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German Pages 636 Year 1998
JOSEF AULEHNER
Polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge
Schriften zum Recht des Informationsverkehrs und der Informationstechnik Herausgegeben von Prof. Dr. Horst Ehmann und Prof. Dr. Rainer Pitschas
Band 16
Polizeiliche Gefahrenund Informationsvorsorge Grundlagen, Rechts- und Vollzugsstrukturen, dargestellt auch im Hinblick auf die deutsche Beteiligung an einem Europäischen Polizeiamt (EUROPOL)
Von
Dr. Josef Aulehner
DUßcker & Humblot · Berliß
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Aulehner, Josef: Polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge : Grundlagen, Rechts- und Vollzugsstrukturen, dargestellt auch im Hinblick auf die deutsche Beteiligung an einem Europäischen Polizeiamt (EUROPOL) / von Josef Aulehner. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriften zum Recht des Informationsverkehrs und der Informationstechnik ; Bd. 16) Zug1.: Speyer, Univ., Diss., 1996 ISBN 3-428-09058-6
Alle Rechte vorbehalten
© 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0940-1172 ISBN 3-428-09058-6 Gedruckt auf aIterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 §
Vorwort
Angesichts des heraufziehenden 21. Jahrhunderts benötigt die Polizei neben einer zeitgemäßen technischen und personellen Ausstattung ein "neues" Polizeirecht mit dem "Konzept" als moderner Handlungsform. Die Europäisierung der Polizei, in der sich einerseits die fortschreitende europäische Integration und andererseits die Zunahme grenzüberschreitender Kriminalität widerspiegeln, neue Kriminalitätsformen, wie namentlich die organisierte Kriminalität und die Computerkriminalität, die drohende Gefahr einer nur noch selektiven Strafverfolgung, die Verlagerung polizeilicher Aufgaben auf Kommunen und Private, die besonderen Anforderungen an die Polizei in den fünf neuen Ländern sowie durch die Öffnung Osteuropas, aber auch und andererseits die Fortentwicklung der polizeilichen Techniken, insbesondere der polizeilichen Informationssysteme sind durch ein an den Bedürfnissen des 19. Jahrhunderts orientiertes Polizeirecht nicht mehr zu bewältigen. Dabei beschränkt sich dieser Paradigmenwechsel nicht nur auf das Polizeirecht; ein entsprechender Befund ergibt sich vielmehr auch für das Atom-, Immissionsschutz-, Sozial- und Wirtschaftsrecht. Obwohl sich in allen diesen und weiteren Referenzgebieten das Bedürfnis nach einer über die Gefahrenabwehr hinausreichenden Gefahrenvorsorge zeigt, sind deren rechtliche Modalitäten nach wie vor ungeklärt und umstritten. Das Recht hat den Paradigmenwechsel von der traditionellen, singulären, retrospektiven Gefahrenabwehr hin zu einer modernen, umfassenden, prospektiven Risikosteuerung, die neben der Gefahrenabwehr auch eine Gefahren- und Informationsvorsorge verlangt, noch nicht bzw. nur unzureichend vollzogen. Der rechtliche Rahmen gerade der Informationsvorsorge als einem Teil der Gefahrenvorsorge ist von dieser Rechtsunsicherheit besonders betroffen, zumal einerseits das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und ihm folgend weite Teile der Literatur dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung einen (zu) hohen Rang einräumen, während andererseits die Europäisierung der Polizei die Schaffung europäischer Informationssammlungen und damit verbunden eine Angleichung des Datenschutzniveaus immer dringlicher macht. Der hierin sich ausdrückende Konflikt zwischen individueller Selbstbestimmung einerseits und staatlicher, namentlich polizeilicher Informationsvorsorge andererseits ist aus allein rechtlicher Perspektive nicht lösbar, sondern bedarf einer multidisziplinären, insbesondere soziologischen und philosophischen Grundlegung. Diese ergibt zum einen, daß der Mensch allein durch Kommunikation Zugang zur Wirklichkeit hat und die anzustrebende Identität von menschlicher Wahrnehmung und Wirklichkeit einen freien Informationsfluß unabdingbar macht. Jede Be-
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Vorwort
einträchtigung des Infonnationsflusses verfälscht die an sich schon fehlerhafte menschliche Wahrnehmung der Wirklichkeit zusätzlich. Zum anderen ist Infonnation als solche wertneutral ; Infonnation beeinträchtigt nur, wenn sie verfalscht, ihres Kontextes entkleidet oder negativ bewertet wird. Eine Beeinträchtigung resultiert mithin nie aus der Infonnation selbst, sondern nur aus ihrer Manipulation oder Bewertung. Ebenso wie die Wirklichkeit für den Menschen nur kommunikativ wahrnehmbar ist, werden auch die beiden durch das Spannungsverhältnis von individueller Selbstbestimmung und staatlicher Infonnationsvorsorge thematisierten Gegenpole - Person einerseits und Sicherheit andererseits - kommunikativ konstituiert. Der einzelne ist nur im Hinblick auf die Gemeinschaft darstellbar; zwischen dem einzelnen und der Gemeinschaft besteht ein Wechselverhältnis. Dabei ist es irrelevant, ob sich der einzelne der Gemeinschaft zugehÖrig fühlt oder sich von ihr distanzieren will. Der einzelne kann die Gemeinschaft ebenso wenig ignorieren wie umgekehrt die Gemeinschaft den einzelnen. Selbstdarstellung unter Leugnung einer Gemeinschaft ist Selbstbetrug. Der einzelne hat dementsprechend kein - vielfach propagiertes - Anrecht auf manipulierte Selbstdarstellung, sondern nur einen - häufig ignorierten - Anspruch auf manipulations freie Fremddarstellung. Sicherheit als Gegenpol der Person ist ebensowenig wie diese eine objektive Kategorie, sondern eine komplexe Vorstellung, die Zukunft vergegenwärtigt. Im Hinblick auf die ihr eigene Reflexivität ist die ebenfalls kommunikativ konstituierte Sicherheit ein Steuerungsmedium der modemen Gesellschaft. Diese multidisziplinären Erkenntnisse werden in einer Infonnationskultur zusammengefaßt, gespeichert und überliefert, die ihrerseits als Basis für eine Infonnationsordnung fungiert. Kultur, Gesellschaft und Staat sind dabei weder starre Größen noch stehen sie in einem festen Verhältnis zueinander. Der gesellschaftliche Wandel reicht von der Agrarüber die Industrie- zur Infonnations- und Risikogesellschaft. Der Staat hat sich vom Leviathan zum kommunikativen, kooperativen, konsensualen, präzeptoralen und autoritativen - insgesamt also: flexiblen - Staat entwickelt. Dem korrespondiert der Wandel des Rechts: Während sich die Steuerungsfonnen von der repressiven über die zentrale oder Selbststeuerung zur Kontext-Steuerung wandelten, entwickelte sich das fonnale Recht über das materiale hin zum reflexiven Recht. Diese multidisziplinären Aspekte einer umfassenden Risikosteuerung bedürfen der verfassungsrechtlichen Rezeption. Dabei erweist sich das Recht auf infonnationelle Sicherheit ebenso wie das "Grundrecht auf Sicherheit" als verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff. Art. 2 I GG gewährleistet Freiheit sowohl fonnal durch die allgemeine Handlungsfreiheit als auch materiell-inhaltlich durch den Persönlichkeitsschutz. Die allgemeine Handlungsfreiheit thematisiert dabei primär die grundrechtliche Abwehrdimension, während das Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung und das Allgemeine Persönlichkeitsrecht vorrangig die soziale und Leistungsdimension des Art. 2 I GG betreffen. Das herkömmliche Verständnis des Rechts auf infonnationelle Selbstbestimmung weist dabei zahlreiche Defizite auf: Es entscheidet weder zwischen der personalen und sozialen Identität des Individuums einerseits und dessen Sozialbezogenheit insgesamt andererseits noch klärt
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es das Verhältnis von Schutzbereich, Eingriff und verfassungsrechtlicher Rechtfertigung beim Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Die Bestimmungsfaktoren des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und ihr Verhältnis zueinander bleiben ebenso offen wie die aus dem Recht auf informationelle Selbstbe·stimmung resultierenden materiellen Kriterien für eine Informationsordnung. Die überkommene Auffassung sieht die Person als Schutzgut des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und versteht Persönlichkeit als durch Interaktion konstitutiert. Die vorliegende Untersuchung stellt demgegenüber das kommunikative Selbstkonzept in das Zentrum der Betrachtung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, versteht die manipulationsfreie Kommunikation als dessen Schutzgut und qualifiziert das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriff. Als verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff transferiert das Recht auf informationelle Selbstbestimmung die multidisziplinären Vorgaben in die Rechtswissenschaften. Die Ausdifferenzierung verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriffe erweist sich dabei als Korrelat und Ergänzung der Entfaltung der Grundrechte namentlich als objektiver Wertordnung. Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe tragen darüber hinaus zur Synthese von gesellschaftlicher Pluralität und staatlicher Einheit bei und sind Ausdruck des flexiblen Staates. Das "Grundrecht auf Sicherheit" als Gegenpol des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ist ebensosehr bzw. ebensowenig ein Grundrecht. wie dieses. "Grundrecht auf Sicherheit" und Recht auf informationelle Selbstbestimmung sind beide verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe und strukturgleich. Das "Grundrecht auf Sicherheit" fußt verfassungsrechtlich auf den grundrechtlichen Schutzpflichten, dem staatlichen Gewaltmonopol, der Staatsaufgabe Sicherheit sowie dem Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip. Hierdurch wird der Staat zur Vorsorge als umfassender Risikosteuerung durch Erwartungen und als Reaktion auf eine kollektive Zurechnung möglicher Schäden verpflichtet. Vorsorge setzt dabei reflexives Recht und besondere Handlungsformen voraus. Zwischen den Gegenpolen - Recht auf informationelle Selbstbestimmung einerseits und "Grundrecht auf Sicherheit" andererseits - ist ein Ausgleich zu schaffen, der zugleich die Grundlage einer neuen Informationsordnung bildet. Dabei bedürfen sowohl das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als auch das "Grundrecht auf Sicherheit" der Relativierung. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird namentlich durch Verfassungserwartungen und im Hinblick auf seine Bedeutung weniger als Abwehrrecht, sondern als objektive, soziale, die Gesellschaft gestaltende Position relativiert. Das "Grundrecht auf Sicherheit" seinerseits ist an einschränkende Kriterien geknüpft und bedarf der Umsetzung durch Gesetz. Als Stufen des "Grundrechts auf Sicherheit" ergeben sich damit die klassische Gefahrenabwehr einerseits und deren Erweiterung durch die nunmehr geforderte umfassende Risikosteuerung und Gefahrenvorsorge andererseits. Für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung stellt sich die Informationsfreiheit als Grundsatz, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung hingegen als Ausnahme dar. Die inhaltlichen Grundstrukturen einer Informationskultur und Informationsordnung orientieren sich darüber hinaus
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Vorwort
an der Freiwilligkeit einer Datenangabe, der allgemeinen Zugänglichkeit von Informationen, der Wahrheit von Informationen, der Sensibilität von Daten sowie deren Zweckbindung und Erforderlichkeit. Zentrale Bauformen des Ausgleichs bietet die Differenzierung zwischen den Informationsschritten der Informationserhebung, -verarbeitung und -nutzung einerseits sowie der Informationsverwertung andererseits. Gerade die Informationsverwertung bietet sich dabei als Ausgleichsinstrumentarium an; Beweisverwertungsverbote dienen schließlich zur Absicherung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Die nach dem "Volkszählungs"-Urteil novellierten Polizeigesetze tragen dem nicht bzw. nur unzureichend Rechnung. Sie wiederholen vielfach nur den Inhalt dieses Judikats, verweisen auf die allgemeinen polizeilichen Handlungsgrundsätze und stellen formale Anforderungen. Materielle Regelungen, welche Informationen erhoben, gesammelt und verwertet werden sollen, fehlen hingegen zumeist. Das nach dem "Volkszählungs"-Urteil neu geschaffene, polizeiliche Informationsrecht unterscheidet zwischen Datenerhebung und Datenverarbeitung. Die Regelungen sowohl der Informationserhebung als auch der Informationsverarbeitung enthalten jeweils Einleitungsvorschriften, bereichsspezifische GeneralklauseIn und Spezialermächtigungen. Die Einleitungsvorschriften wiederholen dabei nur die Leitsätze des "Volkszählungs"-Urteils und weisen auf die allgemeinen polizeirechtlichen Handlungsgrundsätze hin. Sie sind damit zugleich als weitgehendst überflüssig zu erkennen, zumal die im "Volkszählungs"-Urteil durch das BVerfG ausdifferenzierten Anforderungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung von Literatur und Rechtsprechung unabhängig hiervon auf die polizeiliche Datenverarbeitung angewendet wurden und werden. Ihre mithin nur deklaratorische Aufnahme in die Polizeigesetze hat dabei noch nicht einmal klarstellend gewirkt, sondern neuen Streit ausgelöst. Die nach dem "Volkszählungs"-Urteil geschaffenen, bereichsspezifischen GeneralklauseIn und Spezialermächtigungen für die Datenerhebung und -verarbeitung binden die polizeiliche Informationserhebung und -verarbeitung an die Erfüllung einer polizeilichen Aufgabe und verlangen das Vorliegen einer Gefahr. Darüber hinaus muß die polizeiliche Informationstätigkeit erforderlich sein. Auch der Regelungsgehalt dieser Vorschriften reicht damit kaum über eine Wiederholung der Grundsätze des "Volkszählungs"-Urteils und einen Hinweis auf die allgemeinen Handlungsgrundsätze hinaus. Sowohl die GeneralklauseIn als auch die Spezialermächtigungen regeln dabei zum einen vielfach nur, welche Ermittlungsmaßnahmen zulässig sind, nicht aber welche Informationen erhoben und verarbeitet werden dürfen bzw. sollen. Darüber hinaus und zum anderen werden nur formale Anforderungen, nicht aber materielle Kriterien vorgegeben. So erfüllen die in den Polizeigesetzen enthaltenen Behördenleiter- und Richtervorbehalte zwar das grundgesetzliche Gebot einer Grundrechtssicherung durch Verfahrensregelungen. Sie geben aber nicht an, unter welchen Voraussetzungen der Behärdenleiter bzw. Richter das jeweilige polizeiliche Informationshandeln anordnen soll. Die eigenthch entscheidende Frage, ob und ggf. welche Informationen erhoben und verarbeitet werden, wird nach wie vor nicht in den Polizeigesetzen, sondern in Verwal-
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tungsvorschriften geregelt. In diesem Zusammenhang kommt den gesetzlichen Regelungen, die Errichtungsanordnungen für Dateien vorschreiben, zentrale und durch Rechtsprechung und Literatur bislang noch nicht in ihrem vollen Umfang erkannte Bedeutung zu. Erst diese, von den Polizeigesetzen ausdrücklich vorgesehenen, durch die Innenminister bzw. Innensenatoren zu erlassenden Datei-Errichtungsanordnungen geben an, welche personenbezogenen Daten über welche Personen zu welchem Zweck gespeichert, unter welchen Umständen sie weitergegeben werden dürfen und welche Prüfungsfristen zu beachten sind. Die Errichtungsanordnungen bestimmen dabei unmittelbar zwar nur den Umgang mit bereits vorhandenen Daten. Die Regelung der Datenverarbeitung wirkt aber auf die Datenerhebung insofern zurück, als prinzipiell nur die Daten erhoben werden, die auch verarbeitet werden dürfen. Das nach dem "Volkszählungs"-Urteil novellierte Polizeiinformationsrecht schafft mithin in Form der bereichsspezifischen Generalklausein und Spezialermächtigungen zwar eine gesetzliche Grundlage für die polizeiliche Datenerhebung und -verarbeitung. Die Festlegung, welche Informationen der Staat bzw. die Polizei erheben, wielange sie gespeichert und wozu sie verwendet werden dürfen, trifft nach wie vor die Exekutive namentlich durch den Erlaß der Datei-Errichtungsanordnungen. Die Verwaltung, nicht der Gesetzgeber, bestimmt damit die näheren Konturen und Reichweite der staatlichen Informationskompetenz. Die inhalts armen, nur formalen Vorgaben der Polizeigesetze für die Datei-Errichtungsanordnungen zwingen die Exekutive, zunächst selbst den Maßstab für die Beurteilung der polizeilichen Datenerhebung und -verarbeitung zu konkretisieren. Sie hat hierbei tatSächliche, allgemeinwissenschaftliche, verfassungs- und einfachrechtliche Zusammenhänge sowie Zweckmäßigkeitserwägungen in Rechnung zu stellen. Diese ebenso umfangreichen wie vielgestaltigen Vorgaben eröffnen eine "Bandbreite" zulässiger Handlungsalternativen für die polizeiliche Datenerhebung und -verarbeitung. Dieser "Korridor", der den zulässigen Inhalt der Errichtungsanordnungen beschreibt, bedarf der Fixierung durch eine neue Handlungsform. Das allgemeine Verwaltungsrecht hat die neuen Anforderungen der Informationsgesellschaft bislang ebensowenig rezipiert wie das besondere Verwaltungsrecht, für welches das Polizeirecht hier als Referenzgebiet dient. Dieser Befund gilt sowohl für die inhaltlichen Regelungen als auch für die zur Verfügung gestellten Handlungsformen. In inhaltlicher Hinsicht fehlen dem allgemeinen wie besonderen Verwaltungsrecht ausreichende Regeln für den Umgang mit Unsicherheit. Das Verwaltungsrecht ist in seiner herkömmlichen Form durch eine detaillierte gesetzliche konditionale oder finale - Programmierung geprägt. Diese an der Eingriffs- und Leistungsverwaltung orientierte Fremdsteuerung der Verwaltung wird in der Informationsgesellschaft durch deren reflexive Selbststeuerung ergänzt bzw. abgelöst. Hierbei entsteht die "Infrastrukturverwaltung" als neuer Verwaltungstyp. Der neue Verwaltungstyp der "Infrastrukturverwaltung" erfordert neue exekutive Handlungsformen. Verwaltungsakt und öffentlich-rechtlicher Vertrag als klassische Handlungsformen bedürfen der Ergänzung durch das "Konzept". Das "Konzept" als neue Handlungsform des Verwaltungsrechts, dem auch die polizeirechtlichen
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Datei-Errichtungsanordnungen zuzuordnen sind, vermag das verfassungsrechtliche Spannungsverhältnis zwischen dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung einerseits und der durch den Staat zu gewährleistenden Sicherheit andererseits aufzunehmen. Allgemeinwissenschaftliche - namentlich philosophische und soziologische Vorgaben verdichten sich somit zu einer Informationskultur, die ihrerseits insbesondere über verfassungsrechtliche Schlüsse1begriffe verfassungsrechtlich rezipiert wird. Das Verwaltungsrecht reagiert hierauf durch die Ausprägung der "Infrastrukturverwaltung" als neuem Verwaltungstyp und dem "Konzept" als neuer Handlungsform. Diese Modifikationen des allgemeinen Verwaltungsrechts müssen auch in das besondere Verwaltungsrecht Eingang finden. Für das hier exemplarisch betrachtete Polizeiinformationsrecht können die in den Polizeigesetzen bereits vorgesehenen Datei-Errichtungsanordnungen diese Rolle übernehmen. Das Manuskript der Untersuchung hat 1995 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer als Dissertation vorgelegen. Für die Drucklegung wurde die Arbeit teilweise aktualisiert. Meinen akademischen Lehrern und Vorbildern, Herrn Univ.-Prof. Dr. Rainer Pitschas, der die Dissertation betreute, und Herrn Prof. Dr. Rupert Scholz, an dessen Lehrstuhl sie entstand, danke ich sehr herzlich für die mir zuteil gewordene stetige Förderung. Ohne sie hätte nicht nur die vorliegende Arbeit nicht entstehen können, es wären mir vielmehr und darüber hinaus viele Einsichten verschlossen geblieben. Herzlichen Dank für meine Betreuung schulde ich auch Herrn Univ.Prof. Dr. Dr. Detlef Merten, der nicht nur das Zweitgutachten erstellt, sondern mich weit darüber hinaus durch Einladungen zu seinen wissenschaftlichen Veranstaltungen stets sehr gefördert hat. Danken darf ich darüber hinaus allen früheren und gegenwärtigen Kollegen am Institut für Politik und öffentliches Recht der Universität München und an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, insbesondere Herrn Dr. Christian Koch und Herrn Dr. Stefan Langer. Außer meiner Mutter, Frau Anna Aulehner, und meiner Freundin, Frau Edith Paintner, der mein herzlicher Dank für ihre stets aktive Mithilfe und ihren drängenden Beistand gilt, seien aus dem persönlichen Bereich hier mit Ursula und Georg Spittler sowie Franz Paintner nur diejenigen erwähnt, denen ich in anderer Form nicht mehr danken kann. Nicht zuletzt gebührt Herrn Prof. Dr. h.c. Norbert Simon als geschäftsführendem Gesellschafter der Duncker & Humblot GmbH für die Aufnahme der Arbeit in das Verlagsprogramm sowie Herrn Prof. Dr. Horst Ehmann und Herrn Univ.-Prof. Dr. Rainer Pitschas als Herausgebern der "Schriften zum Recht des Informationsverkehrs und der Informationstechnik" für die Aufnahme der Untersuchung in ihre Schriftenreihe vorzüglicher Dank. München, im März 1997
lose! Aulehner
Inhaltsübersicht
Erster Teil Die polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge national und international - Bestandsaufnahme und Grundlegung
47
§ 1 Erscheinungsformen der polizeilichen Gefahren- und Informationsvorsorge
47
§ 2 Die polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge im Recht ...................
97
§ 3 Das Europäische Polizeiamt (EUROPOL) - der Weg zu einer Europäisierung der
Polizei ........................................................................... 136
Zweiter Teil Polizeiliche Gefahrenvorsorge und umfassende Risikosteuerung multidisziplinäre Grundlegung
171
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit ...................................... 172 § 5 Der Informationsbegriff zwischen Kommunikation, Wissen und Technik ......... 224 § 6 Die kommunikative Konstitution von Person und Sicherheit ...................... 266 § 7 "Informationskultur" als Grundlage einer ,Jnformationsordnung" - Schlußfolge-
rung .............................................................................. 296 § 8 Polizeiliche Informationsvorsorge und der Wandel von Staat, Gesellschaft und
Recht ............................................................................ 303
Dritter Teil Verfassungsrechtliche Rezeption der umfassenden Risikosteuerung
357
§ 9 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung - ein verfassungsrechtlicher
Schlüsselbegriff .................................................................. 359
12
Inhaltsübersicht
§ 10 Das "Grundrecht auf Sicherheit" als Gegenpol zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 428 § 11 Der Ausgleich zwischen dem "Grundrecht auf Sicherheit" und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung - Grundlagen einer neuen Informationsordnung 446
Vierter Teil
Strukturvorgaben für ein "neues" Polizeiinformationsrecht
493
§ 12 Die nach dem "Volkszählungs"-Urteil novellierten Polizeigesetze ................ 493 § 13 Der Wandel der Verwaltung - von der Eingriffs- zur Infrastrukturverwaltung ..... 509
Fünfter Teil
Die polizeiliche Informationsvorsorge im Recht der Risikogesellschaft - Fazit
545
§ 14 Ein Konzept für die polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge - Vorschlag und Zusammenfassung ........................................................... 545
Literaturverzeichnis ................................................................... 573 Sachverzeichnis ....................................................................... 628
Inhaltsverzeichnis
Erster Teil
Die polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge national und international- Bestandsaufnahme und Grundlegung
47
§ 1 Erscheinungsfonnen der polizeilichen Gefahren- und Infonnationsvorsorge ......
47
A. Der Begriff der Gefahren- und Infonnationsvorsorge ..........................
47
I. Vorschläge zur Definition der Gefahren- bzw. Infonnationsvorsorge .....
48
1. Das Verhältnis von Gefahrenvorsorge und Gefahrenabwehr als Grundlage einer Begriffsbestimmung ....................... . . . . . . . . .
48
2. Funktionsbezogene Abgrenzungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
3. Die Beschränkung des Begriffs der Gefahrenvorsorge auf den jeweiligen Themenbereich ....................................... :........
50
11. Ursachen für die Unschärfe des Begriffs der Gefahrenvorsorge ..........
51
III. Gründe für ein - jedenfalls vorläufiges - Festhalten am Begriff der Gefahren- bzw. Infonnationsvorsorge - Arbeitsdefinition ...................
52
1. Der Begriff "Gefahrenvorsorge" .............................. . ......
52
2. "Polizeiliche Infonnationsvorsorge" - Arbeitsdefinition ...... . ......
53
B. Die Situation der Polizei - der Versuch einer Bestandsaufnahme ..............
54
I. Die zahlenmäßige Entwicklung der Gesamtkriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
11. Die zahlenmäßige Entwicklung der Polizeieinsatzkräfte .................
57
UI. Neue Fonnen der Kriminalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
14
Inhaltsverzeichnis 1. "Makrokriminalität" statt ,,Mikrokriminalität" - Organisierte Kriminalität ...............................................................
57
2. Computerkriminalität ...............................................
61
IV. Die Gefahr einer nur selektiven Strafverfolgung
63
V. Die Verlagerung polizeilicher Aufgaben .................................
64
VI. Die Polizei in den fünf neuen Bundesländern ............................
65
1. Die Polizei der DDR vor der Wende .................................
65
2. Die Polizei in den fünf neuen Bundesländern nach der Wende Übergangsphase .....................................................
67
3. Die heutigen Anforderungen an die Polizei im Beitrittsgebiet ........
67
VII. Die Fortentwicklung polizeilicher Informationssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
1. Die Auswirkungen der elektronischen Datenverarbeitung auf die polizeiliche Tätigkeit in quantitativer Hinsicht .........................
69
2. Die organisatorischen Auswirkungen der elektronischen Datenverarbeitung ..............................................................
72
3. Die zukünftige Entwicklung der polizeilichen Datenverarbeitung ....
73
C. Die polizeilichen Präventionsstrategien und ihre Vollzugsstrukturen ...........
74
I. Die polizeilichen Präventionsstrategien ..................................
74
1. Die qualitativen Auswirkungen der elektronischen Datenverarbeitung auf die polizeiliche Arbeit ...........................................
74
2. Die Bewältigung neuer Verbrechensformen in den polizeilichen Präventionsstrategien ...................................................
75
3. Die unterschiedlichen Präventionsebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
4. Die Modifikationen .................................................
77
11. Vollzugsstrukturen der polizeilichen Gefahren- und Informationsvorsorge
78
1. Vollzugsstrukturen der polizeilichen Gefahrenvorsorge - Übersicht ..
78
a) Der Einsatz spezieller Personen ..................................
79
b) Einsatz besonderer technischer Hilfsmittel .......................
80
c) Besondere Arten des Einsatzes ...................................
80
Inhaltsverzeichnis 2. Vollzugsstrukturen der polizeilichen Infonnationsvorsorge - das INPOL-System der Polizei ..........................................
15 81
a) INPOL-Bund und INPOL-Land ................ . .................
81
b) Verbund-, Zentral- und Amtsdateien ............ . .................
86
c) Einzelne INPOL-Anwendungen ................ . .................
87
aa) Datei Personenfahndung .....................................
87
bb) Datei Sachfahndung ............................... ,.........
88
cc) Datei Kriminalaktennachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
dd) Haftdatei ....................................................
91
ee) Datei Erkennungsdienst .....................................
92
ft) PIOS- und SPUDOK-Dateien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
d) Datengruppen des INPOL-Systems ...............................
93
D. Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Ausdruck eines Paradigmenwechsels im Polizeirecht .......................................................................
95
E. Erscheinungsfonnen der polizeilichen Gefahren- und Infonnationsvorsorge Zusammenfassung ............................................................
96
§ 2 Die polizeiliche Gefahren- und Infonnationsvorsorge im Recht ...................
97
A. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Volkszählungsgesetz 1983 .....
98
1. "Volkszählungs"-Urteil und polizeiliche Infonnationsvorsorge ...........
98
11. Der Inhalt des "Volkszählungs"-Urteils ..................................
99
III. Bewertung der Bedeutung des "Volkszählungs"-Urteils für die polizeiliche Infonnationsvorsorge ..............................................
99
B. Rechtsstrukturen der polizeilichen Infonnationsvorsorge - Rechtsgrundlagen des INPOL-Systems der Polizei............................................... 101
c. Kritik an der Entwicklung nach dem "Volkszählungs"-Urteil .................. 105 D. Der Vorsorgebegriff in anderen Rechtsgebieten und das allgemeine Vorsorgeprinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
16
Inhaltsverzeichnis I. Der Vorsorgebegriff im Atom-, Bundesimmissionsschutz- und Sozialrecht .................................................................... 106 1. Das Atomrecht ...................................................... 106
a) Die Existenz des Vorsorgeprinzips im Atomrecht ................. 107 b) Das Atomrecht und das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht .. 108 aa) Die Hinnahme eines Restrisikos ............................. 108 bb) Die allgemeine Lebenserfahrung - ein unzureichender Prognosemaßstab im Atomrecht . .. .. . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . 109 c) Die Risikovorsorge als "dritter Bereich" .......................... 110 d) Die Abgrenzung der einzelnen Gefährdungsarten ................. 110 e) Die Bedeutung der unterschiedlichen Gefährdungsarten .......... 113 f) Risiko- oder Gefahrenvorsorge? ..................................
113
2. Das Immissionsschutzrecht .......................................... 113 a) Die Strukturen der Vorsorge im BImSchG ........................ 114 b) Der Inhalt des Vorsorgeprinzips im BImSchG .................... 116 c) Rechtsprobleme der inhaltlichen Ausgestaltung .................. 118 3. Das Sozialrecht ..................................................... 119 a) Die Vorsorge als Systemstruktur des Sozialrechts ................. 120 b) Der Inhalt des Vorsorgeprinzips im Sozialrecht ................... 122 4. Das Wirtschaftsrecht ................................................ 123 a) Art und Zulässigkeit staatlicher Maßnahmen zur Beeinflussung der Wirtschaft.................................................... 124 b) Die Lokalisierung von Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge im Geflecht staatlicher Maßnahmen zur Beeinflussung der Wirtschaft 127 5. Gefahrenvorsorge in unterschiedlichen Rechtsgebieten - Zusammenfassung.............................................................. 127 H. Standort und Strukturen der Gefahrenvorsorge - das allgemeine Vorsorgeprinzip ................................................................ 128
1. Die Binnenstruktur der Gefahrenvorsorge ........................... 128 a) Die Gefahrenvorsorge als qualitative Erweiterung der Gefahrenabwehr ........................................................... 128 b) Die unterschiedlichen Beurteilungsgrundlagen von Gefahrenvorsorge und Gefahrenabwehr ....................................... 130
Inhaltsverzeichnis
17
2. Die Gefahrenvorsorge im Geflecht staatlicher Handlungsmöglichkeiten .................................................................. 132 a) Die verschiedenen staatlichen Handlungsformen ................. 132 b) Die verschiedenen Verwaltungsarten ............................. 132 3. Die Funktionen der Gefahrenvorsorge ............................... 134
E. Die polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge im Recht - Zusammenfassung und Ausblick ......................................................... 135
§ 3 Das Europäische Polizei amt (EUROPOL) - der Weg zu einer Europäisierung der Polizei ........................................................................... 136
A. INTERPOL ................................................................... 138 I. Die Entstehung von INTERPOL im Rückblick
138
11. Die Aufgabe von INTERPOL ........................................... 139 III. Mitglieder und Organe von INTERPOL ... . .......... . .................. 140 IV. Fahndungsmöglichkeiten in INTERPOL................................. 141
1. Personenfahndung ................................................... 142 2. Sachfahndung ....................................................... 142 3. Fahndungsablauf ............................................ . ....... 142 V. INTERPOL und elektronische Datenverarbeitung
143
VI. Fazit .................................................................... 145
B. Die Schengener Abkommen ............... . ..................... . ............ 146 I. Schengener Abkommen und europäisches Gemeinschaftsrecht ........... 147 11. Schengen I und 11 ....... . . . ................... . . . . . ........ . ............ 149 III. Der Inhalt von Schengen 11 .............................................. 150 1. Abbau der Kontrollen an den Binnengrenzen - verschärfte Sicherung der Außengrenzen ................................................... 150 2 Aulehner
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Inhaltsverzeichnis a) Die Schengen-Staaten als einheitlicher Fahndungsraum
150
b) Sicherheitsdefizit durch den Abbau der Kontrollen an den Binnengrenzen .......................................................... 151 2. Polizeiliche Zusammenarbeit........................................ 152 a) Polizeiliche Rechtshilfe - indirekter Informationsaustausch ...... 152 b) Direkter Informationsaustausch zwischen Polizeidienststellen .... 153 3. Das Schengener Informationssystem (SIS) ....................... . ... 153 a) Vorteile und Unterschiede gegenüber INTERPOL................ 154 b) Technischer Aufbau des Schengener Informationssystems (SIS) .. 154 c) Aufgabe des Schengener Informationssystems (SIS) .............. 155 d) Ausschreibungsmöglichkeiten im Schengener Informationssystem (SIS) ............................................................. 156 aa) Personenfahndung ........................................... 156 bb) Sachenfahndung ............................................. 156 e) Ausschreibungsvoraussetzungen ................................. 157 1) Technische Modalitäten der Ausschreibung.......................
157
g) Speicherfrist ..................................................... 158 4. Datenschutz................................................... . . . . .. 158 IV. Ergebnis ................................................................ 159
c. EUROPOL ................................................................... 161 I. Historische Entwicklung von EUROPOUEDU .......................... 161 H. Aufgaben von EUROPOUEDU .......... . .......... . ...... . ............ 163 III. Voraussetzungen für das Tätigwerden von EUROPOLIEDU
165
IV. Resümee................................................................ 166
D. Die Europäisierung der Polizei - Fortschritte und Defizite - Zusammenfassung ....................................................................... 166 I. Die Europäisierung der Polizei allgemein ................................ 166 H. Die Entwicklung eines europäischen Informationsrechts ................. 167
Inhaltsverzeichnis
19
Zweiter Teil
Polizeiliche GefahrenvOI'SOI"ge und umfassende Risikosteuerung multidisziplinäre Grundlegung
171
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit ............... . ......... .. ........... 172
A. Die Konstitution der Realität als Problem ..................................... 174
B. Wirklichkeit und Wahrnehmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 175 I. Realismus ............................................................... 176
11. Idealismus .............................................................. 179 III. Der Konstruktivismus................................................... 181 1. Der radikale Konstruktivismus ...................................... 182
2. Der operative Konstruktivismus......... . ........................... 184 IV. Kognition als Informationsverarbeitung - Zusammenfassung ............ 187
C. Kommunikation als Zugang des Menschen zur Wirklichkeit ................... 188 I. Kommunikation als Zeichenübertragung ................................. 190 II. Kommunikation als Interaktion ................... . . . . . . .. . . . .. . . .. . . . . . . 192 1. Der symbolische Interaktionismus ................................... 192
2. Die Theorie des kommunikativen Handeins
194
III. Kommunikation als System ............................................. 198 1. Kommunikation als System i. S. d. Allgemeinen Systemtheorie ...... 199
2. Kommunikation als System i. S. d. Theorie autopoietischer Systeme von N. Luhmann .................................................... 199 a) Kommunikation - Synthese dreier Selektionen ................... 200 b) Kommunikation als soziales System - ein Paradigmenwechsel ... 201 aa) Anschlußfähigkeit von Kommunikation durch Speicherung von Selektionsofferten ....................................... 201 bb) Strukturelle Koppelung von Bewußtsein und Kommunikation 202 cc) Duplizierung der Realität durch Kommunikation ............ 202
20
Inhaltsverzeichnis c) Transformation der Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation in Wahrscheinlichkeit ............................................... 203 aa) Verbreitungsmedien ......................................... 204 bb) Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien .......... 204 (I) Motivation zur Annahme kommunikativer Selektions-
offerten ................................................. 205 (2) Kommunikationskoordination durch Codes .............. 205 IV. Arten der Kommunikation .............. . . . . . ...... . ..................... 206 1. Technische Kommunikation ......................................... 206
2. Hierarchische Kommunikation ...................................... 206
D. Wahrheit als Identität von Wirklichkeit und Wahrnehmung - die Wahrheitstheorien ....................................................................... 207 I. Anforderungen an eine Wahrheitstheorie ................................ 209 11. Die Korrespondenztheorie ............................................... 209 1. Die materialistische Korrespondenztheorie .......................... 210
2. Die logisch-empiristische Korrespondenztheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 211 3. Die semantische Wahrheitstheorie ................................... 212 4. Korrespondenztheorien und Realität - Bewertung und Zusammenfassung. . .. . . . .. . . . .. .. . . . . . . ... . . ... . .. .. .. . . . .. . .... ... . ... . . ... . .. 213 III. Die Kohärenztheorie .................................................... 213 IV. Die Redundanztheorie ................................................... 215 V. Die pragmatische Wahrheitstheorie ...................................... 216 VI. Die Konsenstheorie ..................................................... 217 VII. Wahrheit als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium ....... 218 VIII. Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 219
E. Wirklichkeitsmodell und -system durch Kommunikation - Zusammenfassung und erste Schlußfolgerungen für das Recht .................................... 220 I. Allgemeinwissenschaftlicher Ertrag ..................................... 220
Inhaltsverzeichnis
21
11. Erste Vorgaben für die Ausgestaltung eines Informationsrechts - Grundsatz der Kommunikationsfreiheit ........................................ 221 1. Das Recht am eigenen Datum - eine unzulässige Verkürzung der Kommunikation auf die Mitteilungshandlung ................. . . . . . .. 222 2. Freier Informationsfluß als Voraussetzung für eine permanente Erwartungsbildung und Systemerhaltung durch Kommunikation ....... 222 3. Herrschaftsfreiheit von Kommunikation und Information ....... . .... 223
§ 5 Der Informationsbegriff zwischen Kommunikation, Wissen und Technik ......... 224
A. Die Herkunft des Informationsbegriffs ........................................ 224
B. Information und Kommunikation
225
I. Information als Nachricht ............................................... 226 1. Der statistisch-syntaktische Informationsbegriff ..................... 226 2. Die semiotischen Informationsbegriffe .............................. 227 a) Der statistisch-syntaktische Informationsbegriff als Ausgangspunkt ............................................................ 227 b) Der semantische Informationsbegriff ............................. 228 c) Der pragmatische Informationsbegriff ............................ 228 d) Der sigmatische Informationsbegriff ............................. 228 3. Strittige Termini - insbesondere "Datum" versus ,,Information" ..... 229 4. Information als Gefahr .............................................. 230 11. Information als subjektbezogener Prozeß ................................ 230 1. Die Subjektabhängigkeit von Information ........................... 231 2. Information als Prozeß .............................................. 232 3. Information als subjektbezogener Prozeß - Vor- und Nachteile ...... 232 III. Information, Kybernetik und Struktur.................................... 232 1. Information als - neben Materie und Energie - dritte Grundgröße ... 233 2. Das kybernetische Verständnis von Information ..................... 234 3. Strukturbildung durch Information .................................. 235
22
Inhaltsverzeichnis IV. Information als kommunikative Selektion im Sinne der Theorie autopoietischer Systeme ......................................................... 235 l. Der Selektionscharakter von Information ............................ 235
2. Information und Struktur ............................................ 236 a) Strukturabhängigkeit von Information ............................ 236 b) Informationsabhängigkeit von Struktur........................... 237 c) Erwartungen als Strukturen sozialer Systeme..................... 237 3. Information und Vorsorge ........................................... 238 a) Gesellschaftliche Selbstkontrolle und Selbststeuerung durch Erwartungserwartungen ............................................ 238 b) Zeitabhängigkeit von Information ................................ 239 c) Sicherheit und Information ....................................... 239 aa) Sicherheit durch Generalisierung von Erwartungen .......... 240 bb) Partielle Sicherheit durch Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 240 d) Erste Konturen des juristischen Vorsorgebegriffs - Zusammenfassung .......................................................... 241 4. Information und Entscheidung....................................... 241 a) Die Informationsabhängigkeit von Entscheidung ................. 242 aa) Qualitativer Bezug von Information und Entscheidung ....... 242 bb) Quantitatives Verhältnis von Information und Entscheidung.. 243 b) Parallelen von Information und Entscheidung .................... 244 c) Verantwortung und Entscheidung ................................ 245 d) Entscheidung und Organisation .................................. 246 5. Information und Organisation ....................................... 246 a) Organisationsbegriff - Organisationsstruktur, Aufgabenstellung und situatives Umfeld der Organisation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 246 b) Informationstechnologie als Fixierung oder Flexibi1isierung von Organisation ..................................................... 248 aa) Neuordnung und Flexibilisierung von Organisation durch Information . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 249 bb) Informationstechnologie als Fixierung von Organisation ..... 250 cc) Informationsneutrale Organisation ........................... 251 c) Das Verhältnis von Information und Organisation aus rechtlicher Perspektive ...................................................... 252
Inhaltsverzeichnis
23
6. Information&management als Reaktion auf die vielgestaltige Bedeutung von Information ................................................ 253 a) ,,Informationsmanagement" als Begriff ........................... 253 b) Dimensionen des Informationsmanagements ..................... 255 aa) Informationsmanagement innerhalb der Verwaltung (Innenverhältnis ) ................................................... 255 bb) Informationsmanagement im Verhältnis Verwaltung - Bürger (Außenverhältnis) ........................................... 256 c) Informationstechnik und Entscheidungsablauf .................... 256 d) Informationsmanagement - Vorzüge und Defizite ................ 257
C. Information und Wissen ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 257 I. Wissen als aggregierte Information ...................................... 258
11. Der Wissensbegriff und die "Wissensordnung"
259
III. Besonderheiten von "Wissen" ........................................... 259 IV. Konzepte für eine "Wissensordnung" .................................... 260
D. Information, Wissen und Technik ............................................. 262 I. Skizzenhafter Umfang des technischen Fortschritts...................... 262 11. Die wechselseitige Abhängigkeit von Technik und Wissen bzw. Information ..................................................................... 263 III. Kommunikation und Technik ............................................ 264 IV. Der Anspruch des Menschen auf Wissen. .. . .. .. . .. . . .. . . . .. . .. . . . . .. .. .. 265
§ 6 Die kommunikative Konstitution von Person und Sicherheit ...................... 266
A. Die Konstitution der Person durch Kommunikation
266
I. Materieller Persönlichkeitsbegriff ....................................... 267
11. Sphären- und Schichtenmodelle der Persönlichkeit ...................... 268
24
Inhaltsverzeichnis III. Persönlichkeitskonstitution durch Interaktion ............................ 270 1. Die Rollentheorie ................................................... 270
2. Kybernetische Persönlichkeitstheorie ................................ 271 IV. Der Mensch als psychisches System und Irritation der Kommunikation .. 272 1. Mensch und Gesellschaft ............................................ 272
a) Gesellschaftliche Entwicklung als Vorbedingung für ein neues Verständnis des Menschen ....................................... 272 b) Der Mensch als Umwelt sozialer Systeme........................ 273 aa) "Interpenetration" bzw. "strukturelle Kopplung" zwischen Individuen und sozialen Systemen............................. 274 bb) Entmachtung des Menschen als Subjekt des Sozialen ........ 275 c) Der Mensch im Verständnis von N. Luhmann .................... 276 d) "Person" statt "Individuum" ...................................... 276 2. Die kommunikative Konstitution des Menschen ..................... 277 a) Die Unfähigkeit des Menschen zur Kommunikation.............. 277 b) Beziehungen zwischen psychischen Systemen.................... 277 c) Die Bedeutung von Individualität in der modemen Gesellschaft .. 278 aa) Gesellschaft und Individualität .............................. 278 bb) Staat und Individualität ...................................... 278 d) Inhaltliche Umschreibung von Individualität ..................... 279 V. Manipulationsfreie Fremddarstellung statt manipulierte Selbstdarstellung 281
B. Die kommunikative Konstitution von Sicherheit und Gefahr .................. 283 I. Gemeinsamkeiten von Sicherheit, Unsicherheit, Gefahr und Risiko...... 283 1. Sicherheit, Unsicherheit, Gefahr und Risiko - Ergebnisse eines Kommunikationsprozesses, keine objektiven Kategorien ................. 283
2. Sicherheit, Unsicherheit, Gefahr und Risiko als vergegenwärtigte Zukunft ................................................................ 284
Inhaltsverzeichnis
25
3. Die Ausprägung von Sicherheit, Unsicherheit, Risiko und Gefahr durch Kommunikation .............................................. 286 4. Paradigmenwechsel von Gefahr, Risiko, Unsicherheit und Sicherheit
287
11. Sicherheit und Unsicherheit ............................................. 288
1. Sicherheit und Unsicherheit als komplexe Vorstellungen ............ , 288 2. Äußere und innere Sicherheit bzw. Unsicherheit ..................... 289 3. Unsicherheit als Folge von Orientierungsverlust und gestiegener Komplexität der Welt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . .. . . . . .. . . . .. . . . . .. 290 4. Vorbedingungen von Sicherheit ..................................... 290 5. Die Reflexivität von Sicherheit...................................... 291 6. Sicherheit als gesellschaftlicher Wert ................................ 291 111. Gefahr und Risiko....................................................... 291 IV. Verhältnis von GefahrlRisiko und SicherheitlUnsicherheit - Gefahr und Risiko als Voraussetzung von Sicherheit und Unsicherheit............... 293 V. Risiko, Gefahr, Sicherheit und Unsicherheit als Steuerungsmedien der modemen Gesellschaft - Zusammenfassung ............................. 294
§ 7 "Informationskultur" als Grundlage einer "Informationsordnung" - Schlußfolgerung .............................................................................. 296
A. Der Kulturbegriff ............................................................. 297 B. Aufgaben und Funktion von Kultur - eine Grobskizzierung ................... 297 C. Versuche zur Strukturierung von Kultur ....................................... 298 I. Kulturelle Strukturmerkrnale ............................................ 298 11. "Subjektive" und "objektive" Kultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 299 III. Verwaltungs- und Rechtskultur .......................................... 299 D. Kultur, Kommunikation, Information, Technik, Wissen, Individuum - Zusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 300 E. Informationsordnung und "Informationskultur" ... . .......... . .......... . ..... 30 I
26
Inhaltsverzeichnis
§ 8 Polizeiliche Informationsvorsorge und der Wandel von Staat, Gesellschaft und Recht ............................................................................ 303
A. Der gesellschaftliche Wandel - von der Hierarchie zur Selbstorganisation ..... 304 I. Agrargesellschaft - Industriegesellschaft - Informationsgesellschaft ..... 304 11. "Heterarchie" statt Hierarchie ........................................... 306 I. Die - frühere - starr-hierarchische Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 306 2. Die - heutige - dynamisch-heterarchische Gesellschaft .............. 307 111. "Informationsgesellschaft" als Selbstorganisation durch Information ..... 307 IV. Risikogesellschaft ....................................................... 308
B. Staatsbild - der kommunikative Staat ......................................... 309 I. Staat und Gesellschaft ................................................... 309 1. Der Staat als Selbstbeschreibung der Gesellschaft ................... 309
2. Staat und Gesellschaft als dialektische Einheit .......... . ... . ........ 310 11. Sicherheit als Staatszweck im historischen Rückblick .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. 310 1. Sicherheit im Denken der Antike .................................... 311
2. Sicherheit im Verständnis des Mittelalters ........................... 314 3. Sicherheit im Absolutismus am Übergang zur Modeme: Thomas Hobbes .............................................................. 314 4. Sicherheit und Liberalismus: John Locke............................ 316 5. Sicherheit in der Aufklärung: Samuel Pufendorf und Christian Wolff
317
6. Das Preußische Allgemeine Landrecht - Sicherheit im "Grundgesetz des friderizianischen Staates" ....................................... 321 7. Die Demokratie und der Beginn einer neuen Epoche: Jean Jacques Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 323 8. Sicherheit im Konstitutionalismus und Liberalismus: Wilhelm von Humboldt und Immanuel Kant ...................................... 324 9. Sicherheit in den amerikanischen und französischen Menschenrechtserklärungen ................................................... 326 10. Sicherheit - Friede - Freiheit - Zusammenfassung und Konsequenzen des historischen Rückblicks auf den Staatszweck Sicherheit ..... 328
Inhaltsverzeichnis
27
III. Der ,,kommunikative Staat" als Instrument zur Gewährleistung von Sicherheit ................................................................. 329 I. Der ,,kommunikative Staat" - eine Skizze ........................... 329
a) Der ,,kooperative Staat" .......................................... 329 aa) Kooperation als Reaktion auf die Pluralität des staatlichen Umfelds. . .. . . . .. . . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. 329 bb) Kooperation und Koordination .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ... 330 cc) Der Staat als Kooperationspartner ........................... 330 b) Der ,,kommunikative Staat" ...................................... 330 aa) "Kommunikativer Staat" und Gesellschaft ................... 330 bb) Sicherheit als Zweck des ,,kommunikativen Staates" - Der ,,kommunikative Staat" als Oberbegriff ...................... 331 cc) Umwelt- und Binnenkomplexität ............................ 332 dd) Politik und Verwaltung als Binnendifferenzierung ........... 332 ee) Flexibilität und Reproduktion des Staates - Offenheit und Geschlossenheit ............................................. 332 ff) System I Umweltkontakt - symbolisch generalisierte Kom-
munikationsmedien .......................................... 333 gg) Programm und Code. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 333 hh) Der autoritäre, konsensuale, kooperative, präzeptorale - kurz - kommunikative Staat ...................................... 334 c) Der "präzeptorale" Staat ......................................... 334 aa) Information als staatliches Kommunikationsmedium . . . . . . . .. 334 bb) Der präzeptorale Staat als Reaktion auf die zunehmende Komplexität der staatlichen Umwelt......................... 334 cc) Voraussetzungen für eine präzeptorale Steuerung ............ 335 d) Fazit - Der flexible Staat ......................................... 335 2. Der ,,kommunikative Staat" in der Entwicklung der Staatsbilder ..... 336 a) Entwicklungstendenzen der Staatsbilder .......................... 337 aa) Gruppen von Staatsauffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 (1) Das konservative Staatsverständnis .................. . ... 337
(2) Pluralistische Staatsauffassungen .................. . ..... 338 (3) Interventionistische Staatsauffassungen ... . . . . . . . . . . . . . .. 338 bb) Der Rückzug des Staates aus Konfliktfeldem ................ 339
28
Inhaltsverzeichnis b) Die Staatsbilder im einzelnen - Überblick........................ 340 aa) Die Problematik der Staatsdefinition ......................... 340 bb) Der Staat in den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen ......... 340 cc) Die Natur des Staates........................................ 341 (1) Die Organismustheorien ................................. 342 (2) Der Staat als reales Beziehungsgefüge ................... 342 (3) Der Staat als Normenkonstruktion ....................... 343 (4) Der Staat als Prozeß ..................................... 344 (5) Fazit - Minimierung der Anforderungen an den Staat oder Summe der einzelnen Staatsauffassungen . . . . . . . . . . . 344 3. Staat und Information - Die Auswirkungen des gefundenen Staatsverständnisses auf die Rechte und Pflichten des Staates zur Informationserhebung, -verarbeitung und -weitergabe ....................... 345
C. Recht und Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
I. Recht als autopoietisches System ........................................ 347 11. Entwicklungstendenzen der Steuerung durch Recht ...................... 347 I. Verrechtlichung ..................................................... 347 a) Parlamentarisierung ................................. . ............ 348 b) J ustizialisierung .................................................. 349 c) Bürokratisierung ................................................. 349 2. Entrechtlichung ..................................................... 349 III. Veränderte Steuerungsformen ........................................... 351
l. Repressive Steuerung bis zum Ende des Mittelalters................. 351 2. Zentrale Steuerung oder Selbststeuerung in der Neuzeit.............. 351 3. Kontext-Steuerung als Fortentwicklung
352
IV. Unterschiedliche Typen von Vorschriften................................ 352 I. Formales Recht ..................................................... 352
2. Materiales Recht .................................................... 353 3. Reflexives Recht .................................................... 353 V. Das Polizeirecht ............................................ . ............ 355
Inhaltsverzeichnis
29
Dritter Teil
Verfassungsrechtliche Rezeption der uoüassenden Risikosteuerung
357
§ 9 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung - ein verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff .................................................................. 359
A. Die Anerkennung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts in der Rechtsprechung von BGH und BVerfG ............... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 360
I. Die Entwicklung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts ................. 361 I. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht in der Rechtsprechung des BGH ................................................................ 361 2. Bestätigung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch das BVerfG ............................................................. 364 11. Rechtsdogmatische Vorgaben für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ............................................................... 366 I. Formaler Freiheitsschutz durch Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit ................................................... 366 2. Allgemeine Handlungsfreiheit als Abwehrdimension des Art. 2 I GG
369
3. Die Gewährleistung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts zwischen Art. 2 I GG und Art. 1 I GG ......................................... 370 4. Individualität durch Staatsfreiheit - das der allgemeinen Handlungsfreiheit zugrunde liegende Freiheitsverständnis ...................... 370 III. Schutz vor einer Pflicht des Bürgers zur Übermittlung seiner Daten an den Staat - Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 372
B. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vor, in und nach dem "Volkszählungs"-Urteil .............................................................. 372
I. Die Ausdifferenzierung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung in Rechtsprechung und Literatur .................................. 372 I. Privatsphärenschutz und informationelle Selbstdarstellung. . . . . . . . . .. 373 2. Das "Volkszählungs"-Urteil ......................................... 374 3. Die Rechtsprechung nach dem "Volkszählungs"-Urteil .............. 375 a) Ausdehnung des durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung geschützten Bereichs .................................. 375
30
Inhaltsverzeichnis b) Belange des Gemeinwohls, die das Recht auf informationelle Selbstbestimmung einschränken.................................. 376 aa) Schutz des Rechtsverkehrs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 376 bb) Effektivität und Funktionsfähigkeit amtlicher Statistiken. . . .. 377 cc) Sicherheit ................................................... 377 11. Rechtsdogmatische Strukturen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ............................................................... 378 I. Materiell-inhaltliche Freiheitsgewährleistung durch Persönlichkeitsschutz ............................................................... 378
a) Art. 2 I GG als einheitliches Grundrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 379 b) Die Grundrechtsdimensionen und Art. 2 I GG .................... 380 aa) Die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension - Grundrechte als objektive Wertordnung ................................... 381 bb) Die Leistungsdimension der Grundrechte.................... 382 cc) Der verfahrens- und organisationsrechtliche Gehalt der Grundrechte ................................................. 382 c) Allgemeine Handlungsfreiheit und Allgemeines Persönlichkeitsrecht als zwei unterschiedliche Dimensionen des Art. 2 I GG ..... 383 d) Die Sphärentheorie - ein bloßes Indiz ............................ 387 2. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung im "Volkszählungs"-Urteil ........................................................ 388 a) Auflösung der vordem strikten Akzessorietät zwischen Sphärenschutz und Selbstdarstellungsrecht ............................... 388 b) Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung - kein Abwehrrecht ............................................................. 389 c) Das "Volkszählungs"-Urteil- eine Reflexionsentscheidung ....... 390 3. Defizite der Rechtsprechung zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach dem "Volkszählungs"-Urteil ...................... 391 a) Personale und soziale Identität des Individuums versus Sozialbezogenheit des Individuums insgesamt ............................ 391 b) Die Bestimmungsfaktoren des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und ihr Verhältnis zueinander ....................... 393
Inhaltsverzeichnis
31
c) Verhältnis von Schutzbereich, Eingriff und verfassungsrechtlicher Rechtfertigung beim Recht auf informationelle Selbstbestimmung 394 d) Keine materiellen Kriterien für eine Informationsordnung ..... . .. 395 4. Persönlichkeit durch Interaktion - Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 396 III. Die Person als Schutzgut des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung - Zusammenfassung .............................................. 397
C. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung - Versuch einer Fortentwicklung .......................................................................... 399
1. Kommunikatives Selbstkonzept und Recht .............................. 400 H. Manipulationsfreie Kommunikation als Schutzgut des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ........................................... 40 I III. "Verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff' und Verfassungsdogmatik . . . .. 403
1. Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe als Bindeglieder zwischen Wirklichkeits-, insbesondere Sozial- und Rechtswissenschaften ...... 404 2. Die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe - Grundzüge .......... 404 a) Die Ausdifferenzierung verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriffe als Reaktion auf den Wandel von Staat und Gesellschaft .......... 405 aa) Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe und rechtsdogmatische Entfaltung der Grundrechte ............................. 405 (1) Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe als Korrelate
für die Entfaltung der Grundrechte als objektive Wertentscheidungen .......................................... 405 (2) Ergänzung der klassischen Grundrechtssicherungen durch verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe ........... 406 bb) Synthese von gesellschaftlicher Pluralität und staatlicher Einheit durch verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe ........... 407 cc) Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe als Ausdruck des flexiblen Staates - Zusammenfassung .......................... 408 b) Dogmatische Strukturen der verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe - eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 408 aa) Entstehung des Terminus "verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff' .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 408
32
Inhaltsverzeichnis bb) Wirkungsweise der verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe
409
(1) Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe als Meta-Ebene. 409 (2) Aufgaben der verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe .. 410 (3) Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe als situative Typisierungen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 410 (4) Ausgleich zwischen objektiv- und subjektiv-rechtlichen Elementen der Verfassung durch verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe ........................................ 411 (5) Vor- und Nachteile der verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe ................................................. 411 c) Konsequenzen einer Qualifizierung als verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 412 aa) Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe zwischen Regeln und Prinzipien ................................................... 412 bb) Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe im Spektrum der Verfassungsgrundsätze ....................................... 413 cc) Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe versus soziale Grundrechte, Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträge, Programmsätze - Abgrenzung ........................... 415 (1) Soziale Grundrechte..................................... 416 (2) Gesetzgebungsaufträge .................................. 417 (3) Programmsätze .......................................... 418 (4) Staatszielbestimmungen ................................. 418 3. Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe und Verfassungsinterpretation ................................................................. 419 a) Verfassungsinterpretation als Auslegung des Verfassungsgesetzes
419
aa) Anwendung der Regeln zur Gesetzesinterpretation auf die Verfassung .................................................. 419 bb) Die Savigny'schen Interpretationskriterien ................... 420 cc) Die Offenheit der Verfassungsauslegung nach den klassischen Interpretationskriterien ...................................... 421 b) Grundkonzeptionen der Verfassungsinterpretation ................ 422 aa) Verfassungsinterpretation als Kompetenzverteilung .......... 423 bb) Rechtspositivistische Interpretation .......................... 423 cc) Funktionale Auslegung................ . .......... . .......... 424 IV. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung - ein verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 426
Inhaltsverzeichnis
33
§ 10 Das "Grundrecht auf Sicherheit" als Gegenpol zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung. . .. . . . . .. . . . . .. . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . .. . . . .. .. .. 428
A. Keine ausdrückliche Regelung im Grundgesetz ............................... 430
B. Staatliche Schutzpflichten als verfassungsrechtliche Grundlagen eines "Grundrechts auf Sicherheit" ......................................................... 431 I. Grundrechtliche Schutzpflichten .. . . . . . . .. . . .. . . .. .. . . . . .. .. . . .. . . .. .. . .. 431
I. Grundrechtsdimensionen und staatliche Schutzpflichten ............. 431 a) Schutzpflicht und Grundrechte als objektive Wertentscheidungen . 431 b) Abwehrdimension der Grundrechte und Schutzpflicht ............ 432 c) Schutzpflichten als Teil der grundrechtlichen Leistungsdimension
434
d) Schutzpflichten als grundrechtlicher "Querschnittsbegriff' ....... 435 e) Gefahrenvorsorge und Schutzpflichten ........................... 436 2. Innere Sicherheit als grundrechtliches Schutzgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 436 11. Das staatliche Gewaltmonopol und die Staatsaufgabe Sicherheit als Anknüpfungspunkt für Schutzpflichten ..................................... 437 III. Staatliche Schutzpflichten aus dem Rechtsstaatsprinzip .................. 439 IV. Sozialstaatsprinzip und staatliche Schutzpflichten ....................... 440
C. Verfassungsdogmatische Zuordnung des "Grundrechts auf Sicherheit" ........ 441 I. Abgrenzung zu anderen tripolaren (Verfassungs-)Rechtsfiguren - Soziale Grundrechte, Drittwirkung der Grundrechte und Sozialstaatsprinzip ..... 441
11. Staatliche Schutzpflichten zwischen Regeln und Prinzipien .............. 442 III. "Grundrecht auf Sicherheit" als Legitimation staatlichen Handeins ...... 442
D. Staatliche Informationsvorsorge - der Umfang der Schutzpflichten ............ 443 I. Vorsorge als umfassende Risikosteuerung durch Erwartungen. . . . . . . . . . .. 443 11. Vorsorge durch kollektive Zurechnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 444 3 Aulehner
34
Inhaltsverzeichnis 111. Vorsorge durch reflexives Recht ......................................... 444 IV. Vorsorge und Handlungsformen ......................................... 445 V. Informationsvorsorge .. . .. .. . . . . . . . .. .. . . . . . . . . .. . . .. . . . .. . . .. . . .. . . .. ... 445
§ II Der Ausgleich zwischen dem "Grundrecht auf Sicherheit" und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung - Grundlagen einer neuen Informationsordnung . 446
A. Das Spannungsverhältnis zwischen dem "Grundrecht auf Sicherheit" und der informationellen Selbstbestimmung ........................................... 446
B. Relativierungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung
448
I. Schutzbereich ........................................................... 448
I. Der Schutzbereich und die Grundrechtsdimensionen . . . . . . . . . . . . . . . .. 448 a) Verfassungserwartungen als Relativierung des Abwehrgehalts .... 448 b) Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als soziales Grundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 449 2. Umfang des Schutzbereichs ......................................... 450 a) Zwangsweise Datenerhebung .................................... 450 b) Personenbezogene Daten ....................... .. ................ 451 c) Keine belanglosen Daten......................................... 451 11. Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ............. 452 I. Erweiterung des Eingriffsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 452
2. Funktionale Beschränkungen des Grundrechtsschutzes .............. 455 111. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 455 I. Gesetzesvorbehalt ................................................... 455
2. Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinn ............................... 457 a) Zweck des Eingriffs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 458 b) Mittel ............................................................ 459 c) Zweck-Mittel-Relation........................................... 459 aa) Geeignetheit ... . . . . .. . . . .. . . . . . . . . . .. . . . .. . . . . . . . .. . .. . . . . . .. 459 bb) Erforderlichkeit ............................................. 460
Inhaltsverzeichnis
c.
35
Das "Grundrecht auf Sicherheit" - Kriterien für die Annahme einer Schutzpflicht ........................................................................ 460 I. Tatbestandsvoraussetzungen für eine Schutzpflicht
461
H. Sicherheit als Staatsaufgabe ............................................. 462 1. Umfang der Staatsaufgabe "Sicherheit" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 462 2. Adressat der Staatsaufgabe "Sicherheit" ............................. 463 III. Erfüllung der Schutzpflichten auf der Grundlage einer gesetzlichen Regelung ..................................................................... 464 1. Umfang der verfassungsrechtlichen Schutzpflichten ................. 464
2. Gesetzesmediatisierung der Schutzpflichten ......................... 464 IV. Verdichtung der Schutzpflicht zu einem subjektiven Recht auf Schutz
465
V. Kriterien einer Schutzpflicht - Zusammenfassung ....................... 466
D. Bauformen des Ausgleichs zwischen dem "Grundrecht auf Sicherheit" und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung ............................. 466 I. Stufen des "Grundrechts auf Sicherheit" ................................. 466 1. Maßnahmen der Gefahrenabwehr und der traditionelle Gefahrenbegriff ................................................................. 467 a) Schaden und Eintrittswahrscheinlichkeit ......................... 467 aa) Schaden ..................................................... 467 bb) Wahrscheinlichkeit .......................................... 469 b) Geltung der Kausalgesetze - Zurechenbarkeit .................... 470 c) Kurzcharakteristik der traditionellen Gefahrenabwehr - Zusammenfassung ...................................................... 471 2. Polizeirechtlich anerkannte Modifikationen des Gefahrenbegriffs Anzeichen für eine Abkehr vom traditionellen Gefahrenbegriff ...... 472 a) Anscheinsgefahr - Putativgefahr - Gefahrenverdacht ... . . . . . . . . .. 472 b) Zweckveranlasser -latente Gefahr............................... 474 3. Umfassende Risikosteuerung - Paradigmenwechsel des Polizei- und Ordnungsrechts ..................................................... 474 a) Schaden.......................................................... 474 b) Eintrittswahrscheinlichkeit ....................................... 475 3*
36
Inhaltsverzeichnis c) Zurechnung...................................................... 476 d) Ablösung der traditionellen Gefahrenabwehr durch eine umfassende Gefahrenvorsorge - Zusammenfassung .................... 476 4. Gefahrenabwehr als allein punktuelle retrospektive RisikosteuerungGefahrenvorsorge als umfassende und auch prospektive Risikosteuerung ........................................................... 476 a) Gefahrenvorsorge - ein qualitatives aliud bzgl. der Gefahrenabwehr ............................................................. 477 b) Die Beurteilungsgrundlagen für Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge ......................................................... 478 c) Funktionen der Gefahrenvorsorge ................................ 479 d) Umfassende Risikosteuerung durch Gefahrenvorsorge ............ 480 5. Stadien der Risikovorsorge im Hinblick auf staatliche Informationstätigkeit ............................................................. 481 a) Gefahrerforschungseingriff bei Gefahrenverdacht ................ 481 aa) Sachverhaltsermittlung und Verfahrenseinleitung ............ 481 bb) Umfang der Sachverhaltsermittlung ......................... 483 cc) Die Bewältigung von Ungewißheit .......................... 483 b) Aufklärungseingriff zur Gefahrenvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 484 aa) Tatsächliche Anhaltspunkte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 484 bb) Maßstab praktischer Vernunft . .. . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . .. . . . .. 484 cc) Hinnehmbarkeit von Schäden ...... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .... 485 11. Inhaltliche Grundstrukturen einer Informationskultur und Informationsordnung ................................................................. 485 1. Rückgriff auf die Informationskultur ................................ 485
2. Mögliche Inhalte eines "Informationsgesetzbuchs" .................. 486 3. Informationsordnung - einzelne Grundstrukturen .................... 487 a) Informationsfreiheit als Grundsatz - Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausnahme ............................. . . .. 487 b) Freiwillige Datenangabe bzw. allgemein zugängliche Informationen .............................................................. 487 c) Wahre versus falsche Informationen.............................. 488 d) Sensible Daten ................................................... 488 e) Zweckbindung und Erforderlichkeit .............................. 488
Inhaltsverzeichnis
37
f) Unterschiede zwischen den Infonnationsschritten - Infonnations-
erhebung, -verarbeitung, -nutzung versus Infonnationsverwertung 488 aa) Infonnationsverwertung als entscheidendes Ausgleichsinstrument ........................................................ 488 bb) Beweisverwertungsverbote zur Absicherung des Rechts auf infonnationelle Selbstbestimmung ........................... 490
E. Die Infonnationsordnung als posItIve Steuerung des Infonnationsflusses Schlußfolgerungen ............................................................ 491
Vierter Teil
Strukturvorgaben für ein "neues" Polizeiinformationsrecht
493
§ 12 Die nach dem "Volkszählungs"-Urteil novellierten Polizeigesetze ................ 493
A. Die Datenerhebungsregelungen in den novellierten Polizei gesetzen ........... 494 I. Einleitungsvorschriften über die Grundsätze der Datenerhebung ......... 494 1. Erstreckung der Grundsätze des "Volkszählungs"-Urteils auf das Polizeirecht ............................................................ 495
2. Die Einleitungsvorschriften - keine Befugnisnonnen ................ 495 11. Die Generalklauseln für die Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 496 1. Tatbestandsmerkmale der Generalklauseln für die polizeiliche Datenerhebung ............................................................ 497
a) Datenerhebung zur Erfüllung einer polizeilichen Aufgabe ........ 497 b) Konkrete Gefahr als Voraussetzung für die polizeiliche Datenerhebung ........................................................... 498 c) Adressaten der polizeilichen Datenerhebung ......... . ........... 499 d) Erforderlichkeit der Datenerhebung .............................. 499 2. Regelungsdefizite der Generalklauseln für die polizeiliche Datenerhebung .............................................................. 500 a) Verhältnis zwischen bereichsspezifischer und allgemeiner Generalklausel ........................................................ 500 b) Datenerhebung und Art der Infonnationsbeschaffung ............. 500
38
Inhaltsverzeichnis III. Die Spezialermächtigungen zur Datenerhebung ......... . ............ . ... 501 1. Inhalt der Spezialermächtigungen ................................... 501
2. Regelungsdefizite der Spezialermächtigungen für die polizeiliche Datenerhebung ...................................................... 502 a) Unzureichende Harrnonisierung der neuen Regelungen mit den bestehenden Vorschriften ......................................... 502 b) Behördenleiter- und Richtervorbehalte ........................... 503
B. Die Regelungen für die polizeiliche Datenverarbeitung........................ 503 I. Grundnormen für die Datenverarbeitung ................................. 503 1. Gesetzesvorbehalt ...................................... . ............ 504
2. Zweckbindungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 504 3. Speicherungsdauer und Prüfungstermine ............................ 505 11. Die Generalklausein für die Datenverarbeitung ............. . ............ 505
C. Bewertung des derzeitigen Polizeirechts ......................... . ............ 506 I. Polizeilicher Aufgabenbereich und polizeiliche Datenverarbeitung . . . . . .. 506
11. Errichtungsanordnungen für Dateien - die zentralen Regeln für die polizeiliche Datenverarbeitung .............................................. 508
§ 13 Der Wandel der Verwaltung - von der Eingriffs- zur Infrastrukturverwaltung ..... 509
A. Verwaltung im "flexiblen Staat" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 509 I. Rechtsstaatliche Eingriffsverwaltung .................................... 510
11. Sozialstaatliche Leistungsverwaltung .................................... 511 III. Infrastrukturverwaltung im "flexiblen Staat" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 512 1. Daseinsvorsorge zwischen Leistungs- und Infrastrukturverwaltung .. 513 2. Infrastrukturverwaltung als multilaterale und mehrpolige Daseinsvorsorge ................................................................ 513 a) Begriff der Infrastrukturverwaltung .............................. 513
Inhaltsverzeichnis
39
b) Infrastrukturverwaltung versus Eingriffs- und Leistungsverwaltung - Reflexivität contra Konditional- und Finalprogrammierung 515 c) Infrastrukturverwaltung und die Charakteristika der Eingriffs- und Leistungsverwaltung ............................................. 516
B. Handlungsfonnen und Verwaltungstypen ...................................... 517 I. Charakteristika der Handlungsfonnen ............ \ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 518 11. Klassische Handlungsfonnen der Verwaltung und deren Fortentwicklung
520
1. Verwaltungsakt und öffentlich-rechtlicher Vertrag als überkommene Handlungsfonnen des Verwaltungsrechts ............................ 520 2. "Dynamische" Verwaltungsakte und infonnales Verwaltungshandeln - Fortentwicklungen der Handlungsfonnen des traditionellen Verwaltungsrechts .......................................................... 521 III. Das Verwaltungsrechtsverhältnis als Grundlage für neue exekutive Handlungsfonnen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 522
C. Das "Konzept" als Handlungsfonn der Infrastrukturverwaltung ............... 525 I. Das "Konzept" im Spektrum der herkömmlichen Handlungsfonnen der Verwaltung .............................................................. 525 1. Das "Konzept" in der Dogmatik des deutschen Verwaltungsrechts ... 526 2. Die Handlungsfonn des "Konzepts" und die EG-Richtlinie .......... 528 11. Das "Konzept" als Handlungsfonn der Planung in der Infrastrukturverwaltung ................................................................. 529 l. Begriff und Rechtsnatur des "Konzepts" ............................. 529
2. Das "Konzept" als der Planung zugeordnete Handlungsfonn . . . . . . . .. 530 III. "Konzepte" als exekutive Rechtsetzung ................................. 532 1. "Konzepte" als Innenrechtssätze der Verwaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 533 a) Verbindlichkeitsstufen der "Konzepte" ........................... 534 aa) Infonnierende, influenzierende und imperative "Konzepte" .. 534 bb) "Konzepte" zwischen Vorbescheid und vorläufigem positivem Gesamturteil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 535 (I) Der Konzeptvorbescheid im Immissionsschutz- und Atomrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 535 (2) Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten ............ 535
40
Inhaltsverzeichnis (3) Konzeptvorbescheid versus Standortvorbescheid, vorläufiges positives Gesamturteil, Teil- und Vollgenehmigung 536 b) "Konzepte" als Verwaltungsintema ............................... 538 c) Mittelbare Außenwirkung von "Konzepten" ...................... 538 aa) "Konzepte" als vorweggenommene Sachverständigengutachten .......................................................... 539 bb) "Konzepte" als antizipierte Verwaltungspraxis ............... 539 cc) Außenwirkung durch Vertrauensschutz ...................... 540 2. Legitimität administrativer Rechtsetzung ............................ 541 a) Originäre Rechtsetzungskompetenz der Exekutive - Verwaltungsvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 541 b) Zusammenfassung ............................................... 542 3. Bedeutung des "Konzeptes" in der Verwaltungspraxis ............... 543
D. Kultur - verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff - "Konzept" ................. 543
Fünfter Teil
Die polizeiliche Infonnationsvorsorge im Recht der Risikogesellschaft - Fazit
545
§ 14 Ein Konzept für die polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge - Vorschlag und Zusammenfassung ........................................................... 545
Literaturverzeichnis ................................................................... 573
Sachverzeichnis ....................................................................... 628
Abkürzungsverzeichnis a.A.
anderer Ansicht
a. a. O.
am angegebenen Ort Amtsblatt Alternativentwurf einheitlicher Polizeigesetze des Bundes und der Länder Amtsgericht Alternativkommentar
ABI AEPolG AG
AK ALR
Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten
Anm. AöR
Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts
APIS Arch
Arbeitsdatei PIOS Innere Sicherheit Archiv
Archiv PT
Archiv für Post und Telekommunikation
Art. ASOG Berlin
Artikel Allgemeines gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Berlin Allgemeines Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung
ASOG ASOG
Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz
AtG
Atomgesetz
Aufl. Bay BayObLG
Auflage Bayerisch
BayVBI BayVerfGH BayVGH BB BDSG Ber!. BGB
Bayerisches Oberstes Landesgericht Bayerische Verwaltungsblätter Bayerischer Verfassungsgerichtshof Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Der Betriebsberater (Zeitschrift) Bundesdatenschutzgesetz Berlin Bürgerliches Gesetzbuch
BGB!.
Bundesgesetzblatt
BGH BGHSt(Z)
Bundesgerichtshof Amtliche Sammlung der Entscheidungen des BGH in Strafsachen (Zivilsachen)
BGS BGSG
Bundesgrenzschutz Bundesgrenzschutzgesetz
42
Abkürzungsverzeichnis
BImSchG
Bundesimmissionsschutzgesetz
BKA BKAG
Bundeskriminalamt BKA-Gesetz
BNDG
Gesetz über den Bundesnachrichtendienst
Brbg Brbg BrdbgPolG
Brandenburg Brandenburgisch Polizeigesetz für Brandenburg
BR-Dr Brem., brem.
Bundesratsdrucksache Bremen, bremisch
BremPG
Bremisches Polizei gesetz
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVerfGE BVerwG
Amtliche Sammlung der Entscheidungen des BVerfG Bundesverwaltungsgericht Amtliche Sammlung des BVerwG
BVerwGE BW
Baden-Württemberg, baden-württembergisch
BWPolG BWPolG BZR
Baden-Württembergisches Polizeigesetz Polizeigesetz von Baden-Württemberg Bundeszentralregister
BZRG bzw.
Bundeszentralregistergesetz beziehungsweise Crirninal Information System
CIS COD CR CSIS DASTA DB DDR DDR-PoIG ders. dies. DÖV DuD DuR DVBI DVP DVR
Literaturdokumentation Computer und Recht zentrales Schengener Informationssystem Datenstation Der Betrieb (Zeitschrift) Deutsche Demokratische Republik DDR-Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Polizei von 1990 derselbe dieselben Die öffentliche Verwaltung Datenschutz und Datenverarbeitung (Zeitschrift) Demokratie und Recht Deutsches Verwaltungsblatt
ED EDU
Deutsche Verwaltungspraxis (Zeitschrift) Datenverarbeitung im Recht Amtliche Sammlung der Entscheidungen des jeweils angesprochenen Gerichts Erkennungsdienst, erkennungsdienstlich Europäische Drogennachrichteneinheit
EDV
Elektronische Datenverarbeitung
EGIS
Programm der Inneren Sicherheit in Europa
E
Abkürzungsverzeichnis EGV
EKA EuGH EUGRZ EUROPOL EUV EuZW f. FARS
FDR ff. Fußn.
