace different sources of respect”, that they “honor different final sources” (Connolly 2007, pp. 142– 143). At this point, it seems clear we are on territory quite alien to Nietzsche’s thought. Yet Connolly insists that none of this excludes contesting other sources of respect, and he enlists Nietzsche’s “spiritualisation of enmity” (Vergeistigung der Feindschaft) to in order to explicate this peculiar agonistic empathy. He appeals in specific to Nietzsche’s “pathos of distance” and refers to GD Widernatur 3 as a key source: Die Vergeistigung der Sinnlichkeit heisst Liebe: sie ist ein grosser Triumph über das Christenthum. Ein andrer Triumph ist unsre Vergeistigung der Feindschaft. Sie besteht darin, dass man tief den Werth begreift, den es hat, Feinde zu haben […] Die Kirche wollte zu allen Zeiten die Vernichtung ihrer Feinde: wir, wir Immoralisten und Antichristen, sehen unsern Vortheil darin, dass die Kirche besteht … Auch im Politischen ist die Feindschaft jetzt geistiger geworden, – viel klüger, viel nachdenklicher, viel schonender. Fast jede Partei begreift ihr Selbsterhaltungs-Interesse darin, dass die Gegenpartei nicht von Kräften kommt […]. (GD, KSA 6, p. 84)
The first thing to note is that there is no talk of “respect” in Nietzsche’s text, let alone respect for one’s enemy, much less “empathy”. Nietzsche writes of a deep understanding, i.e. acknowledgement of the “the value of having enemies”; but to value enmity is by no means the same as respecting one’s enemy à la Connolly. Connolly’s empathy may perhaps come closer to what Nietzsche here calls “love”, or the “spiritualisation of sensibility” (although sensibility does not seem to play a significant role in Connolly’s thinking here). But this is not the “spiritualisation of enmity”, as Nietzsche emphasises by calling it “an other triumph over Christianity”. In Nietzsche’s formulation, what is valued (not respected) are relations of enmity (not the enemy), and this leaves open the possibility that the enemy may be valued in purely instrumental terms without reference to the specificity of its content.17 This concern is completely missed if “the value of enmity” is allowed to slide into “respect for the enemy”. A second, unrelated difficulty with Connolly’s account of agonistic respect concerns his investment in the notion of contingency. An overestimation of the
17 Müller-Lauter 1971, p. 122, quoted in note 11 above.
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practical force of our insight into contingency is by no means limited to Connolly.18 In his case, however, it is also open to a simple psychological objection. Is our insight into the contingency of our identity and its dependence on the other not more likely to have the reverse effect of reinforcing our desire for closure by denying this dependency?19 The most serious problem with the concept of agonistic respect lies at a strategic level. This concept encapsulates an approach to the agon shared by Connolly and other contemporary agonistic democrats that is highly questionable from a Nietzschean point of view: the attempt to actualise agonistic interaction through the cultivation of a subjective attitude or ethos. For Nietzsche, the agon became important and effective as an institution in a context where the Greeks could not rely on self-restraint, what Karl Reinhardt aptly called the transition from heroic-superhuman to the problematic-human (see Siemens 2002, pp. 106–108). What drew Nietzsche to the Greek agon was the way it conjugated heroic pathos, the temptation to hubris and excess (Übermass) on the part of the subjects, with measured, creative conflict in the relations between them: „Wunderbarer Prozeß, wie der allgemeine Kampf aller Griechen allmählich auf allen Gebieten eine δίκη anerkennt: wo kommt diese her? Der Wettkampf entfesselt das Individuum: und zugleich bändigt er dasselbe nach ewigen Gesetzen“ (NL, KSA 7, p. 402, 16[22]).20 If we ask with Nietzsche how this was possible, one clue lies in the social ontology of tension presupposed by the agon. In Homer’s Wettkampf he describes the principle of Greek pedagogy as the claim: “Jede Begabung muss sich kämpfend entfalten; so gebietet die hellenische Volkspädagogik” (CV 5, KSA 1, p. 789). This implies that each particular capacity, force or genius can only become what it is [“sich entfalten”] through antagonistic striving [Gegenstreben] against others. This social ontology makes antagonistic relations essential to the forging of identities in agonal action. However, these relations also act as a medium of resistance that cuts subjective intentions off from resulting action or interaction, so that the identity – the “who” – disclosed in agonal action is not the result of a wilful purpose, but the product of relations of tension that are dynamic and unpredictable in nature.21 At stake is a resolutely relational social ontology that is conditional upon an equilibrium of sorts among a plurality of forces or geniuses: the “Wettspiel der Kräfte”, Nietzsche writes, presup18 See e.g. Allsobrook 2008, p. 699. 19 This point has been made persuavely by Frank de Jonge in his unpublished manuscript: “Connolly, Nietzsche, and Nobility”. 20 See also NL, KSA 8, p.78f, 5 [146]; [146]; NL, KSA 8, p. 80,.5[70], 21 This brings Nietzsche close to Arendt’s concept of public, political action or praxis, as I have argued elsewhere (Siemens 2005).
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poses „daß, in einer natürlichen Ordnung der Dinge, es immer mehrere Genies giebt, die sich gegenseitig zur That reizen, wie sie sich auch gegenseitig in der Grenze des Maaßes halten“ (CV 5, KSA 1, p. 789). These relations of mutual stimulation and mutual restraint can profitably be understood with reference to the concept of approximate equilibrium (ungefähres Gleichgewicht), proposed in MA as the origin of justice and anticipated in the Nachlass note cited above (NL, KSA 7, p. 402, 16[22]) on the agonal origins of δίκη in Greece.22 As Volker Gerhardt has pointed out, Nietzsche’s concept of equilibrium involves a complex, communicative interaction of powers involving perception, anticipation and evaluation, announcement and symbolic understanding (Gerhardt 1983). Nietzsche’s concept of equilibrium cannot, however, be understood from the “subject-position”, the standpoint of the single antagonists or forces as a conscious goal. For the antagonists do not aim at equilibrium; rather, each strives for supremacy (Übermacht): “to be the best”. Equilibrium is, then, an “intersubjective” or medial phenomenon, a function of the relations between forces, each striving for supremacy. So once again, the relational or medial concept of equilibrium inserts a radical disjunction between the “subject-position” of the antagonists – their desires, intentions and claims – and the qualities of their resulting agonal interaction: each wants to be the best, yet an equilibrium is, or can be, achieved; each is tempted to excess and hubris, yet limits or measure can be achieved. The medial sense of the agon means that the measure or limit on action is determined not by the players’ goals, interests or disposition ; rather it is the contingent result of dynamic relations that emerge between social forces competing for supremacy. Both the social ontology of tension and the medial concept of equilibrium point to the impossibility of realising agonal interaction from the subjectposition, by adopting a specific attitude or ethos. This, in my view, is the single most significant difference between Nietzsche’s concept of the agon and contemporary appropriations, one that also exposes a crucial weakness in the accounts of agonistic democracy they have developed.
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22 For detailed accounts see: Siemens 2005; Siemens 2001.
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Christian Benne
Vom aristokratischen zum antiquarischen Radikalismus Radikale Missverständnisse von Georg Brandes bis Oscar Levy Allen Bemühungen der Nietzscheforschung zum Trotz gilt Nietzsche noch immer als geistiger Wegbereiter der tödlichen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts. Lange vor der Diskussion um seine Bedeutung für den Nationalsozialismus war er bereits Streitobjekt im anglo-deutschen Antagonismus; der 1. Weltkrieg wurde in der zeitgenössischen Presse Großbritanniens bekanntlich gar als Anglo-Nietzschean War apostrophiert. Auf der Suche nach den ideologischen Stichwortgebern der militaristischen Kreise des Deutschen Reiches und ihrer parvenühaften Ansprüche nach Weltgeltung war man in Nietzsche scheinbar auf einen Apologeten der preußischen Junker und ihres unbedingten Willens zur Macht gestoßen. Der verheerende Einfluss des Nietzsche-Archivs auf diese Interpretation braucht nicht eigens betont zu werden. Ihr Kern bildet jedenfalls die Vorstellung von Nietzsches antidemokratischem, ja protofaschistischem Menschenbild, das dem Plädoyer für ein Kastensystem nahe kommt. In seinem Standardwerk zum politischen Nietzsche fasst Henning Ottmann die gängige Auffassung präzise zusammen: Nietzsches Ideale sind stets ‚aristokratische‘ gewesen, und man kann mit Brandes Nietzsches ganze Philosophie einen ‚aristokratischen Radikalismus‘ nennen. Immer hat Nietzsche ‚elitistisch‘ gedacht, gegen den demokratischen Geist der Zeit. Man stößt sogar auf Worte, die Nietzsche nahezu wie Gobineau als Verteidiger der Interessen der zeitgenössischen Aristokratie erscheinen lassen könnten.1
Ottmann versteht den ‚aristokratischen Radikalismus‘ also im Sinne eines ‚radikalen Aristokratismus‘, als Steigerungsform der elitären Weltanschauung Nietzsches. Der Verweis auf einen der wesentlichen Entdecker Nietzsches scheint zu bedeuten, dass die Einsicht in Nietzsches Propagierung aristokratischer Werte von Anfang an präsent ist und somit zur Grundbedingung der Nietzsche-Rezeption gehört. Beiden Thesen soll hier insofern widersprochen werden als sie den ‚aristokratischen Radikalismus‘ allzu einseitig auslegen. Anders nämlich als Ottmann und, soweit ich sehen kann, die gesamte bisherige Nietzsche-Forschung annimmt, ist der zweite Begriffsbestandteil von Bran1 Ottmann 21999, S. 271. Vgl. ferner Thomas 1983 sowie Campioni 2000.
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des’ Formulierung der entscheidende. Das Adjektiv ‚aristokratisch‘ qualifiziert lediglich den ‚Radikalismus‘, auf den es eigentlich ankommt. In einem ersten Schritt geht es mir um die Berichtigung dieses begriffshistorisch durchaus begreiflichen Missverständnisses. In einem zweiten Schritt soll nach den Folgen dieses Perspektivenwechsels für die Auffassung von Nietzsches Werk selbst gefragt werden. Hier lassen sich Ansätze jenes politischen Programms des Radikalismus identifizieren, um das es Brandes ging. Zwar wird Nietzsche dadurch keineswegs zum Musterdemokraten, das ist nicht das Ziel. Doch erscheint die Funktion seines ‚Elitismus‘ in einem neuen Licht, unter dem sich wiederum veränderte Konturen der Nietzsche-Rezeption abzeichnen. Georg Brandes’ wegweisende Abhandlung über Nietzsche von 1889 (dänisch) bzw. 1890 (deutsch), die den aristokratischen Radikalismus öffentlich zur Debatte stellte, behandelte diesen Begriff nicht explizit, sondern beließ es bei der Nennung im Titel.2 Erwähnt wurde er zum ersten Mal im Briefwechsel zwischen Brandes und Nietzsche. Nietzsche hatte Brandes, schon damals eine europäische Berühmtheit und der wohl wichtigste Mittler zwischen den Ländern und Literaturen, seine Bücher geschickt.3 Brandes, der sich vor Zusendungen kaum retten konnte, reagierte mit einiger Verspätung und wurde offenbar erst 1887 auf die Schriften des unbekannten Autors aufmerksam, dessen Auffassungen sich in manchem mit seinen eigenen zu decken schienen. Nach der Lektüre aphoristischer Bücher sowie der Genealogie der Moral sah er in Nietzsche einen Mitstreiter gegen die Borniertheit des Zeitalters, aber auch gegen den unverdienten Hegemonialanspruch der deutschen Kultur als Folge des bloßen militärischen Erfolgs. In seinem ersten Brief, mit dem er für die Zusendungen dankte, erklärte er in diesem Sinn u. a.: „Ich verstehe noch nicht völlig was ich gelesen habe; ich weiss nicht immer wo Sie hinaus wollen. Aber vieles stimmt mit meinen eigenen Gedanken und Sympathien überein, die Geringschätzung der asketischen Ideale und der tiefe Unwille gegen demokratische Mittelmässigkeit, Ihr aristokratischer Radikalismus.“4 Halten wir fest, 2 Brandes 1889 und Brandes 1890. 3 Schon 1883 will Nietzsche gehört haben, dass sich Brandes „eingehend“ mit ihm beschäftige (KSB 6, S. 328). Das bezieht sich freilich nur auf den Umgang, den Brandes in Berlin mit den Kreisen um Lou Salomé und Paul Rée pflegte. Brandes steht auf mehreren von Nietzsche angefertigten Listen mit von ihm ausdrücklich gewünschten Empfängern seiner Bücher (z. B. KSB 7, S. 217). Diese Listen zeichnen sich durch ein hohes Bewusstsein medialen Einflusses aus. 4 Der Briefwechsel zwischen Brandes und Nietzsche wird hier ausnahmsweise zitiert nach Krüger 1966. Die Zitate sind mit der KGB abgeglichen, ohne gesondert auf sie zu verweisen, da die Briefe über das jeweilige Datum leicht auffindbar sind. Der große Vorteil der Ausgabe gegenüber der KGB besteht darin, dass die Briefe tatsächlich in der chronologischen Folge der Antworten hintereinander gedruckt sind. Erst so ergibt sich das Bild eines lebendigen Austauschs, das man sich aus der KGB mühsam zusammenstellen müsste. Brandes’ erster
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dass der aristokratische Radikalismus hier nicht als letzter Punkt einer Aufzählung erscheint, was der grammatischen Form nach durchaus möglich wäre, sondern als nachgetragene Erläuterung und Zusammenfassung der beiden vorangegangenen Elemente, als der Oberbegriff zur „Geringschätzung der asketischen Ideale“ und dem „Unwille[n] gegen demokratische Mittelmässigkeit“ (was nicht mit der Demokratie als Regierungsform identisch ist). Nietzsches Antwort ist berühmt geworden, weil er den Begriff des aristokratischen Radikalismus nicht nur sanktionierte, sondern, indem er sich ihn zu eigen machte, sogar autorisierte. Er fehlt seither in keiner Gesamtdarstellung seines Lebens oder Denkens: „Der Ausdruck ‚aristokratischer Radikalismus‘, dessen Sie sich bedienen, ist sehr gut. Das ist, mit Verlaub gesagt, das gescheuteste Wort, das ich bisher über mich gelesen habe.“5 Das Wort ‚radikal‘ hat einen umfassenden semantischen Wandel durchgemacht. Bedeutete es ursprünglich so viel wie gründlich, grundlegend (von latein. radix = Wurzel), modifizierte es sich später zu rücksichtslos konsequent, bis zum Äußersten (nämlich bis auf die Wurzel) gehend, also hin zu dem, was wir auch als extrem oder Extremismus bezeichnen.6 Radikal und Radikalismus als politische Begriffe sind heute mehr oder weniger synonym mit extremen politisch-ideologische Denkweisen jeglicher Richtung: man kann links- oder rechtsradikal, aber auch marktradikal sein. Diese sprachgeschichtliche Entwicklung verdeckt die spezifische Bedeutung, die der Begriff des Radikalismus zwischenzeitlich im neunzehnten Jahrhundert angenommen hatte; sie wird – zumindest im Deutschen – auch in den gängigen etymologischen Wörterbüchern nicht mehr vermerkt. Als radicals wurden in England schon seit Beginn des Jahrhunderts jene Verfechter grundlegender Reformen (u.a. des Wahlrechts) bezeichnet, die sich mit dem erreichten Stand der Bürgerrechte nicht zufrieden geben wollten – die Begriffsgeschichte reicht in der englischen politischen Terminologie freilich schon Jahrhunderte zurück. Gesamteuropäisch setzte sich der Begriff des Radikalismus erst mit der Julirevolution durch. Die französischen radicaux waren zwar ans englische Vorbild angelehnt, gingen aber insofern weiter, als sie den Liberalismus um seiner Erneuerung willen von innen her angriffen. Jeglicher Kompromiss mit der Restauration wurde abgelehnt. Weit über die tagespolitischen Ziele hinaus ging es ihnen um eine Fortschreibung der kosmopolitischen
Brief an Nietzsche ist auf den 26. November 1887 datiert: Krüger 1966, S. 439 (KGB III/6, Nr. 500, S. 120 f). 5 Nietzsche antwortet am 2. Dezember 1887: Krüger 1966, S. 441 (KGB III/5, Nr. 960, S. 205 ff). 6 Vgl. etwa Pfeifer 41999, S. 1074.
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und antiklerikalen Positionen, die die Emanzipationsbewegung spätestens seit der Französischen Revolution begleitet hatten. Im Unterschied zur entstehenden sozialistischen Bewegung trat dagegen die soziale Frage in den Hintergrund. Der Radikalismus war konsequent am Individuum und der Steigerung seiner persönlichen Freiheit ausgerichtet (dies umfasste auch die Gleichberechtigung der Frau); er bekämpfte deshalb alle Institutionen, die das Individuum einzuschränken drohten: den Nationalstaat, die Kirche, später selbst die Institution der Ehe und andere als repressiv empfundene Verhältnisse.7 In vielen europäischen Ländern entstanden Parteien dieses Profils. Sie verschwanden erst wieder bzw. gingen in anderen Parteien auf, als sich soziale Fragen immer stärker ins Zentrum politischen Denkens schoben.8 In Deutschland spielte der von der Julirevolution inspirierte Radikalismus eine gewisse Rolle im Vormärz. Aus drei Gründen war seine Wirkung hier allerdings von vornherein beschränkt. Erstens fiel die deutsche Bürgerrechtsbewegung bekanntlich mit dem Streben nach nationaler Einheit zusammen. Zweitens fand durch die konfessionelle Spaltung im Reich die Abwendung vom Christentum im deutschen Liberalismus nicht auf vergleichbar konsequente Weise statt. Man denke nur an die Bedeutung des Wartburgfestes: der Protestantismus der Nationalliberalen konnte sich bis weit über den Kulturkampf hinaus als fortschrittlich inszenieren; im republikanischen Denken Deutschlands spielte der Laizismus von jeher nur eine untergeordnete Rolle. Drittens schließlich wurde der Liberalismus in Deutschland durch den Ausgang der Ereignisse von 1848 insgesamt dauerhaft geschwächt. In den vielen kleinen Obrigkeitsstaaten, aus denen unter Bismarck ein großer Obrigkeitsstaat inklusive dem ersten Sozialversicherungssystem der Welt wurde, fehlte dem eigenverantwortlich handelnden und aufbegehrenden Citoyen der Nährboden. Heute fehlt in Deutschland (im Unterschied etwa zur Schweiz) jegliches historisches Bewusstsein davon, dass es den Radikalismus überhaupt gegeben hat. Dänemark ist das Land Europas, in dem es nach wie vor eine nicht nur eigenständige, sondern auch einflussreiche radikale Partei gibt. Die Radikale
7 Zur Einführung in den Radikalismus empfiehlt sich Wende 1984. Dort auch ein schönes Zitat von Edgar Bauer aus der Allgemeinen Literaturzeitung von 1844: „Selbst die kritische Opposition gegen den Liberalismus, die sich die radikale nannte, war nichts als der weitergehende Liberalismus, wie denn überhaupt der Radikalismus vor allem in der Forderung des Weitergehens, in dem Vorwurfe des Nichtweitgenuggehens bestand“ (Wende 1984, S. 119). 8 Ab Ende des Jahrhunderts häufen sich die Berührungspunkte radikaler und sozialistischer Programmatik, so dass sich die Radikalen nach und nach zwischen reinem Liberalismus, linksliberalen oder sogar marxistisch inspirierten Bewegungen entscheiden mussten. Der Radikalismus als eigenständige politische Kraft ging dadurch verloren, aber dieses Spannungsverhältnis prägt das intellektuelle Europa bis weit in unsere Zeit.
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(bzw. Radikale Venstre) entstand 1905 als linksliberale Abspaltung der liberalen Partei Venstre, die ebenfalls noch existiert.9 Neben dem französischen Radikalismus war eine der geistigen Hauptinspirationsquellen bei Gründung der Partei der sog. Brandesianismus, die aus den Schriften von Georg Brandes, namentlich seinen Vorlesungen über die Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts extrahierten Anstöße zur ‚radikalen‘ Modernisierung des bis dahin auch geistig v.a. agrarisch geprägten Landes. Brandes wiederum hatte sich vom urbanen Geist der französischen Kapitale inspirieren lassen, wo er u.a. studiert hatte und überdies auf englische radicals wie John Stuart Mill getroffen war. Seine Vorlesungen geißelten das provinziell-rückständige, nationalromantische und klerikale Dänemark. Hauptzielscheibe in intellektueller Hinsicht war das Erbe des (deutschen) Idealismus vor allem der Hegel-Epigonen, in deren Geist er selber noch geschult worden war. Die Tageszeitung Politiken entstand als Sprachrohr des Radikalismus (was sie noch heute ist). Ihr Mitbegründer und Chefredakteur (seit 1901) war Edvard Brandes, Georg Brandes’ Bruder.10 Genau zu der Zeit als Georg Brandes auf Nietzsche stößt und über ihn vorzulesen und zu schreiben beginnt, steht gerade ein weiterer deutscher Autor im Zentrum seines Interesses: Heinrich Heine. Er ist vielleicht der einzige deutsche Autor, der in das radikale Paradigma hineinpasst und schon aus diesem Grund intellektuell eher nach Frankreich als nach Deutschland gehörte. Seine alte Heimat griff er aus dem Geist des Radikalismus an. Brandes will mit dem schon lange ausstehenden Band über das Junge Deutschland endlich sein großes literarhistorisches Werk abschließen und hält 1887 in diesem Zusammenhang zunächst Vorlesungen über Heine, die dann 1890 in die Hauptströmungen integriert werden. Sie weisen erstaunliche Parallelen zu den in Jahresfrist folgenden Vorlesungen über Nietzsche auf und fallen zeitlich zusammen mit dem ersten Briefwechsel mit Nietzsche; chronologisch kommen sie freilich eindeutig zuerst. Heine wird hier als „Vertreter des Radikalismus (sic!) par excellence“ gefeiert, der „zugleich ein großer Anhänger der Freiheitsidee und ein ausgeprägter Aristokrat“ gewesen sei. Die Idee des aristokratischen Radikalismus beginnt bei Brandes nicht mit Nietzsche, sondern mit Heine! Einem Mythos der Brandes-Forschung zufolge sei Brandes v. a. durch den Einfluss Nietzsches von seinen liberalen Anfängen abgekehrt und habe 9 Die Partei Radikale Venstre gehört heute ins sozialliberale Spektrum. Sie war als Zünglein an der Waage an zahlreichen Regierungen beteiligt (sowohl rechtsliberal-konservativ wie sozialdemokratisch geführten) und stellte einige Male sogar selbst den Premierminister. Aus Gründen, die aus meinem Aufsatz hervorgehen werden, hat sie mit ihren ideologischen Anfängen nicht mehr allzu viel zu tun. 10 Zu Brandes s. z.B. Benne 2009 sowie Møller Kristensen 1980.
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sich dem Kult der großen Männer verschrieben. Brandes war jedoch niemand, der sein Weltbild von einem unbekannten Autor erschüttern ließ. Wenn überhaupt, so hat Nietzsche ihn lediglich auf dem eingeschlagenen Weg bestärkt. Der aristokratische Radikalismus ist nur die konsequente Formulierung eines Programms, das lange vor seine Bekanntschaft mit Nietzsche zu datieren ist. Seine erneute Heine-Lektüre ist kein Resultat der Wirkung Nietzsches, sondern belegt vielmehr, dass Brandes für dessen Denken nur besonders empfänglich geworden war.11 Die eigentümliche Verbindung von radikalem Liberalismus und Aristokratismus wird schon im Heine-Essay folgendermaßen ausgeführt: [Heine] besaß die die Freiheitsliebe einer nach Freiheit dürstenden Natur, schmachtete nach Freiheit, vermisste und liebte sie mit ganzer Seele, aber er besaß zu ein und derselben Zeit die Liebe zur menschlichen Größe, die der großen Natur eigen ist – und die rein nervöse Abscheu der feinen Natur vor der Herrschaft des Mittelmaßes. Mit anderen Worten: In Heinrich Heines Seele befand sich kein einziger konservativer Blutstropfen. Sein Blut war revolutionär. Jedoch war in seiner Seele auch kein einziger demokratischer Blutstropfen. Seit Blut war aristokratisch, er wollte das Genie als Führer und Herrscher anerkannt sehen. […] Wenn er Napoleon vergöttert, dann weil dieser der Demütiger der Könige und der alten Weltordnung war; und wenn er das Freiheitsfeindliche bei ihm übersieht, dann weil Napoleon für ihn, und zwar als Repräsentant des Volkes, frei von jeglichem Anhauch demokratischer Mittelmäßigkeit ist. […] Der scheinbare Widerspruch in seinen politischen Sympathien und Tendenzen lässt sich daraus erklären, dass er Größe und Schönheit so leidenschaftlich liebte wie die Freiheit und nicht bereit war, die höchste Entwicklung des Menschengeschlechts auf dem Altar einer falschen Gleichheit und echten Mittelmäßigkeit zu opfern.12
Heines aristokratische Tendenz ist also keine nostalgische Rückwendung zu Wertmaßstäben, die mit der alten Welt versunken waren und der Restauration in die Hände spielen, sondern der nächste logische Schritt seiner Freiheitsliebe – als ihre Steigerung. Auch Goethe, den Brandes lebenslang verehrte, gehörte wie Heine zu den Bewunderern Napoleons. Liberalismus und Radikalismus kommen in den späten 80er Jahren in eine (gesamteuropäische) Krise. Populistische Strömungen lassen sogar, wie das Zitat über Heine zeigt, den Begriff der Demokratie in Misskredit geraten. Die Befreiung des Individuums ist in dem Moment in Gefahr, da sie es sich als Dogma bequem macht. Die 11 Problematisch ist hier selbst noch die Darstellung in der vielbändigen Brandes-Biographie von Jørgen Knudsen. In dem für unsere Periode relevanten Band werden Brandes’ Beschäftigung mit Nietzsche und Heine in umgekehrter Chronologie dargestellt. Die genaue Rolle der Nietzsche-Lektüre für die Arbeit zu Heine bleibt unklar, obwohl ein direkter Einfluss suggeriert wird. Dieser ist allerdings zweifelhaft. Nietzsche bot allenfalls Formulierungshilfen und bestärkte Brandes in der Zuspitzung seiner schon vorher vorhandenen Auffassungen. (siehe Knudsen 1994). 12 Brandes 1967, Abschnitt XI, S. 96–116 (meine Übersetzung).
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Diktatur der Mittelmäßigkeit wird zur neuen, perfiden Form der Unterdrückung. Die Revolution muss sich gegen sie ebenso erheben wie gegen das feudale Joch. Genie und Schönheit sollen das Individuum immer wieder neu anspornen, über sich hinaus zu streben. Das ist Brandes’ Kerngedanke. Aristokratisch will hier im Wortsinne sagen: das Ideal von der Herrschaft der Besten. Aristokratischer Radikalismus ist somit ‚radikaler‘ Radikalismus: viele Denker seit der Jahrhundertmitte sahen den Liberalismus in Gefahr, Opfer des eigenen Erfolgs zu werden. John Stuart Mill, den Brandes auch für seine Nietzsche-Arbeiten heranzog und zitierte, war durchaus nicht der Vertreter eines beschränkten Utilitarismus, als der er in der populären Vorstellung gilt. In seinem bahnbrechenden Werk On Liberty von 1859 hatte er die Tyrannei der Mehrheit über die Freiheiten des Individuums in entwickelten Gesellschaften scharf kritisiert und Schutz gefordert „against the tyranny of the prevailing opinion and feeling; against the tendency of society to impose, by other means than civil penalties, its own ideas and practices as rules of conduct on those who dissent from them“ (Mill 1991, S. 9). Den homogenisierenden Tendenzen setzte er ein, explizit an Wilhelm von Humboldt angelehntes, ‚radikales‘ Individualitätsdenken entgegen, um Entwicklungen einzudämmen, die der liberalen Bewegung durch Schwächung ihrer Substanz am Ende schaden.13 Der aristokratische Radikalismus, so ist Brandes im Anschluss daran zu verstehen, hat auch und gerade unter demokratischen Verhältnissen keine Angst vor Elitenbildung, sondern fordert sie ein, um die Idee des souveränen Individuums, auf der die Erfolge selbst der demokratischen Bewegung und der von ihr erkämpften Freiheitsrechte beruhen, insgesamt zu bewahren. Aus radikaler Sicht war die Demokratie nicht Ziel, sondern Mittel zum Zweck; sie konnte neue Probleme aufwerfen, die von diesem Zweck, der Steigerung individueller Freiheit, wieder ablenkten. Das gleicht gesellschaftspolitischen Vorstellungen am Ursprung des Republikanismus in den Vereinten Staaten von Amerika (die ja nicht als Basisdemokratie entstanden sind14); andererseits liegt auch jener Cäsarismus nicht mehr allzu fern, aus dem im zwanzigsten Jahrhundert der Geniekult um den Führer wird.15 Gleich in der ersten Vorlesung über Nietzsche an der Kopenhagener Universität, die Ausgangspunkt auch für Brandes’ Abhandlung über den aristokratischen Radikalismus bildet, heißt es: 13 Vgl. die jüngste Ehrenrettung in Ackermann 2010. 14 Dem aristokratischen Radikalismus scheint der Begriff der „natural aristocracy“ verwandt zu sein, wie er bei den Founding Fathers diskutiert wurde. Vgl. etwa den Brief von Thomas Jefferson an John Adams vom 28. Oktober 1813 (Jefferson 1984, S. 1304ff). Hinweis von James Conant. 15 Vgl. auch Groh 1972: hier wird Heine als Paradebeispiel des deutschen Bonapartismus angeführt.
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Die Zeit der nationalen Kulturen ist bald abgelaufen. Bald wird man nicht länger von europäischer oder europäisch-amerikanischer Kultur sprechen können. Die fortschrittlichen Menschen aller Länder empfinden sich bereits jetzt als Europäer, als Landsleute, ja als Verbündete. Schon das nächste Jahrhundert muss den Krieg um die Erdherrschaft bringen. Als Ergebnis dieses Kriegs wird ein gewaltiger Orkan alle nationalen Eitelkeiten hinwegfegen. […] Kommt diese Zeit, gilt es für die hervorragenden Geister, eine Kaste hervorragender Geistesaristokraten zu züchten und zu erziehen, die die Macht in Zentraleuropa und damit überall ergreifen können. […] Der große Mann ist nicht das Kind seiner Zeit, sondern ihr Stifter. Was wir von dem Erzieher, den wir suchen, lernen müssen, ist uns selbst gegen die Zeit und den Zeitgeist zu erziehen. […] Wann herrscht Kulturzustand? Wenn die Menschheit in einer Gesellschaft immer weiter daran arbeitet, einzelne große Menschen zu erzeugen. Es gibt keinen höheren Zweck. […] In der Steigerung der Kultur wird die Persönlichkeit indirekt auch am meisten für das Wohl der Vielen getan haben, am meisten nämlich dafür, dass ihr Leben wertvoller wird.16
Die vierte Vorlesung fügt martialisch hinzu: „Cäsars Zeit wird kommen. Man wird verstehen, was die Ausstattung der stärksten, reichsten, edelsten Natur mit der höchsten Machtfülle bedeutet.“17 Der Ton ist schärfer geworden, aber grundsätzlich geht es um dasselbe ‚radikale‘ Programm: die Überwindung europäischer Nationalismen, die Betonung der Bedeutung des Einzelnen, der immer wieder gegen den Determinismus von Herkunft und Zeitgeist aufbegehrt im Dienste einer Idee des Fortschritts, der sich nicht in der Beglückung der größtmöglichen Menge auf dem kleinstmöglichen Nenner erschöpft. Herkunft und Zeitgeist – aus der Sicht des säkularen Juden zählte gewiss auch das dritte Element der positivistischen Triade von race, milieu, moment, die Brandes bei Taine kennengelernt hatte, dazu. Der Radikalismus fand besonders unter liberalen Juden Anhänger, die die Loslösung von einer auf Christentum sowie Blut und Boden beruhenden Tradition als Voraussetzung ihres eigenen freibestimmten Lebens begreifen mussten. Nachdem Brandes seinen Nietzsche-Essay 1889 auf Dänisch in der Zeitschrift Tilskueren veröffentlicht, entspinnt sich darüber ein Intellektuellenstreit über mehrere Repliken und Dupliken (bis ins darauf folgende Jahr) mit dem 16 Ich zitiere nach einer Transkription, die Per Dahl (Universität Århus) nach den originalen Vorlesungsmanuskripten angefertigt hat und bedanke mich an dieser Stelle ausdrücklich für seine Kollegialität. Die Übersetzungen stammen von mir. Die Vorlesungsmanuskripte sind ausführlicher und geben einen besseren Eindruck der ersten Vorstellung Nietzsches in Skandinavien als Brandes’ später veröffentlichter Aufsatz. Sie enthalten zahllose Paraphrasen von Nietzsches Schriften und sind nicht durchredigiert. Eine von Per Dahl verantwortete Edition beim Basler Schwabe-Verlag ist in Vorbereitung. In seiner Einleitung, deren Entwurf mir ebenfalls zur Verfügung stand, weist Per Dahl bereits auf die Bedeutung Heines im Kontext der Vorlesungen hin, freilich ohne dies auf den Begriff oder das Thema des aristokratischen Radikalismus zu beziehen. 17 Nach der Transkription von Per Dahl (Universität Århus).
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einflussreichen Philosophen Harald Høffding, Professor an der Kopenhagener Universität und eine gewichtige Autorität von europäischem Ruf.18 In diesem Streit, der einen eigenen Aufsatz verdient hätte, wird die Bedeutung Nietzsches bald zur Nebensache, denn der Streit entzündet sich überhaupt erst am Begriff des aristokratischen Radikalismus. Høffding empört sich v.a. über seinen elitär-antidemokratischen Beigeschmack, der die Steigerung des Allgemeinwohls als letztes Ziel aus den Augen verliert: „Wir sehen uns gezwungen, den aristokratischen Radikalismus aufzugeben und zum demokratischen Radikalismus überzugehen, der als letztes Ziel die Entwicklung der Wohlfahrt […] für alle anstrebt.“19 Mit diesem ‚demokratischen‘ Radikalismus verkennt Høffding freilich aus Brandes’ Sicht gerade das Wesen des Radikalismus. Bald geht es nicht länger, wie zu erwarten gewesen wäre, um die Definition des Aristokratismus, sondern des Radikalismus: Ich glaube deshalb auch nicht, dass Professor Høffding sich selber richtig sieht, wenn er sich […] selbst als einen demokratischen Radikalen bezeichnet. Ich kann weder in seinem Gedankengang noch anderswo irgendetwas Radikales erkennen. Genauso wenig glaube ich, dass Professor Høffding sich selber richtig sieht, wenn […] er andeutet, dass er zu den revolutionären Geistern gehöre. […] Bewusst oder unbewusst macht er sich immer zum Sprecher für Ideale, die entweder bereits allgemein anerkannt sind oder aber es leicht werden könnten, da sie nah verwandt sind mit den religiösen und moralischen Idealen, die die Kirche die Bevölkerung zu verehren gelehrt und an die zu glauben die Politik die Bevölkerung gewöhnt hat.20
Der Radikalismus bürgt für eine Haltung, die das Anerkannte, von den Stützen der Gesellschaft als geltende Werte definierte, aus Prinzip infrage stellt, als permanente geistige Revolution. Nicht Høffdings Plädoyer für die Demokratie ist das Problem, sondern seine Überzeugung, damit bereits die Antwort auf alle Fragen gefunden zu haben. Das Juste Milieu darf nicht das Ende der Geschichte sein, als das es sich selber begreift. Wer A sagt, muss auch B sagen, das ist das ganze Geheimnis von Brandes’ Syllogismus: Wer nämlich gegen geistigen und kulturellen Stillstand ist, muss auch für jene besonderen Menschen sein, die Wege zu seiner Überwindung aufzeigen wollen. Noch Jahre später legt Høffding ein letztes Mal nach. In seiner Darstellung der einflussreichsten zeitgenössischen Philosophen aus dem Jahr 1904, die Nietzsche immerhin ein ganzes Kapitel widmet, heißt es in Reminiszenz an die Auseinan-
18 Nietzsche hat selber ausführlich sein in deutscher Übersetzung unter dem Titel Psychologie in Umrissen auf Grundlage der Erfahrung erschienenes Werk studiert, wie zahlreiche Anmerkungen im Exemplar der nachgelassenen Bibliothek beweisen (siehe Høffding 1887). 19 Høffding 1889, S. 856 (meine Übersetzung). 20 Brandes 1890b, S. 3 (meine Übersetzung).
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dersetzung von 15 Jahren zuvor: „aristokratischer Radikalismus ist eine unrichtige Bezeichnung“21; konsequent spricht er stattdessen wiederholt von Nietzsches „radikalem Aristokratismus“, denn man könne nicht zugleich Anhänger Nietzsches und radikal in sozialer und politischer Hinsicht sein. Nietzsches Weltanschauung sei in ihrer Verachtung der „Herde“ in Wahrheit konservativ gewesen.22 Einmal mehr zeigt sich, dass es der sozial inspirierte Gedanke der „Wohlfahrt“ ist, die den Radikalismus Brandes’ von Høffdings unterscheidet. Denkt man ihn mit, setzt man also Demokratie und Wohlfahrt als Endzweck, kommt man zwangsläufig zu Høffdings Schlussfolgerung; stellt man ihn hintan und versteht Demokratie und Wohlfahrt als Instrumente, die Freiheit und Bedeutung des Individuums zu steigern, bleibt man Brandes’ älterer Auffassung des Radikalismus treu. An der unterschiedlichen Interpretation dieses Begriffes offenbart sich die Unaufhaltsamkeit der Zeitenwende. Wenn Høffding recht behielte, dann wäre das „gescheuteste Wort“, das Nietzsche Brandes zugesteht, nicht mehr als eine Verbindlichkeit gegenüber dem neuen Briefpartner. Indes lassen sich Indizien zusammentragen, die für das genaue Gegenteil sprechen. Schon der junge Nietzsche verehrte den Wagner, dessen Anspruch auf Umwälzung der zeitgenössischen Kultur letztlich noch aus dem Vormärz stammte, und er brach mit ihm, als der einstige Barrikadenkämpfer sich augenscheinlich dem Establishment andiente, Waffenbrüderschaft mit konservativen Antisemiten zu pflegen begann und „hülflos und zerbrochen, vor dem christlichen Kreuze“ niedersank (MA, KSA 2, S. 372). Ist Nietzsches ‚Umwertung aller Werte‘ nicht die kürzeste Definition des Radikalismus wie Brandes ihn verstand? Nietzsches Pathos der Distanz lässt sich aus 21 Høffding 1904, S. 133 (meine Übersetzung). Später näherten sich Høffding und Brandes wieder an, nicht zuletzt weil Høffding Brandes gegen seine vielen Feinde in Schutz nahm. 22 Høffding 1904, S. 134. Noch 1890 hatte er in seinem ersten Beitrag zur Debatte Nietzsche den Philosophenstatus abgesprochen. Zwar behauptet er nun (119), den Streit mit Brandes nicht noch einmal neu entfachen zu mögen, tut aber genau dies. Er bedauert, dass Nietzsche gerade von Brandes eingeführt worden sei – dadurch hätte zuviel Gewicht auf der Genealogie der Moral und der Gegnerschaft zur allgemeinen Wohlfahrt gelegen, was gar nicht Nietzsches Hauptanliegen entspreche. Nachdem von diesem nun vollständigere Ausgaben und der Nachlass vorliege, zeige sich, dass ungefähr im Einzigen, worin er (Høffding) und Brandes sich einig gewesen seien, beide geirrt hätten: „Wir waren uns darin einig, dass Nietzsche ein Gegner der Wohlfahrtsmoral gewesen sei, aber es zeigt sich nun, dass Nietzsche in Wirklichkeit ein Wohlfahrtsmoralist großen Stils war“ (S. 119) – nämlich unter der Optik nicht der Kritik der Sklavenmoral, sondern der Herrenmoral, die ja doch kein Ziel in sich selbst sei. In Wahrheit sei er also doch eine Art Utilitarist gewesen, der mithilfe der Herrenmoral die Menschheit voranbringen wollte. Freilich gilt ihm Nietzsche nach wie vor nicht als konsequenter Denker, sondern als Dichter. Die erste dänische Übersetzung des Zarathustra hat er selber eingeleitet und die schönen Bilder und tiefen Gedanken gerühmt, die hier stimmungshaft in Szene gesetzt seien (siehe Nietzsche 21914).
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brandesianischer Perspektive als Bejahung einer Verstetigung riskanten Denkens lesen, das auch unter der Bedingung der Massendemokratie das Prinzip der Distinktion nicht aufgeben will, um der Gesellschaft nicht den letzten Lebensnerv und Antrieb zur Weiterentwicklung zu nehmen. Gewiss, der Versuch, einen komplexen Autor wie Nietzsche zum Radikalen im Sinne einer historisch konkreten politischen Bewegung zu machen, wäre zum Scheitern verurteilt. Brandes und Nietzsche sind noch immer sehr verschiedene Autoren; ihr ‚Radikalismus‘ weist neben Parallelen auch Differenzen auf, etwa zur Frage der Stellung der Frau.23 Aus einer rezeptionshistorischen Perspektive kann es nur darum gehen, die Plausibilität einer ‚radikalen‘ Interpretation nachzuvollziehen, die immer eine, wenn auch höchst bemerkenswerte Verkürzung darstellt. Nietzsches Wahlheimat Schweiz war zu seiner Zeit eine Hochburg der radikalen (freisinnigen) Bewegung. Ob Nietzsche selbst sich der vollen Bedeutung des Begriffs des Radikalismus bewusst war, kann allerdings nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Sicher ist zumindest, dass er genau wusste, mit wem er es zu tun hatte. Brandes war seit seinen Berliner Jahren nicht mehr irgendwer; Bücher schickte man ihm mit strategischen Absichten.24 Nietzsche lässt es auch nicht bei seinem Lob der Formulierung vom aristokratischen Radikalismus bewenden, sondern setzt unmittelbar im Anschluss fort: „Wie weit mich diese Denkweise schon in Gedanken geführt hat, wie weit sie mich noch führen wird – ich fürchte mich beinahe mir dies vorzustellen. Aber es giebt Wege, die es nicht erlauben, dass man sie rückwärts geht; und so gehe ich vorwärts, weil ich vorwärts muss.“ (Krüger 1966, S. 441) Dieser Teil des Zitats fehlt mit schöner Regelmäßigkeit, wenn vom aristokratischen Radikalismus die Rede ist, und doch ist er unerlässlich, um die Geschichte des Missverständnisses zu rekonstruieren. Man muss annehmen, dass es sich bei den blumig beschriebenen „Wegen“, die nur vorwärts beschritten werden können, einerseits um eine Reverenz gegenüber dem fortschrittsbegeisterten ‚guten Europäer‘ handelt, die andererseits aber nicht mit dem Fortschrittsdogma der von Nietzsche viel kritisierten ‚modernen Ideen‘ identisch ist, weil sie diese „in Gedanken“ – also vornehmlich im riskanten Denken und nicht durch die Tat – infrage stellen. Nietzsche „muss“ vorwärts gehen: auch sein eigenes Verständnis der „Denkweise“ des aristokratischen Radikalismus schließt den Rückgriff auf die herkömmliche aristokratische Welt aus. Nietz-
23 Darauf wies Brandes, der in dieser Frage stark von John Stuart Mill beeinflusst war, schon in seinem ersten Brief an Nietzsche hin. 24 Nietzsche kannte und schätzte die Hauptströmungen; in seiner nachgelassenen Bibliothek befindet sich der 1887 auf Deutsch erschienen Band über die romantische Schule in Deutschland.
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sches Übermensch ist ja kein Sehnsuchtsmotiv einer durch die zivilisatorische Entwicklung verderbten Rasse oder Oberschicht, sondern die individuell zu erreichende Überwindungsstufe des Menschen, die keiner biologischen oder geschichtsphilosophischen Teleologie gehorcht. Einer von Nietzsches ‚Übermenschen‘ avant la lettre ist der Heros der Radikalen seit Heine, nämlich Napoleon (GM, KSA 5, S. 288). Brandes’ aristokratischer Radikalismus steht in engem Zusammenhang mit der Herausbildung einer künstlerischen und gesellschaftlichen Avantgarde, die er wesentlich mit vorbereitet hat. In dem Moment, wo liberale Werte und Ansichten in verwässerter Form zu Gemeingut werden, muss sich ein Trupp Berufener an die Spitze stellen, damit der Impuls nicht zum Erliegen kommt und die Kräfte der Beharrung am Ende nicht doch wieder obsiegen. Mit seinem unermüdlichen Wirken für den „modernen Durchbruch“ (Det moderne gennembrud), der naturalistisch-avantgardistischen Literatur- und Kulturrevolution Skandinaviens, deren Bedeutung für die Moderne in Europa gar nicht hoch genug einzuschätzen ist, hatte Brandes genau dieses Paradigma entwickelt. Es begründete seinen Ruhm und seinen Einfluss auf die Literatur der Jahrhundertwende und bis zu seinem Tod. Nietzsche gehörte neben Wagner und Brandes ohne Zweifel zu jenen, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts am meisten zur Avantgardenbildung und zum Selbstbildnis der Intellektuellen als Speerspitze der kulturellen Entwicklung beigetragen haben. Eine Schlüsselszene ist die berühmte Einsicht aus der Vorrede des Zarathustra: „Ein Licht gieng mir auf: nicht zum Volke rede Zarathustra, sondern zu Gefährten! Nicht soll Zarathustra einer Heerde Hirt und Hund werden!“ (Z I, KSA 4, S. 25). Diese Gefährten als Keimzelle einer neuen Elite der Zukunft ersetzen die exoterische Kommunikation Zarathustras mit der Menge auf dem Marktplatz durch die esoterische. Jeder Leser Nietzsches, der seine Winke nur für sich bestimmt glaubte, konnte sich nun, das machte einen guten Teil seiner ungeheuren Wirkung aus, zu ihr zugehörig fühlen. Damit war nicht länger die Herkunft der Mitglieder der verschworenen Gemeinschaft (das „rückwärts“ aus Nietzsches erstem Brief an Brandes), sondern das Ziel (das „vorwärts“) entscheidend: Oh meine Brüder, ich weihe und weise euch zu einem neuen Adel: ihr sollt mir Zeuger und Züchter werden und Säemänner der Zukunft, – – wahrlich, nicht zu einem Adel, den ihr kaufen könntet gleich den Krämern und mit Krämer-Golde: denn wenig Werth hat Alles, was seinen Preis hat. Nicht, woher ihr kommt, mache euch fürderhin eure Ehre, sondern wohin ihr geht! Euer Wille und euer Fuss, der über euch selber hinaus will, – das mache eure neue Ehre! Wahrlich nicht, dass ihr einem Fürsten gedient habt – was liegt noch an Fürsten! – oder dem, was steht, zum Bollwerk wurdet, dass es fester stünde!
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[…] Oh meine Brüder, nicht zurück soll euer Adel schauen, sondern hinaus! Vertriebene sollt ihr sein aus allen Vater- und Urväterländern! (Z III, KSA 4, S. 254–255)
Es ist unschwer zu erkennen, wie sich aus Stellen wie dieser ein ‚radikales‘ Programm ableiten ließ, das eine Avantgarde propagierte, die weder von familiärer, ethnischer oder nationaler Herkunft, noch durch Besitztümer definiert war, sondern einzig und allein durch die Absichtserklärung. Diese „Vertriebenen“ boten eine Projektionsfläche für das sozial und intellektuell verunsicherte Kleinbürgertum, das zunehmend die europäischen Städte bevölkerte, aber auch für die Sprösslinge des unorthodoxen Judentums, die die Emanzipation nun nicht länger als Assimilation in eine fest gefügte Ordnung verstehen mussten, sondern als Aufbruch in eine Zeit, in der ihre Herkunft keine Rolle mehr spielen würde. Echos davon finden sich in zahlreichen Bewegungen bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein. Nietzsche wurde zum Hausgott all jener, die ihre sozialen Ambitionen mit dem Schlagwort der Geistesaristokratie legitimierten.25 Der (jüdisch geprägte) George-Kreis ist das wohl bekannteste Beispiel; Stefan George selber, der sich zum Nomaden im Sinne des ZarathustraZitats stilisierte, aber der Sohn eines Gastwirtes und Bonhomme war, dichtete mit deutlichen Anklängen an Nietzsche: „Neuen adel, den ihr suchet/Führt nicht her von schwert und krone“ (George 1965, S. 85). Ein letztes Schlaglicht auf ‚radikale‘ Denkfiguren bei Nietzsche wirft ein Brief an seine jüdische Engadiner Bekanntschaft Helen Zimmern, die DeutschEngländerin, die er als Übersetzerin gewinnen wollte: Ich habe jetzt absolut nöthig, in England bekannt zu werden, denn meine nächsten Schriften – sie sind vollkommen druckfertig – sollen zugleich englisch, französisch und deutsch erscheinen. […] Also habe ich für meine Aufgabe, die zu den allergrößten gehört, welche ein Mensch auf sich nehmen kann – ich will das Christenthum vernichten – Amerika, England und Frankreich nöthig – Preßfreiheit in jedem Sinn … […] Jetzt eben erscheint von mir etwas extrem Radikales (sic!) Götzen-Dämmerung. Oder: wie man mit dem Hammer philosophirt. Ich sende es Ihnen zu – unter Umständen führen Sie dies Stück in England ein. Es ist antideutsch und antichristlich par excellence – sollte es damit nicht stark auf Engländer wirken? Meine Argumente sind ganz andrer Art, als je angewendet worden sind, − ich bin gar kein Mensch, ich bin Dynamit. (KSB 8, Brief an Helen Zimmern um den 17. 12 1888, S. 536–537)
25 Nietzsche selbst hat die problematische Seite des Geistesaristokratie-Begriffs genau registriert: „Es giebt nur Geburtsadel, nur Geblütsadel. (Ich rede hier nicht vom Wörtchen ‚von‘ und dem Gothaischen Kalender: Einschaltung für Esel.) Wo von ‚Aristokraten des Geistes‘ geredet wird, da fehlt es zumeist nicht an Gründen, etwas zu verheimlichen; es ist bekanntermaaßen ein Leib-Wort unter ehrgeizigen Juden. Geist allein nämlich adelt nicht; vielmehr bedarf es erst etwas, das den Geist adelt. – Wessen bedarf es denn dazu? Des Geblüts“ (NL, KSA 11, S. 678). Wie diese Stelle aus dem Nachlass von 1885 zu deuten ist, steht freilich auf einem anderen Blatt und erfordert eine eigene Abhandlung.
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Es ist zumindest bedenkenswert, dass Nietzsche den Begriff des Radikalismus (Nietzsche schreibt Adjektive nur in Ausnahmefällen groß) im Zusammenhang mit drei Eckpunkten radikaler Programmatik nennt: Antinationalismus, Antichristentum, Pressefreiheit. In diesem Zusammenhang wäre auch seine Metapher des Dynamits neu zu überdenken, die oft als verunglückter Ausdruck beginnender Megalomanie und Unzurechnungsfähigkeit zitiert wird. Für Zeitgenossen des späten neunzehnten Jahrhunderts ist das Dynamit indes v.a. eines: das Symbol neuester Technik und des Fortschritts schlechthin, der kompromisslosen Veränderung des Gesichts der Welt, deren Grundfesten buchstäblich hinweg gesprengt werden. Dynamit ist die Steigerung zum Philosophieren mit dem Hammer, die absolute Vernichtung als Voraussetzung, dass auf den Trümmern neu gebaut werden kann. Die ‚radikale‘, direkt oder indirekt von Brandes beeinflusste Interpretation Nietzsches, hat in der Rezeptionsgeschichte, und zwar beileibe nicht nur in der jüdischen, eine wichtige Rolle gespielt; allerdings schwand sie nach 1945 aus dem Bewusstsein. Um hier einmal einen großen Bogen zu schlagen, soll einer der jüngsten Vertreter dieser Tradition exemplarisch herangezogen werden. Der seit einigen Jahren wiederentdeckte Wanderer zwischen den Welten und Nietzsche-Missionar Oscar Levy ist der letzte und vielleicht konsequenteste Vertreter eines brandesianischen aristokratischen Radikalismus gewesen. Sein Credo, es gelte die Welt „vom Wahnsinn des Pöbels, der Nation und der Religion“ zu befreien26, beschreibt dessen zentrale Ausrichtung. Es ist hier nicht der Ort, Leben und Wirken des 1867 in Stargard (Pommern) geborenen und 1946 in Oxford verstorbenen Bankiersohns nachzuzeichnen.27 Sein wechselreiches Leben als Literat und Arzt, mit seinen zahlreichen Lebensstationen in mehreren Ländern, gibt genug Stoff für viele weitere Aufsätze und Differenzierungen der hier angebotenen Thesen ab. Levy kam um die Jahrhundertwende mit Nietzsches Schriften in Berührung und fand in ihm, wie zuvor Brandes, die Bestätigung seiner eigenen ‚radikalen‘ Ansichten. Freilich war ihm der Begriff des Radikalismus selber nicht mehr so selbstverständlich wie noch Brandes – aus verständlichen Gründen angesichts seiner deutschen Herkunft und der mittlerweile überragenden Bedeutung der sozialen Frage im politischen Diskurs (die für ihn selber freilich nie eine Rolle spielte). Als hätte er sich Nietzsches Wunsch, in England bekannt zu werden, auf die Fahnen geschrieben, entfaltete er von diesem Zeitpunkt an eine beispiellose, längst
26 Levy 2006, S. 129. Die Übersetzung aus dem englischen Original stammt noch von Levy selbst. 27 Vgl. aber Kais 2010. Ich danke Julia Rosenthal und Peter André Bloch für zahlreiche Informationen und Gespräche über Oscar Levy.
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nicht genügend aufgearbeitete und gewürdigte publizistische Tätigkeit in der gesamten englischsprachigen Weltpresse (aber auch deutschen Zeitschriften) und krönte seine Tätigkeit schon früh mit der ersten, von ihm veranlassten und betreuten englischen Gesamtübersetzung von Nietzsches damals zugängigen Werken. Levys eigene, aus Nietzsche, aber auch aus Gobineau und weiteren Autoren, die man heute nicht mehr in einem Atemzug mit Nietzsche nennen mag, zusammengetragene Weltanschauung, geht von einem Sündenfall aus: der Erfindung des Idealismus in den zwei Varianten einer Verabsolutierung des Auserwähltheitsgedankens, wie er zuerst im Judentum auftrete, sowie der Verabsolutierung des Gleichheitsgedankens, der sich zuerst in der jüdischen Sekte namens Christentum äußere. Beide ruhen auf dem asketischen Ideal. Alle großen Ideologien der Menschheitsgeschichte lassen sich darauf zurückführen, auch die Nemesis, die in ihrem immer schon absehbaren Scheitern liegt. Der Nationalsozialismus mit seiner Rassentheorie sei in Wahrheit eine jüdische Häresie, der Bolschewismus eine christliche. Vor dem Aufkommen Hitlers sah Levy neben den Religionen vor allem den Marxismus und die von ihm abgeleiteten politischen Bewegungen als Hauptgefahr an.28 Wie so viele jüdische Intellektuelle flirtete er zeitweise mit dem frühen italienischen Faschismus29, den er als einzige Gegenkraft zur bolschewistischen Bedrohung ansah. In der Figur des Duce, frisch bekehrt vom Sozialismus seiner Jugend, schien der von Brandes angekündigte moderne Cäsar endlich Fleisch geworden, ein neuer Napoleon, der das müde Europa, das sich noch immer nicht vollständig des idealistischen Ballasts entledigt hatte, endlich wieder voranbringen würde. Für ein enges Verhältnis Levys zu Brandes oder gar für eine Prägung gibt es keinen Beleg, aber seine Briefwechsel (darunter Briefe von und an Brandes) sind bisher nicht vollständig erfasst.30 Im Nachruf auf Brandes aus dem Jahr 1927, einer von so vielen, die Brandes in der gesamten Weltpresse zuteil wur28 Trotz der Feindschaft zum Marxismus tauchen auch marxistische Denkfiguren auf: „Christus und sein Christentum können mit den eigenen Waffen geschlagen werden – mit Waffen, die sie selbst geschmiedet, die ihnen den Erfolg verschafften und den Sieg über das, was besser, tiefer, edler und höher denkend war als sie selber.“ (Levy 2006, S. 128) – Das erinnert doch sehr an das Kommunistische Manifest. 29 Das frühe faschistische Italien war eines der liberalsten Länder gegenüber Juden und unterstützte sogar auf nicht unbeträchtliche Weise die zionistische Bewegung in Palästina. Vgl. Michaelis 1978 und de Felice 2001. 30 In der Sammlung Rosenthal-Levy (Oxford u. Sils Maria), die aus dem Nachlass Levys und seiner Tochter Maud hervorging, die mit dem Antiquar Albi Rosenthal verheiratet war, befinden sich auch Briefe von Brandes, die nicht an Levy gerichtet waren. Besonders hingewiesen sei auf die Nietzscheana als Herzstück der Sammlung in Julia Rosenthal, Bloch, Hoffmann (Hgg. 2009).
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den, schreibt Levy immerhin: „ich wußte, daß er im Grunde immer etwas von dem gewesen war, als den er einst Nietzsche charakterisiert hatte, nämlich: ‚ein radikaler Aristokrat‘ […] Und zweitens hatten seine spätern Werke über Michelangelo, Julius Cäsar, Voltaire und Goethe mich belehrt, daß er von seiner ursprünglichen ‚liberalen‘ Art sich immer mehr entfernt hatte und dem Standpunkt Nietzsches in der Beurteilung der Menschen und Dinge nähergekommen war“ (Levy 2005a, S. 147). Dieser Standpunkt ist der aristokratische, der kein Konservatismus ist. Levy wirkt um die Jahrhundertmitte deshalb so aus der Zeit gefallen, weil es sich bei ihm im Grunde um eine Art unbewussten Wiedergänger des Brandes von 1890 handelt, der an den ‚radikalen‘ politischen Positionen des neunzehnten Jahrhunderts auch da festhält, wo die Debatte sich auf andere Bereiche bezieht. Bisweilen klingt Levy wie ein verspäteter Kommentator zum Streit zwischen Brandes und Høffding: Nietzsche weiß, dass die Aristokratie tot ist, oder so gut wie tot ist: er weiß aber von der Geschichte her, dass ein jeder Fortschritt aus aristokratischem Wesen stammt; und was er beabsichtigt ist darum die Schaffung einer neuen Aristokratie, einer neuen Fortschrittsmöglichkeit für die Menschheit. […] sein Appell wie seine Lehre gilt nur für Einzelne. Und diese Einzelnen können sich unter allen Völkern befinden. Und wie er mit dem deutschen Volke nichts zu tun hat, so hat er auch mit den anderen Völkern Europas nichts zu schaffen. […] Er hat erkannt, dass alles grosse politische Elend im Grunde genommen nur religiöses und moralisches Elend ist, und dass alles moralische Elend schließlich aus falschen oder veralteten Ideen entspringt. (Levy 2005b, S. 129)
Levy verkennt die Semantik des Wortes ‚Radikalismus‘, meint ihn aber dem Begriff nach. Dennoch darf man sich kaum wundern, dass das Missverständnis so schnell um sich griff, weil die sprachliche Form am Ende doch entscheidenden Einfluss auf das Verständnis gewinnt. Der Ausdruck ‚radikaler Aristokratismus‘ bezeichnet eine Steigerungsform des Substantivs, im Sinne von ‚konsequenter/extremer Aristokratismus‘. Damit geht aber die entscheidende Nuance des Ausdrucks ‚aristokratischer Radikalismus‘ verloren, die diesen kategorial von der ersten Interpretation unterscheidet. Hier wird das inhaltlich ganz anders bestimmte Substantiv zusätzlich näher bestimmt, nicht einfach gesteigert. Die Nuance liegt deshalb auch in der grundlegenden Paradoxie des ‚aristokratischen Radikalismus‘, die in dieser Hinsicht verwandt ist mit der ebenso paradoxen Zusammenstellung des Begriffs der ‚konservativen Revolution‘ – die in mancherlei Hinsicht ohnehin als spiegelbildliches Äquivalent zum aristokratischen Radikalismus angesehen werden mag.31 Levy hat die Paradoxie einerseits praktiziert, indem er u. a., ganz im Sinne von Brandes, zeigen wollte, wie aristokratische Elemente den Liberalismus um 31 Darauf hat mich Adam Paulsen hingewiesen.
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der Freiheitsliebe willen herausfordern müssen. So verbindet ihn mit Brandes’ Radikalismus schließlich auch die Konstruktion einer Traditionskette von Heine bis Nietzsche – bis in die eigene Gegenwart hinein. Die radikalen Ansichten sind es, die beide in ihrer Gegnerschaft zum Nationalstaat und zur monotheistischen Religion vereint. Wie Nietzsche selbst verwahrt sich Levy gegen die Verwechslung mit den völkischen Rassenhetzern und Judenfeinden32: „Weder Heine noch Nietzsche fühlen sich als ‚völkisch‘: der eine war entdeutscht, der andere entjudet, […]Als Krankheit aber, als ‚aus dem Niltal mitgebrachte Plage‘, die nachher in christlich-verstärkter Form die ganze Welt durchseuchte, haben beide das Judentum und Christentum aufgefasst und in Frage gestellt“ (Levy 2005c, S. 238). Andererseits hat Levy zur Rezeptionsgeschichte des Missverständnisses beigetragen, da er zunehmend den Aristokratismus in den Vordergrund schob, weil ihm der Begriff des Radikalismus historisch geworden war. Dergestalt entdecken wir in Oscar Levys Schriften die für Nietzsches Nachleben so typischen Verwicklungen, die die geraden Wege, um die sich Levy selbst bemühte, gar nicht mehr zulassen. Der Nietzsche Levys (und Brandes’!) ist oft bis zur Schmerzgrenze ausgeleuchtet. Das ergibt bisweilen grobkörnige Bilder. Levys apodiktisches Urteil über das Judentum, das eine bestimmte Spielart jüdischen Denkens in der Moderne repräsentiert, versetzt uns heute in Schrecken.33 Gleichwohl sind Ausleuchter und Vermittler wie Brandes und Levy unersetzlich. Sie bilden die eigentliche Grundlage lebendiger literarischer Kultur. Die Erforschung Nietzsches und die Erforschung seiner Rezeption muss als Einheit begriffen werden, um den Gefahren der Scholastik auf beiden Seiten zu entgehen. In der Genealogie der Moral schreibt Nietzsche: „[…] alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst, entziehen sich der Definition; definirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat“ (GM, KSA 5, S. 316). Auch Nietzsche selbst wird niemals essentialistisch auf den Begriff zu bringen sein. Aber er ist auch nicht nur die Summe aus den zusammengefügten Facetten der Rezeptionsgeschichte. Vielmehr gilt es, die Rezeptionsgeschichte zum Anlass zu nehmen, um bei Nietzsche selbst wieder auf den Grund zu gehen. Als Lehre aus der Rekonstruktion des aristokratischen Radikalismus soll deshalb am Ende ein Plädoyer für den antiquarischen Radikalismus der Nietzscheforschung stehen. Im Nietzsche-Haus in Sils Maria werden große Teile des Nachlasses von Oscar Levy aufbewahrt, darunter eine von der Forschung bisher nicht beach32 Hitler wird er später sogar einen amateurhaften Antisemitismus bescheinigen (Levy 2006, 18). 33 Doch finden sich an Levy erinnernde Ansichten etwa noch in George Steiners Memoiren (Steiner 1997, v.a. das 5. Kapitel).