G GA GAN GBI GDVP GEDPol
GG ggf. GMBI GVBI. h.M. HarnbDVPolG HarnbSOG HEPOLIS Hess. HessVGH Hrsg. HSOG i.d.F. i.d.R. i.E. i.e.S. i. S.d. i.V.m. i.w.S. IKPK IMK inkl. INPOL
43
EG-Vertrag Europäisches Kriminalamt Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europäisches Polizeiamt Europäischer Unionsvertrag Europäische Zeitschrift für Wirtschaft folgende Fingerabdruck-Registriersystem Falldatei Rauschgift fortfolgende Fußnote Gesetz Goltdammers Archiv für Strafrecht Grenzaktennachweis Gesetzblatt Gesetz über die Datenverarbeitung der Polizei Gesetz zur Fortentwicklung des Datenschutzes im Bereich der Polizei und der Ordnungsbehörde Grundgesetz gegebenenfalls Gemeinsames Miniterialblatt Gesetz- und Verordnungsblatt herrschende Meinung Gesetz über die Datenverarbeitung der Polizei in Harnburg Harnb. Gesetz über die Sicherheit und Ordnung Hessisches Polizeiinformationssystem Hessen, hessisch Hessischer Verwaltungsgerichtshof Herausgeber Hessisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Orndung in der Fassung in der Regel im Ergebnis im engeren Sinne im Sinne der in Verbindung mit im weiteren Sinne Internationale Kriminalpolizeiliche Kommission Ständige Konferenz der Innenminister/-senatoren des Bundes und der Länder inklusive Informationssystem der Polizei
44
Abkürzungsverzeichnis
INTERPOL IuK JuS JZ
Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation Information und Kommunikation Juristische Schulung Juristenzeitung
KAN
Kriminalaktennachweis Kraftfahrzeug Kammergericht Karlsruher Kommentar Richtlinien für die Führung kriminalpolizeilicher personen bezogener Sammlungen Kritische Justiz Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Landgericht Buchstabe
Kfz KG KK KpS-Richtlinien KritJ KritV LG lit. Lit.
LKA LSA LSASOG m.E. m.w.N. MABI. MADG MBI MDR MEPolG MV
n.P. Nds NdsSOG NGefAG NJ NJW Nr., Nm. NRW,NW NSIS NStZ NVwZ NWOBG NWPolG
o
Literatur Landeskriminalamt Land Sachsen-Anhalt Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Landes SachsenAnhalt meines Erachtens mit weiteren Nachweisen Ministerial- und Amtsblatt Gesetz über den Militärischen Abschirmdienst Ministerialblatt Monatsschrift für Deutsches Recht Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder Mecklenburg-Vorpommern neue Fassung Niedersachsen, niedersächsisch Niedersächsisches Gesetz über die Sicherheit und Ordnung Niedersächsisches Gefahrenabwehrgesetz Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift Nummer(n) Nordrhein-Westfalen, nordrhein-westfälisch nationales Schengener Informationssystem Neue Zeitschrift für Strafrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Nordrhein-Westfälisches Gesetz über Aufbau und Befugnisse der Ordnungsbehörden Polizeigesetz von Nordrhein-Westfalen Ordnung
Abkürzungsverzeichnis
45
o.
oben
o.V. ÖVD
ohne Verfasser Öffentliche Verwaltung und Datenverarbeitung
OK OLG
Organisierte Kriminalität Oberlandesgericht
OVG PAD
Oberverwaltungsgericht Personenauskunftsdatei
PAGDDR
Polizeiaufgabengesetz der (ehemaligen) DDR
PAG
Polizeiaufgabengesetz
Palandt
PED
Bürgerliches Gesetzbuch, bearbeitet von Peter Bassenge / Wolfgang Edenhofer / Andreas Heldrich / Uwe Diedrichsen / Helmut Heinrichs / Hans Putzo / Heinz Thomas Polizeiliche Erkenntnisdatei
PERES PFA
Personenerkennungssystem Schriftenreihe der Polizei-Führungsakademie
PlKAS
pros
POG PolG PolG-DDR pr., Pr. PrALR
Polizeiliches Informations-, Kommunikations- und Auswertungssystem Personen, Institutionen, Objekte, Sachen Polizeiorganisationsgesetz Polizei gesetz Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Polizei vom 13. September 1990 preußisch, Preußen
PrOVG
Preußisches allgemeines Landrecht Preußisches Oberverwaltungsgericht
Rdnr.
Randnummer
RG RhPf., rhpf., RP
Reichsgericht Rheinland-Pfalz, reheinland-pfälzisch
RiS RiStBV
Recht auf informationelle Selbstbestimmung Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren
Rspr.
Rechtsprechung
RuP s.o. Saarl, saar!.
Recht und Politik siehe oben Saarland, saarländisch Polizeiverwaltungsgesetz des Saarlandes
Saar!.PVG Sächs. SächsVB!. Schengen I
Schengen II
Sachsen, sächsisch Sächsische Verwaltungsblätter Übereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der BeneluxWirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 14. 6. 1985 Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Sehengen vom 14. 6. 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der BeneluxWirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französi-
46
SchIH, SH SHLVwG SIRENE SIS SOG SOGMV SPolG SPUDOK st.Rspr. StGB StPO str. StrlSchVO TREVI u. u.a. umstr. unstr. Urt. usw. VBIBW VEME PolG VersG VerwAreh VG VGH vgl. VO VoPoG VR VVDStRL VwGO VwVfG z.B. z.Z. ZEVIS ZPO
Abkürzungsverzeichnis schen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 19. 6. 1990 Schieswig-Hoistein Allgemeines Verwaltungsgesetz für das Land Schieswig-Hoistein Supplementary Information Request at the National Entry Schengener Informationssystem Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in MecklenburgVorpommern Saarländisches Polizeigesetz Spurendokumentation ständige Rechtssprechung Strafgesetzbuch Strafprozeßordnung streitig Verordnung üver den Schutz vor Schäden durch Strahlen radioaktiver Stoffe terrorisme, radicalisme, extremisme, violence internationale unten und andere umstritten unstreitig Urteil du so weiter Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg Vorentwurf zur Änderung des Musterentwurfs eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder Versammlungsgesetz Verwaltungsarchiv Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vergleiche Verordnung Volkspolizeigesetz Verwaltungsrundschau (Zeitschrift) Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz (des Bundes bzw. der Länder) zum Beispiel zur Zeit Zentrales Verkehrsinformationssystem Zivilprozeßordnung
Erster Teil
Die polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge national und international Bestandsaufnahme und Grundlegung Das "Volkszählungs"-Urteil des BVerfG' und der von ihm auch im Bereich der Polizei ausgelöste "Verrechtlichungsschub", der sich in Novellen der Polizeigesetze der Länder und des Bundes sowie in Korrekturen der StPO niederschlug, stellt allenfalls eine Etappe, nicht aber den Endpunkt der Entwicklung der polizeilichen Gefahren- und Informationsvorsorge dar. Die Vorläufigkeit des status quo ergibt sich dabei im wesentlichen aus zwei Gründen: Zum einen stößt der derzeitige Stand der Rechtsnormen über die polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge kaum auf Zustimmung, sondern auf vielfache und weitreichende Kritik; dies insbesondere auch deshalb, weil der Vorsorgebegriff, im positiven Recht allgemein und im Polizeirecht im besonderen, umstritten ist. Zum anderen zeichnet sich der Weg zu einer langsam, aber stetig fortschreitenden Europäisierung des Polizeirechts ab.
§ 1 Erscheinungsformen der polizeilichen Gefahren- und Informationsvorsorge Der polizeirechtliche Vorsorgebegriff ist trotz der vom "Volkszählungs"-Urteie ausgelösten Diskussion und der sich anschließenden Verrechtlichung nach wie vor umstritten.
A. Der Begriff der Gefahren- und Informationsvorsorge Die Forderung nach einer "Gefahren-" bzw. "Informationsvorsorge" erfreut sich in jüngerer Zeit starker Verbreitung. Gesetzgeber, Juristen und Politiker erheben sie ebenso wie (Natur-)Wissenschaftler. Dabei stehen sich die VerwendungshäufigI
2
BVerfGE 65,1 ff. BVerfGE 65, 1 ff.
48
Erster Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
keit und Klarheit des Begriffs "Gefahren-" bzw. "Infonnationsvorsorge" diametral entgegengesetzt gegenüber. Eine eindeutige, aus sich selbst heraus verständliche Definition dessen, was Gefahrenvorsorge ist, wird kaum geboten. Die Polizeigesetze erwähnen die Gefahrenvorsorge zwar nunmehr bei der Definition des polizeilichen Aufgabenbereichs, definieren sie aber nicht. Daher kann zwar das Verhältnis zwischen polizeilicher Infonnationsvorsorge und polizeilicher Gefahrenvorsorge hinreichend zuverlässig bestimmt werden. Die polizeiliche Infonnationsvorsorge ist nämlich Teil der polizeilichen Gefahrenvorsorge, die polizeiliche Gefahrenvorsorge ihrerseits Teil eines allgemeinen Vorsorgeprinzips. Eine ausreichend klare Definition der polizeilichen Gefahren- bzw. Infonnationsvorsorge fehlt indessen.
I. Vorschläge zur Definition der Gefahren- bzw. Informationsvorsorge Die zahlreichen Vorschläge zur Eingrenzung des Begriffs "Gefahrenvorsorge" können in drei Gruppen unterteilt werden: Während einige versuchen, aus dem Verhältnis von Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge eine Definition der Gefahrenvorsorge abzuleiten, stellen andere auf die Funktion der Gefahrenvorsorge ab. Darüber hinaus wird versucht, den Begriff der Gefahrenvorsorge durch seine Beschränkung auf den jeweiligen Themenbereich einzugrenzen.
1. Das Verhältnis von Gefahrenvorsorge und Gefahrenabwehr als Grundlage einer Begriffsbestimmung Die meisten Versuche einer Begriffsbestimmung stellen auf das Verhältnis von Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge ab 3 . So wird etwa ausgeführt, die Gefahrenvorsorge bewege sich im Vorfeld der Abwehr konkreter Gefahren und könne noch unter die Zielsetzung der Gefahrenabwehr subsumiert werden4 . Diese Definition lehnt sich im Bereich der Polizei augenscheinlich an den "Vorentwurf zur Änderung des Musterentwurfs eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder (VE ME PoIG)"s an, der in § I I VE ME PolG folgenden Inhalt für die
Dazu zusf. C. Illig, Das Vorsorgeprinzip im Abfallrecht, 1992, S. 9. Siehe z. B. W.-R. Schenke, in: Udo Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 5. Auf!. 1995, II Rdnr. 81 5 Abgedruckt z. B. bei H. Wagner, Kommentar zum Polizeigesetz von Nordrhein-Westfalen und zum Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder, 1987, vor § 8 Rdnr. 111; E. Weßlau, Vorfeldermittlungen, 1989, S. 340ff. Eine Einfügung der vom VE ME PolG vorgeschlagenen Änderungen (ohne Alternativen) in den ME PolG findet sich bei W.-R. Schenke, in: Udo Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 5. Auf!. 1995, II Anhang und bei F.-L. Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Auf!. 1995, Rdnr. 409. 3 4
§ 1 Erscheinungsfonnen
49
polizeiliche Aufgabenzuweisung vorschlägt: "Die Polizei hat die Aufgabe, Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Sie hat im Rahmen dieser Aufgabe auch für die Verfolgung von Straftaten vorzusorgen und Straftaten zu verhüten (vorbeugende Bekämpfung von Straftaten) sowie Vorbereitungen zu treffen, um künftige Gefahren abwehren zu können (Vorbereitung auf die Gefahrenabwehr)." Gefahrenvorsorge ist danach die Summe der polizeilichen Maßnahmen zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten und derjenigen zur Vorbereitung auf die Gefahrenabwehr. Damit wird zwar zum Ausdruck gebracht, daß die Gefahrenvorsorge ein Bestandteil der Gefahrenabwehr ist. Die nähere Beschreibung dieses, von der Gefahrenvorsorge umfaßten Teils bleibt indessen weiter offen und wird auch durch die vorgeschlagene Einführung der Legaldefinitionen "vorbeugende Bekämpfung von Straftaten" und "Vorbereitung auf die Gefahrenabwehr" nicht hinreichend konkretisiert. Überdies ist die Qualifizierung der Gefahren- und Informationsvorsorge als Teil der Gefahrenabwehr mindestens zweifelhaft.
2. Funktionsbezogene Abgrenzungsversuche
Weitere Umschreibungen versuchen zusätzlich eine funktionale Abgrenzung der Gefahrenvorsorge. Dabei wird z. B. die Gefahrenvorsorge dem Makro-, die Gefahrenabwehr dagegen dem Mikrobereich staatlicher Steuerung zugeordnet6 . Andere verstehen die Gefahrenvorsorge als Instrument einer präventiven rechtlichen Vorfeldsteuerung, das die Unsicherheit der Handlungsgrundlagen kompensieren und dem Entstehen von Gefahrenlagen entgegenwirken sole. Diese Begriffsbestimmung erscheint insofern zu eng, als die Gefahrenvorsorge nicht nur Gefahrenlagen vermeiden, sondern auch auf die Bekämpfung gleichwohl entstehender Gefahren vorbereiten soll. . Mit diesen Versuchen, die Gefahrenvorsorge funktional abzugrenzen, wird der Blick gleichzeitig auf eine der vielfältigen, sich gegenseitig kumulierenden Ursachen für die Unschärfe des Begriffs der Gefahrenvorsorge gelenkt. Diese Definitionsversuche zeigen nämlich, daß die näheren Konturen und das wechselseitige Verhältnis von Gefahrenvorsorge, Gefahrenabwehr und Prävention ebenso ungeklärt sind wie die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Vorsorge sowie deren Umsetzung durch den Gesetzgeber und die Verwaltung.
6 K.-H. Friauf, in: Schmidt-Aßmann, Besonderes Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 1995, 11 Rdnr.4 7 H.-H. Trute, Vorsorgestrukturen und Luftreinhalteplanung im Bundesimmissionsschutzgesetz, 1989, S. 353.
4 Aulehner
50
Erster Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
3. Die Beschränkung des Begriffs der Gefahrenvorsorge auf den jeweiligen Themenbereich
Vielfach beschränken sich die Definitionsversuche auch auf einzelne Spezialgesetze, z. B. das Bundesimrnissionsschutzgesetz8 , und vermeiden so eine allgemeine Umschreibung. Mit dieser Restriktion der Definition auf das jeweilige Spezialgesetz werden weitere Unwägbarkeiten der Begriffsbestimmung umgangen: Von Gefahrenvorsorge wird nämlich keineswegs nur im allgemeinen Polizeirecht9 , sondern insbesondere auch im Umwelt-, im Wirtschafts- und im Sozialrecht gesprochen. Dabei ist es weder von vorneherein selbstverständlich noch wurde bislang nachgewiesen, daß der Begriff Gefahrenvorsorge über die datnit erfaßten, äußerst unterschiedlichen Sachmaterien hinweg einen identischen Inhalt hat. Die Anwendung des Begriffs Gefahrenvorsorge in unterschiedlichen Sachbereichen spiegelt sich auch in der Vielzahl ähnlicher Bezeichnungen wider, die sich dem Regelungsinhalt der jeweiligen Materie annähern. Genannt seien hier nur "Umwelt- "Gesundheits- "Wasser- "Strahlenschutz- "Daseinsund "Informationsvorsorge"ll. Darüber hinaus kommen dem Vorsorgeprinzip sehr unterschiedliche Dimensionen zu, welche die Vorsorge jeweils anderen Voraussetzungen unterwerfen und jeweils verschiedene Mittel bereitstellen: Vorsorge ist nicht nur ein gesetzlicher Grundsatz 12, sondern darüber hinaus sowohl ein allgemeines rechtliches 13 als auch ein politisches Prinzip l4. Als gesetzlichem Grundsatz kommt dem Vorsorgeprinzip nur eine sehr beschränkte Aussagekraft zu. Die Zuordnung bestehender Vorschriften zur Vorsorge ist eine bloße Norrninterpretation. Die Ausprägung der Vorsorge H
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8 H.-H. Trute, Vorsorgestrukturen und Luftreinhalteplanung im Bundesimmissionsschutzgesetz, 1989, insb. S. 353; Drews/WackeNogellMartens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, S. 160; U. Rid, Die Vorsorgepflicht bei genehmigungsbedürftigen Anlagen im Bundes-Immissionschutzgesetz, 1985, insb. S. 306; E Hansen-Dix, Die Gefahr im Polizeirecht, im Ordnungsrecht und im Technischen Sicherheitsrecht, 1982, S. 212ff., 216ff. - Näher zur Regelung im BlmSchG vgl. unten unter § 2. D. I. 2. 9 ,,Polizei" wird hier vorrangig nach dem institutionellen bzw. organisatorischen Polizeibegriff als Vollzugspolizei verstanden (zu den heute unterscheidbaren Polizeibegriffen [formeller, materieller und instutioneller bzw. organisatorischer Polizeibegriff] siehe z. B. Drews/WackeNogellMartens, Gefahrenabwehr, 9. Auf!. 1986, S. 33 ff.; V. Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 12. Aufl. 1995, Rdnrn. 6ff.; E-L. Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl. 1995, Rdnrn. 13 ff.; W-R. Schenke, in: U. Steiner [Hrsg.], Besonderes Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 1995, 11 Rdnrn. I ff.). Viele der Ausführungen sind jedoch auch auf die Sicherheits- bzw. Ordnungsbehörden übertragbar. 10 Siehe die Aufzählung bei A. Reich, Gefahr - Risiko - Restrisiko, 1989, S. 8 f. m.w.N. 11 ScholzlPitschas, Inforrnationelle Selbstbestimmung und staatliche Inforrnationsverantwortung, 1984, S. 103 ff. 12 Siehe dazu § 7 11 Nr. 3 AtG; 5 I Nr. 2, 3 BlmSchG; la, 3113, 14 AbfG; 2 I Nr. 2, 3, 8 11, III BNatSchG; la I, 7a WHG sowie unten im Text unter § 2. 13 E Ossenbühl, NVwZ 1986,161 ff. 14 H.-H. Trute, Vorsorgestrukturen und Luftreinhalteplanung im Bundesimmissionsschutzgesetz, 1989, S. 6.
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als Rechtsprinzip ist mangels 15 einer vergleichenden Untersuchung der Ausgestaltungen in den einzelnen Gesetzen weitgehend konturenlos. Das politische Prinzip Vorsorge schließlich umfaßt einen das Recht weit überschreitenden Formenreichtum 16 .
11. Ursachen für die Unschärfe des Begriffs der Gefahrenvorsorge Ein - neben den schon angeführten Ursachen - weiterer Grund für das Begriffsproblem ergibt sich aus der Verschwommenheit der Elemente "Gefahr" und "Vorsorge", die sich in der Wortzusammensetzung "Gefahrenvorsorge" fortsetzt. Unter Gefahr ist zwar nach einer weitgehend anerkannten Definition eine Lage zu verstehen, in der bei ungehindertem Ablauf des Geschehens ein Zustand oder ein Verhalten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für ein Schutzgut führen würde 17 . Gleichwohl birgt auch der Gefahrbegriff erhebliche Unwägbarkeiten, die sich mit den Stichworten Gefahrenverdacht, Anscheins-, Putativ- und der (nur im Ordnungsrecht relevanten) latenten Gefahr andeuten lassen. Diese werden durch das Streichen der "öffentlichen Ordnung" als Schutzgut in einigen Bundesländern und durch die Vorverlagerung der Eingriffsschwelle verstärkt. Die Ausdehnung des Grundrechtseingriffs wirkt sich mittelbar auf den Gefahrbegriff aus, weil teilweise versucht wird, die forcierte Annahme eines Eingriffs durch eine Ausdehnung der Befugnisnormvoraussetzungen, u.a. des Gefahrbegriffs, zu kompensieren. Insbesondere im Umweltrecht muß die Gefahr darüber hinaus vom Risiko und Restrisiko unterschieden werden. Das zweite Element der Wortzusammensetzung, die "Vorsorge", birgt schon deshalb Unklarheiten, weil sie einen außerhalb des Wortes stehenden Bezugspunkt erfordert. Dabei ergibt sich - so wird vielfach vorgetragen -, daß die schon angeführten Wortkombinationen in zwei Gruppen geteilt werden können. Während "Umwelt-", "Gesundheits-", "Wasser-", "Daseins-" und "Informationsvorsorge" jeweils angeben, wofür Vorsorge zu tragen ist, ist dies für die "Strahlenschutzvorsorge" jedenfalls zweifelhaft 18 , für die Gefahrenvorsorge sicher zu verneinen. Der Begriff der Gefahrenvorsorge ist daher aus der Perspektive der Wortlautinterpretation grundsätzlich abzulehnen 19 , zumal "Vorsorge" auch in älteren Gesetzen 20 im Sinne von "Sorge tragen für" verwendet wurde 21 . Ausnahme: E Ossenbühl, NVwZ 1986,161 ff. Vgl. zur Vorsorge im Umweltrecht und in der Umweltpolitik H.-H. Trute, Vorsorgestrukturen und Luftreinhalteplanung im Bundesimmissionsschutzgesetz, 1989, S. 6ff. 17 Vgl. z. B. DrewslWackeNogeUMartens, Gefahrenabwehr, 9. Auf!. 1986, S. 220; M. Ronellenfitsch, Das atomrechtliche Genehmigungsverfahren, 1983, S. 244 jeweils m.w.N. 18 Speziell hierzu A. Reich, Gefahr - Risiko - Restrisiko, 1989, S. 9. 19 A. Kowa1czyk, Datenschutz im Polizeirecht, 1989, S. 103 ff. im Anschluß an E-L. Knemeyer, VVDStRL 35 (1977), 219 (232 m. Fußn. 30). 15
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Erster Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
Darüber hinaus hat der Begriff "Vorsorge" im Recht eine wechselnde Akzentuierung erfahren. Während "Daseinsvorsorge" zunächst als "Daseinsfürsorge" im Sinne einer Verantwortlichkeit für die materiellen Lebensbedingungen der Bürger verstanden wurde, gewann der Vorsorgebegriff die ihn heute charakterisierende Ausrichtung auf die Zukunft erst später. Zum rechtlichen Prinzip avancierte Vorsorge erst in jüngerer Zeit und namentlich im Umweltrecht22 .
III. Gründe für ein - jedenfalls vorläufiges - Festhalten am Begriff der Gefahren- bzw. Informationsvorsorge - Arbeitsdefinition 1. Der Begriff" Gefahrenvorsorge "
Statt der Bezeichnung Gefahrenvorsorge wird ein ganzer Kanon alternativer Begriffe angeboten 23 : Neben der Bezeichnung als "neue Methoden der Verbrechensbekämpfung", "operative Arbeit,,24 oder "Kontrolle im Vorfeld" werden "vorbeugende Verbrechensbekämpfung" und "proaktive Polizei" ebenso vorgeschlagen wie "antizipierte Strafverfolgung,,25 oder "dritte Dimension der Kriminalitätsbekämpfung,,26. Diese Ausdrücke sind größtenteils entweder inhaltslos oder stellen bereits eine rechtliche Qualifizierung dar. Als "neue Methoden der Verbrechens bekämpfung" können zum Beispiel nicht nur polizeiliche Maßnahmen, sondern auch ein völlig anders geartetes Vorgehen wie Sozialarbeit, Stadtgestaltung etc. verstanden werden. "Antizipierte Strafverfolgung" und "dritte Dimension der Kriminalitätsbekämpfung" beinhalten demgegenüber bereits eine rechtliche Bewertung, die zunächst weder bestätigt noch abgelehnt werden kann. Die aus dem technischen Sicherheitsrecht stammenden Begriffe "Risikovorsorge", "Sicherheitsvorsorge,,27 oder nur "Vorsorge,,28 lassen gegenüber dem Begriff Gefahrenvorsorge keine Vor20 Vgl. z. B. § 13 Nr. 2 der preußischen ,,verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzial-Behörden" vom 30. 4. 1815 (abgedruckt in: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1815, Nr. 9, S. 85 ff.). 21 Ähnlich zum Begriff der Vorsorge C. Illig, Das Vorsorgeprinzip im Abfallrecht, 1992, S.7. 22 U. K. Preuß, in: D. Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 523 ff., 537 f. 23 Eine Aufzählung findet sich z. B. bei E. Weßlau, Vorfeldermittlungen, 1989, S. 25. 24 So insbesondere A. Stümper, Kriminalistik 1975,49 (50). 25 So die von E. Weßlau, Vorfeldermittlungen, 1989, S. 335 f. favorisierte Bezeichnung. 26 Zusammenfassend zur polizeilichen Vorfeldarbeit W. Jaeger, Der Kriminalist 1996, 329/377 ff. 27 R. Pitschas, PFA 4/92, S. 29 ff. verwendet den Terminus "Sicherheitsvorsorge" ohne Beschränkung auf den technischen Kontext, sondern allgemein und im Zusammenhang mit "Freiheitsvorsorge" . 28 Siehe die Zusammenstellung bei C. Schröder, Vorsorge als Prinzip des Immissionsschutzrechts, 1987, S. 136 m.w.N.
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züge erkennen. Die Bezeichnung "Risikovorsorge" beruht auf der schon angedeuteten und noch näher darzustellenden abweichenden Unterscheidung zwischen Gefahr und Risiko statt zwischen Gefahr, Risiko und Restrisiko. ,,sicherheitsvorsorge" und "Vorsorge" sind demgegenüber und verglichen mit dem Begriff "Gefahrenvorsorge" noch weniger aussagekräftig. Daher wird der Begriff Gefahrenvorsorge im Rahmen dieser Arbeit trotz seiner aufgezeigten Schwächen zunächst weiterverwendet, zumal die Lösung von Sachfragen nicht von Definitionen abhängt, sondern diese sie allenfalls erschweren oder erleichtern können. Zudem können die aus der grammatikalischen Auslegung abgeleiteten Bedenken nicht geteilt werden. Die Verkürzung des Ausdrucks "Sorge tragen für die Verhinderung von Gefahren" zu Gefahrenvorsorge erscheint aus der Sicht der Sprachentwicklung nicht als ungewöhnlich 29 .
2. "Polizeiliche lnfonnationsvorsorge" - Arbeitsdefinition Diese Einwände und Bedenken gelten entsprechend für Versuche, wenigstens Teile der Gefahrenvorsorge näher zu umschreiben. R. Pitschas definiert die hier speziell interessierende polizeiliche Informationsvorsorge als "Gesamtheit derjenigen Tatigkeiten, die in Sicherung der für die Gefahrenabwehr, -erforschung und vorsorge sowie für die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten erforderlichen Informationen von den Polizei behörden mittels Einsatz entsprechender Informationsquellen, unter Knüpfung polizeiübergreifender ,Informationsnetze' sowie mittels Einsatz der modemen IuK-Technik verrichtet werden,,3o. Diese Definition zeichnet sich einerseits durch erhebliche Vorteile aus, ist aber andererseits ebenso wie die schon geschilderten Versuche, die Gefahrenvorsorge einzugrenzen, auch durch gravierende Nachteile gekennzeichnet. Ein wesentlicher Vorzug dieser Definition liegt in ihrer Offenheit gegenüber jeglichem präventivpolizeilichen Handeln. Erfaßt wird die polizeiliche Informationstätigkeit unabhängig davon, ob sie zur Gefahrenabwehr, Gefahrenvorsorge oder im Rahmen der Gefahrerforschung erfolgt. Diese Eingrenzung ermöglicht es daher, ein einheitliches, das präventiv-polizeiliche Handlungsspektrum übergreifendes Informationsrecht auszudifferenzieren. Darüber hinaus beinhaltet diese Begriffsbestimmung eine realitätsnahe Umschreibung der unter der polizeilichen Informationsvorsorge zusammengefaßten Tatigkeiten. Diesen wesentlichen Vorteilen stehen indessen nicht weniger gravierende Nachteile gegenüber, die teilweise gerade die Kehrseite der Vorteile markieren. Insbesondere ist trotz der Kompliziertheit der Definition die Abgrenzung der polizeili29 Siehe z. B. § 13 Nr. 2 der preußischen "Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzial-Behörden" vom 30.4. 1815 (abgedruckt in: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1815, Nr. 9, S. 85 ff.), der von der "Vorsorge zur Abwendung allgemeiner Beschädigungen ... " spricht. 30 R. Pitschas, PFA 4/91, S. 7 ff., 9.
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Erster Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
chen Informationsvorsorge nicht vollständig klar. Ob die einzelnen Kriterien kumulativ oder alternativ vorliegen müssen, ist jedenfalls nicht ohne weiteres erkennbar. Darüber hinaus wird die herkömmliche Differenzierung zwischen Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge - wie sie insbesondere aus dem technischen Sicherheitsrecht bekannt ist - aufgehoben. Für die hiesige AufgabensteIlung ist diese Definition zu kompliziert und beinhaltet überdies eine Vorwegnahme des Ergebnisses. Die Übernahme oder Ablehnung dieser Begriffsbestimmung kann allenfalls ein Ergebnis dieser Arbeit, nicht aber die Abgrenzung ihres Themenbereichs darstellen. Als Arbeitsdefinition wird daher die sog. Vorfelddefinition gewählt, derzufolge Gefahrenvorsorge alle diejenigen Maßnahmen der Polizei urnfaßt, die im Vorfeld einer von den Polizeigesetzen vorausgesetzten konkreten Gefahr und eines hinreichenden Tatverdachts im Sinne der Strafprozeßordnung getroffen werden. Polizeiliche Informationsvorsorge liegt vor, wenn die Gefahrenvorsorge durch eine polizeiliche Informationstätigkeit erfolgt. Diese Interpretation wird insbesondere dem Wortsinn insofern gerecht, als "Vorsorge" nicht erst die Abwehr entstandener, sondern schon die Vermeidung künftiger Gefahren meint 31 •
B. Die Situation der Polizei - der Versuch einer Bestandsaufnahme Nach den vorausgegangenen allgemeineren Überlegungen zur Gefahrenvorsorge ist nunmehr auf die polizeiliche Gefahrenvorsorge detaillierter einzugehen. Dabei sind zunächst die Gründe für deren Erforderlichkeit darzulegen und die derzeitige Normierung sowie deren Vollzug zu untersuchen. Die vorrangig zu beantwortende Frage nach der Notwendigkeit einer polizeilichen Gefahrenvorsorge hängt wiederum von der tatsächlichen Situati~n der polizeilichen Verbrechensbekämpfung ab 32 .
I. Die zahlenmäßige Entwicklung der Gesamtkriminalität Ausweislich der polizeilichen Kriminalstatistik für das Jahr 1995 33 steigt langfristig 34 betrachtet die Zahl der bekanntgewordenen Straftaten stetig an: 2,4 Mio. 31 So zur Vorsorge im Atomrecht M. Ronellenfitsch, Das atomrechtliche Genehmigungsverfahren, 1983, S. 236. 32 Vgl. zum folgenden auch die Situationsbeschreibung bei R. Pitschas, PFA 1/95, S. 71 ff. sowie Bundesministerium des Innem, in: das. (Hrsg.), Aspekte der Inneren Sicherheit, 1996, S. 25 ff. 33 Abgedruckt in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Bulletin Nr. 37/S. 369 v. 10. 5. 1996. Ausführlich zum Lagebild der Kriminalitätsentwicklung P. Poerting, in: R. Pitschas (Hrsg.), Politik und Recht der inneren Sicherheit in Mittel- und Osteuropa, 1996, S. 35 ff.
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Fällen im Jahr 1970 stehen im Jahr 1995 5,2 Mio. Fälle in den alten Bundesländern einschließlich Gesamt-Berlin und 6,6 Mio. Fälle in der gesamten Bundesrepublik gegenüber. Diese mehr als Verdreifachung kann nicht durch die Bevölkerungsentwicklung oder die Wiedervereinigung erklärt werden, da die Zahl der Einwohner im gleichen Zeitraum nur von 61,5 Mio. auf 67,3 Mio. Einwohner in den alten Bundesländern einschließlich Gesamt-Berlin bzw. auf 81,5 Mio. Einwohner in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt, d. h. auf das 1,1-fache bzw. 1,3-fache anstieg. Dabei nahmen einige Straftaten 1995 im Vergleich zu 1994 besonders stark zu. Rauschgiftdelikte hatten einen Anstieg von 19,7 %, Taschendiebstähle von 13,3 % und Gewaltkriminalität von 18,9 % zu verzeichnen. Die Gesamtaufklärungsquote sank dabei von 48,3 % im Jahr 1970 und 47,9 % in den alten Bundesländern einschließlich Gesamt-Berlin bzw. 46,0 % in der gesamten Bundesrepublik im Jahre 1995. Aufklärungsquoten von 15,1 % für Wohnungseinbriiche, 21,7 % für den Diebstahl von Kraftfahrzeugen, 24,0 % für Sachbeschädigung, 36,1 % für vorsätzliche Brandstiftung und 45,8 % für Raub jeweils im Jahre 1995 lassen manche Straftaten für Täter schon nahezu risikolos erscheinen. Auf die mit der polizeilichen Kriminalstatistik allgemein verbundenen Schwierigkeiten kann hier nur kurz hingewiesen werden 35 : In der polizeilichen Kriminalstatistik werden - unter Beschränkung auf die in der Statistik festgelegten Merkmale - alle der Polizei bekanntgewordenen Straftaten zusammengestellt. Die polizeiliche Kriminalstatistik enthält dabei schon aufgrund ihrer Erfassungskriterien weder Verkehrs- und Staatsschutzdelikte 36 noch im Ausland begangene Straftaten. Insoweit kann sie ihren Zweck, für eine effektive Kriminalitätsbekämpfung ein überschaubares und möglichst verzerrungsfreies Bild der angezeigten Kriminalität zu liefern - insbesondere die Kriminalität und einzelne Deliktsarten, den Umfang und die Zusammensetzung des Tatverdächtigenkreises sowie die Veränderung der Kriminalitätsquotienten zu beobachten und Erkenntnisse für vorbeugende und verfolgende Verbrechens bekämpfung, organisatorische Planungen und Entscheidungen sowie kriminologisch-soziologische Forschungen und kriminalpolitische Maßnahmen zu erlangen - schon definitionsgemäß nicht erfüllen. Bekanntgeworden und in die Kriminalstatistik aufzunehmen sind die in deren Katalog aufgeführten vollendeten und - wenn der Versuch mit Strafe bedroht ist - versuchten Straftaten. In der Kriminalstatistik wird damit insbesondere die nicht angezeigte und nicht entdeckte Kriminalität vernachlässigt37 . Auch Straftaten, von denen nur vage, 34
Eine Kontinuität der Kriminalität erkennt H.-J. Kerner, Neue Kriminalpolitik 1996,
44ff. 35 Vgl. dazu z. B. J.-M. Jehle, Neue Kriminalpolitik 1994, 22 ff.; K. Boers, Neue Kriminalpolitik 1994, 27 ff.; PfeifferlWetzels, Neue Kriminalpolitik 1994, 32 ff. 36 Verkehrsdelikte sind dabei auch die Fahrlässigkeitsdelikte bei Verkehrsunfällen, nicht aber Verstöße gegen die §§ 315, 315b StGB, § 22a StVG. 37 Die Schätzungen über den Umfang der nicht angezeigten und nicht endeckten Straftaten differieren stark. Genannt werden Relationen zwischen 1:7 bis 1:32. Vgl. dazu T. Feites, Neue Kriminalpolitik 1990, 32ff. in Fußn. 17; U. Eisenberg, Kriminologie, 2. Auf!. 1985, § 16.
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Erster Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
nicht überprüfbare Angaben des Tatverdächtigen vorliegen, dürfen nicht aufgenommen werden. Erforderlich sind vielmehr hinreichend konkrete Angaben über Tatbestand, Tatort und Tatzeit. Die schematische Erfassung anhand gesetzlicher Tatbestände kann deliktsübergreifende Erscheinungsformen, wie z. B. die organisierte Kriminalität, nicht ausweisen. Außerdem ist jede im Rahmen eines Ermittlungsvorganges bekanntgewordene Straftat, ohne Rücksicht auf die Zahl der Geschädigten, ebenso wie mehrere in Tateinheit begangene rechtswidrige Taten, als ein Fall zu erfassen. Berücksichtigt wird darüber hinaus allein der Erkenntnisstand der Polizei bei Abgabe der Ermittlungen an die Staatsanwaltschaft 38 . Aufgeklärt sind dabei schon die Straftaten, die nach dem polizeilichen Ermittlungsergebnis durch einen namentlich bekannten oder auf frischer Tat ertappten Tatverdächtigen begangen wurden. Diese Unzulänglichkeiten der Kriminalstatistik setzen sich in den Unsicherheiten der Kriminalitätsprognose fort. Letztere läuft Gefahr, aus der schon unsicheren Informationsgrundlage vereinfachte und damit falsche Schlüsse zu ziehen und steht insbesondere vor einem methodischen Dilemma. Sie kann sich nämlich einerseits nicht auf eine lineare Fortschreibung der Kriminalitätsentwicklung in der Vergangenheit beschränken. Denn dann würde sie sich dem Vorwurf aussetzen, die aktuelle gesellschaftliche, technische und wirtschaftliche Entwicklung nicht zu berücksichtigen. Bezieht sie hingegen andererseits letztere in ihre Betrachtungen mit ein, steht sie vor der nahezu unerfüllbaren Notwendigkeit, die einzelnen Faktoren ermitteln und auf ihre Relevanz und relative Bedeutung hin untersuchen zu müssen39 • Wenngleich die polizeiliche Kriminalstatistik und -prognose deshalb und aus weiteren hier nicht abschließend darstellbaren Gründen 40 zugegebenermaßen nur ein vergröbertes Bild der Kriminalitätsentwicklung liefern, kann ein Ansteigen der Gesamtkriminalität bei langfristiger Betrachtung nicht geleugnet werden41 • Ein entsprechender Befund ergibt sich europaweit. Auch in den übrigen EG-Mitgliedstaaten ist die Entwicklung durch eine steigende Kriminalität bei sinkenden Aufklärungsquoten gekennzeichnet 42 •
38 Innenministerkonferenz, Bericht zur Polizeilichen Kriminalstatistik 1995, abgedruckt in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Bulletin Nr. 37/S. 369 v. 10. 5. 1996, S. 369 f. - Ausführlich U. Eisenberg, Kriminologie, 2. Aufl. 1985, § 17. 39 R. Rupprecht (Hrsg.), Polizei-Lexikon, 1986, Stichwort Kriminalitätsprognose; U. Eisenberg, Kriminologie, 2. Aufl. 1985, § 18 m.w.N. 40 Vgl. z. B. auch C. Pfeiffer, Neue Kriminalpolitik 1990, 4f. noch zur Kriminalstatistik 1988. 41 Ebenso R. Pitschas, in: ders. (Hrsg.), Politik und Recht der inneren Sicherheit in MitteIund Osteuropa, 1996, S. 1 ff., 3. 42 RupprechtlHellenthal, in: dies., Innere Sicherheit im Europäischen Binnenmarkt, 1992, S. 23 ff., 103 ff.; SimitisfFuckner, in: RupprechtlHellenthal, Innere Sicherheit im Europäischen Binnenmarkt, 1992, S. 337 ff., 340.
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11. Die zahlenmäßige Entwicklung der Polizeieinsatzkräfte
Dieser Verdreifachung der bekanntgewordenen Straftaten steht keine auch nur annähernd vergleichbare Entwicklung des zur Verbrechensbekämpfung zur Verfügung stehenden Polizeipersonals gegenüber: Die Zahl der Polizeibeamten43 hat sich zwischen 1965 und 1989 - vor der Wiedervereinigung - zum einen nur um das 1,2-fache von ca. 163.00044 auf ca. 194.00045 Dienstkräfte erhöht. Zum anderen hat sich zwischenzeitlich die abzuleistende Wochenarbeitszeit nachhaltig verringert und die Urlaubsdauer erhöht46 ; zahlreiche Stellen sind zudem unbesetzt. Unter Berücksichtigung dieser und anderer Faktoren wurde eine "Polizeidichte", d. h. die von einem Streifenbeamten zu betreuende Anzahl von Bürgern, von 1: 16.000 vor der Wiedervereinigung errechnet. Das teilweise angeführte Verhältnis von 1:400 findet ebensowenig Bestätigung wie die aus ihm gezogenen Folgerungen einer zunehmenden Polizeipräsenz und einer wachsenden Bedeutung der Institution Polizei 47 • Diese Berechnungen beruhen nicht auf der Zahl der tatsächlich für den Streifendienst zur Verfügung stehenden Beamten, sondern auf der Gesamtzahl der Polizeikräfte, die auch die Bereitschaftspolizei etc. enthält48 . Rein statistisch hat sich die Arbeitsbelastung jedes Polizeibeamten allein in den letzten 10 Jahren um 25 % erhöht49 .
111. Neue Formen der Kriminalität
Zusätzliche Brisanz gewinnt die Situation der Polizei aus dem Auftreten neuer, früher unbekannter bzw. quantitativ irrelevanter Verbrechensformen.
1. "Makrokriminalität" statt "Mikrokriminalität" - Organisierte Kriminalität
Die Kriminalitätsentwicklung insgesamt zeichnet sich durch eine Verdrängung der klassischen Verbrechensformen - sog. Mikrokriminalität - durch neue - als 43 Die Zahlenangaben beziehen sich auf die Polizeibeamten beim Bundesgrenzschutz, Bundeskriminalamt und den Länderpolizeien. 44 Zahlenangabe aus BuschIFunklKaußlNarrlWerketin, Die Polizei in der Bundesrepublik, 1985, S. 80. 45 Zahlenangabe aus SemeraklKratz, Die Polizeien in Westeuropa, 1989, S. 33 ff. 46 BuschIFunklKaußlNarrlWerketin, Die Polizei in der Bundesrepublik, 1985, S. 78 f. 47 So aber BuschIFunklKaußlNarrlWerketin, Die Polizei in der Bundesrepublik, 1985, S.77. 48 T. Feites, Polizei, Bürger und Gemeinwesen, Neue Kriminalpolitik 1990, 32 (34 f.) m.w.N. - R. Rupprecht (Hrsg.), Polizei-Lexikon, 1986, Stichwort Polizeidichte, geht von einem Verhältnis von I :312 aus, wenn alle Polizeivollzugsbeamten berücksichtigt werden. 49 W. Burghard, Kriminalistik 1991,24.
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Erster Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
Makrokriminalität zu bezeichnende - Straftaten aus 50 . Makro- und Mikrokriminalität unterscheiden sich insofern grundlegend, als erstere Kriminalität durch kollektives, letztere hingegen Kriminalität durch individuelles Handeln bezeichnet51 . Eine der meist diskutierten und bedrohlichsten Formen der Makrokriminalität ist die - hier näher zu erörternde - organisierte Kriminalität 52 . Obwohl die Polizei 53 bereits vor nunmehr mehr als zwanzig Jahren die Erarbeitung einer allgemein verbindlichen Definition des Phänomens "Organisierte Kriminalität,,54 reklamierte, fehlt diese noch immer55 . Die aus einer Arbeitsgruppe von Polizei und Justiz hervorgegangene und jetzt durch Art. I III BayVerfSchG übernommene Definition56 ist zwar als Versuch zu begrüßen, vermag aber im Ergebnis nicht zu überzeugen 57 , zumal auch ihr die im folgenden angeführten Bedenken entgegen gehalten werden müssen. Teilweise wird zudem noch immer die Existenz einer organisierten Kriminalität geleugnet bzw. ihre Quantität verharmlost. Auch das OrgKG bietet keine Definition der organisierten Kriminalität. Dies hat vielfältige Ursachen: Zum einen weichen die von der Kriminologie erarbeiteten Definitionsvorschläge von denjenigen der Polizei ab. In der Kriminologie wird die organisierte Kriminalität durch Organisations-, Kompetenz- und Funktionsmerkmale charakterisiert. Als Funktionen der organisierten Kriminalität werden die Übernahme von Ordnungsaufgaben in der kriminellen Szene und die Waren- bzw. Dienstleistungsbeschaffung nach Auftrag beschrieben. Fehlende Spezialisierung auf bestimmte Deliktsgruppen, überregionale Tätigkeit, systematische Erzeugung von Angst und die Verzahnung legaler und illegaler Aktivitäten werden als Kompetenzmerkmale genannt. Bei der Benennung von Organisationsmerkmalen wird auf einen dauerhaften Zusammenschluß mehrerer Personen, einen hierarchischen und arbeitsteiligen Aufbau und eine weitgehende Austauschbarkeit der Mitglieder verwiesen 58 .
50 Zur Makrokriminalität als Herausforderung für das Polizeirecht vgl. R. Pitschas, PFA 4/91, S. 7ff.; ders. Kriminalistik 1991,774 (775). 51 Grundlegend zur Makrokriminalität H. Jäger, Makrokriminalität, 1989, insb. S. 11 ff. 52 Zu Umfang und Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität siehe H.-L. Zachert, Aus Politik und Zeitgeschichte B 23/95, S. 11 ff. und ders., in: Internationale Politik 2/1995, S. 3 ff. Zur Bedeutung der Datenverarbeitung für die Verfolgung der organisierten Kriminalität als besonderer krimineller Erscheinungsform vgl. z. B. M. A. Ernst, Verarbeitung und Zweckbindung von Informationen im Strafprozeß, 1993, S. 35 f. 53 H. Herold, in: Bundeskriminalamt (Hrsg.), Organisiertes Verbrechen, 1975, S. 5. 54 Beispiele aus der Praxis sind bei D. Lindlau, Der Mob - Recherchen zum organisierten Verbrechen, 1987; K. Jacobi, Jura 1989, 586ff.; Ciupka/Schmidt, Kriminalistik 1989, 199ff. aufgeführt. 55 Eisenberg/Ohder, JZ 1990,574. - Vgl. auch H.-J. Möhn, Kriminalistik 1994,534 ff. 56 Vgl. dazu H.-L. Zachert, Aus Politik und Zeitgeschichte B 23/95, S. 11 ff. 13. 57 Kritisch hierzu allerdings aus anderen Gründen auch M. Koch, ZRP 1995,24 (26). 58 Siehe hierzu Eisenberg/Ohder, JZ 1990,574 (574 f.).
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Die Polizei definiert die organisierte Kriminalität hingegen als "ein arbeitsteiliges, bewußtes und gewolltes, auf Dauer angelegtes Zusammenwirken mehrerer Personen zur Begehung strafbarer Handlungen - häufig unter Ausnutzung moderner Infrastrukturen - mit dem Ziel, möglichst schnell hohe finanzielle Gewinne zu erzielen ,,59. Zum anderen sind die Definitionsvorschläge in mehrfacher Hinsicht unzulänglich: Der nur beschränkte Aussagewert der von der Polizei verwendeten Definition ergibt sich schon aus der Aufstellung zusätzlicher Listen mit Indikatoren für die organisierte Kriminalität6o . Darüber hinaus beschränkt sich die Polizei vielfach auf die bloße Angabe organisationsverdächtiger Kriminalitätsbereiche 61 . Diese Vorgehensweise ist unzureichend, zumal die angeführten Bereiche nahezu das gesamte Strafgesetzbuch umfassen und die Feststellung, ob in einem bestimmten Fall organisierte Kriminalität vorliegt, nicht erleichtert wird. Zudem bleibt insbesondere die Abgrenzung der organisierten Kriminalität von allgemein nur gemeinschaftlich begehbaren Delikten ungeklärt. Hierdurch wird nicht nur das Ziel einer Definition der organisierten Kriminalität - nämlich eine einheitliche Datenerfassung und einen überregionalen Informationsaustausch sowie die Festlegung gesonderter Zuständigkeiten, d. h. also ein geschlossenes Bekämpfungskonzept, zu errnöglichen62 - verfehlt. Darüber hinaus wird vielmehr auch die spezielle Gefährlichkeit gerade der organisierten Kriminalität ebenso verwischt wie ihr Umfang und ihre Ausprägungen63 . 59 Definition "Organisierte Kriminalität" nach dem Bericht des durch den Arbeitskreis 11 der Innenministerien des Bundes und der Länder eingesetzten Ad-hoc-Ausschusses in seiner Sitzung vom 4. 5. 1982, zitiert nach K. Jacobi, Jura 1989, 586. - Vgl. auch G. Boeden, in: SchwindlSteinhilper/Kube (Hrsg.), Organisierte Kriminalität, 1987, S. 17 ff., 26f. 60 In einem Seminar der Polizeiführungsakademie im März 1983 und in einer Aufstellung des Bundeskriminalamts aus dem Jahr 1981 wurden folgende Indikatoren festgehalten (aufgeführt bei D. Lindlau, Der Mob - Recherchen zum organisierten Verbrechen, 1987, S. 78 f.): Qualität der Tatausführung, überregionale und internationale Tatzusammenhänge, Anpassung an Markterfordernisse, ein nicht ohne weiteres erklärbares Abhängigkeits- und Autoritätsverhältnis zwischen mehreren Tatverdächtigen, hohe Investitionen, konspirative Taktiken, Schutz von Tatverdächtigen bei drohender Strafverfolgung, Mitführen von Vertretungsvollmachten für Rechtsanwälte, Betreuung in der Haft, Versorgung der Angehörigen, Wiederaufnahme nach Haftentlassung, Auftreten von Entlastungszeugen; Bestellung eines prominenten Anwalts durch wenig begüterten Verdächtigen, Unauffindbarkeit von Zeugen, Erinnerungslücken bei unbeteiligten Zeugen, präzise Aussagen von Personen aus dem Milieu, Verdacht der Korrumpierung, tendenziöse Presseveröffentlichungen. Vgl. hierzu auch BGHSt 32, 120; Ciupka/Schmidt, Kriminalistik 1989, 199; Kubica, Kriminalistik 1987,231 f.; Rogall, JZ 1987, 17f.; J. Wolter, in: H.-J. Rudolphi (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Stand: 4. Aufbaulieferung, Mai 1990, Vor § 151 Rdnr. 82; einschränkend Rebscher-Vahlenkamp, Kriminalistik 1987,634. 61 Vgl. G. Boeden, in: SchwindlSteinhilper/Kube (Hrsg.), Organisierte Kriminalität, 1987, S. 17 ff., 27 ff. 62 Dazu auch R. Scholz, in: SchwindlSteinhilper/Kube (Hrsg.), Organisierte Kriminalität, 1987, S. 61 ff., 85.
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Erster Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
Tatsächlich aussagekräftig erscheinen nur vergleichsweise wenige und in der Praxis schwer feststell bare Kriterien. Besonders auffällig und die spezifische Gefährlichkeit der organisierten Kriminalität begründend ist die Fähigkeit zur fortdauernden Regeneration einer einmal bestehenden Organisation. Erreicht wird dies sowohl durch die Abschottung der einzelnen Organisationsebenen voneinander als auch durch die Verflechtung von illegalen mit legalen Aktivitäten. Bei der vergleichsweise einfachen Aufklärung einzelner Straftaten kann so immer nur der jeweils unmittelbar handelnde, der "Helferebene" angehörende Täter gefaßt werden. Die "Führungsebenen" bleiben unangetastet und können die Organisation sofort erneuern, zumal ihnen das legal eingesetzte Kapital nach wie vor zur Verfügung steht 64 . Des weiteren stellt der äußerlich legale Einsatz des erbeuteten Kapitals in Wirtschaftsunternehmen einen der Gründe für die spezielle Gefährlichkeit der organisierten Kriminalität dar. Er ermöglicht nämlich eine verdeckte, kriminell motivierte Einflußnahme auf Politik und Wirtschaft. Wesentlich für die Definition der organisierten Kriminalität ist schließlich, daß sie der Makrokriminalität zuzuordnen ist und sich innerhalb dieser wiederum durch spezifische Merkmale auszeichnet. Der organisierten Kriminalität zuzurechnende Organisationen bilden eigene soziale Systeme65 • Sie sind geschlossen und autonom, d. h. sie haben die Fähigkeit, selbst ihre Elemente zu produzieren und zu reproduzieren. Der Informationsfluß wird durch sie selektiert, systemintern verarbeitet und verändert weitergegeben. Der Output eines anderen Systems, insbesondere des Rechtssystems erscheint daher in den Organisationen der organisierten Kriminalität nicht unmittelbar als Input. Dabei dürfen Autonomie und Autarkie nicht verwechselt werden. Die Organisationen der organisierten Kriminalität sind gegenüber Umwelteinflüssen nicht absolut geschlossen. Sie reagieren auf Umweltinformationen, wenngleich sie diese transformieren. Organisationen der organisierten Kriminalität folgen der Grundvorstellung, daß alle Offenheit auf der Geschlossenheit der grundlegenden Reproduktionsprozesse beruht. Umweltinformationen können in das System aufgenommen werden und die grundlegenden Reproduktionsvorgänge modifizieren. Der damit angesprochene Umfang der Resonanzfähigkeit des Systems hängt von seiner Struktur ab. Struktur ist hierbei nicht das Verhältnis von Ganzem und Teil, sondern die Relationierung der Elemente über Zeitdistanzen hinweg. Strukturen bestehen damit auch beim Auswechseln der Elemente fort. Ein Vergleich dieser Anforderungen mit dem typischen Aufbau von Organisationen, die der organisierten Kriminalität zuzurechnen sind, bestätigt deren Systemcharakter. Der organisierten Kriminalität zuzurechnende Organisationen sind typi63 64
65
Ähnlich W. Burghard, Kriminalistik 1989, 195. H. Stüllenberg, Kriminalistik 1989, 562 ff. Eine Beschreibung sozialer Systeme m.w.N. findet sich unten im Text sub § 4. C. III. 2.
§ 1 Erscheinungsfonnen
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scherweise pyramidenfönnig organisiert. Die einzelnen Mitglieder kennen grundsätzlich nur das ihnen jeweils über- bzw. untergeordnete Mitglied, nicht aber die übrigen Mitglieder der Organisation. Nach außen tritt nur jeweils die unterste "Helferebene" in Erscheinung. Wenn ein Helfer der untersten Ebene gefaßt wird, ergibt das Rechtssystem als Output: Sanktion in Form einer Strafe, Strafmilderung bei umfassendem Geständnis und Preisgabe der weiteren Beteiligten, insbesondere des dem "Helfer" übergeordneten Mitglieds. Die der organisierten Kriminalität zuzurechnende Organisation als soziales System führt zu folgendem Output: Beachtung der Verhaltensanweisungen des übergeordneten Mitglieds, andernfalls schlimmere Sanktionen für das gefaßte Mitglied und diesem nahestehender Personen. Wenn das gefaßte Mitglied schweigt, muß nur dieses ersetzt werden, solange es eine Strafe zu verbüßen hat. Verrät das gefaßte Mitglied das ihm übergeordnete, müssen beide ersetzt werden. Die Festnahme eines "Helfers" kann also günstigstenfalls zur Festnahme auch des ihm unmittelbar übergeordneten Mitglieds führen. Die dritte und alle höheren Stufen der pyramidenfönnigen Organisation können nicht bzw. nur sehr schwer gefaßt werden. Diese Systembildung und die von ihr ausgehende Gefahr beschränkt sich nicht auf die Begehung besonders schwerer Delikte. Schwere Delikte auf der "Helferebene" werden sogar eher untypisch sein. Hierfür dürften eher "höherrangige" und damit besonders "bewährte", besonders "qualifizierte" oder besonders "spezialisierte" Mitglieder herangezogen werden. Die unterste Ebene kann sich durchaus auch auf bloße Ladendiebstähle beschränken. Der vielfach befürwortete und insbesondere im OrgKG häufig angewendete Versuch, organisierte Kriminalität durch Straftatenkataloge zu beschreiben, mag daher im Hinblick auf die Bestimmtheit der Vorschriften wünschenswert sein; eine auch nur annähernd zutreffende Beschreibung der vielfältigen, der organisierten Kriminalität zuzurechnenden Phänomene, ermöglicht er indessen nicht.
2. Computerkriminalität
Der Computer kann sowohl das Ziel krimineller Handlungen sein als auch als Mittel für ihre Ausführung dienen66 • Als "Computerkriminalität" werden daher solche strafbaren Handlungen bezeichnet, bei denen der Computer Tatobjekt oder Tatwerkzeug ist67 • Unterscheidbar sind die Computer-Manipulation, -Sabotage, -Spionage und die unberechtigte Computernutzung68 . Im ersten Fall werden Daten 66 Vgl. dazu auch M. Kanther, in: Presse- und Infonnationsarnt der Bundesregierung (Hrsg.), Bulletin Nr. 17/S. 181 v. 28. 2. 1996, S. 183 ff., 184 ff. 67 Tinnefeldffubies, Datenschutzrecht, 2. Aufl. 1989, S. 173. 68 Einen Überblick bieten Tinnefeldffubies, Datenschutzrecht, 2. Aufl. 1989, S. 173 ff.; W. Holzner, in: Die Polizei in Bayern 1989, S. 30ff.; eine ausführliche Darstellung findet sich bei U. Sieber, Computerkriminalität und Strafrecht, 2. Aufl. 1980. Siehe auch H. Uepping, DVR 1986, 326 ff.
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Erster Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
oder Programme manipuliert, im zweiten Fall werden Informationen zerstört, im dritten Fall versucht der Täter Informationsanteile aus fremden Datenbeständen zu erhalten69 . Bei der unberechtigten Computernutzung schließlich will der Täter ein fremdes Datenverarbeitungssystem unentgeltlich benutzen7o . Die besondere Gefährlichkeit gerade der Computerkriminalität wird von mehreren Faktoren bestimmt: Da Computerkriminalität sich zum einen immer noch als Novum darstellt und zum anderen die Computerdelikte einem rasanten Wandel unterliegen, fehlen der Polizei vielfach die für eine wirksame Verfolgung erforderlichen Spezialkenntnisse. Andererseits stellt diese Kriminalitätsform an potentielle Täter nur geringe Anforderungen, zumal die erforderliche Neugierde als schon fast sozialadäquat gelten kann. Darüber hinaus benötigt zwar auch der Täter das notwendige Wissen über die modeme Technik, muß aber andererseits persönlich kaum in Erscheinung treten 71. Dem stehen schwer zu überschätzende, durch die Computerkriminalität drohende Gefahren gegenüber. Wenn heute ein Wandel von der Industrie- zur Informationsgesellschaft diagnostiziert wird72 , läßt dies die Bedeutung korrekter Informationen erahnen 73. Besondere Aktualität kommt derzeit dem heftig umstrittenen Recht des Bürgers auf eine verschlüsselte Weitergabe seiner Daten zu 74. Die diesbezügliche Problematik wurde zunächst für den Bereich des Mobiltelefonverkehrs diskutiert. Die rasant fortschreitende Technik und Verbreitung der Mobiltelefone entzog die Kommunikation in diesem Bereich jeglicher Kontrolle, da - anders als beim herkömmlichen, leitungsgebundenen Telefonverkehr - eine Überwachung anfangs nicht möglich war. Die diesbezügliche Kontroverse setzt sich nunmehr im Bereich des INTERNETs fort. Die Benutzer des INTERNETs fordern zunehmend Möglichkeiten zur Übermittlung vertraulicher Informationen. Zur Begründung hierfür wird auf den erforderlichen Schutz der Persönlichkeits sphäre ebenso verwiesen wie auf wirtschaftliche Interessen und Notwendigkeiten. Die zunehmend auch kommerzielle Nutzung des INTERNETs macht die Übermittlung finanziell sensibler Daten, wie Kreditkartennummern etc., und die eindeutige Zuordnung auch nur elektronisch vorliegender rechtsgeschäftlicher Erklärungen erforderlich 75. Ausführlich hierzu aus jüngerer Zeit U. Sieber, CR 1995, 100 (101 ff.). Tinnefeldffubies, Datenschutzrecht, 2. Auft. 1989, S. 173 f. 71 W. Holzner, Polizeinachrichten 1990,2. Zur Bedeutung der Computerkriminalität siehe auch W. Steinke, Entwicklung der Computerkriminalität, Kriminalistik 1991, 131 ff. 72 ScholzlPitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, S. 18f. m.w.N.; R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 19 m. Fußn. 133. 73 Die mit der Entwicklung zur Informationsgesellschaft verbundenen Risiken stellen Roßnagel/Wedde/HammerlPordesch, Die Verletzlichkeit der "Informationsgesellschaft", 2. Auft. 1989, dar. 74 Vgl. zur Frage nach einem "Grundrecht auf Verschlüsselung" A. Koch, CR 1997, 106ff. 75 Siehe zu diesen Problematiken H. Pohl, in: TausslKollbeckIMönikes (Hrsg.), Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft, 1996, S. 358 ff.; R. Vahrenkamp, ebenda, 69
70
§ I Erscheinungsfonnen
63
Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang die Umkehr der Interessenslagen: Während die Bürger zunächst eine Offenlegung der über sie insbesondere bei den Sicherheitsbehörden gespeicherten Informationen verlangten, der Staat demgegenüber aber Sicherheitsbedürfnisse reklamierte, möchten die Bürger nunmehr - jedenfalls als Nutzer von Mobiltelefonen oder des INTERNETs - ihre Informationen verschlüsseln und den Staat vom Zugriff hierauf ausschließen. Bemerkenswert erscheint darüber hinaus, daß das INTERNET, das sich allein auf der Grundlage der Interessen seiner Nutzer und begrenzt nur durch die jeweiligen technischen Möglichkeiten entwickelte, auf dem freien Informationsfluß basiert.
IV. Die Gefahr einer nur selektiven Strafverfolgung
Die Entwicklung neuerer, sehr komplexer und von Spezialwissen abhängiger Verbrechensformen droht den schon früher erhobenen Vorwurf einer nur selektiven Strafverfolgung weiter zu verifizieren. Schon heute ist die Aufklärungsquote für einige Delikte - auch solchen, die nicht der sog. Bagatellkriminalität zuzurechnen sind - sehr niedrig und sinkt stetig weiter: Bei Wohnungseinbrüchen betrug die Aufklärungsquote 1965 noch 36,1 %, 1995 hingegen nur noch 15,1 %76. Dem ist allein schon im Hinblick auf den Gleichheitssatz entgegenzuwirken 77. Dabei kommen verschiedene Ursachen für eine partiell geminderte polizeiliche Strafverfolgungsintensität in Betracht: Sie kann sich zum einen aus einem bewußten Dulden strafbaren Verhaltens durch die Polizei ergeben (z. B. bei Hausbesetzungen, vermummten Demonstranten etc.) 78. Zum anderen kann sie auf den für einige Deliktsarten unzulänglichen Strafverfolgungsmethoden der Polizei beruhen. Ein dritter Grund ist schließlich die Überlastung der Polizei und ihre teilweise unzureichende Ausstattung. Als Faktoren, die das polizeiliche Kontrollhandeln bestimmen, wurden die "Sichtbarkeit" eines Delikts von außen, die Aufklärungswahrscheinlichkeit der jeweiligen Deliktsart und die Beweisbarkeit im konkreten Fall nachgewiesen 79 .
S. 413ff.; A. Roßnagel, ebenda, S. 652ff.; H. Rüßmann, ebenda, S. 709ff.; J. Bizer, in: Haratsch/KugelmannlRepkewitz (Hrsg.), Herausforderungen an das Recht der Infonnationsgesellschaft, 1996, S. 141 ff. - Zur vehement umstrittenen strafrechtlichen Verantwortlichkeit für den Datenverkehr in internationalen Computernetzen vgl. U. Sieber, JZ 1996, 429/494ff. sowie allgemeiner K.-H. Ladeur, CR 1996, 614 ff. und C. Kuner, CR 1996,453 ff. 76 Polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 1995, abgedruckt in: Presse- und Infonnationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Bulletin Nr. 37/S. 376 v. 10. 5. 1996, S. 376. 77 Zur Gefahr einer selektiven Strafverfolgung im Hinblick auf die Organisierte Kriminalität vgl. J. Wolter, in: H.-J. Rudolphi (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Stand: 4. Aufbaulieferung, Mai 1990, Vor § 151 Rdnr. 81 m.w.N. 78 Vgl. z. B. E. Kube, Systematische Kriminalprävention, 2. Auf!. 1987, S. 100ff. m.w.N.
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Erster Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
Diese von der Polizei getroffene erste Auslese des strafrechtlich relevanten Verhaltens wird von der Rechtswissenschaft vielfach vernachlässigt, obwohl ihr erhebliche Bedeutung zukommt. Der polizeilichen Tätigkeit sind nämlich eine Vielzahl ungeregelter Bereiche eröffnet, die den Charakter eines bloßen Normvollzugs weit überschreiten. Die zur Aufklärung einer Straftat dienende Vernehmung etwa stellt, genauer betrachtet, notwendigerweise einen kommunikativen Interaktionsprozeß dar, der keineswegs nur der Rekonstruktion der Wirklichkeit im Hinblick auf die verfolgte Straftat dient. In diesem Interaktionsprozeß findet vielmehr eine Umund Neudefinition und damit eine Konstruktion von Wirklichkeit staU80 . Selektionsprozesse sind im Rahmen der Strafverfolgung darüber hinaus nicht nur bei der Polizei, sondern auch in der Kriminalisierung bestimmter Verhaltensweisen durch die Gesellschaft8 !, im Anzeigeverhalten der Bevölkerung 82 und bei der Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaften 83 und die Gerichte zu beobachten. Die Bedeutung der Selektion läßt sich auch zahlenmäßig darstellen. Die Dunkelfeldforschung nimmt nämlich an, daß jährlich ca. 15 Mio. Straftaten begangen werden. Der Polizei werden hiervon nur 4 Mio. bekannt; 2 Mio. werden aufgeklärt; I Mio. wird angeklagt 84 . Zusammenfassend ist festzustellen, daß die Strafverfolgungsintensität erheblich variiert. Dabei hängt die Verfolgungsdichte vielfach weniger von objektiven Kriterien, wie dem verletzten Rechtsgut, sondern von zufälligen Gesichtspunkten wie der Kompliziertheit des Delikts, seine Begehung vor der Öffentlichkeit und der Herkunft, dem Aussehen usw. des Verdächtigen ab.
V. Die Verlagerung polizeilicher Aufgaben
Die geschilderten Unzuträglichkeiten haben bereits zu Insuffizienzen der polizeilichen Gefahrenabwehr geführt, die ihrerseits eine Verlagerung polizeilicher Aufgaben zur Folge haben 85 . Angesprochen und erforderlich wäre ggf. ein alterna79 W. Steffen, Analyse polizeilicher Ermittlungstätigkeit aus der Sicht des späteren Strafverfahrens, 1976, S. 292f. 80 R. Girtler, Polizei-Alltag. Strategien, Ziele und Strukturen polizeilichen Handeins, 1980, S. 67f. m.w.N. 81 H. Herold, in: Akademie der Künste, Berlin (Hrsg.), Der Traum der Vernunft. Vom Elend der Aufklärung, 1986, S. 248 ff., 254 f. 82 J. Kürzinger, Private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion, 1978, S. 16ff., 56ff., 231 ff. 83 BlankenburglSessar/Steffen, Die Staatsanwaltschaft im Prozeß strafrechtlicher Kontrolle, 1978, S. 320 ff. 84 H. Herold, in: Akademie der Künste, Berlin (Hrsg.), Der Traum der Vernunft. Vom Elend der Aufklärung, 1986, S. 248 ff., 256 ff. 85 Zum ähnlich motivierten Versuch, Polizeikosten auf Dritte überzuwälzen, vgl. C. Gusy, DVBI. 1996, 722ff.
§ 1 Erscheinungsfonnen
65
tives Modell der Kriminalitätsbekämpfung durch die Idee des schlanken oder sozial distanzierten Staates 86 . Insbesondere im Bereich der Verkehrsüberwachung werden polizeiliche Aufgaben teilweise auf Kommunen 87 und Private 88 übertragen. Die gleiche Tendenz ist für die Überwachung öffentlicher und privater Einrichtungen erkennbar. Ein Blick auf die Entwicklung des privaten Sicherheitsgewerbes bestätigt diese Sichtweise. Die Zahl der Sicherheitsunternehmen in den alten Bundesländern hat sich in den letzten 10 Jahren um 200 Unternehmen erhöht; die jährlichen Umsätze haben sich in diesem Zeitraum verdoppelt; der Personalbestand steigt um 10 % pro Jahr89 . Diese Entwicklung kann - sollte sie stärker zunehmen - zu rechtlichen Bedenken führen, da eine verstärkte Gefahrenabwehr durch Private90 das staatliche Gewaltmonopol91 beeinträchtigen kann.
VI. Die Polizei in den fünf neuen Bundesländern 1. Die Polizei der DDR vor der Wende Im Gegensatz zur Polizei in der Bundesrepublik Deutschland war die Deutsche Volkspolizei 92 der DDR zentralistisch gegliedert und unterstand der Führung des Ministeriums des Innern. Darüber hinaus waren Ordnungsverwaltung und Polizei in der DDR nicht getrennt. Auch waren die Polizisten nicht verbeamtet. 86 Vgl. dazu näher R. Pitschas, in: KreyherlBöhret (Hrsg.), Gesellschaft im Übergang, 1995, S. 57 ff., 61. Zu den Möglichkeiten einer Risikosteuerung durch hoheitliche Überwachung oder regulierte Freiwilligkeit siehe U. Di Fabio, in: Hoffmann-RiemlSchmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996, S. 143 ff. 87 Dazu und den hieraus resultierenden rechtlichen Problemen PitschaslAulehner, BayVBl. 1990, 417ff.; P. Braun, Die Polizei 1990, 196ff.; R. Jahn, BayVBl. 1990, 424ff. 88 Vgl. dazu insbesondere R. Scholz, NJW 1997, 14ff.; Hassemerffopp, NZV 1995, 169 (172f.). Zum Detektivgewerbe z. B. J. Vahle, DVP 1996, 408ff. Zur hiennit im Zusammenhang stehenden Situation des öffentlichen Dienstes allgemein vgl. D. Merten, in: Magiera/ Siedentopf (Hrsg.), Das Recht des öffentlichen Dienstes in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, 1994, S. 181 ff. 89 Angaben bei W. Burghard, Kriminalistik 1991,24. 90 Vgl. zu dieser Problematik die Nachweise bei Pitschas/Aulehner, BayVBl. 1990,417 (417f.) m. Fußn. 8 u. 10. 91 Zum Gewaltmonopol allgemein D. Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975; ders., Konstruktionsprinzipien staatlicher Gewalt im Verfassungsstaat der Bundesrepublik, in: RandelzhoferlSüß (Hrsg.), Konsens und Konflikt - 35 Jahre Grundgesetz, 1986, S. 324 ff.; ders., in: M. Schreiber (Hrsg.), Polizeilicher Eingriff und Grundrechte. Festschrift für R. Samper, 1982, S. 35 ff. 92 Die Probleme im Zusammenhang mit dem Staatssicherheitsdienst können an dieser Stelle keine Berücksichtigung finden. - Dazu anhand einer Einzelfrage J. Aulehner, DÖV 1994, 853 ff.
5 Aulehner
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Erster Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
Neben der eigentlichen Volkspolizei, die in Bezirks- und Kreisämter gegliedert war93 , bestanden eine für die Deutsche Reichsbahn zuständige Transportpolizei, eine kasernierte und militärisch gegliederte Bereitschaftspolizei sowie Betriebsschutzgruppen. Die Grenzsicherung war eigenständigen "Grenztruppen der DDR", die dem Ministerium für Nationale Sicherheit unterstanden, verbandsmäßig gegliedert waren und militärisch geführt wurden, übertragen. Die Personal stärke lag bei insgesamt 114.00094 . Rechtsgrundlage für die Maßnahmen der Deutschen Volkspolizei war das in der gesamten DDR geltende Volkspolizeigesetz vom 11. 6. 1968 95 . § 7 I 1 VoPoG enthielt ebenso wie das westdeutsche Polizeirecht eine Generalklausei, derzufolge sich das Handeln der Deutschen Volkspolizei an öffentlicher Ordnung und Sicherheit zu orientieren hatte. Dies ist einerseits um so erstaunlicher, als in der DDR die herkömmlichen polizeirechtlichen Generalklausein als Instrumente zur Unterdrükkung der ausgebeuteten Volksrnassen verstanden wurden. Andererseits überrascht es weniger, wenn man bedenkt, daß öffentliche Ordnung und Sicherheit zum einen unterschiedlich ausfüllbare Rechtsbegriffe darstellen und die Deutsche Volkspolizei ebenso wie die Verwaltung insgesamt in der DDR sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht politisiert war. Den Rechtsvorschriften allgemein und damit auch dem VoPoG kam bei der Erfüllung der Verwaltungsaufgaben nur eine sekundäre Aufgabe zu; es bestand vielmehr ei.ne primäre Verpflichtung, die Beschlüsse der SED urnzusetzen 96 • Das VoPoG insgesamt und namentlich dessen Generalklausei eröffnete der Deutschen Volkspolizei daher einen weitaus umfassenderen Tätigkeitsbereich als die westdeutschen Polizeigesetze den Länder- und Bundespolizeien. Die Deutsche Volkspolizei war nicht auf Maßnahmen der Gefahrenabwehr beschränkt, sondern sollte erzieherisch auf die Bevölkerung einwirken und den Fortschritt der sozialistischen Ordnung garantieren. Ein Ermessen wird der Polizei hierbei nicht eingeräumt. Die Polizei hatte nur die jeweils der sozialistischen Gesetzlichkeit entsprechende Entscheidung zu finden und zu treffen. Dem entspricht es auch, daß die Deutsche Volkspolizei in vollem Umfang befehls- und weisungsgebunden war. Zu beachten ist damit schließlich und insbesondere, daß die Polizei der DDR bewußt politisch aufgebaut war und eine politische Neutralität der Polizisten nicht geduldet wurde 97 • Detaillierter hierzu R. Harnischmacher, Die Polizei 1990, 272 (273). Angaben aus (o.y.), Die Polizei 1990,264. 95 Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der deutschen Volkspolizei (VoPoG) vom 11. 6. 1968, GBI. I S. 232 in der Fassung des Gesetzes vom 24.6. 1971, GBI. I S. 49. - Zu den im folgenden dargestellten Unterschieden zwischen ost- und westdeutschen Polizeien vgl. namentlich F. Waldhelm, Der Einsatz von Polizei, Bundesgrenzschutz und Zollbehörden in Niedersachsen, 1987, insb. S. 38 ff. 96 Vgl. dazu bereits in anderem Zusammenhang ScholzlAulehner, Archiv PT 1993, 5 (11). 97 R. Harnischmacher, Die Polizei 1990, 272 (274). - Zur Geschichte der Polizei in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland siehe auch R. Harnischmacher, Polizeinachrichten 1989, 6 ff. 93
94
§ 1 Erscheinungsfonnen
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2. Die Polizei in den fünf neuen Bundesländern nach der Wende - Übergangsphase
Rechtsgrundlage für die Polizei in den fünf neuen Bundesländern war unmittelbar nach der Wiedervereinigung das noch von der Volkskammer der DDR beschlossene "Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Polizei vom 13. September 1990"98, das gemäß Art. 4 Ziff. 8 der "Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Durchführung und Auslegung des am 31. August 1990 in Berlin unterzeichneten Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag -" bis zum Inkrafttreten von Polizeigesetzen der Länder, längstens bis 31. 12. 1991, fortgalt. Inhaltlich entsprach schon dieses Gesetz weitgehend den reformierten Gesetzen in den alten Bundesländern. Es wies der Polizei die Gefahrenabwehr und die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten als Aufgaben zu (§ 1 I PolG-DDR) und enthielt eine Generalklausei (§ 12, 13 PolG-DDR). Darüber hinaus war in einem Unterabschnitt die Datenerhebung (Grundsätze [§ 33 PoIG-DDR], Generalklausei [§ 33a PolG-DDR], Datenerhebung bei öffentlichen Veranstaltungen, Ansammlungen und Versammlungen [§ 34 PolG-DDR], durch Observation [§ 35 PolG-DDR], durch den Einsatz technischer Mittel [§ 36 PoIG-DDR], durch den Einsatz von Personen, verdeckte Ermittler [§ 38, 39 PoIG-DDR], polizeiliche Beobachtung [§ 40 PolG-DDR], Datenspeicherung, -veränderung und -nutzung [§ 41 PolO-DDR], Vorgangsverwaltung [§ 42 PolO-DDR], Datenübermittlung [§ 43 PoIG-DDR], automatisiertes Abrufverfahren [§ 44 PolO-DDR], Datenabgleich [§ 45, 46 PoIODDR], Berichtigung, Löschung und Sperrung von Daten [§ 47 PolO-DDR], Errichtung von Dateien [§ 48 PolO-DDR], Auskunft [§ 49 PolO-DDR)) geregelt. Als Besonderheit sei auf die Pflicht zum Tragen von Dienstnummern für Polizeibeamte, die als geschlossene Einheit auftreten (§ 11 II PolO-DDR), hingewiesen. Dieses in der Übergangsphase der Wiedervereinigung geltende PolO-DDR wurde durch Polizeigesetze der einzelnen neuen Bundesländer abgelöst99 . Diese orientieren sich am Polizeirecht der alten Bundesländer, insbesondere am ME PolO, dem VE ME PolO und deren Umsetzung durch die alten Bundesländer.
3. Die heutigen Anforderungen an die Polizei im Beitrittsgebiet
Neben den für die alten Bundesländer angeführten Problemen hat die Polizei in den fünf neuen Bundesländern zusätzlich die aus ihrer Vergangenheit und der Wende lOO resultierenden Schwierigkeiten zu bewältigen. 98 99
5*
GBI. I S. 1489ff.; im folgenden abgekürzt PolG-DDR. Vgl. dazu näher unten im Text sub 12.
Erster Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
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Diese Probleme können kaum überbewertet werden. Die dortige Polizei sieht sich nach dem Zusammenbruch der Staatswirtschaften in den Ländern des Ostblocks mit für sie völlig neuen Verbrechensformen konfrontiert, für deren Bekämpfung die personellen und sachlichen Mittel fehlen. Darüber hinaus muß die Polizei ein neues Selbstverständnis auf der Grundlage einer veränderten Weltanschauung finden 101. Aus der Sicht der Wissenschaft erscheinen hierbei insbesondere die im Vergleich zu den bisherigen Bundesländern vielfach abweichenden Lösungsversuche von Interesse. So haben etwa die neuen Bundesländer ein gemeinsames Landeskriminalamt errichtet 102.