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tete, umfangreiche Sammlung von Zeitungsausschnitten. Levy hatte ein Unternehmen beauftragt, alle Artikel aus der englischsprachigen Presse zu sammeln, in denen Nietzsche erwähnt wurde.34 Daraus wurden insgesamt acht gut gefüllte Mappen (weitere mögen auftauchen, wenn die Sammlung RosenthalLevy komplett aus Oxford umgezogen ist), die eine unglaubliche Breite der Nietzscherezeption in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts im gesamten Commonwealth belegen.35 Sie zeigen das ganze Ausmaß von Levys eigenem Engagement. Viele Beiträge stammen von ihm, rezensieren ihn oder setzen sich mit seinen Thesen in Sachen Nietzsche auseinander. Offenbar unterhielt er den Ausschnittdienst, um auf Nietzsche-Beiträge in der ganzen Welt mit Leserbriefen reagieren zu können und so die Diskussion um Nietzsche immer wieder in seinem Sinne zu beeinflussen. Anders gesagt: diese Art von Sammlertätigkeit und Antiquarianismus verstand Levy im Sinne der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung – als Dienst am Leben und Nachleben Nietzsches. Der Antiquarianismus ist ein Instrument seines ‚radikalen‘ Projekts. Er soll die Wurzeln des Nietzscheverständnisses freilegen und neue Wurzeln setzen: Rezeption und Werk werden in ein ständiges Streitgespräch verwickelt. Dieser Kampf der Interpretationen ist Teil des Werks selbst. Er ist ein Kampf gegen das Klischee. Er verbürgt das bleibende Interesse am Gegenstand. Der antiquarische Radikalismus sammelt nicht nur aus Leidenschaft für die Aura des Objekts (die sie natürlich befeuert und befeuern muss), sondern um immer wieder unverhoffte Entdeckungen zu machen, neue Verbindungen herzustellen, sich der Tiefe des Werks mit den Augen anderer anzuvertrauen, die eigenen Gewissheiten infrage zu stellen. Der liebe Gott steckt im Detail, hat Aby Warburg, der vielleicht größte Vertreter des antiquarischen Radikalismus, irgendwo gesagt. Der antiquarische Radikalismus könnte ein Modell sein nicht nur für die Nietzsche-Philologie.
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34 Auskunft von Julia Rosenthal. 35 Von Lokalzeitungen aus der tiefsten englischen Provinz bis zu Leserbriefen in kanadischen Blättern oder Transkriptionen von Sendungen des indischen Rundfunks findet sich so
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Brandes, Georg (1890a): „Aristokratischer Radikalismus. Eine Abhandlung über Friedrich Nietzsche“. In: Deutsche Rundschau 63. Nr. 7, S. 52–89. Brandes, Georg (1890b): „Det store Menneske, Kulturens Kilde“. In: Tilskueren, S. 1–25. Brandes, Georg (1967): Hovedstrømninger i det nittende Århundredes Litteratur. VI: Det unge Tyskland. Kopenhagen. Campioni, Guiliano (2000): „Aristokratie“. In: Henning Ottmann (Hrsg.): Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar, S. 192–194. Felice, Renzo de (2001): The Jews in Fascist Italy. A History. New York. George, Stefan (1965): Der Stern des Bundes. Düsseldorf, München. Groh, Dieter (1972): „Cäsarismus“. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1. Stuttgart, S. 739–743. Høffding, Harald (1887): Psychologie in Umrissen auf Grundlage der Erfahrung, übers. v. F. Bendixen. Leipzig. Høffding, Harald (1889): „Demokratisk Radikalisme. En Indsigelse“. In: Tilskueren, S. 849– 872. Høffding, Harald (1904): Moderne Filosoffer. Kopenhagen. Jefferson, Thomas (1984): Writings. New York. Kais, Leila (2010): „Le Nietzschéanisme, c’est moi.“ Oscar Levy und die Einführung Nietzsches in England. Berlin. Knudsen, Jørgen (1994): Georg Brandes. Symbolet og manden. 1883–1895. 2. Bd. Kopenhagen. Krüger, Paul (1966): Correspondance de Georg Brandes. III: L’Allemagne. Kopenhagen. Levy, Oscar (2005a): „Brandes, Mussolini und Nietzsche. Eine Erinnerung und ein Briefwechsel“ [1927]. In: Steffen Dietzsch/Leila Kais (Hrsg.): Nietzsche verstehen. Essays aus dem Exil 1913–1937. Berlin, S. 145–151. Levy, Oscar (2005b): „Mein Kampf um Nietzsche“ [1925]. In: Steffen Dietzsch/Leila Kais (Hrsg.): Nietzsche verstehen. Essays aus dem Exil 1913–1937. Berlin, S. 51–136. Levy, Oscar (2005c): „Nochmals Heine und Nietzsche“ [1937]. In: Steffen Dietzsch/Leila Kais (Hrsg.): Nietzsche verstehen. Essays aus dem Exil 1913–1937. Berlin, S. 237–243. Levy, Oscar (2006): Der Idealismus – ein Wahn (1940). Hrsg. v. Leila Kais. Berlin. Michaelis, Meir (1978): Mussolini and the Jews. German – Italian relations and the Jewish question in Italy 1922–1945. Oxford. Mill, John Stuart (1991): On Liberty and Other Essays. Hrsg. v. John Gray. Oxford. Møller Kristensen, Sven (1980): „Georg Brandes, liberalist and activist“. In: Hans Hertel und Sven Møller Kristensen (Hrsg.): The Activist Critic. A symposium on the political ideas, literary methods and international reception of Georg Brandes, Orbis Litterarum. Suppl. No. 5, S. 9–20.
ziemlich alles – auf jeder Seite neue Überraschungen. Qualitativ, wenn auch nicht quantitativ, handelt es sich um ein auf die englischsprachige Welt bezogenes Äquivalent zur Sammlung Krummel, die heute in Naumburg lagert. Die beeindruckenden Bände des „Krummel“ hätten eine Ergänzung nötig: eine Publikation der Mappen, in welcher Form auch immer, würde dem Eindruck entgegenwirken können, die Nietzsche-Rezeption habe vor allem im „deutschen Geist“ stattgefunden. In jedem Falle bedürfen die Mappen heute dringend professioneller konservatorischer Schutzmaßnahmen und müssen schnellstens abfotografiert werden, da das minderwertige Zeitungspapier, oft von rostenden Büroklammern zusammengehalten, bereits zerfällt.
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Nietzsche, Friedrich (21914): Saaledes talte Zarathustra. En Bog for alle og for ingen. Übers. von Louis v. Kohl, mit Hilfe von Harald Høffding. Kopenhagen, Oslo. Ottmann, Henning (21999): Philosophie und Politik bei Nietzsche. Berlin, New York. Pfeifer, Wolfgang u.a. (Hrsg.) (41999): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. München. Rosenthal, Julia/Bloch, Peter André/Hoffmann, David Marc (Hrsg.) (2009): Friedrich Nietzsche. Handschriften. Erstausgaben und Widmungsexemplare. Die Sammlung RosenthalLevy im Nietzsche-Haus in Sils Maria. Basel. Steiner, George (1997): Errata: an examined life. London. Thomas, R. Hinton (1983): Nietzsche in German politics and society. 1890–1918. Manchester. Wende, Peter (1984): „Radikalismus“. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 5. Stuttgart, S. 113–133.
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Der Begriff Europas Friedrich Nietzsche und Karl Löwith im Vergleich 1939, im vierten Jahr seines Exils in Japan, schrieb Karl Löwith eine kurze Streitschrift, die ein Jahr später in einer japanischen Zeitschrift erschien. Aus verschiedenen Gründen präsentiert sich der Text als ein Drehpunkt: Zum einen verweist seine Grundthese auf Löwiths Hauptwerk Von Hegel zu Nietzsche, das ebenfalls 1939 verfasst wurde, aber erst 1941 erschien; zum anderen machte der Autor bei der Schrift reiche Anleihen für die Abfassung von Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Dieses Werk, mit dem Löwith an einem Preisausschreiben der Widener Library in Cambridge (Massachusetts) teilnahm, entstand 1940, noch während des Japan-Aufenthalts, und bereitete seinen Umzug in die Vereinigten Staaten vor, der im darauffolgenden Jahr stattfand. Der bedeutendste Aspekt der Schrift wird bereits durch den Titel benannt: Der europäische Nihilismus. Es handelt sich dabei um einen gewollt nietzscheanischen Titel, doch obwohl Nietzsche in dem Beitrag ausführlich behandelt wird, enthält sie weder einen direkten Hinweis auf den „Lenzerheide-Entwurf“ (den Text mit demselben Titel, den Nietzsche am 10. Juni 1887 schrieb) noch auf den ersten Teil des Willens zur Macht, den die Herausgeber mit dem Titel des Fragments versehen hatten. Die Frage wird noch komplexer, wenn man berücksichtigt, dass etwa zur selben Zeit, und zwar im zweiten Halbjahr 1940, der geliebt-gehasste Lehrer Löwiths, Martin Heidegger, an der Universität Freiburg i. Br. eine Vorlesung mit dem Titel Nietzsche: der europäische Nihilismus hielt. Der Vorlesungstext wurde erst im Rahmen der beiden 1961 erschienenen Bände über Nietzsche von Heidegger veröffentlicht, aber 1967 gab Heidegger den Text in einer gesonderten Ausgabe unter dem Titel Der europäische Nihilismus in Druck. Der Unterschied dieser beiden späteren Beiträge im Vergleich zu Nietzsches Original ist klar. Kreiste Nietzsches Text um das Thema Umwertung der Werte, so ist Heidegger bemüht, die reale ontologische Natur des Wertebegriffs aufzuzeigen, wonach das Seiende aus der Perspektive eines Standpunkts und folglich schon im griechischen Denken aufgrund seines Aussehens bezeichnet wurde: εἰδος (Heidegger 19895, S. 72). Löwiths Beitrag bewegt sich dagegen entschieden in einem philosophiegeschichtlichen Zusammenhang. Auch Heideggers Text enthält in Wirklichkeit keine direkte Bezugnahme auf den „Lenzerheide-Entwurf“. Im Rahmen umfänglicher Verweise auf Nietz-
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sches Werk insgesamt, das veröffentlichte wie den Nachlass, wird der Titel Der europäische Nihilismus vielmehr als Überschrift des ersten Buchs des Willens zur Macht zitiert, das „die Nummern 1 bis 134“ (Heidegger 19895, S. 43) umfasst. (Heidegger bezieht sich also auf die Ausgabe von 1906, in der der „Lenzerheide-Entwurf“ im Unterschied zur Erstausgabe von 1901 von den Herausgebern manipuliert und auf unzulässige Weise erweitert worden war). Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Heidegger und Löwith besteht darin, dass für beide der entscheidende Begriff, der die Natur des Nihilismus klärt, das Adjektiv „europäisch“ ist. Doch hier zeichnet sich sogleich auch der grundlegende Unterschied zwischen beiden ab. Heidegger zufolge ist Nietzsche nämlich genau der Denker, bei dem die Identität zwischen Europa und Nihilismus als Endergebnis der gesamten Geschichte des Abendlandes offenbar wird: „‚europäisch‘ hat hier geschichtliche Bedeutung und sagt soviel wie ‚abendländisch‘ im Sinne der abendländischen Geschichte“. Die Sentenz „Gott ist tot“ resümiert den Zerfall der Herrschaft des Übersinnlichen, und obgleich diese fortschreitende Auflösung sich bereits in den vorausgegangenen Jahrhunderten vollzogen hatte und auch das kommende Jahrhundert prägen sollte, war Nietzsche doch derjenige, der diese „geschichtliche Bewegung“ (Heidegger 19895, S. 32–33) als erster erkannte. Heidegger zufolge bekräftigt das Adjektiv „europäisch“ also lediglich das Wesen des Nihilismus, und die konzeptionelle Identität zwischen beiden Begriffen macht jede Einbettung in einen philosophiegeschichtlichen Zusammenhang gegenstandslos. Wie Heidegger nämlich mehrfach wiederholt, überzeugt, damit Nietzsches eigene Position aufzugreifen, ist „der Nihilismus […] Geschichte“ und bestimmt als solcher die „Geschichtlichkeit“ der abendländischen Geschichte selbst. Jede historiografische Untersuchung, die den „zeitlichen Verlauf“ des Nihilismus verdeutlichen und seine unterschiedlichen Positionen herausarbeiten will, erscheint folglich als überflüssig (Heidegger 19895, S. 91–92). Die Identität scheint jede mögliche dialektische Entwicklung auszulöschen. Im Unterschied zu Heidegger geht Löwith vom Europa-Begriff und seiner Bedeutung aus, die er aus Hegels Philosophie der Geschichte übernimmt. Aus Inschriften assyrischer Denkmäler ist zu entnehmen, dass asu „das Land der aufgehenden Sonne“ und ereb „das Land der Dunkelheit oder der untergehenden Sonne“ bezeichnet. Dieses Bild ist im deutschen Wort Abendland noch voll erhalten.1 Europa verdankt dem Gegensatz zu Asien also nicht nur seinen Namen, sondern nach Hegels Worten, die Löwith zitiert, ist es auch „das Ende der Weltgeschichte“, während Asien deren Anfang ist (Hegel 1970, S. 134). Gleich der untergehenden Sonne, die beleuchtet, was hinter ihr liegt, kommt 1 Löwith 1983a, S. 475; vgl. auch Löwith 1981, S. 46 ff.
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allein Europa, insofern es den zurückliegenden Weg betrachten kann, das Privileg dessen zu, was Hegel „die innere Sonne des Selbstbewußtseins“ nennt und was Löwith übersetzt als „den Glanz des absolut freien und darum auch kritischen Geistes, dessen Gefahren und Größe der Osten bis heute nicht kennt“.2 Hier wird eines der Grundmotive eingeführt, die auch die spätere Entwicklung von Löwiths Denken prägen werden. In einer Schrift von 1961, Vom Sinn der Geschichte, stellt er beispielsweise fest, dass zwar schon die Griechen den Gedanken hatten, dass es „‚die Natur aller Dinge ist, hervorzugehen und zu vergehen‘ (Thukydides)“ (Löwith 1983b, S. 383), diese Bewegung aber erst mit dem Christentum im Zeichen der Vollendung stand, da sie ein Ende und einen Zweck erhielt. Erst dank dieser Vollendung gewann die Geschichte des Abendlandes ihre wesentliche Geschichtlichkeit, das heißt, sie verlieh sich selbst einen Sinn, indem sie zugleich in der Geschichte den privilegierten Gegenstand des philosophischen Denkens aufzeigte. Deshalb konnte die Geschichtsphilosophie keine Materie der Griechen sein.3 Hinter ihr steht eine „Theologie der Geschichte“, die die Kirchenväter „aus der jüdischen Prophetie und der christlichen Eschatologie“ entwickelten. Die Begriffe „geschichtliche Welt“ und „geschichtliche Existenz“ sind kein Ergebnis einer zufälligen oder vorübergehenden philosophischen Anschauung, sondern „das Produkt einer hoffnungsvollen Erwartung, die sich ursprünglich auf das Kommen des Reiches Gottes bezog und schließlich auf ein künftiges Reich des Menschen“. Wenn das Vertrauen in diese Vollendung an der Schwelle zur Moderne schwindet, so kennzeichnet es als „Sicht auf die Zukunft als solche“ dennoch weiterhin sowohl die unterirdische eschatologische Motivation der „radikal weltlichen Fortschrittsphilosophien“ – „Condorcet, Saint-Simon, Comte und Marx“ – wie „ihr Umschlag[en] in negativ fortschreitende Verfallstheorien“ (Löwith 1983b, S. 382). In der 1949 in den Vereinigten Staaten erschienenen Schrift Meaning in History – die dann 1953 unter dem Titel Weltgeschichte und Heilsgeschehen auf Deutsch wieder veröffentlicht wurde – führt Löwith diese Theologie der Geschichte auf Augustins De civitate Dei zurück. „Das feste Ziel für das Verständnis der gegenwärtigen und vergangenen Geschehnisse“, schreibt er, „ist die letzte Vollendung: Jüngstes Gericht und Auferstehung“. Die Geschichte „als Ganzes“ erlangt nur in Bezug „auf einen absoluten Anfang und ein absolutes Ende“ (Löwith 1983c, S. 183) einen Sinn. Doch diese Geschichtstheologie ist
2 Löwith 1983a, S. 475; vgl. Hegel 1970, S. 134. 3 Vgl. Löwith 1986 (Curriculum vitae), S. 199: „Ein indirekter Beweis für die Herkunft der Geschichtsphilosophie aus der biblischen Geschichtstheologie ist das Fehlen jeder Philosophie der Geschichte im griechischen Denken, das die Geschichte den Historikern überließ“.
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noch keine Geschichtsphilosophie. Die civitas Dei steht der civitas terrena als das absolut Transzendente gegenüber: die eine ist „ewig und unsterblich“, die andere „ist zeitlich und sterblich“. Will Augustins Werk Gott in der Geschichte rechtfertigen, so ist diese „jedoch ganz und gar Gott unterstellt, der kein Hegelscher Gott in der Geschichte, sondern ihr Herr ist“ (Löwith 1983c, S. 183). Damit die Theologie Philosophie wird, muss das göttliche Prinzip also als immanentes Prinzip der Geschichte erkannt werden. Erst dank dieses wesentlichen Übergangs kann die transzendente eschatologische Vision in eine weltliche Eschatologie verwandelt werden und der Säkularisierung der Theologie der Geschichte den Weg bahnen, die nun Philosophie der Geschichte wird. Zwar ist diese Säkularisierung der prägende Zug der Moderne, ihre Voraussetzung hat sie jedoch in der prophetischen Vision des Joachim von Fiore. Mit der Vorhersage eines Dritten Reichs, in dem die Eintracht des Alten und des Neuen Testaments ihre volle Verwirklichung finden werde, fügte Joachim zwischen der weltlichen Zeit und dem transzendenten ἔσχατον ein zweites ἔσχατον als „eine geschichtliche Endphase des Heilsgeschehens“ ein, womit dem Menschen als dem Handelnden in der Welt eine aktive Rolle entgegen der „bloßen Erwartung des Weltendes“ übertragen wurde (Löwith 1983c, S. 165). Nach der Auffassung Augustins wie nach Meinung von Anselm und Thomas von Aquin offenbarte sich die historische Wahrheit im Ereignis der Ankunft Christi, die den Geschichtsprozess als ihren Mittelpunkt erhellt. Joachim zufolge offenbarte sich diese Wahrheit hingegen „in einer Aufeinanderfolge von Ordnungen“: „Wie der Weltgeist Hegels entfaltet sich die christliche Wahrheit innerhalb einer zeitlichen Ordnung als ein Wahrheitsgeschehen“.4 Das Dritte Reich, das Joachim als Zeitalter des Heiligen Geistes begriff, wird so eine weltliche Prophetie, die die moderne Philosophie der Geschichte als „theologischer Historismus“ (Löwith 1983c, S. 170) vorwegnimmt. Von „einer philosophischen Priesterschaft“ – nämlich dem deutschen Idealismus – wird später die Interpretation dieser Säkularisierung „als eine ‚geistige‘ Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden“ übernommen. Die „fortschrittlichen Denkformen“ von Lessing, Fichte, Schelling und Hegel ebnen so den „positivistischen und materialistischen von Comte und Marx“ den Weg. Dieser Weg wird im 20. Jahrhundert seinen zweideutigen und dramatischen Abschluss finden: aus der ursprünglich religiösen und dann als philosophische Voraussage interpretierten Prophetie wird eine politische Prophetie entstehen. „Das dritte Testament der Joachiten“,
4 Löwith 1983c, S. 170. Über den Einfluss von Joachim von Fiore auf die deutsche Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts vgl. W. Gould-M. Reeves 20012, S. 69–82; was eine mögliche Beziehung zwischen Joachims Prophetie und Hegels Philosophie betrifft, vgl. Taubes 20072, S. 122–132.
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schließt Löwith, „erschien als ‚Dritte Internationale‘ wieder und als ‚Drittes Reich‘, verkündet von einem dux oder Führer, der als Erlöser bejubelt und von Millionen mit ‚Heil‘ begrüßt wurde“ (Löwith 1983c, S. 172). Diese Schlussfolgerung Löwiths steht in engem Zusammenhang mit der zehn Jahre zuvor entstandenen Schrift über den europäischen Nihilismus. Europa wird darin als Land einer Vollendung präsentiert, die sich in der vom Christentum erzeugten geistigen Einheit vollzieht. Die politische Form dieser Einheit war das „Heilige römische Reich deutscher Nation“, das das Erbe des kaiserlichen und des katholischen Rom gesammelt und vereinigt hatte. Lange vor dem Niedergang des Heiligen Römischen Reichs ging diese Einheit jedoch mit der Lutherischen Reformation entzwei. Von da an nahm jede Beschwörung Europas unweigerlich den Klang einer „der Not entsprungene[n] Sehnsucht“ an (Löwith 1983a, S. 475–476). Nicht zufällig zitiert Löwith als frühes Beispiel dieser Literatur der Sehnsucht Die Christenheit oder Europa von Novalis (1799). Denn gerade der „feuerfangende Kopf“ Luther und seine Anhänger trennten in dessen Augen „das Untrennbare, theilten die untheilbare Kirche und rissen sich frevelnd aus dem allgemeinen christlichen Verein“ (Novalis 1983, S. 511). Obwohl Löwith sich de facto der These von Novalis anschließt, lässt seine Lesart sich nicht dieser Literatur der Sehnsucht zurechnen, die nach seinem Urteil dem „geistige[n] Pessimismus“ entspricht, den Nietzsche als passiven Nihilismus und „Logik der Dekadence“ angreifen wird. Sicher teilt Löwith diesen Teil von Nietzsches Diagnose, aber im Weiteren schwindet seine Zustimmung. Der aktive Nihilismus, die Gegenbewegung, mit der Nietzsche den Nihilismus überwinden zu können glaubt, ist Löwith zufolge in Wahrheit eine noch stärkere Verwurzelung im Nihilismus. In der europäischen Geschichte entspricht er dem „deutsche[n] ‚Aufbruch‘“, der nichts anderes ist als „die aktiv gewordene Logik des Verfalls und der Auflösung“ (Löwith 1983a, S. 494). Den Höhepunkt dieser Geschichte und dieser Logik bildet der Aufstieg des Nationalsozialismus im Sinne einer Revolution des Nihilismus und noch exemplarischer – wie Löwith in Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933 feststellt – der Molotov-Ribbentrop-Pakt, der das Bündnis zwischen dem sowjetischen Russland und dem nationalsozialistischen Deutschland besiegelt. Das Buch, das der NS-Renegat Hermann Rauschning 1938 veröffentlichte, Die Revolution des Nihilismus, aus dem diese Ideen stammen, stellt für Löwith, der sich fortgesetzt darauf bezieht,5 die Enthüllung der tatsächlichen historischen Bedeutung des Nihilismus dar.
5 Vgl. Löwiths Betrachtung (Löwith 1986, S. 123) über die Reaktion der in Japan wohnhaften nazifreundlichen Deutschen, „nachdem sie der Russenpakt überrascht hatte, den Rauschning schon zwei Jahre vorher so genau vorausgesagt hatte“.
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In diesem Zusammenhang steht das harte Urteil, das Löwith über den Gesamtsinn von Nietzsches Werk fällt: Dieses hat „geistig den Weg zum Dritten Reich bereitet, wenngleich die Wegbereiter stets Andern Wege bereiteten, die sie selber nicht gingen.“6 Es wäre falsch, diese Position, wie teilweise geschehen, allein als Vorbereitung des noch härteren Angriffs auf seinen Lehrer Heidegger zu begreifen, den Löwith in derselben Schrift führt und auf den wir hier nicht näher eingehen können. In Wahrheit ergibt sich Löwiths Haltung aus seinem Urteil über die gescheiterte Überwindung des Nihilismus, von dem Nietzsche seines Erachtens eine bloß voluntaristische Interpretation liefert. Was nach Nietzsche geschah, ist für Löwith die Antwort auf die Frage, die Nietzsche selbst sich in einem Fragment von November 1887-März 1888 stellte: „wo sind die Barbaren des 20. Jahrhunderts?“. Nietzsche beantwortete diese Frage unter Berufung auf „eine herrschaftliche Rasse“, die „nur aus furchtbaren und gewaltsamen Anfängen emporwachsen [kann]“. Es sind jene Barbaren, die „erst nach ungeheueren socialistischen Krisen sichtbar werden und sich consolidiren, – es werden die Elemente sein, die der größten Härte gegen sich selber fähig sind und den längsten Willen garantiren können“ (KSA 13, NL 11[31], S. 18) (vgl. Löwith 1983a, S. 508). Dass die Verantwortung für diese Vision nicht nur auf Nietzsche zurückfällt, sondern die verborgene Richtung der Philosophie des deutschen Idealismus ans Licht bringt, belegt Löwith zufolge die Seite aus Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland von Heinrich Heine – einem im Übrigen von Nietzsche gelesenen und geschätzten Autor –, die er sowohl in Der europäische Nihilismus als auch in der Anthologie über die Hegelsche Linke anführt. Was sind die von Nietzsche evozierten Barbaren anderes, wenn nicht die „bewaffnete[n] Fichteaner […], die in ihrem Willens-Fanatismus weder durch Furcht noch durch Eigennutz zu bändigen sind“? Heine bewertete diesen Fanatismus im Vergleich zu dem der frühen Christen als noch radikaler, weil „der Transzendental-Idealist […] die Marter selbst für eitel Schein hält und unerreichbar ist in der Verschanzung des eigenen Gedankens“.7 Der Nationalsozialismus war für Löwith die Antwort, die die Geschichte auf Nietzsches Frage und auf die ungehörte Warnung Heines gegeben hat. Diese Antwort klärt sich gerade durch den Europa-Begriff, den Nietzsche im Sinn hatte und der durch eine wesentliche Zweideutigkeit geprägt war. Bei 6 Löwith 1983a, S. 511. Der gleiche Satz kehrt in Von Hegel zu Nietzsche wieder, wo das Urteil teilweise abgeschwächt ist durch die Anerkennung des „Abgrund[s] […], der Nietzsche von seinen letzten Verkündern trennt“. Dennoch, so Löwith weiter, könne die offensichtliche Tatsache nicht geleugnet werden, „daß Nietzsche ein Ferment der ‚Bewegung‘ wurde und sie ideologisch in entscheidender Weise bestimmt hat“ (Löwith 1981, S. 254). 7 Heine 1963, S.140; vgl. Löwith 1983a, S. 513.
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Nietzsche, so Löwith in Der europäische Nihilismus, ist „Europa […] eine untergehende und zugleich auch eine erst werdende Welt, aber dazwischen geschieht kein kontinuierlicher Übergang, sondern eine schicksalsvolle Entscheidung“ (Löwith 1983a, S. 506). Vielleicht ist gerade die Gleichsetzung dieses untergehenden Europa mit dem Ausgang der hegelschen Philosophie der prägendste Zug von Löwiths Interpretation der nietzscheanischen Position innerhalb der europäischen Philosophie. Denn der Ausgang der hegelschen Philosophie ist eine Säkularisierung des Christentums, in deren Zeichen sich die Geschichte des Geistes vollendet. Wie Löwith in Von Hegel zu Nietzsche bemerkt, repräsentiert das Abendland diese Vollendung, insofern der Geist „endlich“, in der Entfaltung seines Werdens, „sein volles Sein und Wissen oder sein Selbstbewusstsein“ erlangt (Löwith 1981, S. 47); „die zunächst nur geglaubt gewesene Versöhnung“ (Löwith 1981, S. 55) verwirklicht sich jetzt im Denken. Was Löwith, wie wir gesehen haben, als „geistigen Pessimismus“ definiert, entspricht voll und ganz Nietzsches Definition des Nihilismus „als psychologischer Zustand“, den er als Reaktion auf das Scheitern der besagten Versöhnung darstellt. In einem langen Fragment aus der Zeit zwischen November 1887 und März 1888, das die Herausgeber des Willens zur Macht als Nr. 12 unter dem Titel Hinfall der kosmologischen Werte in das Werk aufnehmen, kennzeichnet Nietzsche diese Reaktion als Zustand, der eintritt, wenn man eine Ganzheit, eine Systematisirung, selbst eine Organisirung in allem Geschehn und unter allem Geschehn angesetzt hat: so daß in der Gesammtvorstellung einer höchsten Herrschafts- und Verwaltungsform die nach Bewunderung und Verehrung durstige Seele schwelgt (– ist es die Seele eines Logikers, so genügt schon die absolute Folgerichtigkeit und Realdialektik, um mit Allem zu versöhnen …). (NL (11[99]), KSA 13, S. 47)
Diese Ganzheit ist für Nietzsche, „ein modus der Gottheit“. Die Versöhnung im Allgemeinen bildet bereits eine Form von Nihilismus. Dass man später die Inexistenz des dergestalt angenommenen Allgemeinen feststellen muss, ist eine Folge dieses Nihilismus: „aber siehe da, es giebt kein solches Allgemeines!“ (NL (11[99]), KSA 13, S. 47). Wie bereits gesagt, stimmt Löwiths Analyse bis hierhin ganz und gar mit Nietzsches Diagnose überein. Auf der einen Seite stellt er noch in Von Hegel zu Nietzsche fest, „Hegels absolutes System“ sei „der absolute, christliche Geist, der sich in seinem Element, der Wirklichkeit, als der seinen begreift“: „Die wirkliche Welt ist damit im christlichen Sinne ‚geistig‘ geworden“ (Löwith 1981, S. 55–56); auf der anderen ist in Der europäische Nihilismus für ihn klar, dass „Hegels Vollendung der Philosophie“ „ein letzter Schritt vor einer großen Umkehr und einem Bruch mit dem Christentum sein muß“. Führte Hegel also „die christliche Philosophie“ zur Vollendung, so hat diese Vollendung in Wirk-
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lichkeit dieselbe Bedeutung, wie diejenige, mit der Proklos die Philosophie der Antike zur Vollendung geführt hatte. In beiden Fällen handelt es sich um eine „Versöhnung des Verderbens“ (Löwith 1983a, S. 501). Die von Nietzsche abweichende Sichtweise Löwiths nimmt hingegen in seinem Urteil über das künftige Europa, das auf das Europa des hegelschen „Greisenalter[s] des Geistes“ (Löwith 1983a, S. 501) folgen wird, Gestalt an: jenes neue Europa, das Nietzsche ausdrücklich als nicht mehr christlich denkt. Den Sinn einer solchen Überwindung legt Nietzsche im Aph. 377 aus der Fröhlichen Wissenschaft mit besonderer Klarheit dar: Wir sind […] gute Europäer, die Erben Europa’s, die reichen, überhäuften, aber auch überreich verpflichteten Erben von Jahrtausenden des europäischen Geistes: als solche auch dem Christenthum entwachsen und abhold, und gerade, weil wir aus ihm gewachsen sind, weil unsre Vorfahren Christen von rücksichtsloser Rechtschaffenheit des Christenthums waren. (FW, KSA 3, S. 631)
Wenn es bei Nietzsche also einen „Bruch“ mit dem Christentum bzw. eine „Umkehr“ gibt, so scheint Löwith indes nicht zu berücksichtigen, dass diese „Umkehr“ dennoch in einer Kontinuitätslinie steht. Dies hätte eine sorgfältige Lektüre des Antichrist aber ebenso zeigen müssen wie die von Löwith selbst in Von Hegel zu Nietzsche vorgeschlagene Interpretation, die Nietzsches Haltung zum Christentum auf die Religionskritik von Feuerbach und Bruno Bauer zurückführt, welche ihrerseits aus Hegels Religionsphilosophie entsprungen ist (vgl. Löwith 1981, S. 223–224). In Löwiths Augen ermöglicht Nietzsches Angriff auf das Christentum dagegen, gerade insofern er die Widerstandsfähigkeit gegenüber dem Negativen als Lüge und Täuschung entlarvt, den Einbruch des Negativen in die Geschichte in Form einer Barbarei, die das Gesicht des neuen Europa sein wird. In Wahrheit, bemerkt Löwith, hatte Nietzsche jene Zukunft schon in der „Vermännlichung“ Europas durch Napoleons Werk wahrgenommen (Löwith 1983a, S. 508). Er bezieht sich damit auf den Aph. 362 der Fröhlichen Wissenschaft (Unser Glaube an eine Vermännlichung Europa’s). Unter Rückgriff auf den bereits in der kurzen Schrift von 1872, Der griechische Staat, theoretisierten Begriff des Krieges als Faktor für den inneren sozialen Zusammenhalt der Staaten und antibürgerliches Mittel rechnet Nietzsche es Napoleon in diesem Aphorismus als Verdienst an, „dass sich jetzt ein paar kriegerische Jahrhunderte auf einander folgen dürfen, die in der Geschichte nicht ihres Gleichen haben“ und man folglich „in’s klassische Zeitalter des Krieges“ eintritt. So ist „der Mann in Europa wieder Herr über den Kaufmann und Philister geworden“ (FW, KSA 3, S. 610). „Diese politische Perspektive“, schreibt Löwith, „steht nicht am Rande von Nietzsches Philosophie, sondern in ihrer Mitte“. Es handelt sich um jene große
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Politik, die sich sowohl aus Nietzsches Analyse des Nihilismus wie aus dem Willensbegriff ergibt, die er ihm anstelle des „‚du sollst‘ des christlichen Glaubens“ (Löwith 1983a, S. 508–509) entgegensetzt. In diesem Lob der politischen und somit gewissermaßen selbst nihilistischen Funktion des Christentums steht der Jude Löwith – sicher bewusst – dem Juden Heine nahe, der im christlichen Kreuz den „zähmende[n] Talisman“ gesehen hatte, welcher „jene brutale germanische Kampflust“ abzumildern vermochte, ohne sie indes zerstören zu können.8 Paradoxerweise bildete nach Nietzsche gerade das durch Napoleon ausgelöste nationale Erwachen in den europäischen Staaten das Element, das, wird man es einst beherrschen, die Verwirklichung des napoleonischen Traums ermöglichen wird: „das Eine Europa […] als Herrin der Erde“ (FW, KSA 3, S. 610). Für Löwith war dies das abschließende Ergebnis von Nietzsches Europaidee. Doch schenkt er dabei einem anderen Europagedanken, der in Nietzsches Schriften mindestens ebenso ausführlich, wenn nicht ausführlicher entwickelt wird, nicht die gebührende Beachtung. Dieser Gedanke hängt mit der Definition der guten Europäer zusammen, die über den Schlüsselbegriff heimatlos verläuft, den Löwith offenkundig sehr einseitig interpretiert. Löwith erblickt darin vor allem die Bestimmung der historischen Position, die Nietzsche sich selbst zuweist, wie aus dem bereits zitierten Aph. 377 (Wir Heimatlosen) der Fröhlichen Wissenschaft hervorgehe: „Es fehlt unter den Europäern von Heute nicht an solchen, die ein Recht haben, sich […] Heimatlose zu nennen […] Wir Kinder der Zukunft, wie vermöchten wir in diesem Heute zu Hause zu sein!“ (FW, KSA 3, S. 628).9 Nietzsche erkennt sich, so Löwith, als „ein Mensch an der Grenze“, décadent im zu Ende gehenden Jahrhundert und Begründer des herannahenden: „Infolgedessen war er in seiner Gegenwart heimatlos in einem
8 Löwith 1983a, S. 513; vgl. Heine 1963, S. 140. Beeindruckend in seiner prophetischen Vision ist Heines Aufforderung an die Franzosen, „immer gerüstet“ zu bleiben, „es mag in Deutschland vorgehen was da wolle“, die französischen Minister gleichzeitig davor warnend, „Frankreich zu entwaffnen“ (Heine 1963, S. 142). Man wird an die Rede Churchills vom 23. März 1933 vor dem House of Lords erinnert, in der er Gott für das französische Heer dankte. 9 Diese Bedingung kennzeichnet im Übrigen die Natur der freien Geister, nachdem sie Bewusstheit vom Tode Gottes erlangt haben; vgl. FW, Aph. 343: „Selbst wir […], zwischen Heute und Morgen hingestellt und in den Widerspruch zwischen Heute und Morgen hineingespannt, wir Erstlinge und Frühgeburten des kommenden Jahrhunderts, denen eigentlich die Schatten, welche Europa alsbald einwickeln müssen, jetzt schon zu Gesicht gekommen sein sollten: woran liegt es doch, dass selbst wir ohne rechte Theilnahme für diese Verdüsterung, vor Allem ohne Sorge und Furcht für uns ihrem Heraufkommen entgegensehen? […] In der That, wir Philosophen und ‚freien Geister‘ fühlen uns bei der Nachricht, dass der ‚alte Gott todt‘ ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt“ (FW, KSA 3, S. 574). Zur Beziehung zwischen dem guten Europäer, der Heimatlosigkeit und dem Freigeist vgl. Venturelli 2010.
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ausgezeichneten Sinn“ (Löwith 1983a, S. 506). Ähnlich begreift Löwith die guten Europäer, die „statt in ihrer Gegenwart“ „abseits vom Heute“ leben, als „unzeitgemäß“, „in vergangenen und kommenden Jahrhunderten“ (Löwith 1983a, S. 507). In den Schriften der Nachkriegszeit, in denen sich die Analyse des Untergangs Europas in eine Kritik der Moderne insgesamt verwandelt, bezeichnet Löwith als Heimatlosigkeit die Entwurzelung des modernen Menschen, die auch den Verlust des negativen Bewusstseins beinhaltet, das Nietzsche Löwith zufolge von diesem Zustand besaß. „Die von Nietzsche und noch heute erhobene Klage“, schreibt er in Das Verhängnis des Fortschritts (1963), „daß der moderne Mensch heimatlos sei, ist gegenstandlos geworden“. Schlussfolgernd setzt er hinzu: „Wir sind nirgends mehr zuhause, weil wir es überall sein können“ (Löwith 1983d, S. 407). Der erste Teil dieser Schlussfolgerung ist enthüllend, denn er klingt wie ein Echo der Stelle aus den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, an der Hegel behauptet: „Bei dem Namen Griechenland ist es dem gebildeten Menschen in Europa, insbesondere uns Deutschen, heimatlich zumute“. Mit dieser Bezugnahme auf Griechenland als Quell der europäischen Kultur will Hegel den historischen Weg der Befreiung des lutheranischen Deutschland von der Römischen Kirche legitimieren. Mit der Reformation wird „die europäische Menschheit“ Herr über sich selbst: „Da hat der Mensch angefangen, in seiner Heimat zu sein. Dies zu genießen, hat man sich an die Griechen gewendet“ (Hegel 1971, S. 173). Diese Hegel-Stelle weist eine überraschende Ähnlichkeit mit einem Nietzsche-Fragment (41[4]) vom AugustSeptember 1885 auf, das Löwith in seiner Jugendschrift über Nietzsche aus dem Jahr 1935 vollständig wiedergibt. Nietzsche schreibt unter anderem: „Die deutsche Philosophie als Ganzes – Leibnitz, Kant, Hegel, Schopenhauer, um die Großen zu nennen – ist die gründlichste Art Romantik und Heimweh, die es bisher gab“. Gleich im Anschluss wird diese Heimat benannt: „Man ist nirgends mehr heimisch, man verlangt zuletzt nach dem zurück, wo man irgendwie heimisch sein kann, weil man dort allein heimisch sein möchte: und das ist die griechische Welt!“ (NL, KSA 11, S. 678). Abgesehen von der Frage, ob Nietzsche eine direkte Kenntnis der hegelschen Schriften besaß, entging Löwith die Ähnlichkeit nicht. Nachdem er in dem Buch von 1935 das NietzscheZitat angeführt hat, verweist er in der Fußnote, allerdings kommentarlos, auf Hegels Text (Löwith 1987, S. 242–244 und S. 244 Anm. 10). Tatsächlich scheint der oben zitierte Passus aus Das Verhängnis des Fortschritts die beiden Positionen, die hegelsche und diejenige Nietzsches, zusammenzufassen. Wenn Nietzsche in dem zitierten Fragment aber behauptet, zwischen uns und Griechenland sei die Römische Kirche getreten und habe den Verlust jener Heimat verursacht, so hat sie nichtsdestotrotz das begriffliche Erbe der Grie-
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chen gerettet, aus dem das theologische Gerüst der christlichen Lehre erschaffen wurde. Wohl oder übel führt der Weg zurück in die Heimat also über das Christentum: „Man will zurück, durch die Kirchenväter zu den Griechen“ (NL, KSA 11, S. 679). Dies hätte Löwith nahelegen müssen, dass in der Heimatlosigkeit zwar der antichristliche Sinn von Nietzsches Philosophie aufgeht, sie aber eine Kontinuitätslinie mit dem Christentum nie völlig abbricht: nicht zuletzt, weil das Ende des Christentums und sogar das Antichristentum für Nietzsche bekanntlich nicht anderes sind als der letzte historische Ausgang des Christentums selbst als Vollendung seiner nihilistischen Bestimmung. An diesem Punkt erweist es sich als unerlässlich, den Ursprung von Nietzsches Gebrauch des Adjektivs heimatlos zu klären zu suchen. Bei diesem Versuch darf ein auffälliger Umstand nicht außer Acht gelassen werden: Heimatlose war das Wort, mit dem die antisemitische Propaganda der Zeit die Juden bezeichnete.10 Dass Nietzsche dieses Wort als Überschrift des Aph. 377 der Fröhlichen Wissenschaft (Wir Heimatlosen) wählt, erlangt folglich den Sinn einer gezielten politischen Provokation gegenüber der teutomanischen und antisemitischen Partei. Er benutzt das Wort in positivem Sinne und es ist in diesem Zusammenhang durchaus nicht Gegenstand einer „Klage“, wie Löwith meint. Belegt wird dies dadurch, dass Nietzsche selber das Wort in früherer Zeit in negativem, antisemitischem Sinn benutzt hatte. In der unter dem bestimmenden Einfluss Wagners verfassten Schrift Der griechische Staat, die er Cosima zusammen mit anderen kurzen Schriften zu Weihnachten 1872 geschickt hatte, wettert er gegen die den Krieg Fürchtenden und definiert sie als jene wahrhaft internationalen heimatlosen Geldeinsiedler […], die, bei ihrem natürlichen Mangel des staatlichen Instinktes, es gelernt haben, die Politik zum Mittel der Börse und Staat und Gesellschaft als Bereicherungsapparate ihrer selbst zu mißbrauchen. (CV 3, KSA 1, S. 774)
Nietzsche braucht die Juden nicht einmal beim Namen zu nennen. Die Beschreibung, die haargenau dem antisemitischen Stereotyp entspricht, und 10 Vgl. z. B. Treitschke 1899, S. 295–296: „Immer waren die Juden ‚ein Element der nationalen Decomposition‘“; das begünstigte die Entwicklung des römischen Reichs: „Hieran mitzuarbeiten war das heimathlose Judenthum besonders geeignet“; vgl. auch die darauffolgende Anmerkung. Daß das Wort Heimatlos, und der ganze Aphorismus 377 der Fröhlichen Wissenschaft, wie ein möglicher Hinweis auf Bruno Bauer zu verstehen ist, hat mit Recht Massimo Ferrari Zumbini angenommen; vgl. Ferrari Zumbini 2003, S. 446–447. Über die Stellung Nietzsches gegenüber den Vertretern der antisemitischen Bewegung, H. von Treitschke insbesondere, vgl. Ferrari Zumbini 1999, S. 140 ff. Vgl. weiter Brömsel 2000.
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der Begriff heimatlos kennzeichnen sie bereits zur Genüge. Im Aph. 377 der Fröhlichen Wissenschaft wird der Begriff also in umgekehrtem Sinn und mit umgekehrter Wertung benutzt. Hier sind die Heimatlosen Feinde jener „kleine[n] Politik“, die die Eitelkeit des deutschen Geistes anstachelt, der „die Verewigung der Kleinstaaterei Europa’s“ anstrebt, „um dem Nationalismus und dem Rassenhass das Wort zu reden […], derenthalben sich jetzt in Europa Volk gegen Volk wie mit Quarantänen abgrenzt, absperrt“. Gegen all dies wenden sich die Heimatlosen: Wir Heimatlosen, wir sind der Rasse und Abkunft nach zu vielfach und gemischt […] und folglich wenig versucht, an jener verlognen Rassen-Selbstbewunderung und Unzucht theilzunehmen, welche sich heute in Deutschland als Zeichen deutscher Gesinnung zur Schau trägt. (FW, KSA 3, S. 630)
Diese vernichtende Stellungnahme gegen die imperialistische Politik greift offensichtlich die Position wieder auf, die Nietzsche schon im Aph. 475 von Menschliches, Allzumenschliches (Der europäische Mensch und die Vernichtung der Nationen) geäußert hatte. Hier wird die Entstehung einer „Mischrasse, die des europäischen Menschen“ gegen „das Interesse bestimmter Fürstendynastien, sodann das bestimmter Classen des Handels und der Gesellschaft“ herbeigesehnt, das zu einem „künstliche[n] Nationalismus“ treibt, der nichts anderes ist als „ein gewaltsamer Noth- und Belagerungszustand, welcher von Wenigen über Viele verhängt ist“. Gegen dieses Interesse „soll man sich nur ungescheut als guten Europäer ausgeben und durch die That an der Verschmelzung der Nationen arbeiten“. An diesem Punkt lässt Nietzsche die Bemerkung fallen, dass in diesem neuen Europa „das ganze Problem der Juden“ eine definitive Lösung finden kann, denn es existiert „nur innerhalb der nationalen Staaten“. Je mehr sich in den europäischen Staaten eine nationalistische Haltung durchsetzt, desto mehr entfesseln die „Thatkräftigkeit und höhere Intelligenz“ der Juden „die litterarische Unart […], die Juden als Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren Uebelstände zur Schlachtbank zu führen“. Wenn es „um die Erzeugung einer möglichst kräftigen europäischen Mischrasse“, das heißt um die Vermittlung zwischen Volk und Volk, Nation und Nation geht, dann „ist der Jude als Ingredienz ebenso brauchbar und erwünscht, als irgend ein anderer nationaler Rest“ (MA, KSA 2, S. 309–310). Freilich ist hervorzuheben, dass sich in dieses beeindruckende Lob des Judentums durchaus Überreste des antisemitischen Stereotyps mischen. Wenn Nietzsche in den zitierten Sätzen gerade die von der antisemitischen Propaganda verwendeten Argumente positiv umdeutet, so hindert ihn das nicht daran, festzustellen: „vielleicht ist der jugendliche Börsen-Jude die widerlichste Erfindung des Menschengeschlechtes überhaupt“ und damit gleichsam
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die Themen aus Der griechische Staat wiederaufzunehmen. Ebenso kann man die Behauptung wagen, dass in der Definition der Rolle der Juden beim Aufbau eines übernationalen Europa Anklänge an die Thesen des Historikers Heinrich von Treitschke zu vernehmen sind. Treitschke, ein sozusagen „gemäßigter“ Vertreter des Antisemitismus, hatte in seinen 1874–1875 in Berlin gehaltenen Vorlesungen die Toleranz Roms gegenüber den Juden mit dem Argument der Übernationalität des Reichs gerechtfertigt.11 Doch Nietzsches Lob geht noch weiter: Letztlich ist auch die Sünde der finanziellen Schläue einem Volk nachzusehen, das „nicht ohne unser Aller Schuld, die leidvollste Geschichte unter allen Völkern gehabt hat“ und dem man „den edelsten Menschen (Christus), den reinsten Weisen (Spinoza), das mächtigste Buch und das wirkungsvollste Sittengesetz“ verdankt. In erneuter Umkehrung des antisemitischen Stereotyps geht Nietzsche so weit, zu behaupten, dass es entgegen dem Christentum, das „Alles gethan hat, um den Occident zu orientalisiren“, gerade das Judentum war, das dazu beigetragen hat, „ihn immer wieder zu occidentalisiren“; und es waren die „jüdische[n] Freidenker, Gelehrte[n] und Aerzte“, die „das Banner der Aufklärung und der geistigen Unabhängigkeit“ hochhielten (KSA 2, S. 310– 311). Das gelang den Juden eben deshalb, weil sie entwurzelt und heimatlos waren. Bedeutsamerweise vollzieht sich die Umkehrung der Bedeutung dieses Begriffs in der Kombination mit einem anderen wichtigen Wort Nietzsches: dem Wanderer. In einem Fragment von Mai-Juni 1883, also aus der Entstehungszeit von Teil I des Zarathustra, notiert er: „Bist du ein Stern? So mußt du auch wandern und heimatlos sein“ (NL 9[45], KSA 10, S. 360). In einem späteren Fragment vom Winter 1884–1885 lesen wir hingegen: „Der Unstäte, Heimatlose, Wanderer – der sein Volk verlernt hat zu lieben, weil er viele Völker liebt, der gute Europäer“ (NL 31[10], KSA 11, S. 362). Wahrscheinlich war der Wanderer aus Hölderlins Gedicht Der Wanderer Nietzsches Vorbild. Doch im Unterschied zu Hölderlins Wanderer, der durch die Welt zieht, getrieben von der Sehnsucht der Rückkehr ins Rheintal,12 preist Nietzsche am Wan-
11 Vgl. Treitschke 1899, S. 295–296: „Die Juden sind da [d. h. in der hellenistischen Kultur] nicht bloß die Allerweltskaufleute, sondern auch im geistigen Leben ein verbindendes Element gewesen […] Eine ähnliche Rolle spielten die Juden dann wieder im Reiche der römischen Kaiser. Cäsar hat sie absichtlich begünstigt, und mit Recht, er war ein Weltherrscher“. In Berlin wiederholte H. von Treitschke eine Vorlesungsreihe, die er in den Wintersemestern 1863–1864 und 1865–1866 an der Universität Freiburg i. Br. gehalten und danach bereits in Heidelberg wiederaufgenommen hatte. 12 Vgl. Hölderlin 1946, S. 213: Der Wanderer, V. 37–42: „Aber jetzt kehr‘ ich zurück an den Rhein, in die glückliche Heimath, / Und es wehen, wie einst, zärtliche Lüfte mich an. / Und das strebende Herz besänftigen mir die vertrauten / Friedliche Bäume, die einst mich in den
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derer seine Heimatlosigkeit, die ein zur Entlarvung der Moral geschmiedetes Werkzeug der Erkenntnis wird. Im Aph. 380 der Fröhlichen Wissenschaft („Der Wanderer“ redet) heißt es, dass man aus der Ferne blicken muss, um „unsre europäische Moralität“ in ihrer Wirklichkeit zu erkennen, genau wie „ein Wanderer […] der wissen will, wie hoch die Thürme einer Stadt sind: dazu verlässt er die Stadt“. Jeder Gedanke „über ‚moralische Vorurtheile‘“ setzt „eine Stellung ausserhalb der Moral voraus, irgend ein Jenseits von Gut und Böse, zu dem man steigen, klettern, fliegen muss“; also „eine Freiheit von allem ‚Europa‘, letzteres als eine Summe von kommandirenden Werthurtheilen verstanden, welche uns in Fleisch und Blut übergegangen sind“ (FW, KSA 3, S. 632–633). Dass gerade der Jude als Entwurzelter, ein Heimatloser und Wanderer zugleich, diesem Vorbild entspricht, lässt sich unschwer aus anderen Aphorismen aus dem fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft entnehmen. Im Aph. 348 (Von der Herkunft der Gelehrten) definiert Nietzsche den Gelehrten als eine Figur, die aus jeder gesellschaftlichen Bedingung emporwachsen kann, „als eine Pflanze, die keines spezifischen Erdreichs bedarf“. Er muss deshalb seiner eigenen nationalen, familiären und persönlichen Tradition widersprechen und seine Überzeugung allein auf den Beweis stützen – was seit jeher „als ‚gute Arbeit‘ angesehn worden ist“. Der jüdische Gelehrte ist daher das perfekte Muster des Gelehrten, denn er ist aufgrund des „Rassen- und Classen-Widerwille[ns]“ gegen ihn „am wenigsten gewöhnt“, dass man ihm glaubt, und hält somit „grosse Stücke auf die Logik, das heisst auf das Erzwingen der Zustimmung durch Gründe“. Aus diesem Grund ist „Europa […] den Juden nicht wenig Dank schuldig; voran die Deutschen, als eine beklagenswerth deraisonnable Rasse“. Gleichsam in Anknüpfung an Lessings Über die Erziehung des Menschengeschlechts scheint Nietzsche hier die Juden als Erzieher der Menschheit auszuweisen: „ihre Aufgabe war es immer, ein Volk ‚zur Raison‘ zu bringen“ (FW, KSA 3, S. 583 ff.). Auch wenn Nietzsche den Juden mit der scheinbar pejorativen Bezeichnung Schauspieler belegt (FW, KSA 3, Aph. 361: Vom Probleme des Schauspielers), scheint er diese Eigenschaft ins Positive zu kehren. Der Wanderer, der Heimatlose, der es, wie wir gesehen haben, verlernt hat, sein eigenes Volk zu lieben, „weil er viele Völker liebt“, scheint die Voraussetzung für die Assimilationsfähigkeit der Juden zu sein: „jenes Volk der Anpassungskunst par excellence“ (FW, KSA 3, S. 609). Offenkundig hat Nietzsche die jüdischen Intellektuellen des deutschen 19. Jahrhunderts vor Augen: eine Klasse von Gelehrten, die im Zeichen einer Armen gewiegt, / Und das heilige Grün, der Zeuge des ewigen, schönen / Lebens der Welt, es erfrischt, wandelt zum Jüngling mich um“.
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erneuerten Aufklärung die zeitgenössische europäische Kultur der Kritik unterwarfen und dabei die Kritik der eigenen religiösen und kulturellen Wurzeln als Werkzeug verwandten. Es ist ein charakteristischer Widerspruch Nietzsches, dass das so umrissene Europa in offenem Gegensatz zu dem anderen im selben Zusammenhang (dem fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft) ersehnten Europa steht: dem Europa, das manu militari im Zeichen Bonapartes verwirklicht werden soll. Die Arbeit der jüdisch-deutschen Intellektuellen wird im 20. Jahrhundert noch entscheidendere Ergebnisse zeitigen und unbestreitbar ist Karl Löwith mit vollem Recht dazuzuzählen. Wer mehr als er, „Deutscher und Jude zugleich“ (Löwith 1986, S. 131–132), und als die anderen jüdisch-deutschen Emigranten, konnte sich aufgrund der eigenen persönlichen Geschichte als Wanderer und Heimatloser bezeichnen? Daher ist es erstaunlich, dass er das hier rekonstruierte zweite Europa-Modell, das Nietzsche vorschwebte, nicht erkannt hat, obwohl er die Bedingung der Juden mit Worten beschreibt, die gerade der Heimatlosigkeit Nietzsches entnommen zu sein scheinen.13 In Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933 stellt er bezogen auf die ausgewanderten Juden fest: „Der Notwendigkeit, in der Fremde heimisch zu werden, entsprach ihre Fähigkeit sich zu assimilieren, dagegen ist mir der Jude, als Einheit des Blutes und Glaubens, überhaupt nicht begegnet“ (Löwith 1986, S. 96). Und weiter: „Die Geschichte des jüdischen Volks beginnt schon mit einem Exil und nicht mit der Autochtonie aller übrigen Völker der Welt“ (Löwith 1986, S. 132).
Bibliographie Brömsel, Sven (2000): „Antisemitismus“. In Henning Ottmann (Hrsg.): Nietzsche Handbuch. Leben–Werk–Wirkung. Stuttgart-Weimar, S. 184–185. Ferrari Zumbini, Massimo (1999): Untergänge und Morgenröten. Nietzsche–Spengler–Antisemitismus. Würzburg. Ferrari Zumbini, Massimo (2003): Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus: Von der Bismarckzeit zu Hitler. Frankfurt a. M. Gould, Warwick/Reeves, Marjorie (20012): Joachim of Fiore and the Myth of the Eternal Evangel in the Nineteenth and Twentieth Centuries. Oxford. Hegel, Georg W.F. (1970): Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in Werke in zwanzig Bänden. Bd. 12. Frankfurt a.M. Hegel, Georg W.F. (1971): Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. In: Werke in zwanzig Bänden. Bd. 18. Frankfurt a.M.
13 Löwith versäumt allerdings nicht, hervorzuheben, dass Nietzsches Schriften gegen Wagner «und seine Bemerkungen zur Judenfrage, und zu der Gegenfrage was „deutsch“ ist, zu lesen seien (Löwith 1981, 254).
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Carlo Gentili
Heidegger, Martin (19895): „Der europäische Nihilismus“. In Nietzsche. Bd. 2. Pfullingen. Heine, Heinrich (1963): Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in Heines Werke in fünf Bänden. Bd. 5. Weimar. Hölderlin, Friedrich (1946): Sämtliche Werke (Kleine Stuttgarter Ausgabe). Bd. 1. Hrsg. von Friedrich Beissner. Stuttgart. Löwith, Karl (1981): Von Hegel zu Nietzsche – Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, in Sämtliche Schriften. Bd. 4. Stuttgart. Löwith, Karl (1983a): Der europäische Nihilismus. In: Sämtliche Schriften. Bd. 2. Stuttgart. Löwith, Karl (1983b): Vom Sinn der Geschichte. In: Sämtliche Schriften. Bd. 2. Stuttgart. Löwith, Karl (1983c): Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Zur Kritik der Geschichtsphilosophie. In: Sämtliche Schriften. Bd. 2. Stuttgart. Löwith, Karl (1983d): Das Verhängnis des Fortschritts. In: Sämtliche Schriften. Bd. 2. Stuttgart. Löwith, Karl (1986): Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Stuttgart. Löwith, Karl (1987): Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen. In: Sämtliche Schriften. Bd. 6. Stuttgart. Novalis (1983): Die Christenheit oder Europa. In: Schriften. Bd. 3. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz. Taubes, Jacob (20072): Abendländische Eschatologie. Berlin. Treitschke, Heinrich von (1899): Politik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin. Bd. I. Leipzig. Venturelli, Aldo (2010): „Die ‚gaya scienza‘ der ‚guten Europäer‘. Einige Anmerkungen zum Aphorismus 377 des 5. Buchs der Fröhlichen Wissenschaft“. In: Nietzsche-Studien 39, S. 180–200.
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Formen der Nietzsche-Rezeption in Berlin 1865 bis 1945 § 1 Die Bestimmung des Themas 1. Die Rezeption von Nietzsches Philosophie und Gestalt geschieht in vielerlei Formen: als informeller Kreis, als Bewegung und als Verein und organisierte Gesellschaft, als persönlicher Kult und Gemeinde, als wissenschaftliche Bearbeitung in Universität, Stiftung, Museum, Archiv.1 Am leichtesten fassbar sind Vereine oder Gesellschaften mit Satzung, Mitgliederlisten und einem regelmäßigen Programm. In Berlin gab es zwei Nietzsche-Gesellschaften dieser Art. Die erste, gegründet 1918 von Dr. Alfred Werner,2 und die 1929 von München nach Berlin gewechselte NietzscheGesellschaft unter der Leitung von Dr. Friedrich Würzbach. Schwerer zu erfassen sind Kreise (Zirkel), die informell bleiben und sich nicht ausschließlich mit Nietzsche befassen, wie der sogenannte „Berliner Kreis“ um Paul Rée und Lou von Salomé, die kurzlebigen, stark fluktuierenden aber intensiven Gruppierungen der Friedrichshagener am Müggelsee im Osten und der Neuen Gemeinschaft am Schlachtensee im Westen von Berlin (1900/02–1904). Die Gruppen brauchen Orte für Zusammenkünfte, Feiern, Selbstrepräsentation. Die Nietzsche-Gesellschaft von Dr. Würzbach lädt per Rundbrief zu NietzscheLektüre und Vortrag in die Geschäftsstelle.3 Die Neue Gemeinschaft bietet eine Villa mit Park für Feiern mit Rezitation von Nietzsche-Texten, Ansprachen und Musik. Großbürgerliche Salons, das gastfreie Haus von Konsul Auerbach, Galerien und Ateliers geben Raum für halböffentliche Lesungen und Vorträge vor geladenen Gästen. Der öffentliche Raum der Großstadt bietet viele Gelegenheiten. Rudolf Steiner hält in Nietzsches Todesjahr Vorträge „über den dahingegangenen Philosophen und Dichter“ an drei verschiedenen Orten und vor drei verschiedenen Gruppen:4
1 Einige Beispiele bei Cancik 1999a. 2 Satzung: GSA 72/3147; Korrespondenz: GSA 72/BW 5910 (1916–1921). 3 Schreiben der Hauptgeschäftsstelle an die Berliner Mitglieder vom 06.12.1929. 4 Referiert nach R. Steiner (1900): „Kurzer Auszug aus einem Vortrag über Friedrich Nietzsche“, in: Das Magazin für Litteratur 70, Nr. 39, Sp. 982–984. – Vgl. Lindenberg 1988; zu den Vorträgen am 13., 15., 18. September 1900, S. 21–27.