VII. Die Fortentwicklung polizeilicher Informationssysteme
Der Fortschritt und die verstärkte Verbreitung von EDV-Anlagen ermöglichen nicht nur neue Verbrechensformen lO3 , sondern eröffnen umgekehrt auch der Polizei neue Formen der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr. Der Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechnik durch die Polizei ist dabei zur Gewährleistung innerer Sicherheit grundsätzlich unverzichtbar lO4 • Die automatische, insbesondere elektronische Datenverarbeitung kann die Polizeiarbeit in mehrfacher Hinsicht modifizieren: Sie erweitert nicht nur das Arsenal der der Polizei zur Verfügung stehenden technischen Hilfsmittel und eröffnet neuartige Zugriffsmöglichkeiten auf Verdächtige, sondern bewirkt auch organisatorische Veränderungen 105. Die Folgen der elektronischen Datenverarbeitung für die Polizei verdienen dabei um so mehr Beachtung, als die Entwicklung der Informationstechnik und ihre Einsatzmöglichkeiten bei der Polizei keineswegs abgeschlossen sind, sondern rasant fortschreiten.
Siehe dazu R. Behr, Krim. Journal 28 (1996), 4ff.; (0. Y.), Die Polizei 1990, 257ff. W. Ebeling, Die Polizei 1991, 18ff.; G. Fabritius, Die Polizei 1991, 96ff.; ZinyczJ Hahn, Kriminalistik 1991, 189 f. \02 R. Ackermann, Kriminalistik 1991, 113 ff. \03 Vgl. dazu soeben oben im Text sub 1. B. 111. 2. 104 R. Pitschas, PFA 4/91, S. 7 ff., 9. \05 Neben diesen quantitativen Erweiterungen kann die Polizei durch den Einsatz der elektronischen Datenverarbeitung sogar eine qualitative Umgestaltung erfahren. Am weitesten geht hierbei der Vorschlag, der Polizei die Rolle eines "gesellschaftlichen Diagnoseinstruments" (H. Herold, in: Interview v. S. Cobler, Transatlantik 1980, S. 29 ff.) zuzuweisen. Vgl. hierzu näher unten im Text sub 1. C. I. 100 \01
§ 1 Erscheinungsfonnen
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1. Die Auswirkungen der elektronischen Datenverarbeitung auf die polizeiliche Tätigkeit in quantitativer Hinsicht
Die kaum überschätzbare Bedeutung der elektronischen Datenverarbeitung für die Polizei ergibt sich dabei schon aus dem Wesen der polizeilichen Tätigkeit. Diese besteht - von der Durchsetzung getroffener Entscheidungen abgesehen ganz überwiegend im Sammeln, Auswerten oder Anwenden von Informationen 106 . Daher hat die Polizei seit jeher, wenn auch in schwerfälligen und zeitraubenden Verfahren, Daten verarbeitet lO7 • Die dabei anfallenden erheblichen Datenmengen können bei einem akzeptablen Zeit- und Personalaufwand nur noch mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung erschlossen werden 108. Die elektronische Datenverarbeitung löste bei der Polizei daher zunächst die bislang manuell in Karteien geführten Informationssammlungen ab bzw. erleichterte den Zugriff auf sie. Zentrales Hilfsmittel der polizeilichen Informationsverarbeitung waren, vor wie nach der Einführung der elektronischen Datenverarbeitung, die polizeilichen Kriminalakten. Diese Kriminalakten wurden vor Einführung der elektronischen Datenverarbeitung durch eine manuelle Kartei erschlossen, die durch ebenfalls manuell geführte erkennungsdienstliche Sammlungen, Fahndungslisten und -bücher ergänzt wurde. Am 13. 11. 1972 wurde als erstes die damals sog. Automatisierte Personenfahndung in Betrieb genommen; im Jahre 1974 wurde die Sachfahndung nach Gegenständen mit individueller alphanumerischer Kennzeichnung eingeführt. Das primäre Ziel war dabei, vorhandene Informationen schneller abrufen zu können. Neben dieser quantitativen Modemisierung wurde aber bereits von Anfang an auch eine qualitative Veränderung angestrebt; insbesondere sollten bislang nur dezentral geführte Informationssammlungen zusammengeführt und zentral gespeichert werden lO9 • Nach 1974 wurden immer mehr Anwendungen für das polizeiliche Informationssystem eingerichtet. Neben der Personen- und Sachfahndung wurden Kriminalaktennachweis, Haftdatei, Erkennungsdienst, Daktyloskopie, Arbeitsdateien für besondere Kriminalitätsbereiche (Personen, Institutionen, Objekte, Sachen - PIOS), Falldatei für Straftaten mit länderübergreifender Bedeutung, Hinweis-I Spurendokumentation in Ermittlungsverfahren von länderübergreifender Bedeutung (SPUDOK), Beweismitteldokumentation, Literaturdokumentation (eOD) und die polizeiliche Kriminalstatistik installiert llo . 106 Dementsprechend erklärt R. Pitschas, ZRP 1993, 174 (174), Polizeirecht sei heute und zukünftig auch und vor allem als Infonnationsrecht zu verstehen. 107 H. Herold, RuP 1980, S. 79ff. 108 H. Herold, Universitas 1976, 63 ff. 109 H. Bäumler, in: LiskenlDenninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Aufl. 1996, J Rdnrn. 148 ff. 110 Siehe z. B. SchollerlSchloer, Grundzüge des Polizei- und Ordnungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 1993, S. 161; H. Mayer-Metzner, Auskunft aus Dateien der Sicherheits- und Strafverfolgungsorgane, 1994, S. 24ff.; R. Riegel, Datenschutz bei den
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Erster Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
Die mit dem Einsatz der elektronischen Datenverarbeitung verbundenen Veränderungen der polizeilichen Möglichkeiten können dabei nur im Vergleich mit den früheren, hier als ,,herkömmliche" Techniken bezeichneten polizeilichen Mitteln gewürdigt werden. Die Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung können im hiesigen Rahmen nur insoweit skizziert werden, als dies für einen Vergleich mit den überkommenen Techniken nötig ist. Insbesondere das Informationssystem der Polizei (INPOL)111 bietet sowohl im Bereich der Sach- als auch der Personenfahndung neue Möglichkeiten. Auf dem Gebiet der Sachfahndung nach numerierten (Kfz, Waffen, Ausweise etc.) und nicht numerierten Gegenständen erhöht INPOL die für die Informationsverarbeitung erforderliche Kapazität und eröffnet neue Anwendungsmöglichkeiten. So erweitern die "modemen" Techniken einerseits die Möglichkeiten der Daktyloskopie (Fingerabdruck-Registriersystem - FARS), der Kriminalaktenführung (durch den Kriminalaktennachweis - KAN), der Sammlung von Hinweisen (PIOS, SPUDOK) und der Registrierung von Fundstellen von für die Polizeitätigkeit relevanten Veröffentlichungen (eOD). Andererseits hat INPOL erst die Voraussetzungen für die als "Rasterfahndung" bezeichneten Datenabgleiche geliefert 112 . Für einen eingehenderen, jedoch notwendigerweise ebenfalls nur exemplarischen Rückblick auf die "vorelektronische Zeit,,113 erscheint die polizeiliche Fahndung prädestiniert: Die Fahndung war zum einen der erste polizeiliche Arbeitsgang, der nahezu vollständig auf die neuen elektronischen Möglichkeiten ausgelegt wurde l14 • Zum anderen sind hier die Unterschiede besonders deutlich. Vor Einführung der elektronischen Datenverarbeitung war das Deutsche Fahndungsbuch das vornehmliche Hilfsmittel der Personenfahndung. Es erschien für Festnahmen monatlich, für Aufenthaltsermittlungen vierteljährlich. Aktuellere Informationen enthielt demgegenüber die Fahndungskartei. Diese wurde jedoch nur vom Bundeskriminalamt und ca. 80 weiteren Kriminaldienststellen geführt. Obwohl diese Fahndungskartei täglich aktualisiert wurde, dauerten Änderungen ca. 2-3 Wochen. Löschungs- bzw. Ausschreibungsanträge wurden nämlich von den örtlichen Dienststellen an die Landeskriminalämter und von diesen an das Bundeskriminalamt geleitet. Dieses wiederum sandte die Änderungsmitteilungen an die Dienststellen, welche die Fahndungskartei führten. Die Nachteile dieses Systems führten bei Festnahmen zu einem - aus heutiger Sicht - befremdlich anmutenden Ablauf: Vor Sicherheitsbehörden, 2. Auf!. 1992, S. 38f.; H. Bäumler, in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Auf!. 1996, J Rdnrn. 167 ff. 111 Vgl. für einen kurzen Überblick über Praxis und Erscheinungsformen von INPOL M. A. Ernst, Verarbeitung und Zweckbindung von Informationen im Strafprozeß, 1993, S. 23 f. m.w.N. 112 Ausführlicher hierzu Bundeskriminalamt (Hrsg.), gesucht wird ... , 5. Auf!. (0. J.); K. Merten, Datenschutz und Datenverarbeitungsprobleme bei den Sicherheitsbehörden, 1985, S. 1 ff. sowie unten im Text sub 1. C. 11. 2. 113 H. Boge, in: Bundeskriminalamt (Hrsg.), Polizeiliche Datenverarbeitung, 1982, S. 19. 114 BuschlFunk/KaußlNarr/Werketin, Die Polizei in der Bundesrepublik, 1985, S. 127.
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Festnahmen auf Grund des Deutschen Fahndungsbuches mußte erst bei der nächsten Dienststelle mit einer Fahndungskartei angefragt werden, ob die Ausschreibung noch fortbestand 115. Im Gegensatz hierzu gibt das elektronische Informations- und Auskunftssystem für die gesamte Polizei (INPOL) heute die Möglichkeit, Ausschreibungen bzw. Löschungen nahezu ohne Zeitverlust und für einen ungleich größeren Adressatenkreis zu tätigen. Dies wurde durch die mit der Einführung der elektronischen Datenverarbeitung verbundene Kapazitätserhöhung und durch eine dezentrale Strukturierung des Datensystems realisiert. Letztere ermöglicht es den Teilnehmern - anders als bei der früheren Fahndungskartei - ihre Ausschreibungsanträge nicht nur über das Bundeskriminalamt als zentrale Datenverarbeitungsstelle in das Datensystem zu leiten, sondern sie unmittelbar selbst einzugeben - bzw. auch umgekehrt abzurufen. Die elektronische Datenverarbeitung bietet der Polizei neben diesem beschleunigten Informationsaustausch auch eine gesteigerte Verläßlichkeit der gespeicherten Daten, die nunmehr nach einheitlichen Kriterien ohne örtliche Besonderheiten aufgenommen und fortlaufend aktualisiert werden. Neben der Kapazitätserweiterung konnten durch die nunmehrigen Verknüpfungsmöglichkeiten neue Informationen erzeugt werden l16 . Die Einführung und der zunehmende Ausbau von INPOL führte zu einer Erhöhung der Erledigungsquote im Bereich der Personenfahndung: Zu Beginn des INPOL-Einsatzes zur Jahreswende 1972/1973 wurden 46,3 % der Ausschreibungen erledigt; im Jahre 1975 betrug der Anteil bereits 61 % und 1981 ca. 65 %117. Dabei weist der Einführungs- und Entwicklungsprozeß von den ,,herkömmlichen" zu den "modernen" Techniken mehr Kontinuität auf als die bisherige Darstellung vermuten läßt. Die zunehmenden Erfolgsdefizite der Fahndung mit den ,,herkömmlichen" Techniken wurden schon früh auf eine fortschreitende gesell115 Vgl. zur damaligen Situation H. Boge, in: Bundeskriminalamt (Hrsg.), Polizeiliche Datenverarbeitung, 1982, S. 19 ff. 116 BuschlFunklKaußlNarrlWerketin, Die Polizei in der Bundesrepublik, 1985, S. 117f. 117 Bundeskriminalamt (Hrsg.), gesucht wird ... , 5. Auf!. (0. J.), S. 22. Die Zahlenangaben im einzelnen sind umstritten: BuschlFunklKaußlNarrlWerketin (Die Polizei in der Bundesrepublik, 1985, S. 293 ff.) stellen die Entwicklung differenzierter dar und unterscheiden zwischen Initiativaufgriffen (Festnahmen, die nicht auf den Einsatz von Fahndungsmitteln, sondern auf die Initiative von Polizeibeamten in Verdachtsfällen zurückgehen) und Fahndungsaufgriffen. Darüber hinaus berücksichtigen sie den zunehmenden Ausbaustand des INPOLSystems. So wurden bis 1977 im INPOL-System - wie vordem im Deutschen Fahndungsbuch - nur überregionale Fahndungen geführt. Erst seit 1977 werden alle Fahndungen aufgenommen. Einigkeit besteht hinsichtlich der durch das INPOL-System ennöglichten deutlich erhöhten Fahndungserfolge. Meinungsverschiedenheiten beschränken sich auf hier weniger beachtliche Details. Neben den streitigen Ursachen für die Entwicklung werden auch unterschiedliche Schlußfolgerungen für die Zukunft gezogen. BuschlFunklKaußlNarrlWerketin (Die Polizei in der Bundesrepublik, 1985, S. 301) verneinen etwa eine vom Bundeskriminalamt vertretene lineare Beziehung zwischen Überwachungsdichte und Fahndungserfolgsquote.
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Erster Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
schaftliche Anonymität zurückgeführt 118 • Eine erste und frühe Reaktion hierauf bestand in der Durchführung von Bundes- und Landesfahndungstagen. Hierbei wurden die polizeilichen Daten mit denen anderer Behörden (z. B. den Einwohnermeldeämtern) abgeglichen und verdächtige Orte systematisch kontrolliert. Die zunächst präferierten bundesweiten Großfahndungen zeigten, gemessen am erforderlichen Aufwand, wenig Erfolg. Zur Verbesserung des Verhältnisses zwischen Aufwand und Ertrag wurden die Großfahndungen regionalisiert. Das Bundesgebiet wurde hierzu in 70 Fahndungsregionen eingeteilt, die wiederum weiter untergliedert wurden, um die schnelle Einnahme von vorab festgelegten Kontrollstellen und Fahndungsräumen durch die Polizei zu ermöglichen. Zusammen mit den Grenzkontrollstellen 119 wurde das Bundesgebiet daher mit einem feinmaschigen Netz von Kontroll- und Fahndungsstellen überzogen 120. Parallel hierzu wurden die "modernen" technischen Möglichkeiten für die Zwecke der Fahndung dienstbar gemacht. Anfang 1972 beschloß die "Ständige Konferenz der Innenminister/-senatoren des Bundes und der Länder (lMK)", einen elektronischen Datenverbund für polizeiliche Zwecke im Bereich der Fahndung zu realisieren. Im November 1972 wurde sodann die erste Ausbaustufe der "Automatisierten Personenfahndung" in Betrieb genommen. Erst nach und nach wurden die bereits angedeuteten vielfältigen, weiteren Nutzungsmöglichkeiten beschlossen und realisiert l21 , wobei die Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist.
2. Die organisatorischen Auswirkungen der elektronischen Datenverarbeitung
Mit der elektronischen Datenverarbeitung gehen vielfältige organisatorische Veränderungen einher. Diese betreffen nicht nur den polizeiinternen Bereich, sondern auch das Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei. Im polizeiinternen Bereich traf die Einführung der elektronischen Datenverarbeitung mit erheblichen organisatorischen Veränderungen zusammen, die den Einsatz der elektronischen Datenverarbeitung erst ermöglichten oder zumindest erheblich erleichterten: Zu denken ist hier an die Verstaatlichung der Polizei, an die Bildung größerer Einheiten, d. h. die Abschaffung bzw. zahlenmäßige Reduzierung von Polizeiposten und Polizeistationen zugunsten eines Ausbaus der Reviere, die einheitliche Führung aller Fachdienste (Kriminal-, Schutzpolizei etc.) und die Bildung von besonderen Organisationsformen für spezielle Aufgaben (z. B. das Bun-
BuschlFunklKaußlNarrlWerketin, Die Polizei in der Bundesrepublik, 1985, S. 295. Deren Bedeutung für die Fahndung wird nach der Inkraftsetzung der Schengener Abkommen schwinden. - Vgl. dazu noch näher unten im Text sub 3. B. 120 BuschlFunklKaußlNarrlWerketin, Die Polizei in der Bundesrepublik, 1985, S. 295. 121 Vgl. hierzu etwa die Zusammenstellung in Bundeskriminalamt (Hrsg.), gesucht wird ... , 5. Aufl. (0. 1.), S. 94 ff. 118 119
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deskriminalamt und die Landeskriminalämter). Darüber hinaus können mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung Erkenntnisse über die Kriminalitätshäufigkeit und -verteilung in bestimmten Gebieten gewonnen werden, die ihrerseits organisatorische Anpassungen (z. B. verstärkte Streifentätigkeit) ermöglichen. Im Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei führt der Einsatz "moderner" Technik derzeit zu einer weiteren Erhöhung des polizeilichen zu Lasten des staatsanwaltschaftlichen Arbeitsanteils. Die Staatsanwaltschaften sind nämlich heute grundsätzlich 122 noch nicht an das INPOL-System angeschlossen und können auf die dort gespeicherten Daten nur mittelbar über die Polizei Zugriff nehmen. Einer der Gründe hierfür liegt in der Unsicherheit der Rechtslage: Vielfach wird nämlich angenommen, "repressive und präventive Daten" müßten unterschieden werden. Die Staatsanwaltschaften dürften daher - so wird im Hinblick auf den Datenschutz gefolgert - nur auf erstere Zugriff erhalten 123. Im Gegensatz zu der in § 163 StPO vorgesehenen Aufgabenverteilung zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft wird damit die Ermittlungstätigkeit weiter auf die Polizei verlagert 124 . Zusammengefaßt bietet der Einsatz der elektronischen Datenverarbeitung im polizeilichen Bereich eine erhöhte Informationsvorhaltungs- und -verarbeitungskapazität sowie die Möglichkeit der Organisationsoptimierung und der Rationalisierung der polizeilichen Arbeit 125.
3. Die zukünftige Entwicklung der polizeilichen Datenverarbeitung
Anders als die heutigen Möglichkeiten 126 des "Informationssystems der Polizei" (INPOL) werden zukünftige EDV-Anlagen nicht nur überwiegend Informationen speichern und abgleichen können; sie werden vielmehr in der Lage sein, Texte eigenständig auszuwerten und so den Zugang auch zu ungleich größeren Informationsmengen erleichtern ("Information Retrieval-Systeme"). Darüber hinaus wird die Entwicklung sprach- und bildverstehender Systeme erwartet, die nicht nur den Dialog Mensch/Maschine erheblich vereinfachen und abkürzen, sondern darüber 122 Versuchsweise wurde z. B. der Staatsanwaltschaft München I ein INPOL-Anschluß zur Verfügung gestellt. 123 Vgl. zu dieser Problematik J. Wolter, StrafV 1989, 359 (365); J. Wolter, in: H.-J. Rudolphi (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Stand: 4. Aufbaulieferung, Mai 1990, Vor § 151 Rdnrn. 81, 101 ff., 150ff., 167 ff. 124 Zur polizeilichen Datenverarbeitung im Kompetenzstreit zwischen Polizei- und Prozeßrecht vgl. M. Siebrecht, JZ 1996, 711 ff. 125 D. Nogala, Polizei, avancierte Technik und soziale Kontrolle, 1989, S. 17f. m.w.N. auf H. Herold. 126 Vgl. zu diesen noch ausführlich unten im Text sub 1. C. 11. 2. sowie R. Brendel, Die Polizei 1990, 86ff.; K. Merten, Datenschutz und Datenverarbeitungsprobleme bei den Sicherheitsbehörden, 1985, S. 1 ff.
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hinaus mit "Eigenintelligenz" ausgestattet sein werden, d. h. sie können sich z. B. selbst kontrollieren, mit anderen Systemen zusammenarbeiten und mit Menschen ohne Fachwissen kommunizieren ("Künstliche Intelligenz"). Eine einheitliche Normung wird es zudem ermöglichen, Informationsverarbeitung und -übermittlung zu verknüpfen; der technische Fortschritt wird schließlich zu einer Erhöhung der Übertragungsgeschwindigkeiten und -kapazitäten führen 127.
C. Die polizeilichen Präventionsstrategien und ihre Vollzugsstrukturen Diese für die Polizei neuen Anforderungen spiegeln sich teilweise in veränderten polizeilichen Präventionsstrategien wider, die ihrerseits die Vollzugsstrukturen der polizeilichen Gefahrenvorsorge prägen.
I. Die polizeilichen Präventionsstrategien
Die mit der Fortentwicklung der Computertechnologie verbundenen, bislang unbekannten Möglichkeiten der Verbrechensbekämpfung wurden von Polizeipraktikern ebenso hinreichend früh erkannt, wie die aus neuen Deliktsformen resultierenden Gefahren für die innere Sicherheit 128•
1. Die qualitativen Auswirkungen der elektronischen Datenverarbeitung auf die polizeiliche Arbeit H. Herold gebührt das Verdienst, bereits frühzeitig erkannt zu haben, daß sich die Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung nicht auf bloße Unterstützungsfunktionen für die herkömmlichen polizeilichen Vorgehensweisen beschränken. H. F. Spinner hält bei seiner Forderung nach einer allgemeinwissenschaftlichen, namentlich philosophischen, Rezeption der Informationsgesellschaft den von H. Herold aus polizeilicher Sicht erkannten, radikalen geistigen Neubeginn sogar für "philosophisch beachtenswert,,129. Mit seiner Forderung nach einer als "gesell127 Die zu erwartende Entwicklung schildern RoßnagellWeddelHammer/Pordesch, Digitalisierung der Grundrechte?, 1990, S. 26ff. Siehe auch P. McCorduck, Denkmaschinen - die Geschichte der künstlichen Intelligenz, 1987. 128 Eine zusammenfassende Darstellung der Entwicklung unterschiedlicher polizeilicher Präventionskonzepte bietet D. Nogala, Polizei, avancierte Technik und soziale Kontrolle, 1989, S. 15 ff. 129 H. F. Spinner, in: W. Oelmüller (Hrsg.), Philosophie und Wissenschaft, 1988, S. 61 ff., 63ff., 64f., 74f.
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schaftliches Diagnoseinstrument,,130 ausgestalteten Polizei hat H. Herold dieser eine gänzlich neue Funktion 131 im Verhältnis von Staat und Gesellschaft zugewiesen. Die schon dargestellte erhöhte Informationsverarbeitungskapazität der elektronischen Datenverarbeitung ermöglicht es der Polizei, ein "Gemälde der Gesellschaft" zu zeichnen, sie zu analysieren und eine "Therapie" zu erarbeiten 132. Diese "gesellschaftssanitäre Aufgabe,,133 weist der Polizei eine durch größere Autonomie gekennzeichnete Rolle zu und ermöglicht es ihr nach Meinung von H. Herold zudem, sich selbst zu steuern. Die vormals sekundäre Fähigkeit der elektronischen Datenverarbeitung zur Rechtstatsachenforschung gewinnt seiner Meinung nach hierbei primäre Bedeutung. Sie nimmt das gesamte Spektrum staatlichen Handeins von der Normsetzung über den Normvollzug bis zu seinen Wirkungen in den Blick. Aus den so erhobenen Informationen werden wiederum Rückschlüsse für erforderliche Modifikationen des staatlichen Handeins gezogen. Dabei wird der Regelkreis von Informationserhebung, -verarbeitung und Modifikation der Vorgaben - also der Normsetzung und des Normvollzugs - zum ProzeB und führt zur Selbststeuerung der Polizei. Die Verbrechensbekämpfung wird mit der Korrektur und Dynamisierung des Normensystems verbunden, indem die Polizei auf der Grundlage detailliert ausgewählter Kriminalitätsdaten als ein lernfähiges, sich selbst überwachendes gesellschaftliches Teilsystem ausgestaltet wird 134. Durch diese Selbststeuerung und Selbstoptimierung werden "Repression durch Prävention, Beharrung durch Dynamik, Hypothesen durch Prognosen, Führung durch Steuerung und vermeintliche Erfahrung durch logische Sachlichkeit" ersetzt 135. H. Herold überträgt so die Grundsätze der Kybernetik auf den polizeilichen Bereich 136.
2. Die Bewältigung neuer Verbrechensformen in den polizeilichen Präventionsstrategien A. Stümper stellt angesichts der vielfältigen neuartigen Verbrechensformen 137 die Trennung zwischen repressiver und präventiver Tätigkeit der Polizei in Frage 138 . Er fordert stattdessen ein "operatives" Einschreiten der Polizei und eine H. Herold, in: Interview v. S. Cobler, Transatlantik 1980, S. 29ff. H. Herold, Kriminalistik 1974,385 ff. 132 H. Herold, in: Interview v. S. Cobler, Transatlantik 1980, S. 29ff. 133 H. Herold, Kriminalistik 1974,385 (392). 134 H. Herold, in: Akademie der Künste, Berlin (Hrsg.), Der Traum der Vernunft. Vorn Elend der Aufklärung, 1986, S. 248 ff., 259 f. 135 H. Herold, in: Deutsche Kriminologische Gesellschaft (Hrsg.), Prävention und Strafrecht, 1977, S. 23ff., 24. 136 H. Herold, in: Deutsche Kriminologische Gesellschaft (Hrsg.), Prävention und Strafrecht, 1977, S. 23ff., 24. 137 Vgl. zu den von ihm gesehenen Bedrohungen insb. A. Stümper, Kriminalistik 1979, 254ff.; ders., Kriminalistik 1981, 76ff.; ders., Kriminalistik 1981, 154ff.; ders., Kriminalistik 1984, 129 ff. 130 131
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Erster Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
"strukturelle Vorbeugung" in umfassender - nämlich "gesellschaftlicher, politischer, organisatorischer, funktioneller, finanzieller, sozialer, wirtschaftlicher und sonstiger" - Hinsicht 139 . Die Ansichten von H. Herold und A. Stümper gleichen sich insofern, als beide eine Flexibilisierung und Dynamisierung des Polizeirechts und des polizeilichen Apparats fordern. Dariiber hinaus streben beide eine umfassende, nicht auf den herkömmlichen Polizeibereich beschränkte Prävention an. Erhebliche Unterschiede bestehen indessen in der Bewertung der Rolle der Technik l4o . Während H. Herold in der Technik nicht nur die Grundlage, sondern auch den wesentlichen Steuerungsfaktor des von ihm konzipierten Regelkreises zwischen Polizei und Gesellschaft sieht, wendet sich A. Stümper gegen eine Überbewertung der Rolle der Technik und warnt davor, die Verbrechens bekämpfung "zu sehr zu schematisieren und zu einem blutleeren, leblosen und lebensfremden Kategorisieren und Subsumieren ,einzutrocknen' ,,141.
3. Die unterschiedlichen Präventionsebenen
Die referierten Konzeptvorschläge strebten eine umfassende Prävention durch die Polizei an; deren Tätigwerden soll sich mithin nicht auf die sekundäre Prävention beschränken. Unter sekundärer Prävention wird dabei eine Bekämpfung der Kriminalität an der "Oberfläche" verstanden, indem die Tatgelegenheitsstrukturen verändert und sozial adäquates Verhalten tatbereiter und gefährdeter Personen gefördert wird. Letzteres ist etwa durch den Einsatz von Street-workern und eine verstärkte Polizeipräsenz denkbar. Ersteres bezieht sich auf die zusätzliche Sicherung möglicher Zielobjekte von Kriminalität und einer Steigerung des Risikos durch eine erhöhte Tataufklärung l42 . Auch die polizeiliche Gefahrenvorsorge unterfällt der sekundären Prävention. Die primäre Prävention versucht demgegenüber schon die Ursachen der Kriminalität zu bekämpfen, indem das Rechtsbewußtsein gestärkt wird, Normen verdeutlicht, den sozialen Ursachen der Kriminalität vorgebeugt und Anreize für Rechtstreue geboten werden. Die tertiäre Prävention schließlich besteht aus Sanktionen, Behandlung und Wiedereingliederung der Tater l43 . A. Stümper, Kriminalistik 1975, 49ff. A. Stümper, Kriminalistik 1983,222 (223); A. Stümper, Kriminalistik 1986,535 (536). 140 Ebenso D. Nogala, Polizei, avancierte Technik und soziale Kontrolle, 1989, S. 32 f. 141 A. Stümper, Kriminalistik 1982,234 (236). 142 Vgl. E. Kube, Systematische Kriminalprävention, 2. Auf). 1987, S. 9ff., 18 ff. m.w.N. 143 Zur Unterscheidung von primärer, sekundärer und tertiärer Prävention vgl. E. Kube, Systematische Kriminalprävention, 2. Auf). 1987, S. 7ff.; J. Brandtstädter, in: ders./v.Eye (Hrsg.), Psychologische Prävention, 1982, S. 25 ff.; Hess/Brückner, in: Sieverts/Schneider (Hrsg.), Handwörterbuch der Kriminologie, Ergänzungsband, 2. Auf). 1979. 138 139
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4. Die Modifikationen
Die von H. Herold und A. Stümper geprägten Konzeptvorschläge wurden in der Folgezeit von anderen relativiert und fortentwickelt. Die Bedrohung durch neue Verbrechensformen, insbesondere durch die organisierte Kriminalität, fand hierbei zunehmende Anerkennung l44 . Im Hinblick auf die umfassenden Präventionsaufgaben der modemen Polizei wurde von einer großen Mehrheit eine Planung der Verbrechensbekämpfung gefordert, um den vielfältigen, damit verbundenen Gestaltungsanforderungen gerecht zu werden 145. Die Informationstechnik behielt dabei mit der Informationsbeschaffung und -verarbeitung eine zentrale Funktion, wandelte sich aber vom Steuerungssubjekt zum Unterstützungsinstrument für die Steuerung. Der vormals umfassend verstandene Präventionsauftrag der Polizei erfuhr eine Relativierung in den Bereichen der primären und tertiären Prävention. Hiernach sollte die Polizei auf diesen Gebieten nicht mehr selbst umfassend tätig werden, sondern mit den jeweiligen Fachbehörden zusammenarbeiten oder sich jedenfalls einer Selbstbeschränkung unterwerfen l46 • Eine weitere, anzustrebende Fortentwicklung des polizeilichen Präventionsverhaltens ist gegenwärtig erst in ihren Anfängen erkennbar. Äußere Anzeichen hierfür sind Stellungnahmen aus jüngerer Zeit, die für die Polizei eine Standortbestimmung und eine Untersuchung des polizeilichen Selbstverständnisses einfordern. Die damit verbundenen grundsätzlichen Überlegungen zur Rolle der Polizei gehen keineswegs allein von "Polizeikritikern" aus, sie kommen vielmehr auch und sogar vornehmlich aus den Reihen der Polizei selbst. Aufsatztitel wie "Wo steht die Polizei?" (R. Dieckmann)147, "Polizeitheorie? - Thesen zur Standortbestimmung" (E.-H. Ahlf)148, "Notwendigkeit und Inhalte einer Polizeitheorie" (M. Kniesei und E. Kube) 149, ,,Zu neuen Ufern?" Burghard)150, "Vorsicht Sicherheit" (u. K. Preuß)151, "Das Sicherheitsrecht in der Krise" (K. Waechter)152, "Quo vadis, innere Sicherheit?" (A. Stümper)153 und "Polizei zwischen Recht und Politik" (H. Lisken)154 mögen dies ebenso illustrieren wie der Buchtitel "Bürger statt ,Bullen' -
ny.
144 Siehe hierzu BVerfG, NStZ 1987,276; BGHSt 21, 122; Hertlein, Kriminalistik 1987, 3; Lenhard, Kriminalistik 1989, 194; Schuster, Kriminalistik 1987, 163 f. 145 Vgl. hierzu E. KubelR. Aprill (Hrsg.), Planung der Verbrechensbekämpfung, 1980; E. Kube, Systematische Kriminalprävention, 2. Auf!. 1987, S. 264ff.; A. Stümper, Systematisierung der Verbrechensbekämpfung, 1981, S. 40ff. 146 H. Boge, Die Polizei 1982, 161 (162). - Zu den in der Praxis gleichwohl fortbestehenden Abgrenzungsproblemen vgl. z. B. K. Mellenthin, Kriminalistik 1991, 66 (69 ff.). 147 R. Dieckmann, Kriminalistik 1988, 510 ff. 148 E.-H. Ahlf, Die Polizei 1989, 109 ff. 149 M. Kniesei, RuP 1989, 88 ff.; E. Kube, Kriminalistik 1988,297 ff. 150 W. Burghard, Kriminalistik 1989,397 ff. 151 U. K. Preuß, Merkur 1989, 487ff. 152 K. Waechter, Der Staat 27 (1988), 393 ff. 153 A. Stümper, Kriminalistik 1989, 135 ff.
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Erster Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
Streitschrift für eine andere Polizei" (M. Such)155. Zu beklagen ist dabei, daß diese Ansätze vielfach in der Analyse des derzeitigen Orientierungsdefizits der Polizei stehen bleiben und die tatsächlichen Möglichkeiten der geforderten Polizeitheorie nicht hinreichend erkennen. Richtigerweise muß versucht werden, gleichsam den - verglichen mit den bisherigen Konzepten - umgekehrten Weg zu beschreiten: Anders als bislang darf nicht von den der Polizei zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und den ihr obliegenden Aufgaben auf die Rolle der Polizei in Staat und Gesellschaft geschlossen werden. Stattdessen muß versucht werden, zuerst die Stellung der Polizei zu bestimmen und dann aus dieser den Umfang des von der Polizei zu erfüllenden Auftrags abzuleiten. Die so zu findende Polizeitheorie wird ein geeignetes Steuersubjekt für die Polizei darstellen.
11. Vollzugsstrukturen der polizeilichen Gefahrenund Informationsvorsorge
Die polizeilichen Präventionsstrategien dürfen nicht als allein theoretische Standortbestimmung für die Polizei mißverstanden werden. Sie wirken sich vielmehr nachhaltig auf die praktische polizeiliche Tätigkeit aus. Dies zeigt ein Blick auf die Vollzugsstrukturen der Gefahren- und Informationsvorsorge deutlich.
1. Vollzugsstrukturen der polizeilichen Gefahrenvorsorge - Übersicht
Innerhalb des Spektrums polizeilicher Maßnahmen zur Gefahrenvorsorge können verschiedene Gruppen unterschieden werden: Ein Teil der Maßnahmen zeichnet sich durch den Einsatz bzw. die Mitwirkung besonderer, sich vom herkömmlichen Streifen- bzw. Kriminalbeamten abhebender Personen aus. Eine weitere Gattung kann durch den Einsatz besonderer technischer Mittel charakterisiert werden. Eine dritte Klasse schließlich wird durch die besondere Art des Einsatzes typisiert.
H. Lisken, KritV 1988, 314ff. M. Such, Bürger statt "Bullen" - Streitschrift für eine andere Polizei, 1988. Dazu zutreffend W. Burghard (Kriminalistik 1988,511 f.), der meint, M. Such zeichne ein erschrekkendes Bild vom "inneren" Zustand der bundesdeutschen Polizei. Selbst wenn nur ein Bruchteil dessen, was Such beschreibe und bewerte, der Wirklichkeit entspreche, sei dies ein geilendes, nach Veränderungen schreiendes Alarmsignal. 154 155
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a) Der Einsatz spezieller Personen Die Polizei zieht zur Erfüllung sowohl ihrer repressiven als auch ihrer präventiven Aufgaben verstärkt sog. Verdeckte Ennittier, V-Leute, Infonnanten und Lockspitzel heran i56 . Verdeckte Ennittler sind - nach der Definition in einer von den Innen- und Justizministem bzw. -senatoren verabschiedeten Richtlinie 157 - besonders ausgewählte und ausgestattete Polizei vollzugs beamte, die unter einer Legende Kontakte zur kriminellen Szene aufnehmen, um Anhaltspunkte für Maßnahmen der Strafverfolgung zu gewinnen, und deren Identität auch im Strafverfahren geheimgehalten werden soll. Eine Vertrauensperson (V-Person) ist im Unterschied hierzu eine Person, die, ohne einer Strafverfolgungsbehörde anzugehören, bereit ist, diese bei der Aufklärung von Straftaten auf längere Zeit vertraulich zu unterstützen und deren Identität grundsätzlich geheimgehalten wird l58 . V-Personen und Verdeckte Ennittler können auch als Lockspitzel (agent provocateur) tätig werden. Lockspitzel ist eine Person, die einen potentiellen, zu Straftaten bereits entschlossenen Straftäter zu einer konkreten Straftat provozieren soll, damit dieser überführt werden kann l59 . Als Infonnant wird demgegenüber eine Person bezeichnet, die im Einzelfall bereit ist, gegen Zusicherung der Vertraulichkeit der Strafverfolgungsbehörde Infonnationen zu geben l60 . Ein konkreter Tatverdacht liegt hierbei in den meisten Fällen nicht vor. Vielmehr sollen die angeführten Personen überhaupt erst Hinweise über bereits begangene oder bevorstehende Straftaten sammeln und an die Polizei weitergeben 161. In tat156 Deren Einsatz ist insb. im Hinblick auf die Organisierte Kriminalität erforderlich. V gl. R. Scholz, in: Schwind/Steinhilper/Kube (Hrsg.), Organisierte Kriminalität, 1987, S. 61 ff., 79f. 157 Abschn. 2 der Gemeinsamen Richtlinie der lustizminister/-senatoren und der Innenmini ster/-senatoren der Länder über die Inanspruchnahme von Informanten sowie über den Einsatz von Vertrauenspersonen (V-Personen) und Verdeckten Ermittlern im Rahmen der Strafverfolgung (Anlage D zu den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren [RiStBV); abgedruckt z. B. bei KleinknechtlMeyer-Goßner, StPO, 42. Auf!. 1995, Anhang A 15). 158 Abschn. 2.2 der Gemeinsamen Richtlinie der lustizminister/-senatoren und der Innenminister/-senatoren der Länder über die Inanspruchnahme von Informanten sowie über den Einsatz von Vertrauenspersonen (V-Personen) und Verdeckten Ermittlern im Rahmen der Strafverfolgung (Anlage D zu den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren [RiStBV); abgedruckt z. B. bei KleinknechtlMeyer-Goßner, StPO, 42. Auf!. 1995, Anhang A 15). 159 R. Rupprecht (Hrsg.), Polizei-Lexikon, 1986, Stichwort agent provocateur. 160 Abschn. 2.1 der Gemeinsamen Richtlinie der lustizminister/-senatoren und der Innenminister/-senatoren der Länder über die Inanspruchnahme von Informanten sowie über den Einsatz von Vertrauenspersonen (V-Personen) und Verdeckten Ermittlern im Rahmen der Strafverfolgung (Anlage D zu den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren [RiStBV); abgedruckt z. B. bei K1einknechtlMeyer-Goßner, StPO, 42. Auf!. 1995, Anhang A 15). 161 E. Weßlau, Vorfeldermittlungen, 1989, S. 89f. m.w.N.
Erster Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
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sächlicher Hinsicht wird dies nicht bestritten; nachhaltige Auseinandersetzungen ergeben sich aber über die hieraus zu ziehende Folgerung, ob präventives oder repressives Handeln vorliegt.
b) Einsatz besonderer technischer Hilfsmittel Technische Hilfsmittel kommen insbesondere für die optische und die akustische Überwachung in Betracht. Modeme Videokameras ermöglichen die Überwachung gefahren trächtiger Veranstaltungen ebenso wie die gefährdeter Einrichtungen. Ihre Bildqualität reicht aus, um nicht nur das Gesamtgeschehen überblicksartig verfolgen, sondern auch um einzelne Personen, Fahrzeuge etc. identifizieren zu können 162 . Die akustische Überwachung 163 kann sich auf das öffentlich gesprochene Wort, die Äußerungen in geschlossenem Kreis und auf den Telefonverkehr beziehen l64 . Die Erstellung von Bild- und Tonaufnahmen bei Versammlungen ist neuerdings in § 12a VersG ausdrücklich geregelt.
c) Besondere Arten des Einsatzes Unter Observation wird die systematische, unauffällige, meist mit Mitteln der Konspiration vorgenommene Beobachtung von Personen und Sachen verstanden 165 . Auf der Grundlage eines Beschlusses der Innenministerkonferenz vom 15. 2. 1974 wurden Mobile Einsatzkommandos als Spezialeinheiten für die Observation eingerichtet. Zu ihren Aufgaben gehört die Beobachtung von Anlauf- und Ansatzpunkten terroristischer Gruppierungen und Personen, die Erkennung möglicher Tatorte, Aufenthaltsorte, Treffpunkte und Schlupfwinkel schwerkrimineller Personen, die Überwachung bestimmter Berufs- und Gewohnheitsverbrecher sowie die Vorfeldbeobachtung insbesondere zur Erschwerung oder Verhinderung des Entstehens von organisierter Kriminalität 166 .
Vgl. E. Weßlau, Vorfeldermittlungen, 1989, S. 92 f. Zum Erfordernis von ,,Lauschangriffen" vgl. R. Scholz, in: Schwind/Steinhilper/Kube (Hrsg.), Organisierte Kriminalität, 1987, S. 61 ff., 80f. 164 Siehe hierzu E. Weßlau, Vorfeldermittlungen, 1989, S. 93 f. 165 R. Rupprecht (Hrsg.), Polizei-Lexikon, 1986, Stichwort Observation. 166 R. Rupprecht (Hrsg.), Polizei-Lexikon, 1986, Stichworte Observation u. Mobiles Einsatzkommando. 162 163
§ 1 Erscheinungsfonnen
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2. Vollzugsstrukturen der polizeilichen Informationsvorsorge das INPOL-System der Polizei
Die polizeiliche Infonnationsvorsorge erfolgt namentlich durch das Infonnationssystem der Polizei (INPOL). INPOL besteht aus infonnationstechnischen Anwendungen der Polizei und bedient sich infonnationstechnischer Einrichtungen des Bundes und der Länder, die über eine einheitliche Kommunikationsschnittstelle verbunden sind. In den informationstechnischen Einrichtungen werden die erforderlichen Infonnationen geführt und für die Nutzung verfügbar gehalten. Innerhalb des Infonnationssystems der Polizei (INPOL) ist dabei einerseits zwischen INPOL-Bund und INPOLLand l67 und andererseits zwischen Verbund-, Zentral- und Amtsdateien zu unterscheiden. INPOL ist somit das gemeinsame, arbeitsteilige, elektronische Infonnationssystem der Polizei des Bundes und der Länder zur Unterstützung vollzugspolizeilicher Aufgaben, in dem infonnationstechnische Einrichtungen des Bundes und der Länder in einem Verbund zusammenwirken. a) INPOL-Bund und INPOL-Land Neben den bereits angedeuteten Anwendungen von INPOL-Bund können die einzelnen Bundesländer Landes-Anwendungen I68 , insbesondere Landes-Kriminalaktennachweise, Landes-Falldateien (einschließlich einer polizeilichen Kriminalstatistik), Landes-Hinweis-/Spurendokumentationen und durch Infonnationstechnik gestützte Vorgangsbearbeitung einrichten l69 • Die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern ist bei den einzelnen INPOLAnwendungen und in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich organisiert. Die INPOL-Anwendungen Personen- und Sachfahndung, Kriminalaktennachweis, Haftdatei und Erkennungsdienst werden im Rechner-Rechner-Verbund betrieben. Die Arbeitsdateien für besondere Kriminalitätsbereiche (PI OS) und die Hinweis-/Spurendokumentation in Ermittlungsverfahren von länderübergreifender Bedeutung (SPUDOK) stehen demgegenüber in einem Terrninal-Rechner-Verbund. Die Falldatei Rauschgift (FDR) nutzt beide Verbundarten. Vgl. z. B. A. Dix, Jura 1993,571 (573). Scholler/Schloer, Grundzüge des Polizei- und Ordnungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Auf!. 1993, S. 164. 169 In den alten Bundesländern existierten Ende 1990 in Berlin das Infonnationssystem für die Verbrechensbekämpfung (lSVB), in Bayern das Infonnationssystem der Bayerischen Polizei (IBP), in Baden-Württemberg die Personen-lFall-Auskunftsdatei (PADIMOD), in Rheinland-Pfalz das Polizeiliche Infonnationssystem (POLIS), in Hessen das Hessische Polizei-Infonnationssystem (HEPOLIS), in Nordrhein-Westfalen das Polizeiliche Infonnationssystem (PlKASIPOLAS), in Bremen das Infonnationssystem-Anzeigen (ISA) in Niedersachsen und Hamburg das Polizeiliche Auskunftssystem (POLAS) und in Schleswig-Holstein die Polizeiliche Erkenntnisdatei (PED). 167 168
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Erster Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
Rechner-Rechner-Verbund bedeutet dabei, daß von einem Rechner eines Bundeslandes die Daten zum Rechner des Bundeskriminalamtes übermittelt werden. Es handelt sich mithin um Datenbestände des Bundeskriminalamtes, die parallel auch in den jeweiligen Landesrechnern vorhanden sind, dort entstehen und gepflegt werden. Die Landesrechner der Bundesländer verfügen über Schnittstellen zum Zentralrechner des Bundeskriminalamtes und ermöglichen einen Datenaustausch und -abgleich für parallel geführte Dateien. Im Fall des Terminal-Rechner-Verbundes erfolgt die Datenübermittlung demgegenüber durch eine Datensichtstation, die direkt an den Rechner des Bundeskriminalamtes angeschlossen ist. Darüber hinaus ist innerhalb der INPOL-Anwendungen zwischen Parallel- und TeilparalleI-Speicherung zu differenzieren. Die Personen- und Sachfahndung sind parallel, der Kriminalaktennachweis, die Haftdatei und Datei Erkennungsdienst sind teilparallel gespeichert. Im ersteren Fall der Parallel-Speicherung sind die Informationen im Rechner jedes Bundeslandes und im Rechner des Bundeskriminalamtes gespeichert; bei der Teilparallel-Speicherung als letzterem Fall sind die Informationen nur in dem Rechner des Bundeslandes, in dem sie anfallen, und in dem Rechner des Bundeskriminalamtes gespeichert. Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hessen, RheinlandPfalz, Bayern und Berlin arbeiten im Rechner-Rechner-Verbund. Hamburg, Bremen, Baden-Württemberg und das Saarland arbeiten im Terminal-Rechner-Verbund. Die Differenzierung zwischen INPOL-Bund und INPOL-Land folgt dem föderativen Staatsaufbau der Bundesrepublik Deutschland, demzufolge zwischen einem bundeseinheitlichen polizeilichen Informations- und Kommunikationssystem einerseits und solchen der einzelnen Bundesländer andererseits zu unterscheiden ist 170. Die Errichtung von INPOL-Bund ist dabei im Hinblick auf Art. 73 Nr. 10 und Art. 87 I 2 GG zulässig. Art. 87 I 2 GG gibt dem Bund die Kompetenz zur Einrichtung von Sicherheitsbehörden l7l . Art. 73 Nr. 10 GG und Art. 87 I 2 GG stehen dabei in einem unauflösbaren Zusammenhang. Art. 73 Nr. 10 GG und Art. 87 I 2 GG betreffen beide die gleichen Materien. Die enge Verschränkung der beiden Vorschriften zeigt auch der Zusatz "sowie die Errichtung eines Bundeskriminalpolizeiamtes", der weniger den Gesetzgebungskompetenzen als vielmehr den Verwaltungs- und Organisationsvorschriften der Art. 83ff. GG zuzuordnen ist l72 . Das Bundeskriminalamt wurde - anders als das Bundesamt für Verfassungsschutz, das 170 H. Mayer-Metzner, Auskunft aus Dateien der Sicherheits- und Strafverfolgungsorgane, 1994, S. 15. 171 P. Lerche, in: MaunzJDürig, Grundgesetz, Bd. 3, Stand: Sept. 1993, Art. 87 Rdnrn. 119 ff. 172 B. Becker, Öffentliche Verwaltung, 1989, S. 291.
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gemäß § 2 I BVerfSchG als Bundesoberbehörde errichtet wurde - nach §§ I, 2 I BKAG als Zentralstelle i. S. d. Art. 87 I 2 GG geschaffen 173 . Zentralstellen i. S. d. Art. 87 12 GG sind den Bundesministerien nachgeordnete, grundsätzlich für das gesamte Bundesgebiet zuständige Bundesbehörden der unmittelbaren Bundesverwaltung ohne eigenen Verwaltungsunterbau, die das Handeln des Bundes und der Länder in bestimmten Bereichen - insbesondere durch eigene Informationsverarbeitung - koordinieren 174. Den Zentral stellen können dabei Weisungsrechte gegenüber den Landesbehörden eingeräumt werden. Dies kann in zweifacher Weise begründet werden: Zum einen setzt die Koordinationsaufgabe der Zentralstellen die Möglichkeit zur verbindlichen Festsetzung des Ergebnisses voraus. Schon die Zentralstellenqualität als solche spricht daher für ein Weisungsrecht. Zum anderen folgt eben dies auch aus der in Art. 73 Nr. 10 GG vorgesehenen ,,zusammenarbeit" 175. Die grundgesetzlichen Kompetenznormen stellen keinesfalls bloße Zuständigkeitszuweisungen dar. Die Zuweisung von Zuständigkeiten steht vielmehr auch in untrennbarem Zusammenhang mit dem Organisations- und Aufgabengehalt der Kompetenznormen und der mit ihnen verbundenen Verantwortungsübertragung. Deshalb und wegen der staatlichen Verpflichtung zur Daseinsvorsorge, dem Sozial- und Rechtsstaatsprinzip und der insbesondere organisationsrechtlichen Dimension der Grundrechte darf der Staat die ihm in Art. 73 Nr. 10,87 I 2 GG übertragene Möglichkeit zur Errichtung eines Bundeskriminalamtes nicht nur wahrnehmen, sondern ist hierzu verpflichtet. Dem Bundeskriminalamt müssen dabei die sachlichen und rechtlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden, die für eine effektive Aufgabenwahrnehmung erforderlich sind 176 . Ob es daher der von R. Pitschas geforderten "Begründung einer polizeirechtliehen Rahmenkompetenz für den Bund jenseits der gegenwärtigen Regelung des Art. 73 Nr. 10 GG,,177 bedarf, ist zweifelhaft. Daß die fortschreitende Entwicklung eines europäischen Polizeirechts zu einer "Hochzonung" und damit einem Verlust polizeirechtlicher Kompetenzen der deutschen Bundesländer an den Bund führt, ist zwar einerseits sicher richtig. Andererseits räumen Art. 73 Nr. 10, 87 I 2 GG dem Bund bereits alle Möglichkeiten ein, um ein effektiv arbeitendes Bundeskriminalamt zu schaffen 178 . Dies gilt um so mehr als das Bundeskriminalamt eigentlich als Gemeinschaftseinrichtung der Bundesländer verstanden werden kann und muß. 173 Vgl. W. Blümel, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 1990, § 101 Rdnr. 103. 174 P. Lerche, in: MaunzIDürig, Grundgesetz, Bd. 3, Stand: Sept. 1993, Art. 87 Rdnr. 129. 175 W. Blümel, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 1990, § 10 1 Rdnr. 103. 176 ScholzlAulehner, Archiv PT 1993,221 (247 ff.). 177 R. Pitschas, NVwZ 1994,625 (626). Allgemein (zu) kritisch hierzu H. P. Bull, KritV 1995,313 ff. 178 Ähnlich U. Di Fabio, DÖV 1997, 89 (100).
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Der föderative Staatsaufbau der Bundesrepublik Deutschland weist das Polizeirecht nämlich grundsätzlich den Bundesländern zu. Die durch das Grundgesetz eingeräumte Möglichkeit zur Errichtung eines Bundeskriminalamtes als Zentralstelle stellt mithin bereits insofern eine "organisatorische Kompromißlösung,,179 dar, als nur die Koordination eine Bundesaufgabe, die Sachmaterien an sich aber Landesverwaltung darstellen 180. Die von R. Pitschas geforderte Rahmenkompetenz des Bundes für Bereiche des Polizeirechts ist aber dann erforderlich, wenn sich die Polizei des Bundes nicht auf Koordination und Zusammenarbeit beschränken soll, sondern eine "vollwertige" Bundespolizei angestrebt wird. Diese mag im Hinblick auf die fortschreitende europäische Einheit, die eine übernationale Koordination auch im Bereich der inneren Sicherheit verlangt, sinnvoll sein. Ein Großteil der Anforderungen, die für eine Bundespolizei angeführt werden, kann aber auch durch eine gemeinsame Polizei der Bundesländer und des Bundes erfüllt werden. Diese hätte insbesondere und überdies den Vorteil, daß die Bundesländer einerseits keinen weiteren Kompetenzverlust hinnehmen müssen, andererseits aber die Polizei der Bundesrepublik Deutschland den übrigen Mitgliedstaaten der EG gegenüber als Einheit auftreten kann. Für eine derartige gemeinsame Polizei des Bundes und der Bundesländer spricht zudem die tatsächliche, auf Vereinheitlichung des Polizeirechts in der Bundesrepublik Deutschland gerichtete Entwicklung: Schon der "Musterentwurf für ein einheitliches Polizeigesetz" (ME PoIG) sollte vom Bund und den Bundesländern übernommen werden und wollte damit eine einheitliche Grundlage für das gesamte Polizeirecht schaffen. Dies ist zwar allenfalls in Ansätzen gelungen, zumal der ME PolG nicht von allen Polizeigesetzgebern in vollem Umfang übernommen wurde. Das Polizeirecht zersplitterte vielmehr. Eben dies kommt auch in der Vorlage des "Alternativentwurf einheitliche Polizeigesetze des Bundes und der Länder" (AE PoIG) und im "Vorentwurf zur Änderung des Musterentwurfs eines Polizeigesetzes" (VE ME PoIG) zum Ausdruck. Gerade letzterer scheint dabei durch seine zahlreichen Alternativen für die einzelnen Regelungen den Verlust der Rechtseinheit im Bereich des Polizeirechts zu dokumentieren 181. Staatstheoretisch und richtig betrachtet können die Alternativen des VE ME PolG aber allenfalls einen Rückschritt, nicht aber das Ende oder gar eine Umkehr der Entwicklung hin zu einem einheitlichen Polizeirecht in Deutschland markieren. Dieser Endpunkt der Entwicklung ist unausweichlich, da die Länder schon jetzt im Bereich des Polizeirechts keineswegs absolut beziehungslos voneinander agieren: Jenseits des einheitlichen Vollzugs von einheitlichen Sachprogrammen als einheits stiftenden Faktoren 182 und obwohl das Polizeirecht allein in die Gesetzgebungskompetenz der H.P. Bull, in: AK-GG, Bd. 2, 2. Auf!. 1989, Art. 87 Rdnr. 34. A. Dittmann, Die Bundesverwaltung, 1983, S. 229 ff., 231. 181 Vgl. zusammenfassend zur Entwicklung von ME PoIG, AE PolG und VE ME PolG z. B. E-L. Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Auf!. 1995, Rdnr. 11. 179
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Bundesländer fällt und jeder Polizeigesetzgeber unabhängig von den anderen Polizeigesetzgebern Gesetze erlassen kann, ist zumindest eine minimale Koordination schon theoretisch unausschließbar. Jedes Bundesland nimmt das Polizeirecht der anderen Bundesländer und des Bundes zur Kenntnis und muß hierauf reagieren: entweder indem es die Regelung übernimmt oder indem es sie nicht übernimmt. Auf eben diese Reaktion müssen dann wiederum die anderen Bundesländer und auch dasjenige, das die Änderung zuerst vorgenommen hat, reagieren, usw. Daß diese unausweichliche minimale Koordinierung langfristig notwendigerweise einheitsbildend wirken muß, bestätigt die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland vielfach. Als Beleg dafür kann nicht nur die "Hochzonung" von Aufgaben durch ihre Übertragung von den Ländern auf den Bund dienen. Markanter ist vielmehr die fortschreitende Entwicklung des Bundesrats als zunächst ausschließlichem Bundesorgan hin zu einem jedenfalls (auch) Ländergemeinschaftsorgan, die insbesondere in der Neufassung des Art. 23 GG 183 zum Ausdruck kommt. Eben diese Tendenz wird auch durch namentlich das Zweite Deutsche Fernsehen 184, den Norddeutschen Rundfunk 185 , die Zentral stelle für die Vergabe von Studienplätzen in Dortmund 186 und die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg als gemeinsame Ländereinrichtungen bestätigt. Diese "formale Minimalkoordination" zwischen den Bundesländern wird durch eine in ihrer Bedeutung aber vielleicht sogar noch wichtigere, vornehmlich informelle ergänzt. Angesprochen sind damit die diversen Konferenzen der Ministerpräsidenten und der Länder- und Bundesminister. Die Bedeutung der Gemeinschaft aus Bund und Ländern als "dritter Ebene" zwischen dem Bund einerseits und den Bundesländern andererseits kann dabei kaum überschätzt werden: Hier ist nämlich insbesondere auch die "Ständige Konferenz der Innenminister/-senatoren des Bundes und der Länder (lMK)" zu verorten, von der alle wesentlichen polizeipolitischen Initiativen und Planungen ausgehen. Sie verabschiedete 1972 das "Programm für die Innere Sicherheit", arbeitete den ME PolG aus, beschloß die Einrichtung von INPOL etc. 187 Damit werden die grundlegenden Kriterien der Lehre vom zweigliedrigen Bundesstaat zunehmend relativiert. Nach dem sog. zweigliedrigen Bundesstaatsbegriff 182 W. Krebs, in: IsenseelKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, § 69 Rdnr.22. 183 Allgemein zur Bedeutung der Neufassung des Art. 23 GG siehe R. Scho1z, NVwZ 1993, 817 ff.; ders., NJW 1993, 1690 ff.; ders., NJW 1992, 2593. - Ablehnend zu Art. 23 GG n.F. R. Breuer, NVwZ 1994, 417 ff., der hierin eine "Sackgasse" erblickt und das staatsrechtliche Dilemma einer ebenso offenen wie offensiven Europapolitik für ungelöst hält. 184 BVerwGE 22, 299 ff. 185 BVerwGE 60, 162ff.; 54, 29ff. 186 BVerwGE50, 137ff. 187 Siehe hierzu H. Busch, Grenzenlose Polizei?, 1995, S. 162 ff, wobei dessen (zu) kritische Einstellung allenfalls ansatzweise geteilt werden kann.
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gibt es weder einen die Länder und den Bund verbindenden Gesamtstaat Bundesrepublik Deutschland noch eine "dritte", die Gemeinschaft der Länder darstellende "Ebene". Darüber hinaus schließt der zweigliedrige Bundesstaatsbegriff eine gemeinsame Gesetzgebung von Bund und Ländern grundsätzlich ebenso aus wie eine gemeinsame Verwaltung 188. Als Vorstufe einer derartigen gemeinsamen Polizei des Bundes und der Bundesländer kann INPOL-Bund verstanden werden. b) Verbund-, Zentral- und Amtsdateien Innerhalb der vielfältigen Anwendungen des INPOL-Bund-Systems können Verbund-, Zentral und Amtsdateien unterschieden werden l89 . Verbunddateien sind dabei vom Bundeskriminalamt als Zentralstelle geführte Dateien, in die die Länder selbst Daten einspeichern und abrufen können 190. Zentraldateien werden demgegenüber durch das Bundeskriminalamt geführt. Das Bundeskriminalamt gibt selbst erhobene oder durch die Bundesländer übermittelte Daten ein. Eine direkte Eingabe durch die Polizeidienststellen in den Bundesländern ist - anders als bei den Verbunddateien - nicht möglich 191. Amtsdateien schließlich führt das Bundeskriminalamt zur Erfüllung seiner originären Aufgaben (§§ 33d GewO, 37 III WaffG, 26 ff. 1. WaffVO, 27 I BtmG, 16 AsylVfG, 78 i.Y.m. 41 11, III AusIG)192. Verbunddateien erweisen sich dabei im Hinblick auf die rechtliche Verantwortlichkeit für die gespeicherten Daten als problematisch. Die datenschutzrechtliche Verantwortlichkeit kommt hier nämlich nicht dem Bundeskriminalamt als ZentralsteIle, sondern dem Landeskriminalamt zu, welches das jeweilige Datum eingegeben hat. Dies führt häufig dazu, daß mehrere Landeskriminalämter Daten über eine Person speichern. Die Löschung der von einem Landeskriminalamt gespeicherten Daten bewirkt dann keine Löschung dieser Information in der Verbunddatei, sondern nur die Aufgabe des "Mitbesitzes" an den Daten durch das löschende Landeskriminalamt. Die Daten bleiben gleichwohl solange in der Verbunddatei wie die längste Speicherfrist in den Bundesländern dauert l93 . 188 Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die bislang noch wenig erforschte "dritte Ebene" der Länderzusammenarbeit anhand eines Einzelfalls vgl. M. Schuler-Harms, Rundfunkaufsicht im Bundesstaat, 1995, S. 134ff., 159ff. sowie speziell zu den Auswirkungen der Informationsgesellschaft auf den Bundesstaat dies., in: Haratsch/Kuge1mannlRepkewitz (Hrsg.), Herausforderungen an das Recht der Informationsgesellschaft, 1996, S. 97 ff. 189 Nr. 2 Dateienrichtlinie, Erlaß des Bundesministers des Innern vom 26.2. 1981, GMBI 1981, S. 114ff. 190 Nr. 2.1 Dateienrichtlinie, Erlaß des Bundesministers des Innern vom 26. 2. 1981, GMB11981, S. 114ff.; A. Dix, Jura 1993, 571 (574). 191 Nr. 2.2 Dateienrichtlinie, Erlaß des Bundesministers des Innern vom 26. 2. 1981, GMB11981, S. 114ff. 192 Nr. 2.3 Dateienrichtlinie, Erlaß des Bundesministers des Innern vom 26. 2. 1981, GMB11981, S. 114 ff.
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c) Einzelne INPOL-Anwendungen Als einzelne INPOL-Anwendungen sind namentlich die Personen- und Sachfahndung, der Kriminalaktennachweis, die Haftdatei und der Erkennungsdienst zu unterscheiden. aa) Datei Personenfahndung
Innerhalb des INPOL-Systems kommt den Fahndungsdateien - wie bereits angedeutet - grundlegende Bedeutung zu; sie sind die "Keimzelle,,194 von INPOL. Die Personenfahndungsdatei ist dabei sowohl im Hinblick auf die Einführung der elektronischen Datenverarbeitung bei der Polizei als auch bezogen auf die Nutzungsintensität der "Grundpfeiler der polizeilichen Datenverarbeitung" 195. In die Personenfahndungsdatei werden insbesondere zur Festnahme, zur Ingewahrsamnahme und zur Aufenthaltsennittlung ausgeschriebene Personen sowie Personen, die zur polizeilichen Beobachtung ausgeschrieben sind, und Personen, denen die Fahrerlaubnis entzogen wurde und die den Führerschein bei der zuständigen Stelle nicht abgegeben haben bzw. bei denen der Führerschein nicht eingezogen werden konnte, aufgenommen. Die Ausschreibung zur Festnahme oder Ingewahrsamnahme kann Personen betreffen, die von Gerichten, Staatsanwaltschaften, Justizvollzugsanstalten, Polizei- oder Finanzbehörden gesucht werden, Ausländer, gegen die eine unanfechtbare Ausweisungs-/Abschiebungsverfügung vorliegt, wenn die zum Verlassen des Bundesgebietes bestimmte Frist abgelaufen ist und Personen, die auf Ersuchen ausländischer Polizei- oder Justizbehörden festgenommen werden sollen. Gespeichert werden für die Personenfahndung neben den rechtmäßigen Personalien (P-Gruppe), andere Personalien (Aliaspersonalienlandere Schreibweise - AGruppe), die Fahndungsdaten (F-Gruppe), personengebundene Hinweise (W-Gruppe) und Personenbeschreibungen (L_Gruppe)196. Die Fahndungsnotierungen werden entweder bei Erreichen des Laufzeitendes per Programm oder bei polizeilicher Erledigung manuell durch den jeweiligen Sachbearbeiter gelöscht. Die die Daten eingebende Dienststelle ist für deren Richtigkeit und Löschung verantwortlich (Besitzerprinzip ). Die Regel-Laufzeit der Fahndungsnotierung beträgt bei Ersuchen zur Festnahme von inländischen Justizbehörden, zur Ingewahrsamnahme, zur Einziehung von Führerscheinen und zur 193 A. Dix, Jura 1993,571 (574). 194 H. Mayer-Metzner, Auskunft aus Dateien der Sicherheits- und Strafverfolgungsorgane,
1994, S. 34. 195 H. Bäumler, in: LiskenIDenninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Aufl. 1996, J Rdnr. 167. 196 H. Mayer-Metzner, Auskunft aus Dateien der Sicherheits- und Strafverfolgungsorgane, 1994, S. 34f.
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Erster Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
polizeilichen Beobachtung jeweils 1 Jahr. Ersuchen zur Festnahme von inländischen Polizeibehörden sollen nach 3 Monaten, solche von Ausländerbehörden bei Ausweisungs-/Abschiebungsverfügungen nach 10 Jahren gelöscht werden. Festnahmeersuchen ausländischer Polizei- und Justizbehörden werden bis auf Widerruf gespeichert. Die Personenfahndungsdatei wird im Rechner-Rechner-Verbund und in Parallelspeicherung bzw. mit direkt an die elektronische Datenverarbeitung des Bundeskriminalamtes angeschlossenen Terminals betrieben l97 . Das Bundeskriminalamt synchronisiert und aktualisiert die Dateien des Bundes und der Länder. bb) Datei Sachfahndung
Die Sachenfahndungsdatei 198 erfaßt alphanumerisch gekennzeichnete und deshalb eindeutig identifizierbare Sachen, die zur Beweissicherung, Einziehung, Eigentumssicherung, Beobachtung, Insassenfeststellung, Zwangsentstempelung, Besitzer-lEigentümerermittlung, Identitätsprüfung und zollrechtlichen Überwachung ausgeschrieben sind. Aufgenommen werden Daten von Eigentümern, Besitzern oder Geschädigten, Beschuldigten, Tatverdächtigen oder vermißten Personen im Zusammenhang mit den zur Fahndung ausgeschriebenen Sachen. Der Datensatz "Sachenfahndung" enthält eine Datengruppe "Fahndungsnotierung" und eine oder mehrere Datengruppen "Sachbeschreibung". Die "Fahndungsnotierung" enthält Angaben über die Ausschreibungsbehörde, Aktenzeichen, Anlaß und Zweck der Ausschreibung, das Eingabedatum, Löschungstermin und Tatzeit. Die "Sachbeschreibung" setzt sich aus der Art des Gegenstandes, der Herkunftsbezeichnung, Typ, Modell, Nennwert, amtl. Kennzeichen, Nationalitätskennzeichen, Fahrgestell- und Motornummer, individueller Kennzeichnung, Farbe und anderen sachgebundenen Hinweisen zusammen. Erfassung, Speicherung und Löschung der Daten entsprechen den Modalitäten bei der Personenfahndungsdatei. Die Regel-Laufzeiten der Speicherung betragen für Gegenstände allgemein 2 Jahre, für Kraftfahrzeuge/amtl. Kennzeichen, Dokumente, Schmuck, Uhren und Pelze 5 Jahre, für Reisepässe 10 Jahre, Reisepaßvordrucke 20 Jahre und Waffen 30 Jahre. Nach Ablauf der Fahndungsnotierung werden die Daten der Sachenfahndung weitere 5 Jahre im Sachenfahndungsarchiv beim Bundeskriminalamt verwahrt. Hierauf ist kein on-line-Zugriff möglich.
197 H. Bäumler, in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Aufl. 1996, J Rdnrn. 167 ff. 198 Vgl. dazu H. Mayer-Metzner, Auskunft aus Dateien der Sicherheits- und Strafverfolgungsorgane, 1994, S. 36; H. Bäumler, in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Aufl. 1996, J Rdnrn. 174f.; R. Riegel, Datenschutz bei den Sicherheitsbehörden, 2. Aufl. 1992, S. 39.
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ce) Datei Kriminalaktennachweis
Als neben der Personen- und Sachfahndungsdatei weitere Anwendung enthält das INPOL-System mit dem Kriminalaktennachweis (KAN)199 ein Gesamtverzeichnis der Kriminalakten, die beim Bund und bei den Ländern nach den "Richtlinien für die Führung kriminalpolizeilicher personenbezogener Sammlungen (KpSRichtlinien)" in Fällen schwerer oder überregional bedeutsamer Straftaten über Beschuldigte oder sonst tatverdächtige Personen angelegt sind. Kriminalakten sind anlaßbezogene Sammlungen der strafrechtlich, gelegentlich aber auch der polizeirechtlieh relevanten Informationen über eine Person200 . Schwere Straftaten i. S. d. Kriminalaktennachweises sind dabei Verbrechen und die in § lOOa StPO genannten Vergehen. Überregional bedeutsame Straftaten liegen bei gewohnheits-, gewerbsoder bandenmäßiger Begehung, Triebtäterschaft, planmäßiger überörtlicher Begehung, bei Verfolgung extremistischer Ziele, bei der Begehung unter Mitführung von Schußwaffen, bei internationaler Betätigung und bei erneuter Straffalligkeit des Beschuldigten oder Tatverdächtigen außerhalb seines Wohn- und Aufenthaltsbereichs VOrOl. Aktenhinweise auf Straftaten von ausschließlich regionaler Bedeutung dürfen in den Kriminalaktennachweis nicht aufgenommen werden. Den Bundesländern bleibt es überlassen, diese Aktenhinweise in ihren Landesaktennachweisen zu führen. Die frühere Absicht, einen zentralen Kriminalaktennachweis aller in der Bundesrepublik geführten Kriminalakten einzuführen, wurde zu Gunsten des jetzt installierten, nach Ebenen gegliederten Systems unterschiedlicher Kriminalaktennachweise aufgegeben. Heute existieren neben dem Aktennachweis des Bundeskriminalamtes (BKA-AN), einer Amtsdatei, die aber den Polizeien der Länder zugänglich gemacht wurde, der Kriminalaktennachweis des Bundes (Bundes-KAN), die Kriminalaktennachweise der einzelnen Bundesländer (Landes-KAN), die bei den Landeskriminalämtern geführt werden, sowie insbesondere in den bayerischen Polizeidirektionen und Präsidien der Großstädte regionale Kriminalaktennachweise (RKAN)202. Je tiefer dabei die Ebene des Kriminalaktennachweises ist, desto größer ist einerseits der Kreis der zu speichernden Daten, umso kleiner ist aber an199 Siehe dazu z. B. H. Mayer-Metzner, Auskunft aus Dateien der Sicherheits- und Strafverfolgungsorgane, 1994, S. 24ff.; H. Bäumler, in: LiskenIDenninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Aufl. 1996, J Rdnm. 176ff.; R. Riegel, Datenschutz bei den Sicherheitsbehörden, 2. Aufl. 1992, S. 38. 200 H. Mayer-Metzner, Auskunft aus Dateien der Sicherheits- und Strafverfolgungsorgane, 1994, S. 24f. - Ausführlich zu den Kriminalakten F. Rachor, Vorbeugende Straftatenbekämpfung und Kriminalakten, 1989, S. 52 ff. sowie zu ihrer rechtlichen Bewertung PitschaslAulehner, NJW 1989,2353 (2356 ff.). Aus jüngerer Zeit und im Hinblick auf Art. 48 BayPAG siehe BayVGH, BayVBI. 1996, 405. 201 H. Bäumler, in: LiskenlDenninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Aufl. 1996, J Rdnr. 177. 202 H. Mayer-Metzner, Auskunft aus Dateien der Sicherheits- und Strafverfolgungsorgane, 1994, S. 26 f.
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Erster Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
dererseits der Kreis der Zugangsberechtigten. Landes-KAN und RKAN sind nur im jeweiligen Bundesland bzw. in der betreffenden Region zugänglich. Kriminalaktennachweise werden sowohl als Amts- als auch als Verbunddateien geführt203 • Vor der Erfassung und Speicherung einer AktenfundsteIle prüft der Sachbearbeiter, ob die Kriterien für eine Aufnahme in den Kriminalaktennachweis des Bundes gegeben sind. Sind diese nicht erfüllt, wird die Akte im Kriminalaktennachweis des Landes oder, wenn auch die hierfür bestehenden Anforderungen nicht gegeben sind, nur im regionalen Kriminalaktennachweis gespeichert. Vor einer Speicherung im Bundes-KAN wird zunächst am Landesrechner im Rechner-Rechner-Verbund mit dem Bundesrechner geprüft, ob für den Betroffenen bereits KAN-Notierungen geführt werden. Ggf. werden die bereits gespeicherten Personalien nur durch eine KAN-Notierung mit Informationen über die aktenführende Dienststelle, das Aktenzeichen, den Aktenaussonderungsprüftermin und Sondervermerken ergänzt. Liegen zu der betroffenen Person noch keine Informationen vor, werden die Personalien und die entsprechende KAN-Notierung erfaßt. Die Erfassung erfolgt dabei jeweils zunächst auf dem Landesrechner; dieser übermittelt die Information zum Bundesrechner. Damit steht die KAN-Notierung bundesweit allen Polizeidienststellen zur Verfügung. Die Laufzeiten im Kriminalaktennachweis sind befristet und werden vom Sachbearbeiter bestimmt. Sie regeln sich nach den "Richtlinien für die Führung kriminalpolizeilicher personenbezogener Sammlungen" (KpSRichtlinien) und sind allgemein in den Polizeigesetzen festgelegt (§ lOh I Nr. 8 VE ME PoIG, Art. 38 11 3 bis 5, 37 III BayPAG). Die Löschung erfolgt automatisch bei Fristablauf oder manuell bei Wegfall der Voraussetzungen für die Speicherung im Kriminalaktennachweis. Werden vor Ablauf der Löschungsfrist neue KAN-Notierungen für die betroffene Person aufgenommen, wird üblicherweise die ursprüngliche Löschungsfrist durch die für die neue KAN-Notierung geltende ersetzt204 . Der KAN-Bestand ist teilparallel organisiert, d. h. der Gesamtbestand der Daten wird nur auf dem Rechner des Bundeskriminalamtes geführt. Er stellt die Summe der KAN-Bestände der Länder und der KAN-Notierungen des Bundeskriminalamtes und der Grenzschutzbehörden dar. Die Grenzschutzbehörden führen einen eigenen Grenzaktennachweis (GAN) und haben Zugriff auf die Datenbestände des KAN; umgekehrt ist der GAN der Vollzugspolizei verschlossen 20 5 . Die Bundesländer führen auf ihren Landesrechnem nur die Kriminalaktennachweise ihres Bundeslandes.
203 H. Bäumler, in: LiskenIDenninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Auf!. 1996, J Rdnr. 176. 204 H. Mayer-Metzner, Auskunft aus Dateien der Sicherheits- und Strafverfolgungsorgane, 1994, S. 26. 205 H. Mayer-Metzner, Auskunft aus Dateien der Sicherheits- und Strafverfolgungsorgane, 1994, S. 28.
§ 1 Erscheinungsfonnen
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dd) Haftdatei
Die Haftdatei 206 wird innerhalb des INPOL-Systems als Verbunddatei i. S. d. Nr. 2.1. der Richtlinien für die Errichtung und Führung von Dateien über personenbezogene Daten beim Bundeskriminalamt (BKA) geführt. Es handelt sich um eine teilparallele Bestandsführung ; die Gesamtheit der Daten der Haftdatei wird nur auf dem Bundesrechner geführt. Die Landesrechner speichern nur die Haftnotierungen des jeweiligen Bundeslandes. Rechtsgrundlage für die Führung der Haftdatei ist § 4 I i.V.m. 2 I BKAG. Gemäß § 411 BKAG sind die Justiz- und Verwaltungsbehörden verpflichtet, den Landeskriminalämtern unverzüglich den Beginn, die Unterbrechung und die Beendigung von richterlich angeordneten Freiheitsentziehungen mitzuteilen. Dieselbe Mitteilungspflicht besteht gemäß § 4 11 BKAG für die Landeskriminalämter gegenüber dem Bundeskriminalamt. Ziel der Haftdatei ist ein Nachweis über Personen, die sich aufgrund richterlich angeordneter Freiheitsentziehungen in behördlichem Gewahrsam befinden (aktuelle Haftnotierungen) oder befanden (inaktuelle Haftnotierungen), um insbesondere auf Fahndungsausschreibungen zu bereits in Gewahrsam befindlichen Personen aufmerksam zu machen, Anhaltspunkte zur Alibiüberprüfung zu erlangen und über bevorstehende Haftentlassungen zu informieren 207 . Die zuständigen Polizeidienststellen der Bundesländer geben die Personalien und die Haftnotierung in den Landesrechner ein, der sie an den Bundesrechner übermittelt. Die Haftnotierung enthält Angaben über Anstalt, Aufnahmetag, Buchnummer, Art und Anlaß der Freiheitsentziehung, Einweisungsbehörde und Aktenzeichen, Beginn, voraussichtliches und tatsächliches Ende, Aufnahme/Beendigung und Sondervermerke. Mit der Eingabe des tatsächlichen Endes wird die Haftnotierung inaktualisiert und auf die wesentlichen Informationen reduziert. Inaktuelle Haftnotierungen werden zwei Jahre gespeichert, es sei denn, daß für die betreffende Person nach Ablauf dieser Frist noch KAN-Notierungen bestehen; in diesem Fall wird die inaktuelle Haftnotierung fünf Jahre aufbewahrt. Die Löschung der inaktuellen Haftnotierungen im Bundesrechner erfolgt ohne Benachrichtigung des Landes, aus dem die Haftnotierung über den Landesrechner übermittelt wurde. Nach vollzogener Löschung im Bundesrechner wird der Landesrechner davon in Kenntnis gesetzt, um ggf. auch im Landesrechner eine Löschung zu veranlassen.