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a) im Kreise der Gesellschaft der „Kommenden“, wohl im Casino Nollendorfplatz5, b) für den „Verein zur Förderung der Kunst“ „im Rathaussaale“6, c) im „Architektenhaus“ (Wilhelmstraße 92–93), einem Zentrum für vielerlei Veranstaltungen.7 Die Großstadt verdichtet und beschleunigt die Kommunikation, erzeugt sozusagen Knoten, in denen sich auch heterogene Milieus, gegensätzliche Weltanschauungen und Geschmäcker – oft nur kurzfristig – verbinden; sie vervielfacht die Wirkung durch intensive publizistische Vor- und Nachbereitung in der lokalen und überlokalen Presse. 2. Die chronologischen Eckpunkte dieses Versuches sind die Jahre 1865 und 1945. Besuche Nietzsches in der preußischen Residenz-, Garnisons- und Universitätsstadt (1865 und 1867) sind der Ausgangspunkt. Das Ende ist die Zerstörung des zum einhundertsten Geburtstag Nietzsches geplanten „Jubiläumswerkes“ (1944) durch Bombenschaden und die Auflösung des „NordlandVerlags“ (1945), dessen Bestände, auf Anweisung des neuen Magistrats von Berlin, der Bergungsstelle oder der Makulaturverwertung zugeführt werden.8 Die Geschichte der Stadt in diesem Zeitraum und die Geschichte der Nietzsche-Rezeption in dieser Stadt könnten wechselvoller nicht sein. Die Residenzstadt des Königs von Preußen, in der Student Nietzsche einen Studienplatz suchte, wird zur Residenz eines deutschen Kaisers. Sie mutiert zum Industriestandort und einer explodierenden Stadtlandschaft, die Dörfer und Städte ihrer Umgebung verschlingt: Spandau, Steglitz, Köpenick, Pankow – einst „bei Berlin“, jetzt Vororte, Stadtteile. Am Ende des Zweiten Weltkriegs bleibt eine Ruinenlandschaft, deren Sanierung bis zum heutigen Tage nicht gelungen ist. Ein Ausschnitt nur aus dieser reichen Geschichte, einige wenige Beispiele für die vielfältigen Formen der Vergesellschaftung, die Institutionen, die Personen, welche die Berliner Nietzsche-Rezeption bestimmt haben, können in diesem Referat vorgestellt werden. 5 Die Gesellschaft der „Kommenden“, begründet von L. Jacobowski, ist ein freier Lesezirkel, der sich wöchentlich im Nollendorf-Casino trifft. Steiner gibt keinen Ort für diesen Vortrag an. 6 Wohl der Festsaal im Roten Rathaus; Abbildung einer Eintrittskarte mit Programmhinweisen (aus dem Rudolf-Steiner-Nachlaß, Dornach), in: Asmus 1984, Abb. S. 380, Katalog Nr. 1431. 7 Programm zur Nietzsche-Feier, Architektenhaus, Berlin W., Wilhelm-Straße 92–93, Dienstag, den 18. Sept. 1900 (aus dem Rudolf-Steiner-Nachlaß, Dornach), in: Asmus 1984, Katalog Nr. 1430. 8 Magistrat der Stadt Berlin, Abteilung für Volksbildung/ Büchereiwesen an die Bergungsstelle für Bibliotheken, Ermelerhaus, 20.09.1945; vgl. hier Abschnitt § 3.
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§ 2 Nietzsche im Berliner Kulturbetrieb § 2.1 Kreis, Salon, offenes Haus 1. Die früheste Phase einer gesellschaftlichen Nietzscherezeption in Berlin ist der sogenannte „Berliner Kreis“, der sich in den Jahren 1882 bis Winter 1886/ 87 um Paul Rée und Lou von Salomé versammelte.9 Es sind nicht Künstler oder Lebensreformer, sondern Schriftsteller, Wissenschaftler und Philosophen:10 Georg Brandes, Hans Delbrück, Paul Deussen, Hermann Ebbinghaus, Julius Gildemeister, Hugo Göring, Wilhelm Grube, Paul Güßfeldt, Wilhelm Halbfaß, Ludwig Haller, Max Heinemann, Ferdinand Laban, Rudolf Lehmann, Heinrich Romundt, Georg Runze; Carl, Baron von Schultz (Livland), Heinrich von Stein,11 Ferdinand Tönnies. Friedrich Nietzsche war noch nicht allen bekannt (Andreas-Salomé 1977, S. 89): „Dennoch stand er, gleichsam verhüllten Umrisses, in unsichtbarer Gestalt mitten unter uns“. So pathetisch formuliert Lou Andreas-Salomé in ihrem Lebensrückblick die Präsenz Nietzsches in ihrem Berliner Kreis. Nach der Trennung von Paul Rée löst sich dieser Kreis auf. Jetzt gewinnen Lou Andreas-Salomé und ihr Mann, Carl Friedrich Andreas, neue Beziehungen zu einem so genannten „Berliner Literatenkreis“. Im Lebensrückblick sind folgende Namen genannt (Andreas-Salomé 1977, S. 96–98): Wilhelm Bölsche, Richard Dehmel, Arne Garborg, Hulda Garborg, Max Halbe, Ola Hansson-Marholm,12 Heinrich Hart, Julius Hart, Gerhart Hauptmann, Arno Holz, Walter Leistikow, John Henry Mackay,13 August Strindberg,14 Bruno Wille. Die meisten dieser Personen sind mehr oder weniger stark mit Nietzsches Werk verbunden, aber nur noch Lou Andreas-Salomé selbst auch mit seiner Person. Nietzsche selbst wusste nichts von diesen Kreisen. Als im Juli 1888 Paul Deussen, der alte Freund, derzeit Professor in Berlin, ihm eine Geldspende ankündigt von Freunden aus Berlin, die ungenannt bleiben möchten, vermutet Nietzsche als Spender Paul Rée. Dieser lebt jedoch damals nicht mehr in Berlin.
9 Cancik u. Cancik-Lindemaier 2010, § 3.1. – Die Bezeichnung „Berliner Kreis“ bei AndreasSalomé 1977, S. 82. 10 Andreas-Salomé 1977, S. 90–91 mit den Erläuterungen von E. Pfeiffer: Andreas-Salomé 1977, S. 249–252. 11 Andreas-Salomé 1977, S. 82: Heinrich von Stein zählte im Winter darauf „zu den frühesten und treuesten Mitgliedern des Berliner Kreises um Paul Rée und mich“. 12 1860–1925; 1891–93 in Friedrichshagen; seine Studie über Nietzsche ist von Strindberg angeregt. 13 1864–1933; ab 1892 wohnhaft in Berlin; Anhänger und Herausgeber von Max Stirner. 14 1892 lernt Lou Andreas-Salomé ihn in Friedrichshagen kennen.
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Vielmehr ist ein vermögender Kollege Deussens, Dr. Richard Moritz Meyer (1860–1914), der Spender.15 Nicht Friedrich Nietzsche, wohl aber seine Familie kannte die Herkunft der Geldspende. Deshalb zählt die Schwester des Philosophen Meyer zu einer Berliner Personengruppe, die sie in einem Brief an Heinrich Köselitz (28.11.1892) „Nietzsche-Kreis“ nennt – dies ist der frühste Beleg für diesen Ausdruck in Deutschland16: „So herzlich wünschte ich Sie könnten ein Bischen in Berlin leben, man würde Sie in einem gewißen „Nietzsche“Kreis auf Händen tragen. […] Vorzüglich ein Dr. Kögel u. Dr. Meyer würden Ihnen sympathisch sein, sie lieben Nietzsche nicht bloß mit dem Kopf.“ 2. Dr. Friedrich Koegel (1860–1904), schreibt Harry Graf Kessler in sein Tagebuch, „ist ein grosser dunkler Mann mit einem schönen ausdrucksvollen Kopf, dessen genialem Aussehen er aber etwas zu sehr durch wirre Frisur und ‚Schinn‘ nachhilft“.17 Koegel komponiert, singt, spielt Klavier. Er vertont Nietzsches Gedichte und singt dessen Lieder und den Hymnus an die Freundschaft. Im Salon von Luise Begas-Parmentier (1850–1920) in der Genthiner Straße trägt Koegel „seine Nietzsche-Lieder“ vor.18 Die Mehrdimensionalität von Nietzsches Œuvre – Philologie, Musik, Philosophie, lyrische Prosa und Dichtung – verschafft ihm breite Wirkungsmöglichkeiten. Über die Gesellschaft im Salon Begas-Parmentier im Dezember 1895 gibt es einen anschaulichen Bericht von Walter Clairmont. Er schreibt seiner Mutter nach Wien:19 15 Belege bei Cancik u. Cancik-Lindemaier 2010, § 3.2; vgl. Feldhoff 2003, 138 zu Richard Moritz Meyer und der Spende (ohne neue Quellen oder Bezüge). 16 Elisabeth Förster-Nietzsche aus Nueva Germania an Köselitz, 28.11.1892 (GSA 102/302,1; Zitat auf S. 7); zu dem früheren „Nietzsche-Verein“ in Wien s. Abschnitt § 4.2. 17 Kessler 2004, S. 404–405, Naumburg – Leipzig, 26.10.1895 Sonnabend (S. 405): „Abends sang dann Kögel auch eigene Kompositionen nach Nietzscheschen Gedichten, die Tauben von San Marco, der Albatros, Unendlichkeit etc.; ergreifend schöne Stimmungsentwicklungen aus den Nietzscheschen Worten.“ – Vgl. Kessler 2004, S. 404–405, Leipzig, 27.10.1895: „Nachmittags spielte Kögel wieder im Prusse Nietzsches Hymne und seine eigenen Lieder.“ Vgl. F. Koegel (1901): Fünfzig Lieder, Leipzig: Breitkopf & Härtel. 18 Kessler 2004: Berlin, 12.12.1895: „Nachher mit Kögel bei Weingartner, der den Hymnus von Nietzsche dilettantisch findet, einen ‚Lindwurm‘ ohne rechten Schwung. Abends Dinner bei Frau Begas; Wildenbruchs, Oriolas, Geh. Rätin Abeken, Lynar, Bodenhausen. Dulong sang; auch Kögel seine Nietzsche-Lieder. Wildenbruch kannte die Gedichte noch nicht, sprach namentlich über den Albatros seine Bewunderung aus.“ – Zum Salon von Frau Begas(-Parmentier) vgl. Wilhelmy 1989, S. 609–610. – Im „Gesamtregister der Salongäste“ bei Wilhelmy 1989, S. 890–959, ist Koegel nicht genannt; hier ist zu beachten, daß Wilhelmy die Tagebücher Kesslers noch nicht benutzen konnte. 19 Christoph Clairmont, „Eine Abendgesellschaft in Berlin im Jahre 1895“, mitgeteilt von C. C., Ernen, Schweiz, in: navigare.de 9. 1999 (www. navigare.de/hofmannsthal/abend.htm). Walter Clairmont schreibt am 15.12.1895 aus Berlin-Schöneberg an seine Mutter Ottilie Clairmont-von Pichler nach Wien. Vgl. F. Koegel an Kathinka Travers, 23.12.1895: „Neulich in Berlin habe ich in mehreren Gesellschaften schon tüchtig singen müssen: und es ging, wenn
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Denke Dir eine Gesellschaft von circa 15–20 Köpfen seit 6 Uhr beisammen durch ein zweifellos gutes diner erheitert, dessen Abglanz noch auf allen Gesichtern zu lesen war. Jedes Mitglied auf irgend einem rechten oder fictiven Weg mit der Kunst liiert & in diese leiblich und geistig aufgeregte Menge trete ich um ½10 Uhr mit aller Fabriks-nüchternheit. Frau Begas meint es wirklich gut mit mir, sie setzte mich in einen Tropfen blauen Blutes. – Es ist interessant wie sie ihre Bekannten classifiziert. Letztes Mal die künstlerische Bourgeoisie, heute die oberen Zehntausend, denen als Lockspeise einige illustre Namen vorgesetzt wurden; mit welchem Rechte ich dort wandelte ist mir eigentlich unklar. […] Ein Componist [sc. Fritz Koegel] trug theils seine theils Nietzsche’sche (der Name ist so compliciert, wie die Werke) Compositionen auf dem Klavier vor, die aber gänzliches Fiasco erzielten. Der Arme tat mir leid; er hatte sich offensichtlich an die Schleppe der Adligen geheftet, um vorwärts zu kommen & las sein Todesurtheil von ihren Mienen. Vielleicht ist es nicht so gefährlich, als ich es da schildere, aber er machte einen so unsicheren & ungewandten Eindruck, […].
Der Bericht lehrt, dass Nietzsche und seine Musik im Jahre 1895 bei den „oberen Zehntausend“, ja beim „Blaublut“ in Berlin angekommen war. 3. Eine völlig andere Gesellschaft trifft sich im Januar 1901, wenige Monate nach dem Tode des Philosophen, zu einer Gedenkfeier mit einem Vortrag von Gustav Landauer. Nicht Blaublut, Ordensblech und künstlerische Bourgeoisie trifft sich zu Dinner und Unterhaltung, sondern, so Karin Bruns in der Analyse der Mitglieder- und Teilnehmerlisten der „Neuen Gemeinschaft“, die klein- und bildungsbürgerlichen Kreise Berlins (Bruns 1998, S. 358–371, bes. S. 367). Sie vertreten anarchistische und sozialistische Konzepte (Gustav Landauer, Erich Mühsam), Reformpädagogik und Ökologie. Die Beamtenschaft ist „auffallend wenig“ vertreten. Feuilletonisten, Theaterkritiker, Kunstschriftsteller bilden den ‚inneren Kreis‘ der Neuen Gemeinschaft. Vor diesem Publikum also hält Gustav Landauer im Jahre 1901, zu Beginn des neuen Jahrhunderts, einen Vortrag über Nietzsche.20 Der Programmzettel vom 20.01.1901 zeigt ein professionelles Arrangement der Feier.21 Auf Landauers Vortrag folgt eine Lesung aus Nietzsches Zarathustra (Dr. Emil Geyer), dann Musik: das „Largo“ von Händel, gefolgt von Wagners Charfreitagszauber; schließlich der Auftritt von Nietzsches Erben: Hedwig Lach-
auch nicht so gut so doch besser als schlecht“ (GSA NZ 06/07; Hinweise von Cornelius Lüttke). 20 G. Landauer: Nietzsche, 1901, Landauer-Archiv, Jerusalem; Text veröffentlicht von Hanna Delf von Wolzogen, Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 44, 1992, S. 302–321; der Vortrag galt als verschollen, s. Holste 1991, S. 173. Für die freundliche Auskunft danken wir Herrn Christoph Knüppel, Herford. 21 Programmzettel bei Elazar Benyoetz, in: Castrum Peregrini 71, Amsterdam 1966, S. 45; vgl. Holste 1991, S. 169–170. Das Programm konnte im Findbuch des Hart-Archivs, Dortmund, nicht nachgewiesen werden.
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mann liest Gedichte von Stefan George. Die Feier wird abgeschlossen durch eine „Ansprache“ des Mitbegründers der Neuen Gemeinschaft, Heinrich Hart.22 Ort und Ausstattung der Feier konnten bisher nicht ermittelt werden. Die um dieselbe Zeit abgehaltenen Feiern zum Gedächtnis von Giordano Bruno (1900 und 1901) sind dagegen gut dokumentiert.23 Da ist eine Bruno-Büste aufgestellt, „tiefsinnige Ideenbilder von Fidus“ schmücken den Saal: Zwischen Lorbeerbäumen steht ein mächtig wirkendes Bild Giordano Brunos von Fidus „auf einem altarähnlichen Tische“; die Büste Brunos wird flankiert von Büsten Goethes und Spinozas; am Rednerpult das Goethebild von Fidus, an der Wand das Porträt Haeckels. Auch hier gibt es Vorträge, Rezitation und Musik, das Vorspiel von Wagners Parzifal und einen Satz von Beethoven, jeweils auf dem Harmonium. Nach diesem Muster lässt sich die Nietzsche-Feier der Neuen Gemeinschaft vorstellen. Das Programm dieser Feier ist professionell und beziehungsreich. Allerdings bleibt es, soweit wir sehen, die einzige Veranstaltung der Neuen Gemeinschaft, die ganz dem Philosophen und Dichter gewidmet ist. Andererseits stand im Entree der Villa am Schlachtensee, welche die Gemeinschaft im Mai 1902 gepachtet hatte, eine Nietzsche-Büste. Im Jahre 1903 feierte die Gemeinschaft hier „neue Dionysien“ – doch wohl kaum ohne Bezug auf den Dichter der Dionysos-Dithyramben und der dionysisch-apollinischen Geburt der Tragödie.24 Doch fehlen uns für die Villa wie für die Dionysien literarische und photographische Dokumente, die den Nietzsche-Bezug veranschaulichen könnten.
§ 2.2 Öffentliche und halböffentliche Veranstaltungen § 2.2.1 Die Freie litterarische Gesellschaft zu Berlin Die Formen der Nietzsche-Rezeption in Berlin, die bisher vorgestellt wurden, sind: (a) Rezitation von Nietzsche-Texten, (b) Vortrag von Kompositionen Nietzsches, (c) neue Vertonung und Gesang von Nietzsches Gedichten, (d) Vorträge
22 Zum Nietzsche-Verständnis Heinrich Harts vgl. Hart, Heinrich 1907, S. 159–199, vermittelt durch Krummel 1974, S. 90–91. 23 Cepl-Kaufmann u. Kauffeldt 1994, 351: Gedächtnisfeier für Giordano Bruno am 18. Februar 1900 im Beethovensaal, Köthener Straße Nr. 32; dieser Saal wurde 1898 als Erweiterung und Ergänzung der ersten „Berliner Philharmonie“ (Bernburgerstraße 22a/23) errichtet. Vgl. S. 358: Vortrag von Bruno Wille über „Materie nie ohne Geist“ (Druck Berlin 1901); vgl. Abb.19 auf S. 361. – Zu den religionswissenschaftlichen Zusammenhängen vgl. Cancik 1987a. 24 „Neue Dionysien“: 21.-22.02.1903.
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in mehr oder weniger festem Rahmen. Sogar auf dem Pressefest im Reichstag (November 1900) erklangen Worte von Friedrich Nietzsche:25 Vorn war ein Podium, ein Flügel darauf. Dort stellte sich die Sängerin Tilly Koenen hin und sang Worte von Friedrich Nietzsche, komponiert durch Arnold Mendelssohn. Die Lichter fielen auf sie hernieder, ich mein: der Schein der Lichter, und die vollen Töne zogen durch den runden Raum, Aber die Aufmerksamkeit war nicht stark, […].
Andere Veranstaltungen sind weniger spektakulär, aber doch eine Notiz in der Presse wert:26 In der Freien litterarischen Gesellschaft, die sich am 10. April (sc. 1891) zu einem ihrer Vortragsabende vereinte, wurde der anerkennenswerte Versuch gemacht, ein paar gehaltvolle Abschnitte aus Friedrich Nietzsches modernem Andachtsbuche ‚Also sprach Zarathustra‘ dem Publikum näher zu bringen. Der Versuch mißlang vollständig. Es zeigte sich die beschämende Tatsache, daß eine auserlesene Schar von Litteraten und Litteraturfreunden achtlos und verständnislos die Geistesblitze eines Denkers hinnahm, der zu den genialsten und gewaltigsten in der Gegenwart gerechnet werden muß […].
Das uneingeschränkte Lob des Berichterstatters ist ebenso bemerkenswert wie seine Charakteristik des Zarathustra als „modernes Andachtsbuch“ und die Anonymisierung des erfolglosen Referenten. Ein Jahr später hat Dr. Kögel in den Festsälen Beuthstraße 20 mehr Erfolg:27 Das zahlreiche Publikum, das der von der Gesellschaft am 12. Januar veranstaltete Diskussionsabend in den Festsälen des Vereins junger Kaufleute vereinigte, bewies die sichtlich steigende Teilnahme an Friedrich Nietzsche. Herr Dr. Rudolf Kögel gab ein mit vieler Liebe und Feinheit ausgeführtes Bild des merkwürdigen Mannes als Menschen, Philosophen und Künstlers und erntete dafür die lebhafte Anerkennung der aufmerksamen Zuhörerschaft. In der Diskussion wurden einige Ergänzungen zu diesem Bilde gegeben, doch
25 Kerr 1999, S. 43. – Arnold Ludwig Mendelssohn, Sohn eines Vetters von Felix Mendelssohn-Bartholdy (1855–1933); vgl. Thatcher (1975; 1976; 1985). 26 C. G. (Curt Grottewitz), in: Magazin für Litteratur 60, Nr. 16, vom 18.04.1891, S. 256. Die Gesellschaft wurde 1890 gegründet, vgl. Magazin 45, 1890, S. 712: „Anruf“; im Vorstand sind: Theodor Fontane, Heinrich Hart, Ernst von Wolzogen, Wilhelm Bölsche, Otto NeumannHofer; alle Vorstandsmitglieder haben Adressen in und bei Berlin. 27 Dr. Alfred Dresdner, Berlin W. Lützowstr. 96, in: Magazin für Litteratur 61, Nr. 5, vom 20.01.1892, S. 88. – Vgl. die Anzeige des Vortrags im Berliner Tageblatt 21, Nr. 18, Montag 11.01.1892: „Am Dienstag den 12. Januar Abends 8 Uhr findet in den Festsälen Beuthstr. Nr. 20 ein Vortragsabend der Freien literarischen Gesellschaft statt. Herr Dr. Rudolf Kögel wird über Friedrich Nietzsche sprechen. An den Vortrag schließt sich eine Diskussion an.“ In Bericht wie Anzeige wird Dr. Kögel der Vorname „Rudolf“ beigelegt. Zwar gibt es im Berliner Adreßbuch von 1891 und 1892 einen Oberhofprediger Dr. Rudolf Kögel, doch dürfte hier als Redner Dr. Fritz Koegel anzusetzen sein. (Hinweis von C. Lüttke).
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zeigten sich auch Richtungen, die der Nietzscheschen Weltanschauung schnurstracks entgegenliefen. Der Gesellschaft brachte dieser Abend wieder einen nicht unbeträchtlichen Zuwachs an Mitgliedern.
§ 2.2.2 Kunstsalon a) Eine besondere Form und einen besonderen Ort für die Präsentation von Nietzsche-Texten wählte sich im Januar/Februar 1899 Richard Dehmel.28 Der besondere Ort ist die Kunsthandlung und permanente Kunstausstellung der Firma Keller & Reiner in Berlin W.29 Ihre modern-stilvoll von Henry van de Velde (Brüssel) und A. Messel (Berlin) ausgestatteten Räume, geschmückt mit Gemälden von Ludwig von Hofmann (1861–1941), Walter Leistikow (1865–1908) und Franz Skarbina (1849–1910) fassen bis zu hundert Hörer. Durch einen starken Eintrittspreis (80 Mark) sollte allerdings das sogenannte Massenpublikum ausgeschlossen werden. Hier präsentierte Dehmel einen Zyklus von sechs lyrischen Vorträgen, jeweils eingeleitet von dem „Kunstschriftsteller“ Arthur Moeller-Bruck.30 Der Zyklus ordnet Nietzsches Zarathustra ein in die Geschichte der modernen Lyrik. Das Programm disponiert wie folgt: I. Nietzsche (Stücke aus Also sprach Zarathustra), Liliencron. II. Holz (ältere Dichtungen), George, Holz (Phantasus-Dichtung). III. Schlaf, Przybyszewsky, Scheerbart. IV. Altenberg, Hofmannsthal. V. Dauthendey, Mombert. VI. Dehmel. Die Veranstaltung wurde, nicht zuletzt dank der energischen Vortragskunst von Richard Dehmel, ein Erfolg, der sogar in die Provinz ausstrahlte. Die Kölni-
28 Gustav Kühl, Lyrische Vorträge, in: Die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst 19, Nr. 236, vom 06.04.1899, S. 26–27 (Hinweis von Christoph Knüppel). 29 Keller & Reiner, Berlin W, Potsdamer Str. 122, Inh. M. Keller und C. R. Reiner. Unter den Zuhörern: Gustav Landauer, Hedwig Lachmann. 30 Die fünf Einleitungen des „Kunstschriftstellers“ Arthur Moeller-Bruck (Moeller van den Bruck, 1876–1925): Pan 5, H. 1 (August 1899), S. 25; die Einleitung von Dehmel zum 6. Abend ist abgedruckt ebd. S. 25–26. Zu Richard Dehmels wechselnden Ansichten über Nietzsche, insbesondere dessen Zarathustra, vgl. Gustav Kühl, Dehmel und Nietzsche, in: Die Zeit (Wien) 187 vom 30. April 1898, S. 71–73; Dr. S. Simchowitz (Köln), Richard Dehmel, in: Die Kultur. Halbmonatsschrift, Bd. 1, Juli-Dezember 1902 (Köln am Rh.), S. 47–53 und die Entgegnung Dehmels auf diese Charakteristik, ebd. S. 54–66, mit deutlicher Distanzierung von Nietzsches Psychologie und Ethik.
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sche Zeitung meint, die Berliner Veranstaltung sei „nachahmenswert“, das heißt, auch in Köln könne man doch so etwas arrangieren.31
§ 2.3 Die Medien § 2.3.1 Das Magazin für Litteratur und Fritz Koegel Die Berliner Zeitungen und Zeitschriften berichten über diese öffentlichen und halböffentlichen Veranstaltungen. Sie publizieren aber auch mancherlei Pröbchen aus einem schier unerschöpflichen Nachlass. Immer wieder neuen Stoff liefern der Disput um Nietzsches Leben und Krankheit32 oder die Querelen um das Archiv, die vielfach wechselnden Herausgeber oder die Rivalität zwischen dem großen Weimarer und dem kleinen, aber hoch angesehenen NietzscheArchiv in Basel (Bernoulli 1908) oder der Streit um die Eigentumsrechte an persönlichen Briefen. Auch dadurch bleibt das Interesse an dem kranken Philosophen und seinem unabgeschlossenen Werk lebendig. Frau Förster-Nietzsche hatte die Bedeutung der Medien frühzeitig erkannt und in Fritz Koegel einen kompetenten Berater gefunden. Mit Koegel (02.08.1860–20.10.1904) werden eine neue Generation der Nietzsche-Rezipienten in Berlin und ein neuer Pfad der Rezeptionsgeschichte sichtbar.33 Koegel gehört nicht mehr wie Mushacke, Deussen, von Gersdorff, Lou Salomé, Paul Rée zu den persönlichen Freunden von Friedrich Nietzsche in Berlin. Erst um 1889 hatte Koegel begonnen, Nietzsche zu studieren. Und für ihn tritt nun entschieden neben Person und Werk des Philosophen dessen Schwester und ihr Archiv. Koegel, vielseitig begabt, zeichnet sich aus durch Arbeitskraft, organisatorische Fähigkeit, kommunikative Präsenz und Kreativität. Sein kurzes und intensives Leben hat Wilhelm Schäfer in eine biographische Erzählung Die Mißgeschickten (1909) gebracht, die jetzt, mit einer für uns Nachgeborene sehr notwendigen historischen Kommentierung, wieder veröffentlicht worden ist.34 Schon 1892 publiziert Koegel anonym ein eigenes Buch Aphorismen. Seit 1890 Verwaltungsdirektor der neu gegründeten Deutsch-Österreichischen Man31 Kölnische Zeitung Nr. 227, vom 22.03.1899 (ungezeichnet). Der Bericht ist sehr detailliert, gibt auch den Eintrittspreis an (80 Mark), sieht Nietzsche als Rhetor und Prediger, nicht als Lyriker oder Dichter. 32 E. Förster-Nietzsche, „Nietzsche-Legenden“, in: Die Zukunft (Hg. Maximilian Harden, Berlin), 28. Jan. 1905. 33 Vgl. Franz Overbecks Charakterisierung in seinem Kirchenlexikon: „Nietzsche (Kögel)“, in: OWN 7/2, 1999, S. 103–105, und „Nietzsche u. (Fr.) Kögel“, OWN 7/2, 1999, S. 106. – Vgl. Cancik u. Cancik-Lindemaier 2010, § 3.3.2. 34 Wilhelm Schäfer, Die Missgeschickten. Mit Kommentar und einem Nachwort neu herausgegeben von Christoph Knüppel und Cornelius Lüttke, Bielefeld 2011.
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nesmannröhren-Werke, residiert er bis Ende September 1893 in Berlin am Pariser Platz, zwischen Liebermann-Palais und Französischer Botschaft. In Berlin schreibt er sein Aphorismenbuch: Vox humana. Auch ein Beichtbuch (1892). Er formt Erfahrungen, die er mit Patentarbeit bei Mannesmann, Verträgen, Reisen, Management gemacht hatte, zu „gutgefaßten Sprüchen und Aphorismen“.35 Die Sammlung erschien ohne Autor-Namen und Bild. „Vox humana“ – ein Mensch spricht: „Nur Stimme, keine Gestalt …“.36 Seine berufliche Stellung in Berlin, die verdeckten Hinweise auf die Geschäftswelt und der deutliche Anschluss an Nietzsche empfahlen offenbar zunächst die Anonymität. Kurz nach Beendigung seiner Mannesmann-Tätigkeit publiziert er, ohne Jahresangabe doch noch Ende 1893, als Fortsetzung Gastgaben. Sprüche eines Wanderers. Auf dem Titelblatt offenbart er sich mit dem Zusatz „Verfasser der Vox humana“.37 Schließlich gelang es der Familie Oehler-Nietzsche, Koegel als Herausgeber für eine Nietzsche-Gesamtausgabe zu gewinnen.38 Von April 1894 bis 1897 arbeitet Koegel dann in Naumburg und Weimar an Nachlass und Gesamtausgabe. Im Rahmen dieser Arbeit für das Archiv berät er, wie berichtet, die Archivleiterin auch über die deutsche Zeitschriftenlandschaft. Er unterbreitet ihr brieflich eine Übersicht über den deutschsprachigen Zeitschriftenmarkt, die Herausgeber, die Honorare, die Tendenz.39 Die Deutsche Rundschau, so Koegel, sei am besten für die Veröffentlichung der kleineren Aufsätze Nietzsches geeignet, weniger Nord und Süd, Unsere Zeit, Deutsche Revue oder Preußische Jahrbücher.40 Mit den Redaktionen der Rundschau, des Magazin für Litteratur und
35 Anonym, Vox humana. Auch ein Beichtbuch, 1892, 232 S. Die Vorrede datiert April 1891. Das Konzept zu dem Buch entstand im 1890 in Pallanza am Lago Maggiore; vgl. F. Koegel an Ida Coblenz, 17.06.1892, abgedr. in: George 1983. – Vgl. Schäfer 1909, S. 29: „Er hatte in Berlin, noch als Direktor doch anonym ein Buch herausgegeben, das einen Haufen jugendlicher Weisheit in gutgefaßten Sprüchen und Aphorismen brachte und sich im ganzen als Lesefrucht des Philosophen gab, der damals in Deutschland überall […]“. 36 Zur Anonymität vonVox humana vgl. auch den Titel Menschliche Heimlichkeiten, den Koegel als eine seiner Veröffentlichungen hat eintragen lassen: „Gesellschaft von Berlin, Handund Adreßbuch für die Gesellschaft von Berlin, Charlottenburg, Potsdam, 2. Jahrgang, 1891/ 2“. Der Eintrag verweist auf „Menschliche Heimlichkeit“ in der Vox humana und „Heimlichkeiten“ in den „Gastgaben“ (Hinweis von C. Lüttke). 37 F. Koegel, Gastgaben. Sprüche eines Wanderers, Leipzig (G. Naumann), 1893, 127 S. – Ankündigung: Koegel an Ida Coblenz, 17.06.1892. 38 Einzelheiten zu der Entlassung von Köselitz und der Anstellung von Koegel am Archiv bei Hoffmann 1991, S. 140–156. 39 F. Koegel, Berlin NW 7, In den Zelten 20 II, 20. Oktober 1893 an E. Förster-Nietzsche (GSA 72/BW 2839). 40 „Deutsche Rundschau“: literarische und wissenschaftliche Zeitschrift, gegründet 1874 von Julius Rodenberg (1831–1914), erschienen im Gebrüder Paetel Verlag, Berlin;
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der Zukunft hat der tatkräftige Koegel bereits Kontakt aufgenommen und sehr positive Antworten von Neumann-Hofer, dem Herausgeber des Magazin, und Maximilian Harden, dem Herausgeber der Zukunft, erhalten.41 Unmittelbar darauf publiziert Koegel Ein ungedrucktes Vorwort zur Götzendämmerung mit kurzer Einleitung und einigen Erläuterungen.42 Im Dezember 1893 veröffentlicht Frau Förster-Nietzsche in dem Berliner Magazin Nietzsches Vorträge „Über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten“ mit einer kleinen, recht persönlichen Einleitung.43 Die Redaktion des Magazins erweckt auf der Titelseite des Heftes mit der Annonce dieses Beitrags höchste Erwartungen: Hiermit eröffnet Nietzsches Schwester, Frau Dr. Elisabeth Förster-Nietzsche die Drucklegung der noch nicht veröffentlichten Schriften Nietzsches aus sämtlichen Perioden seines schriftstellerischen Wirkens. Diese Schriften, von denen unter der wenig angemessenen Bezeichnung ‚Nietzsches Nachlaß‘ in der Presse vielfach die Rede war, liegen in einer ziemlich beträchtlichen Zahl von Handschriften vor. Sie werden zum größeren Theil durch die Presse veröffentlicht werden, bevor sie in die rechtmäßige Gesamt-Ausgabe der Werke Nietzsches übergehen, über deren Erscheinungszeit und Erscheinungsweise noch keine endgiltigen Verfügungen getroffen sind.
Die Verwertungskette von Nietzsches Manuskripten wird immer länger und ergiebiger.
§ 2.3.2 Pan a) Die majestätische Kunstzeitschrift der Genossenschaft Pan erscheint in fünf Jahrgängen von 1895 bis 1900. Der Sitz des Aufsichtsrats der Genossenschaft
„Deutsche Revue über das gesamte nationale Leben der Gegenwart“; Beginn: 1877; Das Magazin für Litteratur, in Berlin erscheinende literarische Wochenschrift, gegründet 1832 von Joseph Lehmann. 41 Vgl. Köselitz an Overbeck, Annaberg 19. November 1893 (KOB 1998, Nr. 206, S. 393): „Kögel hat die Beziehung zwischen Frau Dr. Förster und dem Magazin zu Stande gebracht.“ Vgl. auch Hoffmann 1991, S. 140. – Das Magazin für Litteratur kündigt bereits zu Beginn des 61. Jahrgangs (Berlin, den 2. Januar 1892) unter den größeren Arbeiten, die im folgenden Quartal veröffentlicht werden sollen, an: „Friedrich Nietzsche. Ungedruckte Briefe und Aphorismen“. 42 Friedrich Nietzsche. Ein ungedrucktes Vorwort zur Götzendämmerung. Erläutert von Fritz Koegel, in: Das Magazin für Litteratur 62, 1893, Nr. 44, S. 702–704. – Vgl. Hoffmann 1991, S.141. 43 Das Magazin für Litteratur, 62. Jahrgang (Berlin, den 30. Dezember 1893), Nr. 52, S. 825 ff.; Einleitung: S. 825–826. – Zur weiteren Verbindung des „Magazin“ mit dem Weimarer Archiv vgl. Hoffmann, 1991, S. 251–253: Koegel als möglicher Herausgeber des Magazins; Rudolf Steiner übernimmt im Juli 1897 die Herausgeberschaft; Förster-Nietzsche, so Hoffmann, habe das Magazin „gewissermaßen zum Nietzsche-Organ“ machen wollen.
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und der Redaktion der Kunstzeitschrift ist Berlin.44 Harry Graf Kessler, ein guter Kenner des Nietzsche’schen Werkes, vertraut mit dem Archiv in Naumburg (seit 1895) und Weimar und geschätzt von seiner Leiterin, arbeitet in Redaktion und Aufsichtsrat des Pan (Neumann u. Schnitzler 1997; Wollkopf 1990, S. 125–167). Das prächtige Druckwerk beginnt den ersten Jahrgang mit einem NietzscheText auf Seite 1: „Zarathustra vor dem Könige“.45 Heft 3 dieses Jahrgangs zeigt Nietzsche in der Gartenlaube in einer Heliogravüre von Curt Stoevings Bild.46 Der zweite Jahrgang (Heft 2) bringt Sprüche Zarathustras und eine Komposition Nietzsches (Die junge Fischerin).47 In den folgenden Heften erscheinen Jugendgedichte (mit Facsimile),48 fünf Freundesbriefe49 und im letzten Jahrgang wieder ein Bild Nietzsches, die retuschierte Radierung von Hans Olde.50 b) Am Ende des ersten Jahrgangs steht eine Liste der Mitglieder der Genossenschaft Pan, die bis zum 15. März 1896 angemeldet waren, sowie derjenigen Abonnenten, deren Namen „ermittelt werden“ konnten.51 Den Anfang machen vier Majestäten – die Könige von Bayern, Sachsen, Württemberg und Schweden. Es folgt eine illustre Gesellschaft von vielen Künstlern, einigen Professoren, mehreren Bankiers und Bankdirektoren; Dr. Wilhelm Bode, Direktor an den Königlichen Museen, der Kgl. Ceremonienmeister von Kotze; auch Frau Begas-Parmentier ist aufgelistet und Privatdozent Curt Stoeving. Eine soziologische Analyse der Liste ist uns nicht möglich. Doch auch ohne diese ist deut-
44 Der Sitz des „Aufsichtsrat der Genossenschaft Pan“ ist Berlin W, Mohrenstraße 45; die Redaktion unter Caesar Flaischlen residiert in Berlin W, Kurfürstenstraße 44. 45 Zarathustra vor dem Könige von Friedrich Nietzsche (Fragment), Pan. Jahrgang 1, 1895/ 96, H.1, S.1; vgl. ebd., H. 2, S. 94 a: Der Riese. Friedrich Nietzsche (datiert: „Turin, 21. April 1888“). Bilder und Texte aus dem Pan sind zitiert nach der digitalisierten Ausgabe: Persistente URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/pan. 46 Curt Stoeving, „Friedrich Nietzsche“, Pan 1, 1895/96, H. 3, S. VI. 47 Nietzsche, Aus den Sprüchen Zarathustras (Fragmente), Pan 2, 1896/97, H. 2, S. 85–88; Die junge Fischerin. Gedichtet und componirt von Friedrich Nietzsche (in den Jahren 1862 und 1865); Gesang und Piano, ebd., S. 120 a-d. 48 Jugendgedichte von Friedrich Nietzsche, Pan 3, 1897/98, H. 2, S. 103 f.; davor, auf S. 102a, das Gedicht: „Noch einmal eh ich weiterziehe“ als Facsimile. 49 Fünf Freundesbriefe von Friedrich Nietzsche (u. a. an Dr. von Stein; R. von Seydlitz; Prof. Dr. Paul Deussen), Pan 4, 1898/99, H. 4, S. 167–170. 50 Pan 5, 1899/1900, H. 4 als Lose Beilage in Folioblättern in der Künstler und Vorzugs-Ausgabe. In demselben Heft, S. 233–235: Elisabeth Förster-Nietzsche, Einiges von unseren Vorfahren. – Der sogenannte„Große Nietzsche-Kopf“ entstand im Sommer 1899 im Auftrag (1897) des Pan. Auf Wunsch der Redaktion sollten „die pathologischen Momente“ möglichst nicht betont werden; das Kinn Nietzsches wurde, auf den Einspruch von E. Förster-Nietzsche hin, gegen Oldes Willen, auf der offiziellen Platte verkürzt; vgl. Asmus 1984, Abb. 379 und Katalog Nr. 1426, mit Erläuterungen. 51 Pan 1, 1895/96, H. 5, S. 274 g-k.
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lich: Im Medium einer Prachtausgabe wie Pan werden die Poesie, die Philosophie und die Gestalt Friedrich Nietzsches einigen Teilen der vermögenden, künstlerischen und wissenschaftlichen Elite der jungen Reichshauptstadt durchaus akzeptabel.
§ 3 Das Ende der Berliner Nietzsche-Rezeption (1943/45) § 3.1 Übersicht § 3.1.1 Die Geschichte, wie Nietzsche, seine Person, sein Werk, sein Mythos in Berlin aufgenommen wurden, beginnt mit den Besuchen, die Student Nietzsche der Hauptstadt Preußens abgestattet hat. Die Geschichte wird fortgesetzt von den unmittelbaren Freunden und Bekannten Nietzsches in Berlin – Deussen, Rée, Lou von Salomé, von Gersdorff – und im Kultur- und Wissenschaftsbetrieb der Metropole im neuen Kaiserreich. Die Geschichte der Nietzsche-Rezeption in Berlin endet mit der Verlagerung, Auflösung, Zerstörung der zahlreichen Einrichtungen, Ämter, Verlagshäuser, Druckereien, die seit 1933 die Verbreitung ausgewählter Lehren des Philosophen besorgt hatten. Als Prophet oder tragisch gescheiterter Vorläufer der völkischen Bewegung wird er in neuen Formen der Rezeption benutzt: zu parteipolitisch gelenkter, staatlich geförderter Agitation, Schulung, kultureller Propaganda im Ausland, für Lebensfeiern bei der Schutzstaffel. „In der Gestaltung meiner Lebensfeiern (Toten-, Geburts-, Hochzeitsfeiern)“, schreibt Fritz Mundhenke im Oktober 1944 an das Archiv, „stütze ich mich im wesentlichen auf Nietzsche, komme auch in meinen weltanschaulichen Vorträgen immer wieder auf ihn zurück.“52 Der Obersturmbannführer der Schutzstaffel will durch Nietzsche die Deutschen zu einem Herrenvolk erziehen. Die Vorträge von Fritz Mundhenke haben folgende Gliederung: 1. Der Verfall der europäischen Seele 2. Nietzsche und das Programm der NSDAP 3. Nietzsche und die Schutzstaffel in ihren Sonderaufgaben.
52 Fritz Mundhenke schreibt aus Bad Gastein an das Nietzsche-Archiv in Weimar, 10.10.1944, (GSA 72/1800 (M)); vgl. Cancik 1999a, S. 151 f. – Mundhenke (geb. am 02.02.1898 in Celle/ Hannover) war 1944 in der SS Standarte 89 „Holzweber“, Wien, Obersturmbannführer (vgl. http://forum.axishistory.com/viewtopic.php?t=73188).
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§ 3.1.2 In der Hauptstadt konzentrieren sich die Einrichtungen des nationalsozialistischen Staates, der Partei und ihrer zahlreichen Gliederungen: das Reichspropagandaministerium, dessen Leiter, der Dichter und Politiker Joseph Goebbels, ein glühender Anhänger Nietzsches war; das Amt Rosenberg für die gesamte geistige und weltanschauliche Erziehung der NSDAP (Bollmus 1970; vgl. Mittmann 2006, S. 163 ff.), die „Forschungs- und Lehrgemeinschaft Ahnenerbe“ der Schutzstaffel in einem exklusiven Villenviertel von Berlin-Dahlem, Pücklerstr. 16, einst Domizil des nichtarischen Bankiers Rudolf Löb.53 Viele Verlage der Hauptstadt haben Nietzscheana in ihrem Programm: Widukind-Verlag, Berlin-Lichterfelde (Ringstr. 47a),54 der Nordische Verlag Ernst Precht (Berlin SW 68, Wilhelmstr. 30),55 der Hans Pötsch-Verlag, Lichterfelde;56 in Steglitz und Tiergarten: Eckart-Verlag,57 Dr. Georg Lüttke Verlag, Junker und Dünnhaupt;58 der Nordland Verlag in Charlottenburg (W 50, Geisbergstr. 21), schließlich der Verlag der Stiftung ‚Ahnenerbe‘ in Dahlem.59
§ 3.2 Das „Jubiläumswerk“ (1943/1944) § 3.2.1 Im August/September des Jahres 1943 schließen Dr. Günther Lutz (Berlin) als Herausgeber der Beiträge zur Nietzscheforschung, der Verleger Dr. Georg Lüttke (Berlin), Staatsminister a. D. Dr. Richard Leutheußer (Weimar) als Vertreter der Stiftung Nietzsche-Archiv und der Gesellschaft der Freunde des Nietzsche53 Bähr 2006, 506–507. – Der „Zentralverlag der NSDAP Franz Eher Nachf.“ mit Hauptsitz in München hat ab 1. Januar 1933 eine Niederlassung in Berlin (Mitte, Zimmerstraße 88–89). 54 Hans Eggert Schröder, Nietzsche und das Christentum, Widukind-Verlag/ Alexander Boß/ Berlin-Lichterfelde/ 1937. 55 Gustaf Helmes, Heide – Christ – Anti-Christ, Nordischer Verlag Ernst Precht Berlin 1936; Tendenz: stark antisemitisch/antichristlich; rekurriert nicht auf Nietzsche. 56 Walter Pötsch, Die Grundlagen des jüdischen Volkes – Eine notwendige Abrechnung, 11. Aufl. 1941. 57 Wilhelm Michel, Nietzsche in unserem Jahrhundert, 1939 (38 S.) – Tendenz: Nietzsche sei nicht der Philosoph des Dritten Reichs, seine Kritik von Religion und Moral sei marxistisch. 58 Erich Ruprecht, Der Mythos bei Wagner und Nietzsche: seine Bedeutung als Lebens- und Gestaltungsproblem, 1938; Walter Spethmann, Der Begriff des Herrentums bei Nietzsche, 1935. 59 Die Einrichtungen, die sich mit Nietzsche befassen, die Adressen der Mitglieder von einschlägigen Vereinen und der Subskribenten von Zeitschriften liegen überwiegend im Westen und Südwesten von Berlin, nicht auf dem Prenzlauer Berg oder in Mahlsdorf. Die Verteilung entspricht der Topographie, die sich für Nietzsche im Berliner Kulturbetrieb (vgl. Abschnitt § 2) ergeben hat.
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Archivs einen Vertrag über die Herausgabe der Jahresgabe.60 Der einhundertste Geburtstag des Philosophen (15.10.1844/1944) steht bevor. Die Vorbereitungen in Weimar sind in vollem Gange. Die „Nietzsche-Gedächtnishalle“ neben der Villa Silberblick ist weitgehend fertiggestellt, nur der innere „Brennpunkt“ fehlt noch, ein „Nietzsche-Zarathustra-Denkmal“ für die „Apsis“ der Halle.61 Der Verleger Georg Lüttke war ein Kenner der Philosophie Nietzsches, verschwägert mit der Familie Koegel. Er vermochte die Hilfe von Mussolini zu mobilisieren, um die Lücke in der Apsis mit einer echten, wenn auch stark ergänzten, Antike zu schließen. Hierdurch und durch einen Prachtband über Leonardo da Vinci war der Lüttke Verlag für die Veröffentlichung eines „Jubiläumswerkes“ zu Nietzsches einhundertstem Geburtstag qualifiziert. Die Verbindung des Verlegers mit Dr. Günther Lutz sicherte das politische Umfeld des Unternehmens bei der Partei, bei der Schutzstaffel, im Sicherheitsdienst, im Propagandaministerium: In all diesen Einrichtungen ist Lutz engagiert. Seit 1942 ist Lutz Obergruppenleiter der Hauptstelle ‚Wissenschaftliches Schrifttum‘ im Amt ‚Wissenschaftsbeobachtung und -wertung‘ des Amtes Rosenberg. Auf Vorschlag von Richard Oehler wird Lutz 1942 Mitglied im Vorstand der Nietzsche-Gesellschaft.62 Damit waren auch in Berlin alle Voraussetzungen geschaffen, um, trotz kriegsbedingter Einschränkungen, das Jubiläumswerk fristgerecht zu vollenden. Der Satz ist auch 1943 weit gediehen. Der Probedruck zeigt reiche Bebilde-
60 Der Dr. Georg Lüttke Verlag ist 1943 ansässig in Berlin W 35, Kluckstr. 21 (Büro), BerlinSteglitz, Rückertstr. 10 (Privatadresse). Nach der Zerstörung des Verlagshauses in der Kluckstraße in der Nacht vom 28. zum 29.01.1944 versuchte der Verlag, in Berlin-Dahlem, Ruhlandallee 7–11 den Betrieb wieder in Gang zu bringen; allerdings „konnten nur wenige Akten und Materialien geborgen werden“ (Dr. Bock aus Berlin an das Nietzsche-Archiv in Weimar, 03.02.1944 (GSA 72/2311)). – „Schriftwechsel zur Raumabgabe an den Georg-Lüttke-Verlag“ im Hause Ruhlandallee 7–11 ist im Schriftwechsel der Forschungs- und Lehrgemeinschaft „Das Ahnenerbe“ erhalten (Bundesarchiv NS21/263, Band 12). 61 Eine Beschreibung der Halle bei R. Oehler 1938, S. 13–14; vgl. Cancik 1989, § 2: „Die Ankunft des Dionysos, Weimar 1944“. 62 Günther Lutz, geb. 05.08.1910; 1933 Eintritt in die SS; 1936 Promotion in Greifswald mit einer Dissertation über die Frontgemeinschaft, das Gemeinschaftserlebnis in der Kriegsliteratur (Greifswald 1936); sie ist „Reinhard Heydrich zugeeignet“. – Publikationen: „Nietzsche“, in: Th. Haering (Hg.), Das Deutsche in der deutschen Philosophie, Stuttgart u. Berlin 1941, S. 451–487; kurze Aufsätze im Deutschen Wissenschaftlichen Dienst (DWD), dessen Hauptschriftleiter Lutz war, u. a.: DWD Jg. 1, Nr. 8, 19.08.1940, S. 4: „Wissenschaft in Vergangenheit und Gegenwart. Nietzsches Vermächtnis. Zum 40.Todestag am 25. August“; DWD Jg. 2, Nr.70/71, 15.12.1941, S.12: „15 Jahre Nietzsche-Gesellschaft“; DWD Jg. 3, Nr. 23, 15.08.1942, S. 6 f.: „Nietzsches Bibliothek“; DWD Jg. 4, Nr. 3/4, Februar 1943, S.8: „Die Fürsorge für das Werk Nietzsches“; DWD Jg. 4, Nr. 15/16, August, S.1–2: „Um den tieferen Sinn des Krieges“. Weitere Angaben bei Tilitzki 2002, S. 895–897.
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rung und großzügige Ausstattung. Doch werden Satz, Verlagshaus und wohl alle Verlagsunterlagen durch Bomben zerstört. Die Arbeit am Jubiläumswerk mußte abgebrochen werden.63 Ob in Berlin im Oktober 1944 öffentliche oder halböffentliche Feiern zum einhundertsten Geburtstag des Philosophen stattfanden, ist uns unbekannt. Alfred Bäumler, seit 1933 ordentlicher Professor für Philosophie an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, schreibt einen Artikel im Völkischen Beobachter.64 Von einer „Feierstunde“ in der ebenfalls durch Bombeneinwirkung schwer gezeichneten Universität ist uns nichts bekannt.65
§ 3.3 Nietzsches Antichrist im Nordland Verlag Der Nordland Verlag wurde 1933 gegründet, um „bedingungsloses Deutschtum“, „völkisches Wissen“, „völkische Kunst“ und „nordische Art“ zu verbreiten.66 Der Verlag arbeitet seit 1935 mit der Schutzstaffel in Berlin zusammen. „Vornehmste Behandlungsweise“, „gemeinverständliche Form“, „höchstmögliche geistige Ebene“ werden vertraglich vereinbart.67 Abgelehnt wird „die agitatorische, polemisch-aggressive Journalistik“. Der Verlag wird ein Wirtschaftsbetrieb der Schutzstaffel; er arbeitet ohne Gewinnerzielungsabsicht und nach den Weisungen des Reichsführers.68 Der Einfluß der SS auf den Verlag soll der
63 Versuche, das Jubliläumswerk trotz der Zerstörungen zu publizieren, sind im NietzscheArchiv dokumentiert; vgl. G. Lutz, „Geschichte des Unternehmens, Planung zur Hundertjahrfeier, Jubiläumswerk und ‚Feierstunde‘“, Niederschrift wohl im Februar (?) 1944. Rolf Dempe, „Berichte über das Nietzsche Archiv und meine dortige Arbeit von 1938 bis 1945“ (GSA 150/ 1072). 64 A. Bäumler, „Friedrich Nietzsche. Zu seinem 100. Geburtstag am 15. Oktober“, in: VB, 13.10.1944, S.1–2; vgl. den sorgfältigen Artikel Pestlin 2001; Pestlin konnte 40 Artikel nachweisen, zu 22 weiteren gebe es Hinweise in verschiedenen Bibliographien; von den 40 Artikeln erschienen 9 in den Jahren 1925–1933; erst zum 100. Geburtstag erreicht ein NietzscheArtikel die Titelseite des VB (Pestlin 2001, S. 246). 65 Siehe Zapata Galindo 1995, S. 210 ff.: dankenswerte Aufstellungen über „Nietzsche-Vorlesungen an den deutschen Universitäten 1933–1945“, keine Angaben jedoch zu Berlin nach dem WS 43/44. 66 Nordland Verlag GmbH, Berlin W 50, Geisbergstr. 21, später Berlin SW 68 (= SW 11), Saarlandstr. 66. Vgl. Schild u. Gregory 1995. – Kater 1974. 67 Vertrag zwischen der „Studiengesellschaft für Geistesgeschichte e. V. Deutsches Ahnenerbe, Berlin“, vertreten durch Wolfram Sievers, und dem Nordland-Verlag, Magdeburg, vertreten durch Fritjof Fischer, Berlin, und Arthur Ahrens. Magdeburg, 15.12.1935/ 1. 1.1936 (Schild u. Gregory 1995, S. 146–147, S. 152). 68 Schild u. Gregory 1995, S. 273: Der Verlag ist dem SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt als Amt W VII zugeordnet.
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Öffentlichkeit verborgen bleiben (Schild u. Gregory 1995, S. 178). Das primäre Publikum des Nordland Verlags sind alle Angehörigen der Schutzstaffel und Polizeiführer. Nietzsches „Fluch auf das Christenthum“ wird der zweite Band der „Ketzerbücherei“, einer eigenen Abteilung des Nordland Verlags.69 Der blasphemische Traktat fügt sich in das Anforderungsprofil des Verlags, der gegen Freimaurer, Juden und Katholiken kämpft, aber vornehm und geistig hochstehend aggressive Polemik vermeidet. Davor steht Löhde: „Für Gewissens- und Glaubensfreiheit“ (Bd. 1), es folgen die „Ketzer“ Friedrich der Große, Goethe, Schiller.70 Der Verlag bringt Nietzsches Antichrist als eine ungekürzte Volksausgabe für 1,– RM und wirbt dafür, zusammen mit der Rede des Reichsführers der Schutzstaffel im Dom zu Quedlinburg, in der Rubrik: „Deine Weihnachtsbücher“.71 Die Auflage im Jahre 1941 beträgt 53.000 Stück; Ketzer Goethe mit dem Titel Gott, Gemüt und Welt bringt es nur auf 25.000 Stück. Bis Ende 1944 hat der Nordland Verlag die Auflage des Antichrist auf 118.000 Stück gesteigert (Schild u. Gregory 1995, S. 339). Das ist gewiss ein schöner verlegerischer Erfolg. Aber selbst ein durch den SS-Staat so privilegiertes Unternehmen wie der Nordland Verlag ist dann am Ende. Der Sitz der Verlagsleitung muß im Jahre 1944 von Berlin nach Ditterbach bei Pirna in Sachsen verlegt werden. In der Reichshauptstadt ist Verlagsarbeit nicht mehr möglich, nur eine „Verbindungsstelle“ bleibt noch erhalten. Die billige Produktion im europäischen Ausland (Holland, Belgien, Frankreich) fällt aus, die Papierversorgung wird knapp, die Telephonverbindung von Ditterbach nach Berlin ist unterbrochen – es müssen Kuriere geschickt werden. Ein Volltreffer zerstört das repräsentative Verlagsgebäude in der Saarlandstraße. Schließlich, nach dem Fall der Stadt, schreibt der neue Magistrat der Stadt Berlin an die Bergungsstelle für Bibliotheken:72
69 Zur Entstehung des Titels von Nietzsches „Antichrist“ vgl. Cancik 1995, S. 136–139. Zur „Ketzerbücherei“ s. Schild u. Gregory 1995, 161; 226, 235; 247: Werbeseite für die Ketzerbücherei aus dem Verlagsprospekt für 1942; S. 263–264. – Der Nietzsche-Band im Nordland Verlag ist herausgegeben und eingeleitet von Ernst Precht. 70 Von Walter Löhde bringt der Nordland noch folgenden Titel: W. Löhde (von der Cammer) (Hg.), Von Tacitus bis Nietzsche, 1934; erweiterte Neuauflage unter dem Titel „Wider Kreuz und Krummstab“, s. Schild u. Gregory 1995, S. 160, S. 228. 71 Prospekt 1937; vgl. Schild u. Gregory 1995, S. 193, S. 203. 72 Magistrat der Stadt Berlin, Abteilung für Volksbildung – Büchereiwesen, W8 Mauerstr. 53 an die Bergungsstelle für Bibliotheken, z. Hd. von Herrn Elsner, Ermelerhaus, Berlin C 2, Breitestr. 11, 20.09.1945, bei Schild u. Gregory 1995, S. 344–346. Der Nordland Verlag wird in dieser Liste unter der Adresse W 50, Geisbergstr. 21 aufgeführt mit dem Zusatz: „NS-Literatur, vorwiegend weltanschaulich. Hat sich nicht gemeldet“.
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Anbei erhalten Sie eine Liste der Berliner Naziverlage. Wir bitten Sie, umgehend […] festzustellen, was noch an Verlagsbeständen vorhanden ist. Im gegebenen Fall lassen Sie die Bestände abfahren und entweder der Bergungsstelle oder der Makulaturverwertung zuführen.
Viele hundert Exemplare aus dem Nordland Verlag werden eingesammelt und abtransportiert, auch 794 Stück von Ketzer Goethes Gott, Gemüt und Welt. Nietzsches Antichrist jedoch war offensichtlich ausverkauft.
§ 4 Zusammenfassung und Fragen § 4.1 Orte und Formen der Rezeption Die Rezeption von Nietzsches Werk und ‚Gestalt‘ in der Hauptstadt des zweiten und dritten deutschen Reiches geschah an verschiedenen Orten, in mannigfaltigen Formen des Kultur- und Wissenschaftsbetriebs, durch die vermögende Gesellschaft, die Majestäten und Bankiers, die den „Pan“ subskribieren konnten, durch die klein- und bildungsbürgerlichen Mitglieder der „Neuen Gemeinschaft“, durch die jungen Dozenten an der Universität, die Gebildeten in Partei und Schutzstaffel.73 Das mehrdimensionale Werk Nietzsches – klassische Philologie, Philosophie, Aphorismen und Essays, Dichtung und Musik – befriedigt unterschiedliche Bedürfnisse nach Belehrung und Unterhaltung. Fragmente aus einem unerschöpflichen Nachlass, biographische Enthüllungen, Versuche, die Erkrankung des Philosophen zu diagnostizieren und zu datieren, der Streit um Publikationsrechte, um Person und Tätigkeit der Archivleiterin halten das Interesse wach. Die Großstadt verdichtet, beschleunigt, erleichtert die Kommunikation und die Gruppenbildung. Eigene Formen hat die Nietzsche-Bewegung nicht geschaffen. Sie benutzt die Kunsthandlung, den Salon, das gesellige Haus als Orte für Vorträge, Rezitation, Musik und die Versammlung und Repräsentation der jeweiligen Kreise. Einen ‚Nietzsche-Kultus‘ einer ‚Nietzsche-Gemeinde‘ gibt es in Berlin nicht.74 Sie lagert sich an bereits bestehende Bewegungen an – Jugendbewegung, Schulreform, Lebensreform, Wagnervereine.
73 Zu Materialien und Fragen zu einer Soziologie der Nietzsche-Bewegung: Cancik 1989, § 3. 74 Zur Entstehung eines Nietzsche-Kultes im genauen, religionswissenschaftlichen Sinne vgl. Cancik 1987a und Cancik 1989.
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§ 4.2 Zum Vergleich 1. Die Sammlung von Orten, Gruppen, Schichten, die Nietzsche in Berlin rezipiert haben, bringt vielfältiges und umfangreiches Material zusammen; eine Auswahl wird in diesem Referat vorgestellt. Ob die Berliner Nietzsche-Rezeption besonders stark, erwartungsgemäß oder schwach war, müsste durch vergleichende Untersuchungen geprüft werden, etwa über ‚Ernst Haeckel in Berlin‘ oder ‚Nietzsche in Leipzig‘, ‚Nietzsche-Rezeption in Wien‘. Ernst Haeckel (1834–1919) erreichte mit seinem Bestseller Die Welträtsel (1899) ein breites, auch nicht-akademisches Publikum, aber im Unterschied zu Nietzsche eher naturwissenschaftlich interessierte Bürger und Arbeiter. Der Giordano-BrunoBund, 1901 in Berlin gegründet, entwickelt und verbreitet Haeckels Monismus mit Feiern und Vorträgen und populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen.75 Die Berliner Nietzsche-Gesellschaften (siehe Abschnitt § 1.1) sind mit der Wirkung dieser Institution kaum vergleichbar. In Leipzig hat Nietzsche studiert, den Freund Rohde und die Bekanntschaft mit Wagner gefunden. Der Philologische Verein, den er gegründet hatte, überlebte ihn und schickte ein Kondolenzschreiben an das Archiv. In Leipzig wohnen Verwandte (Oscar Oehler) und Studienfreunde. Kurt Hezel, ein Jugendfreund von Köselitz, hat bereits 1886 einen Lesekreis eingerichtet, in dem auch Nietzsche gelesen wurde (Krummel 1974, S. 131). Fritz Koegel hat im Herbst 1896 vor dem Freien Literarischen Verein zu Leipzig über Wagner und Nietzsche gesprochen und ist ein Jahr später, nach seiner Trennung vom Archiv, nach Leipzig übergesiedelt (Herbst 1897).76 In der großen Verlagsstadt erscheint eine Prachtausgabe des Ecce Homo mit dem Buchschmuck von Henry van de Velde (Insel 1908), aber auch die preiswerte Nietzsche-Ausgabe bei Kröner. Raoul Richter – geboren 1871 in Berlin, gestorben 1912 in (Berlin-)Wannsee – hält seit dem Wintersemester 1902/03 an der Universität Leipzig mehrere Veranstaltungen über „Friedrich Nietzsche und sein Werk“. Schon 1903 werden seine „Fünfzehn Vorlesungen“ in Leipzig gedruckt.77 Auch die Rezeption Nietzsches in Wien lädt zu einem Vergleich ein. Erwin Rohde informiert seinen Freund schon 1877 über einen „Nietzsche-Verein“ in Wien; Wortführer sei Siegfried Lipiner.78 Damit ist in europäischer Sicht Wien, 75 Wilhelm Bölsche, Das Liebesleben in der Natur, 1903; vgl. Rudolf Steiner, Die Konsequenzen des Monismus, 1894. Zu den Berliner Giordano-Bruno-Feiern vgl. hier Abschnitt § 2.1.3. 76 Hinweis von C. Lüttke. 77 Raoul Richter, Friedrich Nietzsche. Sein Leben und sein Werk. Fünfzehn Vorlesungen gehalten an der Universität Leipzig (1902/03), Leipzig 1903; 41922: Kritik des Buches durch Franz Overbeck: OWN 7/2,1999, S. 121. 78 E. Rohde an F. Nietzsche, 29. Juni 1877, in: KGB II, 6,1, S. 594–96; zu Lipiner („einer der schiefbeinigsten aller Juden“) S. 595–596. Vgl. Lipiner an Nietzsche, 3. August. 1877, in:
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nicht Berlin, der Ort, an dem sich die früheste Spur einer organisierten Nietzsche-Rezeption feststellen läßt.79 Lipiner und sein Kreis gratulieren Nietzsche am 15. Oktober 1877 zum Geburtstag.80 Die Mitglieder sind auch im „Leseverein“ der deutschen Studenten Wiens tätig und vermitteln Schopenhauer, Wagner, Nietzsche. Dr. Josef Paneth, „ein moderner Jude aus Wien“, verbringt den Winter 1883/84 mit Nietzsche in Nizza.81 Durch Lipiner wird Gustav Mahler mit Nietzsches Werk bekannt,82 durch Paneth Sigmund Freud.83 Die Namen weiterer illustrer Nietzsche-Rezipienten aus Wien ließen sich hinzufügen; doch die genannten dürften hinreichen zu zeigen, wie fruchtbar ein Vergleich der Berliner mit der Wiener Nietzsche-Rezeption werden könnte.
§ 4.3 Lücken und Fragen Abgesehen von den skizzierten Kontrolluntersuchungen zur Nietzsche-Rezeption in Berlin bleiben kleine und große Lücken in der Materialerfassung und der soziologischen Auswertung zu konstatieren; nur weniges sei genannt. Es fehlen Texte und Bilder zur Ausstattung der Villa am Schlachtensee und zu Feiern der Neuen Gemeinschaft, die Nietzsches Texte oder Bilder benutzen.
ebd. S. 663; Nietzsche an Lipiner, 24. August 1877 (KSB 5, S. 274); Lipiner an Nietzsche, 10. September 1877, in: KGB II,6,2, S. 693–696. Nietzsche antwortet Rohde am 24. August 1877 (KSB 5, S. 277 f.), rühmt den Autor des „Entfesselte(n) Prometheus“, ohne den Namen Lipiner zu nennen; auf Rohdes vulgär-antisemitischen Ausfall geht er nicht ein. 79 Cancik 1999a, § 1.1, wo die früheste Spur in Deutschland, in Berlin, nachgewiesen ist. 80 KGB II, 6, 2, S. 737–738: „eine kleine Schaar junger Männer“, die sich „Schopenhauer als Erzieher“ zum Vorbild genommen haben; der Brief ist unterzeichnet von Seraphin Bondi im Auftrag von: Siegfried Lipiner, Max Gruber, Victor Adler, Sigmund Adler, Heinrich Braun, Engelbert Pernerstorfer. Vom selben Datum ein persönlicher Brief von Lipiner (ebd. S. 739– 740). 81 Vgl. dazu Overbecks Notizen in: OWN 7/2 1999, S. 132–144: „Nietzsche und Paneth“; Overbeck analysiert sehr ausführlich und mit großem Scharfsinn die Darstellung dieser Episode in der Biographie, die Elisabeth Förster-Nietzsche über ihren Bruder verfaßt hatte. Sie verschweige, daß Paneth Jude sei, „einer von der Art Spinoza’s“, emancipiert von aller Tradition seines Stammes, von Synagoge und Zionismus. – Briefe von Paneth über seine Begegnung mit Nietzsche bei Krummel 1988. 82 Zu Mahlers Dritter Sinfonie, d-moll (Uraufführung 1902 in Krefeld) vgl. Nikkels 1989; McGrath 1997. 83 S. Freud an Arnold Zweig, 12.05.1934: „In meiner Jugend bedeutete er [sc. Nietzsche] eine unzugängliche Vornehmheit. Ein Freund von mir, Dr. Paneth, hatte im Engadin seine Bekanntschaft gemacht und mir viel von ihm geschrieben“, vermittelt durch Worbs 1983, 77 mit Anm. 59. Vgl. auch Venturelli 1984; Heller 1997.
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Es fehlt eine biographische und bibliographische Untersuchung zu Günther Lutz. Nicht einmal Datum und Ort seines Todes konnten ermittelt werden. Die letzten Spuren, die wir kennen, verlaufen sich im Geschäftstagebuch des Nietzsche-Archivs von 1945–1946.84 Es fehlen Biographien von Fritz Koegel,85 Richard Moritz Meyer, Raoul Richter. Zur Bearbeitung dieser und anderer Probleme der Nietzsche-Rezeption werden das Material und die Hilfsmittel des neuen Dokumentationszentrums in Naumburg von Nutzen sein. Ausgespart wurde der Systemstreit zwischen historisch-kritischer Philologie und Geschichtswissenschaft und der „neuen Wissenschaft“, wie er im Gefolge von Stefan George durch Friedrich Gundolf, Kurt Hildebrandt, Friedrich Wolters betrieben wurde. Damit wurde ein Konflikt fortgeschrieben, den Nietzsche und Wilamowitz um die Anfänge der attischen Tragödie begonnen und Wilamowitz mit seinen Parodien von George’s Sonetten (1898/99) fortgesetzt hatte.86 Ein neuer Ort der Berliner Nietzsche-Rezeption wird hier sichtbar – die Friedrich-Wilhelms-Universität, und die eigenen Formen von wissenschaftlicher Aneignung und Abstoßung. Der Streit zwischen klassischen Philologen und den ‚Georginen‘, den Poeten und Gestalthistorikern über Nietzsches Deutung von Vorsokratik, Tragödie, Plato wird bis in die vierziger Jahre geführt. Diese Auseinandersetzung erfordert eine gesonderte Darstellung.87
84 Den Herren Prof. Dr. Steffen Dietzsch, Berlin, und Dr. Wilfried Lehrke, Weimar, danken wir für freundliche Auskünfte. 85 Vgl. hier Anhang; vgl. Cornelius Lüttke, „Koegel“, in: Ch. Niemeyer (Hg.), Nietzsche – Lexikon, 2. durchgesehene und erweiterte Aufl., Darmstadt 2011. 86 Nachweise bei Cancik u. Cancik-Lindemaier 2010, § 4: „Nietzsches Erbe in Berlin: ‚der kreis den liebe schliesst‘“ (Stefan George, 1900/01). 87 Zu Nietzsches Einfluß auf die Berliner Schulkritiker vgl. Cancik 1987b.
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Anhang Bibliographie Fritz Koegel (1860–1904) von Cornelius Lüttke
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1. Selbständige Schriften (ohne Musikdrucke) Muffzeitung89 nebst Festbericht über den Lateinercommers. Halle den 6. August 1880. Halle o. J. [1880]. 21 S. Die körperlichen Gestalten der Poesie. I. II. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doctorwürde der vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg. Halle a. S. 1883. 46 S. Lotzes Aesthetik. Göttingen 1886. 138 S. [anonym] Vox humana. Auch ein Beichtbuch. Stuttgart, Leipzig, Berlin 1892. 232 S. Gastgaben. Sprüche eines Wanderers. Leipzig o. J. [1893]. 127 S. Gedichte. Leipzig 1898. VIII, 208 S. Der Mosel Rache im Jahre des Heils 1898. Ein rheinisches Echo zum Trarbacher Sängerkrieg. Düsseldorf o. J. [1899]. 8 Bl. [mit Emily Koegel] Die Arche Noah. Reime. Leipzig 1901. 32 S. Ill.
2. Herausgeber Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechenthum und Pessimismus. 3. Aufl. Leipzig 1894. 172, XII S. Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner. Nietzsche contra Wagner [mit Nachbericht], Einzeldr.: 5. Tsd. des Fall Wagner. 3. Tsd. von Nietzsche contra Wagner. Leipzig 1895. 87, V S. Nietzsche’s Werke90 [mit Nachberichten]. Leipzig 1895–189791 88 Die Bibliographie ist noch nicht vollständig. Dies gilt insbesondere für in Zeitschriften publizierte Gedichte und Sprüche. – Für Anregungen, Hinweise und Hilfe danke ich Christoph Knüppel (Herford). Eine wichtige Vorarbeit leistete Kai Agthe (Naumburg) mit seiner Magisterarbeit „Fritz Koegel als Nietzsche-Herausgeber und Autor“, deren Literaturverzeichnis mir vorlag. – Für großzügige Unterstützung und vielerlei Hilfe danke ich schließlich Frau Dr. Silke Henke, Leiterin der Abteilung Medienbearbeitung im GSA, sowie ihrer Mitarbeiterin Frau Marita Prell, die sich der Erschließung des Neuzugangs aus dem Nachlass Fritz Koegels widmet. 89 Christian Fürchtegott Muff (1841–1911) war Lehrer Koegels an der Latina, Halle, und rector portensis, 1898–1911. 90 GAK (Großoktavausgabe, soweit von Koegel ediert). 91 Vgl. Weimarer Nietzsche-Bibliographie. Bd. 1, Stuttgart 2000, S. 3–6, 52, 105, 124 und 128 mit Anmerkungen, ausführlichen Inhaltsangaben und hier nicht berücksichtigten Ausgaben und Auflagen.
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Abt. 1, Bd. 1. Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemässe Betrachtungen: erstes bis viertes Stück. 4. Aufl. der Geburt der Tragödie, 3. Aufl. der Unzeitgemässen Betrachtungen. 1895. 589, XXII S.: Portr., Faks. Abt. 1, Bd. 2. Menschliches, Allzumenschliches: ein Buch für freie Geister: erster Band. 4. Aufl. 1895. 416, XXIX S.: Faks. Abt. 1, Bd. 3. Menschliches, Allzumenschliches: ein Buch für freie Geister: zweiter Band. 4. Aufl. 1895. 375, XXV S.: Beil. gef. (Faks.). Abt. 1, Bd. 4. Morgenröthe: Gedanken über die moralischen Vorurtheile. 2. Aufl. 1895. 372, XIV S. Abt. 1, Bd. 5. Die fröhliche Wissenschaft: („la gaya scienza“). 2. Aufl. 1895. 362, XV S. Abt. 1, Bd. 6. Also sprach Zarathustra: ein Buch für Alle und Keinen. 4. Aufl. 1895. 476, XIII S.: Portr., Faks. Abt. 1, Bd. 7. Jenseits von Gut und Böse / [Nachbericht von Eduard von der Hellen]. Zur Genealogie der Moral. 5. Aufl. des Jenseits von Gut und Böse. 4. Aufl. der Genealogie der Moral. 1895. 484, XV S. Abt. 1, Bd. 8. Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Nietzsche contra Wagner. Der Antichrist. Gedichte. 3. Aufl. des Fall Wagner und der Götzen-Dämmerung. 1. Aufl. von Nietzsche contra Wagner, des Antichrist und der Gedichte, 1895. 378, XI S.: Faks. Abt. 2, Bd. 9 (= Bd. 1 der 2. Abt.). Schriften und Entwürfe 1869–1872. 1896. XLI, 385 S. Abt. 2, Bd. 10 (= Bd. 2 der 2. Abt.). Schriften und Entwürfe 1872–1876. 1896. IV, 478 S. Abt. 2, Bd. 11 (= Bd. 3 der 2. Abt.). Schriften und Entwürfe 1876–1880. 1897. VII, 437 S. Abt. 2, Bd. 12 (= Bd. 4 der 2. Abt.). Schriften und Entwürfe 1881–1885. 1897. VI, 440 S.
3. Beiträge in Zeitschriften92, Zeitungen, Lexika und Sammelband [anonym] „Das heutige Feuilleton“. In: Die Grenzboten 41. Nr. 31 (1882), S. 212– 221; Nr. 32 (1882), S. 255–267 und Nr. 34 (1882), S.355–364. „Der Gelehrte in der heutigen Dichtung“. In: Tägliche Rundschau 167 (21.07.1883). „Die moderne Denkmalsucht“. In: Die Gegenwart 24. Nr. 32 (11.08.1883), S. 93–95. „Autor und Leser. 1. Ein Kriegskapitel“. In: Tägliche Rundschau 204 (02.09.1883). 92 Zwischen Oktober 1903 und Oktober 1904 hat Fritz Koegel als Musikredakteur der Zeitschrift Die Rheinlande in der Rubrik Unsere Musikbeilage regelmäßig Liedkompositionen vorgestellt. Die entsprechenden Texte sind nicht berücksichtigt.
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„Autor und Leser. 2. Friedensvorschläge. a. Der Autor“. In: Tägliche Rundschau 206 (05.09.1883). „Autor und Leser. 2. Friedensvorschläge. b. Der Leser“. In: Tägliche Rundschau 210 (09.09.1883). „Spätsommerliche Natur- und Reisebetrachtungen“. In: Magdeburgische Zeitung 437 (19.09.1883). [unter dem Pseudonym Rolf Eckbert] „Hans Blondel. Novelle“. In: Magdeburgische Zeitung 441 (21.09.1883); 443 (22.09.1883); 445 (23.09.1883); 447 (25. 9. 1883); 449 (26.09.1883); 451 (27.09.1883) und 453 (28.09.1883). „Der heutige Brief“. In: Die Gegenwart 24. Nr. 38 (22.09.1883), S. 187–190. „Bemerkungen über Literatur und Bücherwesen“. In: Deutsche Roman-Zeitung 20. Nr. 46 (1883), Sp. 489–493. „Bilder und Typen aus der Lese- und Leserwelt. 1. Zeitung und Kaffeehaus“. In: Tägliche Rundschau 11 (13.01.1884). „Bilder und Typen aus der Lese- und Leserwelt. 2. Zeitschrift und Lesehalle“. In: Tägliche Rundschau 21 (23.01.1884). „Bilder und Typen aus der Lese- und Leserwelt. 3. Das Buch“. In: Tägliche Rundschau 29 (03.02.1884). „Bilder und Typen aus der Lese- und Leserwelt. 4. Allerlei Leser“. In: Tägliche Rundschau 59 (09.03.1884). [anonym] „Gesellschaftliche Streifzüge. 1. Lob und Schmeicheleien“. In: Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft 1 (von 2 in 1884), S. 106–108 [2. nicht zu ermitteln; Forts. in: Tägliche Rundschau 1884]. „Über Sprechen, Reden und Lesen“. In: Die Gegenwart 25. Nr. 8 (23.02.1884), S. 117–120 und Nr. 9 (01.03.1884), S. 139–141. „Zum aesthetischen Verständnisse des ‚Parsifal‘“. In: Bayreuther Blätter 7. Nr. 4 (April 1884), S. 97–106. „Hausmusik“. In: Tägliche Rundschau 132 (08.06.1884). „Modeschönheit und Schönheitsmoden“. In: Der Bazar 38 (06.10.1884). „Gesellschaftliche Streifzüge. 1. Die Deutsche Geselligkeit“. In: Tägliche Rundschau 270 (16.11.1884). „Gesellschaftliche Streifzüge. 2. Das Haus und die Geselligkeit“. In: Tägliche Rundschau 282 (30.11.1884) und 283 (2 .12. 1884). „Gesellschaftliche Streifzüge. 3. Gesellige Feste“. In: Tägliche Rundschau 303 (25.12.1884). „Gesellschaftliche Streifzüge. Schluß“. In: Tägliche Rundschau 304 (28.12.1884). „Frauen- und Goldschnitt-Literatur“. In: Die Grenzboten 43. Nr. 49 (27.11.1884), S. 466–470. „Der neue Leipziger Gewandhaussaal“. In: Magdeburgische Zeitung 595 (19.12.1884).
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„Ein deutscher Dichterbund. Ein Beitrag zur Naturgeschichte des lyrischen Dilettantenthums“. In: Die Gegenwart 27. Nr. 4 (24.01.1885), S. 57–59. „Ein deutscher Wanderredner“. In: Tägliche Rundschau 94 (23.04.1885) und 95 (24.04.1885). „Vom Lesen“. In: Magdeburgische Zeitung 231 (21.05.1885); 233 (22.05.1885) und 239 (27.05.1885). „Dilettantismus und Berufsschriftstellertum“. In: Die Grenzboten 44 (3. Quartal 1885), S. 75–79. „Reisemoden und Modereisen“. In: Magdeburgische Zeitung 435 (18.09.1885) und 437 (19.09.1885). „Die Volksthümlichkeit der heutigen Kunst“. In: Tägliche Rundschau 228 (30. 9. 1885). Deutsche Encyklopädie.93 Ein neues Universallexikon für alle Gebiete des Wissens. Bd. 1: A-Azzo. Leipzig 1885. Einträge zu: Analyse. Apóstrophe. Attila. „Von der nationalen Selbstachtung der heutigen Deutschen in Literatur und Kunst“. In: Magdeburgische Zeitung 143 (26.03.1886); 149 (30.03.1886) und 153 (01.04.1886). „Vom deutschen Stil“. In: Tägliche Rundschau 117 (21.05.1886); 121 (26.05.1886) und 132 (09.06.1886). „Hermann Lotzes kleine Schriften“. In: Die Grenzboten 45. Nr. 31 (29.07.1886), S. 204–213. „Rückblick auf die Bayreuther Festspiele“. In: Die Gegenwart 30. Nr. 39 (25.09.1886), S. 195–197. Deutsche Encyklopädie. Ein neues Universallexikon für alle Gebiete des Wissens. Bd. 2: B-Brandeln. Berlin 1888. Einträge zu: Bakkalaureus; Karl Barthel; Gustav Emil Barthel; Bastard; Klara Bauer; Nikolaus Becker; Bertha Behrens; August Daniel Binzer, Freiherr von; Philipp Georg August Wilhelm Blumenhagen. „Der Bau des Tristan-Dramas“. In: Bayreuther Blätter 15. Nr. 7–8 (Juli-August 1892), S. 257–274. „Friedrich Nietzsche. Ein ungedrucktes Vorwort zur Götzendämmerung“ [mit Erläuterungen]94. In: Magazin für Litteratur 62. Nr. 44 (04.11.1893), S. 702– 704. [anonym] „Friedrich Nietzsches Schriften und Nachlaß“. In: Magazin für Litteratur 62. Nr. 44 (04.11.1893), S. 710. 93 Der ungenannte Herausgeber der Deutschen Encyklopädie war Philipp von Nathusius (1842–1900). Fritz Koegel war von Oktober 1885 an etwa ein Jahr als Redakteur der Deutschen Encyklopädie in Rudolstadt tätig. 94 Zur Charakteristik von Text und Erläuterungen vgl. die Darstellung bei D. M. Hoffmann, Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs, Berlin 1991, S. 141.
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[anonym] „Nietzsche, Friedrich Wilhelm“. In: Brockhaus’ Konversations-Lexikon. 14. vollständig neubearb. Aufl. Bd. 12. Leipzig 1894, S. 362–363. „Friedrich Nietzsche und Frau Lou Andreas-Salomé“. In: Magazin für Litteratur 64. Nr. 8 (23.02.1895), Sp. 225–235. „Neue Touren in der Reichenspitz-Gruppe“. In: Mittheilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins 22. Nr. 16 (1896), S. 195–197. „Friedrich Nietzsches Musik“. In: Pan 2. Nr. 2 (1896), S. 144. „Die Reichenspitzgruppe“. In: Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins 28 (1897), S. 188–228. „Bei Conrad Ferdinand Meyer. Ein Gespräch“. In: Die Rheinlande 1. Nr. 1 (Okt. 1900), S. 27–33. „Aus der Barmer ‚Ruhmeshalle‘“. In: Die Rheinlande 1. Nr. 3 (Dez. 1900), S. 47– 48. „Zur Psychologie Wagners“. In: Die Kultur 1. Nr. 4 (August 1902), S. 203–210 und Nr. 5 (September 1902), S. 287–293. „‚Aus der Jugendzeit‘. Ansprache auf einem Düsseldorfer Volksunterhaltungsabend“. In: Der Bildungs-Verein. Hauptblatt für das freie Fortbildungswesen in Deutschland 33. Nr. 1 (21. Januar 1903), S. 5–6. „Gespräche mit Robert Franz“. In: Die Rheinlande 4. Nr. 1 (Okt. 1903), S. 40– 46; Nr. 3 (Dez. 1903), S. 141–147; Nr. 5 (Feb. 1904), S. 224–227 und Nr. 6 (März 1904), S. 261–264. „Theodor Streichers Wunderhornlieder [Besprechung von: Theodor Streicher, Dreissig Lieder aus ‚Des Knaben Wunderhorn‘ für eine Singstimme und Klavier. Leipzig 1903]“. In: Die Rheinlande 4. Nr. 2 (Nov. 1903), S. 107–108. „Detlev von Liliencron [anlässlich der vom Verlag Schuster & Loeffler angekündigten Gesamtausgabe]“. In: Die Rheinlande 4. Nr. 5 (Febr. 1904), S. 229– 230. „Friedrich Nietzsches Arbeitsweise. Darstellung nach Andeutungen Erwin Rohdes und nach genauer Prüfung des schriftlichen Nachlasses [Oktober 1895]“. In: Elisabeth Förster-Nietzsche: Das Nietzsche-Archiv, seine Freunde und Feinde. Berlin 1907. S. 73–78.
4. Gedichte und Aphorismen in Zeitschriften, Anthologien und Kalender „Sichre Heilung“. In: E. Eckstein (Hrsg.): Schalk-Kalender 3 (1883). Leipzig 1882, S. 91. [anonym] „Zur Psychologie des Schaffens:95 Arbeit. Das Gefühl des Schaffens. Die Schaffenszeiten. Die Augenblicke des Schaffens. Selbstverbote der 95 Vorabdruck ausgewählter Aphorismen aus Vox humana (Kapitel Vom Schaffen, S. 189– 218).
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Schaffenden. Die Einsamkeit der Schaffenden. Ein Rat für Schaffende. Der hilfreiche Schlaf. Die genudelten Gänse. Die Schwangerschaft der Schaffenden. Die unfruchtbaren Menschen. Weibliche Schaffensart. Die Probezeiten. Fruchtbarkeit. Schweigsamkeit der Schaffenden. Meisterschaft“. In: Magazin für Litteratur 61. Nr. 11 (12.03.1892), S. 171–172. „Von der Kunst: Dichtkunst. Beifall. Eine Frage. Ein Dichter. Meisterschaft. Meisterkunst“. In: Blätter für die Kunst 1. Folge, Bd. 3 (März 1893), S. 70– 71. „Allerlei Dichterisches. Der Lyriker. Der Subjektivist. Der Keim. Das Genie. Dichter und Hörer. Ein kleiner Dichter. Rede und Gegenrede“. In: Magazin für Litteratur 62. Nr. 13 (01.04.1893), S. 206. „Moderne Litteratur. Der Meister. Der Lehrling. Seufzer des Poeten. Rat der Klugen. Ein berühmter Dichter. Ein anderer Dichter. Stolz des Kleinen“. In: Magazin für Litteratur 62. Nr. 14 (08.04.1893), S. 219. „Der entlaufene Lehrling“. In: Magazin für Litteratur 62. Nr. 16 (22.04.1893), S. 256. „Kunst-Sprüche: Die Künste. Dichtkunst. Tonkunst. Malerei. Plastik. Zukunftshoffnung. Meisterschaft. Warnung. Die Platte des Photographen“. In: Magazin für Litteratur 62. Nr. 18 (06.05.1893), S. 288–289. „Der Dichter und die Frauen“. In: Magazin für Litteratur 62. Nr. 24 (17.06.1893), S. 386. „Die geknechtete Muse. Die vier Brüder“. In: Magazin für Litteratur 62. Nr. 36 (09.09.1893), S. 579–580. „Sechs Fantasien nach Klingerschen Radirungen: 1. An die Schönheit 2. Mutter und Kind 3. Versuchung 4. Elend 5. Gewalt (Und doch!) 6. Zeit und Ruhm“. In: Magazin für Litteratur 63. Nr. 3 (20.01.1894), Sp. 79–82. „Gastgaben: Sprüche eines Wanderers. 1. Tristanverse aus dem Zwischenakt. 2. Jugend und Alter“. In: Magazin für Litteratur 63. Nr. 37 (15.09.1894), Sp. 1164–1166. „Probe des Stolzes. Schonung. Fortbauen. Anders gesagt“96. In: A. Tille (Hrsg.): Deutsche Lyrik von Heute und Morgen. Leipzig 1896, S. 159–160. „Meine Tage“. In: Pan 2. Nr. 2 (1896), S. 96. „Liebste“. In: L. Jacobowski (Hrsg.): Neue Lieder der besten neueren Dichter für’s Volk zusammengestellt. Berlin o. J. [1899], S. 61. „Das goldene Thor. Abendbrausen. Verklärung“. In: Deutsche Dichtung 26 (1899), S. 113, S. 147 und S. 162. „Am Niederrhein. Der stille Pfad. Auf der Straße. Festmahl. Damals“. In: Die Rheinlande 1. Nr. 3 (Dez. 1900), unpag., und 4. Nr. 14 (Nov. 1904), S. 557 [nur:] Damals. 96 Als Nr. 7–10 unter „Spruchartiges“; Nr. 1–6 sind Texte Friedrich Nietzsches.
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5. Musikdrucke97 – selbständig, in Sammelbänden und Zeitschriften Lieder und Gesänge für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte. Op. 4: 8 Gedichte von Hans Hopfen. Berlin o. J. [1894]. 21 S. Lieder und Gesänge für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte. Op. 5: 12 Gedichte von Martin Greif. Berlin o. J. [1894]. 24 S. Lieder und Gesänge für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte. Op. 6: 6 Gedichte von Theodor Storm. Berlin o. J. [1894]. 22 S. Lieder und Gesänge für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte. Op. 798: 6 Gedichte von Gottfried Keller. Berlin o. J. [1894]. 17 S. Fünfzig Lieder. Leipzig 1901. 129 S. Zwölf Kinderlieder für eine Singstimme mit Klavier-Begleitung. Leipzig o. J. [1903]. 28 S. „Bauer bind’ den Pudel an! Alter Kindervers“. In: C. Reinecke (Hrsg.): Jungbrunnen. Die schönsten Kinderlieder. Neue Folge. Leipzig o. J., S. 64. „Christkindele. Schwäbischer Volksreim“. In: R. Dehmel (Hrsg.): Der Buntscheck. Ein Sammelbuch herzhafter Kunst für Ohr und Auge deutscher Kinder. Köln 1904, S. 42. „Wer weiss wo?“ (Detlev von Liliencron). In: Die Rheinlande 4. Nr. 8 (Mai 1904). Musikbeilage, S. 3–5. [aus dem Nachlass] „Lied der Landsknechte“ (Herbert Eulenburg); Menschengefühl (J. W. v. Goethe). In: Kunstwart 18. Nr. 12 (März 1905). Beilage, S. 1–4. Franz Schubert: Lieder und Gesänge für eine Singstimme mit Pianofortebegleitung.99 Vorwort von Emily Koegel. Edition Breitkopf Nr. 2155. Leipzig o. J. [1906].
6. Korrespondenz „21 Schreiben Fritz Koegels an Rudolf Steiner, ein Briefentwurf und ein Brief Steiners an Koegel, zwei Briefe Förster-Nietzsches an Koegel sowie ein Brief C.G. Naumanns an Koegel“. In: D. M. Hoffmann (Hrsg.): Rudolf Steiner und das Nietzsche-Archiv. Briefe von Rudolf Steiner, Elisabeth Förster-Nietzsche, Fritz Koegel, Constantin Georg Naumann, Gustav Naumann und Ernst Horneffer 1894–1900. Dornach 1993 [Rudolf Steiner Studien Bd. 6].
97 Opus 1–3 nicht zu ermitteln. Teile von Fünfzig Lieder und Zwölf Kinderlieder, später jeweils als Einzelhefte erschienen, sind nicht berücksichtigt. Ebenso unberücksichtigt: in Die Rheinlande und Der Kunstwart als Musikbeilage erschienene Vertonungen aus Fünfzig Lieder. 98 Mit Widmung: „Frau Elisabeth Förster-Nietzsche zugeeignet“. 99 56 Lieder und Gesänge. Im Vorwort erläutert Emily Koegel die Auswahl durch ihren verstorbenen Ehemann.
Formen der Nietzsche-Rezeption in Berlin 1865 bis 1945
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Die Briefe Koegels an Elisabeth Förster-Nietzsche befinden sich im GSA (72/BW 2839). In einem Neuzugang (GSA NZ 06/07) liegen vor: Zahlreiche Briefe der Elisabeth Förster-Nietzsche an Fritz Koegel vom freundschaftlichen Beginn bis zum Zerwürfnis sowie Briefe Koegels vor allem an Rosalie Schwetschke, geb. Kramer (1842–1914), und Katharina Travers, geb. Geier (1843–1923), seine langjährigen Freundinnen, dazu Familienbriefe.
7. Koegel-Exzerpte Privat während seiner Herausgebertätigkeit im Nietzsche-Archiv angefertigte Abschriften v.a. aus Briefentwürfen Nietzsches. Die erhaltenen Exemplare wurden zuletzt und vollständig veröffentlicht von D. M. Hoffmann (Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs, Berlin 1991, S. 579–713).
8. Vorträge100, Schauspiel (unveröffentlicht) Wagner und Nietzsche. Vortrag gehalten in der Freien litterarischen Gesellschaft zu Leipzig. 30. Oktober 1896. Manuskript, 26 Bl., GSA NZ 06/07. Nietzsches „Zarathustra“. Vortrag von Fritz [Koegel] gehalten im kaufmännischen Verein Remscheid, 25. Februar 1898. Reinschrift von Emilie Koegel, 8 Bl., GSA NZ 06/07. Heine. Vortrag anlässlich Heine-Gedächtnisfeier in Düsseldorf, 18.12.1899, Manuskript, 11 Bl., GSA NZ 06/07. Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer.101 o. D., Manuskript, 18 Bl. und 1 Bl. Umschlag, GSA NZ 06/07. Angela. Schauspiel in einem Akt. o. D. Manuskript, 30 Bl. Widmung: „Fräulein Ida Coblenz / verehrungsvoll / der Verfasser / Berlin 15 Septbr 93“ (SUB Hamburg, Dehmel-Archiv, A: Ms. 340).
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100 Weitere nicht benannte und unvollständige Manuskripte in GSA NZ 06/07. Information über Veröffentlichungen lag Verf. nicht vor. 101 Bisher ungeklärt, ob für Vortrag oder Veröffentlichung verfasst.
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Hubert Cancik und Hildegard Cancik-Lindemaier, Cornelius Lüttke
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Monumentalisch – antiquarisch – kritisch? Archiv und Edition als Institutionen der Distanzierung: Der Fall des Nietzsche-Herausgebers Karl Schlechta
I Viel ist über Nietzsches zweite Unzeitgemäße Betrachtung. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben aus dem Jahre 1874 geschrieben worden. Den vielfältigen Interpretationen, die dazu bereits vorliegen und sicher auch für die Zukunft weiter zu erwarten sind, soll hier keine neue hinzugefügt werden. In dem vorliegenden Beitrag werden vielmehr zwei institutionalisierte Einrichtungen bzw. Unternehmungen – das Nietzsche-Archiv in Weimar und das Editionsvorhaben der Historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Nietzsches – sowie einer ihrer Mitarbeiter im „Dritten Reich“ behandelt. Archiv und Edition, beide widmeten sich per definitionem der Sammlung von historisch-biographischen Dokumenten, hier im konkreten Fall der archivalischen Erschließung, Bearbeitung und Herausgabe des Werkes Nietzsches, so fragwürdig sich dies insbesondere zwischen 1933 und 1945, dem zeitlichen Rahmen der Betrachtung, auch immer gestaltetet haben mochte. Ganz ohne die Rückbindung an Nietzsches Geschichtsdenken wird aber auch dieser Beitrag nicht auskommen, auch nicht auskommen wollen. Nietzsches fundamentale Kritik an der „Historie“ als Wissenschaft (UB II, KGW III/ 1, S. 267) bleibt für jeden Historiker eine Herausforderung. Sie gehört immer noch zu den an- und aufregendsten Texten, die es zur Verortung des Faches und seiner professionellen Vertreter gibt. Jeder Historiker, der sich wenigstens hin und wieder der Sinnfrage seines professionellen Tuns stellt, ist gut beraten, wenn er Nietzsches Geschichtsdenken nicht einfach als zunftfremde oder unwissenschaftliche Zumutung für sein Fach abtut (siehe dazu: Greiert 2008, bes. S. 79). Dass Nietzsches Geschichtsauffassung in sich widersprüchlich war, Brüche aufwies und Veränderungen unterzogen war, dass seine Kritik an der „historischen Krankheit“ (UB II, KGW III/1, S. 325) vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Historismus gelesen werden muss, sollte gerade die Historiker zur Reflexion einladen. Bei allen harschen Worten Nietzsches, mit der er die Historie bedachte, bleibt es für den Historiker am Ende ja doch immerhin tröstlich, dass er ihr eine gewisse lebensdienliche Funktion zugeschrieben (bes. UB II, KGW III/1, S. 254), ja, ihr in späteren Jahren sogar einen wichtigen Stellenwert eingeräumt hat.
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Nietzsche hat die legitimen Arten der Geschichtsbetrachtung bekanntermaßen als antiquarisch, monumentalisch oder kritisch bezeichnet und ihnen jeweils eine, wenn auch eng begrenzte Notwendigkeit für das Leben zugesprochen: Wenn der Mensch, der Großes schaffen will, überhaupt die Vergangenheit braucht, so bemächtigt er sich ihrer vermittelst der monumentalischen Historie; wer dagegen im Gewohnten und Altverehrten beharren mag, pflegt das Vergangne als antiquarischer Historiker; und nur der, dem eine gegenwärtige Not die Brust beklemmt und der um jeden Preis die Last von sich abwerfen will, hat ein Bedürfnis zur kritischen, das heißt richtenden und verurteilenden Historie. (UB II, KGW III/1, S. 260)
Archiv und Edition – als Institutionen historischer oder philologischer Forschungsarbeit – gehören, folgt man Nietzsches Kategorienbildung, in den Bereich des Antiquarischen. Für das Monumentalische oder Kritische können beide allerhöchstens Argumentations- und Legitimationshilfen bereitstellen. Genau diese Aufgabe fiel ihnen in Bezug auf Nietzsche während des „Dritten Reichs“ auch in einem besonderen Maße zu. Das Archiv ist der Ort des Bewahrens und Sammelns; die Edition – und das trifft auf die hier zu behandelnde „Historisch-Kritische Gesamtausgabe“ von Nietzsches Werken und Briefen ebenso zu wie auf die meisten anderen Editionsvorhaben auch – ist gewissermaßen die Fortsetzung des Antiquarischen mit anderen, nämlich gedruckten (und heute zunehmend auch elektronischen) Mitteln, wobei Nietzsches Kategorie des Kritischen in einer historisch-kritischen Edition methodisch bereits implizit mitgedacht sein sollte. Gerade für die hier besonders interessierende antiquarische Geschichtsauffassung fand Nietzsche besonders bissige, wenig schmeichelhafte Charakterisierungen: Sie versteht […] allein Leben zu bewahren, nicht zu zeugen; deshalb unterschätzt sie immer das Werdende […]. So hindert jene den kräftigen Entschluß zum Neuen, so lähmt sie den Handelnden, der immer, als Handelnder, etwelche Pietäten verletzen wird und muß. Die Tatsache, daß etwas alt geworden ist, gebiert jetzt die Forderung, daß es unsterblich sein müsse […]. (UB II, KGW III/1, S. 264)
Noch drastischer warnte Nietzsche vor der „Entartung“ der antiquarischen Historie: Dann erblickt man wohl das widrige Schauspiel eine blinden Sammelwut, eines rastlosen Zusammenscharrens alles einmal Dagewesenen. Der Mensch hüllt sich in Moderduft; […] oftmals sinkt er so tief, daß er zuletzt mit jeder Kost zufrieden ist und mit Lust selbst den Staub bibliographischer Quisquilien frißt. (UB II, KGW III/1, S. 264)
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Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, die von Nietzsche entliehenen Kategorien aus dessen zweiter „Unzeitgemäßen Betrachtung“ auf die Geschichte des Nietzsche-Archivs und der Nietzsche-Ausgabe im „Dritten Reich“ zu übertragen. Im Mittelpunkt wird dabei Karl Schlechta stehen, der seit Frühjahr 1934 als Mitarbeiter im Archiv arbeitete und ab 1936 als leitender Herausgeber an maßgeblicher Stelle für die Ausgabe mitverantwortlich zeichnete. Schlechtas Weg wird dabei als ein dreistufiger Ernüchterungs- und Distanzierungsprozess, also als eine Art Bildungsroman, beschrieben. Es soll gezeigt werden, dass Karl Schlechta durch seine Mitarbeit an der „Historischkritischen Ausgabe“ des Nietzsche-Archivs von einer tendenziell monumentalischen Verehrung Nietzsches über eine antiquarische Phase der historisch-philologischen Textedition seiner Werke und Briefe schließlich zu einer dezidiert kritischen und reflektierten Interpretation des Philosophen und einer verachtenden Kritik an den in monumentalischer Verehrung verharrenden Adepten Nietzsches fand. Archiv und Edition werden dabei nicht nur als bloß antiquarische Konservierungsanstalten betrachtet, sondern – als wichtige Orte der Auseinandersetzungen um den vermeintlich „wahren“ Nietzsche – in ihrem genuin kritischen und produktiven Potential gewürdigt. Ein Potential, dass im Ergebnis immerhin zu zwei wichtigen Nietzsche-Editionen führen sollte: die von Karl Schlechta mit herausgegebene, aber unvollendet gebliebene „Historisch-kritische Ausgabe“ in der Zeit des Nationalsozialismus und die von ihm allein betreuten „Werke in drei Bänden“, die 1954 bis 1956 erschienen.
II Karl Schlechtas Weg zu Friedrich Nietzsche war kein geradliniger. Biographische und zeitgenössische Zufälle führten ihn ebenso nach Weimar wie seine Interessen und die Förderung durch solche Personen, die im unmittelbaren Umfeld von Nietzsche-Archiv und Nietzsche-Ausgabe aktiv waren. Schlechta wurde 1904 in der „Wiener Vorstadt“ geboren und wuchs in einer sozialdemokratischen Familie auf. Schon als Kind lauschte er im Ottakringer Arbeiterheim – einer Art Wiener Volkshochschule – populärwissenschaftlichen Vorträgen. Als Gymnasiast erlebte er den Untergang der Donaumonarchie und die Gründung der österreichischen Republik. Der heranwachsende Schlechta schloss sich der Jugendbewegung an und begann 1924, zunächst an der Technischen Hochschule in Dresden, Physik, Chemie und Botanik zu studieren. Zwei Jahre später ging er nach Wien zurück und schrieb sich dort für Philosophie, Geschichte und Literaturgeschichte ein. Er kam dort mit dem „Wiener Kreis“ in Berührung und wurde 1929 mit einer naturphilosophischen Arbeit promo-
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viert. Nach dem Doktorat zog es Schlechta erneut nach Deutschland. Er wollte sich an der Frankfurter Universität habilitieren, deren aufgeschlossene intellektuelle Atmosphäre ihn anzog. Hier fand er Zugang zu den Stefan George nahe stehenden oder zumindest von ihm stark inspirierten Frankfurter „Kreisen“ um die eigenwilligen Altphilologen Karl Reinhardt und Walter F. Otto. Enge Freundschaft schloss er mit dem schwankenden George-Jünger und Germanisten Max Kommerell, Reinhardts Schwiegersohn, der sich Ende der 1920er Jahre gerade von dem noch lange „Meister“ genannten George zu lösen begann. In Frankfurt begann Schlechta an seiner Habilitationsschrift über den Einfluss von Aristoteles auf Goethes Farbenlehre zu arbeiten. Die Schattenseite des anregenden intellektuellen Frankfurter Klimas war Schlechtas prekäre wirtschaftliche Situation. Bis 1934 musste er sich als Privatgelehrter, Übersetzer und freiberuflicher Redakteur des für das „Neue Bauen“ wichtigen „Verbandes für Wohnungswesen“ über Wasser halten. Das Jahr 1933 bedeutete auch für Schlechta eine Zäsur. Er musste sich entscheiden, ob er im nationalsozialistischen Deutschland bleiben oder in seine vom Bürgerkrieg erschütterte Heimat zurückkehren sollte. Schlechta, inzwischen Familienvater geworden, befand sich zu diesem Zeitpunkt auch in einer persönlichen Krise. Er entschied sich für den Verbleib in Deutschland. Lange bemühte er sich erfolglos um die deutsche Staatsbürgerschaft. Im April bzw. Mai 1933 trat er der NSDAP und Alfred Rosenbergs „Kampfbund für deutsche Kultur“ bei. Dieser Schritt war vermutlich weniger politischen Überzeugungen, als vielmehr Opportunitätserwägungen und einer nüchternen Lageeinschätzung geschuldet: Schlechta war ohne feste Anstellung, sein bisheriger „Arbeitgeber“ war den Nationalsozialisten nicht genehm und ohne einen erkennbaren Kotau vor den neuen Machthabern, so zumindest sein Kalkül, schienen sowohl Einbürgerung als auch Habilitation und Universitätskarriere unerreichbar. Ob er, wie Kommerell, anfangs mit dem neuen Regime sympathisierte, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen, scheint aber nicht wahrscheinlich. Sicher aber ist, dass er wie die Georgeaner1, mit denen er verkehrte, deren tiefe Abneigung gegen die Weimarer Demokratie und die moderne Massengesellschaft geteilt hat. Auch in der NS-Zeit – das kommt etwa in seinen privaten Briefen an Kommerell oder an Walter F. Otto zum Ausdruck – äußerte er sich 1 Schlechtas Verhältnis zu Person, Ideen und Kreis Georges scheint ambivalent gewesen zu sein: „Diese Gesellschaft kenne ich – aus mannigfaltigster Erfahrung, und ich danke meiner geistigen Heimat Österreich, dass sie mich gegen diese Erlebnisse immun gehalten hat“, schrieb er aus der Rückschau etwa an Karl Löwith (vgl. Karl Schlechta an Karl Löwith, 01.01.1958, Deutsches Literaturarchiv Marbach, A: Löwith, HS 99.17.102, 3). Dieser distanzierenden Briefpassage stehen allerdings andere Aussagen Schlechtas gegenüber, die zumindest eine zeitweilig engere Affinität vermuten lassen.
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mehrfach verächtlich gegen die „Verflachung“ des gegenwärtigen geistigen Lebens. Dem „Zeitgeist“ der Weimarer Republik wie auch dem des neuen Regimes gegenüber blieb er jedoch auf Distanz.2
III Friedrich Nietzsche sollte in den nächsten Jahren die zentrale Rolle im wissenschaftlichen Arbeitsleben Karl Schlechtas spielen. Sein Lehrer Walter F. Otto, der 1933 in den Wissenschaftlichen Ausschuss des Nietzsche-Archivs in Weimar gewählt worden war, bot ihm um die Jahreswende 1933/34 eine Mitarbeit für die seit 1931 dort vorbereitete Nietzsche-Ausgabe an. Schlechta sagte zu und bezog eine Wohnung in der „Villa Silberblick“, dem Sitz des Archivs. Im Mai 1934 übernahm er, finanziert durch Stipendien der Notgemeinschaft, der späteren Deutschen Forschungsgemeinschaft, die Arbeiten an der Edition, zunächst gemeinsam mit Hans Joachim Mette, der jedoch bald als Assistent an die Universität Bonn wechselte; später kamen weitere Mitarbeiter hinzu. Seit 1936 avancierte Schlechta schließlich zum leitenden Herausgeber der Ausgabe. Das blieb er, auch nach seiner Übersiedlung nach Frankfurt im Oktober 1938 und während seines Kriegsdienstes zwischen Januar 1941 und Mai 1944, bis zum Jahre 1945. Die Mitarbeit an der Nietzsche-Ausgabe bot Schlechta zunächst die Chance einer bezahlten wissenschaftlichen Tätigkeit – ein von Schlechta und anderen an den Entscheidungen beteiligten Personen als nicht unwichtig erachteter Aspekt. Auch intellektuell und wissenschaftlich bot die Arbeit am Nachlass Nietzsches für Schlechta zunächst ein durchaus attraktives Betätigungsfeld. Welchen Platz Nietzsche im Denken und Schaffen des vielseitig interessierten und belesenen Schlechta bis zu seinem Umzug nach Weimar inne hatte, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. In seiner Wiener Dissertationsschrift hatte er sich mit der naturphilosophischen Methode Carl Friedrich Burdachs beschäftigt; Gegenstand seiner erst im Oktober 1938 in Jena abgeschlossenen Habilitation waren, wie erwähnt, Aristoteles und Goethe (Schlechta 1938a und 1938b). Eine Hauptrolle hatte Nietzsche in Schlechtas bisherigen wissenschaftlichen Arbeiten offenbar nicht gespielt. Dass Schlechta ein „guter Kenner und Verehrer Nietzsches“ gewesen sei, der „in der schriftlichen Hinterlassenschaft Nietzsches ein heiliges Vermächtnis“ sah, war von Otto in seinem Empfeh-
2 Vgl. dazu und für die folgenden Ausführungen und den ausführlichen Quellen- und Literaturverweisen: Thiel 2009 und Thiel 2010.
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lungsschreiben für Schlechta rhetorisch sicher überhöht worden. Berücksichtigt man die starken Wirkungen Nietzsches auf die Frankfurter Georgeaner, mit denen Schlechta ja verkehrte, so wird sein akademischer Mentor Schlechtas damalige Sicht auf Nietzsche aber nicht nur übertrieben haben. Der NietzscheKult, den die in der „Villa Silberblick“ bei Dienstantritt des neuen Mitarbeiters noch allmächtige Nietzsche-Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche und ihre nächsten Mitstreiter im Archiv zelebrierten, schien zumindest anfänglich auch den jungen Schlechta in seinen Bann gezogen haben: Der Staatsmann im Hause des ersten Staatsdenkers und doch nicht als Politiker bei dem Philosophen, sondern als gütig-freundlicher und persönlichster Besucher bei der in fast unwirkliches Greisenalter erhobenen „Schwester“, deren unvergleichliche Treue wir das Wissen um die neuen Ziele verdanken. So mag in alten Zeiten eine große Mutter ihren großen Sohn, eine Prophetin ihren Helden empfangen, ein großer Mensch die die heilige Flamme hütende Priesterin begrüßt haben. […] Unvergeßlich wird jedem, der es sah, bleiben, wie der Mann, auf den ganz Deutschland in Hoffnung auf den die Welt mit lebendigstem Interesse schaut, von der im hellsten Sonnenlicht stehenden unirdisch zierlichen Greisin Abschied nahm.3
Es fällt schwer, dieses triefende Pathos, mit dem Karl Schlechta den Besuch Adolf Hitlers bei Nietzsches Schwester am 20. Juli 1934 – wenige Tage nach dem sog. „Röhm-Putsch“ – im Nietzsche-Archiv als Protokollant beschreibt, nicht mit der Nietzscheanischen Kategorie des Monumentalen zu fassen. Selbst wenn man den quasi-offiziellen Charakter von Schlechtas Schilderung für das „Tagebuch“ des Archivs, das Hineinredigieren der im Hause Nietzsches mitregierenden und Hitler verehrenden Brüder Oehler in Rechnung stellt, so kommt man nicht umhin, Schlechtas sehr „hohen Ton“ befremdlich zu finden. Das Pathos wich bei Schlechta allerdings schon bald der Ernüchterung. Der neue Archivmitarbeiter machte sich zunächst mit viel Enthusiasmus an seine Arbeit. Schon nach wenigen Monaten, im Oktober 1934, konnte er ein vorzeigbares Arbeitsergebnis vorlegen: den ersten Abschnitt des Briefwechsels Carl von Gersdorffs mit Friedrich Nietzsche, der als Jahresgabe der „Gesellschaft der Freunde des Nietzsche-Archivs“ erschien. Bis 1940 bearbeitete Schlechta vor allem den philosophischen Teil der Werkausgabe, beaufsichtigte aber auch die Vorbereitung des ersten Bandes der Briefausgabe. Unter Schlechtas wissenschaftlicher Leitung und seiner alleinigen oder Mit-Herausgeberschaft entstanden schließlich bis 1942 fünf Werk- und vier Briefbände der „Historisch-kritischen Ausgabe“ (Hoffmann 1991, S. 104–105). 3 Niederschrift Karl Schlechtas über den Besuch Hitlers bei Frau Förster-Nietzsche am 20. Juli 1934, Einlage im Tagebuch Nr. 2 des Nietzsche-Archivs, Klassik-Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv (GSA), 72/1596.
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Die Arbeit am Nachlass eines seit fast einem halben Jahrhundert toten, posthum aber zu großer Wirkung gelangten Philosophen war, folgt man der Diktion von Nietzsches „Unzeitgemäßer Betrachtung“, in erster Linie antiquarischer Art. Er verrichtete sie auch mit der notwendigen philologischen Sorgfalt. Aber das Nietzsche-Archiv war kein normales Archiv; und die von ihr veranstaltete Nietzsche-Ausgabe nicht irgendeine beliebige Edition, schon gar nicht während des Nationalsozialismus. Das musste auch Karl Schlechta bald erfahren. Nietzsches Schwester, Elisabeth-Förster-Nietzsche, wachte mit Argusaugen über den Nachlass und Nachruhm ihres Bruders. „Fahrlässigkeiten und Willkürakte in der Herausgabe und Verwaltung von Nietzsches Nachlaß“ waren ein lange bekanntes Ärgernis und immer wieder Gegenstand von Kritik. So hatte beispielsweise Walter Benjamin das „Archiv der Schwester“ 1931 als einen Ort des „Grauens“ geschildert. „Abgründe“, so Benjamin in seinem Bericht, würden Nietzsche „auf immer vom Geist der Betriebsamkeit und des Philistertums“ trennen, den er im Nietzsche-Archiv herrschen sah.4 Die Aktivitäten des Nietzsche-Archivs waren von Anfang an weit über das AntiquarischArchivische hinausgegangen. Das Nietzsche-Archiv war Aufbewahrungs- und Deutungsort zugleich; kultischer Verehrungsort für das Monument Nietzsche, vor allem für die politisch immer weiter nach rechts driftenden „NietzscheVerehrer“ vor und nach 1933.5 Schon wenige Monate nach dem oben zitierten pathetischen Tagebucheintrag geriet Schlechta in ernste Konflikte mit Nietzsches „unheilvolle[r] Schwester“, wie er sie rückblickend nennen sollte (Schlechta 1958b, S. 12). Von einer in seine Richtung geworfenen Krücke war die Rede, als er erste vorsichtige Andeutungen über Manipulationen des Nachlasses durch Förster-Nietzsche machen sollte. Zur Gewissheit wurden Schlechta die Fälschungen Elisabeth Förster-Nietzsches jedoch erst, als er in den Monaten nach ihrem Tode im November 1935 ihren umfangreichen Nachlass sichtete. Das Bekanntwerden dieser folgenreichen Entdeckung hätte im „Dritten Reich“ ein Politikum bedeutet: Nietzsches Schwester genoss auch nach ihrem Tod höchstes Ansehen bei der NS-Führung. Darüber war sich auch Schlechta im Klaren: „Man kann nicht einen Menschen, der durch ein Staatsbegräbnis geehrt worden ist, in aller
4 Benjamin 1932/1989, S. 323 und S. 326. Zu Förster-Nietzsches Fälschungen siehe zuletzt etwa Niemeyer 2009. 5 Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs vor und im „Dritten Reich“, seiner „Faschisierung“ und „Nazifizierung“ sowie zur bestimmenden Rolle von Elisabeth Förster-Nietzsche vgl. die ausführlichen Literaturhinweise in: Thiel 2010, S. 230 (Anm. 4).
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Öffentlichkeit als einen Schwindler erklären“, beschrieb er das Dilemma, in dem er sich befand.6 In Absprache mit den anderen Herausgebern, dem Wissenschaftlichen Ausschuss und der Leitung des Nietzsche-Archivs, aber auch mit Rückendeckung der zuständigen NS-Dienststellen, die informiert werden mussten, entschied sich Schlechta schließlich für eine vermeintlich salomonische Lösung. Als 1940 die Publikation des vierten Briefbandes mit den brisanten, von Förster-Nietzsche gefälschten Briefen, bevorstand, entschied sich Schlechta nach nochmaliger Rücksprache mit Alfred Baeumler, dem Leiter des Amtes Wissenschaft in der Dienststelle Rosenberg, dafür, die als „apokryph“ eingestuften Briefe nicht in den eigentlichen Textteil aufzunehmen. Nur in einem „Nachbericht“ sollte vorsichtig auf die Brisanz der Briefe hingewiesen werden.7 Erst nach 1945 hat Schlechta offen und an verschiedenen Stellen auf die Manipulationen und Fälschungen von Nietzsches Schwester hingewiesen.8 Karl Schlechta war spätestens nach der Entdeckung der Fälschungen in Konflikte mit den Editionsprinzipien der „Historisch-kritischen Ausgabe“ gekommen. Von deren Einhaltung hing die ohnehin nicht unumstrittene wissenschaftliche Reputation der Ausgabe wesentlich ab. Die historisch-kritische Methode des Edierens, die Schlechta als Hauptherausgeber im NietzscheArchiv durchzusetzen versuchte, war schon zuvor, sowohl bei den Nachlassverwaltern um die Brüder Oehler als auch bei den zuständigen, miteinander konkurrierenden NS-Dienststellen, auf Kritik gestoßen. Anlässlich des Erscheinens des 1933 – noch ohne Zutun Schlechtas – erschienenen ersten Werkbandes war es erstmals zu größeren Problemen gekommen. Das Amt Schrifttumspflege der Dienststelle Rosenberg – die zentrale Zensurinstanz im NS-Staat – hatte das von Mette herausgegebene Werk auf die Liste der „nicht zu fördernden“ Bücher gesetzt, was de facto einer Indizierung gleichkam. Das Amt Schrifttumspflege kritisierte vor allem die dem Gesamtwerk Nietzsches angeblich nicht gerecht werdende „philologische Akribie“ des Bandes, die ein „Musterbeispiel einer Verwissenschaftlichung großer Werke und Persönlichkeiten“ sei. „[W]issenschaftliche[s] Alexandrinertum“ und die „Entartung philologischer und psychologischer Wissenschaftsmethode“ standen – geschickt an Nietzsches Wissenschaftskritik anknüpfend und ähnlich klingende spätere Polemiken gegen die Schlechta-Ausgabe der 1950er Jahre vorwegnehmend – als schwer wiegende Vorwürfe im Raum. Nur Schlechtas geschicktem Agieren gegenüber dem Amt Schrifttumspflege und den verärgerten Ausschussmitglie-
6 Karl Schlechta an Wilhelm Hoppe, 18.01.1940, GSA, 72/2037b. 7 Vgl. dazu Zapata Galindo 1995, S. 199–200 sowie die Korrespondenz in: GSA, 72/1583. 8 Siehe zusammenfassend: Schlechta 1969c.
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dern war es zu verdanken, dass die Ausgabe nach diesem Eklat überhaupt weitergeführt werden konnte.
IV Für den Herausgeber Karl Schlechta führten solche, hier nur kurz umrissene Erfahrungen im Archiv und mit der Ausgabe mehr und mehr zu einer kritischen Distanzierung – zunächst von den Nachlassverwaltern im Nietzsche-Archiv, dann gegenüber den vielen unkritischen Nietzsche-Verehrern und schließlich sogar zu einer kritischen Sicht auf das Werk Nietzsches selbst. In diesem Distanzierungs- und Erkenntnisprozess spielte – nach eigenem Bekunden – noch ein weiterer, ein außerwissenschaftlicher Faktor eine wichtige Rolle, der hier jedoch nur am Rande erwähnt werden kann: seine Erfahrungen als Soldat im Zweiten Weltkrieg. Schlechta war im Januar 1941 zur Wehrmacht eingezogen worden. Den größten Teil der Dienstzeit verbrachte er als Nachrichtensoldat und „inoffizieller Dolmetscher“ seiner Einheit in Italien. Das Militär, so schrieb er rückblickend, hatte er als eine „Schule des praktischen Nihilismus“ erlebt.9 Die Tragweite dieser fast beiläufigen Bemerkung sollte nicht unterschätzt werden, denn insbesondere am Nihilismus-Problem machte Karl Schlechta nach 1945 seine Kritik an Nietzsche und dessen mystifizierenden Verehrern fest. Am deutlichsten artikulierte er seine scharfe und grundsätzliche Kritik im Falle von Rudolf Pannwitz. Pannwitz hatte die von Schlechta herausgegebene dreibändige Werkausgabe, die zwischen 1954 bis 1956 erschienen war, besonders heftig angegriffen. Auf die Einzelheiten dieser Kritik kann hier ebenso wenig eingegangen werden wie auf die anderer namhafter Kritiker der Ausgabe, zu denen mit gleichen und unterschiedlichen Argumenten und Intentionen auch Karl Löwith, Erich Podach oder Alfred Baeumler gehörten.10 Schlechta nutzte seine Replik gegen den stark von Stefan George beeinflussten Rudolf Pannwitz 1958 zu einer Generalabrechnung mit allen „besinnungslosen Nietzsche-Enthusiasten“ – und obendrein mit den sich ebenso gebärdenden George-Anhängern (Schlechta 1958e: Zitat S. 99). In verschiedenen Beiträgen, in denen er sich mit seinen Kritikern auseinandersetzte und die unter dem Titel „Der Fall Nietzsche“ 1958 in Buchform erschienen (Schlechta 1958a), kam Schlechta immer wieder auf seine langjährige Tätigkeit im Nietzsche-Archiv, seine Begegnungen mit Elisabeth Förster9 Schlechta 1969b, S. 52. Weitere Reflexionen von Schlechta über seine Militärzeit in: Schlechta 1969c. 10 Vgl. dazu zusammenfassend Schlechtas Reaktionen in: Schlechta 1958a.
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Nietzsche und seine eigene Entwicklung in diesen Jahren zu sprechen. Natürlich war er dabei bemüht, seine Rolle in dem teils grotesken Geschehen rund um den Nietzsche-Nachlass, das Nietzsche-Archiv und die „Historisch-kritische Ausgabe“ möglichst positiv darzustellen. Gleichwohl sind Schlechtas Rechtfertigungsschriften die wohl wichtigste Quelle für seine Entwicklung vom enthusiastischen Nietzsche-Herausgeber zum Skeptiker gegenüber Nietzsches Werk und dessen unkritische Vereinnahmung durch in seinen Augen unberufene Bewunderer: Ich rechtfertige mich […] nicht vor „Verehrern“ irgendwelcher Art; […] sie sind unbelehrbar. In der zwischen echtem „Führertum“ und „enger Wahlgemeinde“ sich notwendig bildenden Atmosphäre verkümmern die Organe echten Verstehens in einer Weise, die jedes fruchtbare Gespräch ausschließt. Ich verehre gewiß große Menschen – Nietzsche mit eingeschlossen – aber ich verehre nicht jene Götzen, welche die „Verehrer“ von der Art Pannwitz‘ aus großen Menschen machen; und zwar darum nicht, weil ich in besagten Götzen primär die Gesichter derjenigen erkenne, welche diese „Verehrung“ nötig haben. Ich sinke nicht mehr in die Knie vor irgendeinem „Erneuerer der musischen Mysterien“ […] weil ich den Zusammenhang zwischen dieser Form des „musischen Pathos“ und unserem realen Unglück erkannt habe. […] Vielleicht war ich einmal töricht genug, Nietzsche für gefährlicher zu halten als seine „Verehrer“. Heute weiß ich es besser; heute würde ich mit anderen Augen vom „Silberblick“ des Nietzsche-Archivs über Weimar hinweg nach „Buchenwald“ hinüberschauen. Diese zwei Dinge stehen schon in Relation zueinander – und zwar genau dank jener „Verehrung“, welche das Urteilsvermögen lähmt. […] Nein, das ist vorüber: inzwischen ist einiges geschehen. (Schlechta 1958a, S. 100–101)
Oder an anderer Stelle: Auch das sehr persönliche Nachwort [zu Nietzsches „Werken in drei Bänden“ – J.T.] hat man mir da und dort verübelt – wenn ich es auf eine Formel bringen darf: man vermißte die „Verehrung“. Ich habe nichts gegen Verehrung; aber wer sie in der Wissenschaft will, soll aus ihr aussteigen. (Schlechta 1969c, S. 130)
Karl Schlechtas Distanzierungsprozess im Nietzsche-Archiv hat jedoch nie zu einer vollständigen Abkehr von Nietzsche und seinem Werk geführt. Nach 1945 besorgte er nicht nur die bereits erwähnte dreibändige Werkausgabe für den Carl Hanser Verlag in München, die bei aller Problematik doch einen Meilenstein in der Geschichte der Nietzsche-Editionen darstellt und die trotz ihrer Schwächen bleibende Verdienste in Anspruch nehmen darf. Darauf hat nicht zuletzt Mazzino Montinari hingewiesen. Ohne die Auseinandersetzung mit den beiden Nietzsche-Ausgaben, an denen Schlechta beteiligt gewesen war, wäre seine gemeinsam mit Giorgio Colli begonnene neue „Kritische Gesamtausgabe“ der Werke und Briefe Nietzsches nicht denkbar gewesen.11 11 Montinari 1982, bes. 176. Ähnlich Janz 1978, S. 7–12, oder, wenngleich kritischer, MüllerLauter 1974, S. 6–12.