206 Vgl. dazu H. Mayer-Metzner, Auskunft aus Dateien der Sicherheits- und Strafverfolgungsorgane, 1994, S. 38f.; H. Bäumler, in: LiskenIDenninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Auf!. 1996, J Rdnr. 182; R. Riegel, Datenschutz bei den Sicherheitsbehörden, 2. Auf!. 1992, S. 39. 207 R. Riegel, Datenschutz bei den Sicherheitsbehörden, 2. Auf!. 1992, S. 39.
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Erster Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
ee) Datei Erkennungsdienst
Die Datei Erkennungsdienst 208 im INPOL-System ist das Gesamtverzeichnis der verwaltungsmäßigen Daten (Datum, Ort, Art) der nach den erkennungsdienstlichen Richtlinien durchgeführten erkennungsdienstlichen Maßnahmen. Die Datei Erkennungsdienst soll es ermöglichen, Personen, die unter falschen Personalien auftreten oder die Angabe ihrer Personalien verweigern, zu identifizieren, namensgleiche Personen zu unterscheiden, unbekannte hilflose Personen oder unbekannte Tote zu identifizieren, Ergebnisse aus erkennungsdienstlichen Behandlungen zusammenzufassen, den Stand von Personenfeststellungsverfahren sofort zu erkennen und daktyloskopische Sofortvergleiche bei wiederholt erkennungsdienstlich behandelten Personen vorzunehmen. Der Datensatz "Erkennungsdienst" besteht aus den Datengruppen "Rechtmäßige Personalien" (P-Gruppe) und "Andere Personalien" (A-Gruppe) sowie aus einer oder mehreren Datengruppen "Erkennungsdienstliche Behandlungen" (E-Gruppen). Die E-Gruppen enthalten Angaben über die erkennungsdienstliche Behandlung, deren Datum, durchführende Dienststelle, Anlaß und Art der Maßnahme, Personenfeststellungsverfahren und Sondervermerke. Die durch die Polizeidienststellen der Länder erhobenen erkennungsdienstlichen Daten werden auf dem Landesrechner gespeichert und von diesem an den Bundesrechner übermittelt. fj) PlOS- und SPUDOK-Dateien
Eine im Vergleich zu den bisherigen INPOL-Anwendungen andere Qualität nehmen die PIOS- und SPUDOK-Dateien ein. In den PIOS-Dateien werden die Inhalte von Ermittlungsakten als Datengruppen von Personen, Institutionen, Objekten und Sachen gespeichert. Die PIOS-Dateien werden ausschließlich in der zentralen Datenverarbeitungsanlage des Bundeskriminalamts vorgehalten und nur im Rechner-Terminal-Verbund geführt. Ziel der PIOS-Dateien ist es, ganze Kriminalitätsbereiche oder die Akten zusammenhängender Delikte auszuwerten. Die PIOS-Dateien stellen Aktenerschließungssysteme dar: In ihnen sollen sämtliche, zu einem Vorgang gehörenden Sachverhalte und alle dazu anfallenden Einzelinformationen gespeichert werden. Hierzu wird ein Vorgang auf der ersten (Vorgangs-)Ebene des Systems in freiem Text bezeichnet und kurz beschrieben. Auf einer zweiten (Sachverhalts-) Ebene werden die Ereignisse und Zustände, die zu diesem Vorgang gehören, erfaßt. Auf der drit-
208 Vgl. dazu H. Mayer-Metzner, Auskunft aus Dateien der Sicherheits- und Strafverfolgungsorgane, 1994, S. 36ff.; H. Bäumler, in: LiskenIDenninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Auf!. 1996, J Rdnr. 183; R. Riegel, Datenschutz bei den Sicherheitsbehörden, 2. Auf!. 1992, S. 39.
§ 1 Erscheinungsfonnen
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ten Ebene werden die zu den einzelnen Sachverhalten gehörenden Einzelinformationen gespeichert. Im Gegensatz zu den übrigen INPOL-Anwendungen kann in den PIOS-Daten eine Person mehrfach gespeichert werden. Darüber hinaus können alle Benutzer die Daten ändern. Die PIOS-Dateien dienen zur Gewinnung bzw. Verdichtung eines Verdachtes. Die damit verbundenen gravierenden Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung machen eine Beschränkung dieser Dateien auf schwere Kriminalitätsformen erforderlich (§ lOa IV VE ME PoIG). Die SPUDOK-Dateien entsprechen prinzipiell den PIOS-Dateien. Allerdings handelt es sich bei diesen Spurendokumentationssystemen (SPUDOK) um zeitweise eingerichtete Dateien, die bei besonderen Ereignissen oder spektakulären Straftaten eingerichtet werden können und hierfür alle ermittlungsrelevanten Hinweise, Spuren und Maßnahmen sowie Ermittlungsergebnisse aufnehmen. PIOS- und SPUDOK-Dateien enthalten im Gegensatz zu den übrigen INPOLAnwendungen nicht nur ,,harte", sondern auch und sogar vornehmlich "weiche" Daten. "Harte" Daten sind hierbei Informationen über getroffene Gerichts- oder Verwaltungsentscheidungen; als "weiche" Daten werden demgegenüber Informationen, die für die Durchführung noch nicht abgeschlossener Ermittlungen benötigt werden, bezeichnet.
d) Datengruppen des INPOL-Systems Innerhalb des INPOL-Systems können neben den verschiedenen INPOL-Anwendungen, auf die bereits hingewiesen wurde und die sogleich noch näher dargestellt werden, Datengruppen unterschieden werden. Welche Datengruppen bei der jeweiligen INPOL-Anwendung gespeichert werden dürfen, schreibt die Errichtungsanordnung für die jeweilige INPOL-Anwendung vor. Datengruppen209 sind die rechtmäßigen Personalien, d. h. Personalien, die dem Erkenntnisstand zufolge rechtlich sanktioniert die Person beschreiben und damit beurkundet sind (P-Gruppe), andere - nicht beurkundete und nicht rechtmäßig erworbene - Personalien, mit denen sich die Person selbst bezeichnet oder bezeichnet wird (Aliaspersonalien/andere Schreibweise - A-Gruppe), personenbezogene Hinweise, welche die Persönlichkeit des Betroffenen in kriminologisch relevanter Weise beschreiben sollen (W-Gruppe), Personenbeschreibung (L-Gruppe), Fahndungsdaten zur Person (F-Gruppe), Haftdaten (H-Gruppe), Nachweise über erkennungsdienstliche Behandlungen (E-Gruppe), Nachweise zu angefertigten personenbezogenen Unterlagen (Kriminal akten - U-Gruppe), Fallinformationen, Er209 Vgl. dazu z. B. H. Mayer-Metzner, Auskunft aus Dateien der Sicherheits- und Strafverfolgungsorgane, 1994, S. 24.
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Erster Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
kenntnisse zu Straftaten und Geschädigten (T-Gruppe), zusätzliche Personeninformationen (Z-Gruppe) und Daktyloskopie (Fundort-Formel) sowie Personalien zum unbekannten Tater (X-Gruppe) und Angaben zur kriminologischen Bewertung der Opfer (V-Gruppe). Bei jeder INPOL-Anwendung werden grundsätzlich die rechtmäßigen Personalien und eine anwendungsspezifische Datengruppe geführt. Die Datengruppe "Rechtmäßige Personalien" (P-Gruppe) enthält Farnilien-, Geburts-, sonstige (insbesondere Geschiedenen-, Verwitweten-, frühere, Genannt-, Künstler- oder Ordens-)Namen und Vomamen 21O , Geburtsdatum und -ort, Geschlecht, Nationalität, Sterbedatum sowie personengebundene Hinweise. Ebenfalls erlaßt sind in P-Gruppen das Bundesland, das die Daten eingegeben hat und die Terminalkennung der eingebenden Dienststelle. In der A-Gruppe werden die gleichen Angaben wie in der P-Gruppe erlaßt, wenn die Person Alias-Personalien benutzt. Die personengebundenen Hinweise werden heute in einer eigenen Datengruppe (W-Gruppe) geführt. Dabei wird für jeden personenbezogenen Hinweis eine eigene Datengruppe angelegt. Die W-Gruppe darf nur angelegt werden, wenn nach der Errichtungsanordnung die Führung des jeweiligen personenbezogenen Hinweises zulässig ist. Im Zusammenhang mit der Haftdatei und den Falldateien des Bundeskriminalamtes ist die Führung personenbezogener Hinweise unzulässig. Für die Anwendungen Personen- und Sachfahndung, Erkennungsdienst, Kriminalaktennachweis, Bundeskriminalamt-Aktennachweis, Daktyloskopie und die Falldatei Rauschgift sind die personenbezogenen Hinweise "bewaffnet", "gewalttätig", "Ausbrecher", "Ansteckungsgefahr", "geisteskrank", "Betäubungsmittelkonsument", "Freitodgefahr" und "Prostitution" zulässig. Der Hinweis "bewaffnet" setzt dabei begründete Anhaltspunkte dafür voraus, daß der Betroffene eine Waffe im technischen Sinn bei der Begehung einer Straftat verwendet hat oder eine Waffe zur Begehung von Straftaten, insbesondere um sich einer Festnahme zu widersetzen, mit sich führen wird. "Gewalttätig" sind Personen, die bei einer Straftat erhebliche Gewalt gegen Personen oder Sachen eingesetzt haben und auch zukünftig bei Straftaten, insbesondere Widerstandshandlungen, erhebliche körperliche Gewalt gegen Personen oder Sachen einsetzen werden. "Ausbrecher" sind Personen, die bereits einmal aus amtlichem Gewahrsam entwichen sind, sich dem Vollzug einer Freiheitsentziehung mit Gewalt widersetzt haben oder beim Vollzug der Freiheitsentziehung geflohen sind. "Ansteckungsgefahr" besteht bei Personen, die unter einer nach § 3 BSeuchG meldepflichtigen Krankheit leiden, oder die gemäß § 2 BSeuchG krankheits- oder ansteckungsverdächtig, Ausscheider oder ausscheidungsverdächtig sind. Dabei wird auf die Art der Krankheit, bei Verdacht auf Aids durch "Vorsicht Blutkontakt" hingewiesen. "Geisteskrank" setzt eine ärztliche Feststellung, daß der Betroffene an einer Geisteskrankheit leidet, voraus. "Betäubungsmittelkonsument" sind Betroffene, die Opiate jeder Art, Kokain, Amphetamin, Halluzinogene oder andere ärztlich gebrauchte Betäubungsmittel oder sog. 210
Für die Erfassung von Namen gelten die Konventionen der DIN 5007.
§ I Erscheinungsfonnen
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Ausweichmittel konsumieren. "Freitodgefahr" besteht, wenn mindestens ein Selbstmordversuch polizeilich bekannt ist oder wenn Anhaltspunkte für eine Selbstmordabsicht bestehen. Der Vermerk "Prostitution" setzt gesicherte Erkenntnisse darüber voraus, daß eine weibliche Person ihren Lebensunterhalt überwiegend aus der Gewerbsunzucht (Prostituierte), oder daß eine männliche Person im Straßen- oder Lokalstrich ihren Lebensunterhalt vorwiegend aus der gewerbsmäßigen Unzucht bestreitet (sog. Strichjunge). Die personenbezogenen Hinweise "Prostitution" werden 5 Jahre, "Ansteckung" und "Freitodgefahr" 2 Jahre und die übrigen für die Dauer der Aufbewahrung der kriminalpolizeilichen Sammlung des Betroffenen gespeichert. Die "Fahndungsnotierung" (F-Gruppe) enthält die ausschreibende Behörde, das Aktenzeichen, Anlaß und Zweck der Ausschreibung, das Eingabe- bzw. Aktualisierungsdatum, die Fahndungsregion, die Veröffentlichung und Sondervermerke. Die Fahndungsnotierung kann dabei sowohl präventiv als auch repressiv veranlaßt sein21l .
D. Polizeiliche Gefahrenvorsorge Ausdruck eines Paradigmenwechsels im Polizei recht Die geschilderten Vollzugsstrukturen der polizeilichen Gefahren- und Informationsvorsorge sind Ausdruck eines Paradigmenwechsels im Polizeirecht. Die überkommene Beschränkung der polizeilichen Tätigkeit auf die Gefahrenabwehr wird überwunden; das polizeiliche Tätigkeitsspektrum erweitert sich. Die heutige polizeiliche Maßnahmenpalette wird nicht erst beim Vorliegen einer Gefahr ausgelöst. Der polizeiliche Handlungsraum hat sich in das Vorfeld der Gefahrenabwehr ausgedehnt. Auch polizeirechtlich anerkannte Modifikationen des Gefahrenbegriffs - wie Anscheins- und Putativgefahr und Gefahrenverdacht sowie Zweckveranlasser und latente Gefahr - vermögen diesen Wandel nicht aufzunehmen. Die Charakteristika der polizeilichen Gefahrenabwehr - Vergangenheitsbezug, auf einen bestimmten Zeitpunkt fixierte, auf allen für das Vorliegen einer Gefahr relevanten Umständen beruhende Gesamtbeurteilung, Bevorstehen eines konkreten Schadens, Eintrittswahrscheinlichkeit, Zurechenbarkeit etc. 212 - sind heute nur noch bei einem Teil, keineswegs aber bei allen polizeilichen Maßnahmen erkennbar.
2ll H. Mayer-Metzner, Auskunft aus Dateien der Sicherheits- und Strafverfolgungsorgane, 1994, S. 35. 212 Vgl. dazu z. B. M. Walker, Abstrakte und konkrete Gefahr, 1994, S. 90ff.
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Erster Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
Die polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge stellt demgegenüber ein qualitatives aliud dar213 .
E. Erscheinungsformen der polizeilichen Gefahrenund Informationsvorsorge - Zusammenfassung Die herkömmlichen Konzepte für die polizeiliche Gefahrenvorsorge sind defizitär. Sie sind durch das Fehlen einer umfassenden Standortbestimmung für die modeme Polizei gekennzeichnet und stellen die polizeiliche Gefahrenvorsorge als unstrukturiertes Handlungskonzept dar. Die hier interessierenden Begriffe "Vorsorge", "Gefahrenvorsorge" und "Informationsvorsorge" sind schwer konturierbar. Die polizeiliche Informationsvorsorge ist Teil der polizeilichen Gefahrenvorsorge; diese wiederum ist Teil eines allgemeinen Vorsorgeprinzips. Definitionsversuche der Gefahren- bzw. Informationsvorsorge gehen vornehmlich von einer Abgrenzung zur Gefahrenabwehr aus. Die Gefahren- bzw. Informationsvorsorge ist ein gesetzlicher Grundsatz sowie ein rechtliches und politisches Prinzip. Unter Informationsvorsorge soll zunächst das Erheben, Vorhalten oder Verarbeiten von Informationen im Vorfeld einer von den Polizeigesetzen vorausgesetzten konkreten Gefahr und eines hinreichenden Tatverdachts im Sinne der Strafprozeßordnung verstanden werden. Die Richtigkeit neuerer Definitionsversuche in der Literatur, denen zufolge die polizeiliche Informationsvorsorge die Gesamtheit derjenigen Tätigkeiten umfaßt, "die in Sicherung der für die Gefahrenabwehr, -erforschung und -vorsorge sowie für die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten erforderlichen Informationen von den Polizei behörden mittels Einsatz entsprechender Informationsquellen, unter Knüpfung polizeiübergreifender ,Informationsnetze' sowie mittels Einsatz der modemen IuK-Technik verrichtet werden", kann erst später nach einer genaueren Charakterisierung der polizeilichen Gefahrenvorsorge 214 beurteilt werden. Die tatsächliche Situation der polizeilichen Verbrechens bekämpfung erfordert eine Gefahren- bzw. Informationsvorsorge. Neuere polizeiliche Präventionsstrategien tragen dem ansatzweise Rechnung. Der gravierende Anstieg der Gesamtkriminalität bei einer vergleichsweise nur geringfügig erhöhten Zahl von Polizeieinsatzbeamten, die Entwicklung neuer Verbrechensformen, der Abbau der europäischen Binnengrenzen und die politischen Veränderungen im Osten Europas, machen eine polizeiliche Gefahren- bzw. Informationsvorsorge erforderlich. Zusätzliche Probleme ergeben sich aus der besonderen Situation der Polizei in den fünf neuen Bundesländern. 213 214
Vgl. dazu ausführlich noch unten im Text sub 11. insb. D. Siehe hierzu unten im Text sub 11. insb. C. und D.
§ 2 Gefahren- und Infonnationsvorsorge im Recht
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Im Rahmen dieser Bedrohungsanalyse ist der zunehmende Übergang von der Mikro- zur Makrokriminalität hervorzuheben. Die Gefährlichkeit der organisierten Kriminalität - einer der Haupterscheinungsformen der Makrokriminalität - beruht auf der Ausbildung eigener, unabhängiger sozialer Systeme. Die zunehmende Gefahr einer nur selektiven Strafverfolgung und die Verlagerung polizeilicher Aufgaben auf Private und Kommunen sind äußere Anzeichen für die angespannte Situation der Polizei. Andererseits ermöglicht die technische Fortentwicklung der polizeilichen Informationssysteme erst eine effektive Gefahren- bzw. Informationsvorsorge. Die automatische Datenverarbeitung führt zu quantitativen und qualitativen Veränderungen der polizeilichen Verbrechensbekämpfung. Nach H. Bäumter ist sie "über ihre unterstützende Funktion längst hinausgewachsen und zu einem eigenständigen Ermittlungsansatz geworden,,215. Darüber hinaus hat sie organisatorische Auswirkungen bzw. Voraussetzungen und macht eine Neubestimmung der Rolle der Polizei erforderlich.
§ 2 Die polizeiliche Gefahrenund Informationsvorsorge im Recht Nach der Offenlegung der Vorsorgeelemente im Polizeibereich ist der Blick auf deren rechtliche Normierung zu richten. Hierfür wird die hier vornehmlich interessierende polizeiliche Informationsvorsorge exemplarisch herangezogen. Diese Beschränkung ist gerechtfertigt, weil die Informationserhebung und -bearbeitung den Hauptteil der polizeilichen Tätigkeit ausmacht und zudem besondere Probleme aufwirft. Anders als bei der polizeilichen Gefahrenvorsorge im allgemeinen wird bei der Informationsvorsorge nämlich nicht erst der Einsatz, sondern schon das bloße Vorhalten von Informationen ·als Grundrechtseingriff mit allen hieran anknüpfenden Folgerungen bewertet. Darüber hinaus haben die Gesetzgeber diesen Bereich mittlerweile neu geregelt. Heute ist die Lage der Polizei in rechtlicher Hinsicht ähnlich angespannt wie in tatsächlicher 1. Die Rechtsprobleme resultieren dabei aus einer vielfach überzogenen Interpretation des bundesverfassungsgerichtlichen Urteils 2 über das Volkszählungsgesetz 1983 und den in dessen Gefolge durchgeführten bzw. angestrebten Änderungen der Polizeigesetze und der StPO.
215 H. Bäumler, in: LiskenIDenninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Auf!. 1996, J Rdnr. 157. 1 Vgl. dazu schon unter § 1. B. 2 BVerfGE 65, 1 ff.; siehe auch BVerfGE 64, 67 ff.
7 Aulehner
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
A. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Volkszählungsgesetz 1983 I. "Volkszählungs"-Urteil und polizeiliche Informationsvorsorge Aus dem "Volkszählungs"-Urteil des BVerfG wird vielfach ein Verbot der polizeilichen Datenerhebung, -speicherung und -verarbeitung mit der Begründung abgeleitet, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verlange bereichsspezifische gesetzliche Regelungen für den Umgang mit Daten. Die Richtlinien, welche die polizeilichen GeneralklauseIn konkretisieren, stellten daher keine zureichende Rechtsgrundlage mehr dar. Teilweise wird durch die einfachen Gerichte 3 und in der Literatur4 sogar ein sog. "Übergangsbonus,,5, der die polizeiliche Datenverarbeitung auf der Grundlage der bisherigen Regelungen erlaubt bis die geforderten Gesetzesänderungen in Kraft treten, verneint bzw. sein Ablauf proklamiert6 . Diese Sichtweise überdehnt den Inhalt des bundesverfassungsgerichtlichen Judikats und würde zudem die Bindung der einfachen Gerichte an die Entscheidungen der Verfassungsgerichte außer Acht lassen. Urteilsgegenstand ist zunächst allein das Volkszählungsgesetz 1983, nicht aber die Datenverarbeitung im Bereich der Sicherheitsbehörden. Diese ist nur mittelbar insofern betroffen, als die Urteils gründe allgemeine Ausführungen zum Umgang mit Daten beinhalten? Das BVerfG hat dem Gesetzgeber gleichsam nur einen Hinweis erteilt, welchen Anforderungen die Informationsverarbeitung unterliegt. PitschaslAulehner sprechen insoweit von einer "Reflexionsentscheidung,,8, die sich von sog. Appellentscheidungen insofern unterscheidet, als sie nicht die Rechtswidrigkeit einer konkreten Sachverhaltskonstellation feststellt, sondern den Gesetzgeber nur zu einer Prüfung und Fortentwicklung des einfachen Rechts auffordert. Das BVerfG stellt ausdrücklich fest, daß die Verfassungs beschwerden keinen Anlaß zur erschöpfenden Erörterung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung geben 9 .
3 OLG Frankfurt, NJW 1989, 47ff. sowie die Nachweise bei Pitschas/Aulehner, NJW 1989,2353 u. Fußn. 4. 4 S. Simitis, NJW 1989,21 f.; weitere Nachweise bei Pitschas/Aulehner, NJW 1989,2353 (2358) u. Fußn. 76. 5 Zusammenfassend dazu auch M. Kniesei, in: H. P. BuH (Hrsg.), Sicherheit durch Gesetze?, 1987, S. 105 ff., 115 ff. m.w.N. 6 Dagegen aber BVerwG, NJW 1990,2761 ff. und NJW 1990, 2765ff.; siehe zu diesen Entscheidungen auch SimitislFuckner, NJW 1990, 2713 ff. sowie D. Peitsch, Die Polizei 1991, 66ff. - Zum Ablauf der Übergangsfrist für die Akteneinsicht von am Strafverfahren nicht beteiligten Dritten vgl. AG Wolfratshausen, NJW 1994, 2774 ff. 7 BVerfGE 65, I (insb. 41-46). 8 Pitschas/Aulehner, NJW 1989,2353 (2358) in Fußn. 76. 9 BVerfGE 65, 1 (44).
§ 2 Gefahren- und Infonnationsvorsorge im Recht
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11. Der Inhalt des "Volkszählungs"-Urteils Inhaltlich leitet das BVerfG im "Volkszählungs"-Urteil aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG ein Recht lO auf informationelle Selbstbestimmung ab, indem es das allgemeine Persönlichkeitsrecht weiter konkretisiert. Dieses Recht schützt den einzelnen gegen die unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten; es ist jedoch nicht schrankenlos gewährleistet. Eine absolute, uneinschränkbare Herrschaft des einzelnen über seine Daten wird im Hinblick auf die Gemeinschaftsbezogenheit des Individuums abgelehnt. Die Beschränkungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung bedürften aber - so die Gründe der Entscheidung - einer gesetzlichen Regelung, aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger erkennbar ergeben und die damit dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspricht. Darüber hinaus ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Zudem fordert das Gericht den Gesetzgeber auf, mehr als früher auch organisatorische und verfahrensrechtliche Vorkehrungen zum Schutz des Persönlichkeitsrechts zu treffen ll .
111. Bewertung der Bedeutung des "Volkszählungs"-Urteils für die polizeiliche Informationsvorsorge Das "Volkszählungs"-Urteil und die Folgerechtsprechung betreffen den Paradigmenwechsel von der überkommenen polizeilichen Gefahrenabwehr hin zu einer Gefahren- und Informationsvorsorge zwar, sie lösen ihn aber nicht. Das BVerfG betont einerseits das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des einzelnen und leitet hieraus die Befugnis des einzelnen ab, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Sachverhalte offenbart werden. Die durch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistete individuelle Selbstbestimmung setzt nämlich informationelle Selbstbestimmung voraus. Andererseits weist das BVerfG aber auch - was bisweilen nicht hinreichend berücksichtigt wird - ausdrücklich auf die Gemeinschaftsbezogenheit des Individuums hin und verneint eine absolute, uneinschränkbare Herrschaft des einzelnen über seine Daten ausdrücklich. Als Ausgleich dieser beiden gegenläufigen Positionen fordert das Gericht für die Einschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ein Gesetz.
10 Damit ist entgegen anderer Ansicht (K. Fromme, FAZ v. 17. 12.1983, S. 12) kein neues Grundrecht erfunden (wie hier z. B. P. Krause, JuS 1984,268 sowie SchapperlWaniorek, in: H. Hohmann [Hrsg.J, Freiheitssicherung durch Datenschutz, 1987, S. 313ff., 316f. m.w.N. in Anm.lO). II BVerfGE 65, 1 (43 f.).
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
Ähnlich ambivalent beurteilt das Gericht das durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung geschützte Rechtsgut. Einerseits sieht das BVerfG die Entfaltungschancen des einzelnen als geschützt an und orientiert sich dabei an einem kybernetischen Schutzkonzept. Dabei nimmt das BVerfG an, daß nicht nur das Wissen der Umwelt über eine Person deren Selbstdarstellung beeinflußt, sondern daß schon ein von der Person nur vermutetes Wissen der Umwelt diese Wirkung entfaltet. Andererseits betont das Gericht aber auch, daß das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines demokratischen Gemeinwesens ist. Die modeme ausdifferenzierte Gesellschaft weist dem Individuum eine Vielzahl sozialer Rollen zu, in denen sich das Individuum als ein und dasselbe darstellen können muß. Dies erfordert eine individuelle Persönlichkeit als generalisierendes System. Die genaueren Modalitäten des Ausgleichs dieser widerstreitenden Positionen läßt das "Volkszählungs"-Urteil aber offen. Insbesondere ist nicht erkennbar, ob das Individuum insgesamt sozialbezogen ist oder in eine, von sozialen Kontakten abgeschlossene personale und in eine, gesellschaftlichen Kontakten geöffnete soziale Identität zerfällt. Sogar die gerade diesen Themenkreis betreffende "Tagebuch"-Entscheidung des BVerfG löst diesen Konflikt nicht, sondern kann als Argument für jede der Möglichkeiten angeführt werden. Für die Bejahung einer personalen Identität sprechen die Bezugnahme auf die Wesens gehalts garantie der Grundrechte (Art. 1911 GG) und die Würde des Menschen (Art. 1 I GG), aus denen ein unantastbarer Bereich privater Lebensgestaltung, der der öffentlichen Gewalt schlechthin entzogen ist, abgeleitet wird. Andererseits kann gerade die "Tagebuch"-Entscheidung des BVerfG auch für die gegenteilige Ansicht, die Ablehnung einer personalen Identität, in Anspruch genommen werden. Das Gericht erklärt in diesem Judikat nämlich auch, daß Vorgänge, die sich in Kommunikation mit anderen vollziehen, hoheitlichem Eingriff nicht schlechthin entzogen sind, weil der Mensch als Person, auch im Kern seiner Persönlichkeit, notwendig in sozialen Bezügen existiert. Offen sind darüber hinaus auch die Determinanten des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und ihr Verhältnis zueinander. Für den Ausgleich im Spannungsdreieck zwischen individueller Selbstbestimmung, den Rechten Dritter - namentlich der Meinungs-, Presse-, Rundfunk-, Kunst-, Wissenschafts- und Wirtschaftsfreiheit - und den Belangen des Gemeinwohls - insbesondere der Effektivität und Funktionsfähigkeit amtlicher Statistiken, des Schutzes des Rechtsverkehrs sowie der Sicherheit und der Erfordernisse der Strafrechtspflege - ist der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur nur zu entnehmen, daß sie durch Gesetz, aber nicht wie sie durch Gesetz erfolgen soll. Kriterien für die inhaltliche Ausgestaltung dieses Gesetzes fehlen noch weitgehendst. Das BVerfG trifft insbesondere keine hinreichenden Vorgaben für die Lösung der Frage, wer welche Informationen haben darf. Aus dogmatischer Sicht ist unklar, ob die individuelle Selbstbestimmung, die Rechte Dritter und das Gemein-
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wohl dem Schutzbereich oder der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung zuzuordnen sind. Zudem ist die Gewichtung dieser gegenläufigen Belange nicht bestimmt.
B. Rechtsstrukturen der polizeilichen Informationsvorsorge Rechtsgrundlagen des INPOL-Systems der Polizei Das durch die Polizei eingerichtete und betriebene INPOL-System findet seine verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 87 I 2 GG, demzufolge "Zentralstellen für das polizeiliche Auskunfts- und Nachrichtenwesen" eingerichtet werden können. Diese grundgesetzliche Vorschrift wird durch § 2 I BKAG dahingehend konkretisiert, daß das Bundeskriminalamt als Zentralstelle alle Nachrichten und Unterlagen für die polizeiliche Verbrechensbekämpfung zu sammeln und auszuwerten hat. Es ist insoweit auch Zentralstelle für den elektronischen Datenverbund zwischen Bund und Ländern. Die Rolle des Gesetzgebers bei der Einführung "moderner" Techniken beschränkte sich auf eine - zudem meist erheblich verspätete - Reaktion auf bereits eingetretene Veränderungen. Dies gilt sowohl für die organisatorische Ausgestaltung der Polizei 12 als auch für die Regelung des Verhältnisses zwischen Polizei und Bürger. Grundlage für die Einführung des INPOL-Systems waren Beschlüsse der Exekutive, nämlich der Ständigen Konferenz der Innenminister/-senatoren des Bundes und der Länder (Innenministerkonferenz), im Jahre 1972. Das BDSG trat hingegen erst am 1. 1. 1978 in Kraft und stellt zudem ein bloßes "Organisationsrecht" dar. Es regelte nämlich nicht die Rechtmäßigkeit des Einsatzes der elektronischen Datenverarbeitung zu einem bestimmten Zweck (z. B. der Personenfahndung), sondern bot vornehmlich nur eine allgemeine Mißbrauchskontrolle für die Verwendung gespeicherter Daten, allgemeine Strukturprinzipien für den Prozeß der Infonnationsverarbeitung und Anknüpfungspunkte für einen bereichsspezifischen Datenschutz. Als Rechtsgrundlage für den Einsatz der elektronischen Datenverarbeitung im Bereich der Sicherheitsbehörden dienten die polizeirechtlichen Generalklausein 13. Diese wurden durch Verwaltungsvorschriften konkretisiert. Ab 15. Mai 1979 galten für das Bundeskriminalamt die (zunächst unveröffentlichten) Richtlinien für die Führung kriminalpolizeilicher personenbezogener Sammlungen (KpS-Richtlinien), die eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe seit 1975 erarbeitet und die der Arbeitskreis 11 "Öffentliche Sicherheit" der Innenministerkonferenz am 29. Mai 1979 als Musterentwurf beschlossen hatte l4 . Erst 1981 wurden im Zuge eines Neuordnungs- und Fortentwicklungskonzeptes für das INPOL-System die KpS-Richtli12 13
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Vgl. dazu schon oben unter § 1. B. VII insb. 2. Vgl. zusammenfassend aus jüngerer Zeit R. Riegel, OÖV 1994,814 (814ff.). Bundeskriminalamt (Hrsg.), gesucht wird ... , 5. Aufl. (0. J.), S. 99.
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I. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
nien 15 und die Richtlinien für die Errichtung und Führung von Dateien über personenbezogene Daten beim Bundeskriminalamt (Dateienrichtlinien) 16 veröffentlicht. Das "Volkszählungs"-Urteil des Bundesverfassungsgerichts löste dann einen Verrechtlichungsschub auch für die polizeiliche Informationsvorsorge aus. Schon vor dem "Volkszählungs"-Urteil des BVerfG schlugen die Verfasser - einige Wissenschaftler - des "Alternativentwurf einheitliche Polizeigesetze des Bundes und der Länder" (AE PoIG)I? Regelungen für die Informationserhebung (§ 11 AE PoIG), die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen (§ 12 AE PoIG), die Ausforschung von Veranstaltungen (§§ 13, 14 AE PoIG) und von Wohnungen (§§ 29, 30 AE PoIG) sowie eine Normierung der Informationsverarbeitung vor. Im Rahmen der Informationsverarbeitung sollten die Informationsspeicherung und -veränderung (§ 37 AE PoIG), die Informationsüberrniulung zwischen Polizeibehörden (§ 38 AE PoIG) sowie durch die Polizei an andere Behörden (§ 39 AE PoIG) und umgekehrt (40 AE PoIG), der Einsatz rechnerunterstützter Informationssysteme (§ 45 AE PoIG) und die Rechte der hiervon Betroffenen - nämlich ein Datenberichtigungsanspruch (§ 41 AE PoIG), Löschungsansprüche (§§ 42 - 44 AE PoIG) und ein Auskunftsanspruch des Betroffenen (§ 46 AE PoIG) - festgeschrieben werden. Bremen hat sein Polizeirecht ebenfalls noch vor. dem "Volkszählungs"-Urteil geändert und ist dabei als einziges Bundesland weitgehend dem AE PolG gefolgt. Aufgrund der zwischenzeitlichen technischen Fortentwicklung - der AE PolG entstand 1978, das Bremer Polizeirecht wurde 1983 geändert - mußte der Gesetzgeber in Bremen jedoch den AE PolG den neuen Möglichkeiten anpassen l8 . Der von der Innenministerkonferenz erstellte "Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder" (ME PoIG) vom 25. 11. 1977 19 enthielt keine vergleichbare Regelung für die Informationsverarbeitung 2o . Nach dem "Volkszählungs"-Urteil wurde als Reaktion hierauf am 18. 4. 1986 ein "Vorentwurf zur Änderung des ME PoIG" (VE ME Po1G)21 erstellt. Die dabei zu Tage GMBL 1981, 119ff. GMBL 1981, 114ff. 17 Arbeitskreis Polizeirecht, AE PolG, 1979, S. I ff. - Dem Arbeitskreis Polizeirecht gehörten E. Denninger, M. Dürkop, W. Hoffmann-Riem, U. Klug, A. Podlech, H. Rittstieg, H.P. Schneider und M. Seebode an. 18 Eine Schilderung und Kommentierung der angeführten Regelungen des AE PolG und des Bremer Polizeigesetzes findet sich bei A. Kowalczyk, Datenschutz im Polizeirecht, 1989, S.78ff. 19 Abgedruckt z. B. in Arbeitskreis Polizeirecht, AE PolG, 1979, S. 206ff. und bei F.-L. Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl. 1995, Rdnr. 409. 20 Sehr kritisch zur Ausarbeitung eines ME PolG ansich H. Wagner, Kommentar zum Polizeigesetz von Nordrhein-Westfalen und zum Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder, 1987, Ein!. B Rdnrn. 39 ff. 21 Abgedruckt z. B. bei H. Wagner, Kommentar zum Polizeigesetz von Nordrhein-Westfalen und zum Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder, 1987, vor § 8 Rdnr. 111. 15
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§ 2 Gefahren- und Informationsvorsorge im Recht
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getretenen und nicht überwundenen Meinungsverschiedenheiten sind schon äußerlich erkennbar: Der VE ME PolG enthält zwölf Alternativen! Er sieht Regelungen zur Datenerhebung allgemein (§ 8a VE ME PolG) sowie bei öffentlichen Veranstaltungen, Ansammlungen und Versammlungen (§ 8b VE ME PolG) und mittels besonderer Formen (§ 8c VE ME PoIG) vor. Vorgeschlagen wird auch eine Normierung der polizeilichen Beobachtung (§ 8d VE ME PoIG), der Vorgangsverwaltung und Dokumentation (§ 10 VE ME PolG), der Datenübermittlung (§ lOc VE ME PolG), des automatisierten Abrufverfahrens (§ lOd VE ME PoIG), des Datenabgleichs generell (§ lOe VE ME PolG) sowie in besonderen Formen (§ lOf VE ME PolG). Darüber hinaus sieht der VE ME PolG Vorschriften über die Berichtigung, Löschung und Sperrung von Daten (§ lOg VE ME PolG) ebenso vor wie über die Errichtung von Dateien (§ 10 h VE ME PoIG). Auffallend ist zudem die Konkretisierung der Aufgabenzuweisung an die Polizei. Danach sollen die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten und die Vorbereitung auf die Gefahrenabwehr ausdrücklich als polizeiliche Aufgaben festgeschrieben werden22 . Auch die einzelnen Bundesländer nehmen das "Volkszählungs"-Urteil zum Anlaß, ihre Polizeigesetze zu reformieren 23 . Sie lehnen sich dabei zwar strukturell an den VE ME PolG an, im Detail weichen die Bestimmungen jedoch teilweise erheblich voneinander ab. Vergleichbare und darüber hinaus gehende Reformvorschläge liegen für das Strafprozeßrecht vor. Der "Entwurf eines Strafverfahrensänderungsgesetzes 1988,,24 sieht die Regelung moderner Ermittlungsmethoden (Rasterfahndung [§§ 98a, 98b StVÄGE], EDV-Datenabgleich [§ 98c StVÄGE], polizeiliche Beobachtung [§ 163e StVÄGE], längerfristige Observation [§ 163f StVÄGE], den Einsatz technischer Mittel zur Tataufklärung [§ 163g StVÄGE], den Einsatz verdeckter Ermittler [§§ 163k bis 163n StVÄGE] und eine Generalermittlungsklausel [§ 161 StVÄGE)), der Erteilung von Auskünften, Akteneinsicht, der Verwendung von Informationen aus Strafverfahren für präventiv-polizeiliche Zwecke (Voraussetzungen und Grenzen der Akteneinsicht für Gerichte, Staatsanwaltschaften etc. 22 Speziell zum VE ME PolG E-L. Knemeyer, NVwZ 1988, 193ff.; KniesellVahle, DÖV 1987, 953ff. und A. Kowalczyk, Datenschutz im Polizeirecht, 1989, S. 91 ff., die auch auf die entsprechenden Regelungen in den Landesgesetzen eingeht. 23 Die zu den neuen Regelungen vorliegenden Stellungnahmen sind nahezu unüberschaubar. Einen allgemeinen Überblick bieten V. Götz, NVwZ 1990, 725 ff.; J. Vahle, DVP 1996, 370ff.; ders., VR 1990, 275ff. Die Neuregelung in Nordrhein-Westfalen kommentieren Riotteffegtmeyer, NWVBL. 1990, 145 ff.; KniesellVahle, DÖV 1990, 646 ff.; M. KnieseI, NVwZ 1990, 743 ff.; ders./Vahle, DÖV 1989, 566ff.; A. Schoreit, KritV 1989, 201 ff.; J. Vahle, VR 1988, 373ff.; ders., Kriminalistik 1987, 174ff. Das hessische Polizeirecht wird von H.-H. Schild, NVwZ 1990,738 ff. erörtert. Auf die saarländische Regelung geht H. Mandelartz, DVBI. 1989, 704ff. ein. Zur Neuregelung in Bayern HonnackerlBartelt, BayVBI. 1991, 10 ff. Die N ovellierung des sächsischen Polizeigesetzes erläutert P. Rimmele, Sächs VBI. 1996, 32 ff. Allgemein zur Polizeistrukturreforrn in Sachsen-Anhalt siehe K. Lichtenberg, LKV 1997, 54ff. 24 Abgekürzt StVÄGE, abgedruckt in StrafV 1989, 172 ff.; siehe dazu auch die Stellungnahmen von J. Wolter, StrafV 1989,358 ff.; J. Crummenerl, StrafV 1989, 131 ff.
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
[§ 474 StVÄGE], die Erteilung von Auskünften an Privatpersonen [§ 475 StVÄGE], die Übermittlung von Erkenntnissen für wissenschaftliche Zwecke [§ 476 StVÄGE], das Verfahren insoweit [§ 477 StVÄGE], Verwendung von zur Strafverfolgung erhobenen Daten für präventiv-polizeiliche Zwecke [§ 478 StVÄGE], Unterrichtung der Staatsanwaltschaft durch die Polizei [§ 479 StVÄGE]) sowie der Verarbeitung personenbezogener Informationen in Dateien und ihre Verwendung (Nutzung von bestehenden Dateien mit automatischem Abrufverfahren für Fahndungszwecke [§ 480 StVÄGE], Generalklausei für die Speicherung von Daten aus laufenden Strafverfahren, vorsorgende Verarbeitung der Informationen aus einem Strafverfahren auch für eine künftige Strafverfolgung [§ 482 StVÄGE], Übermittlung von Daten [§ 483 StVÄGE], automatisiertes Abrufverfahren [§ 484 StVÄGE], Berichtigung und Löschung von Daten [§ 485 StVÄGE], Notwendigkeit und Inhalt der Errichtungsanordnungen für Dateien [§ 486 StVÄGE], Auskunftsanspruch Betroffener [§ 487 StVÄGE]) vor.
Sowohl die meisten Polizeigesetze als auch die StPO wurden dabei mittlerweile jedenfalls partiell reformiert. Die Informationsverarbeitung beruht im repressiven Bereich zwar nach wie vor auf allgemeinen Generalklausein (§§ 160, 161, 163 StPO). Diese wurden aber mindestens punktuell ergänzt, wenngleich eine grundlegende Reform der StPO unterblieb 25 . Als solche Modifikationen der StPO sind insbesondere die Schleppnetzfahndung (§ 163d StPO), die Rasterfahndung (§§ 98a, 98b StPO)26, der heimliche Einsatz technischer Mittel (§§ 100c, 100d StPO), der Einsatz verdeckter Ermittler (§§ 110a bis 110e StPO), die polizeiliche Beobachtung zur Strafverfolgung (§ 163e StPO) sowie die Befugnis zum Datenabgleich (§ 98c StPO) und die Vorschriften über die Einrichtung eines länderübergreifenden staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregisters (§§ 474 ff. StPO)27 anzuführen. Insoweit ergeben sich aus der Sicht der h.M., die hier ebenso wie für das Polizeirecht einen durch das bundesverfassungsgerichtliehe "Volkszählungs"-Urteil ausgelösten dringenden Reformbedarf sieht, Bedenken im Hinblick auf die Dauer des Übergangsbonus. Der h.M. zufolge ist die präventiv- und repressiv-polizeiliche Datenverarbeitung nach dem "Volkszählungs"-Urteil nur zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit staatlicher Einrichtungen für eine Übergangsfrist zulässig 28 . Auch die novellierten Polizeigesetze regeln - worauf noch näher einzugehen ist29 - die polizeiliche Informationsverarbeitung indessen nicht detailgenau, son25 Zur Vereinbarkeit der §§ 94, 95, 102, 103 StPO mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung im Zusammenhang mit Steuerfahndungsmaßnahmen bei Banken vgl. PapierIDengier, BB 1996, 2541 ff. 26 Vgl. dazu z. B. J. Welp, in: Erichsen/KolihosserlWelp (Hrsg.), Recht der Persönlichkeit, 1996, S. 389 ff. 27 Vgl. dazu König/Seitz, NStZ 1995,1 (5). 28 Ausführlich zum Übergangsbonus schon Pitschas/Aulehner, NJW 1989,2353 ff. 29 Vgl. dazu sogleich folgend im Text und ausführlicher unten im Text sub § 12.
§ 2 Gefahren- und Infonnationsvorsorge im Recht
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dem begnügen sich mit der Festlegung eines, insbesondere durch die Vorgabe prozeduraler Strukturen, gekennzeichneten Rahmens.
C. Kritik an der Entwicklung nach dem "Volkszählungs"-Urteil Die aufgezeigten Neuregelungen bzw. Entwürfe werden überwiegend kritisch beurteilt. Dies verwundert insofern wenig, als die Erfüllung der Vorgaben des BVerfG durch die polizeiliche Praxis eine "Quadratur des Kreises,,3o verlangt. Ein Gesetz zu entwerfen, das einerseits dem Gebot der Normenklarheit gerecht wird, andererseits aber keine Lücken aufweist und zudem noch eine effektive polizeiliche Aufgabenerfüllung ermöglicht, ist im Hinblick auf die Vielfältigkeit polizeilicher Informationsverarbeitung äußerst schwierig 3!. Es überrascht daher wenig, daß die Neuregelungen einerseits äußerst kompliziert anmuten, andererseits aber gleichwohl auf - wenn auch näher spezifiziertere - GeneralklauseIn nicht verzichten können. Die Novellen sind u.a. auch deshalb wenig praktikabel, weil sie teilweise eine "Überregelung" der Informationsverarbeitung beinhalten 32 . Sie verwischen zudem - so wird eingewandt - die traditionellen Konturen des Polizeirechts, indem sie Polizeirnaßnahmen schon vor dem Vorliegen einer Gefahr zulassen und die Trennung zwischen Störer und Nichtstörer verdunkeln 33 . Darüber hinaus ist der Verlust eines bundesweit einheitlichen Polizeirechts zu beklagen, der in den zahlreichen Alternativen des VE ME PolG vorprogrammiert ist und sich in den jetzt vorliegenden Ländergesetzen bzw. Entwürfen niederschläge 4 . Auf vielfache Ablehnung stößt zudem die Erstreckung der polizeilichen Aufgabenzuweisungen auch auf die Gefahren- und Strafverfolgungsvorsorge. Hier wird zum einen die Betätigung der Polizei im Vorfeld eines strafprozessualen Tatverdachts bzw. einer präventiven Gefahrenabwehr moniert; zum anderen werden Überschneidungen des Strafprozeß- und Polizeirechts befürchtet und die Ausweitung des letzteren zu Lasten des ersteren kritisiert 35 .
J. Vahle, VR 1990, 275. J. Vahle, VR 1990,275. 32 Siehe dazu das Beispiel von V. Götz, NVwZ 1990,725 (727): Danach muß ein Polizist, der in Nordrhein-Westfalen ein verbotswidrig parkendes Fahrzeug feststellt und einen Passanten fragt, ob es sich um dessen Kfz handelt, erst auf die Freiwilligkeit der begehrten Auskunft bzw. auf die Rechtsgrundlage hinweisen. 33 H. W. Alberts, ZRP 1990, 147ff. 34 Auf die damit verbundenen Unzuträglichkeiten weist V. Götz, NVwZ 1990,725 (727) hin. 35 A. Schoreit, KritV 1989, 201 (206f.); zur Problematik auch M. Kniesei, ZRP 1987, 377ff. 30 31
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
D. Der Vorsorge begriff in anderen Rechtsgebieten und das allgemeine Vorsorgeprinzip Der an sich naheliegende Versuch, die Konturen der polizeilichen Gefahrenund Infonnationsvorsorge aus einem allgemeinen Vorsorgeprinzip abzuleiten, zeitigt beim derzeitigen Diskussionsstand nur geringen Erfolg. Das seinerseits wenig durchsichtige allgemeine Vorsorgeprinzip muß nämlich zuerst anhand seiner unterschiedlichen rechtlichen Ausprägungen systematisiert und präzisiert werden 36 . Dabei wird sich zeigen, daß der Vorsorgebegriff nicht nur im Polizeirecht, sondern auch in anderen Rechtsgebieten, von denen hier im folgenden das Atom-, Bundesimmissionsschutz- und Sozialrecht exemplarisch behandelt werden, rechtlich noch nicht hinreichend stringent ausgeprägt ist. Insbesondere erscheinen die Regelungen der Vorsorge noch zu bereichsspezifisch, als daß sie ohne weiteres die Ableitung eines allgemeinen Vorsorgeprinzips zuließen.
I. Der Vorsorgebegriff im Atom-, Bundesimmissionsschutz- und Sozialrecht
Sowohl im Atom- und Bundesimmissionsschutz- als auch im Sozialrecht wird das Vorsorgeprinzip rechtlich erfaßt. 1. Das Atomrecht Das Atomgesetz 37 verwendet nicht den Ausdruck Gefahrenvorsorge, sondern spricht zum einen von "Vorsorge gegen Schäden" (§§ 411 Nr. 3; 6 11 Nr. 2; 7 11 Nr. 3; 9 11 Nr. 3 AtG) und zum anderen von "Vorsorge für die Erfüllung gesetzlicher Schadensersatzverpflichtungen" (§§ 4 11 Nr. 4; 6 11 Nr. 3; 7 11 Nr. 4; 9 11 Nr. 4; 13 ff. AtG). Bei letzterer handelt es sich um die Legaldefinition der "Deckungsvorsorge" (§ 13 I 1 AtG), deren Art, Umfang und Höhe von der Verwaltungsbehörde im Verfahren nach den §§ 13 ff. AtG i.Y.m. der in § 13 III 1 AtG vorgesehenen Rechtsverordnung 38 festgesetzt werden39 . Ihr Ziel ist es, hinreichende finanzielle Mittel für Schäden bereitzuhalten. 36 H.-H. Trute, Vorsorgestrukturen und Luftreinhalteplanung im Bundesimmissionsschutzgesetz, 1989, S. 10. 37 Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz) v. 23. 12. 1959 (BGBI. I S. 814) i.d.F. der Neubekanntmachung v. 15. 7. 1985 (BGBI. I S. 1565), zuletzt geändert durch Art. 4 Gesetz zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren v. 12. 9. 1996 (BGBI. I S. 1354). 38 Atomrechtliche Deckungsvorsorge-Verordnung v. 25. 1. 1977 (BGBI. I S. 220). 39 Einen kurzen Überblick über die Deckungsvorsorge bieten HoppelBeckmann, Umweltrecht, 1989, § 29 Rdnr. 35; detailliertere Darstellungen finden sich z. B. bei H. Haedrich,
§ 2 Gefahren- und Informationsvorsorge im Recht
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a) Die Existenz des Vorsorgeprinzips im Atomrecht Das Atomgesetz mißt damit der Bezeichnung "Vorsorge" so unterschiedliche Inhalte zu, daß aus dem Wortlaut allein nicht auf die Geltung des Vorsorgeprinzips geschlossen werden kann, zumal "Vorsorge gegen Schäden" auch nur eine andere Umschreibung für die herkömmliche Gefahrenabwehr im Sinne des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts sein kann40 . Die herrschende Meinung begründet die Existenz des Vorsorgeprinzips auch im Atomrecht indessen mit einem Hinweis auf die spezifischen Risiken der Kernenergie 41 . Diese lassen - so wird argumentiert die Nutzung dieser Energieart überhaupt nur unter der Bedingung zu, daß schon der Entstehung einer Gefahr vorgebeugt wird. Das Argument, das in § 5 I Nr. 2 BImSchG normierte Vorsorgeprinzip müsse im Atomrecht erst recht gelten42, gleicht dem insofern, als auch der "a maiore ad minus"-Schluß auf die Risiken der Kernenergie rekurriert. Aus dem Strahlenminimierungsgebot (§§ 28 I Nr. 2; 45 S. 1; 46 I Nr. 2 StrlSchV) kann die Geltung des Vorsorgeprinzips im Atomrecht indessen nicht abgeleitet werden. Hierin läge ein Zirkelschluß, weil die Rechtsverordnung Vorsorgemaßnahmen nur normieren darf, wenn diese im ihr zugrundeliegenden Gesetz vorgesehen sind43 . Die Gegenmeinung, die. ein Gebot zur Risikovorsorge im Atomrecht verneint, konnte sich nicht durchsetzen. Sie führt zur Begründung an, die Fälle der Risikovorsorge ließen sich zum einen auch der Gefahrenabwehr zuordnen 44 . Zum anderen beschränke § 1 Nr. 2 AtG das Objekt der Vorsorge auf Gefahren. Eine darüber hinaus vertretene, vermittelnde Meinung45 will die Aspekte der Risikovorsorge innerhalb des Versagungsermessens berücksichtigen. Dies stößt insofern auf Bedenken, als eine Genehmigungsverweigerung nach dem BVerfG46 nur dann mit dem Versagungsermessen begründet werden kann, wenn besondere und unvorhergesehene Umstände es einmal erforderlich machen47 . Atomgesetz, 1986, Kommentierung zu §§ 13 - 15 AtG und § 7 Rdnr. HO und M. Ronellenfitsch, Das atomrechtliche Genehmigungsverfahren, 1983, S. 267ff. 40 P. Marburger, Atomrechtliche Schadensvorsorge, 2. Auf!. 1985, S. 64 f.; so ausdrücklich auch F. Hansen-Dix, Die Gefahr im Polizeirecht, im Ordnungsrecht und im Technischen Sicherheitsrecht, 1982, S. 81 ff., 218. 41 P. Marburger, Atomrechtliche Schadensvorsorge, 2. Auf!. 1985, S. 68 f. 42 R. Breuer, DVBl. 1978,829 (836); J. Ipsen, AöR 107 (1982), 259 (264). 43 Ebenso F. Hansen-Dix, Die Gefahr im Polizeirecht, im Ordnungsrecht und im Technischen Sicherheitsrecht, 1982, S. 217f.; P. Marburger, Atomrechtliche Schadensvorsorge, 2. Auf!. 1985, S. 65. 44 H. Wagner, NJW 1980,665 (668); ders., DÖV 1980,269 (273f.); ähnlich F. Ossenbühl, in: BlümellWagner (Hrsg.), Technische Risiken und Recht, 1981, S. 45ff., 46.; F. HansenDix, Die Gefahr im Polizeirecht, im Ordnungsrecht und im Technischen Sicherheitsrecht, 1982, S. 216ff.; W. Martens, DÖV 1982,89 (93). 45 HanninglSchmieder, DB 1977, Beil.-Nr. 14, S. 1 ff., 6 ff., 9 ff.; LukeslBackherrns, AöR 103 (1978), 334 (335f.), K.-P. Winters, DÖV 1978,265 (271). 46 BVerfG, NJW 1979,359 (364).
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
Teilweise wird von Mindermeinungen neben rein terminologischen Varianten auch eine sachlich anders geartete sog. Sicherheitsvorsorge unterschieden. Diese soll im Gegensatz zur Risikovorsorge nicht den sog. Gefahrenverdacht umfassen, sondern nur das unterhalb der Schwelle eines mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unmöglichen Schadenseintritts liegende Vorsorgeerfordernis beschreiben48 . b) Das Atomrecht und das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht Obgleich also der Wortlaut des Atomgesetzes von einer einheitlichen Schadensvorsorge ausgeht, hat sich hier - wie im technischen Sicherheitsrecht allgemein trotz der aufgezeigten erheblichen Zweifel die Unterscheidung von Gefahrenabwehr, Risikovorsorge und Restrisiko weitgehend durchgesetzt 49 . In der Entwicklung dieser Trias spiegeln sich zwei unterschiedliche Bezugspunkte des Vorsorgegebots im technischen Sicherheitsrecht wider: Einerseits ist die Verwandtschaft zum tradierten allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht erkennbar, das an das Vorliegen einer Gefahr oder Störung anknüpft50 . Andererseits ist die darüber hinausgehende verfeinerte Differenzierung zwischen Risikovorsorge und Restrisiko Ausfluß der Besonderheiten insbesondere des atomrechtlichen Regelungsgegenstandes 51 . Die Modifizierung der Grundsätze des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts ist erforderlich, weil im Bereich des Atomrechts nicht nur der mögliche Schaden ungleich größer ist, sondern überdies auch der Schadenseintritt einer andersgearteten gesteigerten Ungewißheit unterliegt. aa) Die Hinnahme eines Restrisikos
Die bloße, noch so entfernte Möglichkeit einer Schadensentstehung kann jedoch auch in diesem Rechtsgebiet ebensowenig Beachtung finden wie im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht52 . Andernfalls wäre nämlich die Nutzung der Kern47 So F. Hansen-Dix, Die Gefahr im Polizeirecht, im Ordnungsrecht und im Technischen Sicherheitsrecht, 1982, S. 219. 48 Lukes/Feldmann/Knüppel, in: R. Lukes (Hrsg.), Gefahren und Gefahrenbeurteilungen im Recht, Teil H, 1980, S. 71 ff., 174. 49 Vgl. Z. B. R. Breuer, NVwZ 1990,211 (213); P. Marburger, Atornrechtliche Schadensvorsorge, 2. Auf!. 1985, S. 63. Dagegen aber Hanning/Schmieder, DB 1977, Beilage Nr. 14, S. 1 ff., 8; H. Wagner, NJW 1980, 665 (668); ders., DÖV 1980,269 (273f.). Auch das BVerfG (E 49,89 [140]) verwendet die Begriffe Gefahrenabwehr und Risikovorsorge. 50 R. Pitschas, DÖV 1989,785 (789). 51 Siehe zu diesen beiden Bezugspunkten auch H. Haedrich, Atomgesetz, 1986, § 7 Rdnr. 63; M. Ronellenfitsch, Das atornrechtliche Genehmigungsverfahren, 1983, S. 218 ff. jeweils m.w.N. 52 Für das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht siehe z. B. DrewslWackeNogellMartens, Gefahrenabwehr, 9. Auf!. 1986, S. 223 ff.
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energie zu friedlichen Zwecken faktisch ausgeschlossen. Dies würde zum einen § I Nr. 1 AtG widersprechen, demzufolge das Atomgesetz die Förderung der friedlichen Nutzung der Kernenergie bezweckt. Zum anderen wäre diese Sichtweise im Hinblick auf Art. 74 I Nr. lla GG verfassungswidrig53 . Einer Kompetenzregelung wie der des Art. 74 I Nr. lla GG kommt nämlich auch ein beschränkter materieller Gehalt zu. Denn in der Kompetenzordnung vorgesehene Gesetze können jedenfalls dann nicht verfassungswidrig sein, wenn sie die Voraussetzungen der Kompetenzvorschrift einhalten54 . Auch im Atomrecht wird dementsprechend keine nicht erreichbare, absolute Sicherheit gefordert, sondern ein im Bereich des allgemeinen Lebensrisikos liegendes Restrisiko für sozialadäquat und unbeachtlich gehalten55 . Der grundsätzliche Vorrang des Schutz- (§ 1 Nr. 2 AtG) vor dem Förderzweck (§ 1 Nr. 1 AtG)56 darf nicht als Verabsolutierung des ersteren mißverstanden werden 5 ?
bb) Die allgemeine Lebenserfahrung ein unzureichender Prognosemaßstab im Atomrecht Im Atomrecht kann indessen und im Gegensatz zum allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht58 die im Rahmen der Gefahrendefinition entscheidende ,,hinreichende Wahrscheinlichkeit" eines Schadenseintritts aus zwei Gründen nicht nach der allgemeinen Lebenserfahrung beurteilt werden: Zum einen gibt es keine derartige Lebenserfahrung und es darf sie im Hinblick auf den drohenden immensen Schaden auch nicht geben. Wollte man gleichwohl und zum anderen das Vorliegen einer Gefahr allein anhand der allgemeinen Lebenserfahrung beurteilen, könnte dies zu dem soeben als gesetz- und verfassungswidrig befundenen Ergebnis führen, daß die friedliche Nutzung der Kernenergie gänzlich ausgeschlossen ist. Der allgemeinen Lebenserfahrung läßt sich nämlich nur entnehmen, daß ein Schadenseintritt jedenfalls nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann. Berücksichtigt man dann, daß die an den Grad der Wahrscheinlichkeit zu stellenden Anforderungen umso geringer sind je größer und folgenschwerer der drohende Schaden ist59 , müßte jegliche friedliche Nutzung der Kernenergie Maßnahmen der Gefahrenabwehr auslösen. Damit wäre die friedliche Nutzung der Kernenergie unzulässig6o . Das Atomrecht entgeht dem teilweise, indem es auf den "Stand von Wissenschaft BVerfGE 49,89 (128 ff.); 53, 30 (57 ff.); a.A. K. Lange, NJW 1986,2459 (2460). Siehe z. B. R. Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, 1983, S. 328 ff. m.w.N. 55 Vgl. dazu H. Haedrich, Atomgesetz, 1986, § 7 Rdnrn. 68 f. 56 Siehe dazu BVerwG, DVBI. 1972,678 (680) - "Würgassen". 57 P. Marburger, Atomrechtliche Schadensvorsorge, 2. Auf!. 1985, S. 41. 58 Dazu statt vieler DrewslWackeNogellMartens, Gefahrenabwehr, 9. Auf!. 1986, S. 224 m.w.N. 59 Siehe dazu DrewslWackeNogellMartens, Gefahrenabwehr, 9. Auf!. 1986, S. 224 m.w.N. 60 M. Kloepfer, Umweltrecht, 1989, S. 477. 53
54
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I. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
und Technik" abstellt und so die "allgemeine Lebenserfahrung" durch eine von Sachverständigen erstellte Prognose ersetzt. Auch diese Variierung kann jedoch nicht verhindern, daß sich eine Unzulänglichkeit aus dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht im Atomrecht fortsetzt: Hier wie dort ist offen, welche Wahrscheinlichkeit bei welchem drohenden Schaden noch hingenommen werden kann. Dies kann weder durch die Erkenntnisse der Naturwissenschaften, noch vom Recht allgemein, beantwortet werden, sondern ist vielmehr im Einzelfall wertend zu ermitteln 61 . Dabei kommt der konkreten Gesetzesformulierung im jeweiligen Fall eine gesteigerte Bedeutung zu. Den Formulierungen "Stand der Technik" und "Stand von Wissenschaft und Technik" ist ein grundlegend anderer Inhalt zuzumessen als der ebenfalls gebräuchlichen Umschreibung "allgemein anerkannte Regeln der Technik". Während letztere von der schlichten Übernahme eines in der Technik schon vorhandenen Kenntnisstandes ausgehen, geben erstere der Exekutive den Auftrag, zuerst zu ermitteln, was "Stand der Technik" oder "Stand von Wissenschaft und Technik" ist62 . c) Die Risikovorsorge als "dritter Bereich" Darüber hinaus fungiert der Gefahrbegriff im Atomrecht anders als im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht nicht als Schwelle zum "alles oder nichts". Gefahrenabwehr einerseits und Restrisiko andererseits werden nämlich durch einen dritten Bereich - die Risikovorsorge - ergänzt.
d) Die Abgrenzung der einzelnen Gefährdungsarten Die Abgrenzung der drei Bereiche - Gefahrenabwehr, Risikovorsorge und Restrisiko - pat die Legislative weitgehend der Exekutive überlassen. Letztere entscheidet nicht nur als Genehmigungsbehörde in konkreten Fällen, sondern darüber hinaus auch abstrakt durch den Erlaß von Rechtsverordnungen 63 und die Anerkennung technischer Regelwerke. In der exekutivischen Anerkennung technischer Regelwerke liegt eine "Privatisierung" der Steuerung durch Recht. Die technischen Normen werden nämlich durch private Normungsverbände - dem Deutschen Institut für Normung (DIN), dem Verband Deutscher Elektrotechniker (VDE) und dem Verein Deutscher Ingenieure (VDI) - festgesetzt. Die Legislative verliert damit einen Teil ihrer vordem umfassenden rechtlichen Steuerungskompetenz nicht nur an die Exekutive, sondern auch an private Gremien 64 . Dies kommt insbesondere in § 7 Ebenso M. Ronellenfitsch, Das atomrechtliche Genehmigungsverfahren, 1983, S. 245. BVerfGE 49, 89 (135 f.); H.-H. Trute, Vorsorgestrukturen und Luftreinhalteplanung im Bundesimmissionsschutzgesetz, 1989, S. 68 f. m.w.N. 63 Siehe insbesondere die Strahlenschutzverordnung i.d.F. der Bekanntmachung v. 30. 6. 1989 (BGBl. I S. 1321), zuletzt geändert durch Verordnung v. 3.4.1990 (BGBl. I 607). 64 R. Pitschas, DÖV 1989,785 (788). 61
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§ 2 Gefahren- und Infonnationsvorsorge im Recht
111
11 Nr. 3 AtG zum Ausdruck, welcher der Verwaltung die Verantwortung für die Risikoermittlung und -bewertung überträgt und sie hierbei auf die Unterstützung durch die Wissenschaft verweist 65 . Die von der Exekutive erlassenen Vorschriften unterscheiden insbesondere zwischen dem bestimmungsgemäßen Betrieb und Stör- oder Unfällen. Für erstere ist die Abgrenzung von Gefahrenabwehr, Risikovorsorge und Restrisiko in der Strahlenschutzverordnung geregelt. Die in § 45 StrlSchV festgelegten Dosisgrenzwerte markieren den Bereich der Gefahrenabwehr, während das Strahlenminimierungsgebot (§§ 28 I Nr. 2, 45 S. 1,46 I Nr. 2 StrlSchV) die Risikovorsorge festschreibt. Weitaus unübersichtlicher ist demgegenüber die Abgrenzung bei Stör- und Unfällen. Hier existiert nur ein mehrstufiges Sicherheitskonzept66 , das zwischen Störfall verhinderung, Störfallbeherrschung und der Eindämmung von Störfall- oder Unfallauswirkungen differenziert. Dabei werden die ersteren der Gefahrenabwehr, die letzteren hingegen der Risikovorsorge zugeordnet67 . Unter dem Blickwinkel der Einbeziehung technischer Regelwerke kommt dem Atomrecht innerhalb des technischen Sicherheitsrechts eine gewisse Sonderrolle zu: Zwar existiert mit dem Kerntechnischen Ausschuß, in dem Sachverständige aller an der Erstellung eines kerntechnischen Regelwerkes interessierten Kreise vertreten sind, ein den technischen Ausschüssen im Recht der überwachungsbedürftigen Anlagen (§ 8 GSG68 ) vergleichbares Gremium. Ein erster Unterschied zeigt sich aber bereits bei der Grundlage für die Errichtung des Kerntechnischen Ausschusses, der im Gegensatz zu den technischen Ausschüssen nicht auf einer gesetzlichen Grundlage, sondern nur auf einem ministeriellen Organisationserlaß beruht. Gravierender und bemerkenswerter ist jedoch eine andere Abweichung: Anders als im übrigen technischen Sicherheitsrecht verweist das Atomrecht weder in legislativen noch in exekutiven Vorschriften auf die technischen Regelwerke 69 . Sie werden jedoch gleichwohl berücksichtigt, zumal sie nicht nur im Rahmen der behördlichen Pflicht zur Sachverhaltserrnittlung beachtet werden müssen, sondern auch "antizipierte Sachverständigengutachten,,70 darstellen. Im einzelnen ergeben sich bei der Abgrenzung von Gefahrenabwehr, Risikovorsorge und Restrisiko erhebliche Schwierigkeiten, wenngleich sicher erkannte GeR. Pitschas, DÖV 1989,785 (789). Dessen Einzelheiten sind den vom Bundesministerium des Inneren am 21. 10. 1977 bekannt gemachten "Sicherheitskriterien für Kernkraftwerke" zu entnehmen (BAnz. Nr. 206 v. 3. 11. 1977). 67 P. Marburger, Atomrechtliche Schadensvorsorge, 2. Auf!. 1985, S. 83 ff. 68 Gesetz über technische Arbeitsmittel (Gerätesicherheitsgesetz - GSG) i.d.F.d. Bekanntmachung vom 23. 10. 1992 (BGB! I, S. 1793), zuletzt geändert durch 14 VI Magnetschwebebahngesetz v. 19. 7. 1996 (BGBL I, S. 1019). 69 Ausführlich dazu P. Marburger, Atomrechtliche Schadensvorsorge, 2. Auf!. 1985, S.130ff. 70 Dazu z. B. P. Marburger, Atomrechtliche Schadensvorsorge, 2. Auf!. 1985, S. 157 ff. m.w.N. 65
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
fahren der Gefahrenabwehr, unsichere hingegen der Risikovorsorge unterfallen und die Vorverlegung des behördlichen Einschreitens in den Bereich der Risikovorsorge schon wegen der drohenden, gravierenden Schäden angemessen erscheint. Zwar besteht noch weitgehende Einigkeit darin, daß die Unterscheidung nicht allein auf der Grundlage der Schadenswahrscheinlichkeit getroffen werden kann, sondern - wie im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht - eine Wertung erfordert. Im Rahmen dieser Wertung ist zwischen dem Schutz- (§ I Nr. 2 AtG) und dem Förderzweck (§ I Nr. I AtG) und zwischen den dahinter stehenden, durch die Nutzung der Kernenergie gefährdeten Grundrechten Dritter und denjenigen der Kernkraftwerksbetreiber abzuwägen. Dabei überwiegen erstere im Bereich der Gefahrenabwehr, letztere hingegen innerhalb des Restrisikos. Maßnahmen der Risikovorsorge - der dritte Bereich - sind dann nicht mehr zu verlangen, wenn sie entweder technisch nicht realisierbar sind oder wenn die hierfür erforderlichen Kosten im Verhältnis zum erreichten Sicherheitsgewinn so hoch sind, daß keine vernünftige technische Lösung mehr vorliegt71 . Darüber hinaus wird allgemein 72 auf den Maßstab der praktischen Vernunft als Abgrenzungskriterium abgestellt. Der hierdurch entstehende Schein der Einigkeit trügt jedoch. Wahrend nämlich R. Breuer den Maßstab der praktischen Vernunft zur Grenzziehung zwischen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge verwendet, will das BVerfG eben dieses Kriterium zur Differenzierung zwischen Risikovorsorge und Restrisiko heranziehen 73. Ungeachtet dieser Diskrepanzen dürfte es jedoch zutreffen, daß die Risikovorsorge neben quantitativ besonders geringen Wahrscheinlichkeiten auch solche, qualitativ andersartigen Schadensmöglichkeiten erfaßt, die sich nur deshalb nicht ausschließen lassen, weil nach dem derzeitigen Wissensstand bestimmte Ursachenzusammenhänge weder bejaht noch verneint werden können und daher insoweit noch keine Gefahr, sondern nur ein Gefahrenverdacht oder ein Besorgnispotential besteht74 . Mit dieser zusätzlichen Differenzierung innerhalb der Risikovorsorge verfolgt die Rechtsprechung die Tendenz, die Trias Gefahrenabwehr, Risikovorsorge und Restrisiko weiter zu verfeinern. Diese Entwicklungslinie wurde in der Literatur schon frühzeitig durch die Forderung einer Sicherheitsvorsorge vorgezeichnet. 71 P. Marburger, Atornrechtliche Schadensvorsorge, 2. Auf!. 1985, S. 55; F. Hansen-Dix, Die Gefahr im Polizeirecht, im Ordnungsrecht und im Technischen Sicherheitsrecht, 1982, S.216f. 72 BVerwGE 61, 256; BVerwG, DVBl. 1982,960. Kritisch zu dieser Begriffsbildung M. Ronellenfitsch, Das atornrechtliche Genehmigungsverfahren, 1983, S. 250 in Fußn. 231. 73 P. Marburger, Atornrechtliche Schadensvorsorge, 2. Auf!. 1985, S. 61 f. Die von R. Breuer (DVBl. 1978, 829 [835]) kreierte "Schwelle der praktischen Vernunft" wurde vorn BVerfG (E 49, 143) daher nur in modifizierter Form übernommen. 74 BVerwGE 72, 300 (315).
§ 2 Gefahren- und Infonnationsvorsorge im Recht
113
e) Die Bedeutung der unterschiedlichen Gefährdungsarten Der Differenzierung zwischen Risikovorsorge und Gefahrenabwehr kommt in mehrfacher Hinsicht Bedeutung zu: Zum einen sind nach dem Verständnis der h.M. im Bereich der Gefahrenabwehr Gegenmaßnahmen zwingend. Im Rahmen der Risikovorsorge stehen sie - wie bereits angedeutet - unter dem Vorbehalt der technischen Realisierbarkeit und der wirtschaftlichen Verhältnismäßigkeit75 . Diese Maßgaben konkretisieren gleichzeitig den Maßstab praktischer Vernunft76 . Zum anderen gewinnt die Unterscheidung im Rechtsschutzverfahren Bedeutung. Anforderungen im Bereich der Gefahrenabwehr haben nämlich anders als solche im Rahmen der Risikovorsorge drittschützenden Charakter77 .
f) Risiko- oder Gefahrenvorsorge?
Die im Atornrecht überwiegend als Risikovorsorge bezeichnete Kategorie entspricht damit nicht der Gefahrenvorsorge im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht, obwohl sie teilweise auch im Atornrecht als Gefahrenvorsorge bezeichnet wird. Eine nähere Betrachtung erhellt, daß die Alternativen - Gefahren- oder Risikovorsorge - von der terminologischen Einordnung der unterschiedlichen Gefährdungslagen abhängen. Wer - wie die h.M. - zwischen Gefahr, Risiko und Restrisiko differenziert, spricht konsequenterweise von Risikovorsorge. Die u.a. von P. Marburger 78 vertretene Gegenmeinung unterscheidet demgegenüber nur zwischen Risiko und Gefahr. Dabei soll Risiko die geringe, zumutbare und daher rechtlich erlaubte, Gefahr hingegen die übermäßige und daher rechtswidrige Gefährdung bezeichnen. Mithin wird von dieser Meinung unter Risiko nur die von der h.M. als Restrisiko bezeichnete Gefahrensituation verstanden.
2. Das Immissionsschutzrecht
Das Bundesimrnissionsschutzgesetz79 ist als Teil des technischen Sicherheitsrechts ebenso vom Vorsorgeprinzip geprägt wie das Atornrecht. Anders als im Atornrecht kommt die Geltung des Vorsorgeprinzips im BImSchG bereits in der gesetzlichen Regelung zum Ausdruck; es beherrscht das gesamte BImSchG80, wenngleich in Rechtsprechung und Literatur vielfach nur § 5 I Nr. 2 P. Marburger, Atomrechtliche Schadensvorsorge, 2. Aufl. 1985, S. 75. P. Marburger, Atomrechtliche Schadensvorsorge, 2. Aufl. 1985, S. 105. 77 P. Marburger, Atomrechtliche Schadensvorsorge, 2. Aufl. 1985, S. 105 ff. 78 P. Marburger, Atomrechtliche Schadensvorsorge, 2. Aufl. 1985, S. 72 ff. 79 Gesetz zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge (Bundes-Immissionsschutzgesetz BlmSchG) i.d.F.v. 14. 5. 1990 (BGB!. I S. 880). 75
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8 Aulehner
114
1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
i. Y.m. § 1 BlmSchG unter dem Gesichtspunkt des Vorsorgeprinzips behandelt wird81 . Nach § 5 I Nr. 2 BlmSchG sind genehmigungsbedürftige Anlagen so zu errichten und zu betreiben, daß "Vorsorge gegen schädliche Umwe.1teinwirkungen getroffen wird, insbesondere durch die dem Stand der Technik entsprechenden Maßnahmen zur Emissionsbegrenzung". In § 1 BlmSchG wird die Geltung des Vorsorgeprinzips für das gesamte BlmSchG festgelegt. Nach § 1 BlmSchG ist es nämlich der Zweck des Gesetzes, "dem Entstehen schädlicher Umwelteinwirkungen vorzubeugen". Schädliche Umwelteinwirkungen sind dabei nach der Legaldefinition in § 3 I BlmSchG "Immissionen, die nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen". Ausdrücklich erwähnt wird das Vorsorgeprinzip darüber hinaus in den §§ 44 I, 47 S. 3 Ziff. 3 BlmSchG. Der Gedanke des Vorsorgeprinzips findet sich - wenngleich abweichend formuliert zudem in den Verordnungsermächtigungen der § 23, 32 ff. und 38 ff. BlmSchG. Die §§ 32, 34, 35 und 38 BlmSchG sehen zwar nur Ermächtigungen "zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen" vor. Damit ist jedoch nicht nur die Gefahrenabwehr, sondern auch die Vorsorge gemeint. Dies ergibt sich zum einen aus § 1 BlmSchG, der - wie schon angesprochen - die Vorsorge als einen der für das gesamte BlmSchG geltenden Zwecke festschreibt. Zum anderen folgt eben dies auch aus der Entstehungsgeschichte, nach der für die Ausfüllung der Ermächtigung nicht nur das Schutz-, sondern auch das Vorsorgeprinzip maßgebend sein so1l82. Die Geltung des Vorsorgeprinzips auch für § 23 BlmSchG, der seinerseits nur "bestimmte technische Anforderungen" ermöglicht 83 , ist ebenfalls aus § 1 BlmSchG abzuleiten.
a) Die Strukturen der Vorsorge im BlmSchG Die Funktion des Vorsorgeprinzips wird im BlmSchG unterschiedlich interpretiert. Einerseits wird die Vorsorge ebenso wie schon im Atomrecht im Verhältnis zur Gefahrenabwehr gesehen und als deren nur quantitative Erweiterung verstanden. Damit soll der vielfach in tatsächlicher Hinsicht ungewissen Schädlichkeit von Immissionen und der ebenfalls unsicheren Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts Rechnung getragen werden (sog. Ignoranz-These) 84. Andererseits wird das Vorsorgeprinzip auf die Veränderungen der räumlichen Situation der Anlage bezo80 H. D. Jarass, BImSchG, § 1 Rdnrn. 6 f.; E. Kutscheidt, in: LandmannIRohmer, Gewerbeordnung, Bd. III, § 1 BImSchG Rdnr. 6; G. Feldhaus, BImSchG, § 1 Rdnr. 6. 81 Kritisch hierzu schon G. Schwerdtfeger, WiVerw. 1984,217 (217). 82 So der Innenausschuß des Bundestages ausdrücklich für § 38 BImSchG in BT-Drs. 7/ 1519, S. 7; wie hier G. Schwerdtfeger, WiVerw. 1984,217 (221). 83 G. Schwerdtfeger, WiVerw. 1984,217 (223). 84 Zur Ignoranzthese siehe insb. M. Germann, Das Vorsorgeprinzip als vorverlagerte Gefahrenabwehr, 1993, S. 38 ff.
§ 2 Gefahren- und Inforrnationsvorsorge im Recht
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gen und als Planungs- und Verteilungs prinzip mit dem Ziel, einen Abstand von der Gefahrenschwelle als Reserve für immissionssensible und emissionsintensive Nutzungen zu schaffen, verstanden (sog. Freiraum-These)85. Von diesen beiden Thesen ausgehend kann zwischen der Risikosteuerungsfunktion der Vorsorge einerseits und ihrer Planungsfunktion andererseits differenziert werden 86 . Eine weitere Auffacherung des Meinungsspektrums resultiert aus dem streitigen Zweck, dem die erhaltenen Freiräume dienen sollen. Mit ihnen können nämlich entweder ökonomische oder ökologische Zwecke verfolgt werden. Nach ersteren soll die Möglichkeit weiterer Industrieansiedlungen erhalten bleiben; nach letzteren sollen Lebensräume für Siedlung, Erholung, Land- und Forstwirtschaft, Naturschutz und Landschaftspflege gesichert und eine weiträumige Umweltverschmutzung verhindert werden87 . Dabei schließen sich das raum- und risikobezogene Vorsorgeverständnis wechselseitig nicht aus, sondern werden vielfach kombiniert 88 . Für letzteres spricht insbesondere die Verwendung des Vorsorgeprinzips in unterschiedlichen Zusammenhängen. Wahrend etwa § 50 BIrnSchG ein raumbezogenes Vorsorgeverständnis nahelegt, steht das Vorsorgeprinzip in den §§ 1, 5 I Nr. 2 BlmSchG eher zum Schutzprinzip (§ 5 I Nr. 1 BImSehG) in Beziehung. Die "Multifinalität der Vorsorge,,89 erkennt auch das BVerwG90 an, wenn es dem Vorsorgeprinzip - erstens - die Forderung eines ausreichenden Sicherheitsabstandes zur Gefahrenschwelle des § 5 I Nr. 1 BImSchG und - zweitens - das Ziel, unbelastete Freiräume, insbesondere im Hinblick auf besonders immissionsempfindliche Nutzungen sowie - drittens - ein Prinzip der Risikosteuerung, demzufolge einem Schädlichkeitsverdacht jenseits der Schädlichkeitsschwelle vorgebeugt werden soll, entnimmt. Systematisch betrachtet kann zwischen anlagebezogenen und nichtanlagebezogenen Vorsorgeanforderungen unterschieden werden. Unter letztere fallen insbesondere die Vorsorgeerfordernisse im Herstellungs- und Produktionsprozeß (§§ 32 bis 38 BImSehG). Die anlagebezogenen Vorsorgevorschriften können ihrerseits in abstrakt-generelle (§§ 7, 23, 48 BImSehG), räumlich differenzierte (§§ 49 I, 47 S. 3 Nr. 3 BImSehG) und planerische Anforderungen (§ 50 BImSehG) unterteilt werden 91 . 85 Vgl. dazu M. Gerrnann, Das Vorsorgeprinzip als vorverlagerte Gefahrenabwehr, 1993, S. 35 ff. 86 Vgl. dazu z. B. jüngst F. Kohout, Vorsorge als Prinzip der Umweltpolitik, 1995, S. 105 ff. 87 G. Feldhaus, DVBI. 1980, 133 (135); D. Sellner, NJW 1980, 1255 (1257); w. Martens, DVBI. 1981,597 (602f.); zusf. E. Grabitz, WiVerw. 1984,232 (233 f.). 88 BVerwG, NVwZ 1984, 371 (373); H. Sendler, UPR 1983, 33 (43); H. D. Jarass, BImSchG, § 25 Rdnr. 26. Zusf. zum Verständnis des Vorsorgeprinzips im BImSchG und m.w.N. für die jeweiligen Meinungen H.-H. Trute, Vorsorgestrukturen und Luftreinha1teplanung im Bundesimmissionsschutzgesetz, 1989, S. 29f. 89 Ausdruck von E. Grabitz, WiVerw. 1984,232 (234). 90 BVerwG, NVwZ 1983, 32.
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
b) Der Inhalt des Vorsorgeprinzips im BImSchG Obwohl das BImSchG vom Gedanken des Vorsorgeprinzips beherrscht wird, bleibt die inhaltliche Ausgestaltung der Vorsorge weitgehend offen. Der Aussagegehalt des Gesetzes beschränkt sich auf die Forderung, es solle Vorsorge gegen schädliche Umwelteinwirkungen getroffen bzw. diese sollten soweit wie möglich vermieden werden. Dies erklärt sich u.a. aus der Entstehungsgeschichte des BImSchG. Das Vorsorgeprinzip wurde nämlich erst im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens ausdrücklich im BImSchG verankert, obwohl bereits der Gesetzentwurf der Bundesregierung92 die Möglichkeiten der Gefahrenabwehr als unzureichend einstufte und vom Erfordernis einer Vorbeugung ausging. Einem Vorschlag des Innenausschusses 93 folgend wurde diesen Belangen durch die explizite Aufnahme des Vorsorge grundsatzes in das BImSchG Rechnung getragen. Damit wurde zwar die in mehrfacher Hinsicht notwendige Ergänzung der für die komplexen Probleme der heutigen Zeit als zu statisch und nur punktuell wirkend empfundenen - Gefahrenabwehr vollzogen. So wurde mit der Aufnahme des Vorsorgeprinzips in das BImSchG insbesondere die Steuerung der technischen Risiken, die Offenhaltung der Zukunft und die schrittweise Sanierung bestehender Umweltbelastungen angestrebt 94 . Der konkrete Umfang der zu treffenden Vorsorgemaßnahmen blieb jedoch offen. Die Entstehungsgeschichte schließt dabei ein an der Gefahrenabwehr orientiertes Verständnis der Vorsorge ebensowenig aus wie ein weiter reichendes. Für letzteres spricht neben den schon referierten Motiven für die Aufnahme des Vorsorgeprinzips in das BImSchG die frühere Rechtsprechung zur Gewerbeordnung. Das BVerwG95 hatte nämlich auch schon unter der Geltung des auf Maßnahmen zur Gefahrenabwehr beschränkten § 18 GewO - der Vorläufervorschrift für die Anlagengenehmigung - künftige Beeinträchtigungen durch die zu genehmigende Anlage mitberücksichtigt 96 . Dem entsprechend ordnet das BVerwG97 den vorbeugenden Gefahrenschutz heute dem § 5 I Nr. 1 BImSchG und damit der Gefahrenabwehr zu. Allgemein betrachtet wiederholen sich bei der Abgrenzung von Gefahrenvorsorge und Gefahrenabwehr im BImSchG die schon im Atornrecht98 gesehenen Unsicherheiten, die u.a. die Zuordnung des Gefahrenverdachts 99 , die Bewertung von 91 H.-H. Trute, Vorsorge strukturen und Luftreinhalteplanung im Bundesimmissionsschutzgesetz, 1989, S. 33 ff. 92 BT-Drs. 7/179, S. 25 f. 93 BT-Drs. 7Il513 S. 2f. 94 H.-H. Trute, Vorsorgestrukturen und Luftreinhalteplanung im Bundesimmissionsschutzgesetz, 1989, S. 31 f. 95 BVerwG, DÖV 1968, 773. 96 Vgl. auch G. Schwerdtfeger, WiVerw. 1984,217 (218). 97 BVerwG, NVwZ 1984, 371. 98 Vgl. oben § 2. D. I. 1.
§ 2 Gefahren- und Informationsvorsorge im Recht
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Restrisiken, die Beschränkung der Vorsorge auf ein Gebot zur Risikominimierung und - generell - den Umfang der Vorsorge als zweifelhaft erscheinen lassen. Auch im BlmSchG werden etwa konkrete Gefahren dem Schutz-, abstrakte und hypothetische dagegen dem Vorsorgeprinzip zugeordnet lOO • Dabei werden die Konturen der Gefahrenvorsorge durch die Besonderheiten des BlmSchG zusätzlich verwischt: So werden gegen die schon angesprochene sog. Freiraum-These nachhaltige Bedenken erhoben, da sie die Anlagengenehmigung zu einer Planungsentscheidung umgestalten und dem Charakter der Genehmigungsentscheidung als gebundenem Verwaltungsakt zuwiderlaufen würde lO1 • In der Praxis seien jedoch wegen des Ausmaßes der heutigen Umweltbelastungen regelmäßig die gleichen Ergebnisse auch dann zu erzielen, wenn man das Vorsorgeprinzip im BlmSchG als bloße Risikovorsorge versteht lO2 . Diese Auslegung werde auch dem Verhältnis von § 5 I Nr. I und § 5 I Nr. 2 BlmSchG am ehesten gerecht: Beide Vorschriften dienen nämlich dem einheitlichen Ziel der Gefahrenbekämpfung. Während § 5 I Nr. I BlmSchG Anlagen, die schädliche Umwelteinwirkungen produzieren, verbietet, gebietet § 5 I Nr. 2 BlmSchG solchen ökologischen Auswirkungen vorzubeugen 103 • Dieser Argumentation ist zu folgen, wenn man sich auf ein rein formales Verständnis von Planung beschränkt und als Planungsentscheidungen nur die ausdrücklich als solche geregelten versteht. Damit ist jedoch noch nicht widerlegt, daß Genehmigungen nach dem BlmSchG in materieller Hinsicht den Charakter einer planenden Verwaltung enthalten. Im Wege der Abgrenzung von Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge werden zu ersterer vielfach die im Hinblick auf eine konkrete Anlage prognostizierten Immissionen gezählt. Der Vorsorge (§ 5 I Nr. 2 BImSehG) unterfallen demgegenüber Maßnahmen zur Emissionsbegrenzung. Die Doppelstrategie, die auf die Vermeidung sowohl von Emissionen als auch von Immissionen abzielt, ist gerechtfertigt. Schutz- und Vorsorgeprinzip vermögen nämlich erst in ihrer Gesamtheit die durch den Anlagenbetrieb entstehenden Konflikte zwischen Anlagenbetreiber und Nachbarschaft einerseits und Anlagenbetreiber und Allgemeinheit andererseits zu lösen. Der unterschiedlichen Zuordnung von Immissionen und Emissionen zum Schutzbzw. Vorsorgeprinzip liegt hierbei eine abweichende Zurechenbarkeit zugrunde: Immissionen können nur in einem vergleichsweise engen Einwirkungsbereich einer konkreten Anlage zugerechnet werden. Die Gefahrdungspotentiale, die durch einen Femtransport der Schadstoffe entstehen, verschließen sich in ihrem Einwirkungsbereich der Zuordnung zu einer bestimmten Anlage. Der dennoch bestehen99 Unter das Vorsorgeprinzip wird der Gefahrenverdacht von H.-J. Papier (DVBI. 1979, 162ff.) und E. Grabitz (WiVerw. 1984,232 [237]) gefaßt. A.A. D. Sellner, NJW 1980, 1255 (1257); W. Martens, DVBI. 1981,597 (602f.); einschränkend H.-W. Rengeling, Die immissionsschutzrechtliche Vorsorge, 1982, S. 68. 100 H. D. Jarass, BImSchG, § I Rdnrn. 6, 7; § 5 Rdnr. 25. 101 H.-W. Rengeling, Die immissionsschutzrechtliche Vorsorge, 1982, S. 36ff., 47f. 102 Zusf. M. Kloepfer, Umweltrecht, 1989, S. 415 m.w.N. 103 E. Grabitz, WiVerw. 1984,232 (238).
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l. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
den Gefährdungslage kann nur durch eine Reduzierung des Schadstoffausstoßes an der Quelle vorgebeugt werden. Diesbezügliche Maßnahmen unterfallen jedoch nicht der Gefahrenabwehr, zumal es weniger um die spezifische Schädlichkeit der Emissionen - diese wird schon als Immission in der Nachbarschaft erfaßt -, als vielmehr um deren allgemeine luftverunreinigende Wirkung geht. Welche Anforderungen dabei an eine konkrete Anlage zu stellen sind, kann dem BlmSchG unmittelbar nicht entnommen werden. Es bedarf vielmehr der Konkretisierung durch Rechtsverordnungen (§ 5 11 BImSehG) bzw. Verwaltungsvorschriften (§ 48 BImSehG). Das BlmSchG ordnet damit zwar Vorsorgemaßnahmen für genehmigungsbedürftige Anlagen (§ 4 I I BImSehG) unmittelbar an, begründet aber nur eine ausgestaltungsbedürftige "Pflichtigkeit" 104.
c) Rechtsprobleme der inhaltlichen Ausgestaltung Für das BlmSchG ist streitig, ob die Gefahrenvorsorge im Verhältnis zur traditionellen Gefahrenabwehr ein qualitatives oder ein nur quantitatives aliud darstellt. Die Vertreter der sog. Ignoranz-These ordnen die Gefahrenvorsorge der Gefahrenabwehr zu und relativieren nur deren Eingriffsvoraussetzungen. Nach der sog. Freiraum-These stellt sich Vorsorge als planungsrechtliches Instrument zur Erhaltung von Freiräumen und damit im Verhältnis zur Gefahrenabwehr als qualitatives aliud dar lO5 • In der Erhebung der Vorsorge als einer vergleichsweise vagen Zweckbestimmung zur Voraussetzung für eine Anlagengenehmigung wird vielfach ein Problem gesehen 106. Sie gibt jedoch wenig Anlaß, an der geforderten Bestimmtheit der gesetzlichen Regelung des Vorsorgeprinzips im BlmSchG zu zweifeln, zumal das Risiko einer Überdehnung der Vorsorgeanforderungen durch deren Einschränkungen ausreichend reduziert wird. Zum einen ist nämlich das Vorsorgeerfordernis nur an genehmigungsbedürftige und damit allein an solche Anlagen geknüpft, die in besonderem Maße geeignet sind, schädlicheUmwelteinwirkungen hervorzurufen. Zum anderen schränkt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die zu fordernde Vorsorge ein. Vorsorgemaßnahmen können danach nicht gefordert werden, wenn schädliche Umwelteinwirkungen durch die konkrete Anlage ausgeschlossen sind. Darüber hinaus setzt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine Abwägung zwischen den Belangen der Anlagenbetreiber und denjenigen der durch die Vorsorgemaßnahmen Begünstigten voraus. Dabei gewinnt wiederum die unterschiedliche Zwecksetzung der Vorsorge an Bedeutung, da von ihr die gegeneinander auszugleichenden Belange abhängen. Im Falle der Risikosteuerung stehen den Grundrechten des Anlagenbetreibers aus Art. 12, 14 GG diejenigen der Begünstigten aus Ausdruck nach G. Schwerdtfeger, WiVerw. 1984,217 (225). R. Fleury, Das Vorsorgeprinzip im Umweltrecht, 1994, S. 7 f. 106 E. Grabitz, WiVerw. 1984,232. 104 105
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Art. 2 11 GG gegenüber. Die gleiche Konstellation liegt vor, wenn zu ökologischen Zwecken Freiräume erhalten werden sollen. Abweichend hiervon fällt die Beurteilung aus, wenn mit der Freiraumerhaltung ökonomische Ziele verfolgt werden. Dabei soll weiter zwischen der Verfolgung gesamtwirtschaftlicher Belange und dem Interesse, an dem konkreten Standort weitere Industrieanlagen ansiedeln zu können, unterschieden werden. Neben dem Zweck der Vorsorge stellt deren Gegenstand eine weitere Abwägungsebene dar. Der Vorsorge gegen ein konkret erkanntes Risiko kommt höheres Gewicht zu als der gegen vage und abstrakte Gefahrdungen 107. Auch die - neben den in § 5 I Nr. 2 BImSchG explizit benannten Maßnahmen zur Emissionsbegrenzung - sonstigen Vorsorgemaßnahmen erwecken im Hinblick auf die Bestimmtheit des § 5 I Nr. 2 BImSchG nur vordergründig Zweifel. Sie sind nämlich sowohl in Literatur und Rechtsprechung als auch in der TA Luft durch zahlreiche Beispiele konkretisiert 108. Diese Konkretisierung macht die sonstigen Vorsorgemaßnahmen überhaupt erst vollziehbar. Der Gesetzgeber kann wegen des permanenten technischen Wandels keine detaillierten Vorgaben treffen. Entscheidungen der Exekutive für den jeweiligen Einzelfall sind vielfach unzureichend, da etwa die luftverunreinigende Wirkung bestimmter Schadstoffe immer gleich beurteilt werden muß. Ebenso wie im Atomrecht erweist sich daher auch im Immissionsschutzrecht die Abgrenzung von Gefahr, Risiko und Restrisiko als problematisch. Dies mag insofern nicht verwundern, als diese Begriffe zu einem Kontinuum gehören, innerhalb dessen Einschnitte nur durch politische Entscheidungen getroffen werden können lO9 .
3. Das Sozialrecht Obwohl die soziale Vorsorge ein wesentliches Strukturelement des Sozialrechts 110 darstellt, fand und findet sie in den gesetzlichen Regelungen wenig Beachtung. Ausdrücklich als "Vorsorge" bezeichnen die Sozialgesetze nur medizinische Vorsorgeleistungen 111. In § 4 11 SGB I, der "Grundnorm der Sozialversicherung", wird der Vorsorgegrundsatz mittelbar angesprochen, wenn neben dem Schutz auch die Erhaltung der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit als Rechte der in der Sozialversicherung Versicherten benannt werden. Aber auch diese Norm läßt nur einen kleinen Teil der dem Vorsorgegrundsatz im Sozialrecht zukommenZu den Dimensionen der Abwägung siehe E. Grabitz, WiVerw. 1984,232 (240ff.). Vgl. die Zusammenstellung bei G. Schwerdtfeger, WiVerw. 1984,217 (228 ff.). 109 Ähnlich F. Kohout, Vorsorge als Prinzip der Umweltpolitik, 1995, S. 107 ff. 110 Zur Unklarheit des Begriffs "Sozialrecht" vgl. H. F. Zacher, in: R. Weber-Fas (Hrsg.), Jurisprudenz. Die Rechtsdisziplinen in Einzeldarstellungen, 1978, S. 407 ff. 111 Vgl. z. B. § 23,24 SGB V. 107
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
den Bedeutung aufscheinen. Sie bezieht sich nämlich ebenfalls vornehmlich auf die medizinische Vorsorge. Die sozialrechtlichen Vorsorgemaßnahmen beschränken sich aber keineswegs hierauf; vielmehr trifft das Sozialrecht auch für die Fälle des Verlusts der Gesundheit und/oder der Leistungsfähigkeit - sei es wegen Krankheit, Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit - Vorsorge, indem es die Leistungen der Kranken-, Renten- und Unfallversicherung bereitstellt. Darüber hinaus sind Maßnahmen zur Ausbildungs- und Arbeitsförderung vorgesehen.
a) Die Vorsorge als Systemstruktur des Sozialrechts Die umfassende Bedeutung des Vorsorgegrundsatzes im Sozialrecht erhellt sich erst bei einer näheren Untersuchung der Systemstrukturen dieses Rechtsgebiets. Der Gesetzgeber selbst hat von einer strengen Systematisierung abgesehen und in den §§ 3 bis 10 SGB I nur die "sozialen Rechte" als Leitlinien für die Auslegung des Gesetzes normiert ll2 . Die Wissenschaft hingegen bietet mehrere Systematisierungsversuche: Herkömmlicherweise wurde zwischen Sozialversicherung, Versorgung und Fürsorge unterschieden. Dieser Differenzierung folgt auch die Kompetenzordnung des Grundgesetzes, indem sie die Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung (Art. 74 I Nr. 12 GG), die Versorgung (Art. 74 I Nr. 10 GG) und die Fürsorge (Art. 74 I Nr. 7 GG) gesondert regelt 1l3 . Die Sozialversicherung verbindet dabei Gedanken der Individualversicherung, der Sozialversorgung und teilweise der Fürsorge. Die Sozialversicherung kennt nämlich, anders als die Individualversicherung, eine Pflichtmitgliedschaft. Darüber hinaus dienen bei der Sozialversicherung die risikounabhängige Beitragshöhe, der Beitragsanteil der Arbeitgeber, die Anerkennung beitragsloser Zeiten (Ersatz-, Ausfall- und Zurechnungszeiten) sowie mögliche Staatszuschüsse einem in der Individualversicherung nicht vorgesehenen sozialen Ausgleich 114 . Wie in der Individualversicherung schließen sich aber auch in der Sozialversicherung durch gleichartige Risiken bedrohte Personen zu einer Gefahrengemeinschaft zusammen, die sich aus Beiträgen finanziert. Die Sozialversicherung stellt mithin eine Mischform dar, die Elemente einer versicherungsmäßigen Selbsthilfe und eines sozialen Ausgleichs sowohl innerhalb der Versichertengemeinschaft als auch im Verhältnis zwischen dieser und dem Staat verbindet ll5 . Im Gegensatz zur Sozialversicherung werden die Leistungen der Versorgung aus Steuermitteln gewährt. Die früher als "Fürsorge" bezeichnete Sozialhilfe wird durch ihre Subsidiarität gegenüber der Sozialversicherung und der Versorgung charakterisiert. Sie setzt überdies Hilfsbedürftigkeit voraus 116. Diese Dreiteilung in 1I2 113 114
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Vgl. § 211 SGB I. B. Schulin, Sozialrecht, Rdnrn. 30 ff. WolfflBachof, Verwaltungsrecht III, 4. Auf!. 1978, § 139 Rdnrn. 9 ff. H. Bley, Sozialrecht, A. I. 4.
§ 2 Gefahren- und Inforrnationsvorsorge im Recht
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Sozialversicherung, Versorgung und Fürsorge erwies sich indessen schon früh als unzureichend. Sie konnte die nach dem Zweiten Weltkrieg erforderlichen zusätzlichen staatlichen Leistungen - z. B. die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts und die Entschädigung von kriegsbedingten Sachschäden - nicht überzeugend einordnen l17 . Darüber hinaus blieben in der Sozialversicherung mit dem sozialen Ausgleich sowohl innerhalb der Gruppe der Versicherten als auch zwischen dieser und dem Staat wesentliche Elemente unberücksichtigt. Die Versorgung mußte weiter aufgefächert werden in eine Allgemein- und eine Sonderversorgung. Dabei soll erstere allein der Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips dienen; sie setzt keine Vorleistung des Begünstigten voraus und hängt nur vom Vorliegen bestimmter Tatbestände ab. Anders als die somit rein final orientierte Allgemeinversorgung soll die Sonderversorgung für ein der Allgemeinheit gegenüber erbrachtes oder von ihr verursachtes Opfer entschädigen; sie soll das Rechtsstaatsprinzip verwirklichen 118. Die Alternative zwischen Sozialversicherung oder Versorgung einerseits und bloßer Fürsorge andererseits erwies sich als unbefriedigend; der Gesetzgeber schuf zunehmend Mischformen 1l9 . Mit der Arbeits- und Ausbildungsförderung, die nicht auf die Förderung von Bereichen, sondern von Individuen abzielt, wurden darüber hinaus "Entfaltungshilfen" 120 kreiert, die in das bisherige System nicht eingeordnet werden konnten. Teilweise wurde hierauf durch die Schaffung einer "vierten Säule", der Sozialförderung, reagiert l21 • Andere nahmen diese Insuffizienzen der herkömmlichen Dreiteilung zum Anlaß, neue Systematisierungsversuche zu entwickeln. H. F. Zacher schlug 1970 122 vor, zwischen Vorsorge-, Entschädigungs- und situationsbezogenen Ausgleichssystemen zu differenzieren. Insbesondere im Hinblick auf das internationale Recht sind letztere weiter in vorsorge-analoge Systeme und Hilfssysteme zu unterteilen 123. Erstere schützen wie die Vorsorge gegen die Wechselfälle des Lebens, werden jedoch aus Steuern finanziert. Hilfssysteme haben - wie insbesondere die Sozialhilfe oder Fürsorge - subsidiären Charakter und decken das Existenzminimum nur insoweit ab, als keine anderweitige Leistung eingreift. Bei der Trias Vorsorge-, Entschädigungs- und Ausgleichssysteme handelt es sich um die Schnittpunkte verschiedener grundsätzlicher Gegensatzpaare : Sozialleistungen können zum einen nur an eine bestimmte Situation oder auch an deren Vorgeschichte anknüpfen. Zum anderen können Sozialleistungssysteme abstrakt-typisierend oder konkret-bedarfsorientiert ausgestaltet sein. Erstere gewähren das typischerweise richtige ohne 116 ll7
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WolfflBachof, Verwaltungsrecht III, 4. Auf!. 1978, § 139 Rdnrn. 9 ff. H. F. Zacher, in: ders. (Hrsg.), Wahlfach Sozialrecht, 2. Auf!. 1981, S. 15 f. H. Bley, Sozialrecht, A I 4. Vgl. H. F. Zacher, in: ders. (Hrsg.), Wahlfach Sozialrecht, 2. Auf!. 1981, S. 15 f. H. F. Zacher, in: ders. (Hrsg.), Wahlfach Sozialrecht, 2. Auf!. 1981, S. 15 H. Bley, Sozialrecht, A I 4. H. F. Zacher, DÖV 1970,3 (6 m. Fußn. 41). H. F. Zacher, in: Festschrift für W. Zeidler, 1987, S. 571 ff., 587 f.
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
Ansehung des Einzelfalls; bei letzteren wird das im konkreten Fall benötigte gewährt l24 . Vorsorgesysteme sind abstrakt-typisierend und berücksichtigen die Vorgeschichte 125 . Letzteres ist zwar grundsätzlich auch für die Entschädigungssysteme zu bejahen. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch in der Art der Vorgeschichte l26 . Bei Vorsorgesystemen wird an die erbrachten Vorleistungen und die hieraus erwachsenen Anwartschaften ("Vorsorgegeschichte,,127) angeknüpft; Entschädigungssysteme sollen hingegen Schäden ausgleichen, für die der Staat verantwortlich ist oder für die er die Verantwortung übernimmt ("Verantwortungsgeschichte" 128).
b) Der Inhalt des Vorsorgeprinzips im Sozialrecht Dem Typus der Vorsorgesysteme unterfallen insbesondere die einzelnen Sozialversicherungen, d. h. die Kranken-, die Renten- und die Arbeitslosenversicherung 129 . Die Unfallversicherung enthält ein Mischsystem, das Elemente der Vorsorge mit solchen der Entschädigung verbindet 130. Die primäre Leistung der Vorsorgesysteme ist die Gewährleistung sozialer Sicherheit l3l . Das Verhältnis der Vorsorgesysteme zu - neben der Sicherheit - weiteren Zielen des Sozialrechts - wie dem Abbau von Ungleichheit, Wohlstandsteilhabe des einzelnen etc. 132 - kann hier nur angedeutet werden. So ist das Verhältnis der Vorsorgesysteme zu den Forderungen nach Gleichheit und Gewährleistung des Existenzminimums ambivalent. Entscheidend ist nämlich der jeweilige Beurteilungsmaßstab: Die Gleichheit kann relativ nach den bestehenden Ungleichheiten oder absolut beurteilt werden. Im Hinblick auf das Existenzminimum schützen Vorsorgesysteme Vorsorgefähige davor, unter das Existenzminimum zu fallen. Vorsorgeunfähige bleiben hingegen unberücksichtigt 133. 124 Zu diesen Strukturelementen vgl. H. F. Zacher, in: Festschrift für W. Zeidler, 1987, S. 571 ff., 581 ff. 125 H. F. Zacher, in: Bitburger Gespräche. Jahrbuch 1988, S. 25 ff., 31 ff. 126 H. F. Zacher, SGb 1982, 329 (334). 127 H. F. Zacher, in: Bitburger Gespräche. Jahrbuch 1988, S. 25 ff., 31. 128 H. F. Zacher, in: Bitburger Gespräche. Jahrbuch 1988, S. 25 ff., 31. 129 H. F. Zacher, in: R. Weber-Fas (Hrsg.), Jurisprudenz. Die Rechtsdisziplinen in Einzeldarstellungen, 1978, S. 407 ff., 411 f. 130 H. F. Zacher, in: Bitburger Gespräche. Jahrbuch 1988, S. 25 ff., 31. 13l H. F. Zacher, in: Festschrift für W. Zeidler, 1987, S. 571 ff., 585.; H. F. Zacher, in: KaufmannlMestmäcker/Zacher (Hrsg.), Rechtsstaat und Menschenwürde, Festschrift für W. Maihofer zum 70. Geburtstag, S. 669 ff., 677. 132 Vgl. § 1 I SGB I sowie H. F. Zacher, in: Festschrift für W. Zeidler, 1987, S. 571 ff., 573. 133 Vgl. hierzu H. F. Zacher, in: KaufmannlMestmäcker/Zacher (Hrsg.), Rechtsstaat und Menschenwürde, Festschrift für W. Maihofer zum 70. Geburtstag, S. 669 ff., 677.
§ 2 Gefahren- und Infonnationsvorsorge im Recht
123
Voraussetzung für die Gewährleistung sozialer Sicherheit durch die Vorsorgesysteme ist neben der subjektiven Vorsorgetätigkeit das Vorliegen eines vorsorgefähigen Risikos. Erstere kann hierbei durch eine gesetzliche Pflicht erzwungen werden. Soweit der einzelne zur Vorsorge nicht fähig ist, wird dies als "sekundäres Risiko", das seinerseits Vorsorge erfordert, bewertet l34 . Sozialrechtliche Vorsorgesysteme nehmen dabei in der sozialen Marktwirtschaft eine externalisierende Funktion wahr. Regelmäßig dienen nämlich Arbeit und Einkommen dazu, bestehenden Bedarf für eine einem Unterhaltsverband angehörende Gruppe Unterhaltsbedürftiger zu decken. Eine Internalisierung sozialer Defizite liegt nur insoweit vor, als eine vorgegebene, größere "Lebensordnung,,135 sozial zweckhaft ausgestaltet wird. Darunter fallen etwa die Rechte aus Art. 14, 12, 2 I GG, die das Eigentum, den Erwerb und die wirtschaftliche Betätigung schützen. Die Vorsorgesysteme überschreiten diese "Lebensordnung", indem sie externe, beim Staat oder bei speziellen Sozialversicherungsträgern angesiedelte Lösungen anbieten 136. Die konkrete Verortung der Schwelle zwischen Internalisierung und Externalisierung hängt hierbei entscheidend vom jeweiligen Wirtschaftssystem ab. Ein marktwirtschaftliches System, das auf der Autonomie gesellschaftlicher Prozesse und Einheiten aufbaut, läßt eine weitaus geringere Ausgestaltung der Lebensordnung zu, als ein staatswirtschaftliches System I3 ? Auf weitere verwandte Vorsorgesysteme kann hier nicht näher eingegangen werden. Nur genannt seien daher die dienstrechtlichen Vorsorgesysteme für Minister, Abgeordnete, Beamte, Richter und Soldaten. Diese wirken - ebenso wie z. B. die privatrechtlich organisierte betriebliche Alterssicherung durch Direktzusagen des Arbeitgebers und im Gegensatz zur Sozialversicherung - internalisierend, da das Vorsorge- und Leistungsverhältnis vom Beschäftigungsverhältnis mitumfaßt wird. Darüber hinaus bestehen zur Sozialversicherung externalisierende privatrechtliche Parallelen in Fonn von Privatversicherungen und der betrieblichen Alterssicherung durch Pensionskassen oder Direktversicherungen 138.
4. Das Wirtschaftsrecht
Die Bedeutung des Vorsorgeprinzips im Wirtschaftsrecht spiegelt sich in der gesetzlichen Regelung ebensowenig wider wie im Sozialrecht. Ausdrückliche Normierungen der Vorsorge finden sich nur im technischen Sicherheitsrecht, das hier 134 H. F. Zacher, in: R. Weber-Fas (Hrsg.), Jurisprudenz. Die Rechtsdisziplinen in Einzeldarstellungen, 1978, S. 407 ff., 412. 135 H. F. Zacher, in: Festschrift für W. Zeidler, 1987, S. 571 ff., 575. 136 Vgl. zum Ganzen H. F. Zacher, in: Festschrift für W. Zeidler, 1987, S. 571 ff., 574 ff. l37 H. F. Zacher, in: Festschrift für W. Zeidler, 1987, S. 571 ff., 577 ff. 138 Vgl. zusf. und m.w.N. H. F. Zacher, in: Festschrift für W. Zeidler, 1987, S. 571 ff., 584.
124
I. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
als gesonderte Materie bereits vorab behandelt wurde 139. Auch Art. 109 GG und § I des Stabilitätsgesetzes 140 erwähnen das Vorsorgeprinzip nicht explizit. Die Vorgabe der dortigen Zielbestimmungen für wirtschafts- und finanzpolitische Maßnahmen kann jedoch bei näherer Betrachtung auch als mittelbare Aufforderung zur Vorsorge verstanden werden. Die Anweisung, Maßnahmen in diesem Bereich so zu treffen, daß sie auch zur Erreichung der Ziele des "magischen Vierecks" beitragen, ist eine andere Umschreibung dafür, daß für diese Ziele Vorsorge zu tragen ist l41 . Diese Interpretation wird bestätigt, wenn man das Wirtschaftsrecht aus dem Blickwinkel des Vorsorgeprinzips betrachtet. Eine sichere Verortung des Vorsorgeprinzips im Wirtschaftsrecht setzt zunächst einen Überblick über die unterschiedlichen Einwirkungsmöglichkeiten des Staates auf die Wirtschaft und deren Zulässigkeit voraus 142.
a) Art und Zulässigkeit staatlicher Maßnahmen zur Beeinflussung der Wirtschaft Eine Einflußnahme des Staates auf die Wirtschaft kann nicht geleugnet werden. Sowohl im historischen Rückblick als auch in den heutigen unterschiedlichen Wirtschaftssystemen sind staatliche Regelungen der Wirtschaft - wenn auch in sehr unterschiedlicher Intensität und Dichte - zu verzeichnen 143 . Die verschiedenen Wirtschaftssysteme werden gerade nach dem Grad der staatlichen Einwirkung unterschieden. Für die Marktwirtschaft ist die Selbststeuerung der Wirtschaft charakteristisch. Die Planwirtschaft144 hingegen wird von der Staatsverantwortung für die Wirtschaft und der daraus folgenden, allein staatlich geplanten und organisierten Wirtschaft geprägt. Aber auch in der reinen Marktwirtschaft ist die - wenn auch lose - Abhängigkeit der Wirtschaft vom Staat unbestreitbar. Der Staat schafft auch hier die Vorbedingungen, indem er einerseits die Wirtschaft dem Po)izei- und Ordnungsrecht unterwirft und andererseits die wirtschaftliche Infrastruktur bereitstellt. Insbesondere obliegt es dem Staat, diejenigen öffentlichen Einrichtungen zu schaffen, die nicht mit Gewinnerzielungsabsicht betrieben werden können l45 . Vgl. oben § 2. D. I. 1. und 2. Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft v. 8. 6. 1967 (BGBL I, S. 582 ff.). 141 In diesem Sinne schon G. Roth, Die Gefahrenvorsorge im sozialen Rechtsstaat, 1968, S.IO. 142 Zum folgenden vgl. wie hier Schol:z1Aulehner, BB 1991,73 ff. 143 Zu den möglichen Wirtschaftsverfassungen vgl. W. Fikentscher, Wirtschaftsrecht, Band 11, 1983, S. 37 ff., der auch einen geschichtlichen Überblick bietet (a. a. 0., S. 25 ff.). 144 Auf die Modifikationen und Zwischenformen sozialistische Marktwirtschaft, Planifikation, global gesteuerte und soziale Marktwirtschaft kann hier nicht näher eingegangen werden. 139
140
§ 2 Gefahren- und Informationsvorsorge im Recht
125
Im historischen Rückblick treten der Merkantilismus und der Wirtschaftsliberalismus als Gegenpole hervor. Der Merkantilismus ist durch das Bestreben markiert, die Wirtschaft mit staatlichen Mitteln zu fördern und zu lenken. Die damit gekennzeichneten intensiven Eingriffe des Staates in die Wirtschaft entsprechen dem damaligen Staatsverständnis des Absolutismus. Als anderes Extrem steht dem der Wirtschaftsliberalismus gegenüber, der dem liberalen, bürgerlichen Rechtsstaat korrespondierte. Der Wirtschaftsliberalismus war geprägt durch die Selbstregulierung der Wirtschaft. Das Grundgesetz enthält keine ausdrücklich geregelte Wirtschaftsverfassung (im engeren Sinne). Als Wirtschaftsverfassung i.w.S. wird die gesamte rechtliche Ordnung der Wirtschaft bezeichnet. Die Wirtschaftsverfassung i.e.S. bezeichnet demgegenüber die die Wirtschaft betreffenden Regelungen der Verfassung. Sie ergibt sich aus der Gesamtheit der Reaktionen der jeweiligen, im Einzelfall betroffenen Verfassungsbestimmungen l46 , insbesondere den Grundrechten, dem Rechtsund Sozialstaatsprinzip 147. Staatliche Lenkungsmaßnahmen sind grundsätzlich zulässig. Dies ergibt sich zum einen aus der Verfassung; neben der Kompetenzordnung 148 sind hierbei die Grundrechte 149 und die allgemeinen Verfassungsprinzipien (Rechts-, Sozialstaat) zu nennen. Für eine generelle Rechtfertigung staatlicher Lenkungsmaßnahmen ist es darüber hinaus nicht zwingend erforderlich, auf die einzelnen Grundgesetznorrnen zu rekurrieren. Lenkungsvorgänge sind vielmehr - so stellte E. Forstho!l50 schon vor geraumer Zeit fest - dem modemen Staat wesensimmanent. Ob ein Staat zur Wirtschaftslenkung berechtigt ist, sei daher schon angesichts der Wirklichkeit eine juristisch nicht ertragreiche Frage. Das Grundgesetz enthält darüber hinaus eine offene Wirtschaftsverfassung, die dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum auch bzgl. des Einwirkungsgrades durch den Staat auf die Wirtschaft einräumt l5l . Begrenzt wird dieser Gestaltungsspielraum durch die grundgesetzliche Forderung eines Wirtschaftssystems, das optimale Freiheitschancen auch im Bereich der Wirtschaft gewährleistet. Es muß mithin von Markt und Wettbewerb wesentlich geprägt sein l52 . Zweifel können daher nur im Hinblick auf die Dichte und IntensiVgl. A. Smith, Der Wohlstand der Nationen, 1789, S. 582. H. F. Zacher, in: U. Scheuner (Hrsg.), Die staatliche Einwirkung auf die Wirtschaft, 1971, S. 549 ff., 573 147 Vgl. hierzu R. Scholz, in: D. Duwendag (Hrsg.), Der Staatssektor in der sozialen Marktwirtschaft, 1975, S. 113, 119ff. 148 Vgl. insb. Art. 74 I Nm. 11, 15, 16 und 17, Art. 91 a Abs. 1 Nr. 2, Art. 104a Abs. 4, Art. 109 Abs. 2 GG. 149 Z.B. Art. 2 Abs. 1,3 Abs. 1, 12 Abs. I, 14 Abs. 1 GG. 150 E. Forsthoff, BB 1953,421. 151 BVerfGE 4, 7; 16, 147; R. Scholz, in: D. Duwendag (Hrsg.), Der Staatssektor in der sozialen Marktwirtschaft, 1975, S. 113, 117ff. 145
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126
1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
tät sowie die Voraussetzungen der Lenkungsmaßnahmen im einzelnen angemeldet werden. Wie für das Recht der Gefahrenabwehr bereits angedeutet, zeitigt nahezu jede staatliche Maßnahme Auswirkungen auf die Wirtschaft. Da für ein derartig urnfassendes Spektrum keine hinreichend detailgenauen Gemeinsamkeiten festgestellt werden können, ist eine Abgrenzung der hier interessierenden Maßnahmen zur Wirtschaftslenkung erforderlich. Akte staatlicher Wirtschaftslenkung sind ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform alle staatlichen Maßnahmen, durch die auf den wirtschaftlichen Prozeß eingewirkt werden soll, um einen wirtschafts-, sozial- oder gesellschaftspolitisch erwünschten Zustand oder Ablauf des Wirtschaftslebens herzustellen oder zu erhalten 153. Von der so zu verstehenden Wirtschaftslenkung (Lw.S.) ist die Wirtschaftsaufsicht zu unterscheiden. Der Begriff der Wirtschaftslenkung ist ebenso umstritten wie derjenige der Wirtschaftsverfassung. So wird unter Wirtschaftslenkung oder -einwirkung teilweise jede staatliche Einflußnahme auf die Wirtschaft verstanden I54 ; andere 155 sprechen hier von Wirtschaftspolitik. Im folgenden soll mit Wirtschaftslenkung Lw.S. der Gegenpol zur Wirtschaftsaufsicht bezeichnet werden, während Wirtschaftseinwirkung als Oberbegriff dienen SOll156. Während die Wirtschaftslenkung die unternehmerischen Entschlüsse zu beeinflussen und so die Wirtschaft zu steuern versucht, ist die Wirtschaftsaufsicht darauf gerichtet, die Folgen unternehmerischer Entscheidungen durch punktuelle, defensive Maßnahmen zu verhindern I57 . Anders ausgedrückt hat die Wirtschaftsaufsicht eine beobachtende und ggf. berichtigende Funktion I58 . Der Wirtschaftslenkung i.w.S. kommt demgegenüber eine offensive Steuerungsfunktion zu. Der Sache nach 159 kann innerhalb der Wirtschaftslenkung Lw.S. weiter zwischen mittelbaren (auch sog. makroökonomischer im Gegensatz zur mikroökonomischen Steuerung) und unmittelbaren Maßnahmen unterschieden werden. Innerhalb letzterer kann nochmals zwischen Wirtschaftsförderung und Wirtschaftslenkung Le.S. differenziert werden l60 . 152 R. Scho1z, in: D. Duwendag (Hrsg.), Der Staatssektor in der sozialen Marktwirtschaft, 1975, S. 113, 124. 153 BVerwGE 71, 183 (190); P. Badura, in: E. Schrnidt-Aßmann, (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 10. Auf!. 1995, III Rdnrn. 77 ff. 154 Weimar/Schimikowski, Grundzüge des Wirtschaftsrechts, 1983, insb. S. 212. 155 R. Schrnidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht - Allgemeiner Teil, 1990, S. 298 ff. 156 Ebenso H. D. Jarass, Wirtschaftsverwaltungsrecht und Wirtschaftsverfassungsrecht, 2. Auf!. 1984, S. 107f. 157 H. D. Jarass, Wirtschaftsverwaltungsrecht und Wirtschaftsverfassungsrecht, 2. Auf!. 1984, S. 107f. 158 R. Scho1z, Wirtschaftsaufsicht und subjektiver Konkurrentenschutz, 1971, S. 36 159 Die Terminologie ist auch hier uneinheitlich. 160 H. D. Jarass, Wirtschaftsverwaltungsrecht und Wirtschaftsverfassungsrecht, 2. Auf!. 1984, S. 107f.
§ 2 Gefahren- und Infonnationsvorsorge im Recht
127
b) Die Lokalisierung von Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge im Geflecht staatlicher Maßnahmen zur Beeinflussung der Wirtschaft Nach der vorausgegangenen Auffächerung der staatlichen Maßnahmen, welche die Wirtschaft beeinflussen, sind Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge vergleichsweise sicher zuzuordnen l61 ; Während die Gefahrenabwehr der Wirtschaftsaufsicht unterfällt, ist die Gefahrenvorsorge unter der Wirtschaftslenkung (i.w.S.) zu lokalisieren. Dies ergibt sich schon aus der Definition der Gefahrenvorsorge. Im Wirtschaftsrecht wird nämlich die Lenkung zum Zweck wirtschaftlicher Daseinssicherung als Gefahrenvorsorge verstanden l62 . Gleichwohl verbleibende Lokalisierungsprobleme sind nicht auf Schwächen der Zuordnung von Gefahrenabwehr und Wirtschaftsaufsicht einerseits und Gefahrenvorsorge und Wirtschaftslenkung (i.w.S.) andererseits zurückzuführen. Sie ergeben sich vielmehr aus der Systematik der staatlichen Maßnahmen zur Wirtschaftsbeeinflussung. Die dargestellten Untergliederungen sind nämlich nur scheinbar starr. Tatsächlich ist eine stringente Grenzziehung in dem komplexen Feld der staatlichen Maßnahmen, die die Wirtschaft beeinflussen können, nicht möglich; vielmehr ist ein zunehmendes Ineinanderfließen von Wirtschaftslenkung (i.w.S.) und Wirtschaftsaufsicht zu erkennen. Die Wirtschaftsaufsicht entwickelt sich zum Wirtschaftsdirigismus und mutiert von der ihr zukommenden Beobachtungs- und Berichtigungs- zu der allein der Wirtschaftslenkung (i.w.S.) vorbehaltenen Steuerungsfunktion 163.
5. Gefahrenvorsorge in unterschiedlichen Rechtsgebieten Zusammenfassung
So heterogene Materien wie das Atom-, Immissionsschutz-, Sozial- und Wirtschaftsrecht kennen zwar jeweils Ausprägungen des Vorsorgeprinzips. Die diese einzelnen Sachbereiche übergreifenden Zusammenhänge - Unterschiede und Gemeinsamkeiten -, die zu einem allgemeinen Vorsorgegrundsatz kondensieren könnten, sind aber bislang nicht bzw. nur unzureichend herausgearbeitet. Die Strukturen eines allgemeinen Vorsorgeprinzips sind daher allenfalls ansatzweise erkennbar. Für das allgemeine Vorsorgeprinzip ergibt sich daher insgesamt der im folgenden l64 beschriebene Befund.
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S. I ff. 162 163
164
Hierzu sowie zum folgenden wie hier schon J. Aulehner, BB-Beil. 3 zu Heft 12/1995, Vgl. G. Roth, Die Gefahrenvorsorge im sozialen Rechtsstaat, 1968, S. 10. R. Scholz, Wirtschaftsaufsicht und subjektiver Konkurrentenschutz, 1971, S. 14 f., 20 f. Vgl. sogleich folgend im Text sub 2. D. 11.
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
11. Standort und Strukturen der Gefahrenvorsorge das allgemeine Vorsorgeprinzip· Der Rechtsprechung ist eine allgemein anerkannte Definition der Gefahrenvorsorge bislang nicht gelungen. Namentlich müssen die Maßnahmen der Gefahrenvorsorge im Hinblick auf das Besorgnispotential einerseits das Übermaßverbot beachten und finden dort eine Grenze, wo eine Schadensentstehung ausgeschlossen ist; andererseits muß die Gefährdung so gering wie möglich gehalten werden. In der Literatur wurde Gefahrenvorsorge bislang vornehmlich als eine auf einzelne Rechtsgebiete beschränkte Modifikation der traditionellen Gefahrenabwehr verstanden. Von wenigen Ausnahmen 165 abgesehen beschränkt sich die Diskussion dementsprechend auf die Auswirkungen im jeweiligen Rechtsgebiet. Weitgehend unbeachtet blieben jedoch bislang die die Rechtsgebiete übergreifenden Gemeinsamkeiten der Gefahrenvorsorge l66 , obwohl gerade das Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten und Parallelen zur Fortentwicklung der Gefahrenvorsorge beitragen kann. Die in den einzelnen Rechtsgebieten sehr unterschiedliche dogmatische Durchdringung des Vorsorgeprinzips läßt wechselseitige Übernahmen der Erkenntnisse aussichtsreich erscheinen. Die hier exemplarisch 167 referierten Vorsorgestrukturen im technischen Sicherheits-, Sozial- und Wirtschaftsrecht lassen nämlich durchaus unterschiedliche Vorgehensweisen zur Bewältigung des Vorsorgeaspekts erkennen. Im technischen Sicherheitsrecht dient das Vorsorgeprinzip vorrangig dazu, Vorgaben für die Gefahrenabwehr überschreitende, neuartige, bislang nicht erforderliche Maßnahmen aufzustellen. Im Wirtschafts- und Sozialrecht wird das Vorsorgeprinzip hingegen primär verwendet, um das dort schon bestehende, allgemein anerkannte und der Gefahrenvorsorge zuzurechnende Instrumentarium zu strukturieren.
1. Die Binnenstruktur der Gefahrenvorsorge
a) Die Gefahrenvorsorge als qualitative Erweiterung der Gefahrenabwehr Die Erörterungen der Gefahrenvorsorge gehen in allen Rechtsgebieten von der Gefahrenabwehr als einer traditionellen und durch Rechtsprechung und Literatur konkretisierten Rechtsfigur aus. Dabei wird die Gefahrenvorsorge als qualitative Erweiterung der Gefahrenabwehr verstanden: Während Maßnahmen der GefahrenVgl. insbesondere T. Darnstädt, Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge, 1983, 121 ff. und H.-H. Trute, Vorsorgestrukturen und Luftreinhalteplanung im Bundesimmissionsschutzgesetz, 1989 sowie W. Martens, DÖV 1982, 89ff. 166 Ähnlich kritisch T. Darnstädt, Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge, 1983, S. 121 f. 167 Zu weiteren Beispielen für Regelungen, die der Gefahrenvorsorge zugeordnet werden können, siehe T. Darnstädt, Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge, 1983, S. 121 ff.
s.
165
§ 2 Gefahren- und Informationsvorsorge im Recht
129
abwehr durch die Determinanten Schaden und Eintrittswahrscheinlichkeit bestimmt werden, stellt die Gefahrenvorsorge in zweifacher Hinsicht eine Ausdehnung dar. Zum einen ermöglicht sie Maßnahmen bereits in Fällen, in denen die Schädlichkeit eines Faktors noch ungeklärt ist. Ausreichend für Vorsorgemaßnahmen ist der bloße Verdacht der Schädlichkeit l68 . Zum anderen greift die Gefahrenvorsorge auch in Konstellationen ein, in denen bei ungehinderter Fortentwicklung der Eintritt eines Schadens nach der allgemeinen Lebenserfahrung noch nicht hinreichend wahrscheinlich ist l69 . Der Grad der auch für die Gefahrenvorsorge erforderlichen Wahrscheinlichkeit ist wie bei der Gefahrenabwehr nicht von den Naturwissenschaften vorgebbar, sondern muß, hier wie dort, wertend ermittelt werden. Die Gefahrenvorsorge setzt nur die Vorsorgefähigkeit der Gefährdung voraus. Ihr daraus resultierender umfassender Anwendungsbereich erfordert eine abstrakte Typenbildung. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip wirkt als einzige und nur äußerste Grenze der im übrigen nur von unbestimmten Voraussetzungen abhängigen Gefahrenvorsorge. Die Gefahrenabwehr schützt demgegenüber nur gegen sich bereits konkret abzeichnende Gefährdungen und ist an - durch die vorliegende Literatur und Rechtsprechung - konkretisiertere und detailliertere Voraussetzungen geknüpft. Diese Gegensätze zwischen Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge beruhen letztlich auf einer jeweils unterschiedlichen Schutzrichtung. Während die Gefahrenabwehr vornehmlich gegen einzelne, eingrenzbare Gefährdungen gerichtet ist, soll die Gefahrenvorsorge die Gesamtentwicklung beeinflussen. Konsequenterweise dient die Gefahrenvorsorge verstärkt dem Schutz der Allgemeinheit; die Gefahrenabwehr hingegen schützt vorrangig nur die jeweils Gefährdeten. Insgesamt erscheint die Betrachtung der Gefahrenvorsorge in ihrem Verhältnis zur überkommenen Gefahrenabwehr ebenso richtig wie unvollständig. Das Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten, Parallelen und relevanten Abweichungen der Gefahrenvorsorge im Verhältnis zur Gefahrenabwehr ist zunächst geeignet, die Konturen der Gefahrenvorsorge anhand der bereits strukturierten Gefahrenabwehr zu entwickeln und einen Teil der zur Gefahrenabwehr entwickelten Dogmatik in den Bereich der Gefahrenvorsorge zu übernehmen. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß - wie T. Darnstädt l70 nachgewiesen hat - Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge grundlegend voneinander abweichende Fallkonstellationen betreffen. Mit der Feststellung, die Gefahrenvorsorge sei die qualitative Erweiterung der Gefahrenabwehr, sind deren Unterschiede nur unzureichend umschrieben.
168 H.-H. Trute, Vorsorgestrukturen und Luftreinhalteplanung im Bundesimmissionsschutzgesetz, 1989, S. 40 ff. 169 H.-H. Trute, Vorsorgestrukturen und Luftreinhalteplanung im Bundesimmissionsschutzgesetz, 1989, S. 47 ff. 170 T. Damstädt, Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge, 1983, S. 132.
9 Aulehner
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
b) Die unterschiedlichen Beurteilungsgrundlagen von Gefahrenvorsorge und Gefahrenabwehr Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge ergibt sich aus folgender Überlegungl?l: Im Fall der Gefahrenabwehr erfolgt eine auf einen bestimmten Zeitpunkt bezogene Gesamtbeurteilung, die auf allen für das eventuelle Vorliegen einer Gefahr relevanten Umständen beruht. Ist auf Grund dieser Gesamtbeurteilung (bei ungehindertem Ablauf und nach allgemeiner Lebenserfahrung) der Eintritt eines Schadens zu erwarten, werden Maßnahmen zur Gefahrenabwehr ausgelöst. Maßnahmen der Gefahrenvorsorge beruhen demgegenüber nicht auf der Gesamtbeurteilung einer bestimmten Situation, sondern gehen von einem bestimmten, bekannten, einzelnen Faktor, der eventuell schädliche Eigenschaften besitzt, aus. Dabei begründet der jeweils betrachtete Faktor für sich noch keine Gefahr; andernfalls unterfällt die Fallkonstellation nicht mehr der Gefahrenvorsorge, sondern schon der Gefahrenabwehr. Für die Gefahrenvorsorge ist es vielmehr charakteristisch, daß sich aus dem betrachteten Faktor nur bei bestimmten, einzelnen Fortentwicklungen der Gesamtlage eine Gefahr ergibt. Daher reicht für die Entscheidung, ob Maßnahmen der Gefahrenvorsorge angezeigt sind, die (möglichst umfassende) Erfassung aller für das Entstehen einer Gefahr in einem bestimmten Zeitpunkt relevanten Umstände nicht aus. Die Gefahrenvorsorge setzt vielmehr voraus, daß zu dem bestimmten, eventuell schadensträchtigen Umstand die Fortentwicklung der Gesamtsituation hypothetisch hinzugedacht wird. Eines der gravierendsten Probleme besteht nun darin, daß es eine Evolution der Gesamtsituation nicht gibt. Die Gesamtsituation kann sich "so, aber auch anders" entwickeln, d. h. der betrachtete Faktor ist (gedanklich) mit einer Vielzahl hypothetisch denkbarer Fortentwicklungsmöglichkeiten zu kombinieren. Erst danach ist zusätzlich über die Gefährlichkeit der sich hypothetisch ergebenden jeweiligen Gesamtsituationen zu entscheiden. Damit tritt auch der eigentliche Unterschied zwischen Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge hervor: Die Gefahrenvorsorge geht von einer zukunfts-, die Gefahrenabwehr dagegen von einer vergangenheitsbezogenen Betrachtung aus. Die Gefahrenabwehr orientiert sich an der Summe der bisherigen Entwicklungen, die sich in der Gegenwart, d. h. im Beurteilungszeitpunkt manifestiert haben. Die Gefahrenvorsorge hingegen versucht, die denkbaren zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten vorwegzunehmen. Sie betrachtet also die hypothetische Zukunft im Beurteilungszeitpunkt. Diese grundlegende Abweichung von Gefahrenvorsorge und Gefahrenabwehr wird auch durch die in beiden Kategorien erforderlichen Prognosen nicht widerlegt. Bei der Gefahrenabwehr muß prognostiziert werden, ob aus der gegenwärtig bestehenden Gesamtsituation eine Gefahr erwächst. Insofern ist auch die Gefahrenabwehr zukunftsbezogen. Die Prognose selbst ist jedoch bereits wieder an der Vergangenheit orientiert. Prognosen können nämlich entweder anhand statistischer
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Ähnlich T. Darnstädt, Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge, 1983, S. 132.
§ 2 Gefahren- und Informationsvorsorge im Recht
131
Erkenntnisse oder mit Hilfe von Aussagen über Dispositionen der beteiligten Faktoren getroffen werden 172. Sowohl statistische Einsichten als auch das Wissen um Dispositionen einzelner Faktoren gründen sich aber auf die Erfahrungen der Vergangenheit. Soweit Prognosen erforderlich sind, ist umgekehrt auch die Gefahrenvorsorge vergangenheitsbezogen. Gleichwohl ergibt sich hieraus kein Grund, die gefundene Differenzierung zwischen Gefahrenvorsorge und Gefahrenabwehr grundlegend in Frage zu stellen. Es handelt sich hier nur um ein Spezifikum der Prognose. Diese kann naturgemäß nur auf in der Vergangenheit erlangten Erkenntnissen beruhen l73 . ' Aus der gefundenen Binnenstruktur der Gefahrenvorsorge erhellt sich auch der Grund für deren relative Konturenlosigkeit. Maßnahmen der Gefahrenvorsorge fußen nämlich auf einer weitaus unsichereren Tatsachengrundlage als solche der Gefahrenabwehr. Im Falle der Gefahrenabwehr können Unsicherheiten allein aus einer unvollständigen Berücksichtigung der für die Gesamtsituation relevanten Faktoren oder aus einer Fehlprognose resultieren. Bei der Gefahrenvorsorge multiplizieren sich diese Fehlerquellen. Zunächst bestehen nämlich im Fall der Gefahrenvorsorge die gleichen Fehlermöglichkeiten wie bei der Gefahrenabwehr. Der jeweils betrachtete relevante Faktor kann fälschlicherweise für irrelevant gehalten werden (oder umgekehrt) und die geforderte Prognose kann durch eine Fehleinschätzung verfälscht werden. Im Fall der Gefahrenvorsorge ergeben sich jedoch zusätzliche Fehlerquellen. Zum einen können nämlich bei der Beurteilung mögliche und relevante hypothetische Lagen übersehen werden. Zum anderen ist für jede gefundene hypothetische Lage eine gesonderte - möglicherweise falsche Prognose aufzustellen. Die aufgezeigten Binnenstrukturen der Gefahrenvorsorge ermöglichen auch eine nähere Umschreibung ihres Inhalts. Mit T. Damstädt l74 ist anzunehmen, daß die Vorsorge darauf abzielt, einen bekannten Faktor als Ursache für die spätere Entstehung einer Gefahr auszuscheiden ("Gefahrvermeidungsfunktion der Vorsorge"). Die Vorsorge erfaßt darüber hinaus noch eine weitere, von T. Damstädt l75 nicht hinreichend berücksichtigte Variante: Der Vorsorge unterfallen nämlich auch solche Maßnahmen, die für den Fall, daß das Entstehen einer Gefahr nicht vermieden werden kann, die dann erforderliche Gefahrenbekämpfung erleichtern sollen ("Gefahrbekämpfungsfunktion der Vorsorge").
T. Damstädt, Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge, 1983, S. 224. Vgl. zum Gesamtzusammenhang insbesondere T. Damstädt, Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge, 1983, S. 121 ff. 174 T. Damstädt, Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge, 1983, S. 152. 175 T. Damstädt, Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge, 1983, S. 121 ff. 172
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
2. Die Gefahrenvorsorge im Geflecht staatlicher Handlungsmäglichkeiten
a) Die verschiedenen staatlichen Handlungsformen Die Gefahrenvorsorge ist grundsätzlich von keiner bestimmten staatlichen Handlungsform abhängig; für ihre Zwecke kann das gesamte, von den staatlichen Handlungsformen gebildete Spektrum herangezogen werden. Im einzelnen ist hierbei an Gesetze, Rechtsverordnungen, Satzungen, Verwaltungsakte, Pläne, privatrechtliches Verwaltungshandeln, öffentlich-rechtliche Verträge, Verwaltungsvorschriften und Abgaben zu denken. Diese schon als klassisch zu bezeichnenden Handlungsformen werden durch die neuerdings heftig diskutierten 176 informellen Verwaltungsmaßnahmen erweitert. Unter diesem Begriff, der sich bislang noch nicht allgemein durchsetzen konnte, wird eine ganze Palette staatlicher Maßnahmen zusammengefaßt. Zu nennen sind etwa Hinweise, Warnungen, Empfehlungen, Absprachen, Selbstbeschränkungsabkommen etc. Gleichwohl fällt auf, daß bei der Gefahrenvorsorge und den informellen Verwaltungsmaßnahmen ähnliche Probleme auftreten und informelle Verwaltungsmaßnahmen für Zwecke der Gefahrenvorsorge besonders geeignet sind. So ist für beide Kategorien die Eingriffsqualität streitig. Darüber hinaus verschließen sich beide bislang einer detaillierten Normierung. Dieser Umstand beruht wiederum auf der gleichen Ursache. Die Gefahrenvorsorge und die informellen Verwaltungsmaßnahmen sind nämlich beide darauf gerichtet, die Komplexität der modemen Welt zu verarbeiten. Deren Vielfalt können jedoch die herkömmlichen, detailliert kodifizierten Normen nicht in vollem Umfang gerecht werden.
b) Die verschiedenen Verwaltungsarten Herkömmlicherweise wird zwischen Eingriffs- und Leistungsverwaltung unterschieden. Die Gefahrenvorsorge kann keiner dieser beiden Alternativen zugeordnet werden. Dies läßt sich weniger auf die Schwächen dieser Einteilung als vielmehr auf die Besonderheiten der Gefahrenvorsorge zurückführen. Charakteristisch für die Eingriffsverwaltung ist es, daß sie "mit Erlaubnisvorbehalten, Befehlen und notfalls mit Zwang in das freie Belieben der Menschen eingreift"l77. Anders formuliert kann man sagen, daß im Falle der Eingriffsverwaltung "Subjekte öffentlicher Verwaltung einseitig verbindlich regelnd, d. h. abstrakt oder konkret verbietend, gebietend, entscheidend, Zwang androhend oder anwendend (z. B. durch Polizeibefehl, Steuerbescheid und deren Durchsetzung) in die Freiheitssphäre der Verwalteten eingreifen,,178. 176 Vgl. nur die Nachweise bei R. Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht - Allgemeiner Teil, 1990, S. 498 mit Fußn. 415, 417, 419, 420. 177 WolfflBachof, Verwaltungsrecht I, 9. Auf!. 1974, § 3 I c 2. 178 WolfflBachof, Verwaltungsrecht I, 9. Auf!. 1974, § 23 III a.
§ 2 Gefahren- und Infonnationsvorsorge im Recht
133
Als Leistungsverwaltung wird demgegenüber diejenige Verwaltung bezeichnet, "die für die Lebensmöglichkeit und Lebensverbesserung der Mitglieder des Gemeinwesens sorgt, indem sie deren Interessenverfolgung durch Gewährungen unmittelbar fördert,,179. Die herkömmlichen Verwaltungsformen können dabei vergleichsweise sicher der Eingriffs- oder Leistungsverwaltung zugeordnet werden, indem man ihre Wirkungen auf den jeweiligen Adressaten qualifiziert. Ein Verbot der Ordnungsbehörde empfindet der Adressat als Eingriff; die Gewährung eines verlorenen Zuschusses versteht der Adressat hingegen als Begünstigung. Blickt man jedoch bei den Wirkungen des Verwaltungshandelns über den konkreten Adressaten hinaus, verwischen sich die Konturen von Leistungs- und Eingriffsverwaltung auch hier. Die Gewährung eines Vorteils an den Adressaten im Rahmen der Leistungsverwaltung mutiert aus der Sicht der übrigen Gruppenmitglieder, z. B. eines Konkurrenten, zu einem faktischen Eingriff. Umgekehrt stellt sich ein gegenüber dem Adressaten ergangenes Verbot u.U. als mittelbarer Vorteil für den Konkurrenten dar 180. Diese gegenläufigen mittelbaren Auswirkungen sind immer dann zu beobachten, wenn die Mitglieder einer Gruppe ungleich behandelt werden. Erhalten alle Gruppenmitglieder den gleichen Vorteil bzw. wird allen der gleiche Nachteil auferlegt, entfällt die Ambivalenz innerhalb der Gruppe. Auf der nächsten Ebene, im Verhältnis verschiedener Gruppen zueinander, kann sie jedoch fortbestehen. Vordergründig betrachtet sind Maßnahmen der Gefahrenvorsorge der Eingriffsverwaltung zuzuordnen. Anordnungen im technischen Sicherheitsrecht, im Sozialund Wirtschaftsrecht greifen nämlich zunächst in die Rechte der Adressaten ein. Ein Anlagenbetreiber wird gezwungen erhöhte Sicherheits vorkehrungen zu treffen, die Sozialversicherung verlangt von Arbeitnehmern und Arbeitgebern Beiträge und die Wirtschaftsverwaltung zwingt zur Vorhaltung von Mindestreserven, Abgaben etc. Die Adressaten werden hierdurch in ihren Grundrechten aus Art. 14, 12,2 GG betroffen. Andererseits enthält die Gefahrenvorsorge insofern Elemente der Leistungsverwaltung, als sie der Gefahrenvermeidung und -bekämpfung dient. Hier verliert die Vorsorge ihren vormaligen Eingriffscharakter und wird Teil der Leistungsverwaltung. Letzteres wird vielfach verkannt, wenn die Gefahrenvorsorge ausschließlich als Eingriff verstanden wird l81 . Eine derartige Aufspaltung ist indessen abzulehnen. Richtigerweise ist stattdessen entweder das Schwergewicht der Maßnahme festzustellen oder die Gefahrenvorsorge ist als aliud zu qualifizieren und weder der Eingriffs- noch der Leistungsverwaltung zuzuordnen.
WolfflBachof, Verwaltungsrecht I, 9. Auf!. 1974, § 3 I b 2. Aus dieser Ambivalenz der Verwaltungsmaßnahmen wurde hinreichend früh geschlossen, daß Eingriffs- und Leistungsverwaltung keine sich ausschließenden Gegensätze sind (vgl. WolfflBachof, Verwaltungsrecht 1,9. Auf!. 1974, § 3 I b 2 u. c 2.). 181 Vgl. hierzu näher unten im Text insb. sub § 13. 179
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
Dabei erscheint die letztere Möglichkeit vorzugswürdig, zumal sich das Schwergewicht der Maßnahme nur schwer bestimmen läßt 182 . Hierzu müßte nämlich zwischen dem Eingriffs- und dem Leistungselement der Gefahrenvorsorge abgewogen werden. Dafür reicht aber ein Vergleich der beeinträchtigten und der geschützten Rechtsgüter allein nicht aus. Wesentlich ist vielmehr auch die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts. Eben diese kann aber im Falle der Gefahrenvorsorge nicht immer detailgenau festgestellt werden, da die Gefahrenvorsorge auch unwahrscheinlicheren Schadensentwicklungen entgegenwirken soll. Richtiger ist es demgegenüber, die Gefahrenvorsorge weder der Eingriffs- noch der Leistungsverwaltung im herkömmlichen Sinn, sondern - zunächst und vorläufig 183 _ der planenden Verwaltung als einem dritten Bereich zuzuordnen. Das Planungswesen ist dabei keine neue staatliche Handlungsform; es hat nur in jüngerer Zeit einen eminenten Bedeutungszuwachs erfahren 184. Dies läßt sich durch einen Hinweis auf die schon seit langem bekannten Fluchtlinien- und Haushaltspläne leicht verifizieren. Die als programmierende Gestaltung eines Sachbereichs unter Abwägung und Ausgleichung aller betroffenen Rechte und Interessen und unter Berücksichtigung aller erheblichen Umstände definierbare Planung erlaßt auch die Gefahrenvorsorge. Sowohl die Planung als auch die Gefahrenvorsorge sind durch Finalprogramme charakterisiert, d. h. der Verwaltung werden gesetzlich vornehmlich nur die Ziele ihres HandeIns vorgegeben. Anders als im Falle von Konditionalprogrammen kann die Exekutive im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens entscheiden, wie sie diese Ziele realisieren soll. Planung und Gefahrenvorsorge erfüllen darüber hinaus vergleichbare Funktionen, da beide - wie bereits angedeutet - die Komplexität moderner Problemkonstellationen bewältigen sollen.
3. Die Funktionen der Gefahrenvorsorge
Die vorausgehend gefundene Binnenstruktur der Gefahrenvorsorge und ihre Lokalisierung im Geflecht der staatlichen Handlungsformen müssen mit den Funktionen der Gefahrenvorsorge übereinstimmen l85 . 182 Ähnliche Probleme ergeben sich z. B. bei der Abgrenzung von präventivem und repressivem polizeilichen Handeln. 183 Vgl. die genauere und endgültige Einstufung unten im Text sub § 13. 184 So schon E. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1, Allgemeiner Teil, 10. Aufl. 1973, S. 303. 185 Das Verhältnis von Strukturen und Funktionen erweist sich an dieser Stelle als problematisch. Richtigerweise sind nämlich methodisch zunächst die Funktionen der Gefahrenvorsorge herauszuarbeiten. Sodann sind die hierfür geeigneten Strukturen zu eruieren. Im Hinblick auf die weitgehende Konturenlosigkeit der Gefahrenvorsorge muß hier gleichwohl umgekehrt vorgegangen werden. Erst anhand einer Bestandsaufnahme, in die auch die vorhandenen Strukturen der Gefahrenvorsorge einzubeziehen sind, können deren Funktionen bestimmt werden.
§ 2 Gefahren- und Informationsvorsorge im Recht
135
Der Vergleich zwischen Gefahrenvorsorge und Gefahrenabwehr fördert neben den schon angeführten strukturellen Differenzen einen weiteren gravierenden funktionalen Unterschied zutage: Während der Staat im Falle der Gefahrenabwehr auf eine bestimmte Gefahrenkonstellation nur reagiert, wird er im Rahmen der Gefahrenvorsorge aktiv tätig. Diesem offensiven Steuerungsverhalten des Staates korrespondieren abstrakte, sich auf mittelbare Einwirkungen beschränkende Mittel. Im Gegensatz zur eher statisch und punktuell wirkenden Gefahrenabwehr ist die Gefahrenvorsorge als flexibel und dynamisch zu charakterisieren. Die Gefahrenvorsorge ist wie die Gefahrenabwehr darauf gerichtet, Schäden abzuwenden. Sie erfüllt darüber hinaus planungsähnliche Funktionen, indem sie der Risikosteuerung1 86 dient und die Komplexität der modemen Welt resorbiert.
E. Die polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge im Recht - Zusammenfassung und Ausblick Damit ist die polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge allenfalls ansatzweise konturiert. Eine nähere Konkretisierung wird sich erst im weiteren Verlauf und nach Zuhilfenahme allgemeinwissenschaftlicher sowie verfassungsrechtlicher Vorgaben 187 ergeben. Dies wird gemeinsam mit den hiesigen Feststellungen zu folgendem Ergebnis 188 führen: Die Rechtsgrundlagen der polizeilichen Informationsvorsorge sind durch ein bloßes Reagieren des Gesetzgebers auf die tatsächlichen Entwicklungen gekennzeichnet. Die gegenwärtigen, an die vermeintlichen Erfordernisse des "Volkszählungs"-Urteils angepaßten Rechtsgrundlagen für eine polizeiliche Informationsvorsorge sehen sich nachhaltiger Kritik ausgesetzt. Die Gefahrenvorsorge stellt, entgegen einer in der Rechtswissenschaft vielfach vertretenen Ansicht, eine qualitative und nicht nur eine quantitative Erweiterung der Gefahrenabwehr dar. Die Gefahrenabwehr ist vergangenheitsbezogen und geht von einer auf einen bestimmten Zeitpunkt bezogenen Gesamtbeurteilung, die auf allen für das Vorliegen einer Gefahr relevanten Umständen beruht, aus. Sie wird durch das Bevorstehen eines konkreten Schadens und durch dessen Eintrittswahrscheinlichkeit bestimmt. Die Gefahrenvorsorge ist demgegenüber zukunftsbezogen und knüpft an einen einzelnen 186 Zum Begriff der Risikosteuerung vgl. U. Di Fabio, in: Hoffmann-RiemlSchmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996, S. 143 ff. 187 Vgl. dazu unten im Text sub § 11. D. 188 Ähnliche Beschreibung des Vorsorgeprinzips aus der Sicht des Immissionsschutzrechts z. B. bei E. Kutscheidt, in: BenderlBreuer u.a. (Hrsg.), Rechtsstaat zwischen Sozialgestaltung und Rechtsschutz. Festschrift für K. Redeker zum 70. Geburtstag, 1993, S. 441 ff., 443 ff.; P. M. Huber, AöR 114 (1989),252 (286ff.).
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
bekannten Faktor an, der selbst noch keine Gefahr begründet. Die Schädlichkeit dieses Faktors kann noch ungeklärt, der Schadenseintritt muß nach der Lebenserfahrung noch nicht hinreichend wahrscheinlich sein. Die Möglichkeit von Fehlprognosen ist daher bei der Gefahrenvorsorge ungleich größer als im Fall der Gefahrenabwehr. Der Paradigmen wechsel von der Gefahrenabwehr zur umfassenden Risikosteuerung ist ein kontinuierlicher, nicht auf das besondere Polizei- und Sicherheitsrecht beschränkter Vorgang. Innerhalb des kontinuierlichen Übergangs von der Gefahrenabwehr zur Gefahrenvorsorge sind mit der traditionellen Gefahrenabwehr, deren polizeirechtlich anerkannten Modifikationen und der heutigen umfassenden Risikosteuerung drei Zäsuren erkennbar. Schon die traditionelle polizeiliche Gefahrenabwehr sieht mit der sog. "Relativitätsformel" und der Berücksichtigung des Gutes, das durch ein behördliches Einschreiten beeinträchtigt wird, mehrere Korrekturen des polizeilichen Gefahrbegriffs vor. Die traditionelle polizeiliche Gefahrenabwehr setzt ein Erfahrungswissen voraus, das seinerseits auf der Einheit der Umwelt, der Beschreibbarkeit durch Kausalgesetze, der Bildung gesellschaftlichen Wissens und der Endlichkeit der zu beurteilenden Phänomene basiert. In der Polizeirechtsdogmatik anerkannte Modifikationen des Gefahrenbegriffs erweisen sich als Anzeichen für eine Abkehr vom traditionellen Gefahrenbegriff. Derartige Modifikationen stellen die Anscheins- und Putativgefahr sowie der Gefahrenverdacht dar. Sie beschreiben das Auseinanderfallen von angenommener und tatsächlicher Gefahrenlage. Zweckveranlasser und latente Gefahr modifizieren die Zurechnung. Die Bildung von Erfahrungswissen ist trotz der Unendlichkeit der zu beurteilenden Phänomene möglich, wenn diese sich kontinuierlich entwickeln. Die heutige umfassende Risikosteuerung zeichnet sich durch eine Flexibilisierung und weitere Ausdifferenzierung der Elemente der herkömmlichen Gefahrenabwehr aus. Neben Schäden werden Belästigungen und Nachteile als Anknüpfungspunkte für polizeiliche Maßnahmen gewählt. Der Gefahrbegriff als Schwelle zum "alles oder nichts" wird durch Gefahr, Risiko und Restrisiko abgelöst. Mangelndes Erfahrungswissen wird durch flexible Maßstäbe, z. B. den "Stand von Wissenschaft und Technik" kompensiert. Das "Volkszählungs"-Urteil des BVerfG thematisiert den Paradigmenwechsel von der Gefahrenabwehr zur Gefahren- bzw. Informationsvorsorge zwar, bietet aber keine Lösung.