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Schlechtas wütendes Diktum: „[N]icht nur Frau Förster-Nietzsche, auch Friedrich Nietzsche ist tot“ aus der Zeit der Auseinandersetzungen um die Schlechta-Ausgabe (Schlechta 1958d, S. 93), hatten also seiner eigenen Beschäftigung mit Nietzsche keinen vollständigen Abbruch getan, auch wenn Nietzsche in Schlechtas Schaffen nach 1945 nur ein Thema unter anderen war. Besonders in den unmittelbaren Nachkriegsjahren hat Schlechta seine Studenten in Mainz, später in Darmstadt, mit dem Werk Nietzsches vertraut gemacht. Im Februar 1947 hielt er beispielsweise an der Universität Mainz einen Vortrag über den jungen Nietzsche und das klassische Altertum, der auch als Broschüre veröffentlicht wurde – einer der ersten öffentlichen Nietzsche-Vorträge in Deutschland nach 1945 überhaupt (Schlechta 1948). Wenig später verteidigte er Nietzsche und seine Philosophie gegenüber allzu radikalen Verdikten, warnte vor einem „überstürzt unternommenen geistesgeschichtlichen Revidierungsverfahren“ und forderte eine „wahre Diskussion um den wahren Nietzsche“ (Schlechta 1947). Bis in die 1960er Jahre erschienen weitere eigenständige Arbeiten Schlechtas zu Nietzsche: 1954 seine Abhandlung über „Nietzsches Große[n] Mittag“ (Schlechta 1954); 1962, gemeinsam mit seiner Schülerin Anni Anders, ein Buch über die „[V]erborgenen Anfänge“ (Schlechta u. Anders 1962) von Nietzsches Philosophie. Bis in die 1980er Jahre folgten eine Reihe weiterer Nietzsche-bezogener Aufsätze und Artikel.12 Immer wieder finden sich in diesen Arbeiten biographische und sachliche Rückbezüge an seine Arbeit im Nietzsche-Archiv. Die eigene Leistung hat Schlechta dabei durchaus bescheiden eingeschätzt, sich aber immer zu seiner „Kärrnerarbeit“ im Archiv und für die Ausgabe bekannt: Man stellte da und dort fest, meine Arbeit reiche nicht an die großen Nietzsche-Interpretationen heran. Das mag sein; das ist eine Frage des jeweiligen Ingeniums. Mir genügt es, wenn meine Leistung den großen Interpretationen nicht im Wege steht; im Grunde wollte ich ja weniger deuten, als sichtbar machen. (Schlechta 1958d, S. 95)
Für Nietzsches Texte forderte Schlechta dabei das ein, was für jede sorgfältige historisch-philologische Arbeit zu gelten hat: „die unabdingbare Sorgfalt vor dem Text“ (Schlechta 1958d, S. 95). Hier war und blieb Schlechta der historisch korrekte, ja, um Nietzsches Kategorien noch einmal zu bemühen, der antiquarisch-kritisch arbeitende Wissenschaftler. Mit Nietzsches zweiter „Unzeitgemäßer Betrachtung“ hat sich Karl Schlechta nach 1945 immer wieder auseinandergesetzt (Schlechta 1958c oder 1958 f.). Dabei stand er, ähnlich wie Nietzsche, einem Zuviel an „Historie“
12 Etwa: Schlechta 1958f, 1975 und 1976.
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durchaus skeptisch gegenüber. Das zeigt, wie sehr er, trotz aller Distanz, von Nietzsches Denken geprägt worden war: Werden die Gegenstände der Geisteswissenschaft nicht überwiegend historisch behandelt? Ich schweige davon, daß kaum ein Lehrer mehr weiß, nach welchen letzten Werten er heute vor seinen Schülern Geschichte treiben soll und mit seiner Schülerschaft ständig im uferlosen Geschehen zu ertrinken droht. Haben wir nicht darüber hinaus noch die Literaturhistorie in der Mutter- und in der jeweiligen Fremdsprache? Haben wir nicht auch noch die Kunstgeschichte dazu? (Schlechta 1958f, S. 282)
Auflösen konnte Schlechta die „merkwürdige Paradoxie“ (Schlechta 1958f, S. 282), die in Nietzsches Schrift vom „Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ liegt, nicht. Durch seine historisch-philologischen Arbeiten in der „Villa Silberblick“ in Weimar und in späteren Jahren aber hat Schlechta Nietzsche selbst ein Stück historisiert. Dabei ist er glücklicherweise weder zu einem unkritischen Anbeter eines Monuments namens Nietzsche noch ein „den Staub bibliographischer Quisquilien“ fressender Antiquar geworden. Seine vielfältigen Interessen, sein Wirken als Herausgeber, Gelehrter und anregender Hochschullehrer, nicht zuletzt sein schriftstellerisches Schaffen – er veröffentlichte unter dem Pseudonym Franz Zöchbauer mehrere Romane – widerlegen im Übrigen auch ein weiteres abfälliges Diktum aus Nietzsches zweiter „Unzeitgemäßen Betrachtung“: Der von Nietzsche hergestellte Zusammenhang zwischen dem „antiquarische[n] Sinn eines Menschen“ und einem notwendig damit einhergehenden „höchst beschränkten Gesichtsfeld“ (UB II, KGW III/1, S. 263) lässt sich zumindest im Falle seines Herausgebers Karl Schlechta widerlegen.
Bibliographie Benjamin, Walter (1932/1989): „Nietzsche und das Archiv seiner Schwester“, in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. III: Kritiken und Rezensionen. Frankfurt a. M., S. 323– 326. Greiert, Andreas (2008): „Interpretation, Macht, Geschichte. Nietzsche für Historiker“. In: Nietzscheforschung 16, S. 79–94. Hoffmann, David Marc (1991): Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs. Chronik, Studien und Dokumente. Berlin, New York. Janz, Curt Paul (1978): Friedrich Nietzsche. Biographie. Erster Band. München. Montinari, Mazzino (1982): „Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukács“. In: Mazzino Montinari: Nietzsche lesen. Berlin, New York, S. 169–206. Müller-Lauter, Wolfgang (1974): „Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht“. In: Nietzsche-Studien 3, S. 1–60. Niemeyer, Christian(2009): „,die Schwester! Schwester! ‚s klingt so fürchterlich!‘ Elisabeth Förster-Nietzsche als Verfälscherin der Briefe und Werke ihres Bruders – eine offenbar notwendige Rückerinnerung“. In: Nietzscheforschung 16, S. 335–355.
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Schlechta, Karl (1938a): Goethe in seinem Verhältnis zu Aristoteles. Ein Versuch. Frankfurt a. M. Schlechta, Karl (1938b): „Goethe in seinem Verhältnis zu Aristoteles. Ein Überblick“. In: Goethe. Viermonatsschrift der Goethe-Gesellschaft. Neue Folge des Jahrbuchs 3, S. 251–256. Schlechta, Karl (1947): „Entnazifizierung Nietzsches? Wandel in Urteil und Wertung“. In: Göttinger Universitäts-Zeitung 16, S. 3–4. Schlechta, Karl (1948): Der junge Nietzsche und das klassische Altertum. Mainz. Schlechta, Karl (1954): Nietzsches Großer Mittag. Frankfurt a. M. Schlechta, Karl (1958a): Der Fall Nietzsche. Aufsätze und Vorträge. München. Schlechta, Karl (1958b): „Vorwort“. In: Karl Schlechta: Der Fall Nietzsche. Aufsätze und Vorträge. München, S. 9–12. Schlechta, Karl (1958c): „Nietzsches Verhältnis zur Historie“. In: Karl Schlechta: Der Fall Nietzsche. Aufsätze und Vorträge. München, S. 42–70. Schlechta, Karl (1958d): „Die Legende und ihre Freunde“. In: Karl Schlechta: Der Fall Nietzsche. Aufsätze und Vorträge. München, S. 86–98. Schlechta, Karl (1958e): „Nietzsche und kein Ende“. In: Karl Schlechta: Der Fall Nietzsche. Aufsätze und Vorträge. München S. 99–115. Schlechta, Karl (1958f):„Friedrich Nietzsche in heutiger Sicht“. In: Universitas 13, S. 173–182. Schlechta, Karl (1969a): „Optimismus und Hoffnungslosigkeit. Die Stellung der modernen Wissenschaft“. In: Karl Schlechta: Worte ins Ungewisse. Rundfunk-Reden. Darmstadt, S. 51–59. Schlechta, Karl (1969b): „Bildung und Unbildung“. In: Karl Schlechta: Worte ins Ungewisse. Rundfunk-Reden. Darmstadt, S. 100–108. Schlechta, Karl (1969c): „Meine Nietzsche-Ausgabe“. In: Karl Schlechta: Worte ins Ungewisse. Rundfunk-Reden. Darmstadt, S. 123–130. Schlechta, Karl (1975): „Nietzsche und die Musik“. In: Jan M. Broekman/Jan Knopf (Hrsg.): Konkrete Reflexionen. Festschrift für Hermann Wein zum 60. Geburtstag. Den Haag, S. 45–52. Schlechta, Karl (1976): „The German ‚Classicist‘ Goethe as Reflected in Nietzsches Works“. In: James C. O’Flaherty (Hrsg.): Studies in Nietzsche and the Classical Tradition. Chapel Hill, S. 144–155. Schlechta, Karl/Anders, Anni (1962): Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens. Stuttgart, Bad Cannstadt. Thiel, Jens (2009): „Einlassungen und Auslassungen. Karl Schlechta im ‚Dritten Reich‘“. In: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Philosophie im Nationalsozialismus. Hamburg, S. 271– 295. Thiel, Jens (2010): „,… das kommt davon, wenn man sich mit den allerhöchsten Herrschaften in den Höhen unseres Geisteslebens einlässt‘“. Karl Schlechtas ‚rettende Nüchternheit‘ und die Historisch-Kritische Gesamtausgabe der Schriften Friedrich Nietzsches im ‚Dritten Reich‘“. In: Nietzscheforschung 17, S. 229–248. Zapata Galindo, Martha (1995): Triumph des Willens zur Macht. Zur Nietzsche-Rezeption im NS-Staat. Hamburg.
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Goebbels liest Nietzsche Ein deutscher Faschist aus dem Geist Zarathustras? „Ich lese Nietzsche-Predigten, die Fröhliche Wissenschaft“ – so aufgezeichnet in einem Tagebuch-Roman, betitelt Michael, verfasst von einem gewissen Paul Joseph Goebbels (Goebbels 1942a, S. 51), der Weltgeschichte einprägsam bekannt geworden nicht als Literat, sondern eher als Politiker, als ein rhetorisch höchstbegabter deutscher Reichspropaganda-Minister, als brutaler Einpeitscher, der den größten Massenmord in Europa miterfunden und gerechtfertigt hat. In dieser Rolle ist er unvergesslich geblieben, in der Rolle des zartfühlenden Lyrikers, Romanschreibers und Dramatikers ist er der Nachwelt weniger präsent; aber gerade in seinen zumeist erschreckend talentlosen und sprachlich missglückten dichterischen Produkten treten seine Handlungsmotive, seine Denkfiguren, seine psychischen Defekte, die seinen politischen Aktionen, seinen Verbrechen an der zivilisierten Gesellschaft zugrunde liegen, ziemlich deutlich und erkenntnisfördernd hervor – auch im Hinblick auf seine geistigen Vorbilder, seine historisch-philosophischen Referenzfiguren, die er für sich ausdeutet und für die später von ihm verkündete nationalsozialistische Weltanschauung nutzbar zu machen versucht. Und leider, horribile dictu, befindet sich auch Friedrich Nietzsche in dieser schauerlichen Ahnengalerie, neben all den bekannten Gestalten aus der völkisch-nationalistischen, konservativ-revolutionären Gespensterkammer. Man könnte also hier, am Beispiel der Person des Joseph Goebbels, der Versuchung erliegen, noch einmal den allbekannten, teilweise heftig und sehr kontrovers geführten Streit aufzunehmen: nämlich ob oder auch in welchem Maße die Philosophie Nietzsches als Vorläuferin der nationalsozialistischen Ideologie interpretiert werden muss – eine Frage, die man heute vielleicht differenziert beantworten kann, kaum noch im Sinne einer naiven Kausalität, aber auch nicht unter Zuhilfenahme einer Verharmlosungsstrategie, die alle politisch gefährlichen, in gewisser Weise faschistischen Elemente im Werk Nietzsches leugnen oder freundlich „glätten“ möchte. Angesichts der Vielseitigkeit seiner völlig unsystematischen, in sich widersprüchlichen Philosophie ist es überhaupt ein fragwürdiges Unterfangen, in Nietzsche ein Vorbild zu sehen oder ihn in eine bestimmte, positiv oder negativ zu wertende geistige Richtung einzuordnen. Soll man den schwärmerischen Nostalgiker verehren, der ein vorsokratisches Griechentum der Kultur des modernen Bildungsphilisters entgegen zu setzen versucht? Oder liebt man den feinsinnigen Moralisten in der Tradition der französischen Aufklärung?
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Oder ist man berauscht von dem Propagandisten einer ominösen Herrenrasse, die ein als minderwertig phantasiertes Menschenmaterial der Vernichtung anheimgeben will? – Man geht nicht fehl in der Annahme, dass diesem letzten Selbstentwurf Nietzsches die ganz besondere Zuneigung des Faschisten Goebbels gilt, findet er hier doch die schönsten Anknüpfungspunkte, kann er hier doch ein in die intellektuelle Trivialität abgesunkenes Nietzsche-Vokabular für seine eigenen Tiraden nutzbar machen, kann er sich hier doch in eine Zarathustra-Stimmung mit prophetischem Kitsch und Untergangsmelancholie versetzen. In dem heroisch-kriegerischen Nietzsche-Bild, wie es im frühen 20. Jahrhundert auch und gerade im akademischen Bereich von den Lehrstühlen herab entworfen wurde, findet sich der skrupellose Kriminelle Goebbels wieder, hier gelingt ihm ein Anempfinden, das dem geistigen Habitus des ernsthaft-verzweifelten, im tiefsten Grunde hochmoralischen Denkers Nietzsche vollkommen entgegengesetzt ist, wobei am Ende zu prüfen ist, ob nicht doch eine heimliche verborgene Verwandtschaft besteht, die es Goebbels ermöglicht, Nietzsche auf intellektuell schamlose Weise zu okkupieren und für sich nutzbar zu machen. Zu welchem Ergebnis ein Vergleich Nietzsche-Goebbels auch immer kommen mag – bei der Beschäftigung mit jenem großen Verbrecher, der im Jahre 1945 elend zugrunde gegangen ist, gerät man heute reichlich schnell an eine moralische Ekel-Hemmschwelle, und die Lektüre seiner Texte setzt ein gehöriges Maß an intellektueller Leidensfähigkeit voraus. Da zitiert zum Beispiel die literarische Kunstfigur Michael (ein kaum verdecktes Selbstporträt des Autors Goebbels) in einem Akt anbiedernder Identifikation die letzte Zeile des Nietzsche-Gedichtes Ecce homo (FW, KSA 3, S. 367), nämlich „Flamme bin ich sicherlich“, um auf diese Weise zu verdeutlichen, dass sie sich dem Philosophen in dessen geradezu selbstzerstörerischer Erkenntnisglut eng verbunden fühlt (Goebbels 1942a, S. 54), um dann gleich anschließend als prophetischapodiktischer Pseudo-Nietzsche zu verkünden, dass „der Jude […] unser Volk [also das deutsche] geschändet, unsere Ideale besudelt, die Kraft der Nation gelähmt, die Sitten angefault und die Moral verdorben [hat]“ (Goebbels 1942a, S. 56). Trotz aller innerer Widerstände: Neugierig fragt man nach der Herkunft dieses furchtbaren Menschen, nach seinen geistigen Wurzeln, nach dem Milieu, das ihn geprägt und verdorben hat. Goebbels wächst auf im niederrheinisch-erzkatholischen Kleinbürgertum, bedrängt von einem autoritären, gefühlskalten Vater, notdürftig beschützt von einer leicht verhärmten Mutter, die Trost im Glauben findet und kaum eine Frühmesse versäumt. Mühsam verdrängt sie den in ihrer Kleinstadt Rheydt (bei Mönchengladbach) geäußerten Verdacht, dass sich in ihrem dritten Sohn Paul Joseph ein göttliches Strafgericht manifestiert: Der rechte Fuß des Kindes ist verformt, orthopädische
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Maßnahmen bleiben erfolglos, eine Operation misslingt. Man meint, dass der kleine Joseph Goebbels, vielleicht aus ganz verborgenen Gründen, „aus der Art geschlagen“ sei – immer wieder geht die Mutter mit ihm in die Rheydter Marienkirche, wo sie, wie ein Biograph berichtet, „neben ihm knieend, den Herrgott leise anflehte, er möge dem Kind Kraft geben und das Übel von ihm und der Familie wenden“ (Reuth 2005, S. 15). Aus dem Jenseits gibt es jedoch keine Hilfe: Goebbels bleibt lebenslang körperbehindert, sein hinkender Gang wird später, neben der Kleinwüchsigkeit, viel Anlass zu Spott und Häme bieten. Schon früh unterliegt die Psyche des jungen Goebbels dem unabweisbaren, quälenden Drang, diese für alle Welt sichtbare, auffällige Behinderung durch besondere intellektuelle Leistungen, durch soziale Disziplin, durch rigorose, fast übersteigerte Anpassung an die gesellschaftlichen Normen für sich und sein Umfeld vergessen zu machen. Seine Schulnoten, vor allem auf dem Gymnasium, sind überdurchschnittlich, er wird von einem krankhaften Ehrgeiz getrieben; seine Interessen und Begabungen sind eher musischer und literarischer Natur – mit großem Engagement gestaltet er beispielsweise die Hauptrollen in Schultheater-Aufführungen, nimmt Klavier-Unterricht, verfasst Gedichte und versucht sich sogar an kleinen dramatischen Gebilden. Er wird von seinen Mitschülern allerdings nie wirklich akzeptiert und integriert, so dass er oft einsame Stunden in einer Dachkammer des elterlichen Hauses verbringt, melancholisch-betrübt, mit Weltschmerz-Phantasien, zuweilen sogar von Selbstmord-Gedanken geplagt. Nach dem glänzend bestandenen Abitur studiert er Germanistik und Kunstgeschichte in Bonn, Freiburg, Würzburg, München und Heidelberg, promoviert 1921 in Heidelberg mit einer Arbeit über den romantischen Dramatiker Wilhelm von Schütz („Ein Beitrag zur Geschichte des romantischen Dramas“). Zu dieser Zeit deutet nichts, aber auch gar nichts darauf hin, dass sich Goebbels eine wie auch immer geartete politische Laufbahn erträumt. Ein Theaterintendant berichtet dagegen, dass im Jahre 1921 ein junger Mann bei ihm erschienen sei: Er war sauber, aber etwas schäbig gekleidet, hatte leuchtende Augen, ein hageres Gesicht und humpelte ein wenig. Der junge Mann sagte, er heiße Goebbels und suche einen Posten in der dramaturgischen Abteilung. Er habe schon selbst Stücke geschrieben und sein Traum sei es, einmal Regisseur zu werden. (Fraenkel-Manvell 1962, S. 71)
Die Bühnenkarriere bleibt Goebbels versagt (er wird in späteren Jahren auf einer anderen, größeren Bühne sein Theater-Talent ausleben). Den bürgerlichen Weg in den gymnasialen Schuldienst vermag er nicht zu gehen, er sieht sich eher als Feuilleton-Redakteur, als Verlagslektor, oder gar als erfolgreichen, anerkannten Schriftsteller – und muss doch, im Hinblick auf seine weitere Zukunft, nichts als Misserfolge verbuchen, von seinen mehr oder minder zerquälten Liebesgeschichten ganz zu schweigen.
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Das ziellose, von Illusionen und Träumereien bestimmte Leben des jungen Goebbels, seine chaotische psychische Konstitution, seine substantiellen Verunsicherungen hinsichtlich des weiteren Lebensweges korrespondieren auf bemerkenswerte Weise mit den politischen Umbrüchen, die er zur Kenntnis nehmen und erleiden muss: Ein unverhofft verlorener Weltkrieg lässt das deutsche Reich zugrunde gehen, nach einer halben Revolution entsteht in der Weimarer Republik ein demokratischer Staat mit einem parlamentarischen System nach westeuropäischem Vorbild – es ist eine Entwicklung, die Goebbels von Anfang an ablehnt und als „undeutsch“ empfindet. Er erfährt sich dabei allerdings in bester, hochgeistig-interessanter Gesellschaft: Es ist die Zeit, in der ein Thomas Mann mit seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ einem romantisch-nationalistischen Deutschtum das Wort redet; es ist die Zeit, in der ein Oswald Spengler den „Untergang des Abendlandes“ verkündet; es ist die Zeit, in der ein Stefan George in seinen Gedichten ein homophil-autoritäres „Neues Reich“ herbeiphantasiert – und es ist heute allgemein bekannt, dass sich gerade diese drei Heroen nicht selten auf den Heros Nietzsche berufen, zuweilen mit einiger Berechtigung, zuweilen aber auch in schauriger Missinterpretation, immer jedoch in dem Glauben, dass dieser so aufregend unkonventionelle, radikal denkende Philosoph ihre durch die Kriegsniederlage verwundete Seele besänftigen und auch politisch einen Weg aus der geistiggesellschaftlichen Katastrophe weisen kann.1 Ein ganzes Arsenal antidemokratischer, teilweise jedoch höchst widersprüchlicher Argumente und Denkmodelle wird ihnen von Nietzsche geliefert. Mit seiner Hilfe soll ein neues Zeitalter entstehen: Die Bourgeoisie (man könnte auch sagen: das Bildungsphilistertum) mit seinen mechanisch-kalten parlamentarischen Regierungsformen, mit seiner allein auf ökonomischen Regeln und Prinzipien beruhenden Gesellschaftsordnung soll abgelöst werden von einer dem „Ursprünglichen“ näheren Gemeinschaft, in der wieder Glaube, Heroismus, Kampf und Mythos möglich sind – die also den einzelnen Menschen wahrhaft binden und verpflichten kann, indem sie ihm Aufgaben stellt, die wirklich „existentiell“ sind und weit über jene hinausgehen, die der liberale Bourgeois dem Staate meint schuldig zu sein; individuelle, aber auch ganz allgemeine politische „Erlösung“ ist nur garantiert in einem absoluten, diktatorischen Gewaltsystem, das alle institutionellen parlamentarischen Kontrollen radikal zur Seite schiebt und gleichsam eine „Umwertung“ aller politischen Werte (möglicherweise auch gewaltsam) durchzusetzen versucht. Der bürgerlich-liberale Staat mit seiner auf Kompromiss und Interessenausgleich bedachten Gesellschaftsordnung, wie sie zum
1 Zum Gesamtkomplex und weiterführend: Sontheimer 1978; Bracher 1957; Greiffenhagen 1971; Nolte 1963; Raschel 1984; Weber 1989.
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Beispiel in der Weimarer Verfassung festgeschrieben ist, verfällt also der schärfsten Kritik. Am geistig-politischen Horizont der Zeit nach dem ersten Weltkrieg erscheint in Deutschland also nicht ein westeuropäisch geprägtes parlamentarisches System, sondern ein Totalitarismus, der dem einzelnen Menschen unbedingten Gehorsam abfordert (vielleicht sogar bis in den Tod), und dem gegenüber es keine individuelle Vorbehalte geben darf, der „integrierend“ wirkt, indem er die Individualität und die partikulare ratio aufgehen lässt in eine gläubig hinzunehmende, als „irrational“ zu begreifende Lebensund Schicksalsgemeinschaft. Jenen Individuen, die sich zum öffentlichen Handeln, zu einer vita activa berufen fühlen, geht es auf diesem geistigen Hintergrund primär nicht um die Durchsetzung einer bestimmten, an gesellschaftlichen Sachverhalten und Problemen orientierten politischen Zielsetzung, sondern eher darum, aus einer als unbefriedigend empfundenen vita contemplativa in die gesellschaftliche Aktion zu gelangen – der politische Wille stellt sich also dar als ein Wille zum rational unkontrollierten Handeln, als bloßer „Wille zur Macht“. Es lässt sich in der Tat beobachten, dass gerade die antidemokratisch – antiparlamentarischen Politiker der Weimarer Zeit aus einer als negativ empfundenen, leidvoll erfahrenen Lebenssituation unmittelbar, ohne irgendeine Phase der Reflexion, in die politische Aktivität geraten. Das Interesse an einem politischen Programm ist dabei zweitrangig; dieser PolitikerTypus will vielmehr einer ganz individuellen, subjektiven Not dadurch entkommen, dass er im öffentlich-politischen Handeln seinem Dasein „Sinn“ verleiht. Seine Entscheidung zur Politik ist deshalb im höchsten Maße egozentrisch, also immer nur auf seine eigene Existenz bezogen, nicht auf das Leben anderer Menschen, für die er handelt und deren gesellschaftlich- politischen Interessen er zu vertreten versucht. Der Weg in die Politik beginnt folgerichtig mit einer „existentiellen Entscheidung“, die öffentliche Karriere wächst keineswegs langsam und stetig innerhalb einer Organisation oder Partei – am Anfang steht dagegen ein plötzlicher Entschluss, ein irrationales, fast religiöses Erlebnis, das den Zwang auslöst, Politiker zu werden. Es mag in diesem, mit den Kategorien des Verstandes und der Vernunft nicht zu fassenden „Urerlebnis“ begründet sein, dass dieser politische Typ sein öffentliches Handeln stets als „existentiell“, als letztendliche Entscheidung, als ein Entweder-Oder betrachtet und sich dabei propagandistisch eines Freund-Feind- Schemas bedient. Für ihn ist Politik keineswegs Kompromiss und Interessenausgleich, sondern (vielleicht sogar blutiger) Kampf, der keine Alternativen kennt, der entweder zum totalen Sieg oder zur totalen Niederlage führen muss. Ihm geht es nicht um Parteien oder Interessengruppen, die im Diskurs getrennt und doch verbunden sind – das Instrument politischen Handelns ist ihm vielmehr die „Bewegung“, die bedingungslose Zustimmung einer Gruppe oder gar des ganzen Volks, dem
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suggeriert wird, dass es in der Politik um „letzte Dinge“, um das „Heil“ und um „Erlösung“ gehe. Es fällt wahrhaftig nicht schwer, in diesen antidemokratisch-faschistischen Polit-Phantasien die Spuren Nietzsches zu entdecken – zum Beispiel in dessen strikter Ablehnung des Parlamentarismus, in der Verehrung einer (allerdings seltsam undeutlich bleibenden) aristokratischen Gesellschaftsordnung, in der Verachtung aller auf die französische Revolution zurückgehenden Gleichheitspostulate, in der Verherrlichung von Kampf und Krieg, wie sie besonders Alfred Bäumler, der Begabteste unter den nationalsozialistischen NietzscheErklärern, meint herausstellen zu müssen.2 Wenn hier nun wieder der junge, geistig noch unsichere Goebbels ins Blickfeld rückt, so scheint er zunehmend von dieser konservativ-revolutionären, präfaschistischen Zeitstimmung und damit auch von einer ganz bestimmten, sehr verengten „rechtsradikalen“ Nietzsche-Interpretation beeinflusst zu sein. Es ist zunächst keine politische, sondern eine dichterische Infektion; seine der Nachwelt (leider) überlieferte Lyrik zeugt jedoch von einer geradezu ergreifenden Talentlosigkeit. Bemerkenswert ist allerdings ein Gedicht, in dem Goebbels seine substantielle innere Wut, seinen Selbsthass, aber auch eine zerstörerische Trotzhaltung lyrisch zu bearbeiten versucht: Ich fluche Dir, dreieiniger Gott, Daß Du mich ließest werden, Und hasse nichts, wie Dich, Phantom, Auf dieser ganzen Erden. Gib mir ein Beil, und ich zerschlag Dir Deine Paradeisen, Und will der Menschheit einen Weg Zu neuem Glücke weisen. Und willst Du, daß sich Sonn‘ und Mond Um Deinen Himmel drehen, Ich trotze Dein, ich will allein Den Weg zur Hölle gehen. Ich lache Deiner Gnadenhuld, Spar‘ die für Deine Frommen, Und laß mich, lächerlicher Gott, In Deine Hölle kommen. Denn ich will trotzen ohne End‘ Dem Himmel und der Erden Und fluchen Dir in Ewigkeit, Daß Du mich ließest werden. (Goebbels 1919b)
2 Vgl. Alfred Bäumler 1937, S. 281 ff.; Zum Gesamtkomplex: Aschheim 2000; Riedel 1997.
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In diesem 1919 entstandenen Gedicht ist recht deutlich (allerdings mit einer ganz bemerkenswerten Variante) das seit Nietzsche allbekannte GottestodMotiv verwendet: Den hier noch lebenden Gott möchte das lyrische Ich (also Goebbels) eigenhändig erschlagen – bedrohlich (und für den späteren politischen Impuls von großer Bedeutung) ist die prometheisch- herostratische Gebärde: Der Weg zum eigenen und zum Menschheitsglück ist nur durch die totale Destruktion allen bisherigen Denkens und Handelns zu gewinnen. Deutlich wird also schon die mörderische Attitüde des späteren Politikers: Es geht um ein Entweder-Oder, um Vernichtung, um ein radikales „Aufräumen“ jenseits aller bürgerlich-christlichen Moral, auch um den Preis der eigenen Vernichtung. Zur Zeit der Entstehung dieses seltsamen, im weitesten Sinne auch politisch aussagekräftigen lyrischen Produkts ist bei Goebbels erstmals eine nähere Beschäftigung mit Nietzsche festzustellen, und es nimmt nicht weiter wunder, dass ihm der prophetisch-apodiktische, zeit- und kulturkritische Duktus der Zarathustra-Dichtung ganz besonders nahe geht und er erfasst ist von einer völlig unkritischen, „gläubigen“ Berauschtheit, die er allerdings mit vielen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen teilt. Nietzsches „Zarathustra“ ist, knapp formuliert, reinste, schrecklichste Inhumanität im schönsten deutschen Sprachgewand, bestens geeignet für jede noch so primitive Anempfindung, für jede reaktionäre, auf Gewalt und Unterdrückung fixierte politische Phantasie. Der junge Goebbels, von tiefem, irrationalem Hass auf das Weimarer System bewegt (aber parteipolitisch noch ganz ungebunden), verfällt dem ZarathustraImpetus eines zwar edel verkündeten, aber doch unerbittlich ohne konventionelle ethische Grundierung propagierten Willens zur Macht, der jeglichen feinsinnig-westeuropäischen Republikanismus der Verachtung anheimgibt. Nur allzu eingängig ist für ihn beispielsweise ein Text aus dem zweiten Teil der Zarathustra-Dichtung: Da werden die „Prediger der Gleichheit“, also die Vertreter einer demokratisch-politischen Tradition, mit ekligen Taranteln, also giftigen, möglichst zu tötenden Insekten gleichgesetzt. Es wird unterstellt, dass diese Gleichheitsapostel von einem heimlichen „Tyrannenwahnsinn“ besessen sind und als schwache, geistig-seelische Krüppel mit ihren Gleichheitstiraden nur Rache nehmen wollen für ihr im Grunde „lebensunwertes“ Leben. Eindeutig ist das Bekenntnis des Nietzsche-Zarathustra: Mit diesen Predigern der Gleichheit will ich nicht vermischt und verwechselt sein. Denn so redet mir die Gerechtigkeit: ‚die Menschen sind nicht gleich.‘/ Und sie sollen es auch nicht werden! Was wäre denn meine Liebe zum Übermenschen, wenn ich anders spräche? / Auf tausend Brücken und Stegen sollen sie sich drängen zur Zukunft, und immer mehr Krieg und Ungleichheit soll zwischen sie gesetzt sein: so lässt mich meine grosse Liebe reden! / Erfinder von Bildern und Gespenstern sollen sie werden in ihren Feind-
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schaften, und mit ihren Bildern und Gespenstern sollen sie noch gegeneinander den höchsten Kampf kämpfen! (Z II, KSA 4, S. 130)
Hier öffnet sich für Goebbels die Tür zu einem lange gesuchten Arsenal des philosophisch (oder anthropologisch) gerechtfertigten Faschismus, wie ihn teilweise schon Mussolini (unter Berufung auf Nietzsche) in Italien praktiziert. Der Mensch, sofern er sich politisch betätigt, begibt sich, wenn er seine Berufung und Bestimmung, sein „Übermenschen-Sein“ nicht verfehlen will, in einen permanenten, existentiellen Kampf. Es geht ihm nicht um Ausgleich und Kompromiss, es geht vielmehr um Leben und Tod; es geht darum, den Krieg zu propagieren, die Schwachen zu vernichten und ein System der Ungleichheit zu schaffen, in dem es ein Oben und Unten gibt und jegliche demokratische Tendenz unterdrückt wird, damit der „Übermensch“ sich entfalten kann – notwendig ist dafür vor allem auch die politische Lüge, die bedenkenlose Diskriminierung eines realen oder erfundenen Feindes, denn es geht (gleichsam unter ästhetischem Blickwinkel) um die Errichtung von schönen Lug- und Trugbildern, die das zu beherrschende kleine (oder Unter-) Menschentum zufrieden stellen, zu großen politischen Taten, allerdings auch in die Irre oder sogar in den Untergang führen können. Der junge Goebbels ist aufs höchste animiert, wenn Zarathustra-Nietzsche von der „Menschen-Gesellschaft“ spricht, die „den ‚Befehlenden‘“ sucht: „- ein Versuch, oh meine Brüder! Und kein ‚Vertrag‘“ (Z II, KSA 4, S. 265). Am politischen Horizont erscheint also eine unkontrolliert handelnde, diktatorisch regierende Führer-Figur, die durchdrungen ist von dem unbedingten irrationalen Willen, die Herrschaft über ein Volk an sich zu reißen. Die Theorie des Gesellschaftsvertrages, wie ihn die politischen Denker der Aufklärung entwickelt haben, wird demnach strikt abgelehnt – und damit auch auf verhängnisvolle Weise eine ehrwürdige humanistisch-politische Tradition der Zerstörung überlassen. So unangenehm eine solche Feststellung für manche Nietzsche-Apostel auch sein mag: Dieser Zarathustra-Sermon, den man etwas spöttisch durchaus als Salon-Faschismus bezeichnen könnte, ist später für Goebbels die theoretische Grundlage und Rechtfertigung seiner propagandistisch meisterhaft ins Werk gesetzten Mord – und Totschlag-Politik. Vorerst aber fühlt er sich von Nietzsche nicht zu politischen, sondern zu dichterischen Aktivitäten gedrängt. Im Jahre 1918 verfasst er in kürzester Zeit ein Theaterstück über den JesusVerräter Judas Iscariot (Goebbels 1919c): Für Goebbels ist dieser Judas ein Idealist, der hofft, dass sein großer Meister Jesus ein „neues Reich“ errichtet, nicht etwa im himmlischen Jenseits, sondern schon realiter auf der Erde. Die Erkenntnis, dass die jesuanische Lehre jedoch gänzlich transzendent bestimmt ist und sich gegenüber dem irdischen Menschheitsglück anscheinend völlig gleichgültig verhält, lässt den treuen Jünger zum Verräter werden – zutiefst
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enttäuscht und seelisch gebrochen wendet sich Judas von Jesus ab, denn es genüge nicht „einem bedrängten Volk ins Ohr zu blasen/zu reden von dem Reich in anderen Welten,/daß Herrlichkeit ohn‘ Ende sei und Grenzen“ (Goebbels 1919c, S. 55). Diese Fundamental-Kritik an Jesus und seine Lehre (diese von den christlichen Glaubensvätern später festgeschriebene, radikale Eschatologie) erinnert natürlich an die Nietzsche-Zarathustra-Polemik gegen die „hinterweltlerischen“ Christen, die das irdische „Leben“ verfehlen, weil sie der Erde nicht „treu“ sein wollen und ihr Glück (ihre „Erlösung“) im Jenseits vermuten. Judas handelt aus edlen Motiven: es geht ihm um das Leben der Menschen in einer „gerechten“ Welt; seine Enttäuschung darüber, dass der geliebte Meister nicht willens ist, irdisch-revolutionär zu handeln, führt zum Verrat, der allerdings das große Erlösungswerk ermöglicht, wird doch, durch das „böse“ verräterische Handeln, die „gute“ menschheitsrettende Tat des erlösenden Kreuzestodes und die von Golgatha ausgehende Heilsgeschichte erst in Gang gesetzt.3 Der pathetisch-überzogene, lyrisch-kitschige Zarathustra-Ton durchzieht auch einen weiteren dramatischen Versuch, betitelt „Die Saat, ein Geschehen in drei Akten“, in der zentralen Aussageabsicht wiederum eine Nietzsche-Adaption: Die moderne menschliche Gesellschaft, besonders die in ihr handelnden Politiker, sind von „Fäulnis“ zerfressen. Ein großes Zerstörungswerk hat stattzufinden – um neue Werte zu schaffen, müssen die Menschen, wie auch Zarathustra-Nietzsche verkündet, „Kämpfende“ und „Schaffende“ sein (Goebbels 1919c, S. 107). Am Ende soll sich dann eine „neue Welt […] aus der alten erheben. eine strahlende, prächtige, und alle, alle sollen in dieser Welt glücklich werden“ (Goebbels 1920d). Dieses Werk gelingt aber nur, wenn ein „neuer Mensch“, ein „Übermensch“ entsteht. Man darf also durchaus behaupten, dass auch in diesem Machwerk das Zarathustra-Gespenst sein Unwesen treibt. Der Schatten Nietzsches liegt in ganz besonderem Masse auf einer „Dichtung“, die Goebbels immer als sein literarisches Haupt- und Meisterwerk betrachtet hat. Es ist der Tagebuch-Roman Michael, an dem er zehn Jahre gearbeitet hat, bis hin zur endgültigen Version, die 1929 erschienen ist.4 Am 10. Februar 1924 schreibt Goebbels in sein Tagebuch: Der Roman in Tagebuchblättern steht fertig in meinem Kopf. Ich sehne mich nach dem Tag, da ich anfangen kann zu arbeiten […] Der Titel lautet: Stille Flammen, ein Roman in
3 Bemerkenswert ist, dass Ernst Bertrams zur gleichen Zeit erschienenes Nietzsche-Buch ein Judas-Kapitel enthält. Vgl. Bertram 1985, S. 152 ff. 4 Die erste Fassung nennt Goebbels „Michael Voormanns Jugendjahre“ Sie entsteht von 1917 bis 1924 in drei Teilen. Der zweite Teil ist nicht erhalten. Es folgt „Michael Voormann. Ein Menschenschicksal in Tagebuchblättern“ (1922–1924). Die endgültige Fassung (1924–1928) heißt: „Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern“.
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Tagebuchblättern. Der Titel ist ein Einklang in Nietzsches Ecce Homo. ‚Licht wird alles, was ich fasse, Kohle alles was ich lasse: Flamme bin ich sicherlich‘. (Goebbels 1923– 1941e, S. 93)
Dieser semi-autobiographische, keine inhaltliche und stilistische Trivialität scheuende literarische Erguss erzählt die Geschichte des Frontsoldaten Michael, der höchst frustriert aus dem Weltkrieg zurückkehrt und nunmehr in Wehleidigkeit über die politischen Zustände seiner Zeit zerfließt. Er kommt zu dem Schluss, dass Deutschland von Grund auf zu erneuern sei und eine Herrenrasse die Macht übernehmen müsse – deren Aufgabe sei es, den zersetzenden Intellektualismus, vor allem aber das ekelerregende Judentum endgültig zu vernichten. Das schon bei Zarathustra-Nietzsche manchmal penetrante pseudobiblische Pathos verwandelt sich bei Goebbels zum unerträglich-hohlen Kitsch, unter schamloser Verwendung allbekannter Nietzsche-Gedanken, wie beispielsweise dieser Michael immer wieder mit der Umwertung aller Werte beschäftigt ist und, wie ein kluger Kritiker bemerkt, „mit Nietzschezitaten um sich [wirft], als seien es Handgranaten“ (Pol 1931, 133). Am Ende schickt Goebbels seinen Helden in den Bergbau, dort kommt er recht bald bei einem Unfall ums Leben. Ein Freund verwaltet seinen Nachlass und findet in einer Schublade den „Faust, die Bibel, Nietzsches Zarathustra und ein Tagebuch“ (Goebbels 1942a, S. 158). Ihm schickt Michaels Mutter „seinen Zarathustra als Andenken. Es ist ein altes zerschlissenes Exemplar. Er hat es den ganzen Krieg durch im Tornister getragen“ (Goebbels 1942a, S. 158). Die eigentliche politische Karriere des Paul Joseph Goebbels beginnt erst 1924 mit dem Eintritt in die NSDAP – am 23. Dezember jenes Jahres schreibt er in sein Tagebuch: „Politik ist die in die Realität übersetzte Weltanschauung. Die heutige Politik Europas ist die Gestaltung der Weltanschauung Nietzsches. Und so kann nur eins uns helfen: Den Übermenschen suchen in uns und um uns“ (Goebbels, 1923–1941e, S. 255). Die allersubtilsten Denk-Experimente Nietzsches – eine in sich konsistente „Weltanschauung“? Grundlage und Rechtfertigung für die Politik eines mörderischen Verbrecher-Regimes? Der Übermensch als KZ-Wächter oder Kriegsverbrecher? Noch im Jahre 1931, als der NSDAP-Gauleiter Goebbels bereits seine Schläger-Trupps durch die Berliner Bezirke jagt, berichtet er im Tagebuch von einer abendlichen Freizeit-Beschäftigung: „Ich lese Nietzsche. Und berausche mich an seiner harten Lehre. Und diese Sprache! Eine Erquickung“ (Goebbels, 1923–1941e, S. 57). – Alles nur kitschig-klebriges Anempfinden, schrecklichster Missbrauch ? Oder gibt es doch eine verhängnisvolle Entwicklungslinie von Nietzsche zu Goebbels? Der bedeutende Politologe Eric Voegelin geht davon aus, dass Nietzsches Lehre vom Tode Gottes eine Vergottung des Menschen notwendig zur Folge hat und die Abfolge von Gottesmord, Selbstvergottung, schließlich auch Menschen-
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mord ganz logisch, konsequent und unausweichlich ist.5 Der Gottesmord erzeugt im geschichtlichen Prozess, in der politischen Praxis, nicht den Übermenschen, sondern den Menschenmord, wie ihn zum Beispiel Goebbels unter Berufung auf Nietzsche realiter vollzieht. Also der furchtbare Reichspropagandaminister – Nietzsches gehorsamer Jünger? Darüber wäre nachzudenken.
Bibliographie Aschheim, Steven E. (2000): Nietzsche und die Deutschen. Stuttgart. Bäumler, Alfred (1937): Studien zur deutschen Geistesgeschichte. Berlin. Bracher, Karl Dietrich (1957): Die Auflösung der Weimarer Republik. Stuttgart. Fraenkel, Heinrich/Manwell, Roger (1962): Goebbels. Berlin. Goebbels, Joseph (1942a): Michael. München. Goebbels, Joseph (1919b): Aus meinem Tagebuch, Weihnachten 1919. Bundesarchiv Koblenz (BA), NL 1187/126. Goebbels, Joseph (1919c): Judas Iscariot. Eine biblische Tragödie in fünf Akten. BA, NL 118/ 127. Goebbels, Joseph (1920d): Die Saat. Ein Geschehen in drei Akten. BA, NL 118/117. Goebbels, Joseph (1923–1941e): Tagebücher. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte herausgegeben von Elke Fröhlich, Teil I, Aufzeichnungen 1923–1941, Band 1/I; Band 2/II. München. Greiffenhagen, Martin (1971): Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland. München. Nolte, Ernst (1963): Der Faschismus in seiner Epoche. München. Pol, Heinz (1931): „Goebbels als Dichter“. In: Die Weltbühne 27, 27. Januar 1931. Nr. 4, S. 129–133. Raschel, Heinz (1984): Das Nietzsche-Bild im George-Kreis. Berlin, New York. Riedel, Manfred (1997): Nietzsche in Weimar. Leipzig. Reuth, Ralf Georg (2005): Goebbels. München. Sontheimer, Kurt (1963): Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. München. Voegelin, Eric (1959a): Wissenschaft, Politik und Gnosis. München. Voegelin, Eric (2007b): Das jüngste Gericht Nietzsche. Berlin. Weber, Frank (1989): Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis. Frankfurt a. M.
5 Dazu ausführlich: Voegelin 1959a, 2007b.
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Nietzsche und sein Verhältnis zum Antisemitismus Eine bewusst missverstandene Rezeption? Wir betreten mit dem Thema Nietzsche und sein Verhältnis zum Antisemitismus ein extrem vermintes Gelände, auf welchem eben deswegen eigentlich nicht scharf geschossen werden sollte. Gleichwohl ist exakt dies immer wieder zu beobachten, an einem prominenten Beispiel geredet: Steven Aschheim sprach in seinem Buch Nietzsche und die Deutschen (1992/96) zwar vollmundig davon, dass sich [i]n England und in den Vereinigten Staaten […] die Wahrnehmung Nietzsches als treibender Kraft hinter der Schaffung einer neuen, radikalisierten und einzigartig mörderischen Form von Antisemitismus gegen Walter Kaufmanns hegemoniale Deutung durchsetzen [mußte]. (Aschheim 1992/96, S. 348)
Allerdings blieb Aschheim hier wie auch andernorts (Aschheim 1997/98, S. 14) jeden Beleg schuldig in Sachen des ersten, auf Nietzsche bezüglichen Teils dieser (radikalen) These, ganz zu schweigen vom zweiten Teil: Wo Kaufmann in seinem erstmals 1950 in den USA erschienenen Buch Nietzsche. Philosoph – Psychologe – Antichrist (1974/82) in Sachen des hier interessierenden Themas fehl griff, erfährt der Aschheim-Leser nicht. Schlimm, und eben deswegen endlich zu ändern, zumal Beispiele dieser Art nicht eben selten sind. So listete auch Domenico Losurdo in seinem erstmals 2002 in Italien erschienenen Buch Nietzsche, der aristokratische Rebell (2002/09) Kaufmann – sowie Georges Bataille – unter der Rubrik „Hermeneutik […] der Unschuld“ (Losurdo 2009, S. 604) auf, ohne auch nur an einer einzigen Stelle auf eines der zahllosen Argumente Kaufmanns (oder Batailles) einzugehen. Ähnliches gilt für Thomas Mittmanns Studie Friedrich Nietzsche. Judengegner und Antisemitenfeind (2001): Dem „selbst ernannten ‚Anti-Antisemiten‘“ Nietzsche – so lesen wir hier – gebühre ein eigenes, fraglos nicht ruhmreiches „Kapitel in der Geschichte des ‚modernen Antisemitismus‘“ (Mittmann 2001, S. 111). Freilich: Diese starke These steht im eigentümlichen Kontrast zu dem Umstand, dass Mittmann komplett ignoriert, mit welcher Beharrlichkeit Förster-Nietzsche ihres Bruders Briefe vom März 1887 an den militanten Antisemiten und Hitlervorläufer Theodor Fritsch (1852–1933) über Jahrzehnte hinweg in Vergessenheit zu bringen suchte (Niemeyer 2003). Warum sie dies tat? Nun: Ihr jedenfalls war nicht entgangen, dass Nietzsches Empörung (in einem dieser
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Briefe) über das „abscheuliche Mitredenwollen noioser Dilettanten über den Werth von Menschen und Rassen“ (KGB III/5, Nr. 823) auf keinen anderen als ihren (von Nietzsche namentlich nicht genannten) Gatten zielte, konkret: auf dessen Aufsatz Unsere Arbeit, unsere Ziele!,der im Januar 1887 in der von Fritsch herausgegebenen Antisemitischen Correspondenz erschienen war. In diesem unsäglichen Pamphlet wird ‚der‘ Jude bevorzugt mit „Unkraut unter dem dichten Schatten gesunder Bäume“ verglichen, auch mit dem „Fuchs“, der genauso wenig in den „Gänsestall“ gehöre „wie der Jude in das Deutsche Reich“ (KGB III 7/3.2, S. 889 f.) (vgl. auch Niemeyer 2011, S. 59–60). Die Erinnerung an derlei Ausfälle ihres Gatten, aber eben auch an den Protest ihres Bruders dagegen wäre schlicht desaströs gewesen für die von Förster-Nietzsche seit 1895 verfolgte, von systematischen und großräumigen Brief- und Werkfälschungen durchsetzte Theoriepolitik im Blick auf ihren Bruder (vgl. Niemeyer 2009) – deswegen eben ihre Unterdrückung dieser wohl wichtigsten Dokumente für Nietzsches Anti-Antisemitismus. Spätestens dieses Beispiel nun macht deutlich: Wer immer Nietzsches Verhältnis zum Antisemitismus zu erörtern gedenkt, muss vorab einige in diesem Zusammenhang wichtige Sachverhalte in Betracht ziehen. Dazu gehört – wie der Fall Fritsch lehrt – der Umstand, dass Nietzsches Schwester 1885 den 1889 verstorbenen militanten Antisemiten Bernhard Förster geheiratet hatte, den Nietzsche postwendend (im Mai 1885) als einen „zum näheren Verkehre“ ungeeigneten „Agitator“ (KGB III/3, Nr. 604) ad acta legte. Und dazu gehört die Rückerinnerung, dass Förster-Nietzsche Hitler bei dessen Besuch im Weimarer Nietzsche-Archiv im November 1933 ein Exemplar der 1881er Antisemitenpetition ihres Gatten (an Bismarck) mit dem Vermerk überreichte, sie enthalte „bereits alle die Forderungen in der Judenfrage […], die in neuerer Zeit vom Nationalsozialismus erhoben […] worden sind“ (zit. n. Hoffmann 1991, S. 110). Die Pointe aus diesen beiden Sachverhalten hat Walter Kaufmann auf den Begriff gebracht: „[I]n der Ironie dieses Namens [Förster-Nietzsche; d. Verf.] ist alles enthalten, was man gegen sie vorbringen kann: in der Tat verbreitete sie eine Botschaft, die zuerst die Försters und erst in zweiter Linie die Nietzsches war“ (Kaufmann 1974/82, S. 52). So betrachtet hatte Nietzsche allen Grund, den seiner Schwester gegenüber brieflich (am 7. Februar 1886) erhobenen Vorwurf, sie sei „herausgesprungen […] aus der Tradition des Bruders“ (KGB III/3, Nr. 669), am Exempel ihrer (und ihres Gatten) Agitation für den Antisemitismus zu erläutern. Allerdings ist einzuräumen, dass es nicht gar so viel auf sich hat mit jener ‚Tradition‘ des Bruders. So sind selbst Briefe Nietzsches aus der Zeit vor seiner Freundschaft mit Wagner keineswegs frei von antisemitischen Klischees (Ahlsdorf 1997, S. 9; Mittmann 2001, S. 16 ff). Ähnliches gilt für Briefe seiner damaligen Freunde,
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unter ihnen Carl v. Gersdorff, die in der Summe durchaus als Beleg gelesen werden dürfen für Nietzsches spätere bittere Klage: „Ich bin noch keinem Deutschen begegnet, der den Juden gewogen gewesen wäre“ (JGB, KSA 5, S. 193). Insoweit bleibt als Zwischenbefund zunächst nur, dass Nietzsche über den Antisemitismus offenbar in grundlegender Weise umlernte – mit dem dramatischen Nachschlag des von Mittmann als „Schießbefehl des verdrehten Philosophen“ (Mittmann 2001, S. 102) der Lächerlichkeit preisgegebenen ‚Wahnsinnsbriefs‘ (an Overbeck vom 4. Januar 1889) mit der Mitteilung, er, Nietzsche, lasse gerade „alle Antisemiten erschiessen“ (KGB III/5, Bf. 1249). Diesem Lernprozess möchte ich mich nun zuwenden.
Nietzsche als Antisemit Gut drei Jahre nach Wagners Tod rang sich Nietzsche zu einem merkwürdigen, halbherzigen, auch etwas verquast formulierten Geständnis durch: Möge man mir verzeihn, dass auch ich, bei einem kurzen gewagten Aufenthalt auf sehr inficirtem Gebiete, nicht völlig von der Krankheit verschont blieb und mir, wie alle Welt, bereits Gedanken über Dinge zu machen anfieng, die mich nichts angehn: erstes Zeichen der politischen Infektion. Zum Beispiel über die Juden: man höre. (JGB, KSA 5, S. 192– 193)
Wie ‚infiziert‘ Tribschen damals war, zeigt ein Blick in den 1869 in zweiter Auflage vorgelegten, erstmals 1850 unter Pseudonym vorgelegten Wagner-Aufsatz Das Judentum in der Musik. Er steht, darüber gibt es im Extrakt einer insgesamt lebhaften Debatte1 wenig Zweifel, für den „Beginn von Wagners Antisemitismus im Sinne eines kulturpolitischen Konzepts“ (Wagner 1997, S. 92), das nach 1933 durch die Hitlerbegeisterung Winifred Wagners und die komplementäre Begeisterung Hitlers für diese auf fatale Weise Verstärkung erfuhr.2 Wagner selbst sprach im Oktober 1879, nun längst in Bayreuth residierend, voller Stolz und im Blick auf eine gerade gehaltene Rede des antisemitischen Hofpredigers Adolf Stoecker davon, dass sein 1850er Aufsatz „den Anfang dieses Kampfes gemacht“ habe (zit. n. Wagner 1976, S. 424) – eine Einschätzung, die der uns bereits bekannte Hitlervorläufer Theodor Fritsch noch 1931 im von ihm herausgegebenen antisemitischen Handbuch der Judenfrage teilte (Fritsch 1931, S. 8). 1 vgl. etwa Cancik 1997/98, S. 77; Fischer 2000, S. 85 ff. sowie die Beiträge in Friedländer u. Rüsen 2000; außerdem Rose 1999 u. Weiner 1995/2000. 2 Hamann 2002; vgl. auch Hein 1997, S. 202; Köhler 1997, S. 415 ff.
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Was Nietzsche angeht, so steht außer Frage, dass er sich von derlei seinerzeit in Tribschen anstecken ließ. Exemplarisch genannt sei nur sein Brief (vom 22. Mai 1869) an Wagner zu dessen 56. Geburtstag: Nietzsche meinte, „vordringliches Judenthum“ sei dafür mitverantwortlich, wenn sich „fast alle Welt“ unfähig zeige, Wagners Weltanschauung zu würdigen und seine „Persönlichkeit als Ganzheit zu fassen.“ (KGB II/1, Nr. 4). Insoweit überrascht auch nicht, dass einem auch in der Geburt der Tragödie Antisemitisches begegnet, etwa zum Ende dieser Schrift hin, in Gestalt der Klage über die „lange Entwürdigung, unter der der deutsche Genius, entfremdet von Haus und Heimat, im Dienste tückischer Zwerge lebte.“ Nietzsche fügte dieser Formulierung den Satz an: „Ihr versteht das Wort – wie ihr auch, zum Schluss, meine Hoffnungen verstehen werdet“ (GT, KSA 1, S. 154). Mit Sätzen wie diesen schloss sich Nietzsche in verschlüsselter Form dem Antisemitismus Wagners und dessen Strategie an, den Ring des Nibelungen auch als Moritat auf die Unterdrückung des deutschen Genius (Siegfried) durch die als „Judenkarikaturen“3 angelegten ‚tückischen Zwerge‘ Mime und Alberich auszudeuten. Brisant ist auch Nietzsches Auslegung der Prometheussage, die er mit arischen Vorzeichen belegt und abzugrenzen sucht vom Sündenfallmythos und dem sich darin angeblich bezeugenden semitischen Wesen (Cancik 1997/98, S. 74). Diese Konstruktion legt die Vorstellung nahe, dass die Erlangung des „Besten und Höchsten, dessen die Menschheit theilhaftig werden kann“ (GT, KSA 1, S. 69), einen sich gleichsam in die Würde eines männlich-arischen Charakterzugs erhebenden Frevel gegen den Götterwillen erfordert, wie er sich beispielsweise in dem von Prometheus riskierten Griff zum Feuer dokumentiert. Umso dringlicher wird die Frage, ob, ab wann, in welcher Hinsicht und mit welchen Folgen Nietzsche als Anti-Antisemit zu betrachten ist.
Nietzsche als Anti-Antisemit Nietzsches (spätes) Selbstverständnis als „Anti-Antisemit“ (KGB III/3, Nr. 669) gipfelt in der Klage vom Herbst 1888, Antisemiten hätten ein Ziel, das „handgreiflich bis zur Unverschämtheit ist: das jüdische Geld“ (NL, KSA 13, S. 581, 21[7]). Hiermit hat Nietzsche die eigentlichen Motive für Auschwitz, gelesen als „Raubmord an den Juden“ (Aly 2005, S. 11), auf den Punkt gebracht. Als „Definition des Antisemiten“ folgt: „Neid, ressentiment, ohnmächtige Wuth als Leitmotiv im Instinkt: der Anspruch des ‚Auserwählten‘; die vollkommene moralis-
3 Adorno 1951, S. 21; Weiner 1995/2000, S. 30 ff.
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tische Selbst-Verlogenheit“ (NL, KSA 13, S. 581, 21[7]). Diese Diagnose kulminiert in dem Vorsatz vom Oktober-November 1888, er müsse „dem Antisemitismus einen schonungslosen Krieg mache[n], – er ist einer der krankhaftesten Auswüchse der so absurden, so unberechtigten reichsdeutschen SelbstAnglotzung…“ (NL, KSA 13, S. 623, 24[1]). Der Sache nach wird man Thesen wie diese – von Nietzsches Schwester selbstredend nicht publiziert – fraglos als Emanzipationseffekt zu deuten haben. Denn wie im Vorhergehenden schon angedeutet, wurde Nietzsche zunächst durch ein alles andere als judenfreundliches Umfeld geprägt, kam also erst im etwas reiferen Alter zunehmend dazu, im näheren Kontakt mit Juden seine diesbezüglichen, nicht nur durch Wagner genährten Ressentiments auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen, mit der auf die jüdische Schriftstellerin und (spätere) Nietzsche-Übersetzerin Helen Zimmern bezogenen Pointe (vom September 1886): „Der Himmel erbarme sich des europäischen Verstandes, wenn man den jüdischen Verstand davon abziehen wollte!“ (KGB III/3, Brief Nr. 750). Was den Beginn der so resümierten Erfahrung angeht, ist vor allem an Paul Rée zu denken. Die Freundschaft mit ihm begann im März 1876, fiel also in eine Phase der ohnehin schon absehbaren Ablösung Nietzsches von Wagner. Den Sprengstoff, den dies in sich barg, wurde erst nach Erscheinen von Menschliches, Allzumenschliches im Mai 1878 offenkundig. Nietzsche schreckte in Aph. 475 nicht davor zurück, es im Interesse der „Vernichtung von Nationen“ (neudeutsch gesprochen: der europäischen Einigung) für geboten zu erklären, dass jeder Deutsche lernt, sich als „guten Europäer aus[zu]geben und durch die That an der Verschmelzung der Nationen [zu] arbeiten“ (MA, KSA 2, S. 309). Im Übrigen, so Nietzsche weiter, diesmal mit erkennbarem Seitenblick nicht auf Wagners Deutschtumsvision, sondern auf dessen Aufsatz Das Judenthum in der Musik, müsse es als „litterarische Unart“ gelten, „die Juden als Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren Uebelstände zur Schlachtbank zu führen“; „der Jude“ sei im Interesse der „Erzeugung einer möglichst kräftigen europäischen Mischrasse […] als Ingredienz ebenso brauchbar und erwünscht, als irgend ein anderer nationaler Rest“ (MA, KSA 2, S. 310). Hierzu passt, dass jener Aufsatz Wagners im Nachlass aus dieser Zeit unter der Rubrik einer – für Wagner aus Gründen der „Parteizucht“ notwendigen – „Hetzpeitsche“ (NL, KSA 8, S. 557, [30[192]]) gelistet wird. Für die Bayreuther war die Sache auch in Unkenntnis dessen klar: Aph. 475 war ihnen „ein Beispiel mehr für die verhängnisvolle Wirkung des Judentums, das nun auch Nietzsche in seinen Bann gezogen habe“ (Borchmeyer/ Salaquarda 1994, S. 1329). Entsprechend enthüllte Cosima einer Freundin den ihrer Meinung nach letzten Grund für den Wandel in Nietzsches Anschauun-
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gen: „Schließlich kam noch Israel hinzu in Gestalt eines Dr. Rée, sehr glatt, sehr kühl, gleichsam durchaus eingenommen und unterjocht durch Nietzsche, in Wahrheit aber ihn überlistend, im Kleinen das Verhältnis von Judäa und Germania“ (zit. n. Du Moulin Eckart 1929, S. 842). Das hier genutzte Bild entstammt dem von Wagner geschätzten antisemitischen Pamphlet Der Sieg des Judentums über das Germanentum (1879) von Wilhelm Marr. Auch Wagner selbst wurde nun tätig und fertigte Nietzsche im August 1878 in den Bayreuther Blättern wegen Menschliches, Allzumenschliches mit dem Wort ab, er stehe nun seinerseits „mitten unter dem Judenthum“ (zit. n. Niemeyer 2011, S. 129). Beziehen wir all dies ein, inklusive der Aufzeichnungen Nietzsches aus jener Zeit, wird deutlich, wie unhaltbar die These ist, der Bruch mit Wagner habe zu „keiner grundsätzlichen Revision“ (Mittmann 2001, S. 112) von Nietzsches (autarker) Judenverachtung geführt. Wer so daher redet und dies noch Jahre später wiederholt (Mittmann 2006, S. 178), kennt die Fakten nicht oder verdreht sie absichtsvoll (hierzu Niemeyer 2008, S. 480 ff.). Zu diesen Fakten gehört auch Aph. 205 der Morgenröthe, wo sich Nietzsche unter dem Titel Vom Volke Israel die gängigen antisemitischen Klischees der Reihe nach vornimmt, um sie einer weiträumigen Umwertung zu unterziehen. Ein Beispiel: Der ‚dem‘ Juden häufig nachgesagte Hang zum Wucher scheint Nietzsche durchaus verständlich als „Folterung ihrer Verächter“, ohne welche die Juden „es schwerlich ausgehalten hätten, sich so lange selbst zu achten.“ Die Prämisse dieses neuen, ideologiekritischen Blicks auf die Geschichte des Antisemitismus lautet: „Man hat sie verächtlich machen wollen, dadurch dass man sie zwei Jahrtausende lange verächtlich behandelte und ihnen den Zugang zu allen Ehren, zu allem Ehrbaren verwehrte“ (M, KSA 3, S. 181) – aber damit, so darf man Nietzsche verstehen, muss nun Schluss sein. Dass Nietzsche gerade diesen Aphorismus Theodor Fritsch anempfahl (KGB III/5, Nr. 819) zwecks Korrektur seines fehl greifenden Ansinnens, ihn für die Sache des Antisemitismus gewinnen zu wollen, kann man nur allzu gut verstehen, ebenso: dass ohne diesen 1935 von Franz Kobler (Kobler 1935, S. 334 f.) wohlweislich ins Zentrum gerückten, in neuerer Zeit aber zumeist unbeachteten4 Deutungshinweis manche Passage von Aphorismus 205 judenfeindlich klingt (was die Aufnahme gerade dieses Aphorismus in die von Hitler viel genutzte (Ryback 2009, S. 106) Auswahledition Eitelfritz Scheiners (Scheiner 1934, S. 16 ff .) erklären mag). Nur konsequent scheint es denn auch, dass Nietzsche in jenem bereits erwähnten Aph. 251 von Jenseits von Gut und Böse den Historiker Heinrich v.