§ 3 Das Europäische Polizeiamt (EUROPOL) der Weg zu einer Europäisierung der Polizei Die vorstehend aufgezeigten Defizite des bestehenden nationalen Polizeirechts werden durch die internationale Entwicklung verschärft. Die Internationalisierung
§ 3 Der Weg zu EURO POL
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und Europäisierung sowohl der Kriminalität! als auch der Polizei 2 führen zu einem übernationalen Anpassungsbedarf, der nationales Recht in Frage stellt. Insbesondere die Europäisierung der Polizei stellt dabei zum einen eine Reaktion auf die rapide zunehmende grenzüberschreitende Kriminalität und den Abbau der Binnengrenzen dar3 ; zum anderen ist sie aber auch Ausdruck der fortschreitenden europäischen Integration4 . Der derzeit letzte Schritt auf dem Weg zu einer Internationalisierung und insbesondere Europäisierung der Polizei 5 wird durch die Schaffung eines Europäischen Polizeiamtes markiert. EUROPOL - eine europäische Polizei - steht zwar historisch im Zusammenhang mit INTERPOL6, unterscheidet sich von dieser in seiner insbesondere auch rechtlichen Struktur aber grundlegend. Eine nicht nur historisch, sondern auch inhaltlich-strukturell einheitlichere Entwicklung besteht demgegenüber zwischen den Schengener Übereinkommen (Schengen I und 11) und den - hier nicht näher erörterbaren7 - Terrorisme, Radicalisme, Extremisme, Violence InterI Vgl. dazu z. B. K. Scheiter, in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Aspekte der Inneren Sicherheit, 1996, S. Hf.; H.-H. Kühne, in: P.-c. Müller-Graff (Hrsg.), Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, 1996, S. 85 ff. 2 Siehe z. B. Andersonlden Boer u.a., Policing the European Union, 1995. Informativ zur Entwicklung H. Busch, Grenzenlose Polizei?, 1995, S. 255ff., wenngleich die dort getroffenen Bewertungen vielfach nicht geteilt werden können. Zu Erscheinungsformen multi- und supranationaler Zusammenarbeit in Deutschland vgl. H. Klein, in: R. Pitschas (Hrsg.), Politik und Recht der inneren Sicherheit in Mittel- und Osteuropa, 1996, S. 73 ff. sowie die Länderberichte zur grenzüberschreitenden polizeilichen Kooperation mit Mittel- und Südosteuropa im 2. Teil, ebenda. Zu Fragen der Sicherheitspolitik in Europa kontrovers H. P. Bull, KritV 1995,313 ff. und PitschaslKoch, KritV 1996, 158 ff. 3 K. Scheiter, Aus Politik und Zeitgeschichte B 1-2/96, S. 19 ff., 23 spricht in diesem Zusammenhang von Europa als einem "einheitlichen kriminalgeographischen Raum". Siehe hierzu z. B. auch Pitschas/Koch, KritV 1996, 158 (159f.); M. Schreiber, in: BaduralScholz (Hrsg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens. Festschrift für Peter Lerche zum 65. Geburtstag, 1993, S. 529 ff., 529 f. 4 Vgl. dazu z. B. U. Di Fabio, DÖV 1997, 89 ff. Zum Strafrecht in der EG siehe G. Dannecker, JZ 1996, 869 ff. Allgemein zur europäischen Integration R. Pitschas, Staatswissenschaften und Staatspraxis 5 (1994), 503 ff. 5 Die Internationalisierung und Europäisierung der Polizei kann im folgenden nur schwerpunktmäßig dargestellt werden. Ausführliche Darstellungen finden sich z. B. bei R. Wehner, Europäische Zusammenarbeit bei der polizeilichen Terrorismusbekämpfung aus rechtlicher Sicht, 1993, S. 161 ff. Rupprecht/Hellenthal, in: dies., Innere Sicherheit im Europäischen Binnenmarkt, 1992, S. 23 ff., 138 ff. 6 Die Organisation erscheint unter der Bezeichnung INTERPOL, Internationale Kriminalpolizeiliehe Organisation (IKPO), und IKPO-INTERPOL. Die hier verwendete und im allgemeinen Sprachgebrauch übliche Abkürzung INTERPOL ging erst 1956 aus der Telegrammadresse - zunächst des Generalsekretariats in Paris, die später durch alle nationalen Zentralbüros übernommen wurde - hervor. Sie wurde aus der englischen Bezeichnung "international police" abgeleitet. Im Zuge der Statutenänderung wurde der zwischenzeitlich eingebürgerte Terminus INTERPOL 1956 zum Namensbestandteil der Organisation (R. Wehner, Europäische Zusammenarbeit bei der polizeilichen Terrorismusbekämpfung aus rechtlicher Sicht, 1993, S. 164 f.).
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
national (TREVI)-Gremien, aus denen Schengen I und 11 jedenfalls mittelbar hervorgegangen sind. In der Entwicklung von INTERPOL zu EUROPOL stellen die Schengener Abkommen jedenfalls eine qualitativ neue Stufe dar.
A.INTERPOL I. Die Entstehung von INTERPOL im Rückblick
Bereits Anfang 19048 versuchte die französische Polizei auf die durch den seinerzeit modemen Eisenbahn- und Dampfschiffverkehr erhöhte Mobilität von Straftätern zu reagieren. Noch vor dem 1. Weltkrieg fand 1914 ein erster Kongreß von Polizeibeamten und Juristen in Monaco statt9 , auf dem namentlich über die Beschleunigung und Vereinfachung der Fahndung nach Rechtsbrechern, die Verbesserung erkennungsdienstlicher Methoden, die Einrichtung einer internationalen zentralen Aktenhaltung und die Vereinheitlichung des Auslieferungsverfahrens diskutiert wurde. Die weitere Entwicklung nach diesem "Ersten Kriminalpolizeilichen Kongreß" wurde durch den 1. Weltkrieg unterbrochen. Der "Zweite Kriminalpolizeiliehe Kongreß" fand daher erst 1923 in Wien statt. Die 7 Teilnehmerländer - Deutschland, Österreich, Dänemark, Ägypten, Frankreich, Griechenland, Ungarn - beschlossen die Gründung der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission (IKPK) als ständige Organisation der polizeilichen Zusammenarbeit mit einem internationalen Büro in Wien und jährlichen Generalversammlungen in verschiedenen europäischen Hauptstädten 10. Die IKPK war stark an Österreich orientiert. J. Schober, der Leiter der Polizei Wiens und Österreichs, initiierte den ,,zweiten Kriminalpolizeilichen Kongreß". Die neue IKPK hatte nicht nur ihren Sitz in Wien, Österreich stellte vielmehr auch die sachlichen und personellen Mittel für diese internationale Organisation. INTERPOL war in dieser Zeit weniger eine feste internationale Organisation als vielmehr eine lose Verbindung, welche die informelle Zusammenarbeit von Polizeibeamten unterschiedlicher Staaten er7 Vgl. dazu z. B. U. Di Fabio, DÖV 1997,89 (96f.); R. Mokros, in: LiskenlDenninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Aufl. 1996, N Rdnrn. 130 Cf.; R. Wehner, Europäische Zusammenarbeit bei der polizeilichen Terrorismusbekämpfung aus rechtlicher Sicht, 1993, S. 229 Cf.; G. Siegele, in: MorielMurcklSchulte (Hrsg.), Auf dem Weg zu einer europäischen Polizei, 1992, S. 132 Cf. - Bedeutung und Herkunft des Kürzels TREVI sind streitig. Teilweise wird hierin nicht die im Text angeführte Abkürzung, sondern ein bloßer Hinweis auf den ersten Tagungsort nahe der Fontana di Trevi in Rom gesehen. Vgl. dazu z. B. L. Schrapper, DVP 1996,498 (500). 8 Zur Geschichte der internationalen Verbrechensbekämpfung davor und zum folgenden vgl. R. Mokros, in: LiskenlDenninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Aufl. 1996, N Rdnrn. 27 Cf.; H. U. Endres, Internationale Verbrechensbekämpfung, 1991, S. 9 Cf. 9 Dazu sowie zur Entwicklung davor siehe z. B. F. Bresler, INTERPOL, 1993, S. 23 Cf. \0 Vgl. dazu R. Wehner, Europäische Zusammenarbeit bei der polizeilichen Terrorismusbekämpfung aus rechtlicher Sicht, 1993, S. 161 Cf.
§ 3 Der Weg zu EUROPOL
139
möglichte. Die Verbindung des als Internationale Kriminalpolizeiliche Kommission bezeichneten Zusammenschlusses war dabei so locker, daß heute nicht mehr ohne weiteres nachvollziehbar ist, ob überhaupt die Staaten oder nur deren Polizeibeamte Mitglieder waren und welche Staaten wann der Organisation beitraten 11. Die zentrale Rolle Österreichs führte nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Österreich und dem Ausbruch des 2. Weltkriegs zu einem völligen Erlöschen der internationalen Tätigkeit der IKPK, zumal eine Verlegung der IKPK in ein neutrales Land nicht rechtzeitig erfolgte l2 . Die IKPK erhielt mit R. Heydrich einen nationalsozialistischen deutschen Präsidenten; ihr Sitz wurde nach Berlin verlegt. Es steht zu befürchten, daß die bereits damals vorhandene Kartei, die familiäre Einzelheiten, Spezialitäten, Arbeitsmethoden und Religionszugehörigkeit über schon im Jahre 1933 3240 internationale Verbrecher enthielt, namentlich für Zwecke der Judenverfolgung mißbraucht wurde l3 . Nach dem Krieg nahm die IKPK ihre internationale Tätigkeit wieder auf. 1946 fand in Brüssel die ,,15. Generalversammlung" der IKPK als deren erste Nachkriegsveranstaltung statt. Dabei wurde der Sitz der IKPK nach Paris verlegt und ein neuer Präsident gewählt. Die Folgezeit ist durch eine ständige Erweiterung der Organisation und eine kontinuierliche Stärkung ihres Einflusses gekennzeichnet. 1949 wurde der Organisation durch die Vereinten Nationen der Beraterstatus für zwischenstaatliche Organisationen verliehen. 1956 erfolgte ein entscheidender Einschnitt durch die vollkommene Modernisierung der Statuten der IKPK und deren Umbenennung in "Internationale Kriminalpolizeiliehe Organisation - InterpOl,,14. Die Organisation hatte zu diesem Zeitpunkt bereits 50 Mitglieder. Die Statuten mußten daher der jetzt weltweiten Zusammenarbeit angepaßt werden.
11. Die Aufgabe von INTERPOL
INTERPOL hat die Aufgabe, zur Bekämpfung internationaler Verbrechen l5 beizutragen. International ist eine Straftat dabei dann, wenn sie wegen der Art der begangenen Handlungen, wegen der Persönlichkeit oder des Verhaltens der Täter F. Bresler, INTERPOL, 1993, S. 34ff. R. Wehner, Europäische Zusammenarbeit bei der polizeilichen Terrorismusbekämpfung aus rechtlicher Sicht, 1993, S. 163 f. 13 Dazu F. Bresler, INTERPOL, 1993, S. 69 ff. 14 Vgl. zur Bezeichnung der Organisation bereits oben Fußn. 2. 15 Art. 73 Nr. 10 a.E. GG begründet für die "internationale Verbrechensbekämpfung" eine Kompetenz des Bundes zur ausschließlichen Gesetzgebung. Erfaßt werden hiervon nach h.M. nicht nur grenzüberschreitende, sondern alle Straftaten, deren Bekämpfung eine internationale Zusammenarbeit erfordert (Evers, in: Bonner Kommentar, Art. 73 Rdnr. 27; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 73 Rdnr. 166). Diese auf das deutsche Grundgesetz bezogene Definition ist aber jedenfalls nicht ohne weiteres auf internationale Verhältnisse übertragbar. 11
12
140
I. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
mehrere Länder berührt. Entscheidend sind die Umstände und die Folgen der Straftat. Die Voraussetzungen für ein ,,internationales Verbrechen" sind rechtlich schwer erfaßbar, zumal kein internationales Strafrecht besteht l6 . Detaillierter ist die Aufgabe von INTERPOL ebenso wie deren Führungsorgane und ihre Struktur durch die Statuten 17, die Geschäftsordnung, die Finanzregelung, einen Text über die Doktrin der "Nationalen Zentralbüros" und die allgemeine Regelung über die internationalen polizeilichen Funkverbindungen determiniert. Die INTERPOL-Datenschutzregelungen und das INTERPOL-Sitzstaatabkommen 18 mit Frankreich regeln den Informationsaustausch der Mitglieder und die Datenverarbeitung durch das Generalsekretariat l9 . Art. 2 der Statuten legt als Ziele von INTERPOL positiv fest, "eine möglichst umfassende gegenseitige Unterstützung aller Kriminalpolizeibehörden im Rahmen der in den einzelnen Ländern geltenden Gesetze und im Geiste der Erklärung der Menschenrechte sicherzustellen und weiterzuentwickeln" sowie "alle Einrichtungen, die zur Verhütung und Bekämpfung der gemeinen Verbrechen und Vergehen wirksam beitragen können, zu schaffen und auszubauen,,2o. Negativ untersagt Art. 3 der Statuten "der Organisation strengstens" ... "jede Betätigung oder Mitwirkung in Fragen oder Angelegenheiten politischen, militärischen, religiösen oder rassischen Charakters,,21.
111. Mitglieder und Organe von INTERPOL
Art. 4 der Statuten regelt die Mitgliedschaft und das Beitrittsverfahren. Danach kann "jedes Land als Mitglied der Organisation eine beliebige Polizeibehörde benennen, deren Aufgaben in den Rahmen der Tätigkeit der Organisation fallen." Der Beitritt setzt ein Aufnahmeersuchen der zuständigen Regierungsstelle an den Generalsekretär voraus, dem die Generalversammlung mit 2/3-Mehrheit zustimmen muß. Inzwischen gehören INTERPOL mehr als 150 nationale Polizeibehörden an 22 . Organe von INTERPOL sind nach Art. 5 der Statuten die General-
Vgl. dazu H. U. Endres, Internationale Verbrechensbekämpfung, 1991, S. 5 ff. Abgedruckt bei R. Riegel, Polizei- und Ordnungsrecht des Bundes und der Länder. Textsammlung mit Einführung, C 11 2.5. 18 Journal Officiel1984 (116,3), S. 830. 19 R. Riegel, Datenschutz bei den Sicherheitsbehörden, 2. Aufl. 1992, S. 44f. 20 Vgl. dazu auch K. Merten, Datenschutz und Datenverarbeitungsprobleme bei den Sicherheitsbehörden, 1985, S. 61. 21 Vgl. hierzu sowie zu weiteren Beschränkungen der Befugnisse von INTERPOL durch nationales Recht sowie bi- und multilaterale Abkommen H. U. Endres, Internationale Verbrechensbekämpfung, 1991, S. 14 ff. 22 R. Riegel, Datenschutz bei den Sicherheitsbehörden, 2. Aufl. 1992, S. 44. 16
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§ 3 Der Weg zu EUROPOL
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versammlung, das Exekutivkomitee, das Generalsekretariat, die nationalen Zentralbüros und Berater23 . Die Generalversammlung 24 als jährliche Versammlung der Polizei vertreter der Länder ist das höchste Organ von INTERPOL. Die Entscheidungen, Resolutionen und Empfehlungen werden durch Abstimmungen getroffen, bei denen jedes Land über eine Stimme verfügt25 . Die Mitglieder des Exekutivkomitees - der Präsident, drei Vizepräsidenten und neun Delegierte - werden durch die Generalversammlung gewählt. Das Exekutivkomitee bereitet die Generalversammlung vor und überwacht die Durchführung ihrer Beschlüsse. Das Generalsekretariat ist das ständige mit der Verwaltung und der praktischen Arbeit betraute Organ, das den Betrieb der Organisation gewährleistet. Es ist in vier Abteilung unterteilt: Abteilung I ist die Generalhauptverwaltung, Abteilung 11 die Polizeiabteilung, Abteilung III ist für Recht und Technik sowie für die Zeitschrift "International Criminal Police Review" zuständig und Abteilung IV schließlich ist mit Akten, Computern und Telekommunikation betraut26 . Neben dem Generalsekretariat auf internationaler Ebene sind im nationalen Bereich die nationalen Zentralbüros ständige Einrichtungen von INTERPOL. Nationales Zentralbüro ist dabei eine Dienststelle, die von den staatlichen Behörden dazu bestimmt wurde, im Rahmen von INTERPOL auf nationaler Ebene die Aufgaben einer ständigen Verbindungs- und Zentralstelle für alle Fragen der internationalen kriminalpolizeilichen Zusammenarbeit zu erfüllen. In der Bundesrepublik ist dies gemäß § 111 BKAG das Bundeskriminalamt27 . Schließlich sieht die Satzung vor, daß sich INTERPOL zur Untersuchung wissenschaftlicher Fragen an Berater wenden kann. Diese werden vom Exekutivkomitee für drei Jahre ernannt.
IV. Fahndungsmöglichkeiten in INTERPOL
In INTERPOL können Personen und Sachen zur Fahndung ausgeschrieben werden.
23 Siehe hierzu sowie zum folgenden H. U. Endres, Internationale Verbrechensbekämpfung, 1991, S. 20ff. 24 Zu dieser R. Riegel, Datenschutz bei den Sicherheitsbehörden, 2. Auf!. 1992, S. 45. 25 F. Bresler, INTERPOL, 1993, S. 149. 26 Zu Exekutivkomitee und Generalsekretariat vgl. R. Wehner, Europäische Zusammenarbeit bei der polizeilichen Terrorismusbekämpfung aus rechtlicher Sicht, 1993, S. 166. 27 R. Wehner, Europäische Zusammenarbeit bei der polizeilichen Terrorismusbekämpfung aus rechtlicher Sicht, 1993, S. 167 f.
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
1. Personenfahndung
Eine Personenfahndung 28 setzt voraus, daß die betreffende Person im ausschreibenden Land einer Straftat verdächtigt wird bzw. wegen einer solchen bereits verurteilt ist und sich nunmehr im Ausland autbält. Die Personenfahndung kann dabei zur Festnahme, zur Einholung von Auskünften oder als Präventivausschreibung erfolgen. Im Fall der Ausschreibung einer Person zur Festnahme müssen Gründe vorliegen, die eine Auslieferung der Person rechtfertigen. Derartige Ausschreibungen weisen eine rote Ecke auf. Sie enthalten detaillierte Angaben über den zugrundeliegenden Haftbefehl, auf dessen Basis die Polizei die Festnahme vollzieht. Diese Ausschreibungen werden grundsätzlich als Urkunden anerkannt, auf deren Grundlage eine vorläufige Festnahme zulässig ist; sie stellen daher in gewissem Sinn internationale Haftbefehle dar. Ausschreibungen, mit denen nur Auskünfte über bestimmte Personen eingeholt werden sollen, sind demgegenüber durch blaue Ecken gekennzeichnet. Sie können zur Überprüfung der Identität, zur Zusammenstellung der in den einzelnen Ländern ausgesprochenen Verurteilungen, zur Ermittlung der Anschrift von Personen, die vermißt werden, etc. erfolgen. Ausschreibungen mit grünen Ecken erfolgen zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung. Unbekannte Tote werden zur Identifizierung durch Ausschreibungen mit schwarzen Ekken international bekanntgemacht. Erforderlich ist für eine Personenfahndung die Angabe der Familien- und Vornamen, Geburtsdatum und -ort sowie die Personalien der Eltern, Personenbeschreibung, ersuchende lustizbehörde, Aktenzeichen des Haftbefehls, Gründe für die Beschuldigung und Zusammenfassung des Sachverhalts sowie die formelle Zusicherung eines späteren Auslieferungsersuchens.
2. Sachfahndung
Neben Personen können in INTERPOL auch Sachen29 ausgeschrieben werden, die gestohlen oder als Tatwerkzeug genutzt wurden.
3. Fahndungsablauf
Der normale Fahndungsablauf ist kompliziert: Die nationale lustizbehörde beantragt beim nationalen Zentralbüro die internationale Ausschreibung. Dieses prüft die Ausschreibungsvoraussetzungen und leitet die Ausschreibung an das Generalsekretariat weiter. Das Generalsekretariat prüft den Antrag erneut und leitet ihn 28 Zum folgenden vgl. H. U. Endres, Internationlj1e Verbrechensbekämpfung, 1991, S.26ff. 29 Siehe dazu H. U. Endres, Internationale Verbrechensbekämpfung, 1991, S. 36f.
§ 3 Der Weg zu EUROPOl:
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ggf. an die nationalen Zentralbüros weiter. Auf dieser Grundlage nehmen die nationalen Polizeien die Fahndung in ihrem Zuständigkeits bereich auf. Wird die Person bzw. Sache ergriffen bzw. gefunden, erfolgt der Meldungsvorgang umgekehrt 3o• In Eilfällen erbittet das ausschreibende nationale Zentralbüro - ohne Einschaltung des Generalsekretariats - die Fahndung bei den anderen nationalen Zentralbüros 31 .
V. INTERPOL und elektronische Datenverarbeitung Bereits seit Beginn der siebziger Jahre bemüht sich INTERPOL, die elektronische Datenverarbeitung für die internationale Verbrechensbekämpfung zu nutzen. Ein in dieser Zeit entwickeltes Modell sah die Einrichtung eines zentralen EDVSystems im Generalsekretariat von INTERPOL und die Anbindung der nationalen Zentralbüros über Terminals vor. Dieses EDV-System sollte zunächst die Speicherung und Fernabfrage von Personen- und Sachfahndungsdaten ermöglichen. Die INTERPOL-Generalversammlung 1981 verwarf dieses Modell aus haushalts- und datenschutzrechtlichen Gründen. 1980 hatte INTERPOL zwar seinen ersten Computer erhalten. Dieser konnte aber nicht betrieben werden, da das französische Datenschutzrecht die Speicherung personenbezogener Informationen unmittelbar im Rahmen der Personenfahndung oder auch nur mittelbar im Rahmen der Sachfahndung stark einschränkte. Frankreich vertrat damals die Auffassung, die Datenbestände von INTERPOL unterlägen französischem Recht, obwohl nach den Statuten nicht INTERPOL, sondern die nationalen Zentralbüros für die Richtigkeit der gespeicherten Informationen verantwortlich sind32 . Die Bundesrepublik Deutschland intensivierte hierauf die bilateralen Kontakte zu den europäischen Nachbarstaaten und ermöglichte in der Folgezeit ausgewählten ausländischen Staaten einen online-Zugriff auf die nationalen INPOL-Sachfahndungsdateien33 . Der geschilderte Konflikt zwischen Frankreich und INTERPOL wurde erst in dem am 14. 1. 1984 in Kraft getretenen INTERPOL-Sitzstaatabkommen gelöst. Darin wurden INTERPOL zwar einerseits dieselben Privilegien eingeräumt, die allgemein internationalen Organisationen zukommen. Gleichzeitig wurde aber eine Internationale Kontrollkommission errichtet, die intern und unabhängig die Datenverarbeitung durch das Generalsekretariat von INTERPOL kontrolliert 34 . 1987 erfolgte der erste Schritt zu einer automatischen Datenverarbeitung durch INTERPOL. Das sog. Criminal Information System (CIS) enthielt den in elektronischer Datenverarbeitung geführten Nachweis der bei INTERPOL vorhandenen H. U. Emires, Internationale Verbrechensbekämpfung, 1991, S. 30ff. H. U. Emires, Internationale Verbrechensbekämpfung, 1991, S. 37 ff. 32 F. Bresler, INTERPOL, 1993, S. 206ff. 33 Siehe zu diesen schon ausführlich oben im Text sub § 1. C. 11. 2. c. bb. 34 R. Riegel, Datenschutz bei den Sicherheitsbehörden, 2. Auf!. 1992, S. 46; ders., DVBI. 1984,986 (989f.). 30
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
(manuellen) Akten und Karteien, die 1985 schon 4,5 Mio. Karten umfaßt hatten. Die Einführung der elektronischen Datenverarbeitung führte dabei interessanterweise zu einer Reduzierung des vordem manuellen Datenbestandes. Es wurde festgestellt, daß nur an ca. 200.000 Verbrechern ein aktuelles Interesse bestand 35 . Erst 1989 wurde das INTERPOL-Generalsekretariat schließlich ermächtigt, ein automatisches Recherchesystem zu konzipieren. Die Datenverarbeitung im Zusammenhang mit INTERPOL unterliegt auch heute noch gravierenden Zweifeln und Bedenken, die hier nur angedeutet, nicht aber gelöst werden können. Die datenschutzrechtlichen Probleme sind dabei vielfach Ausfluß des ungeklärten Rechtsstatus von INTERPOL. Umstritten ist dabei nicht nur der völkerrechtliche Status von INTERPOL36, sondern auch die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an INTERPOL. Aus völkerrechtlicher Perspektive wirft die Fixierung des Gründungsaktes von INTERPOL ebenso Probleme auf wie die Frage, ob die Mitglieder immer Völkerrechtssubjekte waren und INTERPOL schließlich auch selbst Völkerrechtssubjektivität zukommt. Aus dem Blickwinkel des Grundgesetzes 3? erweist es sich als zweifelhaft, ob INTERPOL als internationale Organisation durch Verwaltungsabkommen gegründet werden durfte. Dies wäre im Ergebnis im Hinblick auf Art. 59 11 2 GG zu bejahen. Art. 24 I GG ist mangels Übertragung von Hoheitsrechten an INTERPOL nicht verletzt. Für den im Zentrum der hiesigen Betrachtung stehenden Datenschutz ist zum einen zweifelhaft, welche Daten nach welchen Vorschriften das Bundeskriminalamt als nationales Zentralbüro an das Generalsekretariat oder an ausländische nationale Zentralbüros übermitteln darf. Zum anderen warf und wirft der Datenschutz innerhalb von INTERPOL Probleme auf38 . Darüber hinaus ist der Rechtsweg gegen Akte von INTERPOL ungeklärt. Es gibt nämlich weder eine völkerrechtlich vereinbarte Rechtswegzuweisung noch ist Art. 19 IV GG anzuwenden, da INTERPOL keine deutsche öffentliche Gewalt ausübt39 .
F. Bresler, INTERPOL, 1993, S. 238. Vgl. dazu ausführlich R. Wehner, Europäische Zusammenarbeit bei der polizeilichen Terrorismusbekämpfung aus rechtlicher Sicht, 1993, S. 168ff.; H. U. Endres, Internationale Verbrechensbekämpfung, 1991, S. 13 f.; K. Merten, Datenschutz und Datenverarbeitungsprobleme bei den Sicherheitsbehörden, 1985, S. 63 ff. 37 Dazu R. Wehner, Europäische Zusammenarbeit bei der polizeilichen Terrorismusbekämpfung aus rechtlicher Sicht, 1993, S. 180 ff. 38 R. Wehner, Europäische Zusammenarbeit bei der polizeilichen Terrorismusbekämpfung aus rechtlicher Sicht, 1993, S. 184 ff., 187 ff. 39 R. Pitschas, ZRP 1993, 174 (176). 35
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§ 3 Der Weg zu EUROPOL
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VI. Fazit
INTERPOL ist die historisch erste Fonn eines internationalen Datenaustausches zwischen Polizei behörden verschiedener Länder. Die im hiesigen Zusammenhang notwendigerweise kurze Schilderung der Geschichte, der Aufgaben und der Struktur von INTERPOL sowie der durch den internationalen Infonnationsaustausch entstehenden Probleme zeigt, daß übernationale polizeiliche Zusammenarbeit zumindest die wechselseitige Anerkennung und Respektierung der Rechtsgrundlagen voraussetzt. Datenschutzrechtliche Restriktionen eines INTERPOL-Mitglieds können nur insoweit aufrecht erhalten bleiben, als sie von allen anderen Teilnehmerländern zumindest in dem Sinne respektiert werden, daß dem die Daten anliefernden Land die Bestimmung der weiteren Verwendungsmodalitäten verbleibt. Dies setzt voraus, daß kein einheitlicher und gemeinsamer Infonnationsbestand geschaffen, sondern die vorhandenen Daten jeweils einem Mitglied zugeordnet werden. Diesem Prinzip der Unterstellung der einzelnen Daten unter das Rechtsregime eines Mitglieds folgen viele übernationale Infonnationssammlungen - neben INTERPOL auch die im folgenden noch anzusprechenden europäischen. Hierin ist jedoch aus deutscher Sicht aus zwei Gründen keine Lösung zu erblikken: Zum einen wird dadurch ein gemeinsamer Infonnationsbestand ausgeschlossen. Die errichteten Dateien beschleunigen letztlich nur den Datenaustausch. Die Zuordnung der Daten zu einem Mitglied steht prinzipiell dem Datenabruf bei jedem einzelnen Mitglied gleich. Die Einrichtung einer gemeinsamen Datei beschränkt sich dabei auf einen bloßen Vereinfachungseffekt. Mit fortschreitender Technik verliert dieser zunehmend an Bedeutung. Vor Einführung der elektronischen Datenverarbeitung und der Funkverbindungen hätte eine derartige Zusammenlegung der Dateien den damals noch großen Aufwand einzelner Abfragen in den jeweiligen Ländern erspart. Durch die heute weit fortgeschrittene Datenübermittlungstechnik schwindet dieser Vorteil indessen zusehends. Mit Recht weist daher R. Pitschas darauf hin, daß die Polizeibehörden am technischen Fortschritt teilhaben und von ihm profitieren, sich hierbei aber (datenschutz-)rechtlichen Restriktionen ausgesetzt sehen4o . Zum anderen kollidiert diese Vorgehensweise übernationaler Infonnationssammlungen aus deutscher Sicht mit der Interpretation des "Volkszählungs"-Urteils durch eine verbreitete Meinung 41. Nach dieser Ansicht ist nämlich nicht erst die Verwendung vorhandener Daten, sondern bereits das bloße Vorhandensein von Daten ein Eingriff in das Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung. Danach dürfte sich die Bundesrepublik Deutschland an keiner übernationalen polizeilichen Zusammenarbeit beteiligen, bei der durch andere Länder Daten gespeichert und R. Pitschas, ZRP 1993, 174 (175). Dazu insb. Eickffrittel, EuGRZ 1985, 81 ff. und R. Riegel, JZ 1982, 312ff. - Offen bei A. Randelzhofer, in: MaunzIDürig, GG, Bd. 2, Art. 24 Rdnrn. 174 f., der nur die Charakterisierung von INTERPOL als zwischenstaatliche Einrichtung i. S. d. Art. 24 GG verneint. 40
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
verwendet werden, die nach deutschem Recht nicht erhoben oder nicht verwertet werden dürften. Ist nämlich die Differenzierung zwischen dem Erheben und Vorhandensein von Informationen einerseits und deren Weitergabe und Verwertung andererseits unzulässig, weil der einzelne schon durch die bloße Existenz der Daten in seinem Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt ist, müssen die Daten, die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats erhoben, gespeichert und verwertet werden dürfen, ggf. nach deutschem Recht gelöscht werden, wenn dieses "enger" ist als das des Mitgliedstaats. Damit wird allen anderen teilnehmenden Ländern das deutsche Datenschutzrecht aufgezwungen. Dies dürfte nicht nur politisch kaum durchsetzbar sein, sondern ist überdies unberechtigt, zumal insbesondere die deutschen Polizeigesetze der Bundesländer den supra- und internationalen Datenaustausch rechtlich selbst nicht zu bewältigen vermögen. Erforderlich ist daher zunächst die insbesondere von R. Pitschas42 geforderte Harmonisierung des supranationalen Informationsrechts. Dabei wird sich das Verständnis des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung durch die herrschende Meinung in Deutschland als eine Position unter vielen erweisen. Dies gilt umso mehr, als noch keine einheitliche europäische Rechtskultur, aus der sich ein einheitliches europäisches Recht entwickeln könnte, besteht43 .
B. Die Schengener Abkommen Der zeitweise nur schleppende Ausbau von INTERPOL, namentlich die geschilderte problematische Einführung der elektronischen Datenverarbeitung, führte zu einer jedenfalls teil weisen Abkehr von der internationalen Verbrechensbekämpfung und deren Ergänzung bzw. Ersetzung durch bi- und multilaterale Vereinbarungen44 • Diese mündeten schließlich in die - multilateralen - Schengener AbkomHierzu sowie zum vorstehenden R. Pitschas, ZRP 1993,174 (176). Zum Zusammenhang von Kultur und Recht vgl. noch ausführlich unten im Text sub § 7. 44 Erste, aber erst später forcierte Ansätze einer EG-weiten polizeilichen Zusammenarbeit gab es bereits seit 1971, beginnend mit der sog. Pompidou-Gruppe zur Drogenbekämpfung, der Ständigen Arbeitsgruppe Rauschgift beim Bundeskriminalamt und dem Wiener und Berner Club (H. Busch, KJ 1990, 1 [5]). 1976 wurde durch die Innen- und lustizminister der EG-Mitgliedstaaten die Arbeitsgruppe TREVI (abgekürzt für "terrorisme, radicalisme, extremisme, violence internationale") geschaffen. In der Folgezeit verlangsamten sich die EGweiten Bestrebungen. Das Saarbrücker Übereinkommen zwischen Deutschland und Frankreich sah 1984 schließlich den schrittweisen Abbau der Grenzkontrollen zwischen diesen beiden Staaten vor. Vgl. zur Vorgeschichte der Schengener Abkommen R. Mokros, in: Liskenl Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Aufl. 1996, N Rdnm. 50ff.; A. Epiney, in: AcherrnannlBieberlEpineylWehner, Schengen und die Folgen, 1995, S. 21 ff., 22 ff.; M. Dunker, Die Vereinbarkeit der Schengener Übereinkommen mit dem Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1993, S. 1 ff.; T. Kattau, Strafverfolgung nach Wegfall der europäischen Grenzkontrollen, 1993, S. 56 ff.; RupprechtlHellenthal, in: dies., Innere Sicherheit im Europä42 43
§ 3 Der Weg zu EUROPOL
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men, die den Abbau der innereuropäischen Grenzkontrollen und Kompensationsmaßnahmen hierzu vorsehen45 .
I. Schengener Abkommen und europäisches Gemeinschaftsrecht
Die Schengener Abkommen sind zwar nicht Teil des Unionsrechts, sondern multilateral zustande gekommenes Völkerrecht46 • Gleichwohl erfuhren sie aber durch den europäischen Einigungsprozeß, namentlich den EUV von Maastricht, aber auch den EGV, eine zusätzliche Förderung47 • Die Zusammenarbeit von Polizei und Justiz wurde durch den Maastrichter Vertrag erheblich aufgewertet48 . Während die Kooperation in diesen Bereichen vordem auf bi- und multilateralen völkerrechtlichen Vereinbarungen beruhte, ist sie nunmehr als "Dritte Säule" institutioneller Teil der EU49 . Art. K.3. I 2 EUV legitimiert die bereits vordem bestehende Zusammenarbeit von mitgliedstaatlichen Regierungs- und Verwaltungsvertretern in Arbeitsgruppen und integriert sie in die EU 50 . Eine prinzipiell denkbare Aufnahme der Zusammenarbeit in den Bereichen der Justiz und des Inneren (ZBJI) nicht (nur) in den EUV, sondern in den EGV scheiterte, weil nur wenige Mitgliedstaaten zu einem derartig weitreichenden Souveränitätsverzicht bereit waren 51 • Gemäß Art. A S. 3 EUV bilden die Europäischen Gemeinschaften die Grundlage der Union, werden aber durch die mit dem EUV eingeführten Politiken und Formen der Zusammenarbeit, also namentlich durch die ZBIJ, ergänzt.
ischen Binnenmarkt, 1992, S. 23ff., 141 ff.; H.-H. Kühne, Kriminalitätsbekämpfung durch innereuropäische Grenzkontrollen?, 1991, S. 11 f. Namentlich zur deutsch-französischen Zusammenarbeit vgl. H. C. Taschner, Schengen oder die Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen der EG, 1990, S. 11 ff. 45 Zur geschichtlichen Entwicklung der Schengener Abkommen vgl. J. Sturm, Kriminalistik 1995, 162; R. Wehner, Europäische Zusammenarbeit bei der polizeilichen Terrorismusbekämpfung aus rechtlicher Sicht, 1993, S. 199ff. 46 O. Dörr, DÖV 1993,696 (698 f.). 47 Zur Zulässigkeit der Schengener Abkommen nach dem EGV siehe M. Dunker, Die Vereinbarkeit der Schengener Übereinkommen mit dem' Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1993, insb. S. 19ff. - Auf das Verhältnis des "Schengen lI-Übereinkommens" und des EUV eingehend R. Pitschas, ZRP 1993, 174 (175) und R. Pitschas, PFA 4/92, S. 29ff., 33: ,,komplementär überlagernd". Zur polizeilichen Freiheits- und Sicherheitsvorsorge nach dem Maastrichter Vertrag siehe R. Pitschas, PFA 4/92, S. 29 ff., 32 f. 48 Für einen Überblick vgl. z. B. L. Schrapper, DVP 1996,498 ff. 49 Vgl. z. B. U. Di Fabio, DÖV 1997, 89 (89 f.). - Ausführlich hierzu P.-c. Müller-Graff, in: ders. (Hrsg.), Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, 1996, S. 11 ff. sowie W. de Lobkowicz, ebenda, S. 41 ff. 50 Siehe hierzu z. B. H. Nicolaus, NVwZ 1996,40 ff. 51 U. Di Fabio, DÖV 1997,89 (90). 10*
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
Gleichwohl fördert auch der EGV jedenfalls mittelbar die Europäisierung der Polizei und damit auch die Schengener Abkommen: Art. 7a 11 EGV sieht nämlich als Ziel "einen Raum ohne Binnengrenzen" und damit die Abschaffung bzw. den Abbau von Grenzkontrollen vor. Andererseits könnten sich aber umgekehrt sogar Zweifel an der Vereinbarkeit der Schengener Abkommen mit dem Gemeinschaftsrecht ergeben 52 , weil namentlich das "Schengen lI-Übereinkommen" zwar einerseits zur Erfüllung des in Art. 7a 11 EGV vorgesehenen Ziels der Gemeinschaft geschlossen wurde, andererseits aber einen völkerrechtlichen Vertrag darstellt, an dem nicht alle Mitgliedstaaten der EU beteiligt sind. Derartige Bedenken sind zwar insofern berechtigt, als sich zwischen dem "Schengen lI-Übereinkommen" einerseits und dem Gemeinschaftsrecht andererseits tatsächlich einige Friktionen ergeben. Insbesondere kommt dem EuGH im Hinblick auf die Einhaltung der Schengener Abkommen keine Kontrollkompetenz zu. Art. 111 "Schengen lI-Übereinkommen" sieht stattdessen vor, daß jeder Bürger im Hoheitsgebiet jedes Mitgliedstaates Klagen wegen Ausschreibungen im Schengener Informationssystem (SIS), namentlich auf Auskunft, Berichtigung und Löschung sowie auf Schadenersatz erheben kann. Darüber hinaus berühren insbesondere die in Art. K.l EUV genannten "Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse" im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres Gebiete, die auch Gegenstand des "Schengen lI-Übereinkommens" sind; insoweit enthält Art. K.7 EUVeine Kollisionsregelung. Zudem widersprechen die Schengener Abkommen auch der Forderung nach einer gleichen Integration aller Mitgliedstaaten. Die Aufrechterhaltung von Grenzkontrollen zwischen Mitgliedstaaten, die am "Schengen lI-Übereinkommen" beteiligt sind, und solchen, die dies nicht sind, könnte gegen Art. 7a 11 EGV verstoßen. Darüber hinaus könnte die Beteiligung nur einzelner Mitgliedstaaten am "Schengen lI-Übereinkommen" im Widerspruch zu Art. 5 EGV stehen. Diese Friktionen müssen aber hingenommen werden, wenn man nicht das Fortschreiten wenigstens einiger Mitgliedstaaten zu den Zielen der Gemeinschaft verhindern will 53 . Die hieraus resultierenden Bedenken dürfen im Fall der Schengener Abkommen zudem nicht überschätzt werden: Die Schengener Abkommen sind funktionell auf die EU bezogen. Sie räumen allen Mitgliedstaaten die Möglichkeit zum Beitritt ein und verstehen sich als Vorläufer und Modell für Regelungen, die auch im Rahmen der EG-Mitgliedstaaten erreicht werden sollen54 . Mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Gemeinschaftsrecht einerseits und den Schengener Abkommen andererseits wird letztlich die allgemeine Problematik eines ,,Europas verschiedener Geschwindigkeiten" thematisiert.
Siehe hierzu allgemein z. B. H. Nicolaus, NVwZ 1996, 40f. Vgl. hierzu ausführlich A. Epiney, in: AcherrnannlBieberlEpiney/Wehner, Schengen und die Folgen, 1995, S. 21 ff. 54 U. Di Fabio, DÖV 1997,89 (92f.) m.w.N. 52 53
§ 3 Der Weg zu EUROPOL
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11. Schengen I und 11 Als eine der Ausgleichsrnaßnahmen für den 1985 zwischen Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Luxemburg und Deutschland vereinbarten Abbau der polizeilichen Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen wurde die Schaffung des Schengener Informationssystems (SIS) beschlossen. Während das "Übereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen" (Schengen 1)55 den Abbau der Kontrollen im Personen- (Art. 17 S. 1) und Warenverkehr (Art. 24 I) an den gemeinsamen Grenzen und deren Verlegung an die Außengrenzen nur als "langfristig durchzuführende Maßnahmen" vorsieht, finden sich die detaillierten Regelungen hierzu erst im "Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der BeneluxWirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen" (Schengen 11)56. Der unterschiedliche Inhalt von Schengen I und Schengen 11 hat gravierende rechtliche Folgewirkungen: Im Gegensatz zu Schengen 11 enthält Schengen I noch keine verbindlichen Regelungen für den Abbau der Grenzkontrollen und deren Kompensation. Es ist daher anders als Schengen 11 kein Staatsvertrag5?, sondern ein nichtratifizierungsbedürftiges Verwaltungsabkommen58 . Gemäß dem Abschlußkommunique der Sitzung des Schengener Exekutivausschusses am 22. 12. 199459 in Bonn wurde das "Schengen lI-Übereinkommen" in all seinen Teilen für Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, die Niederlande, Spanien und Portugal zum 26. 5. 1995 in Kraft gesetzt60 . Für Italien und Grie55 Übereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen v. 14.6. 1985 (Schengen I), GMBl. 1986, 79ff. 56 Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14.6. 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen v. 19. 6. 1990 (Schengen lI), abgedruckt mit dem Gesetz zu dem Schengener Übereinkommen vom 19. 6. 1990 betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen v. 15.7. 1993 (BGBl. II S. IOlOff., 1013 ff.). 57 Zur völkerrechtlichen Qualität des "Schengen lI-Übereinkommens" vgl. z. B. T. Kattau, Strafverfolgung nach Wegfall der europäischen Grenzkontrollen, 1993, S. 106 ff.; O. Dörr, DÖV 1993, 696ff.; S. M. Scheller, JZ 1992,904 (908ff.) 58 R. Wehner, Europäische Zusammenarbeit bei der polizeilichen Terrorismusbekämpfung aus rechtlicher Sicht, 1993, S. 201. 59 Abgedruckt in Bulletin Nr. 3 v. 13. I. 1995, S. 16. 60 Zur ungewöhnlichen Regelung des Inkrafttretens im "Schengen lI-Übereinkommen" vgl. R. Bieber, NJW 1994,294 (294f.).
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
chenland wird später ein gesonderter Beschluß gefaßt. Zehn Jahre nach dem Abschluß von Schengen I werden damit die damaligen Vereinbarungen verwirklicht. Das "Schengen lI-Übereinkommen" eröffnet zudem jedem EG-Mitglied den Beitritt (Art. 140).
111. Der Inhalt von Schengen 11
Dieses "Schengen lI-Übereinkommen" enthält Regelungen über die Sicherung und das Überschreiten der Binnen- (Art. 2) und Außengrenzen (Art. 3 - 8), Sichtvermerkt;: (Art. 9 - 18), die Voraussetzungen für den Reiseverkehr von Drittausländem (Art. 19 - 24)61, die Gewährung von Asyl (Art. 28 - 38)62, die polizeiliche Zusammenarbeit (Art. 39 - 47), Rechtshilfe in Strafsachen (Art. 48 - 69), für Betäubungsmittel (Art. 70 - 76), über den Umgang mit Feuerwaffen und Munition (Art. 77 - 91), das Schengener Informationssystem (SIS - Art. 92 - 119), für Transport und Warenverkehr (Art. 120 - 125) sowie den Datenschutz (Art. 126 - 130)63.
1. Abbau der Kontrollen an den Binnengrenzen verschärfte Sicherung der Außengrenzen
Die Verlagerung der Kontrollen von den Binnen- an die Außengrenzen des Hoheitsgebiets der Schengener Vertragsstaaten führt zu einem einheitlichen Fahndungsraum. Aus dem Wegfall der Kontrollen an den Binnengrenzen resultiert ein kompensationsbedürftiges Sicherheitsdefizit.
a) Die Schengen-Staaten als einheitlicher Fahndungsraum Bzgl. der Sicherung und des Überschreitens der Binnen- und Außengrenzen sieht Art. 2 I im einzelnen grundsätzlich - Ausnahme: Art. 2 11 - die Abschaffung von Personenkontrollen an den Binnengrenzen vor. Das Überschreiten der Außengrenzen erlaubt Art. 3 liderngegenüber nur an den Grenzübergangsstellen; Art. 6 61 Vgl. speziell hierzu A. Epiney, in: AchermannlBieber/Epiney/Wehner, Schengen und die Folgen, 1995, S. 51 ff. 62 Siehe hierzu ausführlich A. Achermann, in: ders./Bieber/Epiney/Wehner, Schengen und die Folgen, 1995, S. 79 ff. 63 Überblick zum "Schengen lI-Übereinkommen" z. B. bei U. Di Fabio, DÖV 1997, 89 (92ff.); A. Epiney, in: AchermannlBieber/Epiney/Wehner, Schengen und die Folgen, 1995, S. 21 ff., 26ff.; J. Sturm, Kriminalistik 1995, 162 (164ff.); R. Bieber, NJW 1994, 294 (295 f.); M. Dunker, Die Vereinbarkeit der Schengener Übereinkommen mit dem Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1993, S. 4ff., T. Kattau, Strafverfolgung nach Wegfall der europäischen Grenzkontrollen, 1993, S. 68ff.; Rogalla/Schweren, in: Morie/Murck/Schulte (Hrsg.), Auf dem Weg zu einer europäischen Polizei, 1992, S. 64ff., 69.
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schreibt Mindestkontrollen an den Außengrenzen vor. Die Kontrollen umfassen die Überprüfung der Grenzübertrittspapiere, die Überprüfung der Voraussetzungen, die für die Einreise, den Aufenthalt, die Arbeitsaufnahme und die Ausreise vorliegen müssen, die fahndungstechnische Überprüfung, die Abwehr von Gefahren für die nationale Sicherheit bzw. für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aller Vertragsparteien sowie die Kontrolle von Fahrzeugen und Sachen.
b) Sicherheitsdefizit durch den Abbau der Kontrollen an den Binnengrenzen Wenngleich die Effizienz der früheren Grenzkontrollen an den Binnengrenzen heftig umstritten ist64 , kann nicht ernsthaft geleugnet werden, daß der Abbau der Binnengrenzen die Polizeiarbeit erschwert. Das tatsächliche Ausmaß der zu erwartenden Probleme ist kaum abschätzbar, da schon die vorliegenden Zahlen über den Erfolg der Grenzkontrollen sehr unterschiedlich bewertet werden. 1987 wurden bei 951 Mio. Ein- und Ausreisen 128.000 Personen zurückgewiesen, 91.000 aufgegriffen und 13.000 festgenommen 65 . Wahrend die einen diesen Zahlenangaben eine
64 Zur grenzpolizeilichen Lage 1995 siehe Bundesministerium des Innern, in: das. (Hrsg.), Aspekte der Inneren Sicherheit, 1996, S. 54ff. Während J. Sturm, Kriminalistik 1995, 162 (166) vorn Schengener Informationssystem (SIS) als dem "Herzstück" der Ausgleichsrnaßnahmen spricht und M. Schreiber Sicherheitsverluste durch den Wegfall von Grenzkontrollen für nicht bezweifelbar hält (M. Schreiber, in: BaduraJScholz [Hrsg.], Wege und Verfahren des Verfassungslebens. Festschrift für Peter Lerche zum 65. Geburtstag, 1993, S. 529ff., 530ff.), räumt R. Bieber, NJW 1994,294 (295) zwar das Erfordernis einer polizeilichen Zusammenarbeit ein, bezweifelt aber den Kompensationscharakter ebenso wie U. Wemer, CR 1997, 34 (35) und H. Bäumler, CR 1994,487 (489) - ,,(Über-)Kompensation" -; T. Kattau, Strafverfolgung nach Wegfall der europäischen Grenzkontrollen, 1993, S. 5ff., 20ff.; H.-H. Kühne, Kriminalitätsbekämpfung durch innereuropäische Grenzkontrollen?, 1991, S. 40ff. und H. Busch, in: Verein zur Gründung und Förderung eines Instituts für Bürgerrechte & öffentliche Sicherheit e.v. (Hrsg.), Europäisierung von Polizei und Innerer Sicherheit, 1991, S. 8ff., 9ff., die jeweils eine (besondere) Bedeutung der Grenzkontrollen für die innere Sicherheit verneinen. H. Busch versteht die Grenzen an anderer Stelle nach ausführlicher Erörterung als vornehmlich "ausländerpolitisches Kontrollinstrument" (H. Busch, Grenzenlose Polizei?, 1995, S. 15 ff., 37 ff., 72, 73 ff.). Ein aus der Aufgabe der Grenzkontrollen resultierendes Sicherheitsdefizit bejaht Walter, Kriminalistik 1994,47 (48f.). SimitislFuckner, in: RupprechtlHellenthal, Innere Sicherheit im Europäischen Binnenmarkt, 1992, S. 337 ff., 338 f. weisen auf den Verlust der repressiven und präventiven Funktionen der Grenzkontrollen hin. Die Effizienz der polizeilichen Grenzfahndung insbesondere bzgl. der Bekämpfung der internationalen Kfz-Verschiebung bejahte in jüngerer Zeit R. Schmidt, DPolBl. 2/95, S. 6 ff. Abwägend zur Bedeutung der Grenzkontrollen für die Fahndung und einern durch ihren Abbau resultierenden Sicherheitsdefizit R. Pitschas, PFA 4/92, S. 29 ff., 37, der an anderer Stelle (NVwZ 1994, 625 ff.) einige der durch die Schengener Abkommen geregelten Maßnahmen, namentlich weite Bereiche der polizeilichen Zusammenarbeit, auch unabhängig vorn Abbau der Grenzen für sinnvoll hält. Vgl. zur Problematik auch KleinIHaratsch, DÖV 1993,785 (786). 65 Die hier gerundeten Zahlenangaben stammen aus T. R. K6kai, in: S. Magiera (Hrsg.) Das Europa der Bürger in einer Gemeinschaft ohne Binnengrenzen, 1990, S. 237 ff., 239.
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
große Effizienz der Grenzkontrollen trotz der üblichen liberalen Handhabung entnehmen 66 , bilden die Zahlen nach anderer Meinung im Hinblick auf den Abbau der Binnengrenzen ein eher beruhigendes Bild67 . Darüber hinaus liegen einerseits keine Angaben darüber vor, wieviele "Kontrollerfolge" auch an den verbleibenden EG-Außengrenzen eingetreten wären. Andererseits ist nicht feststellbar, in welchem Ausmaß allein das Wissen um die Existenz der Binnengrenzen präventiv wirkt. Auch bleibt abzuwarten, inwieweit ihr Wegfall durch die verstärkte europaweite Zusammenarbeit der Polizeibehörden68 in den Mitgliedstaaten kompensiert werden kann69 .
2. Polizeiliche Zusammenarbeit Im Hinblick auf die polizeiliche Zusammenarbeit70 sieht das "Schengen 11Übereinkommen" einen polizeilichen Rechtshilfeverkehr (Art. 39), grenzüberschreitende Observation (Art. 40) und Nacheile (Art. 41), Verbesserungen der Telekommunikation (Art. 44) sowie einen Informationsaustausch zur Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge (Art. 46) und den Austausch von Verbindungsbeamten (Art. 47) vor.
a) Polizeiliche Rechtshilfe - indirekter Informationsaustausch Die in Art. 39 geregelte polizeiliche Rechtshilfe, die vornehmlich im Austausch von Informationen bestehen wird7l , weist dabei einige erwähnenswerte Besonderheiten auf. Zum einen kann die Zusammenarbeit zwischen Polizeidienststellen nach wie vor grundsätzlich nicht direkt erfolgen. Gemäß Art. 39 III 1 sind Ersuchen um Rechtshilfe vielmehr grundsätzlich über die mit der grenzüberschreitenden polizeilichen Zusammenarbeit betrauten Stellen - in der Bundesrepublik das Bundeskriminalamt als nationales Zentralbüro für INTERPOL - zu leiten 72. In Eilfällen läßt Art. 391II 2 zwar ein direktes Ersuchen zu; Art. 39 III 2 begründet dann 66 T. R. K6kai, in: S. Magiera (Hrsg.) Das Europa der Bürger in einer Gemeinschaft ohne Binnengrenzen, 1990, S. 237 ff,238. 67 H. Busch, KJ 1990, 1 (2). 68 Siehe dazu nur die bei R. Gössner, Neue Kriminalpolitik 1990, 26 (29) abgedruckte Skizze. 69 Weitere Stellungnahmen zum Abbau der Binnengrenzen in Europa finden sich z. B. bei H. C. Taschner, in: S. Magiera (Hrsg.), Das Europa der Bürger in einer Gemeinschaft ohne Binnengrenzen, 1990, S. 229 ff. und im Diskussionsbericht von A. Iff (a. a. 0.), S. 250 ff.; für weitere Nachweise vgl. Pitschas/Aulehner, BayVBI. 1990,417 in Fußn. 3. 70 Ausführlich dazu J. Wolters, Kriminalistik 1995, 172 ff. 71 H. Bäumler, eR 1994,487 (489). 72 T. Kattau, Strafverfolgung nach Wegfall der europäischen Grenzkontrollen, 1993, S. 72 sieht hierin eine Abwendung von EUROPOL.
§ 3 Der Weg zu EUROPOL
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aber eine Pflicht zur Unterrichtung der zentralen Stelle. Zum anderen verlangt Art. 39 11 1 für die Verwertung schriftlicher Informationen als Beweismittel in einem Strafverfahren die Zustimmung der zuständigen lustizbehörde des übermittelnden Landes. Art. 39 11 1 differenziert somit zwischen dem Vorhandensein einer Information und deren Verwertung - eine Unterscheidung, die nach dem "Volkszählungs"-Urteil, so wie es von der herrschenden Meinung verstanden wird, zumindest fragwürdig ist. Eine ähnliche Differenzierung zwischen einer Information einerseits und ihrer Verwendung andererseits sieht Art. 41 V lit. f) vor. Danach darf eine im Rahmen einer - in den Verhandlungen über das "Schengen lI-Übereinkommen" wegen des damit verbundenen Eingriffs in die Souveränität fremder Staaten ansich vehement umstrittenen - Nacheile ergriffene Person nur zur Eigensicherung, nicht aber zur Beweiserhebung durchsucht werden.
b) Direkter Informationsaustausch zwischen Polizeidienststellen Im Gegensatz zu Art. 39, der regelmäßig nur eine indirekte Zusammenarbeit über die ZentralstelIen des jeweiligen Landes zuläßt, eröffnet Art. 46 "Schengen lI-Übereinkommen" einen direkten Informationsaustausch. Die Ausgestaltung dieses "direkten Informationsaustausches" zeigt jedoch, daß es sich bei dem "Schengen lI-Übereinkommen" ebenso wie bei INTERPOL erst um einen ersten Schritt der polizeilichen Zusammenarbeit handelt. Das "Schengen lI-Übereinkommen" sieht nämlich ebensowenig wie INTERPOL die Schaffung eines gemeinsamen Informationsbestandes vor. Zum einen begründet Art. 46 nur ein Recht zur Zusammenarbeit, nicht aber eine diesbezügliche Verpflichtung. Zum anderen fixiert Art. 129 S. 2 lit. a) die fortbestehende "Herrschaft" des übermittelnden Landes über die Daten. Damit bestehen trotz Art. 46 nach wie vor getrennte Informationsbestände der Schengen-Staaten. Art. 129 beinhaltet im übrigen wiederum eine Differenzierung zwischen der Information und ihrer Verwendung.
3. Das Schengener Infonnationssystem (SIS) Zentrales Mittel zur Kompensation des Abbaus der Kontrollen an den Binnengrenzen - und aus hiesiger Sicht von besonderer Bedeutung - ist das Schengener Informationssystem (SIS)73. Das Schengener Informationssystem (SIS) ist ein reines Fahndungssystem und Fahndungshilfsmittel zur Suche nach Personen und Sachen; einzelne Spuren und Hinweise werden im Schengener Informationssystem (SIS) nicht gespeichert. Es soll die durch die Einstellung der Kontrollen an den Binnengrenzen entstehenden Sicherheitsdefizite - namentlich durch den Wegfall 73 Überblick hierzu bei R. Mokros, in: LiskenIDenninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Aufl. 1996, N Rdnrn. 95 ff.; R. Wehner , in: AcherrnannJBieberlEpineylWehner, Schengen und die Folgen, 1995, S. 129 ff.; W. Hemesath, Kriminalistik 1995, 169ff.
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I. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
der Aufgriffsmöglichkeit von Straftätern an der Grenze und die Erweiterung des Aktionsradius von Tätern sowie die Begünstigung des organisierten Verbrechens kompensieren 74.
a) Vorteile und Unterschiede gegenüber INTERPOL Das Schengener Informationssystem (SIS) besitzt gegenüber INTERPOL so entscheidende Vorzüge und Abweichungen, daß es nicht als dessen regional beschränkte Fortentwicklung, sondern jedenfalls als Zäsur hierin zu verstehen ist. Gegenüber INTERPOL kommt dem Schengener Informationssystem (SIS) zum einen ein Schnelligkeitsvorteil zu. Aus ihm kann Sekunden nach der Eingabe der Datenbestand in allen Vertrags staaten abgefragt werden. Für die Bearbeitung eines Ersuchens gilt bei einem Trefferfall eine Frist von 12 Stunden, d. h. wenn bei einer Fahndungsabfrage festgestellt wird, daß eine Ausschreibung für eine Person oder Sache besteht, ist die ausschreibende Stelle schnellstmöglich, spätestens innerhalb von 12 Stunden zu informieren. Art. 95 verlangt eine Rechtsprüfung vor der Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS), d. h. die ausschreibende deutsche Staatsanwaltschaft muß prüfen, ob die Ausschreibung mit den Gesetzen der Mitgliedstaaten vereinbar ist 75 . Darüber hinaus sind die gesetzlichen Grundlagen für alle Vertragsstaaten des "Schengen lI-Übereinkommens" gleich. Die Bestimmungen des "Schengen lI-Übereinkommens" sind nämlich für alle Mitgliedstaaten verbindliche Rechtsnormen. Das "Schengen lI-Übereinkommen" enthält namentlich Datenschutzbestimmungen (Art. 102 ff.), die insbesondere eine strenge Zweckbindung gewährleisten. Die Fahndung im Schengener Informationssystem (SIS) hat zudem Vorrang vor der INTERPOL-Fahndung. Außerdem sind zur Abfrage im Schengener Informationssystem (SIS) die Polizeidienststellen des Bundes und der Länder, der Polizei- und Sicherungsdienst des Deutschen Bundestages, das Zollkriminalamt und die Zollfahndungs stellen sowie über das Bundesverwaltungsamt die Ausländerbehörden berechtigt.
b) Technischer Aufbau des Schengener Informationssystems (SIS) Beim Schengener Informationssystem (SIS)76 handelt es sich nach Art. 92 I 1, III 2 a.E. um ein gemeinsames Informationssystem der Schengen-Vertragspartner, das aus einem Zentralrechner in Straßburg (CSIS) und nationalen Schengener In74 RupprechtlHellenthal, in: dies., Innere Sicherheit im Europäischen Binnenmarkt, 1992, S. 23 ff., 100 ff., 103 ff., 129 ff. m.w.N. auch für Gegenansichten, die ein Sicherheitsdefizit durch den Wegfall der Grenzkontrollen bestreiten. 75 Siehe hierzu auch jüngst U. Wemer, CR 1997, 34f. 76 Vgl. zum folgenden jüngst U. Di Fabio, DÖV 1997,89 (94); U. Wemer, CR 1997, 34 (35).
§ 3 Der Weg zu EURO POL
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fonnationssystemen (NSIS) besteht. Durch die Haltung eines Referenzdatenbestandes und die Steuerung der Dialoge sichert der Zentralrechner in Straßburg insbesondere die Identität der Infonnationsbestände in den nationalen Schengener Infonnationssystemen (NSIS). Das Schengener Infonnationssystem (SIS) ähnelt seinem Prinzip nach dem deutschen INPOL-System77 . Am 26. 3. 1995, zur Zeit des Wegfalls der Kontrollen an den Binnengrenzen, enthielt das Schengener Infonnationssystem (SIS) ca. 2 Mio. Datensätze78 ; bei maximaler Auslastung ist ein Bestand von ca. 9 Mio. Datensätzen möglich. Eine online-Verbindung zum Datenbestand des Schengener Infonnationssystems (SIS) haben allein in der Bundesrepublik ca. 8000 Computerterminals 79 . Die nationalen Schengener Infonnationssysteme (NSIS) stellen zwischen den jeweiligen nationalen Datensystemen der Polizei - in der Bundesrepublik vornehmlich INPOL - einerseits und dem zentralen Schengener Infonnationssystem (CSIS) in Straßburg andererseits eine Verbindung her. Neben dem nationalen Schengener Infonnationssystem (NSIS) besteht ein weiteres System, das dem Austausch ergänzender Infonnationen auf konventionellem Weg dient. In der Bundesrepublik nimmt das Bundeskriminalamt sowohl die Funktion des nationalen Schengener Infonnationssystems (NSIS) als auch diejenige dieses konventionellen Unterstützungssystems wahr (Supp1ementary Infonnation Request at the National Entry80 - SIRENE)81. Das Bundeskriminalamt ist damit die nationale Stelle, die alle Infonnationsbeschaffungs-, Infonnationsübermiulungs-, Koordinations- und Konsultationsaufgaben im Zusammenhang mit einer Ausschreibung im Schengener Infonnationssystem (SIS) wahrnimmt. Zentrale Ansprechpartner für das Bundeskrimina1amt sind auch insoweit die Landeskriminalämter.
c) Aufgabe des Schengener Infonnationssystems (SIS) Ziel des Schengener Infonnationssystem (SIS) ist es gemäß Art. 93, anhand der in ihm gespeicherten Infonnationen die öffentliche Sicherheit und Ordnung einschließlich der Sicherheit des Staates und die Anwendung der Bestimmungen des 77 H. Bäumler, eR 1994,487 (490). - Zum INPOL-System siehe schon ausführlich oben im Text sub § 1. C. 11. 2. Das Schengener Informationssystem (SIS) verfügt im Gegensatz zum nationalen INPOLSystem allerdings über keine Möglichkeit, spezielle Hinweise auf das jeweilige Delikt festzuhalten. Auch ist eine Verknüpfung von Sach- und Personenfahndung nicht möglich. 78 Vgl. dazu ausführlich die Antwort der Bundesregierung, BT-Drs. 13/5515 und BT-Drs. 13/5846. 79 Siehe hierzu auch die Antwort der Bundesregierung, BT-Drs. 13/5846, S. 3. 80 Amtliche Übersetzung: "Anträge auf Zusatzinformationen bei der nationalen Eingangsstelle". 81 J. Sturm, Kriminalistik 1995, 162 (166).
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I. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
"Schengen lI-Übereinkommens" im Bereich des Personenverkehrs zu gewährleisten.
d) Ausschreibungsmöglichkeiten im Schengener Informationssystem (SIS) Im Schengener Informationssystem (SIS) werden Personen und Sachen zur Fahndung ausgeschrieben 82 . aa) Personenfahndung
Eine Ausschreibung zur Personenfahndung 83 kann auf Antrag der Justizbehörden zur Festnahme mit dem Ziel der Auslieferung (Art. 95), aufgrund der Entscheidung einer Verwaltungsbehörde (Ausländer- und Grenzschutzbehörden) oder eines Gerichts zur Verweigerung der Einreise von Drittausländern (Art. 96), für Justizund Polizeibehörden zur Ingewahrsamnahme bzw. Aufenthaltsermittlung Vermißter (Art. 97), für Justizbehörden zur Mitteilung des Wohnsitzes bzw. des Aufenthalts von Zeugen oder Beschuldigten, die vor Gericht erscheinen müssen (Art. 98), sowie für Justiz- und Polizeibehörden zur verdeckten Registrierung oder zur gezielten Kontrolle (Art. 99) erfolgen. Im Rahmen der Personenfahndung ist nach Art. 94 III 1 nur die Mitteilung von Name und Vorname - Aliasnamen ggf. in einem neuen Datensatz -, besonderen unveränderlichen physischen Merkmalen, des ersten Buchstabens des zweiten Vornamens, des Geburtsdatums und -orts, des Geschlechts, der Staatsangehörigkeit, der personenbezogenen Hinweise "bewaffnet" und "gewalttätig", des Ausschreibungsgrunds und der zu ergreifenden Maßnahmen zulässig. bb) Sachenfahndung
Zur Sicherstellung oder Beweissicherung können gemäß Art. 100 Sachen im Schengener Informationssystem (SIS) ausgeschrieben werden. Dabei kann es sich nach der Aufzählung in Art. 100 III um abhandengekommene Kraftfahrzeuge, Anhänger, Wohnwagen, Feuerwaffen, Blankodokumente, ausgefüllte Identitätspapiere (Pässe, Identitätskarten, Führerscheine) und Banknoten handeln. Eine Sachenfahndung zur verdeckten Registrierung oder gezielten Kontrolle sieht Art. 99 nur für Fahrzeuge vor.
82 Vgl. z. B. T. Kattau, Strafverfolgung nach Wegfall der europäischen Grenzkontrollen, 1993, S. 88 ff. 83 Überblick z. B. bei R. Mokros, in: LiskenlDenninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Auf!. 1996, N Rdnm. 98ff.; H. Bäumler, eR 1994,487 (490f.); S. M. Scheller, JZ 1992,904 (905).
§ 3 Der Weg zu EUROPOL
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e) Ausschreibungsvoraussetzungen Die Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS) ist an enge Voraussetzungen gebunden. Insbesondere schreibt Art. 94 I 2 vor, daß der ausschreibende Staat vor der Aufnahme in das Schengener Informationssystem (SIS) prüft, ob die Bedeutung des Falles eine derartige Ausschreibung rechtfertigt. Im Fall der Personenfahndung muß nach Art. 95 11 überdies festgestellt werden, ob nach dem Recht der ersuchten Vertragsparteien eine Festnahme zulässig ist. Schließlich ist eine Fahndung im Schengener Informationssystem (SIS) nur erlaubt, wenn zugleich auch eine Inlandsfahndung erfolgt. Darüber hinaus dürfen keine Anhaltspunkte für einen Aufenthalt im Inland (Art. 95) vorliegen, bei Drittausländern ist eine Ausweisungsverfügung erforderlich (Art. 96) und es müssen schließlich Hinweise für einen Aufenthalt im Ausland (Art. 97) bestehen. Andernfalls ist die Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS) unverhältnismäßig.
f) Technische Modalitäten der Ausschreibung
Daß eine Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS) nur erfolgt, wenn zugleich eine Inlandsfahndung vorliegt, stellen schon die Eingabemodalitäten sicher. Die jeweils örtlich zuständige Datenstation (DASTA) erfaßt nämlich sofern eine solche nicht schon besteht - zunächst eine INPOL-Fahndung84 und gibt erst dann die Entscheidung über eine Fahndung auch im Schengener Informationssystem (SIS) ein. Dieser Fahndungssatz wird automatisch an die elektronische Datenverarbeitung im Bundeskriminalamt weitergeleitet. Dort werden die Daten in das Format des SIS-Zentralrechners in Straßburg konvertiert und bei Fahndungen nach Art. 96 bis 100 automatisch, bei solchen nach Art. 95 erst nach dem Vorliegen eines Begleitpapiers 85 und der Freigabe durch das Bundeskriminalamt als Zentrale Vgl. zu INPOL schon ausführlich oben im Text sub § 1. C. 11. 2. Nach Art. 95 11 ist die ausschreibende Vertragspartei bei einer Ausschreibung zur Festnahme zwecks Auslieferung verpflichtet, den ersuchten Vertragsparteien gleichzeitig mit der Ausschreibung bestimmte für den zugrundeliegenden Sachverhalt wesentliche Informationen mitzuteilen. Diese wesentlichen Informationen werden in dem Begleitpapier an die SIRENEN der ersuchten Vertragsparteien versandt. Die Übersendung der Begleitpapiere erfolgt durch ein spezifisches Nachrichtenübermittlungssystem. Das Begleitpapier enthält das Datum der Nachrichtenübermittlung, die Nummer der Nachricht, die versendende SIRENE, die Bestimmungs-SIRENEN, eine Schengener Nummer, Familien-, Vor- und Geburtsname, Geburtsdatum und -ort, Aliaspersonalien, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, die den Haftbefehl ausstellende Behörde, Aktenzeichen des Haftbefehls, die um Festnahme ersuchende Behörde, die angedrohte Höchststrafe in Jahren, das Gericht, das das Urteil gesprochen hat, Datum und Aktenzeichen des Urteils, verhängte und noch zu verbüßende Strafe, anzuwendende Strafvorschriften, Deliktbezeichnung, Tatzeit oder Tatzeitraum, Tatorte, SachverhaltsdarsteJlung einschließlich der Folgen der Tat, die Art der Täterschaft oder Teilnahme. Die Sachverhaltsdarstellung soll dabei die wesentlichen Tatbestandsmerkmale sowie die Folgen der Tat kurz und prägnant wiedergeben. Eine bloße Bezugnahme 84 85
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I. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
für den nationalen Teil des Schengener Infonnationssystems (SIS) gemäß Art. 108 an den Zentra1computer in Straßburg weitergeleitet. Dieser verteilt die Daten an alle nationalen Zentralen des Schengener Infonnationssystems (NSIS)86. Ob eine INPOL-Fahndung allein, eine Fahndung in INPOL und im Schengener Infonnationssystem (SIS) oder eine Fahndung in INPOL, im Schengener Infonnationssystem (SIS) und in INTERPOL oder nur in INTERPOL vorgenommen wird, ist für den jeweiligen Einzelfall zu entscheiden.
g) Speicherfrist Die Speicherfrist beträgt gemäß Art. 112 regelmäßig 3 Jahre.
4. Datenschutz Das "Schengen lI-Übereinkommen" stellt schließlich auch einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Datenschutz dar8? Es enthält Regelungen zum Datenschutz sowohl speziell im Schengener Infonnationssystem (SIS)88 als auch allgemein. In allgemeiner Hinsicht regeln die Art. 126 ff. namentlich die Zweckbindung, Prüf- und Löschungsfristen, die Einrichtung einer gemeinsamen Datenschutzkontrollinstanz und ein Auskunfts- und Klagerecht Betroffener. Für die im Schengener Infonnationssystem (SIS) gespeicherten Infonnationen schreibt Art. 102 I ihre Zweckbindung vor und Art. 102 IV 1 verbietet ausdrücklich eine Nutzung zu Verwaltungszwecken. Zur Kontrolle legt Art. 103 für jede zehnte Anfrage eine Protokollierungspflicht fest. Die ausschreibende nationale Zentralstelle des Schengener Infonnationssystems (SIS) ist für die Richtigkeit der Daten verantwortlich und für deren Änderung zuständig (Art. 105, 106). Hieraus ist indessen keine einheitliche Auffassung über den Datenschutz zu entnehmen 89 . Vielmehr haben sich gerade bei den Verhandlungen um das "Schengen auf den Haftbefehl ist nicht ausreichend. Abgesehen von den übennittlungstechnischen Angaben - Datum der Nachrichtenübennittlung, Nummer der Nachricht, versendende und Bestimmungs-SIRENE sowie die Schengener Nummer - werden diese Infonnationen durch die ausschreibende Staatsanwaltschaft erteilt. Dies ist insbesondere deshalb bemerkenswert, weil die Staatsanwaltschaften zum nationalen INPOL-System - abgesehen von der Staatsanwaltschaft München I und der Staatsanwaltschaft Frankfurt im Rahmen eines Versuchs - keinen Zugang haben. Datenschutzrechtliche Bedenken gegen diese Handhabung und namentlich die Übersendung von Begleitpapieren erhebt U. Wemer, CR 1997,34 (35). 86 U. Wemer, CR 1997,34 (35); w. Hemesath, Kriminalistik 1995, 169 (l69f.). 87 Vgl. hierzu z. B. R. Wehner, in: AchennannlBieberlEpineylWehner, Schengen und die Folgen, 1995, S. 129ff., 142ff. 88 Dazu T. Kattau, Strafverfolgung nach Wegfall der europäischen Grenzkontrollen, 1993, S.94f.
§ 3 Der Weg zu EUROPOL
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lI-Übereinkommen" die divergenten Rechtssysteme, Rechtsauffassungen, die unterschiedlichen Organisationsformen und die verschiedenen Kulturen sowie die damit verbundenen konträren Mentalitäten gezeigt und bisweilen nur praxisfremde Kompromisse zugelassen 9o . Der Kompromißcharakter der Datenschutzregelungen für das Schengener Informationssystem (SIS) zeigt sich insbesondere bei Art. 114 11, demzufolge der Betroffene wählen kann, an welche nationale Kontrollinstanz er sich wenden wi1l 91 . Darüber hinaus ergeben sich für das SIS die schon im Zusammenhang mit INTERPOL angeführten Bedenken92 im Hinblick auf die von der herrschenden Meinung vorgenommene, (zu) weite Interpretation des bundesverfassungsgerichtlichen "Volkszählungs"-Urteils. Dies gilt jedenfalls bezogen auf den Bezug von Daten aus anderen Staaten93
IV. Ergebnis Mit dem Schengener Informationssystem (SIS) wird ebensowenig wie mit dem "Schengen lI-Übereinkommen" insgesamt ein gemeinsamer Datenbestand der Schengen-Länder geschaffen 94 . Dies zeigt insbesondere Art. 102 11 2, demzufolge Ausschreibungen anderer Staaten nicht aus dem nationalen Teil des Schengener Informationssystems (SIS) in andere nationale Dateien übernommen werden dürfen. Die Datenbestände von INPOL und diejenigen des Schengener Informationssystems (SIS) divergieren daher. Darüber hinaus eröffnet Art. 94 IV für jeden Schengen-Staat die Möglichkeit, die Ausschreibung eines anderen Schengen-Staats so zu kennzeichnen, daß sie im Gebiet des kennzeichnenden Staates nicht wie in der Ausschreibung gefordert ausgeführt wird. Im Vergleich mit INTERPOL weist das "Schengen lI-Übereinkommen" deutliche Parallelen, aber auch ebenso klare Unterschiede auf. Das "Schengen lI-Übereinkommen" stellt einen Zwischenschritt zwischen der internationalen Verbrechensbekämpfung, wie sie INTERPOL verfolgt, einerseits und einer Europäisierung der Polizei, wie sie insbesondere in den Bemühungen, EUROPOL zu schaffen, zum Ausdruck kommt, andererseits, dar. Das "Schengen lI-Übereinkommen" führt zwar im Ergebnis ebensowenig wie INTERPOL zur Schaffung gemeinsamer 89 Gerade aus deutscher Sicht wird das angeblich unzureichende datenschutzrechtliche Niveau des SIS beanstandet. - Vgl. dazu U. Di Fabio, DÖV 1997, 89 (94 m. Fußn. 58). 90 J. Wolters, Kriminalistik 1995, 172 (l72f.). 91 T. Kattau, Strafverfolgung nach Wegfall der europäischen Grenzkontrollen, 1993, S. 94. 92 Vgl. dazu bereits oben im Text sub § 3. A. VI. 93 Siehe hierzu R. Wehner, in: AchermannlBieberlEpineylWehner, Schengen und die Folgen, 1995, S. 129 ff., 145 f. 94 A.A. anscheinend S. M. Scheller, JZ 1992, 904 (905), die betont, das Schengener Informationssystem (SIS) sei im Gegensatz zu INTERPOL ein gemeinsamer Fahndungscomputer.
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
Informationsbestände. Es stellt aber einen - im Vergleich mit INTERPOL - weiteren Schritt in diese Richtung dar. Die Vertrags staaten des "Schengen lI-Übereinkommens" übertragen nämlich zum einen jedenfalls teilweise Hoheitsrechte95 ; zum anderen enthält das "Schengen lI-Übereinkommen" jedenfalls Versuche zu einer Harmonisierung des Polizeirechts, auch wenn diese im Ergebnis zu praxisfremden Kompromissen geführt haben. Darüber hinaus wird die Öffnung der Binnengrenzen einen Harmonisierungsdruck für weite Rechtsbereiche nach sich ziehen: Ohne Grenzkontrollen können gravierende Unterschiede im Waffen- und Betäubungsmittelrecht ebensowenig aufrecht erhalten werden wie ein divergierendes Asyl- oder Visumsrecht. Derartige Diskrepanzen in den Rechtsordnungen der Schengener Vertrags staaten können in der Praxis ohne Grenzkontrollen kaum noch vollzogen werden. Damit kommt dem "Schengen lI-Übereinkommen" im Vergleich mit INTERPOL insofern eine deutlich andere Qualität zu, als Schengen I und 11 auf eine Europäisierung des Polizeirechts hinführen96 und damit eine Stufe zu einem neuen europäischen Polizeirecht für einen neuen europäischen Staat darstellen. Das "Schengen lI-Übereinkommen" stellt aber nicht nur für die polizeiliche Kooperation insgesamt, sondern insbesondere auch für den Informationsaustausch eine neue Stufe dar. Während die Vorläufer die polizeiliche Zusammenarbeit eher auf Einzelfälle beschränkten, begründet das Schengener Informationssystem (SIS) einen regelmäßigen Informationsaustausch97. Ungeachtet dessen bleibt aber im "Schengen lI-Übereinkommen" ebenso wie bei INTERPOL die mit dem deutschen (Verfassungs-)Recht im Verständnis einer verbreiteten Meinung konfligierende Differenzierung zwischen dem Vorhandensein einer Information und deren Verwertung zu konstatieren 98. Darüber hinaus werden Demokratiedefizite, Legitimationsprobleme und allgemein verfassungsrechtliche Defizite geltend gemacht99 •
95 Vgl. dazu R. Wehner, in: AchermannJBieberlEpineylWehner, Schengen und die Folgen, 1995, S. 129 ff., 150 ff. 96 Erreicht ist diese Harmonisierung und Europäisierung des Polizeirechts bislang noch nicht, vgl. z. B. T. Kattau, Strafverfolgung nach Wegfall der europäischen Grenzkontrollen, 1993, S. 99. 97 SimitislFuckner, in: RupprechtlHellenthal, Innere Sicherheit im Europäischen Binnenmarkt, 1992, S. 337 ff., 342 ff. 98 Dies kommt zum Ausdruck, wenn SimitislFuckner, in: RupprechtlHellenthal, Innere Sicherheit im Europäischen Binnenmarkt, 1992, S. 337 ff., 340 f. betonen, es gehe beim Datenschutz um die Grenzen des Gebrauchs; der Mißbrauch sei nur ein, wenn auch nicht unwichtiger, Teilaspekt des Datenschutzes. 99 Zum Befund einer Diskrepanz zwischen deutschem Verfassungsrecht und dem "Schengen lI-Übereinkommen", insbesondere den das Schengener Informationssystem (SIS) betreffenden Datenschutzregeln ähnlich T. Kattau, Strafverfolgung nach Wegfall der europäischen Grenzkontrollen, 1993, S. 135 ff., 155 ff.
§ 3 Der Weg zu EUROPOL
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C.EUROPOL Mit der Errichtung eines Europäischen Kriminalamtes (EKA oder EUROPOL) sollen die vordem vereinzelten und heterogenen Maßnahmen zur Schaffung eines europäischen Polizeirechts und einer einheitlichen europäischen Polizeiorganisation koordiniert und vorangetrieben werden. EUROPOL soll im Gegensatz zu INTERPOL eine hinreichende Unterstützung der Mitgliedstaaten erhalten. Anders als das Schengener Informationssystem (SIS)IOO soll EUROPOL nicht nur - ,,harte" Informationen über getroffene Gerichts- oder Verwaltungsentscheidungen, sondern - "weiche" - Daten, die für die Durchführung noch nicht abgeschlossener Ermittlungen benötigt werden IOl, enthalten. Schengen I und Schengen 11 können als "Laboratorium"I02 und "weiterer Meilenstein"I03 für EUROPOL dienen.
I. Historische Entwicklung von EUROPOLIEDU
Historisch I04 beginnt die Entwicklung von EUROPOL mit einem Vorschlag von Bundeskanzler Helmut Kohl auf der Tagung des Europäischen Rates am 28./29. 6. 1991, ein zentrales europäisches kriminalpolizeiliches Nachrichtenamt (EUROPOL) einzurichten. Der Europäische Rat nahm diesen und ähnliche Vorschläge zur Kenntnis, einigte sich über die zugrundeliegenden Ziele und erteilte die Weisung, sie weiter zu prüfen. Am 4. 12. 1991 legten die TREVI-Minister dem Europäischen Rat einen Bericht über den Aufbau von EUROPOL vor, demzufolge EUROPOL errichtet werden sollte. Dabei sollte mit einer Europäischen Drogennachrichteneinheit (EDU) begonnen werden, die später weiter ausgebaut wird. 100 Das Schengener Infonnationssystem (SIS) ist kein "Infonnationspool" (S. M. Scheller, JZ 1992,904 [905]). 101 U. Wemer, CR 1997,34 (36f.); J. Storbeck, Kriminalistik 1994,201 (202). Art. 10 des noch zu ratifizierenden "Europol-Übereinkommens" (vgl. dazu sogleich noch unten im Text sub 1.) sieht Arbeitsdateien zu Analysezwecken mit "weichen" Daten vor. 102 Zu diesem Ausdruck und zum Verhältnis von Schengen I und 11 zu EUROPOL kritisch R. Bieber, NJW 1994, 294 (297) sowie H. C. Taschner, Schengen oder die Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen der EG, 1990, S. 18 ff. 103 R. Pitschas, ZRP 1993,174 (175). 104 Ein Überblick über die Entwicklung von EUROPOL findet sich z. B. bei U. Di Fabio, DÖV 1997,89 (96f.); R. Mokros, in: LiskenlDenninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Auf!. 1996, N Rdnm. 136ff.; W. Bruggeman, in: P.-C. Müller-Graff (Hrsg.), Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, 1996, S. 133ff., 135ff.; J. Storbeck, in: K. Hailbronner (Hrsg.), Zusammenarbeit der Polizei- und Justizverwaltungen in Europa, 1996, S. 81 ff., 83ff.; M. Schreiber, in: BaduralScholz (Hrsg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens. Festschrift für Peter Lllrche zum 65. Geburtstag, 1993, S. 529 ff., 539 ff.; E. Bleibtreu, Der Kriminalist 1993, 322.
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
Diesem Vorschlag stimmte der Europäische Rat auf seiner Tagung am 9./10. 12. 1991 in Maastricht zu: Der Vertrag von Maastricht vom 9./10. 12. 1991 weist in Art. K.1 die Bereiche Justiz und Inneres als Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse der Europäischen Union aus. Im einzelnen werden in Art. K.l die Vorschriften über das Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten durch Personen und die Ausübung der entsprechenden Kontrollen (Ziff. 2), die Bekämpfung der Drogenabhängigkeit (Ziff. 7), die Zusammenarbeit im Zollwesen (Ziff. 8) und die polizeiliche Zusammenarbeit zur Verhütung und Bekämpfung des Terrorismus, des illegalen Drogenhandels und sonstiger schwerwiegender Formen der internationalen Kriminalität, erforderlichenfalls in Verbindung mit dem Aufbau eines unionsweiten Systems zum Austausch von Informationen im Rahmen eines Europäischen Polizeiamts (Europol - Ziff. 9) genannt. In der Schlußakte zum Maastrichter Vertrag werden die Modalitäten der polizeilichen Zusammenarbeit durch die Umschreibung einzelner Aufgaben auf dem Gebiet des Informations- und Erfahrungsaustausches näher konkretisiert. Vorgesehen sind die Unterstützung der einzelstaatlichen Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden, insbesondere bei der Koordinierung von Ermittlungen und Fahndungen, dem Aufbau von Informationsdateien, der zentralen Bewertung und Auswertung von Informationen zur Herstellung von Lagebildern und zur Gewinnung von Ermittlungsansätzen, der Sammlung und Auswertung einzelstaatlicher Präventionskonzepte zur Weitergabe an die Mitgliedstaaten und zur Ausarbeitung gesamteuropäischer Präventionsstrategien sowie Maßnahmen im Bereich der beruflichen Fortbildung, der Forschung, der Kriminaltechnik und des Erkennungsdienstes. Am 1. 9. 1992 nahm der aus teilweise bis zu 30 Mitarbeitern bestehende Aufbaustab in Straßburg seine Arbeit auf; damit begann die Aufbau- und Testphase für EUROPOL 105. Am 2. 6. 1993 wurde in Kopenhagen die Ministervereinbarung über die Einrichtung der Europol-Drogeneinheit (EDU) unterzeichnet, am 29. 10. 1993 einigte sich der Europäische Rat auf einem Sondergipfel auf den Standort Den Haag 106, so daß die Ministervereinbarung - wie in ihr festgelegt - einen Tag später, am 30. 10. 1993, in Kraft trat. Damit begann die noch andauernde vorkonventionelle Phase von EUROPOL I07 • Vorkonventionell ist diese Phase insofern, als nach international übereinstimmender Ansicht lO8 für EUROPOL eine Konvention - Staatsvertrag - erforderlich ist. Das diesbezügliche "Übereinkommen aufgrund von Art. K.3 des Vertrages über die Europäische Union über die Errichtung eines Europäischen Polizeiamtes (EuJ. Storbeck, Kriminalistik 1994, 201. Zu den Problemen bei der Standortfrage E. Bleibtreu, Der Kriminalist 1993,322 (324). 107 Zu Regelungsdefiziten in der vorkonventionellen Phase siehe insbesondere J. Storbeck, in: K. Hailbronner (Hrsg.), Zusammenarbeit der Polizei- und Justizverwaltungen in Europa, 1996, S. 81 ff., 86 ff. 108 J. Storbeck, Kriminalistik 1994, 201. 105
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§ 3 Der Weg zu EUROPOL
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ropol-Übereinkommen),,!09 ist bislang noch nicht ratifiziert llO . Wegen der außerordentlichen Dringlichkeit wurde EUROPOL aber bereits im Vorgriff auf die noch fehlende Konvention im Wege intergouvemementaler Zusammenarbeit in Kraft gesetzt l1l . Die Aufnahme einer völkerrechtlichen Regelung in den EUV, um EUROPOL als Institution der Gemeinschaft zu begründen, wurde abgelehnt 112 . Im ersten Teil der vorkonventionellen Phase, der Start-up-Phase, die sich durch ein reduziertes Organisationsmodell auszeichnet, zog der Aufbaustab am 29. 12. 1993 nach Den Haag um. Am 16. 2. 1994 begann mit der offiziellen Arbeitsaufnahme von EUROPOLIEDU in Den Haag der zweite Teil der vorkonventionellen Phase von EUROPOL, die provisorische Phase. Der Rat der Justiz- und Innenminister ernannte am 24./25. 6. 1994 den Abteilungspräsidenten des Bundeskriminalamts zum Koordinator von EUROPOL. 11. Aufgaben von EUROPOLIEDU
In der vorkonventionellen Phase ist EUROPOLIEDU ein nichteinsatzbezogener Arbeitsstab, dessen Ziel es ist, konkrete kriminalpolizeiliche Ermittlungen nur zu fördern. Aufgabe der EUROPOL-Drogeneinheit ist nach der Ministervereinbarung vom 2. 6. 1993 der Austausch und die Analyse von Informationen - auch personenbezogener Daten - über den illegalen Drogenhandel sowie die daran beteiligten kriminellen Vereinigungen und die damit verbundenen Geldwäschehandlungen, sofern zwei oder mehr Mitgliedstaaten betroffen sind. Mit Beschluß des Rates der Justiz- und Innenminister vom 9./10. 12. 1994 wurde der Aufgabenbereich von EUROPOLIEDU über den illegalen Drogenhandel hinaus auf den illegalen Handel mit radioaktiven und nuklearen Materialien, die Schleuserkriminalität und die Kraftfahrzeugverschiebung ausgedehnt. EUROPOLIEDU hat daher nach dem derzeitigen Stand keine eigenen Exekutivbefugnisse 113. Auch die Schaffung einer gemeinsamen Datenbank zur Erfassung 109 Übereinkommen aufgrund von Art. K.3 des Vertrages über die Europäische Union über die Errichtung eines Europäischen Polizeiamtes (Europol-Übereinkommen) ABI. EG vom 27. 11. 1995, Nr. C 316/1. - VgI. zu dessen Zustandekommen R. Mokros, in: LiskenlDenninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Aufl. 1996, N Rdnm. 145 ff. sowie W. Bruggeman, in: P.-C. Müller-Graff (Hrsg.), Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, 1996, S. 133 ff., 140 f. 110 Zu Europol nach der Konvention vgI. namentlich J. Storbeck, in: K. Hailbronner (Hrsg.), Zusammenarbeit der Polizei- und Justizverwaltungen in Europa, 1996, S. 81 ff., 88 ff. sowie zum Stand der Arbeiten an der EUROPOL-Konvention G. Krause, in: R. Pitschas (Hrsg.), Politik und Recht der inneren Sicherheit in Mittel- und Osteuropa, 1996, S. 59 ff. 111 E. Bleibtreu, Der Kriminalist 1993, 322. 112 J. Storbeck, Kriminalistik 1994, 201. 113 U. Werner, CR 1997,34 (35f.); K. ScheIter, in: K. Hailbronner (Hrsg.), Zusammenarbeit der Polizei- und Justizverwaltungen in Europa, 1996, S. 3 ff., 6.
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
personenbezogener Daten ist vor dem Abschluß eines Staatsvertrags unzulässig. EUROPOLIEDU arbeitet daher derzeit so, daß jeder Staat einen Verbindungsbeamten entsendet, der Zugang zu den nationalen Informationssystemen seines Landes hat. Gestützt wird diese Funktionsweise von EUROPOLIEDU auf die Ministervereinbarung vom 2. 6. 1993. Durch eine sog. Joint Action vom 10. 3. 1995 wird die in dieser Ministervereinbarung enthaltene Zusammenarbeit auf die Bekämpfung der Nuklearkriminalität, die illegale organisierte Einwanderung, die Verschiebung gestohlener Fahrzeuge sowie eine damit verbundene Geldwäsche und darin verwickelte kriminelle Organisationen ausgedehnt 1l4 . Personenbezogene Informationen werden allein durch den Austausch unter den Verbindungsbeamten, die ausschließlich auf der Grundlage ihrer jeweiligen nationalen Vorschriften handeln, übermittelt 115 . Die Vorteile von EUROPOLIEDU beschränken sich auf Kostenersparnis und Effektivitätssteigerung. Als europäisches Kriminalamt ohne Exekutivkompetenzen steht EUROPOLIEDU damit in einer Reihe mit weiteren Vorschlägen für gemeinsame Einrichtungen ohne Exekutivkompetenzen wie insbesondere ein europäisches polizeiliches Lagezentrum, ein europäisches Amt für Polizei- und Kriminaltechnik, ein europäisches Polizeibeschaffungsamt oder eine europäische Polizeiführungsakademie 116. Eine entscheidende Änderung und neue Qualität der Polizeien in Europa ist erst mit der Ratifizierung der Europol-Konvention zu erwarten. Erst diese sieht die Errichtung eines gemeinsamen Informationsbestandes vor (Art. 6). Die Zuordnung der Informationen an den jeweiligen Mitgliedstaat bleibt nur noch insofern erhalten, als dieser die Änderungen koordiniert (Art. 8 11). Für die Datenverarbeitung sind nach dem "Europol-Übereinkommen" mit der EUROPOL-Zentrale (Art. 3) und der jeweiligen nationalen Zentralstelle (Art. 4) nur zwei Institutionen vorgesehen. Dies führt zu erheblichen Bedenken im Hinblick auf den föderativen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland, zumal Art. 4 III des "Europol-Übereinkommens" verlangt, daß die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen treffen, um den Zugang der nationalen ZentralstelIen zu den entsprechenden nationalen Dateien zu gewährleisten, und Art. 4 IV Ziff. 1 - 3 "Europol-Übereinkommen" umfassende diesbezügliche Informationspflichten unabhängig vom nationalen Recht begründen will. Das nationale Recht soll gemäß Art. 4 IV Ziff. 4 "Europol-ÜbereinkomJ. Storbeck, Aus Politik und Zeitgeschichte B 23/95, S. 20 ff., 24. Zum hieraus resultierenden Erfordernis eines interkulturellen Personalmanagements vgl. R. Pitschas, in: ders. (Hrsg.), Politik und Recht der inneren Sicherheit in Mittel- und Osteuropa, 1996, S. 1 ff., 6, 25 ff. 116 R. Pitschas, in: ders. (Hrsg.), Politik und Recht der inneren Sicherheit in Mittel- und Osteuropa, 1996, S. 1 ff., 7f.; RupprechtlHellenthal, in: dies., Innere Sicherheit im Europäischen Binnenmarkt, 1992, S. 23 ff., 248 ff. Zur Mitteleuropäischen Polizeiakademie vgl. G. Bögl, in: R. Pitschas (Hrsg.), Politik und Recht der inneren Sicherheit in Mittel- und Osteuropa, 1996, S. 391 ff. sowie zur interkulturellen Vermittlungsfunktion der deutschen Polizeiführungsakademie R. Schulte, ebenda, S. 405 ff. 114
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§ 3 Der Weg zu EUROPOL
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men" nur die Informationsweitergabe von der nationalen Zentral stelle an die zuständigen Behörden regeln. Der in Art. 4 11 2 "Europol-Übereinkommen" vorgesehene Vorrang für das nationale Recht wird mithin mindestens deutlich relativiert. Eine derartige Ausgestaltung von EUROPOL muß entweder nachhaltigen rechtlichen Bedenken begegnen 11 7 oder als weiterer Schritt für eine neue - an anderer Stelle bereits angesprochene 11 8 - "dritte Ebene" im Bundesstaat verstanden werden. Das Bundeskriminalamt mutiert hier wiederum vom Bundesorgan zum Organ der Gemeinschaft aus Bund und Ländern. Darüber hinaus sieht das Übereinkommen für EUROPOL auch einen eigenen Rechtsstatus und eine eigene Organisation vor (Art. 26 ff.). Organe von EUROPOL sollen danach der Direktor, der Verwaltungsrat, der Finanzkontrolleur und der Haushaltsausschuß sein. Nachhaltig umstritten ist noch der gegen Maßnahmen von EUROPOL zu eröffnende Rechtsweg. Namentlich Großbritannien widersetzt sich vehement einer Zuständigkeit des EuGH 1I9. Die teilweise gegen EUROPOL vorgebrachten, namentlich verfassungsrechtlichen Bedenken im Hinblick auf die Stellung dieser europäischen Polizei, ihrer Steuerung und Kontrolle und deren Vereinbarkeit mit dem Demokratieprinzip 120 werden allenfalls dann virulent, wenn die Europol-Konvention ratifiziert ist. IH. Voraussetzungen r1ir das Tätigwerden von EUROPOLIEDU
Das Subsidiaritätsprinzip (Art. 3b EUV) läßt eine Tätigkeit von EUROPOLI EDU nur zu, wenn das Ziel von Maßnahmen nicht oder nicht in gleicher Weise auf der Ebene der Mitgliedstaaten selbst erreicht werden kann. Darüber hinaus müssen Ermittlungen in zwei oder mehr Mitgliedstaaten erforderlich sein. Grundprinzip ist, daß die Tätigkeit von EUROPOLIEDU einen "Mehrwert" gegenüber der Tätigkeit von nationalen Polizeien bewirken muß. Die EUROPOLIEDU-Relevanz eines Sachverhalts ergibt sich namentlich aus der Struktur und den Vorgehensweisen von Tätergruppen, den Täterprofilen, der Art und Weise der Tatbegehung, der Häufigkeit und Dichte von Auslandsbeziehungen, dem Gewicht von Ermittlungsbeiträgen aus dem Ausland im Zusammenhang mit dem eigenen Verfahren, der Menge des sichergestellten oder gehandelten Rauschgifts und dem Kapitaleinsatz auf der Täterseite. Dabei ist nicht das Vorliegen einzelner Kriterien, sondern die Gesamtwürdigung entscheidend. So bei U. Wemer, CR 1997, 34 (36). Vgl. dazu oben im Text sub § 1. C. 11. 2. a. 119 Vgl. dazu U. Di Fabio, DÖV 1997, 89 (99); R. Pitschas, in: ders. (Hrsg.), Politik und Recht der inneren Sicherheit in Mittel- und Osteuropa, 1996, S. 1 ff., 7; H. Nicolaus, NVwZ 1996,40 (42); R. Mokros, in: LiskenlDenninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Aufl. 1996, N Rdnm. 149f. 120 Vgl. dazu z. B. K. Waechter, ZRP 1996, 167ff. - R. Schütz, AöR 120 (1995), 509ff. thematisierte diese Problematik bereits im Hinblick auf das "Schengen lI-Übereinkommen". 117
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
IV. Resümee
In der vorkonventionellen Phase kommt EUROPOL im Vergleich mit INTERPOL und den Schengener Abkommen keine grundlegend andere Bedeutung zu. EUROPOL schafft in dieser Phase ebensowenig wie INTERPOL oder das SIS einen gemeinsamen Datenbestand. Die Einräumung eigener Exekutivbefugnisse für EUROPOL wird allenfalls als zukünf~ge Entwicklung diskutiert. Bedenken bestehen allenfalls insofern, als aus deutscher Perspektive schon das Sammeln und Vorhalten von Informationen als Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bewertet und den Anforderungen des "Volkszählungs"Urteils unterworfen wird. Selbst wenn man die gravierenden Forderungen der in Deutschland herrschenden Meinung teilen wollte, ergeben sich im Hinblick auf die derzeitige Realisierung von EUROPOL keine durchgreifenden Bedenken. Die Grundsatzentscheidung über die Einrichtung von EUROPOL ergibt sich schon aus Art. K.3 Ziff. 9 EUV. Eine gemeinsame Datenbank darf EUROPOL im Hinblick auf Art. K.3 11 lit. c) EUV frühestens dann einrichten, wenn zuvor das derzeit nur im Entwurf vorliegende Übereinkommen ratifiziert ist.
D. Die Europäisierung der Polizei Fortschritte und Defizite - Zusammenfassung Zusammenfassend sind im Hinblick auf die Europäisierung der Polizei insgesamt sowie bzgl. der Ausdifferenzierung eines europaweiten polizeilichen Informationsrechts im besonderen sowohl Fortschritte als auch Defizite erkennbar.
I. Die Europäisierung der Polizei allgemein
Die Entwicklung einer europäischen Polizei weist zahlreiche Mängel auf121 : Zu nennen sind hierbei insbesondere die fehlende Systematik der zahlreichen bi- und multilateralen Kooperationen - insbesondere INTERPOL, Schengener Informationssystem (SIS), Zollinformationssystem (ZIS)122 und das Balkanrouteninformationssystem -, aus der Überschneidungen ebenso wie Lücken resultieren 123. Viele Vereinbarungen verpflichten die Vertrags partner nicht oder enthalten Vorbehalte zu 121 RupprechtlHellenthal, in: dies., Innere Sicherheit im Europäischen Binnenmarkt, 1992, S. 23 ff., 177 ff. 122 Vgl. allgemein zum Schutz der Union durch Zusammenarbeit im Polizeiwesen U. Wewel, in: P.-C. Müller-Graff (Hrsg.), Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, 1996, S. 117 ff. 123 Kritisch dazu E. Bleibtreu, Der Kriminalist 1993, 322 (326).
§ 3 Der Weg zu EURO POL
167
Gunsten des nationalen Rechts. Diejenigen Vereinbarungen, die Verpflichtungen enthalten, muten mitunter so an, als sollten sie innerstaatliche Kontroversen durch eine "Höherzonung" lösen 124. Andere Regelungen treffen zwar eine definitve Entscheidung, stellen aber praxisfremde Kompromisse dar. Dies gilt namentlich für die Möglichkeiten zur grenzüberschreitenden Observation, Nacheile und Fahndung. Die direkte Zusammenarbeit zwischen den Polizeidienststellen unterschiedlicher Länder ist unzureichend rechtlich geregelt. Dies ist sowohl im Hinblick auf die unterschiedliche technische Ausstattung als auch bezogen auf die inhaltliche Zusammenarbeit zu konstatieren. Vielfach ist nur eine mittelbare Kommunikation über nationale Zentralstellen vorgesehen oder die Zusammenarbeit sachlich eingeschränkt. Gemeinsame Informationsbestände existieren nicht, da der vorhandene "Grund-Datenbestand" durch jedes Land modifiziert werden kann. Schließlich ist zu beklagen, daß eine homogene gemeinsame Organisation für die Zusammenarbeit jedenfalls noch fehlt und stattdessen heterogene, organisatorisch unzureichend verfestigte und sich in ihrem Aufgabengebiet überschneidende, eher lose Organisationen bestehen. Die Elemente eines Programms der Inneren Sicherheit in Europa (EGIS) - Optimierung und Intensivierung der Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden insbesondere im Binnengrenzbereich, Fahndungsunion, Verbesserung der Zusammenarbeit der lustizbehörden, Kontrolle und Überwachung der Außengrenzen, Harmonisierung der Ausländer- und Kriminalpolitik, Angleichung der Sicherheitsstandards 125 - sind daher erst in Ansätzen verwirklicht. Mit R. Pitschas wird man von "Umrissen eines sich ausprägenden Europäischen Polizeirechts,,126 sprechen dürfen. 11. Die Entwicklung eines europäischen Infonnationsrechts
Ein Rückblick auf die Ausdifferenzierung eines europäischen Informationsrechts bestätigt die schon bei der Bewertung von INTERPOL 127 kritisierte extreme Position des deutschen Datenschutzrechts, das das Vorhandensein und Speichern von Informationen einerseits und deren Nutzung und Verwertung andererseits gleichsetzen will. Zwar wird auch auf europäischer Ebene ebenso wie nach dem deutschen Grundgesetz ein Spannungsverhältnis zwischen dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung einerseits und dem Recht auf Sicherheit andererseits erkennbar 128• Dies gilt umso mehr, als nicht nur das Grundgesetz, sondern auch die R. Bieber, NJW 1994,294 (296). Siehe dazu die Aufzählung und die Ausführungen bei RupprechtJHelJenthal, in: dies., Innere Sicherheit im Europäischen Binnenmarkt, 1992, S. 23 ff., 196 ff. 126 R. Pitschas, ZRP 1993,174. 127 Vgl. dazu oben im Text sub § 3. A. VI. 128 V gl. dazu R. Pitschas, PFA 4/92, S. 29 ff., 31 ff. zum europäischen Verfassungs- und Rechtsstaat insbesondere in der Rechtsprechung des EuGH. 124 125
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
Verfassungen anderer Länder den Datenschutz garantieren. Dabei kann zwischen Ländern, deren Verfassungen den Datenschutz explizit gewährleisten, solchen, in denen der Datenschutz einen Teil des Rechts auf Privatsphäre darstellt, und Verfassungen, in denen der Datenschutz ein Teil anderer Menschenrechte ist, unterschieden werden 129. Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten weisen dabei der Datenschutzgarantie allerdings jeweils einen sehr verschiedenartigen Rang zu und gewähren einen sehr unterschiedlichen Rechtsschutz 130. Diese in den einzelnen EGMitgliedstaaten bestehenden verfassungsrechtlichen Datenschutzgarantien sind auch einfachrechtlich umgesetzt und gewährleisten insgesamt ein jeweils unterschiedliches, aber durchgehend hohes Datenschutzniveau 131. Obwohl mithin der Datenschutz auch in den anderen Ländern gewährleistet ist, ist damit noch nicht gesagt, daß die konträren Positionen - das "Grundrecht auf Sicherheit" einerseits und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung andererseits - ebenso wie von der h.M. in Deutschland einseitig und unreflektiert zu Lasten des Rechts auf Sicherheit aufgelöst werden müssen. Diese deutsche Position ist mit den Rahmenbedingungen eines Programms für die Innere Sicherheit in Europa (EGIS) unvereinbar. Ein derartiges Programm muß für die Heterogenität der europäischen Staaten, vor allem die Verschiedenheit des Rechts 132, der Wertordnung, Kultur, Tradition und der politischen Bindungen 133 offen sein 134 . Im Hinblick auf ein - schon von R. Pitschas 135 gefordertes - europäisches Informationsrecht müssen gemeinsame Voraussetzungen für den erforderlichen Datenaustausch festgelegt werden l36 . Hierfür muß ein gemeinsames Datenschutz-Niveau der Mitgliedstaaten gefunden werden, das mit dem höchsten Datenschutzstandard eines Mitglieds identisch sein kann, aber nicht muß. Datenschutz steht - wie sich noch zeigen wird 137 - im Spannungsverhältnis zwischen dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung des einzelnen und der Sicherheit des Staates und damit aller. Ob ein Höchstmaß an Datenschutz zugleich einen optimaVgl. dazu 1. E. Vassilaki, CR 1995, 412 ff. Vgl. dazu die Zusammenstellung und Bewertung bei C. O. Dressei, Die gemeinschaftsrechtliche Harmonisierung des Europäischen Datenschutzrechts, 1995, S. 170 ff., 204 ff. l3l Siehe hierzu C. O. Dressei, Die gemeinschaftsrechtliche Harmonisierung des Europäischen Datenschutzrechts, 1995, S. 41 ff., 145 ff. 132 Auf den unterschiedlichen Standard der nationalen Datenschutzrechte weist z. B. E. Bleibtreu, Der Kriminalist 1993, 322 (324) hin. Vgl. dazu nur die rechtsvergleichende Zusammenstellung bei R. Riegel, CR 1987, 311 ff./446 ff./614 ff. 133 Das unterschiedliche polizeiliche Selbstverständnis in den einzelnen Ländern Europas zeigen die Beiträge in MorielMurckJSchulte (Hrsg.), Auf dem Weg zu einer europäischen Polizei, 1992, S. 192 ff. 134 RupprechtlHellenthal, in: dies., Innere Sicherheit im Europäischen Binnenmarkt, 1992, S. 23 ff., 185 ff. 135 R. Pitschas, PFA 4/92, S. 29 ff., 40. 136 RupprechtlHellenthal, in: dies., Innere Sicherheit im Europäischen Binnenmarkt, 1992, S. 23 ff., 191 ff. 137 V gl. dazu aus juristischer Perspektive noch ausführlich unten im Text im 3. Teil. 129 130
§ 3 Der Weg zu EURO POL
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len Ausgleich dieser konträren Positionen darstellt, ist mindestens zweifelhaft 138. Eine europaweite Angleichung des Datenschutzrechts muß die Richtigkeit übermittelter Daten, die Rechtmäßigkeit der Übermittlung, die institutionelle Nutzungs- und Zweckbindung, die Dokumentation des Datenabrufs sowie Auskunftsund Schadenersatzansprüche berücksichtigen 139. In der Rechtsprechung des EuGH sind allenfalls erste Ansätze für die Ausdifferenzierung eines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung auf europäischer Ebene erkennbar l4o . Der Ausgleich zwischen dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung einerseits und den vielfältigen - namentlich wirtschaftlichen und sicherheitsrechtlichen - Belangen der Allgemeinheit, die einen freien Informationszugang erfordern, andererseits, obliegt jedoch auch weniger der Rechtsprechung, als vielmehr der Rechtsetzung. Die EG-Datenschutzrichtlinie l41 stellt einen ersten Schritt auf diesem Weg dar. Sie darf einerseits nicht unterschätzt werden, da sie den Beginn der Entwicklung eines einheitlichen Datenschutzrechts in der EU markiert. Andererseits erscheint auch eine Überbewertung gerade im hiesigen Kontext unangebracht. Zum einen bedarf die EG-Datenschutzrichtlinie nämlich noch der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten; die in Art. 32 EG-Datenschutzrichtlinie vorgesehene Dreijahresfrist läuft am 24. 10. 1998 ab. Der hieraus resultierende Bedarf zur Änderung nationaler Regelungen ist in den Mitgliedstaaten, namentlich auch in Deutschland vehement umstritten 142. Zum anderen erweist sich insbesondere die Datenübermittlung an Drittstaaten als nachhaltig problematisch 143. Darüber hinaus und für den hiesigen Bereich entscheidend ist aber, daß die EG-Datenschutzrichtlinie nach Art. 3 11 138 Der Forderung von RupprechtlHellenthal, in: dies., Innere Sicherheit im Europäischen Binnenmarkt, 1992, S. 23 ff., 227, der auf europäischer Ebene zu entwickelnde Datenschutz sollte grundSätzlich dem höchsten nationalen Datenschutzstandard entsprechen, kann daher nicht ohne weiteres und von vorne herein gefolgt werden, auch wenn diese Prämisse einen Datenaustausch - theoretisch (!) - erleichtern würde. Praktisch und politisch wird eine Verständigung hierauf schwer erreichbar sein. 139 RupprechtlHellenthal, in: dies., Innere Sicherheit im Europäischen Binnenmarkt, 1992, S. 23 ff., 227f. 140 Vgl. dazu die Entscheidungsanalyse bei C. O. Dressei, Die gemeinschaftsrechtliche Harmonisierung des Europäischen Datenschutzrechts, 1995, S. 207 ff., der allerdings zu einer optimistischeren Einschätzung kommt. 141 Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr vom 24. 10.1995 (ABI. v. 23. 11. 1995, Nr. L 281, S. 31 ff.), abgedruckt z. B. auch in EuZW 1996, 557 ff. - Ausführlich dazu C. O. Dressei, Die gemeinschaftsrechtliche Harmonisierung des Europäischen Datenschutzrechts, 1995, S. 219ff. - Zur Entstehung und zu den Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage vgl. M. Weber, CR 1995, 297 ff., I. Geis, CR 1995, 171 ff., R. Riegel, DÖV 1991,311 ff. 142 Vgl. aus jüngerer Zeit S. Simitis, NJW 1997, 281 ff.; H.-H. Schild, EuZW 1996, 549ff.; A. Wiebe, CR 1996, 640ff.; BrühannlZerdick, CR 1996, 556ff.; dies., CR 1996, 429ff. 143 R. Ellger, RabelsZ 60 (1996), 738 ff.; ders./Geis, CR 1996, 574 ff.
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1. Teil: Polizeiliche Gefahrenvorsorge - Bestandsaufnahme
Spiegelstrich I keine Anwendung findet "auf die Verarbeitung personen bezogener Daten, die für die Ausübung von Tatigkeiten erfolgt, die nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen, beispielsweise Tatigkeiten gemäß den Titeln V und VI des Vertrags über die Europäische Union und auf keinen Fall auf Verarbeitungen betreffend die öffentliche Sicherheit, die Landesverteidigung, die Sicherheit des Staates (... ) und die Tatigkeiten des Staates im strafrechtlichen Bereich".
Zweiter Teil
Polizeiliche Gefahrenvorsorge und umfassende Risikosteuerung multidisziplinäre Grundlegung Eine weitere und nähere Untersuchung der Gefahrenvorsorge erscheint auf der Ebene des einfachen Rechts wenig aussichtsreich. Die zahlreichen, bereits angedeuteten Einordnungsversuche der Gefahrenvorsorge und die Abhängigkeit des einfachen Rechts vom höherrangigen Verfassungsrecht lassen unter diesem Horizont zunächst keine weiteren Erkenntnisse erwarten. Vielmehr ist das Recht allgemein und auch das Verfassungsrecht seinerseits im gesellschaftlichen Kontext zu sehen. Dies gilt umso mehr, als das Recht als "Kondensat"! gesellschaftlicher Entwicklungen erscheint. Im (einfachen und Verfassungs-)Recht bilden sich die dem Recht vorgelagerten und durch das Recht umzusetzenden staatstheoretischen, kulturellen, philosophischen, soziologischen, technischen - kurz: allgemeinwissenschaftlichen - Vorgaben ab 2 . Eine sachgerechte Würdigung des kodifizierten Rechts, seine Interpretation und Fortentwicklung setzen deshalb die Klärung eben dieser Vorgaben voraus 3 .
Der damit angestrebte Rekurs auf interdisziplinäre Aspekte wird überdies auch aus dem Blickwinkel einer zu entwickelnden allgemeinen Infonnationsordnung ! Zum Zusammenhang zwischen Recht und Gesellschaft sowie zu den Auswirkungen der Kultur auf das Recht vgl.aus soziologischer Perspektive N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993 sowie aus juristischem Blickwinkel allgemein im Hinblick auf das Allgemeine Verwaltungsrecht R. Pitschas, in: Hoffmann-RiemlSchmidt-AßmannlSchuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 219 ff., 250 ff. sowie speziell für die polizeilichelnformationsvorsorge R. Pitschas, JZ 1993, 857 (insb. 866). 2 Dies schon deshalb, weil das Recht ebenso wie Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Kunst etc. ein Teilsystem des Gesellschaftssystems darstellt und schon T. Parsons in seinem (nach den Anfangsbuchstaben in der englischen Sprache benannten) sog. AGIL-Schema in jeder konkreten Handlungseinheit ebenso wie in jeder Form sozialer Ordnung das Ergebnis des Zusammenspiels von kulturellen, sozialen und persönlichen Faktoren sieht. Siehe hierzu z. B. N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 33 f. sowie unten im Text sub § 8. C. 3 Speziell für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wurde dies bereits früher gefordert; vgl. dazu J. Aulehner, CR 1993,446 (447). - Zum Erfordernis einer interdisziplinären und ganzheitlichen Betrachtung der "Wissenschaftsgesellschaft" vgl. z. B. R. Kreibich, Die Wissenschaftsgesellschaft. Von Galilei zur High-Tech-Revolution, 1986, S. 356 ff.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
gefordert4 . Die Entstehung, Entwicklung und Gestaltung einer derartigen Informationsordnung darf nicht aufgespalten und auf einzelne gesellschaftliche Teilsysteme aufgeteilt werden. Sie stellt vielmehr eine erstrangige Forschungs- und Politikaufgabe dar, die Anstrengung und Zusammenwirken aller Wissenschaften der Natur-, Ingenieur-, Sozial- und Rechtswissenschaften ebenso wie der Philosophie, deren benachbarten Geisteswissenschaften sowie der Folgenforschungen in allen Disziplinen - erfordert5 . Unabhängig davon setzt eine nähere Erörterung des rechtlichen Rahmens der polizeilichen Informationsvorsorge jedenfalls eine Abgrenzung der sozialen Realität voraus 6 . Die Richtigkeit dieser Vorgehensweise wird sich im Verlauf der weiteren Betrachtungen insofern bestätigen, als sich zeigen wird, daß das Recht und die Rechtssprache die der polizeilichen Informationsvorsorge zugrunde liegenden Begriffe - z. B. Information, Kommunikation, Vorsorge etc. - bislang nur unzutreffend oder unvollständig erfassen7 • Die soeben aufgezeigte Methode versucht dabei u. a. zudem eine Antwort auf die als "noch kaum thematisiert" beklagte "Frage der Beziehung der juristischen Konstrukte und Modelle über den Menschen und seine Persönlichkeit und seine Persönlichkeitssphären, über Würde und Entfaltungsfreiheit, zu den Konstrukten und Modellen, die die empirisch arbeitenden Sozial- und Verhaltenswissenschaften über den Menschen und seine Persönlichkeit hervorgebracht haben"s, zu skizzieren.
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit Der Mensch hat keinen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit 9 . Jedes menschliche Gegenstandserleben beruht auf menschlicher Informationsverarbeitung. 4 Zur Forderung nach einer Informationsordnung vgl. schon ScholzlPitschas, InformationeIle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, S. 64 f.; Pitschasl Aulehner, NJW 1989, 2353 (2355); W. Zöllner, Informationsordnung und Recht, 1990; J. Aulehner, eR 1993,446 (448). 5 H. F. Spinner, Die Wissensordnung. 1994, S. 61, 65. 6 Vgl. dazu auch T.-A. Hubert, Das datenschutzrechtliche Presseprivileg im Spannungsfeld zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht, 1993, S. 46. 7 Ausführlich zum Verhältnis von Information und Recht J. N. Druey, Information als Gegenstand des Rechts, 1995, S. 3 ff., 47 ff., 113 ff., 217 ff., 313 ff., 437 ff. Zum Informationsbegriff z. B. ausdrücklich M. Albers, in: Haratsch/KugelmannlRepkewitz (Hrsg.), Herausforderungen an das Recht der Informationsgesellschaft, 1996, S. 113 ff., 121 ff.; W. Steinmüller, Informationstechnologie und Gesellschaft, 1993, S. 203 m. Fußn. 254. 8 L. Kruse, in: E.-J. Lampe (Hrsg.), Persönlichkeit, Familie, Eigentum. Grundrechte aus der Sicht der Sozial- und Verhaltenswissenschaften, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 12, 1987, S. 60 ff., 62. 9 Als "Wirklichkeit" wird dabei die - unseren Erkenntnis- und Lebensprozessen vorausgesetzte - Welt, mit der und in der die Menschen leben, bezeichnet; "Realität" meint demge-
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
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Diese Infonnationsverarbeitungsprozesse sind intersubjektiv kontrollierbar, vermitteln allgemein zugängliches Wissen und sind unabhängig von gesellschaftlichen Strukturen. Die hieraus resultierende Intersubjektivität garantiert damit den Gewißheitswert von Aussagen lO • Jenseits des kaum übersehbaren, hier allenfalls andeutbaren, insbesondere philosophischen und soziologischen Streits zwischen den Meinungssträngen des Realismus einerseits und des Idealismus andererseits benötigt jedes Individuum jedenfalls ein Abbild der Wirklichkeit, um die Vorstellung von seiner Position in der Welt kontrollieren und erforderlichenfalls ändern zu können. Der Grund hierfür liegt in der Vielfalt der in der Welt möglichen Ereignisse und Zustände. Dieser Komplexität der Welt steht eine sehr geringe, aus anthropologischen Gründen kaum veränderbare Fähigkeit der Menschen zu einer bewußten Erlebnisverarbeitung gegenüber l1 . Erforderlich ist daher eine Reduktion von Komplexität. Diese kann sowohl in repräsentativen als auch in konstruktiven Abbildern der Wirklichkeit erfolgen 12 • Dem Postulat der Reduktion von Komplexität werden neben dem Realismus und Idealismus insbesondere die konstruktivistische Erkenntnis- und die Kognitionstheorie gerecht. Die hieraus resultierende (mögliche) Divergenz von Wahrnehmung und Wirklichkeit behandeln die sog. Wahrheitstheorien. Die von den einzelnen Menschen erzeugten Weltmodelle sind freilich nicht notwendig deckungsgleich, zumal sie sich nicht auf eine absolute, sondern eine ebenfalls selbst erzeugte und daher relative Wirklichkeit beziehen. Es gibt daher eine Mehrzahl unterschiedlicher Aspekte der Welt. Das Weltbild der Gesellschaft wird dabei durch Kommunikation konstruiert. Hieraus ergibt sich die zentrale Bedeutung von Kommunikation und Infonnation sowohl für die Gesellschaft als auch für das Individuum. Kommunikation erweist sich bei dieser Gelegenheit nicht als Übertragung von Gedanken oder Infonnationen, sondern als das Mitteilen und Verstehen von Informationen. Wird Kommunikation, d. h. die Vermittlung von Infonnation verhindert, wird der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit gesperrt. Das - nie vollkommene - Weltbild wird insoweit - zusätzlich - fehlerhaft. Es ist deshalb zunächst ein ungehinderter "fluß" von Infonnationen anzustreben, um ein möglichst realitätsnahes Weltbild zu konstituieren. Die Errichtung von Kommunikations- und Infonnationsschranken führt zu keinem Weltmodell, sondern enthält bereits eine Bewertung. genüber die Welt, die die Menschen durch ihre Erkenntnisprozesse schaffen (vgl. hierzu z. B. M. F. PeschI, in: ders. [Hrsg.l, Formen des Konstruktivismus in Diskussion. 1991, S. 1 ff.6). 10 N. Luhmann, Vertrauen, 3. Aufl. 1989, S. 57. 11 N. Luhmann, in: ders., Soziologische Aufklärung 1,6. Aufl. 1991, S. 113 ff., 116 f. 12 Eine zusätzliche Form der Komplexitätsreduktion liegt in der Ausbildung unterschiedlicher gesellschaftlicher Teilsysteme. Diese operieren mit jeweils unterschiedlichen binären Codes, z. B. Wahrheit, Macht, Zahlung. Dies hat zur Folge, daß die Teilsysteme zum einen nicht aufeinander einwirken und ihre Funktionen nicht wechselseitig ersetzen können. Zum anderen können diese Teilsysteme keine umfassende Weltauffassung vermitteln.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
Im folgenden wird sich das Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrnehmung als paradigmatisch für jede weitere Erörterung der Grundlagen der polizeilichen Informationsvorsorge erweisen. Die unterschiedlichen Auffassungen über den Zugang des Menschen zur Wirklichkeit spiegeln sich im Konfl~kt um das Wesen der Kommunikation und Information ebenso wider wie in den Wahrheitstheorien. Dabei ist insbesondere zwischen Theorien, die eine einseitige Erkennbarkeit der Wirklichkeit durch den Menschen annehmen, und solchen, die Erkenntnis als interaktiven Vorgang beschreiben, zu differenzieren.
A. Die Konstitution der Realität als Problem Wirklichkeit wird von der Rechtswissenschaft zumeist als absoluter Zustand vorausgesetzt und nicht näher hinterfragt. Im Mittelpunkt der Jurisprudenz steht die Frage, ob die Wirklichkeit bzw. Teile von ihr unter bestimmte, vorgegebene Normen subsumiert werden kann. Die grundsätzlichere Problematik, was Wirklichkeit eigentlich ist, erörtern Juristen zumeist nur im Rahmen von Beweisverfahren. Diese stellen darauf ab, die Wahrheit konträrer Behauptungen der Parteien zu ermitteln. Dabei wird im allgemeinen und grundsätzlich unterstellt, daß die Wahrheit des Parteivortrags bzw. die Wirklichkeit ohne weiteres offen lägen, wenn das Gericht durch die räumliche und zeitliche Distanz zwischen Prozeß und Tathandlung nicht an einer unmittelbaren Wahrnehmung gehindert wäre. Wo dieser Abstand mangels jeglicher oder jedenfalls hinreichender Beweismittel nicht überwunden werden kann, schaffen Beweislastregeln einen der begehrten Entscheidung zu unterlegenden Sachverhalt. Die Beweislastregeln konstituieren in diesen Fällen die Wirklichkeit, soweit sie für den Prozeß von Bedeutung ist. Das Erfordernis einer Konstitution von Wirklichkeit beschränkt sich indessen weder auf Prozeßsituationen noch auf Konstellationen, in denen keine oder nur unzureichende Beweismittel zur Verfügung stehen. Richtig betrachtet wird Wirklichkeit permanent durch die Gesellschaft bzw. die Individuen konstituiert. Wirklichkeit erweist sich daher als das Ergebnis eines komplexen Konstitutionsprozesses 13 . Dessen nähere Betrachtung setzt insbesondere voraus, daß zwischen der Wirklichkeit als solcher, den Aussagen über sie und der Beziehung zwischen diesen beiden strikt unterschieden werden muß 14 . Die Wirklichkeit als solche ist für den Menschen nicht erkennbar. Die Meinung, es gäbe nur eine Wirklichkeit, erweist sich als Selbsttäuschung. Tatsächlich exi13 Vgl. z. B. KrizILücklHeidbrink, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, 2. Auf!. 1990, S.58. 14 Siehe wiederum z. B. KrizILücklHeidbrink, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, 2. Auf!. 1990, S. 60.
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
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stiert eine Vielzahl unterschiedlicher Realitätsauffassungen und -aspekte 15 . Wenn Menschen von Wirklichkeit sprechen, meinen sie ihre Realität. Diese ist aber bereits das Ergebnis eines Erkenntnisprozesses und wird durch die Interaktion zweier Systeme - dem Menschen als "erfahrendem" und einem "zu erfahrenden" - konstituiert. Realität ist daher immer an die Wechselwirkung eben dieser beiden Systeme gebunden. Dabei konstituieren unterschiedliche Lebewesen jeweils verschiedene Realitäten, zumal die erfahrene Wirklichkeit von den jeweiligen Rezeptoren des erfahrenden Systems abhängt. Dem Menschen ist es hierbei gelungen, seine angeborenen Rezeptoren durch weitere, künstliche zu ergänzen, die zunächst nicht wahrnehmbare Wirklichkeits aspekte in erfahrbare Impulse transformieren. Die von dem einzelnen Menschen wahrgenommene Wirklichkeit hängt dabei nicht nur von dessen biologischer Struktur und der Kultur, der der jeweilige Mensch zuzuordnen ist, ab 16 . Die Erfahrung der Wirklichkeit durch ein Individuum stellt darüber hinaus auch einen rein subjektabhängigen und individuellen Vorgang dar 17 •
B. Wirklichkeit und Wahrnehmung Die Beziehung zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung wird durch die Erkenntnistheorie thematisiert. Diese versucht zu klären, ob objektive Erkenntnis überhaupt möglich ist oder ob der Mensch in den Erkenntnisprozeß schon zahllose Voraussetzungen mit einbringt. Sie behandelt dazu das Verhältnis zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt und versucht dabei die Natur des erkennenden Subjekts, die Natur des erkannten Objekts und das Besondere der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt zu ergründen 18 . Innerhalb der vielfältigen Ansichten über das Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrnehmung sind insbesondere der Realismus 19 einerseits und der Idealismus an15 Vgl. dazu P. Watzlawick, Wie wirklich ist die Wirklichkeit?, 17. Aufl. 1989, S. 7 sowie die zahlreichen veranschaulichenden Beispiele im gesamten Buch. 16 Anschaulich zur kulturbedingten Wahrnehmung U. Koch, in: R. Pitschas (Hrsg.), Politik und Recht der inneren Sicherheit in Mittel- und Osteuropa, 1996, S. 323 ff., 328 ff. 17 J. Kriz, Methodenkritik empirischer Sozialforschung, 1981, S. 18 ff.; KrizILück/Heidbrink, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, 2. Aufl. 1990, S. 20 f. 18 Vgl. Z. B. G. Gabriel, Grundprobleme der Erkenntnistheorie, 1993, S. 21. - Im Gegensatz zur Erkenntnistheorie beschäftigt sich die Wissenschaftstheorie nicht allgemein mit den Vorbedingungen und Grundlagen der Erkenntnis, sondern beschränkt sich auf die Voraussetzungen der Erkenntnis in den Einzelwissenschaften. Die Wissenschaftstheorie klärt die Methoden, Grundsätze, Begriffe und Ziele der Einzelwissenschaften und unterzieht sie einer kritischen Prüfung. Erkenntnistheorie ist daher weder Wissenschaftstheorie noch Metaphysik; sie ist auch keine empirische Wissenschaft. Die Erkenntnistheorie hat vielmehr den Charakter einer Reflexionswissenschaft. - Zur Erkenntnistheorie vgl. G. Prauss, Einführung in die Erkenntnistheorie, 3. Aufl. 1993, S. 5 ff., 10 ff.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
dererseits als gegensätzliche Auffassungen sowie der neuerdings im Vordringen befindliche Konstruktivismus zu unterscheiden. Die neuere Verwendung der Begriffe Idealismus und Realismus fußt auf der Vernunftkritik von I. Kant. l. Kant differenziert zwischen dem "transcendentalen Idealism" und dem "transcendentalen Realism". Nach ersterem steht die raumzeitliche Erfahrungswelt in konstitutivem Bezug zu einem Bewußtsein; nach letzterem sind Raum und Zeit etwas an sich und unabhängig von der menschlichen Sinnlichkeit Gegebenes 2o • Der Konstruktivismus stellt insofern eine Fortsetzung des Idealismus dar, als er die Unzugänglichkeit der Außenwelt und das Eingeschlossensein des Erkennens behauptet. Im Gegensatz zum Idealismus, der auf der Überlegung basiert, wie Erkenntnis möglich ist, obwohl sie keinen von ihr unabhängigen Zugang zur Wirklichkeit hat, beruht insbesondere der radikale Konstruktivismus auf der These, Erkenntnis sei gerade deshalb möglich, weil es keinen Zugang zur Wirklichkeit außer ihr gäbe. Die folgende notwendigerweise vergröbernde Betrachtung, die sich auf die Behandlung des Realismus, Idealismus und Konstruktivismus als dreier Grundströmungen beschränken muß, wird zeigen, daß die behauptete kommunikative Konstruktion des menschlichen Weltbildes und die Qualifizierung von Informationen als Zugang zur Wirklichkeit unabhängig von diesen heterogenen Grundströmungen und sowohl mit dem Idealismus und Realismus als auch mit dem Konstruktivismus vereinbar ist. Dies wird insbesondere in der zusammenfassenden Qualifizierung der Kognition als Informationsverarbeitung zum Ausdruck kommen.
I. Realismus
Nach der Alltagserfahrung ist die Kontroverse zwischen Idealismus und Realismus zugunsten des letzteren zu entscheiden 21 . Der Realismus, demzufolge - vereinfacht ausgedrückt - die Welt vom menschlichen Geist unabhängig ist22, gilt nach dem gesunden Menschenverstand als Selbstverständlichkeit. Der Idealismus 19 Der Realismus geht von der Realität des Allgemeinen in den Dingen aus. Der Nominalismus läßt demgegenüber nur die Realität der einzelnen Dinge zu. Zum Verhältnis von Realismus und Nominalismus allgemein sowie insbesondere in der geschichtlichen Entwicklung vgl. z. B. F. Hoffmann, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8: R-Sc, 1992, Sp. 148 ff. und T. Trappe, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8: R-Sc, 1992, Sp. 150 ff. 20 Dazu W. Halbfass, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8: R-Sc, 1992, Sp. 156. 21 F. v. Kutschera, Grundfragen der Erkenntnistheorie, 1981, S. 179. 22 Vgl. Z. B. T. Nagel, Der Blick von nirgendwo, 1992, S. 157. - Gegen einen unkritischen Gebrauch des Tenninus Realismus und eine (nur) schlagwortartige Definition durch Aussagen wie "Es gibt objektive Tatsachen", "Wahrheit ist Übereinstimmung mit der Wirklichkeit", "Die Wirklichkeit ist geistesunabhängig", "Aussagen sind eindeutig wahr oder falsch",
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
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resultiert demgegenüber erst aus den gegenüber dem Realismus erhobenen Bedenken 23 . Der Realismus trifft Aussagen über die Existenz und Erkennbarkeit einer (bewußtseinsunabhängigen) Außenwelt. Ihm kommt daher sowohl eine ontologische als auch eine erkenntnistheoretische Komponente zu. Ersterer zufolge gibt es eine Wirklichkeit, die in ihrer Existenz und Beschaffenheit unabhängig davon ist, ob und wie sie von uns Menschen erfahren, gedeutet oder erkannt wird. Anders ausgedrückt bedeutet dies die Existenz objektiver Tatsachen24 • Aus erkenntnistheoretischer Sicht verbindet sich mit dem Realismus die These, daß es eine Erfahrung und Erkenntnis objektiver Sachverhalte und objektiver Tatsachen gibt 25 . Bei näherer Betrachtung erweisen sich die unter der Bezeichnung Realismus zusammengefaßten Auffassungen als durchaus heterogen. Innerhalb des Realismus können ein naiver, ein kritischer, ein streng kritischer und ein hypothetischer Realismus unterschieden werden 26 . Der naive Realismus meint hierbei, daß die vom erkennenden Subjekt unabhängig bestehende Dingwelt gerade so oder doch annähernd so ist, wie die Menschen sie wahrnehmen 27 • Dieser Ausprägung des Realismus sind daher solche Einstellungen zuzuordnen, die die Inhalte der Wahrnehmung und das Ansichsein des Wahrgenommenen unreflektiert als identisch behandeln 28 . Diese Prämisse, von der insbesondere die Physik jahrhundertelang ausgegangen ist29 und die sich dementsprechend lange bewährt hat, gilt heute durch die zum Idealismus führenden Argumente 30 als widerlegt. Der kritische und streng kritische Realismus sehen ebenso wie der hypothetische Realismus eine - wenn auch graduell unterschiedliche - Divergenz zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung. Dem kritischen Realismus zufolge gibt es eine wirkliche Welt, die aber nicht in vollem Umfang so beschaffen ist, wie sie dem Menschen erscheint. Dieser Ausprägung des Realismus ist die marxistische Erkenntnistheorie ebenso zuzuordnen wie die Unterscheidung zwischen primären "Die Wahrheit kann über unsere Fähigkeit hinausgehen, sie zu erkennen" wendet sich P. Horwich, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hrsg.), Realismus und Antirealismus, 1992, S. 66 ff. 23 F. v. Kutschera, Grundfragen der Erkenntnistheorie, 1981, S. 179. 24 F. v. Kutschera, Grundfragen der Erkenntnistheorie, 1981, S. 179 f. - Hierzu auch P. Horwich, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hrsg.), Realismus und Antirealismus, 1992, S. 66. 25 F. v. Kutschera, Grundfragen der Erkenntnistheorie, 1981, S. 180 f. 26 Vgl. Z. B. die Übersicht bei G. Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 5. Aufl. 1990, S. 34 ff. 27 Siehe z. B. G. Schischkoff (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, 22. Aufl. 1991, S. 60 I f.; F. v. Kutschera, Grundfragen der Erkenntnistheorie, 1981, S. 184 f. 28 W. Halbfass, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8: R-Sc, 1992, Sp. 160. 29 Vgl. dazu B. RusselI, Das menschliche Wissen, 1952, S. 197. 30 Siehe hierzu näher später im Text. 12 Aulehner
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
und sekundären Qualitäten von J. Locke. Nach J. Locke sind Eigenschaften wie "Festigkeit, Ausdehnung, Gestalt, Bewegung oder Ruhe und Zahl,,31 primäre Qualitäten, die den Dingen selbst zukommen. Diese primären Qualitäten haben die Dinge unabhängig davon, ob sie von den Sinnen eines Menschen wahrgenommen werden oder nicht. Die sekundären Qualitäten hängen demgegenüber sowohl von den primären Qualitäten als auch von dem erkennenden Bewußtsein ab. Vermittelt werden den Menschen beide - die primären und die sekundären Qualitäten - durch Ideen. Die Ideen der primären Qualitäten der Körper sind dabei Ebenbilder der letzteren; ihre Urbilder existieren in den Körpern selbst real. Die durch die sekundären Qualitäten in den Menschen erzeugten Ideen weisen demgegenüber keine Ähnlichkeit mit den Körpern auf32 . Der strenge kritische Realismus geht von einer noch schärferen Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung aus: Er nimmt an, daß die existierende wirkliche Welt in keiner ihrer Strukturen so ist, wie sie uns erscheint33 . Nach dem hypothetischen Realismus existiert eine bewußtseinsunabhängige, gesetzlich strukturierte und zusammenhängende Welt, die durch Wahrnehmung, Denken und durch eine intersubjektive Wissenschaft teilweise erkenn- und verstehbar ist. Als Argument für den Realismus - auch in Auseinandersetzung mit dem gegenläufigen Idealismus - wird zunächst die alltägliche Erfahrung von Physischem angeführt: physische Sachverhalte seien objektiv. Aussagen über konkrete, wahrnehmbare, körperliche Dinge und ihre Eigenschaften drückten Sachverhalte aus, die unabhängig davon existieren, ob und wie Menschen sie erfahren. Die physische körperliche Welt sei eine Wirklichkeit, zumal sowohl sie insgesamt als auch und insbesondere die Erde nach dem heutigen Wissensstand bereits ungleich länger existiert als der Mensch34 . Der Realismus entspreche damit einer "instinktiven Überzeugung,,35 des Menschen. Darüber hinaus sei der (gegenüber dem naiven Realismus) "gemäßigte" Realismus Ausgangspunkt jeder Naturwissenschaft36 . Auch widerspräche eine Auffassung, die die Existenz einer Außenwelt leugnet, der zunehmenden Verobjektivierung des menschlichen Weltbilds und der es bildenden Faktoren. Die Abkehr von einem anthropozentrischen und anthropomorphen Weltbild lasse ebenso auf eine bewußtseinsunabhängige Wirklichkeit schließen wie die funktionelle Konvergenz der Erkenntnisapparaturen unterschiedlichster Lebewesen, die Konstanz der Wahrnehmungen und die Konvergenz der Meßmethoden und Meßwerte und - daraus resultierend - die Konvergenz der Forschung 37 .
31
J. Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Bd. I, 1981, S. 148.
32
J. Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Bd. I, 1981, S. 150.
33
Vgl. z. B. G. Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 5. Auf). 1990, S. 35.
34
F. v. Kutschera, Grundfragen der Erkenntnistheorie, 1981, S. 180 f.
35
B. RusselI, Probleme der Philosophie, 1967, S. 24. A. Einstein, Mein Weltbild, 1972, S. 159. G. Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 5. Auf). 1990, S. 35 ff., 165 ff.
36 37
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
179
Dieser - notwendigerweise grobe und kurze - Überblick zeigt, daß selbst der Realismus, der die Existenz einer bewußtseinsunabhängigen Außenwelt bejaht, einer kommunikativen Festlegung des gesellschaftlichen Weltbildes nicht nur nicht widerspricht, sondern sie sogar bestätigt. Selbst wenn es nämlich eine reale Außenwelt gibt, hat der Mensch zu dieser nur mit Hilfe der Kommunikation Zugang. Die Termini ,,real" und "ideal" und dementsprechend Realismus und Idealismus be-I zeichnen keinen Gegensatz zwischen außerhalb und innerhalb der Vorstellung; sie benennen vielmehr nur zwei verschiedene Arten der Vorstellung 38 . Idealismus bedeutet - wie sich sogleich zeigen wird - ebensowenig, die Außenwelt sei irrelevant, wie umgekehrt der Realismus das Erfordernis einer Vorstellung von der Außenwelt nicht leugnen kann.
11. Idealismus
Wenn sich schon der Realismus als mit der kommunikativen Konstruktion eines gesellschaftlichen Weltbildes kompatibel erwiesen hat, gilt dies für den Idealismus um so mehr. Der Idealismus stellt nämlich gerade nicht darauf ab, ob die Gegenstände in der Außenwelt tatsächlich existieren, sondern knüpft daran an, ob und welche Gegenstände gedacht werden. Der Mensch kann - folgt man idealistischen Positionen - weder über das Verhältnis von Bildern und Originalen Aussagen treffen noch sicher sein, daß seinen Ideen überhaupt - wie auch immer geartete -, Gegenstände in der Außenwelt entsprechen, da ihm nur Ideen, nicht aber die Originale zugänglich sind. Es kann nicht einmal mit Sicherheit behauptet werden, daß den menschlichen Ideen irgendwelche Originale entsprechen. Der (ontologische) Idealismus verneint die Existenz objektiver Sachverhalte; Wirklichkeit sind danach nur die Subjekte und ihre Ideen 39 . Der Unterschied zwischen Realismus und Idealismus 40 in der Bewertung der Existenz der Außenwelt darf allerdings auch nicht überschätzt werden: Der Idealis38 R. Malter, in: KringslBaumgartnerlWild (Hrsg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Studienausgabe, Bd. 3,1973, S. 701 ff., 703. 39 Vgl. hierzu sowie zum Solipsismus, der die idealistischen Positionen durch die Annahme verschärft, die Wirklichkeit bestehe nur aus dem einzelnen Menschen und seinen Ideen die Ausführungen bei F. v. Kutschera, Grundfragen der Erkenntnistheorie, 1981, S. 213 ff. 40 Daß die Einteilung der Auffassungen über das Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrnehmung in Idealismus und Realismus eine starke Vergröberung darstellt und diese bei den hier als konträr - behandelten Positionen nicht nur zahlreiche Modifikationen beinhalten, sondern überdies auch Überschneidungen vorliegen, zeigt schon der sog. Idealrealismus. Hierunter versteht man Auffassungen, die Reales und Ideales für identisch halten, oder annehmen, daß Ideenmäßiges in der Realität seine Grundlage hat und in ihr verwirklicht ist, ebenso wie Ansichten, die einen real begründeten Idealismus bzw. einen Realismus mit Bezug zur Idealität vertreten (vgl. zum Idealrealismus z. B. A. Brämswig, in: Ritter/Gründer [Hrsg.], Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4: I-K, 1976, Sp. 44 ff.).
12*
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
mus führt gegenüber dem Realismus zwar einerseits zu einer (weiteren) Relativierung der der Wirklichkeit der Außenwelt zuzumessenden Bedeutung, da die Außenwelt nicht mehr als schon immer vorgegeben verstanden werden kann. Dies bedeutet aber andererseits nicht, daß die Außenwelt damit für idealistische Positionen irrelevant würde; sie ist vielmehr in die Subjektivität selber zurückzunehmen41 . Der Ursprung des Idealismus wird vielfach in der These von G. Berkeley gesehen, daß für Gegenstände, die selbst nicht denken, Existieren und Wahrgenommenwerden zusammenfallen 42 • Hierauf gründet I. Kant seine kopernikanische Wende der Metaphysik, derzufolge sich die Erkenntnis nicht nach den Gegenständen, sondern umgekehrt die Gegenstände sich nach der Erkenntnis richten 43 . Anders ausgedrückt sind die menschlichen Erfahrungen Produkte der Wechselwirkung zwischen - einerseits -:- wirklichen Zuständen, Ereignissen oder Gegenständen als objektiven und - andererseits - der menschlichen Sprache, Wahrnehmungs- und Verstandesorganisation als subjektiven Faktoren44 . Als Argumente für den Idealismus werden optische und andere Sinnestäuschungen ebenso angeführt wie Halluzinationen, Träume und Wahn. Darüber hinaus ist die Einteilung der Welt in Tatsachen oder auch nur mögliche Sachverhalte von der Sprache abhängig. Der Mensch als das jeweils erkennende Subjekt, die Sprache und die menschlichen Erkenntnisapparaturen bedingen somit Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen und Erkenntnisse 45 . Hauptargument für idealistische Positionen ist hierbei die Subjektbezogenheit des Beobachteten: Menschen können nur durch Beobachtung und damit nur beobachtete Dinge, beobachtete Attribute und beobachtete Sachverhalte wahrnehmen. Eine Beobachtung der Dinge, Attribute und Sachverhalte an sich und ohne menschliche Beobachtung ist unmöglich46 . Dementsprechend beschränkt sich die menschliche Wahrnehmung auf Beobachtungen; die Wahrnehmung der tatsächlichen Außenwelt ist dem Menschen verschlossen: "Das Bewußtsein des Gegenstandes ist nur ein nicht dafür erkanntes Bewußtsein meiner Erzeugung einer Vorstellung vom Gegenstande. ,,47 Zudem ermöglicht das menschliche Wahrnehmungsvermögen nur Bilder von der Außenwelt, die sich von den tatsächlichen Gegebenheiten aus mehreren Gründen nachhaltig unterscheiden. Wahrnehmung und reale Außenwelt fallen zum einen schon deshalb notwendigerweise auseinander, weil G. Prauss, Einführung in die Erkenntnistheorie, 3. Aufl. 1993, S. 215. G. Berkeley, Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, 1964, §§ 22 f.; T. Nagel, Der Blick von nirgendwo, 1992, S. 161 m. Fußn. 2. 43 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1976; I. Kant, Prolegomena, 1976, § 13 Anm. 11. 44 F. v. Kutschera, Grundfragen der Erkenntnistheorie, 1981, S. 207. 45 Vgl. hierzu z. B. die kurze Zusammenstellung der für den Idealismus angeführten Argumente bei G. Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 5. Aufl. 1990, S. 29. 46 Vgl. dazu z. B. - referierend - F. v. Kutschera, Grundfragen der Erkenntnistheorie, 1981, S. 203. 47 J. G. Fichte, Fichtes Werke, Bd.lI, 1971, S. 221. 41
42
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
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außerweltliche Ereignisse und ihre Wahrnehmung nicht zeitgleich erfolgen können48 . Menschliche Wahrnehmung setzt zum anderen die physiologische und psychologische Umsetzung physikalischer Einwirkungen auf die menschlichen Sinne voraus. Sie hängt deshalb entscheidend von der menschlichen Wahrnehmungsorganisation ab49 . Darüber hinaus wird die menschliche Erfahrung auch durch Sprache und Vernunftorganisation beeinflußt. l. Kant weist in der transzendentalen Ästhetik den Anschauungscharakter von Raum und Zeit nach und folgert, daß der Mensch von der Außenwelt verursachte Empfindungen durch begriffliche Verarbeitung und nach den Anschauungsformen von Raum und Zeit erst zu einer Erfahrung organisieren muß. Anders ausgedrückt prägt der Mensch den Erscheinungen eine begriffliche Struktur auf50 • Die Abhängigkeit der Außenwelt von dem sie jeweils wahrnehmenden Menschen stellt sich mithin als Grundpostulat des Idealismus dar. Die behauptete kommunikative Konstitution des menschlichen Weltbildes und die Qualität von Information als Zugang zur Wirklichkeit erweisen sich damit nicht nur als kompatibel mit dem Idealismus, sondern sind darüber hinaus Grundvoraussetzungen für diesen.
III. Der Konstruktivismus
Der bisweilen als postmoderne Erkenntnistheorie bezeichnete Konstruktivismus ist mit der These von der kommunikativen Konstruktion des Weltbildes umso mehr vereinbar, als er - teilweise - eine bloße Weiterentwicklung des soeben51 beschriebenen Idealismus darstellt. Soweit der Konstruktivismus sich auf die Behauptungen der Unzugänglichkeit der Außenwelt und des Eingeschlossenseins des Erkennens beschränkt, stellt er keine neuen Prämissen auf52 . Der Konstruktivismus wird überdies als nach dem Idealismus derzeit letzte Reaktion der Wissenschaft auf ihr . eigenes Auflösevermögen charakterisiert. Die Suche nach einer Realität jenseits der als bloße Meinung erkannten Alltagserfahrung erfolgte zunächst unter der Bezeichnung Idealismus; dieser Terminus wurde in diesem Jahrhundert durch den Konstruktivismus abgelöst53 . Die These einer kommunikativen Konstruktion des Weltbildes einerseits und der Konstruktivismus andererseits werden sich im folgenden als geradezu komplemenSiehe - referierend - F. v. Kutschera, Grundfragen der Erkenntnistheorie, 1981, S. 212 f. Zu diesem Aspekt und seiner Bewertung vgl. z. B. F. v. Kutschera, Grundfragen der Erkenntnistheorie, 1981, S. 208 ff. 50 Vgl. z. B. F. v. Kutschera, Grundfragen der Erkenntnistheorie, 1981, S. 210. - Siehe dazu auch die Parallelen zur von N. Luhmann vertretenen Systemtheorie. 51 Vgl. hierzu oben im Text sub § 4. B. 11. 52 N. Luhmann, in: ders., Soziologische Aufklärung 5, 1990, S. 31 ff., 32 f. 53 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 510. 48
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
tär erweisen. Nach der wissenschaftstheoretischen Konzeption des Konstruktivismus - hierauf bezieht sich auch diese Bezeichnung - ,,konstruiert" der Forscher die "Realität" nämlich auswählend und herstellend selbst. Konstruktivistisch betrachtet kommt der Theorie eine absolute Dominanz gegenüber der Empirie zu. Ziel des Konstruktivismus ist daher auch nicht Wahrheit, sondern nur Eindeutigkeit 54 . Der Konstruktivismus verdrängt Auffassungen, nach denen Wissen und Sprache Abbildungen sind, und ersetzt diese isomorphe Relation durch eine Konstruktionsrelation, die eine eigene Aktivität des erkennenden Systems voraussetzt55 . Eine nähere Untersuchung konstruktivistischer Erkenntnistheorien kann - wie schon die Ausführungen zum Idealismus und Realismus - nicht von dem Konstruktivismus ausgehen, sondern muß berücksichtigen, daß es eine Vielzahl von Konstruktivismen gibt56 . Dies verwundert insofern wenig, als die heute als Konstruktivismus bezeichnete Vorstellung nicht nur von unterschiedlichen Autoren H. Dingler, P. Lorenzen, E. v. Glasers/eId, P. Watzlawick, H. Maturana, S. J. Schmidt, P. M. Hejl, H. v. Foerster, N. Luhmann, F. J. Varela -, sondern auch von unterschiedlichen wissenschaftlichen Teilgebieten - Philosophie, Mathematik, Soziologie, Psychologie, Biologie, Literaturwissenschaft - ausging. Die hieraus resultierenden höchst verschiedenen Vorstellungen von Konstruktivismus können hier nicht im Detail dargestellt werden. Im folgenden soll nur zwischen dem sog. ,,radikalen Konstruktivismus" einerseits und dem systemtheoretisch orientierten, von N. Luhmann vertretenen andererseits differenziert werden. 1. Der radikale Konstruktivismus
Die Vertreter des radikalen Konstruktivismus verstehen das Verhältnis zwischen Wissen und Wirklichkeit nicht als ikonische Übereinstimmung oder Korrespondenz, sondern als Anpassung im funktionalen Sinn. Hierin erblicken sie einen fundamentalen Gegensatz zu anderen bedeutsamen Strömungen der Philosophie - wie z. B. dem Realismus, Idealismus, Rationalismus, Skeptizismus etc. - ebenso wie auch zu anderen klassischen Disziplinen. Wissen gibt nach dem Verständnis des radikalen Konstruktivismus die Wirklichkeit nicht gleichförmig wieder, sondern liefert nur ein "passendes" Mode1l 5?; es bezieht sich auf die Art und Weise, wie wir unsere Erfahrungswelt organisieren58 . Eben hieraus leitet sich auch die BeKrizILückJHeidbrink, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, 2. Aufl. 1990, S. 144 f. M. F. Peschi, in: ders. (Hrsg.), Formen des Konstruktivismus in Diskussion, 1991, S. I ff., 5 f. 56 S. J. Schmidt, in: ders. (Hrsg.), Kognition und Gesellschaft. Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus 2, 2. Aufl. 1992, S. 7 ff., 9 ff. 57 E. v. Glasersfeld, in: ders., Wissen, Sprache und Wirklichkeit, 1992, S. 198 ff., 200 f. 58 E. v. Glasersfeld, in: Rusch/Schmidt (Hrsg.), Konstruktivismus: Geschichte und Anwendung, DELFIN 1992, S. 20 ff., 30. 54 55
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
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zeichnung als "radikal" ab: Die "Radikalität" des radikalen Konstruktivismus ergibt sich aus der Entwicklung einer Erkenntnistheorie, in der die Erkenntnis nicht mehr eine "objektive" ontologische Wirklichkeit betrifft, sondern ausschließlich die Ordnung und Organisation von Erfahrungen in der Welt menschlichen Erlebens 59 . Dies darf indessen nicht als Leugnung einer äußeren Wirklichkeit mißverstanden werden; der radikale Konstruktivismus bestreitet nur die Evidenz einer unabhängigen Wirklichkeit und die Repräsentation der Außenwelt durch das menschliche Wissen 6o . Eine nähere Auseinandersetzung mit dem radikalen Konstruktivismus setzt eine Klärung seiner Novitäten im Vergleich insbesondere mit dem überkommenen Idealismus und Realismus voraus. Das Adjektiv ,,radikal" erscheint dabei zunächst als bloße kommunikative Verstärkung der Bezeichnung Konstruktivismus 61 . Näher betrachtet wiederholt der radikale Konstruktivismus weitgehend schon von den Vertretern des Idealismus und Realismus getroffene Feststellungen. Er stellt dieses Wissen aber - und hierin liegt das Verdienst des radikalen Konstruktivismus - in einen neuen Zusammenhang und ermöglicht damit in ihrem Ausmaß, aber auch in ihrer Komplexität kaum überschätzbare Anschlußüberlegungen 62 . So erweist sich etwa der von Vertretern des radikalen Konstruktivismus vielfach gezogene Schluß von der Mitwirkung bestimmter sprachlicher, psychologischer, sozialer etc. Ursachen am Zustandekommen von Erkenntnis auf eine entsprechend allein sprachliche, psychologische, soziale etc. Qualität der Konstruktion als Resultat schon unter logischen Aspekten als unhaltbar. Zum einen können nämlich neben den jeweils in den Blick genommenen Ursachen weitere, nicht beachtete, wirken. Zum anderen ist Kausalität ebensowenig wie Existenz ein beobachtungsfrei handhabbarer Begriff; weder Existenz noch Kausalität beschreiben eine Realität, die man ohne Mitthematisierung des Beobachters beschreiben könnte 63 . Der Neuigkeitswert des radikalen Konstruktivismus und damit seine "Radikalität" liegt im Wechsel der Verknüpfung von "Erkenntnis ist möglich, obwohl sie keinen von ihr unabhängigen Zugang zur Realität außer ihr hat" zu "Erkenntnis ist möglich, weil sie keinen Zugang zur Realität außer ihr hat". Die erste Verknüpfung ist das Paradigma des erkenntnistheoretischen Idealismus; die letztere ist der Ausgangspunkt des radikalen Konstruktivismus 64 . Dies erweist sich einerseits und insofern als richtig, als die Erforschung des menschlichen Gehirns ergeben hat, daß nur gegenüber ihrer Außenwelt geschlossene Systeme erkenntnisfähig sind. Ein Gehirn kann ebenso wie KommunikationsE. v. Glasersfeld, in: ders., Wissen, Sprache und Wirklichkeit, 1992, S. 198 ff., 203. E. v. Glasersfeld, in: RuschlSchmidt (Hrsg.), Konstruktivismus: Geschichte und Anwendung, DELFIN 1992, S. 20 ff., 30. 61 N. Luhmann, Erkenntnis als Konstruktion, 1988, S. 7. 62 N. Luhmann, in: ders., Soziologische Aufklärung 5,1990, S. 31 ff., 31. 63 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 511 ff. 64 N. Luhmann, Erkenntnis als Konstruktion, 1988, S. 8 f. 59
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
systeme oder das Bewußtsein nur Informationen erzeugen, weil es umweltindifferent codiert ist, d. h. im rekursiven Netzwerk der eigenen Operationen eingeschlossen operiert. Gleichzeitig und andererseits ergibt sich aber, daß der damit vollzogene Paradigmenwechsel zu kurz ist: Der Neuigkeitswert konstruktivistischer Erkenntnistheorien besteht nämlich weniger in der veränderten Betrachtung des Verhältnisses vom Zugang zur Wirklichkeit einerseits und der Möglichkeit von Erkenntnis andererseits. Entscheidend ist vielmehr der Paradigmen wechsel weg von der inhaltlichen Ausgestaltung der Außenwelt, die im Mittelpunkt von Realismus und Idealismus stand, hin zur Kognition als dem Prozeß der Konstitution von Außenwelt. Diesen Wandel vollziehen die Vertreter des radikalen Konstruktivismus kaum. Er findet sich vornehmlich in der von N. Luhmann vertretenen operativen65 konstruktivistischen Erkenntnistheorie. 2. Der operative Konstruktivismus
Konstruktivistische Erkenntnistheorien dürfen sich sonach nicht auf Ausführungen zum Zugang des Menschen zur Außenwelt und zu dessen Bedeutung für die menschlichen Erkenntnismöglichkeiten beschränken, sondern müssen den Wechsel von der inhaltlichen Beschreibung der Außenwelt zur Kognition als Prozeß der Konstitution der Außenwelt in Rechnung stellen. Die zentrale These des radikalen Konstruktivismus, menschliche Erkenntnis sei möglich, weil dem Menschen die Außenwelt verschlossen ist, bestätigt - richtig betrachtet - weder die Existenz der Außenwelt noch - und im Gegensatz zum Solipsismus - deren Nicht-Existenz. Sie beweist vielmehr nur, daß die überkommene ontologische Unterscheidung zwischen SeinINichtsein durch die Unterscheidung SystemlUmwelt ersetzt werden muß66 . Ausgangspunkt einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie muß daher der grundlegende Wechsel von der Unterscheidung Denken/Sein und der Nachfolgeunterscheidung transzendental/empirisch hin zu den Unterscheidungen SystemlUmwelt und Beobachtung/Operation sein 67 • Erkenntnis erweist sich dann unter der Unterscheidung zwischen System und Umwelt als Operation eines von seiner Umwelt abgekoppelten Systems. In der Frage, wie diese Abkopplung möglich ist, liegt gerade der durch den Konstruktivismus mögliche Erkenntnisfortschritt. 65 N. Luhmann spricht nicht von radikalem, sondern von operativem Konstruktivismus, da der Unterschied zwischen Konstruktivismus und subjektivem Idealismus nicht in einer "Radikalität" des Konstruktivismus, sondern darin liegt, daß das Subjekt als Bezugspunkt durch ein empirisch beobachtbares, operativ geschlossenes, selbstreferentielles System ersetzt wird (N. Luhmann, in: Watzlawick/Krieg [Hrsg.], Das Auge des Betrachters. Beiträge zum Konstruktivismus. Festschrift für Heinz von Foerster, 1991, S. 61 ff., 68 m. Fußn. 20.). 66 N. Luhmann, in: ders., Soziologische Aufklärung 5,1990, S. 31 ff., 37. 67 N. Luhmann, in: ders., Soziologische Aufklärung 5, 1990, S. 31 ff., 34 ff., 39 ff.; N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 514 f.