4 So bei Aschheim 1997/98, S. 16; Mittmann 2001, S. 30 sowie 2006, S. 40; für eine löbliche Ausnahme: Yovel 1997/98, S. 127.
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Treitschke als ‚antisemitischen Schreihals‘ outet und als solchen „des Landes zu verweisen“ (JGB, KSA 5, S. 194) erwägt. Dass er dies vorschlug, um, wie Mittmann meint, den „schlafenden Hund nicht zu wecken“ (Mittmann 2001, S. 51), sprich: um den Juden den Vorwand zu nehmen, vorbeugend die Herrschaft in Europa anzutreten, ist eine unhaltbare Annahme, die im Übrigen nicht zu Nietzsches gegenüber Fritsch geltend gemachter Lesart von Aph. 205 der Morgenröthe passt (die Mittmann denn wohl aus diesem Grunde erst gar nicht erwähnt). Und doch bleibt eine Frage: Warum reagiert Nietzsche erst 1886? Denn immerhin liegt der Vorgang, über den er sich so erregt, schon einige Jahre zurück: 1879 hatte Treitschke im von ihm redigierten Preußischen Jahrbuch den „Berliner Antisemitismusstreit“ ausgelöst. Der Sache nach hatte Treitschke die verstärkte Zuwanderung von osteuropäischen Juden zum Anlass genommen, der Stimme des Volkes Ausdruck zu geben, etwa in Gestalt der dann von Julius Streicher adaptierten Losung: „Die Juden sind unser Unglück!“ (zit. n. vom Bruch u. Hofmeister 2000, S. 191). Insoweit scheint es nachvollziehbar, dass Nietzsche hierauf 1886 jene Antwort fand – und eben letztlich Treitschke des Landes zu verweisen in Vorschlag brachte. Warum aber, so sei noch einmal gefragt, reagierte Nietzsche erst so spät auf Treitschke sowie, und diese Frage wird im Folgenden im Zentrum stehen: Warum ist Nietzsches Kritik an Wagner 1886, in jenem Aph. 251, noch so vergleichsweise maßvoll? Die hier verfochtene Antwort auf diese Frage lautet, dass Nietzsche sich weigerte, jener Irrationalität ins Auge zu schauen, die sich in seiner Tribschener Wagnerverehrung bekundete. Entsprechend verharmlosend ist die Sprache: Antisemitismus wird unter der Rubrik „kleine Anfälle von Verdummung“ (JGB, KSA 5, S. 192) verrechnet – und als solcher nicht eigentlich Wagner zugerechnet, sondern den Wagnerianern. Ganz in dieser Logik spricht Nietzsche im Nachlass aus dieser Zeit davon, dass es einen „‚eigentlich deutschen‘ Wagner“ nicht gäbe. Die in diese Richtung weisende Vorstellung sei nur „die Ausgeburt sehr dunkler deutscher Jünglinge und Jungfrauen.“ (NL, KSA 11, S. 591) Verallgemeinert gesprochen: Nietzsche wollte Wagner offenbar als Opfer der Wagnerianer oder jedenfalls doch als einen eigentlich unpolitischen Musiker aufbereiten. Dies gilt der Tendenz nach auch noch für seine Darstellung in Der Fall Wagner. Wieder fällt hier, wie schon in Aph. 251 von Jenseits von Gut und Böse, der Ausdruck „Infektion“, diesmal im Zusammenhang mit der nun auf die Wagnerianer ausgedehnten Bemerkung: „Die Anhängerschaft an Wagner zahlt sich theuer“ (WA, KSA 6, S. 44). Dass aber diese Infektion eine war, die sich Nietzsche selbst zwischen 1869 und 1872 zugezogen hatte, bleibt unklar. Gleiches gilt für den Umstand, dass es sich vor allem um eine politische Infektion
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handelte. Nur beiläufig wird hingewiesen auf die Bayreuther Blätter, aber mit dem gleich wieder abschwächenden Nachsatz: „Man gehe Nachts durch eine grössere Stadt: überall hört man, dass mit feierlicher Wuth Instrumente genothzüchtigt werden – ein wildes Geheul mischt sich dazwischen. Was geht da vor? – Die Jünglinge beten Wagner an“ (WA, KSA 6, S. 44). Dies liest sich zwar amüsant, kann aber nicht als Antwort gelten auf die Frage, die man von Nietzsche nun doch allmählich hätte erwarten dürfen – und die auch in Ecce homo nicht gegeben wird. Denn wieder einmal trennt Nietzsche hier den ‚guten‘ Wagner von den ‚bösen‘ Wagnerianern, „welche Wagner damit zu ehren glauben, dass sie ihn sich ähnlich finden“ (EH, KSA 6, S. 288). Wie vergiftet diese Bemerkung ist, wird viele Seiten später klar: Nietzsche überzieht die Wagnerianer nun mit dem Kommentar: „Keine Missgeburt fehlt darunter, nicht einmal der Antisemit“ – und besiegelt das Ganze mit dem Ausruf: „Der arme Wagner! Wohin war er gerathen!“ (EH, KSA 6, S. 324). Die Folgerung, die der Leser ziehen soll, ist eindeutig und läuft erneut auf Exkulpation Wagners hinaus. Sie vermag ihrerseits der Exkulpation Nietzsches zu dienen, insoweit dieser damit von dem Vorwurf entlastet ist, er habe schon in Tribschen wissen können, auf wen er sich einließ. Dies aber ist die Vorbedingung, die Nietzsche benötigt, um sich nicht Aufschluss erteilen zu müssen über seine Vaterübertragung auf Wagner, deren dunkelste Seite eben darin gründet, Wagners Antisemitismus nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern auch kopiert zu haben. Dass tatsächlich aber auch noch der Nietzsche dieser späten Epoche sehr genau um Wagners Antisemitismus wusste, belegt die von Nietzsche im Zuge der letzten Umarbeitung des Ecce homo im Dezember 1888 gestrichene Textvariante, die noch den Wortlaut trug: „ […] die eigentlichen Wagnerianer von Rasse, eine gott- und geistverlassene Bande, die Alles gläubig hinunterfraß, was der Meister ‚abfallen‘ ließ. […] Und wie viel lässt Wagner ‚abfallen‘!“ (KSA 14, S. 493). Der Ausdruck ‚abfallen‘ weist eine eindeutig antisemitische Konnotation auf, etwa in der Logik der Tagebucheintragung Cosimas vom Dezember 1879, wonach Wagner „alle Juden von sich abfallen lassen [will] ‚wie die Warzen‘, gegen welche kein Mittel hilft“ (zit. n. Wagner 1976, S. 460). Die Frage, warum Nietzsche diese Konnotation unterdrückte, lässt sich mit der vorgenannten Annahme befriedigend aufklären: Nietzsche unterzog sein Wissen um Wagner sowie sein Wissen um sich selbst der Zensur, um nicht mit der Fragwürdigkeit seiner Wagnerverehrung sowie seines frühen Antisemitismus zum Thema zu werden. Darin folgte er offenbar seinem Aphorismus: „Auch der Muthigste von uns hat nur selten den Muth zu dem, was er eigentlich weiss“ (GD, KSA 6, S. 59). In die Richtung fehlenden Mutes weist auch Nietzsches Darstellung, wonach seine Abwendung von Wagner damit zu tun gehabt habe,
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dass dieser im Anschluss an seine Rückkehr nach Deutschland „Schritt für Schritt zu Allem [condescendirte], was ich verachte – selbst zum Antisemitismus“ (NW, KSA 6, S. 431). Denn diese Formulierung und die in ihr verborgene Weiterführung einer analog ausgerichteten Passage aus Ecce homo (EH, KSA 6, S. 289) sowie der gleichfalls auf Bayreuth zentrierten brieflichen Mitteilung Nietzsches an Overbeck vom April 1884, wonach die „verfluchte Antisemiterei“ (KGB III/1, Bf. 503) ihn und Wagner verfeindet habe, erlaubte es Nietzsche, Wagner erneut als Opfer der Wagnerianer und sich selbst als Unwissenden in Sachen des Wagner selbstredend auch schon vor Bayreuth eigenen Antisemitismus aufzubereiten. Eines indes ist richtig: Nietzsche dürfte Wagners Antisemitismus erst in Bayreuth als problematisch wahrgenommen haben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die in der Tribschener Zeit relevanten Freunde Nietzsches antisemitisch dachten. Möglicherweise war dies ein Grund dafür, warum Nietzsche deutlich Hemmungen erkennen ließ, sich klar als Anti-Antisemit zu bekennen. So änderte er in Ecce homo die Formulierung: „Meine natürlichen Leser sind jetzt schon Slaven und Juden…“ in gleichsam letzter Minute ab in: „…Russen, Skandinavier und Deutsche“ (EH, KSA 6, S. 360). Auch der wenig später vorgesehene Satz: „Wenn ich mir eine Art Mensch ausdenke, der allen meinen Instinkten zuwiderläuft, so wird immer ein Deutscher daraus – oder ein Antisemit…“, überlebte nicht die Überarbeitung, sondern wurde um die letzten drei Wörter gekürzt (EH, KSA 6, S. 362). Selbst das gleichfalls für Ecce homo vorgesehene Bekenntnis, „daß zwischen 1876–86 ich fast alle meine angenehmen Augenblicke im Zufall des Verkehrs Juden oder Jüdinnen verdanke“, ging nicht in Druck, ebenso wenig wie das gleich nachfolgende Bonmot: „Die Deutschen unterschätzen, welche Wohlthat es ist, einem Juden zu begegnen – man hat keine Gründe mehr sich zu schämen, man darf sogar intelligent sei“ (NL, KSA 13, S. 619, 24[1]). Und schließlich strich Nietzsche selbst die bittere, auf seinen Verleger Schmeitzner abzielende Klage, er ‚verdanke‘ dem Antisemitismus, „daß mein Zarathustra seinen Eintritt in die Welt als unanständige Litteratur gemacht hat“ (KSA 14, S. 506). Folgerichtig scheint denn auch, dass sich im Moment des Fortfalls jener Zensur, im Moment des anhebenden Wahnsinns, die bisher verdrängte Wahrheit Bahn bricht, eben in Gestalt jenes einleitend zitierten Meldung an Overbeck: „Ich lasse eben alle Antisemiten erschiessen“ (KSB 8, S. 575). Fast scheint es mithin, als habe sich Nietzsche persönlich im Januar 1889 um die Illustration von Zarathustras Wahlspruch bemüht: „[A]lle verschwiegenen Wahrheiten werden giftig“ (Z, KSA 4, S. 149). Und dies, so denke ich, ist ein Wahlspruch, der auch jenen zu denken geben sollte, die für die Fortdauer einer oft von bewussten Missverständnissen gekennzeichneten Rezeption des hier thematischen Problemkomplexes Verantwortung tragen.
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V. Ökonomie und Soziologie
Franz Graf zu Solms-Laubach
Friedrich Nietzsches vergessener Beitrag zur Soziologie Ein Plädoyer für eine Neubewertung der Geschichte der klassischen Soziologie Wer Friedrich Nietzsches Philosophie in die Nähe der Soziologie rückt, muss sich dafür rechtfertigen.1 Zu abwegig scheint vielen Philosophen und Nietzsche-Forschern die Verbindung zu sein, die eine Untersuchung wie ‚Friedrich Nietzsches vergessener Beitrag zur Soziologie‘ verspricht. Abwegig, weil der Unruhestifter Nietzsche der Philosophie auch heute noch suspekt erscheint und die Soziologie der Philosophie bestenfalls als eine missratene Stiefschwester gilt.2 Aber auch in der Soziologie trifft ein solcher Ansatz nur auf wenig Gegenliebe. Denn vielen Soziologen stößt ein Stichwortgeber Nietzsche sofort als ein nur wenig willkommener Gast in ihrem Kanon klassischer soziologischer Literatur auf.3 Der Grund: Nietzsche hat nichts zu suchen in ihrem sorgfältig gepflegten Stammbaum der fast schon ‚geheiligten‘ Werke ihrer Gründungsväter wie Karl Marx, Emile Durkheim und Georg Simmel. Fest steht: Nietzsche spielt in der Soziologie von heute eine ebenso geringe Rolle, wie die Soziologie in der Philosophie. Zu fremd sind sich die beiden Disziplinen zuletzt in ihrem Selbstverständnis geworden. Aber es gab eine Zeit, da war das anders. Es gab eine Zeit, da war Nietzsche neben Karl Marx (1818– 1883) der Gradmesser für eine ernstzunehmende Aussage über die moderne Gesellschaft und ihre Kultur.4 Ein klares Bekenntnis zu dieser radikalen Sichtweise findet sich passender Weise bei dem renommierten deutschen Soziologen Max Weber (1864–1920). Sein Neffe Eduard Baumgarten (1898–1982) zitiert dazu den Inhalt eines Dialogs mit dem Wegbereiter der deutschen Soziologie nach einem Vortrag des berüchtigten Untergangspredigers Oswald Spengler (1880–1936) im Februar 1920 – er zitiert Weber zwar aus dem Gedächtnis, aber dennoch durchaus überzeugend: 1 Siehe auch: Solms-Laubach 2003, S. 60–61. 2 Zum Spannungsfeld zwischen Philosophie und Soziologie siehe: Suber 2007, S. 19–20. 3 Zur Frage der Kanonbildung in der Soziologie siehe: Baehr u. O’Brien 1994 und Franz Solms-Laubach 2002a. 4 Noch immer ist die Zahl der Bücher zu Nietzsches Verhältnis zur Soziologie recht überschaubar: Häußling 2000; Lichtblau 1996; Solms-Laubach 2007.
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Die Redlichkeit eines heutigen Gelehrten, und vor allem eines heutigen Philosophen, kann man daran messen, wie er sich zu Nietzsche und Marx stellt. Wer nicht zugibt, dass er gewichtige Teile seiner eigenen Arbeit nicht leisten könnte, ohne die Arbeit, die diese beiden getan haben, beschwindelt sich selbst und andere. Die Welt, in der wir selber geistig existieren, ist weitgehend eine von Marx und Nietzsche geprägte Welt. (Baumgarten 1964, S. 554–555)
Es ist vor diesem Hintergrund, dass eine Neubewertung der Geschichte der klassischen Soziologie und ihres Gründungsdiskurses notwendig erscheint. Dabei geht es um eine Neubewertung mit dem gezielten Blick auf Nietzsches außerordentlichen Einfluss auf die verschiedenen geistigen und gesellschaftlichen Strömungen zur Zeit der Jahrhundertwende.5 Von diesem Einfluss ist selbstverständlich auch die Soziologie betroffen (Solms-Laubach 2002b).
Die Soziologie blickt auf Nietzsche Doch die Frage, wie genau sich die frühe Soziologie „zu Nietzsche stellt“, ohne sich über seinen Einfluss zu „beschwindeln“, ist in der Literatur umstritten. Eindeutig äußert sich dazu der Soziologe Horst Baier. In seinem Aufsatz Friedrich Nietzsche und die Entstehung der Soziologie aus dem Geist der Décadence (1981/1982) fasst er den Einfluss von Nietzsche und Marx auf die frühe deutsche Soziologie wie folgt zusammen: „Die großen Themen der Soziologie, zumal der deutschen, sind ihr von Marx und Nietzsche gestellt.“ (Baier 1981/ 1982, S. 32). Damit wiederholt Baier nicht nur indirekt die bereits von Baumgarten vertretene Weber-These zu Nietzsche und Marx, er verleiht ihr sogar den Status eines geistesgeschichtlichen Faktums. Doch während der Einfluss von Karl Marx auf die Soziologie in der Fachliteratur von heute völlig unumstritten erscheint, ja eine marxistische Soziologie lange Zeit sogar dominierend war, wird die Möglichkeit einer „nietzscheschen Soziologie“ konsequent verneint.6 Das mag seinen Grund darin haben, das Nietzsche, anders als der Sozial-Utopist Marx, die soziale Frage bestenfalls mit Hohn behandelt und sie in den meisten Fällen auch so besprochen hat.7 5 Zum Nietzsches Einfluss auf die deutsche Geistesgeschichte gibt es mehrere interssante Untersuchungen: Aschheim 1992; Riedel 1997; Ernst Nolte 2000. 6 Karl Marx und Friedrich Nietzsche bilden den Hauptgegenstand einer interessanten Untersuchung zur Moderne: Love 1996. 7 Aber es gibt auch starke Gemeinsamkeiten zwischen Marx und Nietzsches Betrachtung der sozialen Frage. Eine lässt sich finden in Nietzsches Morgenröte (Aphorismus 206): „Der unmögliche Stand. – Arm, fröhlich und unabhängig! – das ist beisammen möglich; arm, fröhlich und Sclave! – das ist auch möglich, – und ich wüsste den Arbeitern der Fabrik-Sclaverei
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Dies wiederum mag darin seinen Grund haben, dass Nietzsche, der aristokratische Rebell, um es mit der provokanten These von Domenico Losurdo zu sagen, den Blickwinkel der Herrschenden einnimmt: „Nietzsches Sichtweise ist die ‚von oben‘, der Blick des Adlers auf das Gekrieche am Erdboden, die Perspektive der Macht, der aristokratischen Elite“, wie Richard Sorg Nietzsches Standpunkt in seiner Rezension von Losurdos Buch beschreibt (Losurdo 2009; Sorg 2009). Aber es steckt trotz dieser Einwände mehr soziologisches und soziologisch relevantes in Nietzsches Werk als ein erster flüchtiger Blick verraten mag. Immerhin wird in der Literatur mittlerweile die Frage nach einer „nietzscheschen Soziologie“ – und das ist das große Verdienst des britischen Soziologen Walter Garrison Runciman – offen gestellt, auch wenn die Antwort weiterhin aussteht. Can there be a Nietzschean sociology? betitelte Runciman seinen Aufsatz aus dem Jahr 2000 und stellte darin Nietzsches soziologisch relevante Thesen auf die erkenntnistheoretische Probe (Runciman 2000, S. 3–21). Sein ernüchterndes Fazit: Eine nietzschesche Soziologie kann es nicht geben! Es gibt nur eine nietzschesche Kritik der Soziologie! Runciman widmet sich in seiner Analyse, ähnlich wie die beiden Soziologen Peter Baehr und Mike O’Brien in ihren Betrachtungen zur Gestalt des soziologischen Kanons auch (Baehr und O’Brien 1994, S. 62–63), Nietzsches Wahrheits- und Wissenschaftsbegriff sowie seinem ganz speziellen Textverständnis. Für Baehr und O’Brien besteht ein klarer Zusammenhang zwischen Nietzsches Kritik an den ‚linguistischen‘ Tricks der rein ‚rhetorischen‘ Argumente eines absoluten Wahrheitsbegriffs und zwischen Nietzsches Ablehnung der Soziologie als wissenschaftlicher Methode. His critique of Socratic dialectics sought to demonstrate that the dialectical method, far from avoiding rhetorical tropes, was itself an especially effective, if dissimulated, form of rhetoric – designed to cudgel and humiliate its opponents, the Sophists and their supporters, into intellectual submission. Its claim to Truth was a rhetorical trick, a linguistic fiction, as all claims to Truth are. (Baehr und O’Brien 1994, S. 62)
nichts Besseres zu sagen: gesetzt, sie empfinden es nicht überhaupt als Schande, dergestalt, wie es geschieht, als Schrauben einer Maschine und gleichsam als Lückenbüßer der menschlichen Erfindungskunst verbraucht zu werden! Pfui! zu glauben, dass durch höhere Zahlung das Wesentliche ihres Elends, ich meine ihre unpersönliche Verknechtung, gehoben werden könne! Pfui! sich aufreden zu lassen, durch eine Steigerung dieser Unpersönlichkeit, innerhalb des maschinenhaften Getriebes einer neuen Gesellschaft könne die Schande der Sclaverei zur Tugend gemacht werden! Pfui! einen Preis zu haben, für den man nicht mehr Person bleibt, sondern Schraube wird!“ (M, KSA 3, S. 183).
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Diese scharfe Attacke Nietzsches auf Sokrates (469 v. Chr.–399 v. Chr.) und seine Kritik an der philosophischen und erkenntnistheoretischen Tradition, für die der griechische Philosoph steht, führt in der Soziologie von heute allmählich zu einem Umdenken. Dazu Baehr und O’Brien: With the advent of postmodernism in sociology, Nietzsche’s reputation is on the rise. Foucault’s work, too, and that of deconstructionists like Derrida and de Man have also served to amplify his iconoclastic voice. Even so, the surge of interest in the structure of sociological texts has not for the most part been Nietzschean in character. (Baehr und O’Brien 1994, S. 62)
Dieser Versuch der modernen Soziologie, sich mit Hilfe von Nietzsches Philosophie ihren klassischen Texten und Positionen auf neue Weise zu nähern, ist allerdings ein recht junges Phänomen. Nietzsches Philosophie spielt dabei die Rolle eines Zerrspiegels für soziologische Thesen und Argumente. Eine ähnliche Theorie vertritt auch Runciman in seinem Aufsatz zu Nietzsches Soziologie, wenn er mit der Hypothese schließt: „if nothing else […] Nietzsche’s sociology of sociology is a sociology“ (Runciman 2000, S. 7). Runciman entwickelt aus dieser Annahme einen Ansatz, den man als Meta-Soziologie bezeichnen könnte. Es ist eine Meta-Soziologie insofern als sie auf Grundlage der Schriften Nietzsches eine „Soziologie der Soziologie“ propagiert, die sich fortwährend hinterfragt, während sie soziale Phänomene anaylsiert. Es ist also eine Soziologie, die Nietzsches „Perspektivenwechsel“ als wissenschaftlichen Ansatz zulässt.8
Nietzsche und die klassische Soziologie Doch bei Runcimans Frage zu Nietzsches Soziologie und seiner zurückhaltenden Antwort darauf kann und wird das Urteil zu Nietzsches Einfluss auf und sein Verhältnis zur Soziologie nicht stehen bleiben können. Anhand einer kurzen, aber exemplarischen Untersuchung des Einflusses von Nietzsche auf die Soziologie und eines skizzenhaften Portraits dieses Einflusses auf einige wichtige ihrer Vertreter, wie etwa den Kieler Sozialwissen-
8 Nietzsche betrachtete „das Perspektivische“ als die „Grundbedingung alles Lebens“ (JGB, KSA 5, S. 12). Und weiter heißt es bei Nietzsche: „Du solltest das Perspektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen – die Verschiebung, Verzerrung und scheinbare Teleologie der Horizonte und was Alles zum Perspektivischen gehört; auch das Stück Dummheit in Bezug auf entgegengesetzte Werthe und die ganze intellektuelle Einbusse, mit der sich jedes Für, jedes Wider bezahlt macht“ (MA 2, KSA 2, S. 20).
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schaftler Ferdinand Tönnies (1855–1936) und die Wiener Feministin und Kulturwissenschaftlerin Rosa Mayreder (1858–1938), wird deutlich werden, wie der klassischen Soziologie in Deutschland und Österreich ein kulturkritisches Potenzial zuwächst, dass sie von sich aus nicht entwickelt hätte. Was Nietzsche und die frühe Soziologie eint, ist die Frage nach der Moderne und die Beurteilung der geistigen Folgen ihres rapiden Industrialisierungsprozesses. Sowohl dem Philosophen Nietzsche, als auch der gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstehenden Soziologie, geht es nämlich darum, diese radikale Zeitenwende zu verstehen und mit neuen wissenschaftlichen Begriffen begreifbar zu machen. Für Ferdinand Tönnies und Rosa Mayreder wird Nietzsche dabei sowohl zum Stichwortgeber als auch zum impliziten wie expliziten Bezugspunkt bei der Analyse der dramatischen Vorgänge und Veränderungen, die das 19. Jahrhundert so entscheidend prägen (Solms-Laubach 2007, S. 154–155). Der Grund für diese außerordentliche Wirkung Nietzsches auf die frühe deutsche Soziologie hängt mit der radikalen ‚Entzauberung‘ der Ideale der bürgerlichen Gesellschaft zusammen, die Nietzsches Philosophie für seine Zeitgenossen im 19. Jahrhundert bereithält. In seinen Betrachtungen zur literarischen Nietzsche Rezeption in Deutschland beschreibt Bruno Hillebrand diesen ‚demaskierenden‘ Einfluss Nietzsches mit treffenden Worten wie folgt: Nietzsche hatte seismographisch die Bewegung seiner Zeit erfasst, er registrierte den Erdrutsch, der dem Bürgertum den Boden entzog – zu einer Zeit, als sich dieses Bürgertum sicher fühlte wie nie zuvor. Er decouvrierte die bürgerliche Moral, klopfte an die hohlen Statusformen, deckte brutal das wertlose Fundament dieser Gesellschaft auf. Er tat das nicht materialistisch auf Kollektivinteressen ausgerichtet, er tat das idealistisch in dem Glauben an die Individualstruktur des Menschen. Sein Kampf galt den aufgeblasenen Pseudoidealen einer ideenlosen Gesellschaftsschicht. (Hillebrand 1978, S. 7)
Nietzsches ernüchternde Botschaft vom Kulturverfall als Ergebnis eines „Vergesellschaftungsprozesses der allgemeinen Dekadenz“ (Lichtblau 1996, S. 86) machte dabei laut Klaus Lichtblau großen Eindruck auf die Soziologie. Denn schon auf Grund dieses Urteils wandten sich die frühen Soziologen immer wieder dem Werk Nietzsches zu, da auch sie die „Bewegung der Zeit“ erfassen und zugleich das „Fundament der Gesellschaft“ aufdecken wollten. Wenn auch mit anderer Absicht oder mit anderen Zielen, so doch mit ähnlichen oder gar gleichen, nämlich in erster Linie kulturkritischen Mitteln. So spricht denn Lichtblau in seiner Studie Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland auch völlig zu Recht von den Versuchen „einer disziplinären Selbstverständigung der modernen Soziologie vor dem Hintergrund eines übergreifenden generationsspezifischen Kulturdiskurses“ (Lichtblau 1996,
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Klappentext), der ausgehend von den kulturkritischen Schriften des späten neunzehnten Jahrhunderts und vor allen Dingen im Anschluss an Nietzsches Diagnose und Kritik des europäischen Nihilismus, die frühe deutsche Kultursoziologie in ihrer Entwicklung und Ausprägung ganz wesentlich mitbestimmt hat.
Nietzsches radikaler Verriss der Soziologie Doch Nietzsches persönliche Stellung zur Soziologie taugt nur wenig zur Begründung dieses Einflusses. Denn selbstverständlich hat auch er die gerade entstehende neue Wissenschaft der Soziologie wahrgenommen und sich – wenn auch nur fragmentarisch in Form und Charakter – zur Soziologie seiner Zeit geäußert. Wenig überraschend lehnte er sie völlig ab! Doch Nietzsche hat zu wenig hat gewusst von der Soziologie, dieser damals noch sehr jungen und unausgereiften Disziplin, die mit Auguste Comtes Werk (1798–1857) Système de politique positive ou traité de sociologie (1851–1854) begründet wurde und kurz darauf mit dem Engländer Herbert Spencer (1820– 1903) und seinem Buch The Principles of Sociology (1876–1896) einen weiteren frühen Vertreter gefunden hat.9 So fasst Nietzsche etwa im Aphorismus 37 der Götzen-Dämmerung seine radikale Sichtweise der englischen und französischen Soziologie in gewohnt scharfer und pointierter Manier zusammen. Er schreibt: Mein Einwand gegen die ganze Soziologie in England und Frankreich bleibt, dass sie nur die Verfalls-Gebilde der Societät aus Erfahrung kennt und vollkommen unschuldig die eigenen Verfalls-Instinkte als Norm des sociologischen Werthurteils nimmt. Das niedergehende Leben, die Abnahme aller organisirenden, das heisst trennenden, Klüfte aufreissenden, unter- und überordnenden Kraft formuliert sich in der Sociologie von heute zum Ideal (GD, KSA 6, S. 138–139).
Nach Nietzsche ist die Soziologie also nicht nur aufs äußerste dem Geist der Dekadenz verpflichtet, sondern sie ist sogar selbst ein Zeichen des allgemeinen gesellschaftlichen Niedergangs, den sie zu beschreiben sucht. Sie ist mit anderen Worten gesprochen nihilistisch. In seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen äußert sich Nietzsche auch ähnlich kritisch zur damals aufkommenden – auch von Comte propagierten – Statistik, der er als radikaler Individualist natürlich mit einiger Skepsis gegenübersteht: 9 Zu Comtes und Spencers Einfluss im 19. Jahrhundert siehe auch: Fellmann 1996.
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Die Massen, […] hole sie der Teufel oder die Statistik! Wie, die Statistik beweise, dass es Gesetze in der Geschichte gäbe? Gesetze? Ja, sie beweist, wie gemein und ekelhaft uniform die Masse ist: soll man die Wirkung der Schwerkräfte Dummheit, Nachäfferei, Liebe und Hunger Gesetze nennen? (UB II, KSA 1, S. 320).
Deutlich wird an diesen beiden Stellungnahmen Nietzsches starker „AntiSoziologismus“ (Häußling 2000, S. 246), wie Roger Häußling Nietzsches Verhältnis zur damals noch jungen Disziplin in seinem Buch Nietzsche und die Soziologie treffend umschreibt. Noch deutlicher wird Nietzsches Position und sein Versuch der Soziologie eine eigene Lehre von den Herrschaftsgebilden entgegenzuhalten in seinem posthum zum angeblich authentischen Werk zusammengefassten Wille zur Macht. Dort heißt es mit Blick auf die Soziologie und den „Kultur-Komplex“: § 462 [Prinzipielle Neuerungen:] An Stelle der moralischen Werte lauter naturalistische Werte. Vernatürlichung der Moral. An Stelle der „Soziologie“ eine Lehre von den Herrschaftsgebilden. An Stelle der „Gesellschaft“ der Kultur-Komplex, als mein Vorzugsinteresse (gleichsam als Ganzes, bezüglich in seinen Teilen). An Stelle der „Erkenntnistheorie“ eine Perspektivenlehre der Affekte (wozu eine Hierarchie der Affekte gehört). Die transfigurierten Affekte: deren höhere Ordnung, deren „Geistigkeit“.10
Es ist dieser erweiterte Kulturbegriff Nietzsches, den Daniel R. White und Gert Hellerich als das Hauptinteresse Nietzsches interpretieren. Für White und Hellerich bedeutet das „Verstehen des Kultur-Komplexes den Schlüssel zum Verstehen aller übrigen Bereiche: Werte, Machtverhältnisse, Sozialgebilde, Wege zum Wissen, Volkstümliches und Philosophisches über Realität und Gott.“11 Insofern bilden die von Nietzsche vorgeschlagene Lehre von den Herrschaftsgebilden und seine Analyse des Kultur-Komplexes bereits den Beginn seiner eigenen Soziologie und markieren damit auch seine eigentliche Wissenschaftsvorstellung. Trotzdem fielen Nietzsches Attacken gegen die, ihm lediglich durch die Werke Comtes und Spencers bekannte, Soziologie seiner Zeit ungewöhnlich scharf aus und verpufften dennoch – da weitgehend fragmentarisch in Form und Charakter – nahezu wirkungslos. Die meisten Stellungnahmen Nietzsches zur Soziologie sind ohnehin nur posthum, im Nachlass, veröffentlicht worden, und sind in ihrer Kritik in erster Linie ideologisch determiniert (Lichtblau 1996, S. 83). Dennoch liefern diese Fragmente im Zusammenspiel mit den wenigen schon zu Lebzeiten Nietzsches veröffentlichten Äußerungen oder Apophtegmen zur Soziologie bissige und zum Teil äußerst scharfsichtige Kritiken an dem von Nietzsche attackierten,
10 Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht (Kröner-Ausgabe), Stuttgart 1996, S. 323. 11 White, Hellerich 1999, S. 1 (Übersetzung: Solms-Laubach).
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und aus seiner Sicht nur oberflächlichen Geist der empirischen Wissenschaftlichkeit, auf den die Soziologie als Lehre von der Gesellschaft damals wie heute rekurriert. Nur hat die Soziologie bisher recht wenig aus diesen Einsichten in die Schwächen ihres theoretischen Ansatzes zur Erklärung sozialer Phänomene (aus denen sie in Wahrheit ja auch selbst entstanden ist) gemacht. Auch tut sich die Soziologie lange schon äußerst schwer damit, Nietzsche als einen entscheidenden Stichwortgeber auch nur zu benennen, geschweige denn ihn als solchen zu akzeptieren.12 Und das, obwohl sich Nietzsches Einfluss auf die ‚Gründungsväter‘ der Disziplin nur schwer verleugnen lässt. Sie alle beschäftigten sich laut Lichtblau und Häußling nachhaltig mit Nietzsches Philosophie und seiner Kulturkritik, und entwickelten viele seiner herausfordernden Thesen in ihren soziologischen Untersuchungen der Moderne weiter. Diesen scheinbaren Widerspruch zwischen Nietzsches Absicht, die Soziologie zu diskreditieren, und der tatsächlichen Wirkung seiner Schriften auf die Gründerväter der Soziologie – der sich in erster Linie darin äußert, dass seine Schriften als Impetus für neue soziologische Theorien und Einsichten dienen – lässt sich nicht zuletzt auch mit der außerordentlichen Originalität und Vielfältigkeit der Schriften Nietzsches erklären. So schreibt Häußling in seinem Buch über den scheinbar paradoxen Umgang der frühen deutschen Soziologen mit Nietzsches Philosophie: Ihre bewusste und produktive Auseinandersetzung mit Nietzsches Kritik der Moderne lässt vermuten, dass im Aktionsraum soziologischer Theoretisierung auch Positionen beziehbar sind, die sich zumindest den unmittelbaren Einwänden Nietzsches gegen diese Disziplin zu entziehen suchen. (Häußling 2000, S. 206)
In diesem Sinne erklärt sich auch die große Begeisterung, mit der Nietzsches Philosophie anfänglich in der frühen deutschen Soziologie aufgenommen wurde, da sein Werk zwar einerseits „soziologisch naiv“ war, wie Alfred Weber (1868–1958) es später nannte (Weber 1946, S. 188), aber zugleich tiefgreifende, wenn auch völlig unkonventionelle und unsystematische Einsichten in die Strukturen und Facetten moderner Gesellschaften bereithielt. Es ist dieser Einfluss Nietzsches, der sich bei Alfred Weber in der Wortschöpfung „Kultursoziologie“ niederschlägt. Eine ähnliche Schlussfolgerung über die Kohärenz von Nietzsches Philosophie – wenn auch im Hinblick auf die Frage der metaphysischen Schlußfolge12 Als Beispiel sei auf ein Referenzwerk zu den „Hauptwerken der Soziologie“ verwiesen. Dort sprechen die Autoren in ihrem Vorwort zwar von „einem zeitgebundenen, ideologischen und metaphorischen Rahmen“ dem die Soziologie aufsitze, erwähnen aber Nietzsche mit keinem Wort: Kaesler, Vogt 2000, S. XIV.
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rungen in seinem Werk die scheinbar im krassen Widerspruch zu seiner Infragestellung des Wahrheitsbegriffs stehen – zieht Stefan Lorenz Sorgner, wenn er behauptet, dass Nietzsches scheinbar widersprüchliche Philosophie keineswegs inkohärent ist, sondern sich mit ihren zum Teil paradox erscheinenden Kernaussagen an eine künftige Menschheit richtet, die dem wahren Geist der Wissenschaftlichkeit verpflichtet sei: Aus diesem Grund ist Nietzsches Behauptung, daß alle scheinbar möglichen Perspektiven im Verhältnis zur Wahrheit gleichsam falsch seien, aber daß seine eigene Philosophie dennoch allen anderen Philosophien überlegen ist, auch nicht widersprüchlich, da seine Philosophie sich an den Zeitgeist richtet, d. h. an den ‚Geist der Wissenschaftlichkeit‘. Daher behauptet Nietzsche auch, daß das Zeitalter der Wissenschaft erst mit ihm begann.13
Der Soziologie hingegen sprach Nietzsche diese Qualitäten immer ab und hielt ihr seine Kritik der Moderne und ihrer Kultur vehement als Gegentheorie entgegen.
Der endgültige Durchbruch der Soziologie Weder Nietzsche noch die frühen deutschen und österreichischen Soziologen erlebten jedoch den endgültigen Aufstieg der Soziologie zur sozialwissenschaftlichen Leitwissenschaft. Erst das zwanzigste Jahrhundert führte zu einem Durchbruch der Soziologie als eigenständiger Wissenschaft und bescherte ihr jene Blütezeit, die sie bis in die frühen siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein verzeichnen konnte. Erst ab Mitte der siebziger Jahre trat dann das ein, was man heute häufig als die ‚Krise der Soziologie‘ bezeichnet, die der Innsbrucker Soziologe Frank Welz mit dem ernüchternden Umstand beschreibt, dass ihrem „Versprechen theoretischer Erklärung des Sozialen […] derzeit nur Verhalten getraut“ wird (Welz, Weisenbacher 1998, S. 9). Das erste deutschsprachige Werk, welches das Wort „Soziologie“ in seinem Titel führte, war der Grundriß der Soziologie des Österreichers Ludwig Gumplowicz (1838–1909), der in seiner Gesellungslehre nicht in Individuen, sondern in sozialen Gruppen die wichtigsten Elemente der Gesellschaft sah. Sein Buch erschien bereits 1885 in Wien. Nietzsche hat das Werk nicht gekannt, ebenso wenig wie seinen Autor oder andere deutschsprachige Soziologen seiner Zeit. Er kannte, wie bereits erwähnt, lediglich die Theorien von Comte und Spencer.
13 Sorgner 1999, S. 150 (Übersetzung: Solms-Laubach).
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In dieser Hinsicht ist es auch bemerkenswert, dass der erste deutsche Lehrstuhl für Soziologie ohne Beiordnung eines anderen Faches nicht eher als im Jahre 1925 an der Universität Leipzig eingerichtet wurde, also lange nach Nietzsches Tod im Jahre 1900 (Pape 1999, S. 4). Inhaber des Lehrstuhls war damals der Soziologe und Kulturphilosoph Hans Freyer (1887–1969), der sogar vielen Vertretern der Soziologie von heute ein völlig unbekannter ist, der aber, wie viele andere seiner Zeitgenossen auch, stark von Nietzsches Denken beeinflusst war. Der Grund: „Nietzsche prägte eine neue Sichtweise der Soziologie“ (Pape 1999, S. 4). Man könnte also ohne weiteres so weit gehen zu behaupten, dass die Hauptwerke der frühen deutschsprachigen Soziologie ohne den spezifischen Einfluss Nietzsches nicht gänzlich zu verstehen, geschweige denn zu interpretieren sind, vor allem da Nietzsches Philosophie, um es mit einem provokanten Schlagwort von Bryan S. Turner und Georg Stauth zu sagen, das „abwesende Zentrum der modernen Sozialwissenschaften“ darstellt.14 Dabei spielte Nietzsches harsche Soziologie-Kritik interessanterweise scheinbar keine Rolle, da seine Kritik der Moderne und ihrer Kultur den frühen Soziologen offenbar bereits ausreichend Anlass zur intensiven Auseinandersetzung mit seinem Werk bot. In den Schriften der Gründungsväter der deutschsprachigen Soziologie nimmt Nietzsches Philosophie daher die Funktion eines Katalysators oder Initiators bei der Formulierung neuer, oftmals recht radikaler sozialwissenschaftlicher Positionen ein. Wobei sich ihre „Anknüpfung an Nietzsche“ laut Häußling „im Kern allerdings auf die Analyse der Moderne [erstreckt]“ (Häußling 2000, S. 246).
Die Nietzsche-Rezeption an zwei Beispielen Um Nietzsches konkreten Einfluss an zwei Beispielen verdeutlichen zu können, sei mir am Schluss ein skizzenhafter Ausblick auf das Werk von Ferdinand Tönnies und Rosa Mayreder gestattet. Denn an der Nietzsche-Rezeption der beiden Soziologen wird exemplarisch deutlich, welche Aspekte von Nietzsches Werk und seiner Wirkung bei den frühen Soziologen in Deutschland und Österreich besonderen Anklang fanden. Die ‚soziologisch relevanten‘ Aspekte von Nietzsches Schaffen betreffen in erster Linie seine Kritik der Moderne, die er „so unmodern wie möglich aufs Moderne [herunterblickend]“ (KGB III/5, Nr. 997) betrachten wollte und seine
14 Stauth, Turner 1988, S. 101 (Übersetzung: Solms-Laubach).
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Kritik der modernen europäischen Kultur, die er als „ein ungeheures Problem und durchaus keine Lösung“ (KGB III/5, Nr. 974) verstanden hat, wie er es in zwei Briefen an den dänischen Philosophen Georg Brandes (1842–1927) einmal beschreibt. Sowohl bei Tönnies, als auch bei Mayreder, verläuft die Nietzsche-Rezeption in ähnlichen Bahnen und Phasen. Auf eine enthusiastische Begeisterung für Nietzsches Frühwerke folgt eine ziemliche Ernüchterung durch seine Spätschriften – was aber bleibt, ist ein wohlwollendes, lebenslanges Interesse an Nietzsche. Vor allem aber folgt der anfänglichen Begeisterung für Nietzsche, sowohl bei Tönnies als auch bei Mayreder, eine totale Ablehnung des gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden Nietzsche-Kults, der später sogar darin gipfelt, dass die deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg in ihren Schützengräben Nietzsches Also sprach Zarathustra im Tornister tragen werden. Bei Mayreder findet die Abrechnung mit dem Nietzsche-Kult in der Erzählung Klub der Übermenschen (1888) statt, bei Tönnies in der Polemik Der Nietzsche Kultus (1897). Um einen Eindruck der außerordentlich kreativen Leseart der gleichsam pseudo-religiösen Nietzsche-Verehrung zum Ende des 19. Jahrhunderts zu vermitteln, zitiere ich eine beispielhafte und sehr gelungene Passage aus Mayreders Abrechnung mit dem ‚Klub der Übermenschen‘, in der sie mit dem Nietzsche-Kult in ihrer Heimatstadt Wien scharf ins Gericht geht: Das Klublokal der Übermenschen war eine kleine, verräucherte Spelunke in der Anna Gasse, wo sich vorzugsweise jene Klasse von weiblichen Wesen mit Kaffee zu stärken pflegte, die von der bürgerlichen Gesellschaft wegen ‘unmoralischen Lebenswandels’ ausgeschlossen ist. Gerade um seiner Verrufenheit willen hatten die Übermenschen dieses Lokal für ihre Versammlungen erwählt, obwohl es im übrigen wenig Annehmlichkeiten bot. Aber da sie keine Gelegenheit versäumen wollten, die immoralische Stärke ihrer Gesinnung zu manifestieren, setzten sie ihren Stolz darein, ein Lokal bei Tag zu frequentieren, in welchem die moralische männliche Jugend nur bei Nacht aufzutreten pflegte. (Mayreder 1888, S. 158–159)
Man mag nun einwerfen, dass Mayreders Charakterisierung der Nietzsche-Jünger pointiert und überzogen erscheint, aber es ist nicht zu leugnen, dass die Nietzsche-Verehrung später sogar soweit ging, dass den deutschen Soldaten in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges die Bibel ebenso lieb war, wie ihr wahrscheinlich ungelesenes Nietzsche Buch. Auch Ferdinand Tönnies lehnt den wachsenden Kult um Nietzsches Werke ab. In seinem Aufsatz Nietzsche Narren (1893) schreibt Tönnies: „Für Nietzsche als Zarathustra ist der gewöhnliche Maßstab gleichgültig. (…) Er weiß sehr wohl, daß die blöde Menge seinem kühnen Fluge nicht folgen wird. Er dünkt
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sich ja selber ein Übermensch, seine Art zu urteilen soll eine Heldentat sein, die aus einsamer Gletscherwelt auf uns hinabsieht“ (Tönnies 1893, S. 101). Aber trotz aller ablehnenden Haltung ist auch Tönnies nicht frei von einer nahezu schwärmerischen Verehrung Friedrich Nietzsches. In einem Brief an dessen Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche (1846–1935) vom 15. Oktober 1903 zum 59. Geburtstag des Philosophen widmet Tönnies Nietzsche sogar ein entflammtes Gedicht: Friedrich Nietzsche. Zum 15ten Oktober 1903
Ein Leben, hoch erfüllt von starkem Ringen, Sich in des Wesens Tiefe zu versenken, Das Weltgeheimnis forschend zu durchdringen – So ward ihm heisse Leidenschaft das Denken! Ein Schicksal galt es denkend zu bezwingen, Einsam den Mast durch rauhen Sturm zu lenken! Ihn trieb ein über-menschliches Verlangen, Nach Höhenluft ein kühnes Freiheitssehnen, Doch Allzumenschliches hielt ihn gefangen. Des Stumpfsinns Abgrund sah er um sich gähnen, Da stieg ihm Zornesfarbe in die Wangen, In Schaffensjauchzen barg er stille Tränen! Was er erreichte? – Freude anzuzünden Und Mut zum Schönen, das ist ihm gelungen – Weisheit und Künste lehrt er sich verbünden. Sein Siegeslied hat er nicht ausgesungen… Doch Himmelsglanz lässt irdische Mängel schwinden, Der Menschheit Genius hält ihn umschlungen!
Ferdinand Tönnies Frau Dr. Elisabeth Förster-Nietzsche ehrerbietigst gewidmet.15
Seine leise Kritik an Nietzsche kann Tönnies zwar auch in seinem Gedicht an die Schwester des gerade erst vor drei Jahren verstorbenen Philosophen nicht verbergen, doch vor allem spricht aus den Zeilen eine tiefempfundene Bewunderung für Nietzsche. Es ist der frühe Nietzsche, der bei den beiden Soziologen Mayreder und Tönnies ursprünglich verfängt. Ferdinand Tönnies nennt seine Lektüre von
15 Tönnies 1903, Signatur GSA 72/BW 5515 (alte Signatur: z. T. 649).
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Nietzsches Geburt der Tragödie einen „Genuss“, liest sie sogar „beinahe mit dem Gefühl einer Offenbarung“ (Zander 1981, S. 186). Auch bei Rosa Mayreder ist das Verhältnis zu Nietzsche ähnlich schwärmerisch, spricht sie doch in ihrem Rückblick Von Wagner zu Nietzsche ganz verzückt von ihrem prägendsten „Jugenderlebnis“ (Mayreder 1936, S. 8–9). Bei Tönnies wird Nietzsches Geburt der Tragödie laut Jürgen Zander (vgl. Zander 1981, S. 221) schließlich sogar zum entscheidenden Anstoß für die Formulierung der Theorie von der Gemeinschaft und Gesellschaft (1887). Was beide Werke eint, ist die Beschäftigung mit dem Aufstieg und Fall soziokultureller Erscheinungsformen, auch wenn die Phänomene bei Nietzsche mehr von ästhetischer und bei Tönnies mehr von soziologischer Natur sind. Dem Werk liegt zudem Nietzsches Willens-Metaphysik (Tönnies spricht von ‚Wesenwille‘ und ‚Kürwille‘) zugrunde, natürlich klingt hier auch Arthur Schopenhauer (1788–1860) an. Ähnlich stark ist auch Nietzsches Einfluss auf Rosa Mayreder. So ist beispielsweise ihre Spätschrift Askese und Erotik (1927) vor allem eine versteckte oder indirekte Auseinandersetzung mit den von Nietzsche diskutierten und propagierten asketischen Idealen. Das wird vor allem dann sichtbar, wenn Mayreder von „innerweltlicher Askese“ spricht und damit in Anknüpfung an Nietzsche die „Askese in ihrer bedingten Gestalt (…) als Werkzeug der inneren Freiheit [zur – S.-L.] Umwandlung der Sexualität in Erotik“ propagiert (Mayreder 1927, S. 62). Doch nicht zuletzt klingt in Mayreders Begriffswelt hier auch ihre Lekture von Max Webers Werken an. Aber auch, wenn Mayreder ihr „synthetisches Ideal“ einer höheren Menschlichkeit entwirft, das männliche und weibliche Elemente gleichermaßen vereint, steht Nietzsche mit seinem „Übermenschen“ als Bildungsideal Pate und dient der Feministin in dem Moment zugleich als Anregung und als entscheidender Stichwortgeber. Was Tönnies und Mayreder in ihrem Nietzsche-Bild also insgesamt eint, ist das, was auch auf andere frühe deutsche und österreichische Soziologen zutrifft: Für sie war Nietzsche erschreckendes Phänomen und herausforderndes Problem zugleich.
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Archiv; 1900–1921, 12 Stück, 29 Blatt; Altona (Absendeort), Eutin (Absendeort); dabei: „Friedrich Nietzsche“, Gedicht von Ferdinand Tönnies, 1903. Tönnies, Ferdinand (1897/1990): Der Nietzsche Kultus. Eine Kritik. Berlin. Weber, Alfred (1946): Abschied von der bisherigen Geschichte: Überwindung des Nihilismus? Hamburg. Welz, Frank/Weisenbacher, Uwe (Hrsg.) (1998): Soziologische Theorie und Geschichte. Opladen. White, Daniel R./Hellerich, Gert (1999): „The Liberty Bell: Nietzsche’s Philosophy of Culture“. In: The Journal of Nietzsche Studies 18, S. 1–54. Zander, Jürgen (1981): „Ferdinand Tönnies und Friedrich Nietzsche. Mit einem Exkurs: Nietzsches Geburt der Tragödie als Impuls zu Tönnies’ Gemeinschaft und Gesellschaft“. In: Lars Clausen/Franz Urban Pappi (Hrsg.): Ankunft bei Tönnies: Soziologische Beiträge zum 125. Geburtstag von Ferdinand Tönnies. Kiel, S. 185–227.
Sören Reuter
Vom Nutzen und Nachteil der Ökonomie für das Leben Aspekte einer aktuellen Auseinandersetzung mit Nietzsche
I Liest man den Brief Nietzsches an Josef Paneth, den er Ende 1883, also gegen Abschluss des Zarathustras, in Nizza kennengelernt hatte, könnte einem die Zuversicht, mit der Nietzsche auf seine zukünftigen Leser und Interpreten spekuliert, geradezu beängstigend erscheinen. Nachdem er Paneth zur Hochzeit gratuliert hat, kommt er sehr rasch zu seinem eigentlichen Anliegen, nämlich zur Bedeutung des Zarathustras, dessen dritten Teil er Paneth durch seinen Verleger zukommen ließ: „Bemerken Sie aber wohl; mein Werk hat Zeit –, und mit dem, was diese Gegenwart als ihre Aufgaben zu lösen hat, will ich durchaus nicht verwechselt sein. Fünfzig Jahre später werden vielleicht Einigen (oder Einem): – es bedürfte eines Genies dazu! die Augen dafür aufgehn, was durch mich gethan ist. […] Also! – mein werther Herr Doctor Paneth, ich will nicht, daß jetzt schon über mich ‚geschrieben wird‘“.1 Das ist eine klare Absage Nietzsches auf die höfliche Anfrage Paneths, ob er denn etwas über ihn schreiben dürfe. In einem Gespräch hatte er Paneth übrigens auch einen für NietzscheInterpreten nicht uninteressanten Wink über den Umgang mit seinen Schriften gegeben. Paneth berichtete seiner zukünftigen Frau: Dann sprachen wir vom Briefstil und wie man Briefe nicht herausgeben sollte, er würde alle seine Freunde verpflichten, nichts von ihm nach seinem Tode herauszugeben, als was er selbst für die Publikation bestimmt und fertiggestellt hätte; denn wenn man sich sein ganzes Leben geplagt hätte, nur Ausgearbeitetes und Ganzes vor das Volk zu bringen, möchte man doch nicht dann im Hauskleid erscheinen.2
1 Brief an Josef Paneth von Mai 1884, zitiert aus: Paneth 2007, S. 233. Paneth war wie Sigmund Freud Schüler von Ernst Brücke am Wiener Institut für Physiologie, verstarb allerdings schon 1890 infolge eines schweren Lungenleidens. Paneth forschte im Winter 1883/84 in der Zoologischen Station in Villefranche bei Nizza. Ein Teil der Dokumente der Begegnung zwischen Paneth und Nietzsche hatte Krummel bereits zugänglich gemacht, vgl. Krummel 1988, S. 478–479. Der in KGB III/1, Nr. 511 abgedruckte Brief Nietzsches an Paneth enthält unwesentliche Abschreibfehler. 2 Brief Paneths an seine Braut Sofie vom 15.02.1884, vgl. Paneth 2007, S. 169.
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Sören Reuter
Sieht man einmal großzügig davon ob, dass es heute nicht mehr des Genies bedarf, um Kluges über Nietzsche zu schreiben und dass es zur Gewohnheit für Nietzsche-Interpreten geworden ist, Nietzsche dem Leser eher im „Hauskleid“ als festlich angezogen zu präsentieren, wird man zudem konstatieren dürfen, dass es bestimmte Standardthemen sind, die die mittlerweile alle Grenzen sprengende Rezeption Nietzsches dominieren: Metaphysik, Erkenntnis, Kunst, Politik, Ethik und Kultur. Bemerkenswerterweise wird ein Themenbereich, der zu den drängendsten und aktuellsten zählt, eher stiefmütterlich bzw. gar nicht behandelt, nämlich die Frage nach der Bedeutung des Ökonomischen für die moderne Industrie-, Handels- und Konsumgesellschaft in Nietzsches Schriften. Die Intention meines Beitrages ist folgende: In einem ersten Schritt möchte ich zunächst an ausgewählten Beispielen die Gründe andeuten, warum es kaum Beiträge zu Nietzsche gibt, die sich mit der Bedeutung des Ökonomischen in seiner Philosophie befassen; im Anschluss daran möchte ich auf zwei Beispiele einer aktuellen Anknüpfung an bzw. in bewusster Abwendung von Nietzsche eingehen, um abschließend knapp zu umreißen, dass der Aspekt des Ökonomischen in das Zentrum Nietzscheschen Philosophierens führen könnte, wenn man bereit wäre, die herkömmliche Interpretationsweise des Willens zur Macht in Ansätzen zu revidieren.
II Die zweibändige Geschichte der Kapitalismuskritik Elmar Waibls enthält im zweiten Band ein Kapitel über Nietzsches Auseinandersetzung mit der modernen Entwicklung des Ökonomischen (Waibl 1989, S. 25–55). Waibls Position lässt sich im Kern auf die folgende These zuspitzen: Als Geistesaristokrat verachtet Nietzsche das Prinzip Markt3 und bedient sich eines „Negativ-Images der Wirtschaft“, das bis in die Romantik zurückreicht und sich durch „herablassende Distanznahme zur Wirtschaft“ (Waibl 1989, S. 26, S. 30) auszeichnet. Ihr Geltungsbereich müsse zugunsten höherer Werte zurückgedrängt werden: höhere Werte, das sind vornehmlich die der Kunst und Kultur. Nietzsche erkenne zwar die Wichtigkeit der Wirtschaft an, lehne aber die hohe Wertschätzung der Wirtschaft mit aller Entschiedenheit ab, weil der eigentliche Freiraum menschlicher Betätigung jenseits der Sphäre des Handels und des Tausches 3 Das Prinzip Markt ist dem Titel eines einschlägigen Werks von Ulrich Thielemann entnommen, der zusammen mit Peter Ulrich an einer integrativen Wirtschaftsethik arbeitet, vgl. Thielemann 1996.
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liege. Die Zeit der „Maschinen-Cultur“ sei von Ungeduld und Hast geprägt. (WS, KSA 2, S. 553, Aph. 220). Die Verachtung der Lohnarbeit gehört für Waibl zu den Auffassungen, die Nietzsche von Anfang gehegt habe, ebenso wie die Ablehnung des Markttreibens: „wo der Markt beginnt, da beginnt auch der Lärm der großen Schauspieler und das Geschwirr der giftigen Fliegen“ (Von den Fliegen des Marktes, Z I, KSA 4, S. 65). In der „Kultur der Handelstreibenden“ werde alles nach Angebot und Nachfrage taxiert, womit nur das einen Wert bekomme, das einen Tauschwert habe.4 Nach Waibl sei Nietzsche ein „Bellizist“, der aus einer geistesaristokratischen Gesinnung heraus einen Kulturkampf gegen die liberale und kapitalistische Idee der modernen Gesellschaft geführt habe. Diese Abwendung vom Kapitalismus, verbunden mit einem Plädoyer für das Prinzip kultureller Größe wird zu Beginn des Ersten Weltkrieges von Kulturphilosophen aufgegriffen und mitunter stark radikalisiert.5 Da Nietzsche im Zeichen eines geistigen Vornehmtuns dem Kapitalismus kritisch bis polemisch ablehnend gegenüber steht und sich mit ökonomischen Theorien nicht systematisch, sondern nur sporadisch auseinandersetzt, ist ver-
4 Vgl. M, Aph. 175. Aus seiner Verachtung der Krämerseele heraus skizziert Nietzsche seine Vorstellung eines ‚gerechten‘ Preises, die darauf beruht, dass derjenige, der eine Sache veräußert, den Preis danach festsetzt, was ihm die Sache wirklich Wert ist. „Bei einem Tausche würde es nur dann ehrlich und rechtlich zugehen, wenn jeder der beiden Tauschenden so viel verlangte, als ihm seine Sache werth scheint, die Mühe des Erlangens, die Seltenheit, die aufgewendete Zeit usw. in Anschlag gebracht, nebst dem Affectionswerthe. Sobald er den Preis in Hinsicht auf das Bedürfniss des Andern macht, ist er ein feinerer Räuber und Erpresser“ (WS, KSA 2, S. 559, Aph. 25). Vgl. Waibl 1989, S. 49. 5 Neben Werner Sombart, auf dessen Pamphlet Händler und Helden Waibl näher eingeht (vgl. Waibl 1989, S. 132f-133), wäre in diesem Kontext auf Georg Simmel und Max Scheler zu verweisen. Der Vorrang individueller Geistesbildung vor dem Ökonomieprinzip wird sowohl von Simmel als auch Scheler vertreten und – angesichts der Kriegssituation – zu einem nationalen Gegensatz zwischen deutscher Geisteskultur und englischer Krämerseele stilisiert, wobei allerdings Simmel in dieser Hinsicht etwas zurückhaltender agiert als Scheler. Vgl. Simmel 2000, S. 190–201. Der Krieg wird von Simmel als Chance verstanden, sich auf die ursprüngliche Bedeutung des Kulturbegriffs zu besinnen, nämlich Kultur als Geistespflege und Steigerung menschlicher Fähigkeiten. Dass sich Simmel auf diese Bedeutung des Kulturbegriffs bei Nietzsche bezieht, ließe sich vielerorts nachweisen, vgl. in dieser Hinsicht die Abhandlung „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“, Simmel 2001, S. 194–223. Den Akt der Selbstkultivierung bezeichnet Simmel sehr schön als den Umweg des Selbst über den objektiven Geist zu sich zurück und übersetzt damit Nietzsches Formel vom Werde, der du bist in eine kulturphilosophische Programmatik: „Kultur ist der Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit.“ Simmel 2001, S. 216. Bezeichnenderweise sind die Verweise auf Nietzsche in der Philosophie des Geldes eher als marginal zu bezeichnen und rekapitulieren lediglich Nietzsches Kritik am Prinzip des Ökonomismus, wie sie bereits bei Waibl herausgestellt wurde. Vgl. Simmel 1989. Zu Max Scheler vgl. Scheler 1982, S. 218–250.
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ständlich, dass sowohl für die ökonomische Theorie als auch für die moderne Wirtschaftsphilosophie Nietzsche nicht oder nur kaum in den Blickpunkt des Interesses gerückt ist. Dieser Eindruck wird aus der Binnenperspektive der Forschungsarbeiten Wolfgang Müller-Lauters indirekt unterstützt. Müller-Lauter hat in seinen letzten Nietzsche-Intepretationen herausgestellt, dass Nietzsche sich verstärkt mit dem Ökonomen Emanuel Herrmann auseinandergesetzt hat, und zwar insbesondere mit dessen Werk Cultur und Natur, das 1887 erscheint und von Nietzsche sogleich vielfältig rezipiert wird (Müller-Lauter 1999, Herrmann 1887). Der Ökonomie-Begriff steht hierbei im Kontext der Frage nach dem energetischen Gesamthaushalt des Kosmos und wird in die Konzeption des Willens zur Macht als auch in die der Ewigen Wiederkehr des Gleichen kritisch eingearbeitet. Nur auf einige Aspekte dieser interessanten und aufschlussreichen Abhandlung Müller-Lauters kann im Folgenden eingegangen werden. So zeigt sich Nietzsche auffallend beeindruckt vom Begriff der „reinen Ökonomie“ Herrmanns. Die reine Ökonomie ist Ausdruck eines Kosten-Nutzen-Kalküls, das allein durch den Effizienzgedanken bestimmt ist und, darwinistisch reinterpretiert, demonstrieren soll, dass nur der Organismus mit einem ausgeglichenen Energiehaushalt überleben kann. Die Analogisierung von Natur und Kultur, die in einem sozialdarwinistischen Theoriefeld erfolgt, ist Nietzsche bereits aus seiner Roux-Lektüre vertraut (Roux 1881; Müller-Lauter 1978, S. 189–223). Auch hier war ihm die Kernthese begegnet, dass der Anspruch auf Selbstbehauptung im Bereich des Organischen bereits in den Zellen erhoben wird und Selektion dort in einem als elementar zu bezeichnenden Konkurrenzkampf stattfindet. Was Roux zufolge über den Erfolg im Konkurrenzkampf entscheidet, ist eine ökonomische Fähigkeit, nämlich einen energetischen Überschuss zu produzieren, d.h. zu erwirtschaften.6 Herrscht in der Natur die „reine Ökonomie“ im Sinne des Kosten-NutzenKalküls, stellt sich für Nietzsche jedoch die kaum lösbare Frage, nämlich, warum die Natur – gerade in Krisen- und Verfallszeiten – so verschwenderisch mit den höchsten Exemplaren verfährt und den Durchschnittsmenschen den Vorzug zu geben scheint (vgl. JGB, Aph. 262). Selektion führt, so die Einsicht Nietzsches, weder in der Natur noch in der Kultur unmittelbar dazu, dass der Stärkere sich durchsetzt, sie kann lediglich auf Bedingungen verweisen, die für das Hervortreten großer Exemplare begünstigend sein können. So zieht Nietzsche aus diesen Überlegungen die Konsequenz, dass die moderne Gesell-
6 Vgl. Roux 1881, S. 89. Das entscheidende Stichwort ist hier die „Uebercompensation“, die für Roux neben der Fähigkeit der Selbstregulation das für den Organismus determinierende Prinzip darstellt.
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schafts- und Wirtschaftsordnung, die eigentlich die schwachen und mittelmäßigen Menschen begünstigt, gleichwohl nötig ist, weil sie das Fundament darstellt, auf dem die großen Einzelnen gedeihen können. Zu dieser Basis einer Kultur des Mittelmäßigen zählt Nietzsche das Handwerk, den Handel und Ackerbau sowie die Wissenschaft, was an Nietzsches frühen Ausführungen zum „Griechischen Staat“ erinnert, wo die Notwendigkeit einer Sklavengesellschaft zur Erzeugung des Genius behauptet wurde.7 Die „Ausbeutung“ des Menschen im Rahmen dieser Ordnung kann gerechtfertigt werden, wenn sie als „Untergestell“ für einen höheren Typus von Mensch, dem „Übermensch“ dienen kann (vgl. NL, KSA 12, S. 462–463 (10[17])). Als Mittel zu etwas Höherem, als Beantwortung der Frage nach dem „Wozu“, ließe sich somit das ökonomische Wettbewerbsprinzip für Nietzsche rechtfertigen. Seine Idee des Übermenschen, die er von einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung abhängig macht, der man beileibe nicht nachsagen kann, sie wäre demokratischer Natur, macht ihn für eine aktuelle Diskussion wirtschaftspolitischer wie wirtschaftsethischer Fragen nicht besonders attraktiv. Hierin liegt das Gemeinsame der Interpretationsresultate von Müller-Lauter und Waibl.
III Definiert man, wie Kurt Röttgers (Röttgers 2009, S. 17–18), Wirtschaftsphilosophie als einen Teilbereich der Philosophie, der sich explizit mit drei Kernthemen befasst: 1) Geschichte und Kritik der Theoriebildung der Ökonomie, 2) dem Sinn wirtschaftlichen Handelns sowie 3) Fragen nach dem Verhältnis zwischen Ökonomie und Ethik, kann den bisherigen Ausführungen folgend, der Eindruck entstehen, dass mit Nietzsche für einen dezidiert wirtschaftsphilosophischen Diskurs wenig zu gewinnen ist. Diese Einschätzung wird man Peter Ulrich unterstellen dürfen, der unter dem Titel Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie einen der umfassendsten, vielleicht auch die radikalsten Denkanstöße zum Verhältnis zwischen Ökonomie und Ethik vorgelegt hat, aber abgesehen von dem lukrativen Stichwort der „Lebensdienlichkeit“ auf Nietzsche nicht eingeht.8 Mit der Ausklammerung Nietzsches aus dem aktuellen wirtschaftsethischen Diskurs steht Ulrich nicht allein, sie ist die Regel. Kernthese von Ulrichs Entwurf einer integrativen Wirt7 Vgl. KSA 7, 10[1], Fragment einer erweiterten Form der Geburt der Tragödie, S. 336–337. 8 Vgl. Ulrich 2008. Nietzsche wird einmal erwähnt, und zwar mit Blick auf seine Metaphysikkritik, die bei ihm, so Ulrich, eine moralskeptische Position beinhalte, vgl. Ulrich 2008, S. 40.
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schaftsethik ist das Primat der Ethik bzw. der Politik vor dem Prinzip ökonomischer Zweckrationalität. Dieses Primat der Ethik vor der Ökonomie will die Logik wirtschaftlichen Rentabilitätsdenkens nicht außer Kraft setzen, fordert aber, dass wirtschaftliches Unternehmertum, sei es privat oder betrieblich, der ethischen Legitimierung unterzogen wird. Es darf nach Ulrich nicht sein, dass es in der Wirtschaft Bereiche und Sachverhalte gibt, über die mit dem Verweis auf ‚Sachzwänge‘ gewissermaßen der Bann eines Reflexionsstopps verhängt wird. Alles, was in die Lebensbelange des Menschen eingreift, muss reflektiert und in seinen Ansprüchen begründet werden können. In Anlehnung an und zugleich in Abgrenzung zu John Rawls Theorie der Gerechtigkeit kann man sagen, dass für Ulrich der Prozess der Vergesellschaftung nicht unter dem stillschweigenden Prinzip des gegenseitigen Vorteilstausches, sondern vor dem Hintergrund des Anspruchs erfolgen soll, die normativen Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens einer ethischen Reflexion zu unterziehen, und zwar jederzeit, wenn es die Sachlage erfordert. Mit der These, dass der vertragstheoretisch simulierte Eintritt in die Gesellschaft nicht unter einem vernunft-instrumentellen Vorzeichen stehen kann, was gegen den frühen Rawls gerichtet ist, wendet sich Ulrich gegen die mainstream-economics. Mit seinem der Diskurstheorie verpflichteten Ansatz erweist er sich als ein durchaus umstrittener wie unbequemer Denker. Lebensdienlichkeit erinnert somit nur dem Namen nach an das, was Nietzsche in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Historie zu bedenken geben wollte. Für Ulrich steht der Gedanke der Lebensdienlichkeit für das eindeutige Primat der Ethik vor der Ökonomie, deren normative Ansprüche in einer diskursartigen Reflexion verhandelt werden müssen. Damit ist eine Reihe von Fragen verbunden, die einer eingehenden Klärung bedürften, was im Rahmen dieses Vortrags nur angedeutet werden kann. Wenn die Ökonomie einer ethischen Legitimierung unterzogen werden soll, ist 1) in grundlegender Weise zu klären, was Ethik ist, was also das Moralprinzip sein soll, 2) an welcher Stelle im Rahmen des Ökonomieprinzips eine ethische Forderung überhaupt greifen kann, und 3) welche konkrete Gestalt eine integrative Wirtschaftsethik annehmen soll. So müsste z.B. plausibel gemacht werden, welcher Art die Bedingungen sind, die es plausibel machen, an das ökonomische Kosten-Nutzen-Kalkül eine ethische Forderung zu stellen. Denn diese Forderung ist für viele Ökonomen nicht nur unverständlich, sondern geradezu grotesk, wie z.B. für Friedrich August Hayek, dem Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften 1974 und Vordenker des Neoliberalismus der 1980er Jahre.9
9 Vgl. die Aufsatzsammlung Hayek 1996. Hayek versteht z.B. die Wirtschaftsordnung als eine evolutionär gewordene Ordnung, deren Komplexität es als Anmaßung erscheinen lassen
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Dass das Prinzip ökonomischer Rationalität überhaupt einer Kritik zu unterziehen ist, lässt sich ohne eine Kritik der Geschichte der politischen Ökonomie in der Neuzeit nicht verständlich machen, was Ulrich im ersten Teil seines Buches leistet. Konstitutiv für diese Geschichte der modernen Ökonomie ist ihre Herauslösung aus der praktischen Philosophie, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts abschließt und die zugleich mit einer Neuorientierung an den Naturwissenschaften, d.h. an ihrem Objektivitätsideal verknüpft ist. Die Ökonomie avanciert immer mehr zu einer exakten Wissenschaft, die sich als wertneutral versteht, aber gleichzeitig eine Legitimierung des Profit- und Erwerbsstrebens sucht, weil immer klarer wird, dass der ökonomische Wettbewerb von sich aus wohl doch nicht alle Probleme löst und zum Wohl aller beiträgt, wovon noch die in der Naturrechttradition stehenden klassischen Ökonomen überzeugt waren. Für Adam Smith was es die „unsichtbare Hand“ Gottes, die ohne dass die Menschen selbst daran interessiert wären oder dafür gearbeitet hätten, für das allgemeine Wohl der Wirtschaftsbürger sorgt. Das Moralkonzept, das im 19. Jahrhundert vorzugsweise dazu dient, dieses Begründungsdefizit zu beheben, ist der Utilitarismus mit seiner bereits von Bentham vorgebrachten Idee, dass diejenige Handlung moralisch wertvoll sei, die zum größten Glück der größten Zahl beiträgt. Hieran knüpft sich der wirtschaftsethische Diskurs der Moderne an, in dem es Ulrich darauf ankommt, mit seinem diskursethischen Ansatz eine Position jenseits des Utilitarismus sowie seiner Korrekturen z. B. durch das Pareto-Prinzip zu beziehen. Die Reserve der Diskursethiker gegenüber Nietzsche spiegelt sich in der Reflexionsethik Ulrichs wider, was auch kein Geheimnis darstellt, da Nietzsches Plädoyer für Aristokratismus und Rangordnung Ideale darstellen, die mit der an Kant orientierten Idee der Gleichheit aller Menschen, von der Ulrich ausgeht, schwer zu vereinbaren sind. Einen ganz anderen Ansatz vertritt der Journalist und Managementphilosoph Andreas Drosdek in seinem populärwissenschaftlichen Buch „Nietzsche für Manager“, das einen Zyklus ähnlich gelagerter Arbeiten fortführt (Drosdek 2008, vgl. Drosdek 2007). Die Grundannahme ist, dass auch Nietzsche, von dem man es vielleicht nicht erwarten würde und dem man solches Vorhaben auch guten Gewissens nicht unterstellen sollte, dem heutigen Manager etwas zu sagen hat. Aber wie sieht eine solche Diätetik für Manager konkret aus? Ausgangspunkt ist der individualistische wie elitäre Ansatz Nietzsches, der fruchtbar gemacht werden soll für ein Managerethos, das dazu anhält, der Verwirklichung eigener Ziele bewusst nachzugehen, das eigene Interesse mit demjenigen des Unternehmens zu ver-
würde, wollte der Mensch mit seinem beschränkten Wissen und ideologisch vorbelastet in diese Ordnung eingreifen.
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binden und zugleich das eigene wie unternehmerische Verhalten kritisch zu reflektieren. So legt Drosdek folgendes Vorgehen bei der Analyse von Zusammenhängen nahe: Bezogen auf den Arbeitsalltag bedeutet das: Ein richtiges Erkennen besteht darin, die Dinge so zu sehen, wie sie für die eigene Arbeit am nützlichsten sind. Die Erkenntnis ist dann besonders wertvoll, wenn sie ganz subjektiv zu den aus persönlicher Sicht besten Resultaten führt. Das gilt sowohl für die eigene Karriere als auch für die Beiträge zum Unternehmenserfolg. Nietzsche empfiehlt einen radikal subjektiven Ansatz: Nicht ‚Was bedeutet das?‘, sondern ‚Was bedeutet das für mich/uns als Unternehmen?‚, lautet die entscheidende Frage. Auch ein Politiker sollte als Führungskraft auf ähnliche Weise urteilen. (Drosdek 2008, S. 40)
Dass gerade Nietzsches subjektivistisch ausgerichtet Philosophie für die aktuelle wirtschaftspolitische Situation von herausragender Bedeutung sein kann, wird zudem erklärt mit Bezug auf seine Philosophie des Werdens, die in besonderer Weise dazu herausfordert, sich vom Substanzdenken zu verabschieden und vielmehr stetigen Wandel zu akzeptieren. Von keinem anderen Philosophen können wir lernen, dass die Dinge ständig im Fluss sind und dass wir Mut; Kreativität und Kritikfähigkeit bedürfen, um innovativ auf Veränderungen durch Macht- oder Interessensverschiebungen reagieren zu können. Denn nur so halten wir uns am globalisierten Markt und können der Konkurrenz überlegen sein. Der an sich arbeitende und sich unternehmensspezifisch kultivierende Manager könne von Nietzsche zudem lernen, sich seiner Führungsqualitäten zu vergewissern und sie positiv zu vertreten, ohne einer stupiden Unternehmensideologie zu verfallen. Selbstkritisches Denken, was einschließt, nicht allen Expertisen aus der Finanzbranche unterwürfig Glauben zu schenken, wie das Selbstbewusstsein, einer Elite anzugehören, die sich dessen nicht schäme, repräsentiere das, was Nietzsche sich selbst als Wahlspruch auferlegt habe: Werde, der du bist. Wie kaum ein anderer Philosoph stehe Nietzsche für Beharrlichkeit und produktive Selbstkritik, die Drosdek abschließend dem geneigten Leser als Katalog des Muts mit auf den Weg gibt: Mut zur Selbstverantwortung, Mut zu Intuition, Mut zur Leistung, Mut zur Elite, Mut zu radikalen Visionen, Mut zur Führung und Mut zur Macht.
IV Sieht man einmal davon ab, dass man in Erklärungsnot käme, wollte man zu begründen versuchen, warum nicht auch Nietzsches Philosophie – trotz seiner massiven Kritik am kapitalistischen System – gleichwohl für Manager rezipier-
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bar und fruchtbar sein soll, stellt sich doch der Verdacht ein, dass Drosdeks Idee eines Selbstmanagements nach Nietzsche mit einem zu geringen Differenzierungsgrad vorgetragen wird und auf ein Publikum zugeschnitten ist, dem zuviel philosophische Reflexion oder der Rekurs auf Verantwortlichkeit (ein Terminus, der bei Drosdek gar nicht vorkommt) abstoßend wirken könnte. Dem Aufbruch zum Mut fehlt letztlich die philosophische Bestimmtheit, was ihn als solchen nicht diskreditiert, aber doch der Beliebigkeit der Auslegung anheimfallen lässt. Insgesamt bleibt kritisch nachzufragen, warum ein Denker, der sich den akademischen Pflichten und Zwängen so radikal entzieht, wie es Nietzsche (vor-)exerziert hat, gerade für das gesellschaftliche Subsystem Vorbild sein kann, das sich wie kein anderes durch ein erfolgsorientiertes Denken und Handeln auszeichnet und kritisches Nachfragen über prinzipielle Dinge mit dem Verweis auf Sachzwänge gemeinhin auf Nebengleise zu dirigieren versucht. Zudem verschweigt Drosdek das pikante, aber für Nietzsche nicht unerhebliche Detail, dass gerade in Krisenzeiten das Individuum zwar entfesselt aufblüht, aber der Durchschnittsmensch überlebt, weil die starken Naturen untergehen (vgl. JGB, KSA 5, S. 214–217, Aph. 262). Für einen Manager, der sich angesichts weltweiter Krisensituation seines (möglichen) schlechten Gewissens entledigen und an seinen elitären Führungsstatus glauben bzw. glauben machen will, dürften diese Aussichten sich nicht als gutes Omen interpretieren lassen. Denn die Krise überleben nach Nietzsche nur die Schwachen. Was Drosdeks philosophische Hilfestellung für Manager ausblendet, ist die Sinnfrage. Diese beschränkt sich allein auf das beschriebene Managerethos und abstrahiert von generellen Fragen der Werteüberzeugung wie Strategien der Lebensausrichtung. Aber gerade an diesem Punkt offenbart sich, zumal vor dem ökonomischen Gesichtspunkt, eine tiefere Spannung im Denken Nietzsches, die Drosdek unthematisiert lässt. Das wird deutlich, wenn man sich noch einmal kurz Röttgers Bestimmung der Sinnfrage als ein zentrales Moment dessen, was Wirtschaftsphilosophie zu reflektieren hat, besinnt und diese dann für eine Interpretation des Willens zur Macht fruchtbar zu machen versucht (Röttgers 2009, S. 25). Wir können, so Röttgers, die Frage nach dem Sinn wirtschaftlichen Handelns nicht von der Sinnfrage schlechthin trennen. Es ist nicht so, dass wir das Modell des homo oeconomicus haben, das wir als reines Effizienzprinzip definieren, und dass wir dann die vergebliche Anstrengung unternehmen, in dieses Modell, das uns sinnentleert erscheint, die Sinnfrage zu implementieren oder zu behaupten, wirtschaftliches Handeln hätte überhaupt keinen Sinn. Übertragen auf die allgemeine Ebene des Ökonomischen würde darin die wenig erfolgversprechende Frage münden, wie wir Ethik auf die Wirtschaftsprozesse ‚anwenden‘ können. Vielmehr sollten wir, und darin ist Röttgers zuzustimmen, das Effizienzprinzip bereits als Antwort auf die Sinn-
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frage interpretieren. Wirtschaftsprozesse und ökonomisches Denken wären in dieser Hinsicht als eine strategische Leistung zu verstehen, wie wir mit der Lebenszeit und der Knappheit der Ressourcen zeitsparend umgehen. Wenn wir so fragen, können wir dem ökonomischen Effizienzgedanken ein Kulturprinzip entgegenstellen, das nicht auf den schnellstmöglichen Erwerb einer Sache ausgerichtet ist, sondern sich durch Umwege, Verzögerungen, Brüche oder Umbrüche, gemeinhin durch den Gedanken der Langsamkeit, vielleicht auch Bedächtigkeit auszeichnet. Der Vorteil, so zu verfahren, ist, dass wir mit dem Ökonomie- und dem Kulturprinzip zwei unterschiedliche, mitunter gegensätzliche, aber auch als komplementär zu verstehende Strategien der Lebensbewältigung auf einer Ebene ansiedeln können. Dass Alexander den gordischen Knoten mit seinem Schwert zerhaut, um ein Beispiel Röttgers zu nehmen, wäre so zu verstehen, dass es ihm auch prinzipiell möglich gewesen wäre, den Knoten zu lösen, wenn er mehr auf seinen Lehrer Aristoteles gehört hätte. Es hätte nicht nur mehr Zeit, sondern auch eine andere Verwendung des Faktors Zeit bedurft. Genau diese Spannung und Gegensätzlichkeit scheint es jedoch zu sein, die Nietzsches widersprüchliche Charakterisierung des Machtmenschen auszeichnet, die sich, folgt man der Analyse Müller-Lauters, in den Gewaltmenschen einerseits und den synthetischen, den Ausgleich suchenden Menschen andererseits aufspaltet. Was Nietzsche am cäsarischen Gewaltmenschen fasziniert, ist nicht nur die Rücksichtslosigkeit, mit der eine Perspektive durchgesetzt wird, sondern der Einsatz der ökonomischen Mittel hierzu einschließlich ihrer Voraussetzungen. Seiner Roux-Lektüre dürfen wir entnehmen, dass er die Durchsetzung von Zwecken an den ökonomischen Gesichtspunkt der Effizienz bindet und daran trotz mancher Einwände gegen Roux festhält.10 Die Durchsetzung von Machtansprüchen ist kein reiner Gewaltakt, sondern setzt ökonomische Kompetenz im Einsatz der Mittel voraus. Wenn Nietzsche, folgt man der Deutung Müller-Lauters (Müller-Lauter 1999, S. 213), vom „Tyrannen“ den „synthetischen“ und „weisen“ Menschen absetzt, der sich durch Umfänglichkeit und Perspektivenreichtum auszeichnet, scheint mir in dieser Entgegensetzung genau das vorzuliegen, was wir als prinzipielle Spannung zwischen dem Ökonomie- und dem Kulturprinzip deuten können. Im Hinblick auf Müller-Lauters Interpretation der im Willen zur Macht ausgedrückten Wahrheitsproblematik würde das bedeuten, dass die Gegensätzlichkeit der beiden Typen kein primär logisches Problem darstellt, das einer Auflösung bedürfte, sondern ein zutiefst existenzielles. In Nietzsches Willen zur Macht wäre weniger der Wahrheitsprob-
10 Vgl. Müller-Lauter 1978. Nietzsches Kritik konzentriert sich auf das Gegensatzpaar kausal und teleologisch. Vgl. dazu Reuter 2010, S. 92–93.
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lematik in ihrer geschichtsmetaphysischen Dimension hervorzuheben, als die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Sinn des Lebens unter den modernen Vorzeichen einer Dominanz des Ökonomischen. Damit wäre ein zentraler Aspekt der Bedeutung des Ökonomischen im Kern der Philosophie Nietzsches aufgewiesen. Was Müller-Lauter als Ausdruck von Gegensätzen deutet, die auf einen philosophieimmanenten Gegensatz hinweisen, wäre unter diesen abgewandelten Lesevorzeichen als Gegenüberstellung zweier von Nietzsche als paritätisch anerkannter Prinzipien der Lebensbewältigung zu verstehen. Paritätisch hieße, dass eben nicht eine Unterordnung des einen Prinzips unter dem anderen erfolgt und dass es keinen Sinn machen würde, das eine gegen das andere ausspielen zu wollen, weil beide gleichberechtigt sind, auch wenn sie nicht gleichzeitig Anwendung finden können. Diese Deutung ließe sich meines Erachtens plausibel machen, wenn wir im Rahmen von Nietzsches Kapitalismus- und Ökonomiekritik eine wichtige Unterscheidung vornehmen und Nietzsches Kritik der Wirtschaftsordnung sowie des utilitaristischen Nützlichkeitsgedankens von Erwägungen zu Strategien der Sinnstiftung und Lebensbewältigung trennen. Wir sollten Nietzsche, der sich als Philosoph der Umwege, des „lento“,11 der Muße und des Müßiggangs begriffen hat, der seinen Werken, wie er gegenüber Paneth nachdrücklich herausstellt, Zeit gibt, zugleich als Denker verstehen, der ökonomische Effizienz keineswegs abgelehnt, sondern bewundert hat, dies aber leider in eher martialischen Bildern.
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11 Vgl. M, Vorrede 5, ebenso Aph. 256 von JGB, wo das „lento“ auch in Zusammenhang mit dem Gedanken der „Synthesis“ gebracht wird.
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Reuter, Sören (2010): „‚Dieser Lehre gegenüber ist der Darwinismus eine Philosophie für Fleischerburschen‘. Gründzüge einer möglichen Darwin-Rezeption Nietzsches“. In: Nietzscheforschung 17. Nietzsche, Darwin und die Kritik der Politischen Theologie, S. 83–104. Röttgers, Kurt (2009): Einführung in die Wirtschaftsphilosophie, Kurseinheit 1, Fern-Universität Hagen. Roux, Wilhelm (1881): Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmässigkeitslehre. Leipzig. Scheler, Max (1982): „Zur Psychologie des englischen Ethos und des cant“, Anhang zu: „Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg“. In: Gesammelte Werke. Bd. 4: Politischpädagogische Schriften. Bern, München, S. 218–250. Simmel, Georg (2000): „Die Krisis der Kultur“. In: Georg Simmel: Aufsätze und Abhandlungen (1909–1918). Gesamtausgabe. Hrsg. von Otthein Rammstedt. Bd. 13. Frankfurt a. M., S. 190–201. Simmel, Georg (2001): „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“. In: Georg Simmel: Aufsätze und Abhandlungen (1909–1918). Gesamtausgabe. Hrsg. von Otthein Rammstedt. Bd. 12. Frankfurt a. M., S. 194–223. Simmel, Georg (1989): Philosophie des Geldes. Gesamtausgabe, Bd. 6. Hrsg. von Otthein Rammstedt. Bd. 6. Frankfurt a. M. Sombart, Werner (1915): Händler und Helden. München, Leipzig. Thielemann, Ulrich (1996): Das Prinzip Markt. Kritik der ökonomischen Tauschlogik. Bern. Ulrich, Peter (2009): Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie. 4., vollständig neu bearbeitete Auflage. Bern, Stuttgart, Wien. Waibl, Elmar (1989): Ökonomie und Ethik II. Die Kapitalismusdebatte von Nietzsche bis Reaganomics. Stuttgart, Bad Cannstatt.
Sabine Scharff
Das „Thier, das versprechen darf“ und die Ökonomie der Gläubiger-SchuldnerBeziehung. Der Ursprung für die Entstehung politischen Denkens? „Einige werden posthum geboren“ – dieses Diktum Nietzsches lässt vermuten, dass gewisse Wirkungen des Denkens Nietzsches auch heute noch geboren werden. Oder sollen wir die Aufmerksamkeit allein darauf richten, bereits erfolgte Nachwirkungen zu rekonstruieren? Ich möchte im Folgenden einige Gedanken zu Nietzsches ‚Thier, das versprechen darf‘, aus der Genealogie der Moral darstellen. Die These ist, dass dieser Streitschrift nicht nur eine politische, sondern sogar eine dezidiert freiheitlich-demokratische Bedeutung zukommt. Das ‚Thier, das versprechen darf‘, markiert hierbei, wie ich meine, eine bedeutende Schnittstelle zwischen Nietzsches bereits erfolgter und seiner noch bevorstehenden Wirkung. Ein Thier heranzüchten, das versprechen darf – ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat? ist es nicht das eigentliche Problem vom Menschen? (GM, KSA 5, S. 291)
Mit diesem Theorem leitet Nietzsche die zweite und entscheidende Abhandlung seiner Genealogie der Moral ein. Nietzsche öffnet hier einen weiten Raum, denn die Idee, ein gewisses ‚Thier heranzüchten‘ zu wollen, geht davon aus, dass der Mensch immer erst zu dem werden muss, wer und was er ist. Und dazu bedarf es eines Versprechens, das es gleichfalls nicht einfach gibt, sondern das erst geschaffen werden muss. Jene Aufgabe, ein Thier heranzuzüchten, das versprechen darf, schliesst, […] als Bedingung und Vorbereitung die nähere Aufgabe in sich, den Menschen zuerst bis zu einem gewissen Grade nothwendig, einförmig, gleich unter Gleichen, regelmässig und folglich berechenbar zu machen. (GM, KSA 5, S. 293)
Die Menschen müssen also erst zu jenen Wesen werden, die sich einander gleichen und folglich auf gleiche Weise handeln, um für sich und andere berechenbar und in ihrer Interaktion einschätzbar zu werden. Nach Nietzsche ist der Mensch jedoch von Natur aus das „nothwendig vergessliche Thier“ (GM, KSA 5, S. 292) und ein ‚vergessliches Thier‘ kann nichts berechnen oder einschätzen, weil es eben vergisst. Berechenbar werden heißt also auch, diese
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Vergesslichkeit situativ überwinden und etwas im Gedächtnis behalten zu können. Das ‚vergessliche Thier‘ braucht ein Gedächtnis:1 Eben dieses nothwendig vergessliche Thier, an dem das Vergessen eine Kraft, eine Form der starken Gesundheit darstellt, hat sich nun ein Gegenvermögen angezüchtet, ein Gedächtniss, mit Hülfe dessen für gewisse Fälle die Vergesslichkeit ausgehängt wird, – für die Fälle nämlich, dass versprochen werden soll (GM, KSA 5, S. 292).
Gedächtnis und Berechenbarkeit braucht es also, wenn etwas versprochen werden soll. Das Versprechen bedarf der Bereitschaft und Entschlossenheit, nicht vergessen zu wollen. Es basiert, so Nietzsche, im „Gedächtniss des Willens“ (GM, KSA 5, S. 292). Sobald ein Wille im Spiel ist, kann von einer Handlungsabsicht gesprochen werden, die ein Ziel hat und ihre Kräfte entsprechend gezielt einsetzt. Das ‚nothwendig vergessliche Thier‘ ist mittels des Gedächtnisses zu einem Menschen geworden, der in irgendeiner Weise versprechen, also sein Wort geben kann. Wenn der Mensch sein Wort geben kann, gestaltet er zugleich seine Zukunft. Denn er vollzieht eine aktive Handlung mit zukünftiger Relevanz und tritt aus der Bindung an die Gegenwart heraus. Der freie Mensch ist für Nietzsche ein Mensch der Tat; einer, der, „wie es ein Versprechender thut, für sich als Zukunft gut sagen“ (GM, KSA 5, S. 292) kann. Das Versprechen ist die Basis für alles Zukünftige. Doch ein funktionierendes Versprechen bedarf mehr als nur der einen Seite, die ihr Wort gibt, sondern auch einer Gläubigerseite, die das gegebene Wort annimmt, die den Versprechenden beim Wort nimmt. So führt Nietzsche das ‚Thier, das versprechen darf‘, unweigerlich in eine interaktive Beziehung, in das „Vertragsverhältniss zwischen Gläubiger und Schuldner“ (GM, KSA 5, S. 298). Damit liegt meines Erachtens auf der Hand, dass Nietzsche hier nicht nur – wie bereits vielfach in der Literatur behandelt – den Ursprung von Moral, Gewissen und Gerechtigkeit findet, sondern – wie in der Zivilisationsgeschichte überhaupt – zu allererst ökonomische Beweggründe am Werke sieht. Da seiner Überzeugung nach „jener moralische Hauptbegriff ‚Schuld‘ seine Herkunft aus dem sehr materiellen Begriff ‚Schulden‘ genommen hat“ (GM, KSA 5, S. 297), folgert Nietzsche: Das Gefühl der Schuld, der persönlichen Verpflichtung […] hat […] seinen Ursprung in dem ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältniss, das es giebt, gehabt, in dem Verhältniss zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner: hier trat zuerst
1 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Schaffung des Gedächtnisses bei Nietzsche ein äußerst grausamer Akt ist, da er nur über Strafe und Schmerz funktioniert, Nietzsche hierzu: „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss“ (GM, KSA 5, S. 295). Der Fokus der vorliegenden Ausarbeitung erlaubt es leider nicht, auf die Tiefe und Dramatik dieses Prozesses einzugehen.
Das „Thier, das versprechen darf“ und die Gläubiger-Schuldner-Beziehung
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Person gegen Person, hier mass sich zuerst Person an Person. Man hat keinen noch so niedren Grad von Civilisation aufgefunden, in dem nicht schon Etwas von diesem Verhältnisse bemerkbar würde. Preise machen, Werthe abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen – das hat in einem solchen Maasse das allereste Denken des Menschen präoccupirt, dass es in einem gewissen Sinne das Denken ist. (GM, KSA 5, S. 305–306)
Wenn Nietzsche ökonomische Handlungen derart als das Denken bezeichnet, ist es nicht übermäßig gewagt zu behaupten, dass für ihn vor Moral und Gerechtigkeit der individuelle Zugewinn steht. Zumal sich ebenso sehr die Frage stellt, weshalb Gläubiger und Schuldner überhaupt in ein so riskantes Verhältnis eintreten sollten, wenn es nicht für jeden etwas Begehrenswertes zu gewinnen gäbe. So ist auch die weitere Rekonstruktion dieses Verhältnisses bei Nietzsche vornehmlich ökonomisch bestimmt: Der Schuldner, um Vertrauen für sein Versprechen der Zurückbezahlung einzuflössen, um eine Bürgschaft für den Ernst und die Heiligkeit seines Versprechens zu geben, […] verpfändet Kraft eines Vertrags dem Gläubiger für den Fall, dass er nicht zahlt, Etwas, das er sonst noch ‚besitzt‘, […] zum Beispiel seinen Leib oder sein Weib oder seine Freiheit oder auch sein Leben. (GM, KSA 5, S. 299)
Kann der Schuldner sein Versprechen halten, gewinnt auch der Gläubiger, da er – wie in ökonomischen Verträgen üblich – die gewährten „Eigenschaften mit Zins“ (GM, KSA 5, S. 328–329) zurückbekommt. Bricht der Schuldner aber sein Wort, macht er sich strafbar. Er wird „ein ‚Brecher‘, ein Vertrags- und Wortbrüchiger“ (GM, KSA 5, S. 307). „Der Verbrecher ist ein Schuldner“ (ebd.). Dem Gläubiger wird in diesem Fall ein Ausgleich zugestanden, also eine Äquivalenz geboten: Die Äquivalenz ist damit gegeben, dass an Stelle eines gegen den Schaden direkt aufkommenden Vortheils (also an Stelle eines Ausgleichs in Geld, Land, Besitz irgend welcher Art) dem Gläubiger eine Art Wohlgefühl als Rückzahlung und Ausgleich zugestanden wird, – das Wohlgefühl, seine Macht an einem Machtlosen unbedenklich auslassen zu dürfen. (GM, KSA 5, S. 299–300) 2
Was Nietzsches Ökonomik damit vom heutigen Mainstream innerhalb der Wirtschaftswissenschaften unterscheidet, ist allein, dass er die Spekulationen nicht auf den Geltungsbereich ausschließlich monetärer Vermittlung begrenzt. Fassen wir zusammen: Der Mensch kann sprechen; doch um versprechen zu dürfen, muss er sich ein Gedächtnis schaffen, sich an seinesgleichen anglei-
2 Die Ausmaße und Folgen, die Nietzsche dem enttäuschten Gläubiger zugesteht, werden auch hier nur angeschnitten und in erster Linie die Basis des Versprechens herausgearbeitet.
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chen und über seinen Willen frei verfügen können. Erst dann vermag er sein Wort zu geben. Dieser Mensch ist in der Lage, in Nietzsches Vertragsverhältnis die Rolle des Gläubigers oder des Schuldners einzunehmen und somit in ökonomischer Weise einen Zugewinn zu schaffen. Sein Wort kann nun angenommen werden und sich in eine Zukunftsinvestition umwandeln. Mit der konstitutiven Bedeutung, die Nietzsche der Gläubiger-SchuldnerBeziehung beimisst, steht er nicht allein. Auch die Wirtschafts- und Soziologiewissenschaftler Gunnar Heinsohn und Otto Steiger entwickeln in ihrer zunehmend rezipierten Eigentumstheorie des Geldes (Heinsohn, Steiger 2009) Werte aus Gläubiger-Schuldner-Kontrakten. Der Mehrwert ihrer Theorie liegt in der strikten Unterscheidung von Besitz und Eigentum. Nur wer Eigentümer ist, kann investieren. In den Worten von Heinsohn und Steiger: „[D]ie volle Dispositionsfreiheit, die im Belasten, Verpfänden und Verkaufen ihre wichtigsten Elemente hat“ (Heinsohn, Steiger 2009, S. 91), liegt ausschließlich beim Eigentümer, nicht beim Besitzer. Auch Geld an sich und der Wert des Geldes sind laut Heinsohn und Steiger nicht nur Äquivalente3, sondern entstanden erst aus Gläubiger-Schuldner-Kontrakten zwischen Eigentümern. Den Grund dafür sehen sie in der Notwendigkeit, dass bei diesen Kontrakten Anrechte auf Eigentum veräußert werden, die als solche – weil sie die konkrete materielle Nutzung des Eigentums in seiner Form als Besitz nicht berühren – immateriell sind. Doch bedürfen diese immateriellen Anrechte einer konvertierbaren, also auch gegenüber Dritten geltenden Darstellung. Diese Darstellung ist im Wesentlichen das Geld (vgl. Heinsohn/Steiger 2009, S. 122–139). Die Schaffung von Eigentum und die Übertragung von Anrechten auf Eigentum nennen die Autoren daher auch einen ‚Rechtstitel setzenden Akt‘ (vgl. Heinsohn/Steiger 2009, S. 138) – womit erneut der Topos der Sprachgebung offenbar wird, also das ‚Thier, das versprechen darf‘. Denn einen Rechtstitel setzen bedeutet, etwas qua Sprache zu vereinbaren und es zu halten. In der Theorie von Heinsohn und Steiger bleiben jedoch die anthropologischen Voraussetzungen der Eigentumslogik unklar. Genau jene Stelle kann aber mit dem ‚Thier, das versprechen darf‘, erschlossen werden, weil Nietzsche zeigt, wie der Mensch durch die Logik des Versprechens Eigentümer seiner selbst wird und als dieser fähig ist, „für sich als Zukunft gut sagen zu können!“ (GM, KSA 5, S. 292). Treffen jene selbstbewussten Menschen, die sich von sich etwas versprechen, aufeinander, treibt es sie unweigerlich in die gemeinschaftliche Interaktion. Es entsteht ein Netzwerk aus Verhältnissen, also das Gesellschaftliche oder Politische. Der Wirtschaftsphilosoph Wolf Dieter Enkelmann liest Nietz-
3 Wie es sich üblicherweise in der Wissenschaft einer prämonetären Ökonomie versteht, vgl. hierzu Luhmann 1994.
Das „Thier, das versprechen darf“ und die Gläubiger-Schuldner-Beziehung
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sches ‚Thier, das versprechen darf‘, als eine Übersetzung des Aristotelischen zoon logon echon und dies, Nietzsche entsprechend, als den Aristotelischen Begriff des homo oeconomicus (vgl. Enkelmann 2006, 1103–1112, S. 5, und Enkelmann 2010, S. 47 ff.). Jenes zoon logon echon, das wir als die genauere Bestimmung des zoon politikon, des politischen Lebewesens kennen, ist im Grunde genommen der Bürger. Bei Aristoteles findet der Mensch erst als Bürger seine Wahrheit und die Chance, sich selbst zu verwirklichen (vgl. Aristoteles 2003, I, 2, 1253a). In der gängigen Literatur ist der Zusammenhang zwischen Nietzsches ‚Thier, das versprechen darf‘, und dem Aristotelischen zoon logon echon zwar bekannt, aber kaum in seiner polit-ökonomischen Dimension erfasst (vgl. z.B. Höffe 2004). Dabei wirft Enkelmann zu Recht die Frage auf, was der authentische Bürger anderes ist, als einer, der sich für sich verbürgt; einer, der Sprache hat und sie nutzt, um sein Wort zu geben und sich beim Wort nehmen zu lassen (vgl. Enkelmann 2010, S. 47 ff.). Implizit verweist auch Peter Sloterdijk in seinem polit-kritischen „Manifest zum neuen Zeitgeist“ (Cicero 2009, S. 95) auf Nietzsches Gedanken eines eigenverantwortlichen, auf seine Zukunft setzenden Menschen. „Augenblicke, in denen ein Mensch nach vorne geht“ (Sloterdijk 2009, S. 97), sind nach Sloterdijk geprägt von „dem Bekenntnis: Das habe ich, das gebe ich, das teile ich, so bin ich“ (ebd.). Zu einem solchen Bekenntnis ist nur ein ‚Thier, das versprechen darf‘, fähig. Denn sich selbst ein Versprechen zu geben, bedeutet, zu erkennen, wer man ist und in Zukunft sein möchte. Nur ein Mensch, der sich hinreichend das Vertrauen gewährt, um sich in die Eigenverschuldung zu wagen, kann sich sowohl seiner selbst bewusst werden als auch, „wie es ein Versprechender thut, für sich als Zukunft gut sagen“ (GM, KSA 5, S. 292). Auch Nietzsche verwendet in der Konzeption des Gläubiger-Schuldner-Verhältnisses eine ganze Reihe politischer Begriffe, wie den des Souveräns: [S]o finden wir als reifste Frucht an ihrem Baum das souveraine Individuum, […] kurz den Menschen des eignen unabhängigen langen Willens, der versprechen darf – und in ihm ein […] Bewusstsein davon, was da endlich errungen und in ihm leibhaft geworden ist, ein eigentliches Macht- und Freiheits-Bewusstsein, ein Vollendungs-Gefühl des Menschen überhaupt. Dieser Freigewordene, der wirklich versprechen darf, dieser Herr des freien Willens, dieser Souverain. (GM, KSA 5, S. 293)
Was macht dieses ‚Thier‘ zu einem souveränen Individuum? Wie kommt dieser Mensch zu der Macht über sich selbst und zu der Befähigung, über einen freien Willen zu gebieten? Erinnern wir uns an die Schaffung des Gedächtnisses: Der Souverän ist ein Mensch, der nicht vergessen will. Er erwartet sich etwas von seiner Zukunft und verspricht es sich von sich selbst. Eben dieses Versprechen inthronisiert und emanzipiert das Wollen und Wünschen gegenüber allem Schicksalhaften oder von Natur aus Vorgegebenem. Denn der Souverän ist in
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der Lage, sein Wort „selbst gegen Unfälle, selbst ‚gegen das Schicksal‘ aufrecht zu halten“ (GM, KSA 5, S. 294). Für Nietzsche ist der Souverän somit nicht die Figur eines durch Erbfolge in seine Rolle hineingeborene Aristokraten. Vielmehr eröffnet sich für Nietzsche über das Versprechen jedem Einzelnen die Chance, sein Schicksal willentlich zu bestimmen. Wenn der Wille auf sich selbst setzt, um in Erfüllung zu gehen, anstatt von anderwärts Einlösung zu erwarten, dann wird er ein ‚Wille zur Macht‘. Und dies ist kein Wille zur Unterdrückung, sondern im Gegenteil ein Wille, etwas werden und entstehen zu lassen, nicht zuletzt den Menschen als jenen Freien, der den Bewohner eines Landes erst zum Staatsbürger einer Nation macht. Dies führt zu dem zweiten und vielleicht wichtigsten politischen Begriff überhaupt, der im obigen Zitat eine maßgebliche Rolle spielt: Freiheit. Auch hierin verhält es sich vergleichbar zur Macht des Souveräns: Es handelt sich nicht um die Freiheit von etwas, sondern um die Freiheit zu etwas. Nicht Bewahren und Selbstbehauptung, sondern etwas zu riskieren und auf sich selbst spekulieren zu können, begründet den Modus der Möglichkeiten und die Freiheit, die Nietzsche im Sinn hat. Wer sich nicht bloß erhalten, sondern entwickeln will, der kann sich sich und seine Zukunft leisten – der ist ein freier Mensch (vgl. Aristoteles 2003, I, 2, 1252b). Nietzsches freier Mensch ist in diesem Sinne ein Künstler, ein Mensch, der sich selbst erschafft und gestaltet.4 Die Methode zu dieser Selbsterschaffung oder Selbstverwirklichung ist das Versprechen und das Eintreten in das Gläubiger-Schuldner-Verhältnis. Denn: „[H]ier trat zuerst Person gegen Person, hier mass sich zuerst Person an Person. Man hat keinen noch so niedren Grad von Civilisation aufgefunden, in dem nicht schon Etwas von diesem Verhältnisse bemerkbar würde“ (GM, KSA 5, S. 306). In diesem ökonomischen Verhältnis werden Personen erst zu Personen gemacht. An dieser Stelle liegt die Vermutung nahe, dass wir keineswegs von irgendeinem, etwa natürlichen ersten Verhältnis sprechen, das Menschen miteinander eingehen, sondern von dem ersten Verhältnis, das Menschen zu individuellen Personen im rechtlichen Sinne macht. Eine rechtliche Gemeinschaft aus freien und souveränen Individuen zu bilden, ist indes generelles Ziel politischen und demokratischen Handelns. Nietzsche bringt die Macht und die Freiheit ins Spiel und damit einhergehend einen weiteren politischen Begriff – den Vertrag. Philosophische und
4 Vgl. Nietzsche: „Sie wissen nicht, was Schuld, was Verantwortlichkeit, was Rücksicht ist, diese geborenen Organisatoren; in ihnen waltet jener furchtbare Künstler-Egoismus, der wie Erz blickt und sich im ›Werke‹, wie die Mutter in ihrem Kinde, in alle Ewigkeit voraus gerechtfertigt weiss“ (GM, KSA 5, S. 325).
Das „Thier, das versprechen darf“ und die Gläubiger-Schuldner-Beziehung
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politische Vertragstheorien gibt es viele: von Hobbes, Locke, Rousseau über Weber bis zu Rawls – Nietzsche wird in diesem Zusammenhang selten genannt. Ein Grund hierfür dürfte sein, dass für Nietzsche der Gesellschaftsvertrag letztlich immer ein ökonomischer ist: der Vertrag zwischen Gläubiger und Schuldner. Alle weiteren Verträge haben in diesem ihre Substanz. Sie institutionalisieren stets ein Versprechen. Nietzsche vollbringt in der Genealogie der Moral so manches mit dem Topos der Sprache, aber für den Menschen existenziell evident wird sie nur auf ökonomische Weise. So wird das vertragliche Sich-vonsich-etwas-versprechen zur Ressource der Selbstverwirklichung und Wesensmerkmal individueller Autonomie. In der Folge kann auch das Verhältnis zwischen Staat und Bürger als ein Gläubiger-Schuldner-Kontrakt angesehen werden, denn in der Demokratie entsteht der Staat prinzipiell aus den Vereinbarungen der Bürger untereinander, die sie in ihnen staatlich institutionalisieren. Das heißt, der Staat ist gleichsam – folgen wir Nietzsche – das institutionalisierte Gedächtnis der Vereinbarung zwischen Bürger und Bürger als Gläubiger und Schuldner. Eine dem Bürger übergeordnete, an sich bestehende Instanz ist der Staat ebenso wenig wie das politische System der Demokratie. Generell scheint Nietzsche nun aber eher aristokratisch als demokratisch gesonnen zu sein: „‚Die Herren‘ sind abgethan; die Moral des gemeinen Mannes hat gesiegt“ (GM, KSA 5, S. 269). Allerdings verlangt die Demokratie von ihren Bürgern als Preis der Freiheit, die sie gewährt, die Befähigung zu souveränem Denken, Handeln und Entscheiden. Macht und Freiheit sind nichts, worauf man per se beliebig Anspruch erheben kann, sondern etwas, das man wollen können, sich versprechen und halten muss: Für die Souveränität, die der Demokrat beansprucht, muss er auch, mit allem was er hat, einstehen. Aus Nietzsches politischer Philosophie könnten wir also auch den immanenten Bedarf an aristokratischem Stolz in der bürgerlich-demokratischen Gesellschaft herauslesen, eben eine Botschaft wahrer bürgerlicher Souveränität und Freiheit. Inwiefern diese Botschaft Nietzsches rezeptionsgeschichtlich bereits Wirkung gezeigt hat oder aber gerade erst beginnt, ihre Wirkung zu entfalten – die Zukunft wird es weisen.
Bibliographie Aristoteles (2003): Politik. Übersetzt von Franz Ferdinand Schwarz. Stuttgart. Enkelmann, Wolf Dieter (2006): „Europa – nichts als ein Versprechen. Eine Nacherzählung“. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 60, Nr. 692, Dezember 2006, S. 1103–1112. Enkelmann, Wolf Dieter (2010): Beginnen wir mit dem Unmöglichen. Jacques Derrida, Ressourcen und der Ursprung der Ökonomie. Marburg.
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Gerhardt, Volker (2004): „‚Schuld‘, ‚schlechtes Gewissen‘ und Verwandtes (II 4–7)“. In: Otfried Höffe (Hrsg.): Klassiker Auslegen, Band 29, Friedrich Nietzsche. Zur Genealogie der Moral. Berlin, S. 81–95. Heinsohn, Gunnar/Steiger, Otto (2009): Eigentum, Zins und Geld. Ungelöste Rätsel der Wirtschaftswissenschaften. Marburg. Höffe, Otfried (2004): „‚Ein Thier heranzüchten, das versprechen darf‘ (II 1–3)“. In: Otfried Höffe (Hrsg.): Klassiker Auslegen, Band 29, Friedrich Nietzsche. Zur Genealogie der Moral. Berlin, S. 65–79. Luhmann, Niklas (1994): Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. Sloterdijk, Peter (2009): „Aufbruch der Leistungsträger“. In: Cicero. Magazin für politische Kultur, November 2009, S. 95–107.
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Nietzsches methodologischer Einfluss auf Max Weber und die Soziologie Nietzsches Kritik an der Erkenntnis Zu den Hauptthemen der Reflexion Nietzsches gehört eine tiefgehende und auf unterschiedlichen Ebenen durchgeführte Kritik der Erkenntnis. Bereits in der frühen zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung nimmt er das zeitgenössische Verständnis der Geschichte ins Visier, da dieses zur Herrschaft der Vergangenheit über die Gegenwart und zur Entwertung des Lebens führe. Nietzsches alternatives Modell der Geschichtsbetrachtung betont die Fähigkeit, die Linearität des geschichtlichen Verlaufs zu unterbrechen und sich dazu „denkend, überdenkend, vergleichend, trennend, zusammenschließend“ (UB II, KSA 1, S. 253) verhalten zu können. Um die Vergangenheit für das Leben tunlichst zu gebrauchen, ist der Standpunkt in das Jetzt zu verlegen: „Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene deuten“ (UB II, KSA 1, S. 293–294), wodurch sowohl auf die natürlichen Triebe der Menschen (das Unhistorische) als auch auf das sich reproduzierende Typische (das Überhistorische) Bezug genommen werden kann. Die Objektivität der Betrachtung wird somit nicht ganz verneint, aber mit der aus der Perspektive der Gegenwart gewonnenen Sinnverleihung lebendig verknüpft. Die Behauptung der Unmöglichkeit, an Neutralität, Interesselosigkeit und schlichter Objektivität festzuhalten, wird später von Nietzsche verallgemeinert und auf die ganze Wissenschaft ausgedehnt. Sie wird durch die Argumente unterstützt, dass kein wissenschaftliches Unternehmen ohne ein bestimmtes Interesse möglich sei und dass die vermeintliche Uninteressiertheit der Wissenschaft nur auf einem Missverständnis bzw. einer Verdrängung des eigentlichen Interesses basieren könne: „Es giebt, streng geurtheilt, gar keine ‚voraussetzungslose‘ Wissenschaft […]: eine Philosophie, ein ‚Glaube‘ muss immer erst da sein, damit aus ihm die Wissenschaft eine Richtung, einen Sinn, eine Grenze, eine Methode, ein Recht auf Dasein gewinnt“ (GM, KSA 5, S. 400), sei es auch nur das Vertrauen in die Wissenschaft selbst. Somit betont Nietzsche die Wichtigkeit eines leitenden Interesses, um methodologische und sinnbezogene Fragen aufstellen zu können. Dies wird umso erforderlicher, als die Welt sich als chaotisch, ungeordnet, mannigfaltig und unendlich erweist. Die Griechen hatten bereits die Notwendigkeit und zugleich die Fähigkeit gezeigt, „das Chaos zu organisiren“ (UB II,
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KSA 1, S. 333). Diese Forderung wird für Nietzsche an den Menschen grundsätzlich dadurch gestellt, dass er die Regel, das Gesetz darstellt, während die Natur durch Regellosigkeit gekennzeichnet ist. Hinzu kommt, dass durch die Vielfalt der Kulturen, Werte und Wissensformen ein Spektrum von unendlichen Standpunkten und Deutungen zugleich ermöglicht und gewonnen wird. Wo ursprünglich der Mensch durch die Magie und die Religion an die Möglichkeit glaubte, dem Leben und der Natur ein Gesetz auflegen zu können, und auf die Wissenschaft diese Überzeugung übertragen hatte, werden neue Grenzen festgestellt. Durch die Erkenntnis entdeckt der Mensch allmählich, dass es in der Welt keinen vorgegebenen Sinn gibt. Er situiert sich in der Spannung zwischen den zwei metaphorischen Gestalten, die im Zarathustra durch den Büßer des Geistes einerseits und den Gewissenhaften des Geistes andererseits veranschaulicht werden: Der erstere hat die Welt um sich allmählich entzaubert und seinen Mangel an Sinn sowie die Schwäche und die Grenzen des Menschen darin entdeckt; der letztere orientiert sein Interesse und Wissen an spezifischen, limitierten Fachkenntnissen, die durch Redlichkeit, methodologische Strenge, aber auch reduzierte Wahrnehmungsfähigkeit charakterisiert sind.
Die neuen methodologischen Ansätze Die unendliche, durch Chaos gekennzeichnete Mannigfaltigkeit der Welt lässt zahllose Interpretationen zu, die durch die Besonderheit des spezifischen Standpunktes gekennzeichnet sind. Dies lässt das Perspektivische aller Wertschätzungen durchblicken und als Grundbedingung des Lebens gelten, so dass die Pluralität und der Gegensatz der Werte, die ihrerseits mit unterschiedlichen bzw. rivalisierenden physiologischen Impulsen verknüpft werden, dadurch erklärt werden können. Gleichwohl werden von Nietzsche nicht alle Perspektiven gleichmäßig und relativistisch beurteilt; die Objektivität kann in einem revidierten und eingeschränkten Sinn wiederhergestellt werden, indem sich die Perspektive erweitert, artikuliert und kritisch mit sich selbst und anderen Perspektiven eingehend befasst: Es giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ‚Erkennen‘, und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ‚Begriff‘ dieser Sache, unsere ‚Objektivität‘ sein. (GM, KSA 5, S. 365)
Dies kann laut Nietzsche insbesondere durch eine vergleichende Analyse gewährleistet werden, die aus der ethnologischen, kulturellen, moralischen, religiösen und, man könnte hinzufügen, soziologischen Erkenntnissen der
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Epoche Gewinn schlägt.1 Das Verdienst der Epoche ist die Erweiterung der Perspektive, die durch die Entdeckung und Auseinandersetzung mit den Wertesystemen einen Überblick, was zuerst als Überhistorisches und Typisches bezeichnet worden war, gewinnen kann: Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können; was früher, bei der immer lokalisierten Herrschaft jeder Cultur, nicht möglich war, entsprechend der Gebundenheit aller künstlerischen Stilarten an Ort und Zeit. (MA, KSA 2, S. 44)
Nietzsche bedient sich darüber hinaus der vergleichenden Methode, wo er unterschiedliche moralisch-religiöse Phänomene in Verbindung setzt und mit übergreifenden Charakterisierungen zu verdeutlichen sucht. Obwohl er im Prinzip an der Behauptung festhält, dass Philosophen Gesetzgeber zu sein haben, die ein: „So soll es sein!“ (JGB, KSA 5, S. 145) aussprechen, geht seine erhöhte Aufmerksamkeit auf die Werte nichtsdestoweniger in die Richtung einer objektivierenden Untersuchung, die verschiedene Phänomene psychologisch sowie kulturell-soziologisch zum Vorschein bringt und sich um ihre Auslegung bemüht. Einerseits werden zwar Wertungen geäußert, die zwischen Herren- und Sklavenmoral, zwischen Lebensbejahung und Lebensverneinung eine Grenze ziehen und die Unterschiede positiv bzw. negativ konnotieren. Andererseits wird durch die Fokussierung auf die Werte eine Analyse in Gang gesetzt, die sich mit den pluralistischen Motivationen der Handlungen sowie ihrer unterschiedlichen Sinngebung eingehend befasst und sowohl verschiedene Arten (z. B. aktive, reaktive) als auch Sphären (Moral, Religion, Kunst, Politik, etc.) des menschlichen Handelns kennzeichnet. Die Methode der Genealogie gestattet Nietzsche dabei, seine Untersuchung auf von ihm als bedeutsam beurteilte Bereiche des Lebens zu richten, gleichwohl mit einem Abstand bewahrenden Vorgehen wichtigen sozialen Verhaltensweisen auf den Grund zu gehen und ihre unbewussten bzw. zu mechanisch gebildeten Ursache-Wirkung-Verkettungen in Frage zu stellen. Unter dieser Perspektive wird insbesondere die Funktion des Ressentiments und des Rachegefühls erörtert, die sich zugleich als reaktiv-verneinend und als Quelle für Werte und Handlungen herausstellt. Durch das genealogische Verfahren wird somit eine Methode entwickelt, die dem Handeln Sinn verleiht und sich als wertfrei, man könnte mit Max Weber rein wertbeziehend sagen, dazu verhält, wie zumindest vom Ansatz des veröffentlichten und damals als authentisch gehaltenen Werks Wille zur Macht entnommen werden konnte: „Gegen die ‚Sinnlosigkeit‘ einer-
1 Über Nietzsches Rezeption der Soziologie siehe: Graf zu Solms-Laubach 2007, S. 61 ff.
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seits, gegen die moralischen Werturteile andererseits: inwiefern alle Wissenschaft und Philosophie bisher unter moralischen Urteilen stand?“ (Nietzsche 1964, S. 8). Der Perspektivismus erweist sich somit im Bereich der Erkenntnis als vom individuellen Interesse eingeleitetes Verfahren, das doch gewichtige und bedeutsame, für die Allgemeinheit geltende Erkenntnisse erzielen kann. In dieser Hinsicht verfährt Nietzsche typisierend und seine Forschung ist hauptsächlich auf allgemein psychologisch-soziale Charakteristika angewiesen. Dennoch sind seine zugleich vergleichende Analyse und seine scharfsinnigen Beobachtungen auch in Bezug auf einzelne Phänomene und Sinnzusammenhänge hochinteressant. In Hinblick auf Max Weber sollen beispielsweise die Verbindung zwischen Moralität und Erfolg und die nur angedeutete Verknüpfung zwischen asketischem Ideal und Puritanismus, die auf Selbstbeherrschung hinauslief, eine richtungweisende Funktion ausgeübt haben: Inzwischen giebt die Religion auch einem Theile der Beherrschten Anleitung und Gelegenheit, sich auf einstmaliges Herrschen und Befehlen vorzubereiten, jenen langsam heraufkommenden Klassen und Ständen nämlich, in denen, durch glückliche Ehesitten, die Kraft und Lust des Willens, der Wille zur Selbstbeherrschung immer im Steigen ist: Asketismus und Puritanismus sind fast unentbehrliche Erziehungs- und Veredelungsmittel. (JGB, KSA 5, S. 80)
Durch die Einsetzung der genealogischen Methode und die Hervorhebung der Perspektive des Werdens insbesondere beim späten Nietzsche wird die Aufmerksamkeit zunehmend auf die Prozesse gelenkt, wofür die Zweck-Mittel-Analyse an Bedeutung gewinnt. Von Seiten der Erkenntnis als Prozess verstanden wird das Abstraktions- und Schematisierungsverfahren als ein Mittel ausgedeutet, sich der Dinge zu bemächtigen und sie berechenbar zu machen. Somit wird von Nietzsche ein Rationalisierungsprozess angedeutet, der den modernen Menschen charakterisiert und der Erkenntnis die zusätzliche Konnotation des Machtanspruchs verleiht, die aber einen Sinnverlust mitverantwortet und zur entzauberten Lage des letzten Menschen wesentlich beiträgt.2
Erkenntnis und Werte in Webers Methodologie Die erkenntniskritischen Argumente und die methodologischen Ansätze Nietzsches sind durch Webers reflektierende Grundlegung und die weitere Entwick2 Zur Entzauberung und Naturbeherrschung bei Nietzsche und zu ihrer begrifflichen Systematisierung bei Weber siehe: Fischer 1999, S. 32 ff., S. 91 ff.
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lung der Soziologie kritisch überlegt, empirisch untermauert, systematisiert und herausgearbeitet worden. Beiläufig gesagt, war Nietzsche im philosophisch-kulturellen Milieu der Epoche sehr präsent, wie aus dem Gebrauch bestimmter Ausdrücke (Jenseits von Gut und Böse, Wille zur Ohnmacht, Pathos der Distanz, etc.) zu entnehmen ist, der nicht nur bei Weber, sondern bei vielen zeitgenössischen Intellektuellen und sogar in der Umgangssprache aufzufinden ist und sich auch in den Briefen von und an Weber bestätigt.3 Was speziell Weber anbelangt, hatte er alle wichtigeren Werke Nietzsches gelesen, wie sich aus unterschiedlichen Passagen feststellen lässt, und der Genealogie der Moral eine Sonderstelle als „glänzendes Essay“ (Weber 1920, I, S. 240) zugeschrieben, was ihm im Übrigen nicht davon abhielt, kritische methodologische Ansätze aus der Fröhlichen Wissenschaft zu entnehmen und sie mit der Lage des letzten Menschen und seinen erwiesenen existentiellen Grenzen in Verbindung zu bringen. Infolge Nietzsches radikaler Kritik an der Wissenschaft und an der Erkenntnis sowie an ihrem Anspruch, objektiv und voraussetzungslos zu sein, räumt Weber ein, dass die Wissenschaft nicht imstande ist, ihren eigenen Wert wissenschaftlich zu begründen, und dass es keine voraussetzungslose Wissenschaft gibt. Mit einer klaren Anspielung auf Nietzsche, in der er auch stilistisch widerhallt, sagt Weber diesbezüglich: Wer […] glaubt heute noch, daß Erkenntnisse der Astronomie oder der Biologie oder der Physik oder Chemie uns etwas über den Sinn der Welt, ja auch nur etwas darüber lehren könnten: auf welchen Weg man einem solchen ‚Sinn‘ – wenn es ihn gibt – auf die Spur kommen könnte? Wenn irgend etwas, so sind sie geeignet, den Glauben daran: daß es so etwas wie einem solchen ‚Sinn‘ der Welt gebe, in der Wurzel absterben zu lassen! Und vollends: die Wissenschaft als Weg ‚zu Gott‘? Sie, die spezifisch gottfremde Macht? (Weber, 1984, Wissenschaft als Beruf, I, 17, S. 92)
Diese Unfähigkeit der Wissenschaft lässt sich für ihn darauf zurückführen, dass die Welt eine prinzipielle Unerschöpflichkeit der empirisch gegebenen Mannigfaltigkeit aufweist. Die Formulierung wird vom Neokantianer Heinrich Rickert übernommen, aber sie erinnert an den von Nietzsche geschilderten Chaos-Zustand des Kosmos, von dem Rickert selbst wahrscheinlich beeinflusst worden war. Außerdem setzt Weber so wie Nietzsche die menschliche Suche nach Regel, Gesetz und Sinn der Regellosigkeit der Natur entgegen, welche höchstens nur durch Wahrscheinlichkeit kalkulierbare Regelmäßigkeiten ergeben kann. Dies schließt prinzipiell für Weber die Möglichkeit aus, dass ein
3 Vgl. z. B. die Briefe vom 20. Aug. und 13 Sept. 1907, GA, II, 5, S. 365, S. 393 ff.
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universaler, wissenschaftlich begründbarer Sinn der Welt aufzufinden sei.4 Da sich die Soziologie für Weber als Wirklichkeitswissenschaft herausstellt, ist sie auch mit einer unendlichen Mannigfaltigkeit von empirischen Fakten und Phänomenen konfrontiert, die, um sinnvoll dargestellt werden zu können, eine Selektion und die Vorgabe einer bestimmten Richtung in der Forschung abverlangen. Das Verdienst Nietzsches ist diesbezüglich, mit Deutlichkeit darauf hingewiesen zu haben, dass die wissenschaftliche Forschung (und Erkenntnis) nur von einem Interesse geleitet werden kann, das die Richtung klarstellt sowie methodologisch konsequent verfolgt und dennoch durch die subjektiven Überzeugungen des Forschers bzw. seines Zeitalters geprägt und zugleich bedingt wird. Von Weber sowie später von Habermas wird Nietzsche die für die Wissenschaft bedeutsame Leistung zugeschrieben, Erkenntnis und Interesse miteinander unumgänglich verknüpft zu haben. Weber vermeidet den Nietzscheschen Ausdruck „Perspektivismus“, aber er spricht von subjektiven Deutungen, die Sinnzusammenhänge selektiv konstruieren und dadurch zum Verständnis der Phänomene und ihrer Verkettungen fruchtbringend verhelfen. Ein Unterschied zwischen Nietzsche und Weber ist nichtsdestoweniger in dieser Hinsicht eindeutig feststellbar und wird von Weber bewusst herausgearbeitet. Während Nietzsche das subjektive Interesse im Allgemeinen auf physiologische, lebenserhaltende und machtbehauptende Affekte bzw. Triebe zurückführt, ist Weber der Ansicht, dass vielmehr Ideale und Werte des Forschers ins Spiel gebracht werden. Darüber hinaus unterscheidet Weber deutlich zwischen leitendem Interesse und wertfreiem, objektivem, von seinsollenden, moralischen Werturteilen befreitem Vorgang der Forschung. Das leitende Interesse, wie gesagt, bestimmt die Richtung der Untersuchung sowie gewissermaßen die leitenden Begriffe, oder, genauer ausgedrückt, Idealtypen, welche durch die Steigerung eines bzw. einiger interessenbedingten Gesichtspunkte erstellt werden.5 Die Untersuchung verläuft dann aber für Weber „jenseits von Gut und Böse“, d. h. ohne Angaben zu machen, was wünschenswert wäre bzw. sein sollte. In dieser Hinsicht ist Nietzsche sowohl ein Anlass zur kritischen Auseinandersetzung als auch ein inspirierender Vorläufer. Die Suche nach einer lebensbejahenden Haltung, die Nietzsche mehrmals verkündet hatte, ist für Weber nicht wissenschaftlich vertretbar. Andererseits scheint ihm aber der methodologische Gebrauch der Genealogie eine produktive Form zu sein, mit den Werten wissenschaftlich
4 Über die von Weber dadurch festgestellten Grenzen der Wissenschaft siehe: Vas 2002, S. 113 ff. 5 Über die individuelle Charakterisierung von Idealtypen vgl. auch: Fleischmann 1964, S. 198 ff.
Nietzsches methodologischer Einfluss auf Max Weber und die Soziologie
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umzugehen und eine „Wertbeziehung“ aufzustellen, welche die Werte erläutert, enthüllt und bewusst macht. Im Sinne der Genealogie und ihrer Fähigkeit, Umkehrungen der Werte aufzuspüren, wird beispielsweise in der Religionssoziologie eine sehr artikulierte Analyse über die Verbindung zwischen Leiden und Religion durchgeführt, wodurch gezeigt wird, dass anfänglich das Leiden als Grund für soziale Entwertung galt, aber dann in bestimmten Fällen zum Anzeichen besonderer charismatischer Züge und einer außerordentlichen Gabe mutierte (Weber 1920, I, S. 24 ff.). Im Unterschied zu Nietzsche aber plädiert Weber für eine methodologisch unverzichtbare Trennung zwischen Werturteil und Erfahrungswissen. Da es sich bezüglich der Soziologie um eine Wissenschaft handelt, die mit dem menschlichen Handeln, seinen Motivationen und seinen Konsequenzen zu tun hat, ist die Beziehung zu Werten und Idealen und ihre Feststellung als Handlungsgründe eine bedeutsame oder sogar unentbehrliche Komponente des soziologisch-wissenschaftlichen Verfahrens, die nur durch eine unbeteiligte Forschung des Wissenschaftler zu ermitteln ist. Die Wertbeziehung bedeutet nichtsdestoweniger (und wiederum im Sinne Nietzsches) eine Relativierung des Rationalitätsbegriffes sowie des wissenschaftlichen Inhalts. Was unter der Perspektive eines bestimmten Wertes oder Ideals als rational erscheint, kann innerhalb eines unterschiedlichen Wertesystems als irrational erscheinen. Gleicherweise, was für eine Wissenschaft oder einen bestimmten wissenschaftlichen Standpunkt bedeutsam ist, kann für andere Perspektiven und Sachverhalte irrelevant sein. Die Pluralisierung der Werte beinhaltet zugleich eine Pluralität von Rationalitätsmodellen und deren Verständnis.
Die Berücksichtigung des Individuellen in der Soziologie Durch diese pluralisierte und differenzierte Annahme von Gesichtspunkten, Werten und Erkenntnisobjekten setzt Weber die von Nietzsche hervorgehobene Tendenz fort, das Individuelle in den Vordergrund der Erkenntnis zu rücken. Nietzsche hatte auf die Wichtigkeit hingewiesen, dass es für den Fortschritt der Kultur, der Gesellschaft und der Erkenntnis entartete Individuen nötig sind, die etwas Neues versuchen (MA, KSA 2, S. 187 ff.). Weber übernimmt diese subjektive Potenzierung des Wissens von Seiten des Individuums und erweitert sie im Übrigen auch auf den Bereich des Erkenntnisobjektes. Somit gibt es für ihn auch auf dem Gebiet der Soziologie nicht allgemeine, sich überall gleich reproduzierende Phänomene, sondern hauptsächlich spezifische einzigartige Konstellationen, die höchstens gewisse Ähnlichkeiten oder gemeinsame Cha-
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rakteristika aufweisen, und dennoch in ihrer Eigenart grundsätzlich zu verstehen und zu verdeutlichen sind: Ausgangspunkt des sozialwissenschaftlichen Interesses ist nun zweifellos die wirkliche, also individuelle Gestaltung des uns umgebenden sozialen Kulturlebens in seinem universellen, aber deshalb natürlich nicht minder individuell gestalteten, Zusammenhange und in seinem Gewordensein aus anderen selbstverständlich wiederum individuell gearteten, sozialen Kulturzuständen heraus. (Weber, 1968, S. 172–173)
In dieser Hinsicht soll sogar die konzeptuelle Typisierung dazu beitragen, dass individuelle Idealtypen wie z. B. das Christentum oder der protestantische Asketismus ausgearbeitet werden und die wesentlichen Charakteristika des einzelnen Phänomens in seiner Eigenart zum Vorschein bringen. Die vergleichende Analyse, die Weber bei Nietzsche ansatzweise finden konnte und die er bewusst erarbeitet und systematisiert, versucht, einem doppelten Anspruch gerecht zu werden. Auf der einen Seite handelt es sich um die Fähigkeit, ähnliche soziale und kulturelle Konstellationen in Verbindung zu setzen und dadurch artikulierte und allgemeine Formen der Übersicht zu gewinnen. Auf der anderen Seite wird aber eben durch den Vergleich die Eigenart und Einzigkeit der Phänomene grundsätzlich berücksichtigt, da vergleichbare und zu vergleichende sozial-kulturelle Konstellationen per Definition ihre Identität aufrechterhalten und nicht auf vereinzelte Erscheinungen eines und desselben Gehaltes reduziert werden können. Unter dieser Perspektive kann auch Webers Stellungnahme zur Geschichte verstanden werden,6 die sowohl eine subtile Auseinandersetzung mit den Thesen Nietzsches beinhaltet, als auch sich für eine Legitimierung von geschichtlichen Betrachtungen innerhalb der Soziologie argumentativ einsetzt. Mit Nietzsche übereinstimmend denkt Weber an eine Einbeziehung der Geschichte in die Soziologie, die dem aktuellen Interesse entspricht und von ihm geleitet wird. In dieser Hinsicht handelt es sich um eine historische Betrachtung, die für das Leben sowie die kulturelle und soziale Wirklichkeit eine Bedeutung hat. Andererseits ist aber für ihn die Eigenart eines geschichtlichen Phänomens genau zu untersuchen, so dass seine spezifische Bedeutung in der Vergangenheit und für die Vergangenheit zugleich hervorzuheben ist und seine individuelle Signifikanz ausführlich zur Geltung kommt. So unbedingt es richtig ist, daß jede ‚Geschichte‘ vom Standpunkt der Wertinteressen der Gegenwart geschrieben wird, und daß also jede Gegenwart neue Fragen an das historische Material stellt oder doch stellen kann, weil eben ihr durch Wertideen geleitetes Interesse wechselt, so sicher ist, daß dieses Interesse auch schlechthin ‚vergangene‘ Kulturbestand-
6 Vgl. diesbezüglich: Owen 1994, S. 88, S. 94.
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teile, d. h. solche, auf welche ein Kulturbestandteil der Gegenwart im kausalen Regressus nicht zurückgeführt werden kann, ‚wertet‘ und zu historischen ‚Individuen‘ macht. (Weber, 1968, S. 259–260)
Das Interesse am Individuellen in der Geschichte ist dann der Ansatz dafür, dass nicht nur die aktuelle Bedeutung, sondern auch sein einmaliges Vorkommen in seiner Eigentümlichkeit zum Objekt der Erkenntnis wird. Dies ist aber kein rückwärtsgewandtes Interesse, und Weber vertritt die Meinung, dass geschichtliche Analysen in die Soziologie zu integrieren seien, da sie das Sound-nicht-anders-Gewordensein einer sozial-kulturellen Konstellation erklären und wichtige Kenntnisse für eine vergleichende Analyse ermöglichen.
Eigenart der Lebensführung und Rationalisierung Die Aufmerksamkeit auf das Individuelle in der Geschichte ist auch der Grund für eine interessante Stellungnahme Webers bezüglich der Nietzscheschen Kategorie des Ressentiments. Im Allgemeinen ist Weber der Ansicht, dass psychische Tatbestände für die Soziologie von Bedeutung seien, zumindest in dem Umfang, in dem sie das Handeln beeinflussen sowie sich umgekehrt als Konsequenz daraus darstellen lassen. Durch seine genealogische Methode hatte Nietzsche laut Weber das Verdienst, irrationale und uneingestandene Komponenten des Handelns (z. B. Leiden und Ressentiment) aufzudecken und zu erörtern, die sich als fähig erweisen, durchaus sinnhaftes, rationales und konsequent durchgeführtes soziales Handeln zu motivieren sowie zu bestimmen. Dies beweist unter anderem, dass affektiv-emotionelle Gefühlzustände auch imstande sind, logisch konsequente Verkettungen im sozialen Leben in Gang zu setzen. Was Weber dagegen daran kritisiert, ist, dass Kategorien wie Ressentiment zu verallgemeinernd verwendet werden. Das Ressentiment ist für Weber nur eine der möglichen Quellen für das religiöse Verhalten, das vielmehr mit einer differenzierten Stellungnahme zum Leiden nochmals im Sinne Nietzsches zu tun hat. Allerdings verbindet Weber damit auch ideelle Werte und Lebenshaltungen, und nicht nur ein reaktives oder rachebedingtes Handeln gegen die Lebensbejahung und -überfülle. Nicht wesentlich durch Ressentiment bestimmt scheint Weber z. B. der Asketismus zu sein, den Nietzsche richtigerweise auch mit dem Puritanismus in Verbindung gesetzt hatte. Die asketische Lebensführung ist für Weber sowie für Nietzsche eine der Hauptkomponenten, die das religiöse Handeln charakterisieren und die Gesellschaft sowie ihre sozial-ökonomische Entwicklung prägen. Dennoch sieht Weber darin eine ideelle Artikulierung und Reglementie-
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rung des Verhaltens, die sich nicht einfach auf die Verneinung des Lebens reduzieren lässt. Für Weber nämlich verknüpfen sich die asketischen Ideale des Protestantismus mit einer Art der Weltablehnung, die dennoch keine Weltflucht bedeutet, sich dagegen für eine aktive Umgestaltung der Lebensbedingungen einsetzt und sich als „Schätzung der Pflichterfüllung innerhalb der weltlichen Berufe“ (Weber, 1920, I, S. 69) und als Streben nach Selbstbeherrschung und aktivem Mitwirken in der Welt vollzieht. Damit verwandelt sich die Weltentwertung in eine Form der Weltbejahung durch den als Mission verstandenen, betätigten Beruf. Trotz der einmaligen Charakterzüge, die im Protestantismus erwiesen sind, gewinnt seine sich auf die Gesellschaft auswirkende Lebensführung für Weber an universeller Bedeutung. Nietzsche hatte auf die Wichtigkeit hingewiesen, eher genetische Prozesse als Begriffe oder Tatbestände der Analyse zu unterziehen, und hatte ansatzweise auf eine Mathematisierung und Abstrahierungsfähigkeit der Erkenntnis verwiesen, die sich als Sinnverlust sowie -entwertung erweist. Weber führt die Mathematisierung und Formalisierung der Welt mit der Systematisierung der Lebensführung und der Selbstbeherrschung des Protestantismus zusammen. Nietzsche hatte im Zarathustra metaphorisch von einem Zauberer gesprochen, der sich beim ständigen Vortäuschen gegenüber den anderen zuletzt selbst entzaubert und an die Illusionen nicht mehr glauben kann. Weber sieht wiederum im protestantischen Asketismus den Ursprung einer Entzauberung der Welt, die zuerst alle magischen Kräfte durch seine streng rationalistische Lebensführung zurückweist und letztlich durch eine Art Umkehrung die Religion überhaupt ins Irrationale drängt. Das Ergebnis ist für Weber die allgemeine menschliche Lage der entzauberten und den Genuss erstrebenden Welt, die er am Eindrucksvollsten in Nietzsches Schilderung des „letzten Menschen“ wiederfindet.7 „Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, wir müssen es sein“ (Weber, 1920, I, S. 203). Die Technisierung, Spezialisierung und Vermehrung der Erkenntnis erlaubt keine allgemeine Übersicht mehr und die Rationalisierung des Lebens schafft durch die Entwicklung einer eigentümlichen, ihr innewohnenden Logik neue Schranken und ein „stählernes Gehäuse“ für den Menschen. Die Frage stellt sich dann: Kann die Wissenschaft, die Erkenntnis etwas dazu sagen? Weber hält an der Trennung zwischen Sein und Sollen fest, trotz des Interesses der Soziologie an den gesellschaftlichen Konstellationen der Gegenwart und an ihrem So-und-nicht-anders-Gewordensein. Hinzu kommt die scharfsinnige Erkenntnis- und Wertekritik Nietzsches, die überzeugend für Weber bewiesen hat, dass Schönes, Wahres, oder Gutes nicht zueinander gehören und 7 Über die Umkehrung des Asketismus siehe auch: Owen 2000, S. 255 ff.
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sogar oft gegeneinander auftreten. Somit ergibt sich ein „Polytheismus“ (Weber, 1984, I, 15, S. 98) der Werte, der durch Gegensätze und einen „Kampf der Götter“ gekennzeichnet ist, worin nur der einzelne Mensch zu entscheiden hat, „welchem dieser Götter er dienen will“ (Weber, 1968, S. 604–605). Nichtsdestoweniger ist und bleibt es eine grundlegende Leistung der Wissenschaft, den Menschen Bewusstsein zu verschaffen. Die Wissenschaft kann den wollenden Menschen zu dem Bewußtsein verhelfen, daß alles Handeln, und natürlich auch, je nach den Umständen, das Nicht-Handeln, in seinen Konsequenzen eine Parteinahme zugunsten bestimmter Werte bedeutet, und damit – was heute so besonders gern verkannt wird – regelmäßig gegen andere. (Weber, 1968, S. 150)
Somit gewinnen die Wissenschaft und damit die Soziologie wieder an Bedeutung bezüglich der Gegenwart und der Gestaltung der Zukunft, trotz und sogar dank der methodologischen Voraussetzung, die Erkenntnis als wertfrei zu bewahren sowie empirische Fakten und Wertungen voneinander zu trennen.
Bibliographie 1. Siglenverzeichnis RS: Weber, Max (1920): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. 3 Bände. Tübingen. WL: Weber, Max (1968): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 2. Aufl. Tübingen. GA: Weber, Max (1984 ff.): Gesamtausgabe. Tübingen.
2. Literaturverzeichnis Fleischmann, Eugène (1964): „De Weber à Nietzsche“. In: Archives Européennes de Sociologie 5, S. 190–238. Habermas, Jürgen (1968): Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. M. Fischer, Karsten (1999): „Verwilderte Selbsterhaltung“. Zivilisationstheoretische Kulturkritik bei Nietzsche, Freud, Weber und Adorno. Berlin. Nietzsche, Friedrich (1964): Der Wille zur Macht. Stuttgart. Owen, David (1994): Maturity and Modernity. Nietzsche, Weber, Foucault and the ambivalence of reason. London, New York. Owen, David (2000): „Of Overgrown Children and Last Men. Nietzsche’s Critique and Max Weber’s Cultural Science“. In: Nietzsche-Studien 29, S. 252–266. Rickert, Heinrich (1904): Der Gegenstand der Erkenntnis. 2. Aufl. Tübingen. Solms-Laubach, Franz Graf zu (2007): Nietzsche and Early German and Austrian Sociology. Berlin, New York.
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Vas, Christian (2002): Kulturkritik und Wissenschaftsbild bei Friedrich Nietzsche & Max Weber. Ein Vergleich. Abschlussarbeit zur Erlangung des Magister Artium. Frankfurt a. M. Weber, Max (1920): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie (RS). 3 Bände. Tübingen. Weber, Max (1968): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (WL). 2. Aufl. Tübingen. Weber, Max (1984 ff.): Gesamtausgabe (GA). Tübingen.
Autorinnen und Autoren Francisco Arenas-Dolz: Studium der Philosophie, klassischen Philologie, Theologie (Valencia); Prom. 2007 (Universität Valencia, Universität Bologna); Prof. Ayudante Doctor für Philosophie (Universität Valencia); Forschungsthemen: Hermeneutik, Methoden der Praktischen Philosophie, Rhetorik; Herausgeber und Übersetzer. Christian Benne: Studium in Leipzig, Edinburgh, Berlin; Ass. Prof. für Germanistik/ Komparatistik (Süddänische Universität Odense); Mithrsg. der Zeitschrift Orbis Litterarum. International Review of Literary Studies (Oxford); Arbeitsschwerpunkte: Nietzsche, Wissenschaftsgeschichte, Verhältnis von Literatur und Philosophie, autobiographisches Schreiben, moderne Manuskriptkulturen. Marco Brusotti: Prof. für Geschichte der zeitgen. Philosophie (Università del Salento, Lecce, Italien); PD für Philosophie (TU Berlin); Studium der Philosophie (Genua), Prom. und Habil. (TU Berlin); stellv. Vorsitzender (NietzscheGesellschaft), Stiftungsrat (Nietzsche-Stiftung). Buddensieg, Tilmann: Studium der Kunstgeschichte, Klassischen und Frühchristlichen Archäologie und Byzantinistik (Heidelberg, Hamburg, Köln, Bonn, München und Paris); Prom. 1956, Habil. 1965 (Köln, Berlin); Prof. (Berlin und Bonn); Gastprof. in Harvard, Stanford, Columbia und Jerusalem; seit 1994 Honorarprof. in Berlin (HUB). Hildegard Cancik-Lindemaier: Dr. phil. Dr. theol. h.c., klassische Philologin; Studium der klassischen Philologie, Sprachwissenschaft, Theologie (Mainz, Tübingen, Paris Sorbonne); Forschungsschwerpunkte: Antike Kulturwissenschaft; Religionsgeschichte Roms und des frühen Christentums. Hubert Cancik: Dr. phil. Dr. phil. h.c., Prof. em. für klassische Philologie (Eberhard-Karls-Universität Tübingen); Studium der klassischen Philologie, Altorientalistik, Theologie (FU Berlin), Münster, Manchester, Tübingen; Forschungsschwerpunkte: Antike Kulturwissenschaft, Geschichte der antiken Religionen, Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte, Humanismusforschung. Dahlkvist, Tobias: Studium der Ideengeschichte, Philosophie, Literaturwissenschaft (Uppsala, Heidelberg, Pisa); 2007 Prom.; seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter (Universität Stockholm). Jakob Dellinger: : M.A., Studium der Philosophie (Universität Wien); Abschluss 2007: derzeit Prom. zu Nietzsches Sprach-, Wahrheits- und Erkenntniskritik;
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Autorinnen und Autoren
seit 2010 Mitarbeit am Nietzsche-Wörterbuch der Nietzsche Research Group Nijmegen. Carlo Gentili: Lehrstuhl für Ästhetik (Università di Bologna, Italien); Mitglied des wiss. Beirates der Nietzsche-Studien; zahlreiche Veröffentlichungen zur Ästhetik und Nietzsche. Jutta Georg-Lauer: Studium der Philosophie, Politik, Germanistik und des Klassischen Bühnentanzes. Prom. 1984; freie Publizistin und Dozentin; Referatsleiterin im Ministerbüro diverser Ministerien; Dramaturgin (Oper Frankfurt); Vorstandsmitglied der Nietzsche-Gesellschaft; Geschäftsführerin (FriedrichNietzsche-Stiftung). Klaus Goch: Gymnasium Corvinianum Northeim; Studium der Philosophie und Sozialpädagogik (Berlin und Heidelberg); Dipl.-Sozialpädagoge; Arbeit in der evangelischen Diakonie (Jugendhilfe); Forschungsbereiche: Nietzsche und Familie. Zoltán Gyenge: Prof. Dr.; Leiter des Instituts für Philosophie (Universität Szeged, Ungarn), Forschungsbereiche: Schelling, Kierkegaard, Schopenhauer, Nietzsche, Ästhetik; Übersetzungen: Schelling, Kierkegaard. Hansert, Andreas: Soziologe u. Historiker; Studium der Soziologie (Frankfurt a. M.); 1990 Prom.; freier Autor; Aktivitäten im Ausstellungswesen; Forschungsbereiche: Kulturgeschichte (Bürgertum, Adelforschung, Stadtgeschichte, Geschichte der Schopenhauer-Gesellschaft). Katia Hay: Studium der Philosophie und Literatur (Madrid, München, Paris, London); Prom. über Schelling und das Tragische (LMU München, Sorbonne Paris IV); derzeit Arbeit an einem Projekt zu Nietzsche. Angela Holzer: Prom. zum Thema Rehabilitationen Roms. Die römische Antike in der deutschen Kultur zwischen Winckelmann und Niebuhr (Princeton University, USA); Mithrsg.: Zur Genealogie des Zivilisationsprozesses: Friedrich Nietzsche und Norbert Elias (2010). Sebastian Hüsch: Maître de Conférences im Fachbereich Deutsch (Université de Pau et des Pays de l’Adour, Frankreich); Lehrbeauftragter (Universität Basel); Arbeitsschwerpunkte: Literatur und Philosophie des 19. u. 20. Jh’s. Lemm, Vanessa: 2002 PhD in Philosophy (New School for Social Research, USA); 1993 Master in Philosophy (King’s College, University of London); Prof. of Philosophy (University of New South Wales, Sydney, Australia); visiting prof. (Diego Postales University, Santiago de Chile).
Autorinnen und Autoren
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Loukidelis, Nikolaos: Studium der Philosophie, Pädagogik, Psychologie (Athen); Prom. (HU Berlin); Forschungsschwerpunkte: Nietzsche-Quellenforschung, systematische Nietzsche-Interpretation, philosophische und psychologische Anthropologie. Livry, Anatoly: Altphilologe, Romanist; russischer und französischer Schriftsteller; Lehrer an der Sorbonne (Paris IV); lehrt russische Literatur an der Universität Nizza. Mainberger, Sabine: Prof. für Vergleichende Literaturwissenschaft (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn); Forschungsprojekt zu Linienpraktiken und -diskursen. Müller-Buck, Renate: Studium der Germanistik, Geschichte, Anglistik (Tübingen, Berkeley); 1980 Prom. über Nietzsches Briefwechsel; Mitarbeit an der Colli-Montinari-Nietzsche-Edition; Lehraufträge (Tübingen und Stuttgart); Übersetzer- und publizistische Tätigkeit. Nicola Nicodemo: Studium der Philosophie (Alma Mater Studiorum, Bologna); 2007 (2. Staatsexamen: Lehramt an Gymnasien); seit 2007 Arbeit an der Diss. (Inst. für Philosophie, HU Berlin). Cathrin Nielsen: Studium der Philosophie und Älteren Germanistik (München, Berlin, Tübingen); Prom. 2002 über die Spätphilosophie Heideggers; freie Lektorin in Frankfurt a. M.; Mitarbeiterin am Mitteleuropäischen Institut für Philosophie (Středoevropský institut pro filosofii – SIF). Christian Niemeyer: Studium der Pädagogik (Prom. 1980, Habil. 1987) und Psychologie (Münster, FU Berlin); seit 1993 Prof. für Sozialpädagogik (TU Dresden), seit 2002 geschäftsführender Hrsg. der Zeitschrift für Sozialpädagogik. Renate Reschke: Studium der Kulturwissenschaft und Germanistik (HU Berlin); Prof. für die Geschichte des ästhetischen Denkens (HU Berlin, 1993–2009), Vorsitzende (Nietzsche-Gesellschaft, 1998–2002), stellv. Direktorin (NietzscheStiftung), Hrsg. der Nietzscheforschung (seit 1993). Sören Reuter: Studium der Philosophie, Neueren Deutschen Literatur und Politischen Wissenschaften (München); Prom. 2006, HU Berlin; Forschungsschwerpunkte: Nietzsche; Helmholtz; Philosophie und Naturwissenschaften im 19. Jh. Ruckenbauer, Hans-Walter: Ass.-Prof. (Inst. für Philosophie, Kath.-Theol. Fakultät, Karl-Franzens-Universität Graz); Koordinator (interfakultäres Masterstudium Angewandte Ethik); Arbeitsbereiche: Ideengeschichte des 19. Jh.s, der Philosophie, Kunst; Medizin- und Pflegeethik.
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Autorinnen und Autoren
Sabine Scharff: Studium der Philosophie, Literatur- und Kommunikationswissenschaften, Kunstgeschichte (München); seit 2010 wiss. Mitarbeiterin Inst. für Wirtschaftsgestaltung (IFW); derzeit Prom. über vertragstheoretische Konzepte in der Philosophie Nietzsches. Senigaglia, Cristiana: Studium der Philosophie und Prom. (Universität Triest); Post-Doc (Universität Padua); Forschungsstipendium und Lehrauftrag (Universität Triest, 2006–2009); Schwerpunkte: klassische deutsche Philosophie, Methodologie, Ethik, politische Philosophie. Carsten Schmieder: Prom. zu Martial, Juvenal und Pasolini; derzeit Habil. zur römischen Komödie; freiberufliche Tätigkeit als Lektor, Übersetzer und Lehrbeauftragter. Siemens, Herman W.: Ass. Prof. in Modern Philosophy (Leiden); since 1998 working on Nietzsche-Wörterbuch; he heads a research programme Between Deliberation and Agonism: Rethinking Conflict and its Relation to Law in Political Philosophy; President of the Friedrich Nietzsche Society since 2008; member of the Nietzsche Research Group (Universität Nijmegen). Solms-Laubach zu, Franz Graf: Studium der Economics, Politics and Public Policy (Goldsmiths’ College, London University), Bachelor of Arts; University of Sussex (Brighton), Master of Arts in Social and Political Thought; Prom. über Friedrich Nietzsches Einfluss auf die Soziologie; Parlamentskorrespondent (Hauptstadt-Büro der Bild-Zeitung). Andreas Urs Sommer: Studium der Philosophie, Kirchen- und Dogmengeschichte, Deutsche Literaturwissenschaft (Basel); 1998 Prom.; Habil. 2004 (Universität Greifswald); Wiss. Kommentator der Werke Nietzsches (Heidelberger Akademie der Wissenschaften); Direktor (Friedrich-Nietzsche-Stiftung). Yannick Souladié: Chargé de cours am Département de philosophie (Universität Toulouse le Mirail), Chercheur associé (Forschungsinstitut Erraphis) und Öffentlichkeitsarbeiter für Europhilosophie; Übersetzer der Nietzsche-Briefe ins Französische. Paolo Stellino: Studium der Philosophie in Bologna; 2010 Prom. (Universität Valencia); derzeit Forschungsaufenthalt an der McGill University (Montreal). László V. Szabó: PhD; Studium der Germanistik und Anglistik (Universität Veszprém, Ungarn); Dozent am dortigen Germanistischen Institut; 2005 Prom. (Budapest) über den Einfluss der Philosophie Friedrich Nietzsches auf Hermann Hesse.
Autorinnen und Autoren
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Jens Thiel: Studium der Neueren und Neuesten Geschichte und Kulturwissenschaft (HU Berlin, Universität Gent); Wiss. Mitarbeiter (HUB); Forschungsgebiete: Wissenschaftsgeschichte, politische Kulturgeschichte. Paul J. M. van Tongeren: Prof. für philosophische Ethik (Radboud Universiteit Nijmegen); a.o. Prof. für Ethik (Katholieke Universiteit Leuven); associate researcher (Universiteit Pretoria); Leiter der Nietzsche Research Group; Mitherausgeber (Nietzsche Wörterbuchs. Thorgeirsdottir, Sigridur: Studium der Philosophie in Boston und Berlin; Prom. (HU Berlin); Prof. für Philosophie (Universität Island); Forschungsgebiete: Philosophie Nietzsches; feministische Philosophie; Vorstandsvorsitzende (Gender Equality Studies and Training Programms); Vorstandsmitglied im EDDA Center of Excellence. Venturelli, Aldo: Fellow der Accademia dei Lincei (Rom); Ordinarius für Neue Deutsche Literatur (Universität Urbino); 2000–2007 Generalsekretär (DeutschItalienisches Zentrum Villa Vigoni); 2011 Leiter des Italienischen Kulturinstituts Berlin; Forschungsgebiete: Nietzsche-Forschung, Musil-Forschung, Klassische Moderne. Walser, Martin: Schriftsteller; Studium der Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie (Regensburg, Tübingen); Diss. über Franz Kafka (1961). Karin Wimmer: Dr. phil.; wiss. Mitarbeiterin (Inst. für Kunstgeschichte, LMU München); Studium der Kunstgeschichte (Wien, Siena); 2011 Prom.; Forschungsschwerpunkte: Surrealismus, Raumtheorien und Raumproblematik im 20. Jh. Alexey Zhavoronkov: Dr. des.; 200–2006 Studium der klassischen Philologie (Lomonossow-Universität Moskau); 2010 Prom.; Mitarbeit an der russischen Nietzsche-Gesamtausgabe; seit 2009 am Inst. für Philosophie (HU Berlin).
Personenregister (Mythologische Namen sind kursiv gesetzt.) Abeken (Geh. Rätin) 446 Abel, Günter 168 Adams, John 413 Adkins, Arthur 620–621 Adler, Victor 462 Adler, Sigmund 462 Agathon 351 Ahlers-Hestermann, Friedrich 227 Ahrens, Arthur 458 Aischylos (Aeschylus) 11, 350 Alain 70 Albert, Henri 142, 144 Alexander der Große 540 Alkidamas 143 Allesch, Gustav Johannes 328 Altenberg, Peter 450 Althusser, Louis 51–52 Álvarez, Ángel González 589 Anders, Anni 485 Andreas, Carl Friedrich 445 Andreas-Salomé, Lou 26–28, 32, 35, 38–39, 47, 50, 408, 443,445, 451, 455,468, 471 Andrejanoff von, Viktor 186 Angelus Silesius 605 Anscombe, Gertrud 85 Ansell-Pearson, Keith 393 Anselm von Canterbury 430, 605 Apollon 185–187, 189, 193–194, 200 Aquino, Thomas von 610 Arendt, Hannah 97–99, 107–108, 114–115, 404 Aristophanes 13, 350–351, 355 Aristoteles 80–81, 85–87, 91, 97, 146, 478– 479, 487, 540, 547–549, 620 Arnheim, Rudolf 263 Aróstegui, Antonio 589 Artau, Joacquín Carreras 589 Aschheim, Steven E. 501 Asklepius 260 Auerbach (Konsul) 443 Augustinus von Hippo 81, 429–430 Azorín 359–360
Baader, Andreas 201 Babich, Babette 169 Bacca, Juan David García 591–592 Bachelard, Gaston 51–63, 70–72, 74–77 Bachmann, Guido 190, 199 Baehr, Peter 517–518 Baeumler, Alfred 23–24, 30–32, 34, 36, 42– 44, 48, 482–483, 486, 573, 619 Baier, Horst 516 Barce, Ramón 593–594 Baroja, Pio 359 Barraclough, Geoffrey 370 Basilides 605 Bassermann, Ernst 245 Bassermann, Julie 245 Bataille, Georges 501, 592 Baudelaire, Charles 176 Bauer, Bruno 410, 434, 437 Baumgarten, Eduard 515–516 Bausch, Pina 303, 305, 310 Baxandall, Michael 269 Beauvoir de, Simone 97–101, 102–107, 110, 112 Beethoven, Ludwig van, 305, 314, 448 Begas-Parmentier, Luise 446–447, 454 Behrens, Peter 227–229, 231–233, 236–240, 242–249, 251 Behrens, Petra 233 Béjart, Maurice 308–309 Bellour, Raymond 52 Benham, Jeremy Benjamin, Walter 194–196, 206–207, 215, 481 Benn, Gottfried 188 Berg, Leo 185 Bergson, Henri 55, 65–67, 70, 75–77, 589 Bernard, Claude 64 Berthelot, Pierre 60 Bertram, Ernst 24, 28–32, 34, 36, 40–41, 44, 47, 497 Beuys, Joseph 281–285, 287–292 Bianquis, Geneviève 57, 61, 64, 142 Bing, Siegfried 249–252
Personenregister
Binswanger, Ludwig 59 Bismarck, Otto von 16, 410, 502 Blanchot, Maurice 333 Blei, Franz 315 Bloch, Ernst 190–195 Bloch, Peter André 420–421 Bodoni, Giambattista 201 Bode, Wilhelm 454 Bodenhausen 446 Böhme, Jakob 605 Bollnow, Otto Friedrich 119 Bölsche, Wilhelm 185, 445, 449, 461–2 Bonaparte, Napoléon 412, 418, 435, 441 Bondi, Seraphin 462 Botticelli, Sandro 235 Bourdieu, Pierre 204 Bourget, Paul 176, 273 Bourquin, Christophe 389 Bradley, William H. 223–224 Brahn, Max 142 Brandes, Georg 288, 348, 407–408, 411– 418, 420–425, 445, 525, 596 Brandes, Edvard 411 Braun, Heinrich 462 Brenner, Anastasios 55 Brentano, Franz 117 Bretschneider, Hans 256 Breysig, Kurt 229, 231–232, 234–235, 245247 Brinton, Crane 574–579, 581 Brobjer, Thomas 83, 86 Brod, Max 600 Bronnen, Albert 314 Brown, Wendy 393 Brücke, Ernst 531 Bruckner, Anton 16 Brunetière, Ferdinand 176 Bruno, Giordano 185, 206–207, 293, 434, 437, 445, 448, 461, 519, 528 Bruns, Karin 447 Buonarroti, Michelangelo 196, 422 Burdach, Carl Friedrich 479 Burckhardt, Jacob 379–380, 383 Butler, Judith 97–99, 102, 110–114, 393 Cairns, Douglas 621 Canguilhem, Georges 51–56, 61–78 Carlyle, Thomas 362
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Caravaggio, Michelangelo 196 Carrieri, Raffaele 267 Cäsar, Gaius Julius 178, 421–422, 439 Casey, John 87 Cassirer, Ernst 190, 315, 325 Castiella, Fernando Maria 586 Celan, Paul 134 Cervantes, Miguel de 365 Charlemont, Alice (verh. Donath) 322 de Chirico, Giorgio 263–277 Chopin, Frederik 236 Churchill, Winston 435 Cioran, Emil M. 129–140 Clairmont, Walter 446 Clairmont-von Pichler, Ottilie 446 Clark, Maudemarie 160, 164–165 Clemens von Alexandria 605 Colli, Giorgio 484 Comte, Auguste 67, 75, 94, 429–430, 520, 523 Comte-Sponville, André 87 Conat, James 90 Concorcet, Marie Jean Antoine Nicolas de Caritat 429 Conde, Francisco Javier 586 Connolly, William 393–396, 398–404 Conrad, Michael Georg 185, 604 Conway, Daniel 393 Conradi, Hermann 185 Conzelmann, Otto 255, 257, 261 Copleston, Frederick 579–580 Corino, Carl 316 Croce, Benedetto 380, 385 Dahl, Per 414 Dalí, Salvador 268 Darwin, Charles 351, 609–610 Dauthendey, Max 450 Dehmel, Ida 245, 450 Dehmel, Richard 184, 245, 445, 450 Delbrück, Hans 445 Deleuze, Gilles 52, 141, 143–149, 152, 197– 198, 214, 309, 369–371, 376–377, 393, 581, 592 Delius, Frederic 295 Denis, Maurice 221 Derrida, Jacques 59, 99–100, 109, 146, 151– 153, 155–157, 401, 406, 518
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Personenregister
Descartes, René 30, 66–70, 83, 325 Deussen, Paul 445, 451, 454–455, 565–566, 568–569, 571 Díaz, Elíaz 592–593 Dietz, Herma 322 Dietzsch, Steffen 463 Dilthey, Wilhelm 330, 386, 588–589 Dionysos 125, 183–197, 199–207, 246, 301, 351, 357, 448, 457, 608 Diprose, Rosalyn 105 Dix, Otto 253–258, 260–261 Dix, Ursus 260–261 Dodds, Eric Robertson 620 Donath, Alice 328 Donath, Gustav 322 Dostojevskij (Dostojewski), Fjodor 16–17, 176, 348, 360 Dresdner, Alfred 449 Drosdek, Andreas 537–539 Du Moulin Eckart, Richard Graf 506 Duchamp, Marcel 241 Duhem, Pierre 55 Dühring, Eugen 83 Dulong 446 Dumm, Thomas 393 Duncan, Isadora 303, 305–308, 310 Dürenmatt, Friedrich 601 Durkheim, Emile 515 Ebbinghaus, Hermann 445 Eckmann, Otto 248 Eckstein, Walter 575–577, 580–581 Eichberg, Ralf XV Einstein, Albert 53–55, 58 Elektra 298–301 Emerson, Ralph Waldo 90 Endell, August 211, 215, 229, 248 Engels, Friedrich 601 Enkelmann, Wolf Dieter 546–547 Ensslin, Gudrun 201 Entralgo, Pedro Laín 586–587 Epikur 92 Eris 399 Ernst Ludwig, hessischer Großherzog 227 Ernst, Max 268 Ernst, Paul 184, Eucken, Rudolf 118 Euklid 268
Falckenberg, Richard 26 Fechner, Gustav Theodor 316, 605 Ferenczi, Sandor 59 Ferrari Zumbini, Massimo 437 Feuerbach, Ludwig 434 Fichant, Michel 62–63, 71 Fichte, Johann Gottlieb 430 Fidus (Hugo Reinhold Karl Johann Höppener) 186, 448 Fink, Eugen 35–37, 42–43, 45–46, 49 Fischer, Fritjof 258 Fischer, Jens Malte 254 Flaischlen, Caesar 454 Fontane, Theodor 449 Foot, Philippa 85 Förster Bernhard 502 Förster-Nietzsche, Elisabeth 24, 142, 148– 149, 232, 241, 446, 451–454, 462, 468, 470–472, 480–482--486, 501–502, 510–511, 526, 528, 612 Foucault, Michel 51–53, 59, 62–63, 72–74, 76–77, 148, 157, 197–198, 393, 396, 400, 518, 561, 592 France, Anatole 348 Franco, Francisco 585–587, 591, 594 Franziskus 600 Frauenstädt, Julius 566–567 Freud, Sigmund 51–52, 59, 294, 462, 472, 5311 Freyer, Hans 524 Friedrich der Große 459 Frigessi, Delia 179–180 Fritsch, Theodor 501–503, 507 Fruteau de Laclos, Frédéric 55 Fryes, Natorp 381 Fuchs, Carl 43 Fuller, Loïe 210, 223 Gagarin, Michael 621 Galilei, Galileo 55 Gallwitz, Hans 604, 611, 613 Galton, Francis 173, 176–177 Gaos, José 591–592 Garborg, Arne 445 Garborg, Hulda 445 Garrigues, Antonio 586 Gatens, Moira 393 Gavinet, Angel 359
Personenregister
Gehlen, Arnold 117, 119–127 Gemes, Ken 160, 169–171 Genette, Gérard 23 George, Stefan 419, 448, 450, 463, 478, 483, 492 Gerhardt, Volker 405–406 Gerlach, Hans-Martin V, XIV Gersdorff, Carl von 451, 455, 503 Geyer, Emil 447 Gildemeister, Julius 445 Gilligan, Carol 101 Gizycki von, Georg 83 Goebbels, Joseph Paul 456, 489–499 Gobineau de, Arthur Graf 421 Goethe, Johann Wolfgang von 28, 267, 412, 422, 448, 459–460, 478, 603–604 Gogol, Nikolai 360 Goncourt, Jules de 176 Göring, Hugo 445 Gothlin, Eva Lundgren 103 Grisebach, Eduard 566 Gross, Fritz 574–575 Grube, Wilhelm 445 Gruber, Max 462 Grünewald, Matthias 255 Guattari, Félix 147 Guille, Juan Planella 589 Gumplowicz, Ludwig 523 Gumprecht, Hans Ulrich 147 Gundolf, Friedrich 463 Günther, Kurt 256–257, 277 Güßfeldt, Paul 445 Gutmann, James 581 Guyau, Jean-Marie 66, 77, 83 Gwinner, Arthur von 569–570 Gwinner, Wilhelm von 569–570 Habermas, Jürgen 395, 398, 556, 571 Haeckel, Ernst 448, 461 Halbe, Max 445 Halbfaß, Wilhelm 445 Haller, Ludwig 445 Hamsun, Knut 348 Händel, Georg Friedrich 447 Hansson-Marholm, Ola 445 Harden, Maximilian 453 Hart, Heinrich 445, 447–449 Hart, Julius 445, 447
571
Hartmann, Eduard von 605 Hatab, Lawrence 393–394, 396–400 Hauptmann, Gerhart 445 Häußling, Roger 521–522, 524 Hayek, Friedrich August 536 Heftrich, Eckhard 161 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 36, 55, 65, 146, 315, 330, 380, 383, 390, 411, 427– 430, 432–434, 436, 441–442 Heidegger, Martin 23, 33, 37, 42, 46, 49–50, 77, 94, 117, 140, 168, 171, 197, 274, 278, 315, 317, 326, 328, 330–331, 427– 428, 432, 442, 588, 599–600 Heine, Heinrich 267, 411–413, 418, 423, 432, 435 Heinemann, Max 445 Heinsohn, Gunnar 546 Hell, Cornelius 136 Heller, Agnes 602 Heller, Erich 600 Heller, Hermann 586 Hellerich, Gert 521 Helmholtz, Hermann von 222, 316 Heraklit 36, 43, 46, 337, 343, 370–371, 377, 615, 618, 621, 623 Herodot 597 Herrmann, Emanuel 315, 326, 330–351, 534, 541 Hesiod 619 Hesse, Hermann 89 Heyden-Rynsch, Verena von 138 Heydrich, Reinhard 457 Hezel, Kurt 461 Hieber, Jochen 131 Hildebrandt, Kurt 463 Hitler, Adolf 65, 255, 423, 480, 502–503, 506, 575, 586–587 Hillebrand, Bruno 519 Hobbes, Thomas 401, 549 Høffding, Harald 415–416, 422 Hoffmann, Josef 233 Hofmann, Ludwig von 450 Hofmannsthal, Hugo von 301, 323, 450 Hölderlin, Friedrich 16, 173, 175, 267, 439, 597 Hölscher, Uvo 622–623 Holz, Arno 445, 450 Homer 148, 397, 404, 617–621
572
Personenregister
Honig, Bonnie 401 Hoppe, Willy 482 Horaz (Q. Horatius Flaccus) 141 Horkheimer, Max 571 Hornbostel, Erich Maria von 321 Hübscher, Arthur 568–571 Hugo, Victor 348 Humboldt, Wilhelm von 413 Hume, David 83, 316 Husserl, Edmund 117, 314–321, 323, 325– 330 Huszar, Georg de 577 Hutcheson, Francis 82–83 Ibañez, Vicente Blasco 359 Ibsen, Henrik 360, 612 Illner, Maybritt 7–8 Ímaz, Eugenio 591 Irigaray, Luce 97–99, 108–111, 114–115 Jacob, François 77, 442, 472–473, 510–511 Jacobowski, L. 444 Jacobsen, Jens Peter 600 Janaway, Christopher 160 Jankélevitch, Vladimir 65–66, 341 Jaspers, Karl 23, 34–35, 37, 43–45, 49, 588, 596–599 Jefferson, Thomas 413 Jesus Christus 141, 200, 255, 258–259, 363– 364, 366, 430, 439, 496, 575, 604, 607–608, 611 Joachim von Fiore 430 Johnson, Dirk 159 Judas Iscariot 496, 499 Jung, Carl Gustav 59 Jünger, Ernst 314, Jünger, Georg 314 Kafka, Franz 4, 16, 600 Kamehameha II. 85 Kant, Immanuel 29–30, 57, 83, 119, 304, 310, 324, 387, 389, 436, 537, 566,567 Karpokrates 605 Karsch, Florian 255 Kassak, Ludwig (Lajos) 257 Kassner, Rudolf 601 Kateb, George 393
Kaufmann, Walter 86, 94, 163, 434, 448, 472, 501–502, 510, 573, 574, 577, 583 Kayssler, Friedrich 606 Kerr, Alfred 317 Kessler, Harry Graf 251, 446, 454, 473 Kierkegaard, Søren 7, 303, 310, 588, 591, 594–602 Kirchhoff, Adolf 615 Kiss, Endre 603 Klages, Ludwig 131 Kleiber, Max 271 Klinger, Max 253 Klossowski, Pierre 593 Knudsen, Jørgen 412 Kobler, Franz 506 Koegel, Friedrich 446–447, 449, 451–453, 457, 461, 463–465, 467, 470–472 Koegel, Emily 470 Koegel, Rudolf 449, 451–453, 457, 461, 463– 465, 470–472 Koenen, Tilly 449 Koepplin, Dieter 287 Kofman, Sarah 99 Köhler, Wolfgang 313–314, 321–322 König, Christian 361 Kolumbus, Christopher 32, 607 Komjáthy, Jenö 603 Kommerell, Max 478 Köselitz, Heinrich (Peter Gast) 142, 291, 348, 446, 452–453, 461, 473 Koßler, Matthias 571 Kotze, von (Kgl. Ceremonienmeister) 454 Koyré, Alexandre 55, 72 Kristeva, Julia 107–108 Kriton 260 Krummel, Richard Frank XIII, 425, 448, 531 Kubin, Alfred 129 Laban, Ferdinand 445 Lacan, Jacques 51, 274 Lachmann, Hedwig 450, 447–448 Landauer, Gustav 447, 450 Laotse 131 Lautréamont (Isodore Lucien Ducasse) 58 Lecky, William Edward Hartpole 83 Lehmann, Joseph 453 Lehmann, Rudolf 212, 445 Lehrke, Wilfried 463
Personenregister
Leibniz, Gottfried Wilhelm von 387, 436 Leistikow, Walter 445, 450 Leiter, Brian 144, 159–161, 163–167, 169–170 Leonardo da Vinci 55, 292, 457 Leopardi, Giacomo 174–175 Lessing, Gotthold Ephraim 430 Lessing, Theodor 23–24, 29–31, 40–44, 4849 Leutheußer, Richard 456 Levy, Oscar 407, 420–425, 579 Lewin, Kurt 321 Lichtblau, Klaus 515, 522 Lichtenberger, Henri 360–362 Lichtwark, Alfred 234, 245 Liebmann, Otto 83 Liliencron, Detlev 450 Lipiner, Siegfried 293, 461–462 Lipps, Theodor 215, 221 Lloyd-Jones, Hugh 621–622 Löb, Rudolf 456 Locke, John 549 Löffler, Fritz 258 Lombroso, Cesare 173–177, 179–180 London, Jack 348 Long, Anthony A. 621 Long, Huly 370 Losurdo, Domenico 501, 510, 517, 528 Löwith, Karl 23, 31–35, 37, 41, 43–45, 48, 50, 389–390, 427–437, 441–442, 478, 483, 587 Lukács, Georg 576, 595, 600–603 Luther, Martin 29, 81, 431 Lüttke, Georg 456–457 Lutz, Günther 456–458, 463 Lynar 446 Machiavelli, Nicolò 82, 197 Mach, Ernst 314, 316, 319 Machado, Antonio 359, 594 MacIntyre, Alasdier 85 Mackay, John Henry 445 Maetzu de, Ramiro 359 Magnus, Bernd 91, 169 Mahler, Gustav 233, 293, 295, 462 Mainländer, Philipp 175–176 Mallarmé, Stéphane 145 Man, Paul de 518 Man Ray (Emmanuel Radnitzky) 241
573
Manero, Manuel Mindán 589 Mann, Heinrich 184–185 Mann, Thomas 314, 492, 565 Mannheim, Karl 381 Maragall, Joan 360 Máras, Julián 361 Maravall, José Antonio 586 Marc Aurel 131, 133 Marcel, Gabriel 133–134 Marcion 131 Marcovaldi, Matha Heimann 322 Marcuse, Ludwig 575 Marias, Julian 587–588 Marr, Wilhelm 506 Marx, Karl 192, 196–197, 374, 380, 385, 429–430, 515–516, 601 Masson, André 156 Massumi, Brian 393 Matisse, Henri 221 Maudsley, Henry 173 May, Karl 16 Mayreder, Rosa 519, 524–528 McEachran, Frank 576 Mechthild von Magdeburg 131 Meier-Graefe, Julius 232, 249–251 Meinhof, Ulrike 201 Meinong, Alexius 317, 322 Meister Eckhart 605 Mendelssohn, Arnold 449 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 449 Messel, A. 450 Mette, Hans Joachim 479, 482 Meyer, Richard Moritz 27–30, 32, 39–41, 47, 446, 463 Meyerson, Émile 55 Michelet, Jules 380 Midas 598 Mill, John Stuart 104, 398, 411, 413, 417, 425 Mirelli, Raffaele 50 Mithras-Helios 353 Mittmann, Thomas 501–503, 506–507 Möbius, Paul Julius 173 Mockrauer, Franz 568–569 Moeller-Bruck, Arthur 450 Molotov, Vjačeslav M. 431 Mombert, Alfred 450 Montaigne, Michel de 131 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat 178
574
Personenregister
Montinari, Mazzino 486, 619 Moore, Gregory 177 Mora, José Ferrater 59 Moreau de Tours, Jacques-Joseph 173–174 Morgan, George Allen 576, 578, 580–582 Morgenstern, Christian 606 Morris, Charles 577 Mouffe, Chantal 393–396, 399, 401 Mühsam, Erich 447 Müller, Enrico 159, 618, 621 Müller-Lauter, Wolfgang 168–169, 400, 534– 535, 540–541, 581 Mundhenke, Fritz 455 Mushacke, Hermann 451 Musil, Martha 328 Musil, Robert 183–184, 207, 313–331, 333– 345 Mussolini, Benito 371, 457, 496 Nabokov, Vladimir 347–351, 353–358 Naumann, Constantin Georg 142 Naumann, Friedrich 242 Negri, Antonio 190, 196–198 Neumann-Hofer, Otto 449, 453 Newton, Isaac 284 Nícol, Eduardo 591 Nikolaus, Emil 295 Noddings, Nel 88 Nonnos 199, 201 Nordau, Max 174, 176 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 6, 431, 597 O’Brien, Mike 517–518 Obrist, Hermann 248 Ödipus 365 Odysseus 615, 617 Oehler, Max 480, 482, 573 Oehler, Oscar 461 Oehler, Richard 452, 457, 480, 482, Oelzelt-Newin, Anton 83 Oesterreich, Traugott Konstantin 327 Olbrich, Joseph Maria 227, 239 Olde, Hans 288, 454 Oliver, Kelly 99, 115 Oppel, Frances Nesbitt 112 Orff, Carl 295 Orlie, Melissa 393
Ortega y Gasset, José 586, 588, 590 Osborn, Max 245 Ottmann, Henning 407 Otto, Walter F. 478–479 Otzen, Hermann 248 Overbeck, Franz 453, 461–462, 472–473, 503, 509 Owen, David 393–394, 396–399 Paneth, Josef 462, 531 Paneth, Sofie 462, 531 Pannwitz, Rudolf 483–484 Pareto, Vilfredo 537 Parmenides 71 Papineau, David 159 Pascal, Blaise 8, 70, 81 Pascual, Andrés Sánchez 590, 593–594 Pasolini, Pier Paolo 369–376 Patton, Paul 393 Paulus 363, 575 Paulsen, Adam 422 Peppers, Stephen C. 381 Pérez, Quintin 587–588 Perikles 618 Pernerstorfer, Engelbert 462 Philon 605 Picasso, Pablo 263 Pichler, Axel 164 Pieper, Hans-Joachim 336 Pieper, Josef 87 Piper, Reinhard 566 Plaga, Anneliere 267 Platel, Alain 309 Plath, Silvia 16 Plato(n) 13, 27, 48, 70–71, 80–81, 87, 91, 171, 347, 350–352,, 387, 463, 566, 617, 620 Podach, Erich 483 Pötsch, Hans 456 Precht, Ernst 456, 459 Proklos 434 Prometheus 11, 462, 504 Przybyszewsky, Stanislaw 236, 450 Puschmann, Theodor 173, 177 Pütz, Peter 159, Puy, Francisco 590 Pyrrhon von Elis 131
Personenregister
Ranieri, Antonio 176 Ranke von, Leopold 380 Rauschning, Hermann 431 Ravel, Maurice 308 Rawls, John 395, 398, 536, 549 Reckermann, Alfons 573–574 Rée, Paul 408, 443, 445, 451, 455, 505–506 Rehder, Helmut 578–581 Reinhardt, Karl 404, 478, 622 Rey, Abel 59 Reznicek, Emil Nikolaus von 295 Ribas, Pedro 361–362 Ribbentrop von, Joachim 486 Richet, Charles 173, 176 Richter, Raoul 38, 461, 463 Rickert, Heinrich 65–66, 555 Ridruejo, Dionisio 586 Riedel, Manfred 85 Riehl, Alois 24, 26–27, 32, 37–38, 44–47 Riezler, Kurt 577 Rilke, Rainer Maria 185, 326, 328, 600–601 Rodin, Auguste 250, 308 Rohde, Erwin 281, 461–462 Rohe, Mies van de 239 Röhm, Ernst 480 Rolph, William Henry 83 Romundt, Heinrich 445 Rosenberg, Alfred 456–457, 478, 482 Rosenthal, Albi 421 Rosenthal, Julia 420–421, 424 Rosenthal, Maud 421 Röttgers, Kurt 535, 539–540 Rousseau, Jean-Jacques 173, 372, 398, 549, 575 Roux, Wilhelm 534, 540–542 Rukser, Udo 361, 585 Runciman, Walter Garrison 517–518, 528 Runze, Georg 445 Sade, Donatien Alphonse François, Marquis de 372 Saint-Simon de, Claude-Henri de Rouvroy 429 Sartre, Jean-Paul 151, 153–157 Savater, Fernando 136, 138, 592, 594 Schäfer, Wilhelm 451–452 Scheerbart, Paul 450 Scheffler, Karl 232, 234
575
Scheiner, Eitelfritz 506 Scheler, Max 83–85, 95, 125, 533 Schelling, Friedrich, Wilhelm, Joseph 310, 430, 596–599, 602 Schellwien, Robert 604 Schestow, Leo 131 Schiller, Friedrich von 459 Schlaf, Johannes 185, 300, 450 Schlechta, Karl 475, 477–487 Schlegel, Friedrich 344 Schloßberger, Matthias 120 Schmeitzner, Ernst 509 Schmid, Daniel 369–370 Schmidt, Leopold 206, 620 Schmidt, Paul Ferdinand 205, 253, 255 Schmitt, Carl 315, 393, 401, 586, 603–614 Schmitt, Eugen Heinrich (ung.: Schmitt, Jenö Henrik) 603–614 Schnitzler, Arthur 600 Schönberg, Arnold 295 Schopenhauer, Arthur 5, 10, 13, 53, 94, 118, 122, 127, 170, 173, 175–177, 180, 264, 267, 272, 274, 277–279, 294, 436, 462, 527, 565–571, 597 Schreker, Franz 293–295 Schubert, Franz 267 Schultz, Carl Baron von (Livland) 445 Schumacher, Fritz 227 Schütz, Wilhelm von 491 Seurat, Georges 213, 220 Seydlitz, Carl von 173, 454 Seyffahrt, Richard 257 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper 82 Shakespeare, William 131 Shapiro, Michael 393 Shelley, Percy Bysshe 175 Sigwart, Christoph 316 Silen 303, 598 Simmel, Georg 131, 515, 533, 589 Simon, Gerd 17 Simon, Josef 168 Skarbina, Franz 450 Slavik, Matyas 603 Sloterdijk, Peter 547 Smend, Rudolf 586 Smith, Adam 537 Smitmans, Adolf 255
576
Personenregister
Sobejano, Gonzalo 365, 367, 585, 587, 590– 591 Sokrates 10–11, 107, 260–261, 352, 518, 541, 590, 616, 623 Soldati, Kristina 307 Sombart, Werner 533 Sontag, Susan 130 Sophokles 350 Sorg, Richard 517 Sorgner, Stefan Lorenz 523 Souladié, Yannick 369–370, 372, 374, 376 Souvirón, José María 591 Spencer, Herbert 83, 520, 523 Spengler, Oswald 313, 492, 515 Spiegel, Else 604 Spinoza, Baruch 197, 439, 448, 462 Spir, African 119 Spottorno, José Ortega 590 Stauth, Georg 524 Stegmaier, Werner 168 Steiger, Otto 546 Steilberg, Alan Hays 573 Stein, Heinrich von 445, 454 Steiner, Rudolf 423, 443–444, 453, 604, 612 Stirner, Max 445 Stoecker, Adolf 503 Stoeving, Curt 454 Strauss, Richard 233, 293–301 Streicher, Julius 507 Strindberg, August 173, 177, 445 Stumpf, Carl 314, 317, 322, 325–329 Sulla 141 Suso, Heinrich 605 Swanton, Christine 87 Swedenborg, Emanuel 605 Szlávik, Mátyás 603 Taine, Hyppolite 64, 178, 414 Tanner, Michael 85 Tauler, Johannes 605 Teichmüller, Gustav 118–119 Ténicheff, Anna Dmitievna 348 Theognis 619 Thielemann, Ulrich 532 Thomas von Aquin 430, 610 Thukydides 429, 618 Tocqueville, Alexis de 380, 383, 398 Tolstoi, Leo 360, 604, 612
Tönnies, Ferdinand 445, 519, 524–529 Tovar, Antonio 586 Treitschke, Heinrich von 437, 439, 506–507 Trendelenburg, Friedrich Adolf 117–119, 127 Trías, Eugenio 593–594 Türck, Hermann 604 Turgenjew, Iwan 360 Turner, Bryan S. 524 Ulrich, Peter 532, 535–537 Unamuno de, Miguel 359, 361–367 Urbano, González 367 Vaihinger, Hans 568 Valdecasas, Alfonso García 586 Valentinus 605 Valera, Juan 360 Valéry, Paul 214 Vauvenargues, Luc de Clapiers 8 van de Velde, Henry 210–211, 215–222, 225, 248–252, 328, 450, 461 Verlaine, Paul 360 Vivas, Eliseo 581–583 Voegelin, Eric 498,578–579, 583 Voltaire (François-Marie Arouet) 16, 422 Wagner, Cosima 505, 508 Wagner, Otto 227 Wagner, Richard 173, 176–178, 233, 267, 276, 293, 305, 348, 416, 418, 437, 447–448, 461–462, 502–511, 527–528, 619 Wagner, Winifred 276, 503 Waibl, Elmar 532–533, 535 Walser, Martin XIV-XV Walter, Bruno 215, 293 Warburg, Aby 214, 424 Weber, Alfred 522 Weber, Max 76, 516, 527, 549, 551, 553–562, 586, 602 Weibl, Elmar 532–533, 535 Weingartner 446 Welz, Frank 523 Werner, Alfred 443 Wertheimer, Max 321 Wetter, Hans 164, 171 Wetzel, Maria 258 White, Hayden 379–386, 389
Personenregister
Widemann, Paul Heinrich 119 Widmann, Josef Victor 185, 281, 348 Wiemer, Wolfgang 254 Wilamowitz-Möllendorff, Ulrich von 622 Wilbrandt, Adolf 185 Wilcox, John 169 Wilde, Oscar 298, 348, 350 Wildenbruch, 446 Wille, Bruno 285, 445 Williams, Bernard 393, 621 Witasek, Stephan 317 Wittgenstein, Ludwig 11, 340, 601 Wittig, Monique 111 Wolfthorn, Julia 245 Wolters, Friedrich 463 Wolzogen, Ernst von 447, 449 Worringer, Wilhelm 214 Wundt, Wilhelm 212, 218 Würzbach, Friedrich 142–144,443 Xago (Rolf Schröder) 183 Xenophon 209 Young-Bruehl, Elizabeth 107–108
577
Zambrano, María 591 Zander, Jürgen 527 Zanker, Graham 621 Zarathustra 3, 6, 31, 59, 107, 167, 184, 186, 200, 216–217, 220, 227, 229, 231–233, 235, 237, 239–243, 245, 247, 249, 251, 255–257, 266, 276, 287–288, 293–299, 301, 303–304, 330, 347, 349, 352, 360, 365, 390, 416, 418, 426, 439, 447, 449–450, 454, 457, 465, 471, 473, 490, 495–498, 509, 525, 541, 552, 560, 577, 588, 600, 611, 614 Zeus 11, 193, 354–356, 621, 624 Zimmern, Helen 419, 505 Zint, Hans 568, 570 Zittel, Claus 389–390 Zola, Emile 348 Zubiri, Xavier 590 Zweig, Arnold 462 Zweig, Stefan 154 Zweite, Armin 291, 454, 459, 475, 497, 543, 577, 583, 604, 612