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
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Ausführungen hierzu bieten weniger die Vertreter des radikalen Konstruktivismus als vielmehr N. Luhmann, zumal die Systemtheorie die Abkopplung durch den Satz "Kein System kann außerhalb seiner eigenen Grenzen operieren" besonders prägnant formulieren kann68 . Zur Beantwortung der Frage, wie Erkenntnis möglich ist, führt N. Luhmann neben der Unterscheidung System/Umwelt eine weitere zwischen Operation und Beobachtung ein. Beobachten ist dabei eine Operation, die Unterscheidungen verwendet, um etwas zu bezeichnen. Ein unterscheidungsloses Beobachten ist somit definitions gemäß undenkbar. Deshalb ist alles, was für einen Beobachter Realität ist, Realität dank der Einheit der Unterscheidung, die er verwendet, also Konstruktion 69 . Erkennen erweist sich dabei insofern als zirkulär, als die Unterscheidung von Operation und Beobachtung in sich selbst als Beobachtung wieder vorkommt7o . Eine Beobachtung führt sonach dann zu Erkenntnissen, wenn und soweit sie im System wiederverwendbare Resultate zeitigt oder anders ausgedrückt: Beobachten ist Erkennen, soweit es Redundanzen benutzt und erzeugt71. Damit ist aber andererseits auch alles Beobachtbare - auch das Beobachten von Beobachtern - Eigenleistung des Beobachters. Es gibt daher in der Umwelt nichts, das der Erkenntnis entspricht. Alles, was der Erkenntnis entspricht, ist nämlich abhängig von Unterscheidungen, innerhalb derer sie etwas als dies und nicht das bezeichnet72 . Konstruktivistische Erkenntnistheorien ersetzen daher - und insofern sind sie zu befürworten - zum einen Einheit durch Unterscheidung bzw. in ihren Produkten Identität durch Differenz. Zum anderen sind sie problem-, nicht zielorientiert 73 . Speziell der radikale Konstruktivismus erweist sich dabei aber als zu wenig detailgenau. Er versäumt es nämlich, zu klären, in welchen Hinsichten es keine Übereinstimmung in der Außenwelt geben kann 74. Anders ausgedrückt müßte er die konstitutive Unfähigkeit des Beobachters, sich selbst zu beobachten75, in die Erkenntnistheorie einarbeiten. Eben dies kann nur geschehen, indem zeitliche und/oder soziale Differenzen in Anspruch genommen werden 76.
N. Luhmann, Erkenntnis als Konstruktion, 1988, S. 14. N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 519. 70 N. Luhmann, in: ders., Soziologische Aufklärung 5,1990, S. 31 ff., 39. 71 N. Luhmann, in: ders., Soziologische Aufklärung 5,1990, S. 31 ff., 40. 72 N. Luhmann, Erkenntnis als Konstruktion, 1988, S. 16. 73 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 521. 74 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 521. 75 Dieser blinde Fleck der Beobachtung ergibt sich aus dem Erfordernis der Unterscheidung. Die Unterscheidung ist Voraussetzung der Beobachtung und kann als solche nicht durch die Beobachtung beobachtet werden (vgl. z. B. N. Luhmann, in: WatzlawicklKrieg [Hrsg.], Das Auge des Betrachters. Beiträge zum Konstruktivismus. Festschrift für Heinz von Foerster, 1991, S. 61 ff., 64 ff.). 76 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 522. 68
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N. Luhmann vollzieht demgegenüber den von konstruktivistischen Erkenntnistheorien geforderten Paradigmenwechsel, orientiert weitere Untersuchungen demzufolge primär an den Eigenbedingungen des Erkenntnisvorgangs und betrachtet die inhaltliche Übereinstimmung mit der Wirklichkeit als nur noch sekundäres Interesse. Auch die Merkmale der Kognition als Erkenntnisvorgang rechtfertigen konstruktivistische Erkenntnistheorien 77, zumal die Grundlagen für Kognitionsprozesse, insbesondere Leben, Bewußtsein und Kommunikation, jeweils eine operative Schließung ihres eigenen Systems voraussetzen. Darüber hinaus ist jede Kognition Beobachtung, d. h. Unterscheidung und Bezeichnung. Auch beginnt jede Kognition mit einer eigenständigen Unterscheidung, für die es keine Umweltkorrelate gibt. Zudem sind die grundlegenden Ereignisse der Kognition durch ihre zeitliche Kürze gekennzeichnet, so daß relativ zu ihnen sehr viel Außenwelt als dauerhaft erscheinen kann78 . Anders als die idealistischen Erkenntnistheorien suchen operative konstruktivistische - in der von N. Luhmann vertretenen Form - nicht nach einem letzten auf Einheit bezogenen Grund, sondern begreifen Erkenntnis als Prozeß, bei dem eine Beobachtung an die andere anschließt. Die Qualität des kognitiven Ergebnisses wird dabei nicht an der Außenwelt, sondern an der Anschlußfahigkeit für weitere Operationen gemessen. Insofern stellt Rekursivität ein Maß für die Übereinstimmung von Erkenntnis und Wirklichkeit dar79 . Diese Sichtweise erhellt zugleich die Selbstreferenz der Kognition als Ursache für Zirkel und Paradoxien der Erkenntnis. Diese wurden früher durch den Rekurs auf Gott, dann durch die Unterscheidung von Subjekt und Objekt aufgelöst. Weder die darauf basierenden subjektivistischen noch die objektivistischen Erkenntnistheorien vermögen zu überzeugen. Erstere müssen eine Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven erklären, letztere sehen sich einer vielseitig vorhandenen Welt gegenüber, die aus keiner Perspektive vollständig zu erfassen ist 8o .
Auch die von N. Luhmann postulierte Anschlußfahigkeit des Kognitionsprozesses ist mit der These eines kommunikativ geschaffenen Weltbildes vereinbar. Kommunikation und damit Information 8 ! ist in der Theorie N. Luhmanns eine der wesentlichen Grundlagen für Kognitionsprozesse. Insofern stützen die Ausführungen von N. Luhmann die hiesige Eingangsthese.
N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 522 f. N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 522 ff. 79 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 527. 80 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 529 f. 81 Zum Verhältnis von Kommunikation und Infonnation vgl. noch näher unten im Text sub § 5. B. 77 78
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
187
IV. Kognition als Informationsverarbeitung - Zusammenfassung
Unabhängig von den unterschiedlichen Auffassungen zum Verhältnis zwischen Realität und Wirklichkeit ist jedenfalls Wahrnehmung und Kognition erforderlich, um die Wirklichkeit für den Menschen zwar nicht erfaßbar, aber doch wenigstens gestaltbar zu machen 82 . Wahrnehmung und Kognition liefern demzufolge keine Widerspiegelung der Wirklichkeit, sondern bezeichnen vielmehr eine systeminterne Konstruktion einer systemexternen Welt. Kognition stellt sich dabei als eine auf Regeln basierende Handhabung von Symbolen, also Infonnationsverarbeitung dar. Das Kognitionssystem interagiert hierbei nur mit der Fonn, nicht aber mit der Bedeutung der Symbole; es "errechnet,,83 die Wirklichkeit somit. Die Kognition ist dabei dann erfolgreich, wenn die Symbole jedenfalls einen Aspekt der Wirklichkeit richtig darstellen und zu einer erfolgreichen Lösung gestellter Probleme führen 84 . Nach der Kognitionstheorie wird das Bild des Menschen von der Wirklichkeit nicht durch Repräsentation, sondern durch Konstruktion erstellt. So gesehen stellt sich Kognition - allgemeiner fonnuliert - als effektives Handeln dar, das im Wege einer strukturellen Kopplung eine Welt hervorbringt. Kognition läuft dabei über ein Netz wechselseitig verbundener Elemente ab, das seine Struktur verändern kann, ohne den Lebensprozeß abzubrechen. Ein kognitives System funktioniert danach dann angemessen, wenn es zum Bestandteil einer existierenden Bedeutungswelt wird oder wenn es eine neue Welt gestaltet85 . Die Bedeutung des Paradigmenwechsels im Verhältnis zwischen Realität und Wirklichkeit von der - früher angenommenen - Repräsentation zur Konstruktion kann kaum überschätzt werden. Hierdurch wird zum einen die - hier zunächst interessierende - Notwendigkeit eines grundsätzlich freien Infonnationsflusses unterstrichen. Interpretationen des bundesverfassungs gerichtlichen Volkszählungsurteils, denen zufolge Infonnationen nicht oder nur ausnahmsweise erhoben, gespeichert und verarbeitet werden dürfen, kann aus diesem - allerdings noch eingeschränkten - Blickwinkel nipht gefolgt werden. Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit und das Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrnehmung legen es vielmehr umgekehrt nahe, einen grundsätzlich freien Infonnationsfluß zu fordern. Nur so kann eine optimale und für alle gleiche Erfassung der Wirklichkeit gewährleistet werden. 82 Zusammenfassend zum Verhältnis von Kognition und Information S. J. Schmidt, in: Tauss/KollbeckIMönikes (Hrsg.), Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft, 1996, S. 183 ff. 83 F. J. Varela, Kognitionswissenschaft - Kognitionstechnik, 1993, S. 38 f. 84 F. J. Varela, in: M. F. PeschI (Hrsg.), Formen des Konstruktivismus in Diskussion, 1991, S. 88 ff., 90 f.; F. 1. Varela, Kognitionswissenschaft - Kognitionstechnik, 1993, S. 43 f. 85 F. J. Varela, Kognitionswissenschaft - Kognitionstechnik, 1993, S. 110 f.; F. J. Varela, in: M. F. PeschI (Hrsg.), Formen des Konstruktivismus in Diskussion, 1991, S. 88 ff., 103.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
Zum anderen wirkt sich der Paradigmenwechsel weg von der Repräsentation hin zur Konstruktion in grundlegender Weise auch auf die Verantwortungszuweisung aus. Eine durch den Menschen konstruierte und selbst gestaltete Welt macht den Menschen für diese auch in vollem Umfang verantwortlich; der Mensch kann sich unter diesem Paradigma nicht darauf zurückziehen, seine Erkenntnismittel zur Erfassung und adäquaten Repräsentation der Wirklichkeit seien unzureichend.
c. Kommunikation als Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
Die heterogenen Ansichten über die Konstitution der Realität führen zu konträren Kommunikationsmodellen. Theorien, die Kommunikation als bloße Zeichenübertragung verstehen, fußen auf der Vorstellung von der Existenz einer einzigen, stabilen und autonomen Wirklichkeit, die der Mensch Schritt für Schritt enthüllt. Der die Wirklichkeit beobachtende Mensch erscheint hier als statisches Objekt86 . Demgegenüber betonen die übrigen Kommunikationsmodelle, die Kommunikation als Interaktion oder soziales System verstehen, die Wechselwirkung zwischen den Kommunikanten. Diese Modelle entsprechen Ansichten, die das Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrnehmung ebenfalls als Interaktion verstehen 87 . Ungeachtet des streitigen Verhältnisses zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit benötigt die Gesellschaft jedenfalls ein Abbild der Wirklichkeit, um handlungsfähig zu sein. Der Mensch kann seine Umwelt heute nämlich weniger denn je in ihrem vollen Umfang unmittelbar erfassen. Früher wurde die - noch vergleichsweise geringe - Komplexität der Welt durch übermenschliche, absolute und göttliche Erklärungen reduziert. Heute erweist sich das menschliche Umfeld demgegenüber als komplizierter: Die Welt ist dem Menschen nicht göttlich vorbestimmt; sie ist vielmehr durch den Menschen gestaltbar und "machbar". Die Formung der Welt durch den Menschen setzt aber deren Erfassung voraus. Denn Gestaltungsmaßnahmen sind nur in Kenntnis des Gestaltungsgegenstandes möglich. Die Komplexität der Welt erschwert zwar die menschliche Wahrnehmung, schließt sie aber nicht aus. Der Mensch kann seine Umwelt nämlich schon auf der Grundlage eines nur teilweisen Abbildes beeinflussen. Ein derartiges Teilbild ist naturgemäß mangelhaft. Dieser Fehler kann jedoch durch die Schaffung mehrerer Abbilder für unterschiedliche Zwecke zumindest relativiert werden. Die Konstituierung dieser Abbilder ist von kaum zu überschätzender Bedeutung, zumal sie die menschliche Umgebung in relevante und irrelevante Faktoren unter86 W. K. Köck, in: S. J. Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, 5. Aufl. 1992, S. 340 ff., 355 f. 87 W. K. Köck, in: S. J. Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, 5. Aufl. 1992, S. 340 ff., 358 ff.
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teilt. Bei der Gestaltung der Welt werden nämlich nur jeweils die Aspekte berücksichtigt, die das jeweilige Abbild enthält. Abbilder der Wirklichkeit dürfen daher nicht von einzelnen, sondern müssen gemeinschaftlich - kommunikativ - erstellt werden. Diese Sichtweise wird durch die Erkenntnistheorie bestätigt. Erkenntnis ist die Vergegenwärtigung der objektiven Beschaffenheit der inneren und äußeren Welt durch personale Aneignung und soll eine Grundlage für die sinnvolle Gestaltung der menschlichen Tätigkeiten schaffen88 . Erkenntnis einerseits und das jeweilige Weltbild andererseits stehen daher auch in einem unauflöslichen Zusammenhang. Die Realität wird durch den Stand der Erkenntnis und das jeweils zur Verfügung stehende Wissen bestimmt89 . Erkenntnis und damit auch die Konstruktion eines Weltbildes stellen das Ergebnis einer Tätigkeit dar. Beide - Erkenntnis und Weltbild - hängen dabei von den materiellen und ideellen phänomenalen Objekten, der Struktur und Dynamik des Wissens sowie von den historischen und sozialen Verhältnissen ab 9o . Die postulierte Wirklichkeitskonstruktion durch Kommunikation verlangt eine nähere Klärung des Kommunikationsbegriffs. Dieser erscheint diffus, zumal "Kommunikation" sowohl in der Alltagssprache 91 als auch wissenschaftlich in jeweils unterschiedlicher Weise und geradezu inflationär verwendet wird. Auch das wissenschaftliche Verständnis von Kommunikation differiert umso mehr, als Kommunikation von verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen - Philosophie, Kommunikationswissenschaft, Kommunikationsforschung, Informatik, Nachrichtentechnik, Soziologie, Psychologie, Wirtschaftswissenschaften92 - thematisiert wird. Dementsprechend wurden insgesamt 160 Definitionen des Terminus "Kommunikation" gefunden 93 . Kommunikation ist - so wird sich im folgenden zeigen - auch, aber nicht nur, ein Prozeß der Zeichenübertragung. Sie ist darüber hinaus ein umweltabhängiger interaktiver Vorgang; in der Interaktion wird Wirklichkeit konstituiert.
H. J. Sandkühler, Die Wirklichkeit des Wissens, 1991, S. 48. H. J. Sandkühler, Die Wirklichkeit des Wissens, 1991, S. 44 f., 50. 90 H. J. Sandkühler, Die Wirklichkeit des Wissens, 1991, S. 46. 91 Zur vielfältigen Verwendung des Kommunikationsbegriffs im Alltag vgl. z. B. G. Brünner, in: Diskussion Deutsch 18 (1987) 100 (103 ff.). 92 Vgl. die Aufzählung bei W. Steinmüller, Informationstechnologie und Gesellschaft, 1993, S. 158 m.w.N .. 93 Vgl. die Auflistung bei K. Merten, Kommunikation, 1977, S. 168 ff. 88
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I. Kommunikation als Zeichenühertragung Aus naturwissenschaftlicher und technischer Sicht beschreibt "Kommunikation" (nur) Prozesse der Zeichenübertragung; der interaktive Gehalt von "Kommunikation" bleibt ausgeblendet. Gleichwohl stellt die "mathematische Theorie der Kommunikation" von C. E. Shannon und W. Weaver94 das Fundament der modemen Informationstheorie dar. Ausgehend von diesem, für die Nachrichtentechnik entwikkelten Minimalmodell wurde der Kommunikationsbegriff in zahlreichen Fachwissenschaften etabliert95 . Eben deshalb ist auch hier Kommunikation als Prozeß der Zeichenübertragung an den Anfang zu stellen, zumal der "mathematischen Theorie der Kommunikation" die Grundelemente der Kommunikation zu entnehmen sind und bei ihrer Darstellung überdies erforderliche Ergänzungen sichtbar werden. C. E. Shannon und W. Weaver verstehen Kommunikation als mehraktigen Vorgang, in dem die Informationsquelle zunächst eine Botschaft (message) auswählt, die der Sender (transmitter) in ein Signal (signal) verwandelt. Dieses wird durch den Kommunikationskanal (communication channel) an den Empfanger (receiver) geleitet, der das Signal in eine Botschaft für das Informationsziel zurückverwandelt. Störungen, die bei der Übermittlung von Signalen häufig auftreten, erscheinen in diesem Modell als Geräusche (noise)96. Mit Hilfe dieser Vorstellung kann untersucht werden, wie genau Symbole bei Kommunikationsprozessen übertragen werden können. Es können insbesondere die Charakteristika der Kodierung und Dekodierung der Botschaft, die allgemeinen Merkmale der Geräusche und die Folgen einer kontinuierlichen Übertragung für die Kommunikationsinhalte erforscht werden. Darüber hinaus können Informationsmengen und die Kapazitäten des Übertragungskanals gemessen werden 97 . Information wird in diesem Modell sehr eingeschränkt allein aus dem Blickwinkel der Nachrichtentechnik betrachtet. Der Inhalt der Information ist deshalb bedeutungslos. Information meint in diesem Modell allein den Umfang der Freiheit, über die derjenige verfügt, der eine Botschaft aussendet. Sie bezieht sich allein auf die Signalmenge und läßt das Verhältnis von Gemeintem auf der einen und Verstandenem auf der anderen Seite unbeachtet. Information bedeutet insoweit nur Signalmenge, nicht aber Bedeutung im umgangssprachlichen Sinn98 . Die "Informationstheorie" ist insofern eine bloße "Signalübertragungstheorie,,99. ShannonlWeaver, The Mathematical Theory ofCommunication, 1949. Vgl. z. B. für die Soziologie H. Reimann, Kommunikationssysteme, 1968 und für die Pädagogik I. Bock, Kommunikation und Erziehung, 1978. 96 ShannonlWeaver, The Mathematical Theory of Communication, 1949, S. 7. 97 Siehe dazu B. Badura, Sprachbarrieren. Zur Soziologie der Kommunikation, 1971, S.16. 98 W. K. Köck, in: S. J. Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, 5. Aufl. 1992, S. 340 ff., 345 ff. 99 W. K. Köck, in: S. J. Schrnidt (Hrsg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, 5. Aufl. 1992, S. 340 ff., 347. - Ähnlich H. Mackeprang, Zum Informationsbegriff der Allgemeinen Technologie, 1987, S. 52 ff. 94 95
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
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Damit ist zugleich die - teilweise vehemente 100 - Kritik an der "mathematischen Theorie der Kommunikation" angesprochen: Diese Theorie geht allgemein von unbewiesenen Prämissen aus, die die Darstellung des Kommunikationsvorgangs vereinfachen und verfälschen. Als nachrichtentechnisches Kommunikationsmodell ist sie schon deshalb nicht ohne weiteres auf die soziale Kommunikation zu übertragen, weil diese weder ausschließlich noch vornehmlich linear, sondern vielfach zirkulär verläuft. Insbesondere die analytische Unterscheidung von Sender und Empfänger stellt insofern eine Verkürzung dar, als in der Kommunikation zwischen Menschen diese Rollen vielfach zusammenfallen. In Gesprächen ist jeder Teilnehmer Sender und Empfänger. Darüber hinaus nimmt die "mathematische Theorie der Kommunikation" an, die vom Sender übertragene und die beim Empfänger eingehende Information sei ohne weiteres identisch lO1 ; sie negiert damit, daß Gedanken, Gefühle und Bedeutungen sowohl beim Sender als auch beim Empfänger erst gebildet werden müssen und Informationen daher kontextabhängig sind. Dementsprechend werden die Voraussetzungen einer Kodierung und Dekodierung unterschätzt lO2 • Kommunikation findet deshalb nur, aber nicht schon dann statt, wenn Sender und Empfänger die gleiche Sprache sprechen. Sie müssen überdies der gleichen Kultur angehören, das gleiche Informationsniveau haben, über den gleichen Gegenstand kommunizieren und die gleichen Metaphern und Theorien verwenden. B. Badura lO3 verfeinert daher das von C. E. Shannon und W. Weaver kreierte Kommunikationsmodell mit Hilfe der Semiotik und unterscheidet ebenso wie schon C. Morris 104 neben dem statistisch-syntaktischen auch semantische und pragmatische Aspekte der Kodierung bzw. Dekodierung. Syntaktik meint dabei die Regeln, nach denen Zeichen miteinander verknüpft werden können. Semantik verweist demgegenüber auf den Bedeutungsgehalt von Zeichen und Zeichenfolgen. Pragmatik stellt sich schließlich als "Lehre von der Zeichenverwendung" dar 105 . B. Badura fordert darüber hinaus, daß Situation, Informationsniveau, emotiver Erlebnishorizont und Interessen sowohl auf der Seite des Senders als auch auf der des Empfängers miteinbezogen werden müssen.
100 Siehe z. B. W. K. Köck, in: S. J. Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, 5. Aufl. 1992, S. 340 ff., 358: "Naive Kommunikationsforscher a la Shannon argumentieren hier wie die Physiognomen des Mittelalters, die aus dem oberflächlichen Gesichtsausdruck, wie ihn der Beobachter wahrnimmt, strenge Aussagen über die ganze Persönlichkeit ableiteten." 101 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 194. 102 Ähnlich G. Brünner, in: Diskussion Deutsch 18 (1987) 100 (108). 103 B. Badura, Sprachbarrieren. Zur Soziologie der Kommunikation, 1971, S. 19 ff. 104 C. Morris, Signs, Language and Behavior, 1946, S. 217 ff.; C. Morris, Foundation of the Theory of Signs, 1938, S. 6. 105 Siehe zu Syntaktik, Semantik, Pragmatik und Sigmatik auch noch unten im Text sub § 5. B. I. 2.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
Schließlich suggeriert gerade die "mathematische Theorie der Kommunikation", daß der Sender dem Empfänger im Rahmen des Kommunikationsvorgangs die Information übergibt, d. h. der Sender sie verliert und der Empfänger sie erhält lO6 . Dem Verständnis von Kommunikation als Zeichenübertragung ist damit insgesamt entgegen zu halten, daß es Informationen fälschlicherweise als Objekte betrachtet, die - wie Wasser, Benzin, etc. - durch Röhren übertragen werden 107. Diesen Bedenken trägt das Verständnis der Kommunikation als Interaktion Rechnung. Damit wird zugleich die bisherige rein analytische Untersuchung des Kommunikationsbegriffs durch einen Systemansatz ergänzt bzw. ersetzt lO8 •
11. Kommunikation als Interaktion
Die interaktive Qualität der Kommunikation wird sowohl durch den auf G. H. Mead 109 zurückgehenden, sozialpsychologisch orientierten "symbolischen Interaktionismus" als auch durch die von J. Habermas entwickelte, auf der Sprachphilosophie fußende "Theorie des kommunikativen Handelns"llo erkannt und betont.
1. Der symbolische 1nteraktionismus
Die Vertreter des symbolischen Interaktionismus verstehen Kommunikation als einen Vorgang, in dem die Kommunikationsteilnehmer wechselseitig und mit Hilfe von Symbolen Bedeutungen im Bewußtsein aktualisieren. Grundkonzepte der Kommunikation sind nach der symbolisch vermittelten Interaktion neben der gegenseitigen Rollenübemahme der Kommunikationsteilnehmer das Verstehen von Symbolen, die perspektivische Wahrnehmung sowie Interpretation und Situationsdefinition 111.
N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 193 f. Ablehnend zur "Übertragungsmetapher" z. B. N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 193 ff. und zur "Röhrenmetapher" z. B. MaturanaIVarela, Der Baum der Erkenntnis, 1987, S. 212 sowie allgemein gegen die Vorstellung von Kommunikation als Zeichenübertragung P. Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, 1992, S. 26 ff.; H. v. Foerster, Wissen und Gewissen, 1993, S. 270 ff.; E. Jantsch, in: S. J. Schrnidt (Hrsg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, 5. Aufl. 1992, S. 159 ff., 170 f. 108 Zum wissenschaftstheoretischen Unterschied zwischen einem analytischen und einem Systemansatz vgl. z. B. die Gegenüberstellung bei F. Vester, Neuland des Denkens, 1980, S.43. 109 Vgl. dazu G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, 8. Aufl. 1991. 110 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handeins, Bd. 1 und 2, 4. Aufl. 1987. 111 H. Reimann, in: Endruweitffrommsdorff (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Bd. 2, 1989, S. 343 ff., 346 f. 106 107
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Das symbolisch-interaktionistische Denken beruht nach H. Blumer 1l2 letztlich auf den folgenden drei Prämissen: Die Menschen handeln - erstens - den Dingen ihrer Umwelt - d. h. Personen, Gegenständen, Zuständen, Ereignissen, Ideen etc. gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen, die diese Dinge für sie besitzen. Die Bedeutung dieser Dinge ergibt sich - zweitens - aus den sozialen Interaktionen. Diese Bedeutungen werden dann - drittens - in einem interpretativen Prozeß bei der Auseinandersetzung mit diesen Dingen benutzt und ggf. geändert. Kommunikation setzt nach dem symbolischen Interaktionismus nicht nur eine Reaktion auf das Verhalten des Kommunikators voraus; erforderlich ist vielmehr, daß der einzelne Kommunikationspartner sich vorstellt, wie der Empfänger sein Kommunique aufnimmt. Hierfür muß der Kommunikator die Reaktion des Rezipienten in sich selbst als Reaktion hervorrufen l\3. Kommunikation besteht daher nicht nur aus den Handlungen der Kommunikatoren, sondern wird darüber hinaus entscheidend durch die vorgestellten Erwartungen des Kommunikationspartners bestimmt ll4 . Perspektivische Wahrnehmung und das Verstehen von Symbolen sind nach dem symbolischen Interaktionismus erforderlich, weil erfolgreiche Kommunikation voraussetzt, daß die Kommunikatoren sich wechselseitig zumindest ähnliche Blickwinkel unterstellen. Mindestens ähnliche Erwartungen werden in den Kommunikationspartnern aber nur dann hervorgerufen, wenn sog. signifikante Symbole verwendet werden, bei denen ein Kommunique die dahinterstehende Idee ausdrückt und eben diese Idee im Rezipienten auslöst ll5 . Derartige signifikante Symbole kommen ihrerseits nur zustande, wenn die Kommunikatoren über vergleichbare Erfahrungen verfügen und diese mit dem jeweiligen Symbol verbinden. Erfolgreiche Kommunikation im Sinne einer Verständigung zwischen den Kommunikationsteilnehmern basiert daher auf intrapersonal gespeicherten sozialen Erfahrungszusammenhängen 116. Der symbolische Interaktionismus erfaßt den Kommunikationsprozeß zwar einerseits besser als die "mathematische Theorie der Kommunikation" von C. E. Shannon und W Weaver, weil er erkennt, daß Kommunikation nur dann zustande kommt, wenn die Kommunikatoren im Hinblick auf die Bedeutung der verwendeten Symbole übereinstimmen. Nach dem symbolischen Interaktionismus genügt es daher nicht, daß die von einem Kommunikationsteilnehmer gegebenen Signale als ebensolche beim Rezipienten ankommen; vielmehr müssen beide Kommunikatoren diesen Signalen überdies die gleiche Bedeutung zumessen.
112 H. Blumer, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, 1973, S. 80 ff., 81. 113 A. M. Rose, in: H. Hartmann (Hrsg.), Modeme amerikanische Soziologie, 1967, S. 266 ff., 270. 114 K. Merten, Kommunikation, 1977, S. 63. 115 G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, 8. Aufl. 1991, S. 85. 116 K. Merten, Kommunikation, 1977, S. 64.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
Andererseits ist aber auch damit der Kommunikationsprozeß noch nicht vollständig umschrieben: Kommunikation setzt zum einen neben der Interaktion auch Kognition voraus l17 , d. h. die kommunizierenden Individuen müssen die Kommunikationsgegenstände erst erkennen. Kognition bewirkt hierbei eine Koppelung von Prozeßsystemen; sie koppelt Systeme an ihre Umwelt 11 8. Dieses Erkennen der Kommunikationsgegenstände ist - wie bei der Erörterung des Verhältnisses von Wirklichkeit und Wahrnehmung gezeigt - vom jeweils erkennenden Subjekt abhängig. Alle denkbaren Zustände und Interaktionen zwischen Menschen sind durch deren individuelle Organisation und Struktur bedingt. Kognition ist deshalb konstitutiv mit der Organisation und Struktur des jeweils erkennenden Individuums verbunden l19 . Zum anderen beschreibt auch der symbolische Interaktionismus den Kommunikationsvorgang nur unvollständig. Er erfaßt zwar die Beziehung zwischen den insbesondere sprachlichen - Zeichen und den durch sie bezeichneten Gegenständen ebenso wie die Beziehung der Zeichen untereinander. Neben diesen semantischen und syntaktischen Aspekten kommt der Kommunikation aber auch eine pragmatische Dimension zu. Erfolgreiche Kommunikation erfordert daher nicht nur signifikante Signale, sondern setzt überdies Verständigung, d. h. freiwillige, gewaltlose, auf gegenseitigen Überzeugungen beruhende und daher vernünftige Einigung im Kommunikationsprozeß voraus 120. Eben dieser Aspekt steht im Mittelpunkt der "Theorie des kommunikativen Handeins" von J. Habennas. 2. Die Theorie des kommunikativen HandeIns
Die "Theorie des kommunikativen Handeins" strukturiert den Kommunikationsvorgang weiter und näher; sie erfaßt insbesondere auch dessen pragmatische Perspektive, d. h. die Beziehung zwischen Zeichen und Kommunikatoren. J. Habennas geht nach seinem als "Universalpragmatik" oder "Theorie der kommunikativen Kompetenz"l2l bezeichneten Ansatz, mit dem die universalen Bedingungen möglicher Verständigung identifiziert und nachkonstruiert werden sollen 122 , - wie P. Watzlawick l23 - von einer "Doppel struktur umgangssprachlicher 117 S. J. Schmidt, in: KrohnlKüppers, Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, 1992, S. 293 ff., 305. H8 Ausführlich dazu z. B. G. Schlosser, Einheit der Welt und Einheitswissenschaft. Grundlegung einer Allgemeinen Systemtheorie, 1990, S. 197 ff. H9 H. R. Maturana, in: ders., Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, 2. Auf!. 1985, S. 297 ff., 301 ff. 120 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handeins, Bd. 1,4. Auf!. 1987, S. 386 f. 121 J. Habermas, in: ders./Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie Was leistet die Systemforschung?, 1985, S. 101 ff. 102. 122 J. Habermas, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handeins, 3. Auf!. 1989, S. 353.
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Kommunikation,,124 aus: Er unterscheidet innerhalb jeder sprachlichen Kommunikation zwischen einer symbolischen und einer Handlungsebene. Sprechakte als die grundlegenden oder kleinsten Einheiten der sprachlichen Kommunikation bestehen dementsprechend aus zwei Teilen, die J. Habermas als Sätze bezeichnet. In der ersteren symbolischen Dimension werden grammatische Regeln und sprachliche Zeichen zu Sätzen geformt. Auf dieser syntaktisch und semantisch geprägten Ebene der Gegenstände wird "etwas" - ein Inhalt 125 - ausgesagt. In diesem Teil des Sprechaktes verständigen sich die Kommunikatoren über den mitzuteilenden Sachverhalt 126. Die Handlungsebene als zweite Dimension der Kommunikation zeichnet sich durch Äußerungen aus; auf dieser Ebene der Intersubjektivität 127 werden die zu Sätzen kombinierten Symbole von einem Sprecher geäußert und damit zu etwas benutzt (Pragmatik). Mit diesem dominierenden (performativen oder illokutiven) Teil der Kommunikation wird eine Beziehung 128 zwischen Sprecher und Hörer hergestellt l29 . Teilnehmer an einem Verständigungsprozeß müssen nach J. Habermas die universalen Geltungsansprüche der Verständlichkeit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit erheben und ihre Annahme erwarten. Sie müssen sich daher verständlich, d. h. unter Beachtung der sprachlichen Grammatik ausdrücken und einen wahren 130 Inhalt, d. h. etwas, dessen reale Existenz von allen Kommunikatoren unterstellt wird, mitteilen. Darüber hinaus müssen die Kommunikationspartner wahrhaftig sein, d. h. sie müssen ihre tatsächlichen Absichten zum Ausdruck bringen und dürfen sich nicht täuschen. Der Anspruch der Richtigkeit schließlich setzt voraus, daß die Kommunikatoren Äußerungen wählen, die vor dem Hintergrund beiderseits anerkannter Normen und Werte akzeptabel sind l3l . Verständigung in ihrer Maximalbedeutung 132 als "Herbeiführung eines Einverständnisses, welches in der 123 Watzlawick/Beavin/Jackson, Menschliche Kommunikation, 8. Auf!. 1990, S. 53 f. 124 J. Habermas, in: ders./Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie -
Was leistet die Systemforschung?, 1985, S. 101 ff. 105. 125 Watzlawick spricht dementsprechend von Inhaltsaspekt (Watzlawick/Beavin/Jackson, Menschliche Kommunikation, 8. Auf!. 1990, S. 53. 126 J. Habermas, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handeins, 3. Auf!. 1989, S. 353 ff., 406; ders., in: ders./Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung?, 1985, S. 101 ff. 105. 127 J. Habermas, in: ders./Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie Was leistet die Systemforschung?, 1985, S. 101 ff., 105. 128 P. Watzlawick bezeichnet diese Ebene daher auch als Beziehungsaspekt (Watzlawickl Beavin/Jackson, Menschliche Kommunikation, 8. Auf!. 1990, S. 53 f.). 129 J. Habermas, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handeins, 3. Auf!. 1989, S. 353 ff., 406 f. 130 Vgl. zur Definition von Wahrheit näher unten im Text sub § 4. D. 131 J. Habermas, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen HandeIns, 3. Auf!. 1989, S. 353 ff., 354 f. 132 "Verständigung" ist im Deutschen mehrdeutig: Die minimale Bedeutung ist, daß zwei Subjekte einen sprachlichen Ausdruck identisch verstehen (J. Habermas, in: ders., \3*
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
intersubjektiven Gemeinsamkeit des wechselseitigen Verstehens, des geteilten Wissens, des gegenseitigen Vertrauens und des miteinander Übereinstimmens terminiert,,133, erweist sich dabei in der alltäglichen Kommunikation als unproblematisch. Insoweit besteht nämlich ein "Hintergrundkonsens,,134 darüber, daß alle Kommunikationspartner die universalen Geltungsansprüche erheben müssen, diese von allen Kommunikatoren erfüllt werden und entweder bereits eingelöst sind oder eingelöst werden könnten 135. Die universalen Geltungsansprüche werden in alltäglichen Kommunikationssituationen erst thematisiert, wenn der Hintergrundkonsens gestört wird. In diesem Fall treten zunächst typische Rückfragen auf: Bei fehlender Verständlichkeit werden Deutungen, bei Zweifeln an der Wahrheit Behauptungen und Erklärungen und in Fällen ungewisser Richtigkeit Rechtfertigungen verlangt 136. Bleiben diese Rückfragen ohne Erfolg, kann die Kommunikation entweder abgebrochen, von der verständigungsorientierten zu einer strategischen Kommunikation übergegangen oder der Diskurs als höhere Form der verständigungsorientierten Kommunikation gewählt werden. Im Gegensatz zur verständigungsorientierten Kommunikation, die durch gemeinsame Überzeugungen ein rational motiviertes Einverständnis anstrebt, ist die strategische Kommunikation durch eine "erfolgskalkulierte Einflußnahme auf die Einstellungen des Gegenübers,d37 gekennzeichnet. Strategische Kommunikation kann offen oder verdeckt erfolgen. Im ersteren Fall wird entweder durch Drohungen eine erzwungene oder durch Lockungen eine erkaufte Übereinstimmung angestrebt; im letzteren Fall wird Übereinstimmung durch bewußte Täuschung erschlichen oder es besteht durch eine unbewußte Täuschung nur scheinbar Übereinstimmung l38 . Im Diskurs wird versucht, das in der alltäglichen Kommunikation selbstverständliche, jetzt aber problematisch gewordene Einverständnis durch Begründung wiederherzustellen 139. Dabei werden die angezweifelten universalen GeltungsanVorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handeins, 3. Auf!. 1989, S. 353 ff., 355). I33 J. Habermas, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handeins, 3. Auf!. 1989, S. 353 ff., 355. 134 J. Haberrnas, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handeins, 3. Auf!. 1989, S. 353 ff., 356. 135 J. Haberrnas, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handeins, 3. Auf!. 1989, S. 353 ff., 356. 136 J. Haberrnas, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handeins, 3. Auf!. 1989, S. 11 ff., 110 f. 137 J. Haberrnas, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handeins, 3. Auf!. 1989, S. 571 ff., 574 f. 138 Vgl. Figur 18 bei J. Haberrnas, Theorie des kommunikativen Handeins, Bd. 1,4. Auf!. 1987, S. 446. 139 J. Haberrnas, in: ders./Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie Was leistet die Systemforschung?, 1985, S. 101 ff. 115.
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
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sprüche selbst zum Thema der Kommunikation gemacht. Der Diskurs soll dabei überzeugende Argumente, mit denen Geltungsansprüche eingelöst oder zurückgewiesen werden können, produzieren 140. Es wird damit ein "wahrer", frei von Zwängen zustande kommender Konsens allein auf der Grundlage des besseren, weil einleuchtenderen Arguments angestrebt. Diese Anforderungen sind nur in einer fiktiven idealen Sprechsituation verwirklicht, in der die Kommunikation weder durch äußere Einwirkungen noch durch Zwänge behindert wird, die sich aus der Struktur der Kommunikation selbst ergeben. Dazu muß für alle Diskursteilnehmer eine symmetrische Verteilung der Chancen, Sprechakte zu wählen und auszuführen, gegeben sein 141. Die ideale Sprechsituation ist als Utopie einer herrschaftsfreien Kommunikation, in der völlige Chancengleichheit besteht l42, einerseits fiktiv; andererseits wird aber gerade sie von den Diskursteilnehmern unterstellt, obwohl sie die Kontrafaktizität kennen 143. Dies gehört zur Struktur möglicher Rede. Das von J. Habennas entworfene "normative Fundament sprachlicher Verständigung ist mithin beides: antizipiert, aber als antizipierte Grundlage auch wirksam.,,144 An eben diesem Punkt setzt aber auch die Kritik der Theorie von J. Habennas an. Die - von J. Habennas eingeräumte - Kontrafaktizität der idealen Sprechsituation und ihrer Prämissen, insbesondere der Gleichheit unter den Kommunikatoren, zeigt, daß die "Theorie des kommunikativen Handeins" nicht Kommunikation allgemein, sondern nur einen Spezialfall erfaßt. J. Habennas konzentriert seine Ausführungen auf die sprachliche Kommunikation; diese stellt aber nur eine von mehreren möglichen Kommunikationsformen dar. Darüber hinaus erweist sich die Annahme einer Verbindlichkeit des illokutiven, die Beziehung zwischen den Kommunikatoren betreffenden Kommunikationsanteils als realitäts fremd. Dies würde nämlich voraussetzen, daß der Sinn eines Kommuniques in identischer Form vom Sender auf den Empfänger übertragen würde l45 . Damit wird von einem handlungstheoretischen Verständnis von Kommunikation ausgegangen und der Kommunikationsvorgang nach wie vor als gelingende oder mißlingende Übertragung verstanden l46 . Kommunikation stellt aber keine Übertragung dar. Eine Übertragung von Sinn durch Kommunikation ist schon deshalb ausgeschlossen, weil Sinn für jedes J. Habennas, Theorie des kommunikativen HandeIns, Bd. 1,4. Auf!. 1987, S. 48. Zur idealen Sprechsituation siehe J. Habennas, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen HandeIns, 3. Auf!. 1989, S. 127 ff., 174 ff., insb. S. 177. 142 J. Habennas, in: ders.lLuhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie Was leistet die Systemforschung?, 1985, S. 101 ff., 136 ff. 143 J. Habennas, Der philosophische Diskurs der Modeme. Zwölf Vorlesungen, 3. Auf!. 1991, S. 376. 144 J. Habennas, in: ders.lLuhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie Was leistet die Systemforschung?, 1985, S. 101 ff. 140. 145 J. Habennas, in: ders.lLuhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie Was leistet die Systemforschung?, 1985, S. 142 ff., 188. 146 N. Luhmann, in: F. B. Simon (Hrsg.), Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie, 1988, S. 10 ff., 13. 140 141
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
psychische System etwas anderes bedeutet und daher nicht übertragen, sondern nur prozessiert werden kann l47 . Ungeachtet dessen können die von J. Habermas für eine Kommunikation erhobenen Prämissen zwar möglicherweise eintreten; ein derartiges Zusammentreffen stellt dann aber nicht den Regelfall, sondern einen "voraussetzungsvollen Sonderfall,,148 dar. Dies gilt in besonderem Maße für die zentrale Annahme der "Theorie des kommunikativen HandeIns", derzufolge Kommunikation auf Konsens und Verständigung gerichtet ist. Diese Vorbedingung ist ,jedoch schon empirisch schlicht falsch. Man kann auch kommunizieren, um Dissens zu markieren, man kann sich streiten wollen, und es gibt keinen zwingenden Grund, die Konsenssuche für rationaler zu halten als die Dissenssuche.,,149 Kommunikation ist zwar ohne jeden Konsens unmöglich; ohne jeden Dissens ist sie aber ebenso unmöglich. Konsens ist nur im Hinblick darauf, daß kommuniziert wird, nicht aber über den Inhalt der Kommunikation erforderlich 150. Kommunikation setzt nur voraus, daß man die Frage nach Konsens oder Dissens bzgl. momentan nicht aktueller Themen dahingestellt sein lassen kann 151. Zusammenfassend ist festzustellen, daß die "Theorie des kommunikativen Handelns" von J.Habermas verzerrte Kommunikationen nicht erklären kann. J. Habermas analysiert kommunikatives Handeln, aber keine Kommunikation 152.
III. Kommunikation als System Diese gegen ein Verständnis von Kommunikation als Interaktion im Sinne sowohl des symbolischen Interaktionismus als auch der Theorie des kommunikativen HandeIns gerichteten Einwände werden durch eine Qualifizierung der Kommunikation als System überwunden. Kommunikation erweist sich dabei sowohl im Hinblick auf die Allgemeine Systemtheorie als auch bzgl. der von N. Luhmann vertretenen Theorie autopoietischer Systeme als System.
147
N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Auf!. 1988, S. 92 ff.
148
T. Berndsen, Von Handlung zu Kommunikation. Zur paradigmatischen Bedeutung von
Kommunikation in neueren soziologischen Theorien, 1991, S. 29. 149 N. Luhmann, in: F. B. Simon (Hrsg.), Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie, 1988, S. 10 ff., 14. 150 H. Willke, Systemtheorie entwickelter Gesellschaften, 1989, S. 25. 151 N. Luhmann, in: F. B. Simon (Hrsg.), Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie, 1988, S. 10 ff., 14. 152 G. Kiss, Paradigmenwechsel in der Kritischen Theorie: Jürgen Habermas' intersubjektiver Ansatz, 1987, S. 95.
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
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1. Kommunikation als System i. S. d. Allgemeinen Systemtheorie
Schon die Qualifizierung von Kommunikation als System i. S. d. Allgemeinen Systemtheorie erweist sich als weiterführend. Die Allgemeine Systemtheorie will alle - äußerst heterogenen - Systemtypen in ihren fundamentalen Eigenschaften beschreiben; ihr zufolge sind Systeme Einheiten, die sich durch ein Systemsubjekt, einen Systemzweck sowie durch Elemente und Relationen zwischen ihnen auszeichnen. Systeme abstrahieren partiell und reduzieren damit die Komplexität der Wirklichkeit. Dabei entsteht kein objektives, sondern ein vom Blickwinkel und den Intentionen, Wertvorstellungen und Interessen des jeweiligen Betrachters abhängiges, an Raum und Zeit gebundenes Abbild der Wirklichkeit. Jedes System ist daher durch den Betrachter konstituiert, aspektbezogen, zweckspezifisch und an Raum und Zeit gebunden - also perspektivisch. Systeme spiegeln die Wirklichkeit damit nur verfremdet durch die Sinne, Bedürfnisse, Sprachen und Erfahrungen des jeweiligen Betrachters wider l53 . So gesehen ist Kommunikation von ihrem Entstehungs- und Verwendungszusammenhang, dem Betrachter und dem Original abhängig. Sie ist an das jeweilige Subjekt und den jeweils verfolgten Zweck ebenso gebunden wie an Zeit und Ort. Kommunikation kann daher weder wertfrei noch objektiv sein. Kommunikation ist ein Produkt oder Konstrukt, kein Abbild l54 . 2. Kommunikation als System i. S. d. Theorie autopoietischer Systeme von N. Luhmann
Die Schwächen der von J. Habermas vertretenen "Theorie des kommunikativen Handeins" überwindet vollends die von N. Luhmann entwickelte Theorie autopoietischer Systeme 155. Autopoietische Systeme sind - im Gegensatz zu allopoietischen - sich selbsterzeugende und erhaltende Einheiten. Durch die operationale Geschlossenheit ihrer Organisation sind autopoietische Systeme autonom, nicht aber autark. Materiell und energetisch sind sie offen. Autopoietische Systeme haben weder In- noch Output; sie können durch Umwelteinflüsse nur irritiert, nicht aber determiniert werden 156. 153 Vgl. zu dieser Zusammenfassung der Allgemeinen Systemtheorie W. Steinmüller, Informationstechnologie und Gesellschaft, 1993, S. 162 ff. Zu den hieraus resultierenden Problemen für den Gesetzgeber siehe H. Schulze-Fielitz, in: Hoffmann-RiemlSchmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandeins, 1994, S. 139 ff. 154 Auch hierzu siehe W. Steinmüller, Informationstechnologie und Gesellschaft, 1993, S. 189 ff. der zwar vornehmlich Information beschreibt, andererseits aber ausdrücklich feststellt (a. a. 0., S. 207): "Was der Information recht ist, soll der Kommunikation billig sein (denn sie ist eine Art Information)". 155 Grundlegend hierzu N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Auf!. 1988. 156 Zu den autopoietischen Systemen vgl. z. B. Maturana/Varela, in: H. R. Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, 2. Auf!. 1985, S. 170 ff., 184 f.
200
2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
a) Kommunikation - Synthese dreier Selektionen Im Zentrum dieser Betrachtungen der Kommunikation steht nicht mehr das Zustandekommen von Verständigung, sondern die soziale bzw. gesellschaftliche Umwelt des kommunikativen Geschehens. Kommunikation stellt hiernach selbst ein soziales System dar. Nach N. Luhmann bezeichnet der Kommunikationsbegriff weder ein Mitteilungshandeln, bei dem Informationen übertragen werden, noch stellt er eine "Verständigungsdruck implizierende Begriffsvorlage,,157 dar. Kommunikation ist vielmehr ein eigenständiges, sich selbst reproduzierendes soziales System; sie kommt durch die Synthese dreier verschiedener Selektionen - nämlich Selektion einer Information, Selektion der Mitteilung dieser Information und selektives Verstehen oder Mißverstehen dieser Mitteilung und ihrer Information - zustande l58 . Information als erste Selektion besteht in der Auswahl einer Möglichkeit aus einem Horizont von vielen. Kommunikation konstituiert damit das, was sie wählt, schon als Selektion, nämlich als Information. Das, was sie mitteilt, wird nicht nur ausgewählt, sondern ist selbst schon Auswahl und wird deshalb mitgeteilt l59 . Die Mitteilung als zweite Selektion ist ebenfalls eine Auswahl: Der Kommunikationsteilnehmer wählt aus einer Vielzahl von möglichen Mitteilungsformen ein Verhalten aus, mit dem er die Information präsentiert 160. Die dritte Selektion - das Verstehen oder Mißverstehen - stützt sich auf die Differenz der beiden ersten Selektionen. Wird diese Differenz zwischen dem Informationswert des Inhalts und den Gründen, aus denen der Inhalt mitgeteilt wird, nicht erkannt, liegt keine Kommunikation, sondern eine bloße Wahrnehmung vor 161 . Die durch Kommunikation beabsichtigte Zustandsänderung bei den Kommunikationsteilnehmern tritt mit dem Verstehen des Sinns der Kommunikation als letztem, die Kommunikation abschließenden Akt ein. Die darauffolgende Annahme oder Ablehnung ist ein nicht mehr zur Kommunikation gehörender Anschlußakt. Die Kommunikation ist unabhängig von ihrer Annahme oder Ablehnung erfolgt 162. Das Erfordernis des Verstehens für Kommunikation hat für deren Gesamtverständnis zentrale Bedeutung. Es zeigt nämlich, daß Kommunikation nur als selbstN. Luhmann, in: ders., Soziologische Aufklärung 3, 2. Auf). 1991, S. 198. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Auf). 1988, S. 194 ff., insb. 203; N. Luhmann, Ökologische Kommunikation, 3. Auf). 1990, S. 266 f.; N. Luhmann, in: F. B. Simon (Hrsg.), Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie, 1988, S. 10 ff., 11 ff. 159 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Auf). 1988, S. 194 f.; P. Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit, 1992, S. 28 f. 160 P. Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, 1992, S. 29. 161 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Auf). 1988, S. 196; ders., in: F. B. Simon (Hrsg.), Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie, 1988, S. 10 ff., 11 f. 162 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Auf). 1988, S. 203 ff. 157
158N.
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
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referentieller Prozeß möglich ist, d. h. wenn auf eine Kommunikation eine weitere folgt, wird jeweils mitgeprüft, ob die vorausgehende verstanden worden ist l63 . Kommunikation stellt sich danach als das fortlaufende Prozessieren von Selektionen und die laufende Formveränderung von Sinn dar. Sie formt Freiheit unter wechselnden Bedingungen in Freiheit um, die sich bei hinreichender Komplexität der Umwelt bewährt 164 .
b) Kommunikation als soziales System - ein Paradigmen wechsel Die Auffächerung der Kommunikation in drei Selektionen stellt noch keine wesentliche Novität dar, zumal sich auch die von J. Habermas vertretene "Theorie des kommunikativen HandeIns" und die von ihr postulierten Geltungsansprüche als Ausdifferenzierung des Kommunikationsvorgangs erweisen l65 . Der wesentliche und folgenreiche Unterschied zwischen dem Kommunikationsbegriff von J. Habermas und demjenigen von N. Luhmann liegt in der Qualifizierung der Kommunikation als System und Systembildungsfaktor durch letzteren 166. Damit wird das handlungstheoretische Verständnis von Kommunikation, das insbesondere in der auch bei J. Habermas noch erkennbaren "Übertragungsmetaphorik" zum Ausdruck kommt, überwunden. Kommunikation kann nicht als Handlung und der Kommunikationsprozeß nicht als Kette von Handlungen begriffen werden l67 . aa) Anschlußfähigkeit von Kommunikation durch Speicherung von Selektionsofferten
Die "Übertragung" von Informationen, in der herkömmlicherweise das Wesen von Kommunikation erblickt wird, erweist sich aus dieser Perspektive nur als Nebeneffekt in der Umwelt der Kommunikation als System l68 . Tatsächlich bietet Kommunikation nur Selektionsofferten an, die angenommen oder abgelehnt werden können l69 . Diese werden nicht übermittelt, sondern im Kommunikationssystem durch die Erzeugung von Redundanz gespeichert 170. Kommunikation beschränkt sich daher nicht auf bloße Reproduktion, sondern kann auch als VermehN. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 198 f. N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 205 f. 165 N. Luhmann, in: F. B. Simon (Hrsg.), Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie, 1988, S. 10 ff., 13. 166 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 236 ff., insb. 238 f.; ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 26. 167 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 225. 168 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 27. 169 N. Luhmann, in: ders., Soziologische Aufklärung 2, 4. Aufl. 1991, S. 193 ff., 195. 170 N. Luhmann, in: F. B. Simon (Hrsg.), Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie, 1988, S. 10 ff., 13. 163
164
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
rung von Redundanz verstanden werden 171 • Im Kommunikationsprozeß werden Information, Mitteilung und Verstehen als Selektionen der Kommunikatoren durch eine zweite Selektivität, die der Kommunikation, ersetzt; hierdurch wird Kommunikation anschlußfähig 172 . bb) Strukturelle Koppelung von Bewußtsein und Kommunikation
Eine direkte Verbindung zwischen Kommunikationsteilnehmern ohne Zwischenschaltung eines Kommunikationssystems scheidet schon deshalb aus, weil nur die Kommunikation, nicht aber Menschen kommunizieren können 173. Kommunikation ist ein zirkuläres, geschlossenes, sich selbst reproduzierendes System. Der - gleichwohl notwendige - Zusammenhang zwischen dem Bewußtsein der Kommunikatoren und der Kommunikation ergibt sich im Wege der strukturellen Kopplung 1?4. Strukturelle Kopplung meint dabei die wechselseitige Abhängigkeit von System und Umwelt, die ein Beobachter sehen kann, wenn er die Unterscheidung von System und Umwelt zugrunde legt 175 . Strukturell gekoppelte Systeme sind einerseits aufeinander angewiesen, bleiben andererseits aber füreinander Umwelt. Die strukturelle Kopplung bezeichnet keinen kausalen Zusammenhang, sondern beschreibt ein Verhältnis der Gleichzeitigkeit 1?6. cc) Duplizierung der Realität durch Kommunikation
Aus dem Blickwinkel der Systemtheorie von N. Luhmann erweist sich Kommunikation daher - im Gegensatz zur Interpretation von J. Habermas - nicht als verständigungs- oder konsensorientiert. Kommunikation hat nach N. Luhmann prinzipiell keinen derartigen konkreten Zweck, sondern "geschieht oder geschieht nicht"l?? Sie knüpft einerseits an die Komplexität der Umwelt an und setzt andererseits unterschiedliche Beobachtungsperspektiven, die zu inkongruentem Wissen führen, voraus. Aufgabe der Kommunikation ist es gerade, auf Störungen und Zufälle in der Umwelt zu reagieren und diese durch Evolution zu verarbeiten. Konsens kann dabei nicht das Ziel dieses Prozesses sein: Eine auf Konsens gerichtete, erfolgreiche Kommunikation würde sonst ihre eigenen Voraussetzungen zerstören. Dauerhafter Konsens wäre nicht anschlußfähig und könnte keine Fortentwicklung Vgl. dazu G. Bateson, Ökologie des Geistes, 4. Aufl. 1992, S. 524 f. P. Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, 1992, S. 30. m N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 31. 174 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 38 ff. 175 N. Luhmann, Ökologische Kommunikation, 3. Aufl. 1990, S. 267. 176 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 39. m N. Luhmann, in: F. B. Simon (Hrsg.), Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie, 1988, S. 10 ff., 14. 171
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§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
203
aufnehmen 178. Anschluß- und Anpassungsfähigkeit werden hingegen durch Redundanz gewährleistet. Redundanz führt ihrerseits zu Strukturbildung und Differenz: Strukturbildung erfolgt durch Extraktion dessen, was sich in vielen Kommunikationen bewährt hat. Hierdurch erzeugt Kommunikation zugleich einen Entscheidungsdruck, indem zum einen die gebildeten Strukturen ebenso wie die in einzelnen Kommunikationen mitgeteilten und verstandenen Nachrichten entweder angenommen oder abgelehnt werden können. Kommunikation dupliziert damit die Realität gleichsam in eine Ja- und in eine Nein-Fasssung, zwingt zur Entscheidung für eine dieser Alternativen und sichert damit zugleich ihren eigenen Fortbestand. Die weitere Kommunikation kann nun nämlich entweder auf Konsens oder auf Dissens aufbauen oder versuchen, das Problem zukünftig auszuklammern 179 .
c) Transformation der Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation in Wahrscheinlichkeit So betrachtet erweist sich - im Gegensatz zu den Annahmen von J. Habermasgelingende Kommunikation nicht als Regel-, sondern als Ausnahmefall: Kommunikation ist unwahrscheinlich 18o . Das von P. WatzlawicklJ. H. BeaviniD. D. Jackson 181 aufgestellte Axiom von der Unmöglichkeit nicht zu kommunizieren 182 steht dem nicht entgegen, da es nur unter zwei Einschränkungen gilt: Zum einen trifft es keine Aussage über den Inhalt und das Gelingen von Kommunikation, sondern besagt nur, daß kommuniziert wird; zum anderen entfaltet es nur innerhalb von Interaktionssystemen unter Anwesenden Gültigkeit 183. Kommunikation ist dabei in dreifacher Weise unwahrscheinlich: Es ist weder wahrscheinlich, daß das Gemeinte verstanden, noch daß ein Empfänger erreicht wird. Darüber hinaus ist - drittens - der Erfolg der Kommunikation in dem Sinne, daß der Empfänger die Information als den selektiven Inhalt der Kommunikation annimmt und hieran weitere Selektionen anschließt, unwahrscheinlich 184. Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation wird durch Medien in Wahrscheinlichkeit transformiert l85 . Als solche Medien unterscheidet N. Luhmann SpraN. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 236 ff., insb. mit Fußn. 73. N. Luhmann, in: F. B. Simon (Hrsg.), Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie, 1988, S. 10 ff., 14 f. 180 Vgl. zur Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation als Ausgangspunkt N. Luhmann, in: ders., Soziologische Aufklärung 3, 2. Aufl. 1991, S. 25 ff. 181 WatzlawickJBeavinlJackson, Menschliche Kommunikation, 8. Aufl. 1990, S. 50 ff., 72 ff. 182 Diesen folgend z. B. auch H. Hill, JZ 1993, 330 ff. 183 N. Luhmann, in: ders., Soziologische Aufklärung 3, S. 25 ff., 27. 184 N. Luhmann, in: ders., Soziologische Aufklärung 3, S. 25 ff., 26 f. 185 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 220. 178 179
204
2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
ehe, Schrift und Buchdruck sowie elektronische Verbreitungsmedien und symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien. Sprache und Verbreitungsmedien sind dabei darauf gerichtet, Verständlichkeit und Erreichbarkeit von Empfängern der Kommunikation zu erhöhen. Mit Hilfe der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien sollen demgegenüber die Erfolgschancen von Kommunikation gesteigert werden 186. aa) Verbreitungsmedien
Sprache dient dabei zwar der Kommunikation, indem sie generalisierte Symbole, die Alternativen eines Ja und eines Nein zur Verfügung stellt und so die Koordinationsfähigkeit über die Mittel der Gestik hinaus erhöht. Darüber hinaus gliedert Sprache die Abläufe des Bewußtseins und vermittelt die Komplexität sozialer Systeme an psychische Systeme l87 . Nach der Systemtheorie von N. Luhmann sind Schrift und Buchdruck aber die gegenüber der Sprache kommunikativeren Formen der Kommunikation, da N. Luhmann im Gegensatz zu J. Habermas Kommunikation nicht teleologisch auf Konsens angelegt versteht l88 . Schrift und Buchdruck als Verbreitungsmedien dehnen Kommunikation nicht nur über den räumlich und zeitlich begrenzten Kreis der Anwesenden hinaus aus l89 , sondern erzwingen zudem die Erfahrung der Differenz, die Kommunikation erzeugt. Schrift und Buchdruck als Verbreitungsmedien machen den Unterschied zwischen Mitteilung und Information deutlich und legen den Anschluß von Kommunikationsprozessen nahe, die auf diese Differenz reagieren 190. Durch die damit verbundene Verifizierbarkeit und Objektivierung von Information und Mitteilung werden von den Kommunikatoren höhere kognitive Kompetenzen gefordert. bb) Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
Sprache, Schrift und Buchdruck erhöhen daher die - räumliche und zeitliche Reichweite und damit die Kommunikationsmöglichkeiten zwar einerseits nachhaltig. Andererseits garantieren oder erhöhen sie die Erfolgschancen von Kommunikation aber nicht nur nicht, sondern machen eine gelingende Kommunikation im Gegenteil noch unwahrscheinlicher. Der kommunikative Erfolg, die Übernahme der durch die Kommunikation angebotenen Selektionsofferten, wurde bis zur Erfindung der Verbreitungsmedien im jeweiligen Interaktionsverhältnis verwirklicht: In früheren, noch sehr einfach strukturierten Gesellschaften gelang Kommunikation wegen der damals noch bestehenden gemeinsamen Realitätskonstruktionen 186 T. Berndsen, Von Handlung zu Kommunikation. Zur paradigmatischen Bedeutung von Kommunikation in neueren soziologischen Theorien, 1991, S. 37 ff., insb. 38 f. 187 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 367 ff., insb. 368. 188 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 224 m. Fußn. 48. 189 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 219. 190 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 223 f.
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
205
ohne weiteres 191. Auch die Sprache stellte den kommunikativen Erfolg nicht grundsätzlich in Frage. Der Erfolg der Kommunikation wurde weiterhin innerhalb der jeweiligen Interaktionsbeziehung gewährleistet. Die Übernahme der durch die Kommunikation angebotenen Selektionsofferten wurde durch die Ausprägung spezieller Überzeugungstechniken - Eloquenz, Rhetorik etc. - gefördert l92 . (1) Motivation zur Annahme kommunikativer Selektionsofferten
Erst Schrift und Buchdruck als Verbreitungsmedien verlangten neue Formen als Motivation, die durch die Kommunikation übermittelten Selektionsofferten anzunehmen. Als solche wirken nunmehr die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien; diese konditionieren die Selektionen der Kommunikation so, daß sie zugleich als Motivationsmittel wirken und die Übernahme der kommunikativ übermittelten Selektionsofferte hinreichend sicherstellen 193. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien sind - ohne Anspruch auf Vollständigkeit 194 - z. B. Kunst, Glaube, Religion l95 , Macht l96 , Recht l97 , Eigentum, Geld l98 , Liebe 199 und Wahrheit 2oo . Diese symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien sind nicht zufällig jeweils einem funktional ausdifferenzierten gesellschaftlichen System zugeordnet - Wahrheit der Wissenschaft, Macht der Politik, Geld der Wirtschaft, Liebe den Intimbeziehungen etc. -, vielmehr bedingen kommunikativer Erfolg und die Ausprägung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien einander und führen ihrerseits zur Ausdifferenzierung funktional spezialisierter sozialer Systeme201 . (2) Kommunikationskoordination durch Codes Zur Zusammenführung der drei Selektionen - Information, Mitteilung und Verstehen - dienen für die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien jeweils N. Luhmann, Macht, 2. Aufl. 1988, S. 6. N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 221 f. 193 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 222. 194 N. Luhmann, in: ders., Soziologische Aufklärung 2, 4. Aufl. 1991, S. 170 ff., 180. Vgl. zur folgenden Aufzählung N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 222. 195 Hierzu z. B. N. Luhmann, Funktion der Religion, 1982. 196 Vgl. insb. N. Luhmann, Macht, 2. Aufl. 1988. 197 N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993. 198 Siehe dazu vornehmlich N. Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, 2. Aufl. 1989. 199 Dazu insb. N. Luhmann, Liebe als Passion, 1982. 200 Vgl. hierzu vor allem N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992 und näher unten im Text sub § 4. D. 201 G. Kiss, Grundzüge und Entwicklung der Luhmannschen Systemtheorie, 2. Aufl. 1990, 191
192
S.71.
206
2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
unterschiedliche Codes. Diese wirken insofern kommunikationskoordinierend, als sie eine Einteilung von Ereignissen in Informationen und Störungen erlauben. Hieraus resultieren jedoch auch Ansprüche an die Codierung: Die Kommunikationsteilnehmer müssen die Codes zum einen gleichsinnig und standardisiert verwenden. Zum anderen müssen die Kommunikationsteilnehmer zukunftsorientiert sein, um überhaupt auf Informationen reagieren zu können. Kommunikation setzt voraus, daß ein Kommunikationsteilnehmer zwei Selektionen unterscheiden und diese Differenz seinerseits handhaben kann. Dabei müssen die Selektionen und deren Handhabung durch die Kommunikationsteilnehmer jeweils vorweggenommen werden. Dies erfordert eine Antizipation und die Antizipation von Antizipationen 202 .
IV. Arten der Kommunikation Innerhalb der unterschiedlichen Kommunikationen können verschiedene Arten ausdifferenziert werden, die bei der weiteren Betrachtung der polizeilichen Informationsvorsorge Bedeutung erlangen können. Hier sollen nur die folgenden kurz erwähnt werden:
1. Technische Kommunikation
Der Kommunikationsbegriff erstreckt sich auch auf die technische Kommunikation, der die von der Technik nur unterstützte Kommunikation ebenso unterfällt wie die Kommunikation zwischen vollautomatischen Systemen. Dies gilt insbesondere schon deshalb, weil sich auch die technische Kommunikation auf die vier semiotischen Dimensionen - nämlich die syntaktische, die semantische, die pragmatische und die sigmatische - bezieht und Menschen überdies sowohl bei der Errichtung als auch bei der Interpretation technischer Kommunikation ebensoviel oder - im Hinblick auf die später noch zu erörternde These von N. Luhmann, psychische Systeme könnten nicht kommunizieren - ebensowenig beteiligt sind wie bei der Kommunikation zwischen Menschen 203 . 2. Hierarchische Kommunikation
Kommunikation kann sowohl mit gleichgestellten als auch mit Kommunikatoren erfolgen, die in einem Über-lUnterordnungsverhältnis stehen. Im letzteren Fall - der hierarchischen Kommunikation - ermöglicht eine Kommunikation mit un202 203
N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Auf!. 1988, S. 197 f. Wie hier z. B. W. Steinmüller, Informationstechnologie und Gesellschaft, 1993, S. 159 f.
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
207
gleichen, hierarchischen Kommunikationsteilnehmern erst eine solche unter gleichen Kommunikationsteilnehmern. Dies ist für die hier zu beurteilende polizeiliche Informationsvorsorge deshalb von besonderer Bedeutung, weil hoheitliche Kommunikation ebenfalls hierarchische Kommunikation darstellt. So ermöglicht der dem Bürger übergeordnete Staat durch hierarchische bzw. hoheitliche Kommunikation im Verhältnis StaatlBürger eine Kommunikation unter Gleichen zwischen Bürgern. Als Beispiel hierfür nennt W Steinmüller das Verhältnis zwischen Krankenkassen und Versicherten als Kommunikation zwischen Ungleichen einerseits, das seiner- und andererseits eine Kommunikation unter Gleichen zwischen Patient und Kassenarzt ermöglicht. Hierarchische Kommunikationen sind allerdings keinesfalls auf den staatlichen Bereich beschränkt. Sie treten vielmehr schon und jedenfalls immer dann auf, wenn eine Kommunikation ein Netz erfordert. In diesen Fällen ist die Zulassung zum Netz Kommunikation unter Ungleichen, nämlich zwischen Netzbetreiber und Netznutzer. Die erstrebte Kommunikation zwischen mehreren Netznutzern stellt sich wiederum als Kommunikation unter Gleichen dar. Typische Beispiele für hierarchische Kommunikation sind mithin die Verhältnisse zwischen der Deutschen Telekom AG - ebenso vor wie nach einer Privatisierung - und deren Kunden 204 .
D. Wahrheit als Identität von Wirklichkeit und Wahrnehmung die Wahrheitstheorien Der - oben geschilderte 205 - Streit insbesondere zwischen Realismus, Idealismus und Konstruktivismus über das Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrnehmung spiegelt sich nicht nur in den soeben dargestellten Kommunikationsmodellen, sondern auch in den im folgenden anzusprechenden unterschiedlichen Wahrheitstheorien wider. Auch bei diesen kann zwischen Ansichten, die die Wahrheitsdefinition als interaktiven Vorgang und solchen, die hierin einen einseitigen Erkenntnisvorgang sehen, differenziert werden. Die Wahrheitstheorien gewinnen sowohl allgemein als auch im Hinblick auf die polizeiliche Informationsvorsorge in zweifacher Hinsicht Bedeutung: Für die Konstitution der Wirklichkeit kommt den Wahrheitstheorien zum einen insofern gesteigerte Bedeutung zu, als sie das Verhältnis zwischen der Wirklichkeit als solcher und den Aussagen hierüber beschreiben; sie exemplifizieren damit die Auswirkungen der unterschiedlichen Wirklichkeitsauffassungen. Zum anderen hängen der In204 Zum Ganzen ähnlich und mit den hier wiedergegebenen Beispielen W. Steinmüller, Informationstechnologie und Gesellschaft, 1993, S. 160 f. 205 Vgl. im Text oben sub § 4. B.
208
2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
formationsfluß und die Befugnis der Polizei zur Datenverarbeitung jedenfalls auch vom Wahrheitsgehalt der jeweiligen Daten ab. "Falsche" Daten müssen - so wird sich zeigen - jedenfalls korrigiert oder gelöscht werden; eine weitere Verarbeitung kommt nur für "richtige" Daten in Betracht. Die insbesondere soziologische206 und philosophische 2 0 7 , aber auch rechtswissenschaftliche208 Diskussion dessen, was Wahrheit ist, kann hier nur angedeutet werden. Eine abschließende Bestimmung von Wahrheit kann ebensowenig geboten werden wie eine endgültige Klärung der Frage, was Wirklichkeit ist, geboten werden konnte; dies ist indessen auch nicht erforderlich. Der folgende Überblick wird zeigen, daß Wahrheit ebenso wie Wirklichkeit das Ergebnis von Kommunikation ist. Ebenso wie es divergierende Wirklichkeitsauffassungen 209 gibt, gibt es auch nicht nur eine objektive und absolute Wahrheit, sondern mehrere. Wahrheit ist wie Macht, Geld, Glaube oder Vertrauen ein Kommunikations- und symbolisch generalisiertes Steuerungsmedium 21O .
206 V gl. hierzu insbesondere BergerlLuckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 1991; N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 167 ff.; J. Habermas, Wahrheitstheorien, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handeins, 3. Auf!. 1989, S. 127 ff.; ders., in: ders.lLuhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung?, 1985, S. 142 ff., 221 ff.; N. Luhmann, in: HabermaslLuhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung?, 1985, S. 291 ff., 342 ff.; W. Pöter, Wahrheitstheorien und die Stellung des Wahrheitsbegriffs in den Sozialwissenschaften, 1989 sowie anschaulich P. Watzlawick, Wie wirklich ist die Wirklichkeit?, 17. Auf!. 1989. 207 Zur Einführung siehe u. a.A. Keller, Allgemeine Erkenntnistheorie, 2. Auf!. 1990, S. 104 ff.; G. Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 5. Auf!. 1989; L. B. Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, 2. Auf!. 1983; ders., in: ders. (Hrsg.), Der Wahrheitsbegriff, 1987; ders., Grundlagen einer Theorie der Wahrheit, 1990; W. Franzen, Die Bedeutung von "wahr" und "Wahrheit", 1982. Vgl. auch K.-O. Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 1, Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik, 4. Auf!. 1991, S. 106 ff.; D. Davidson, Wahrheit und Interpretation, 1990. 208 Siehe z. B. P. Häberle, Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, 1995, S. 9 ff., 17 ff., 79 ff.; M. R. Deckert, ARSP 82 (1996), 43 ff.; dies., Folgenorientierung in der Rechtsanwendung, 1995, S. 204 ff.; K. Adomeit, JuS 1972,628 ff. mit den Stellungnahmen von W. Mayer, JuS 1973,202 ff.; J. Schmidt, JuS 1973,204 ff. und der Replik hierzu K. Adomeit, JuS 1973, 207; A. Kaufmann, Rechtsphilosphie in der Nach-Neuzeit, 2. Auf!. 1992, S. 24 ff.; ders., in: ders./Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 5. Auf!. 1989, S. 25 ff., 122 ff. 209 P. Watzlawick, Wie wirklich ist die Wirklichkeit?, 17. Auf!. 1989, S. 7. 210 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 167 ff.; N. Luhmann, in: HabermaslLuhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung?, 1985, S. 291 ff., 342 ff.
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
209
I. Anforderungen an eine Wahrheitstheorie
Die Voraussetzungen für eine Wahrheitstheorie sind ebenso streitig wie deren Inhalt. Die üblicherweise als Wahrheitstheorien bezeichneten Auffassungen erfüllen die Anforderungen an eine Theorie zumeist nicht. Der Begriff "Theorie" wird hierbei weniger streng wissenschaftlich als vielmehr im Sinne von "Verständnis", "Sicht", "Konzeption", "Auffassung" etc. gebraucht 211 • Nach L. B. Puntel muß eine Wahrheitstheorie mindestens eine Erklärung des Wahrheits be griffs bieten, Wahrheitskriterien angeben, eine Typologie der Wahrheit aufstellen sowie sich mit der Wahrheitsparadoxie befassen und mit der Stellung der Wahrheit innerhalb der Gesamtwissenschaft und der Philosophie auseinandersetzen 212 . Dabei ist vielfach der Unterschied zwischen Wahrheitsbegriff und Wahrheitskriterium sowie deren Verhältnis zueinander streitig. Wahrheitskriterien geben an, wie - nach welchen Kriterien - die Wahrheit zu erkennen ist. Der Wahrheitsbegriff erklärt demgegenüber, was Wahrheit ist, worin sie besteht und was sie bedeutet 213 . Der Wahrheitsbegriff behandelt eine semantische Frage; das Wahrheitskriterium spricht eine erkenntnistheoretische Problematik an 214 . Die im folgenden kurz darzustellenden, "klassischen" Wahrheitstheorien setzen zwar jeweils unterschiedliche Schwerpunkte, gehen aber prinzipiell auf alle von einer Wahrheitstheorie zu behandelnden Fragen ein 215 .
11. Die Korrespondenztheorie
Innerhalb der Aufzählung der Wahrheitstheorien ist die Korrespondenztheorie an den Anfang zu stellen, zumal sie dem Alltagsverständnis von Wahrheit am ehesten entspricht, die historisch älteste 216 und zugleich die heute am weitesten ver2ll L. B. Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, 2. Auf!. 1983, S. 2 f.; ders., in: ders. (Hrsg.), Der Wahrheitsbegriff, 1987, S. 1 ff., 2; ders., Grundlagen einer Theorie der Wahrheit, 1990, S. 15; W. Franzen, Die Bedeutung von "wahr" und "Wahrheit", 1982, S. 20. 212 L. B. Punte\' in: ders. (Hrsg.), Der Wahrheitsbegriff, 1987, S. 1 ff., 2 f. Ihm folgend z. B. W. Pöter, Wahrheitstheorien und die Stellung des Wahrheitsbegriffs in den Sozialwissenschaften, 1989, S. 18 f. 213 W. Franzen, Die Bedeutung von "wahr" und "Wahrheit", 1982, S. 18 f. 214 G. Andersson, in: SeiffertJRadnitzky (Hrsg.), Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, 1992, S. 369 ff., 370. 215 W. Pöter, Wahrheitstheorien und die Stellung des Wahrheitsbegriffs in den Sozialwissenschaften, 1989, S. 19. 216 Als erster Vertreter der Korrespondenztheorie wird unter Hinweis auf das folgende Zitat Aristoteles (384 - 322 v. ehr.) genannt: "Denn zu sagen, daß, was der Fall ist, nicht der Fall ist, oder daß, was nicht der Fall ist, der Fall ist, ist falsch; daß aber das, was der Fall ist, der Fall ist und das, was nicht der Fall, nicht der Fall ist, ist wahr" (zitiert nach E. Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, 1976, S. 249). L. B. Puntel (Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, 2. Auf!. 1983, S. 26 m. Fußn. I) bezweifelt
14 Aulehner
210
2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
breitete 217 Wahrheitstheorie darstellt. Dieser Verwendungshäufigkeit der Korrespondenztheorie steht die inhaltliche Klarheit ihres Wahrheits begriffs diametral entgegengesetzt gegenüber. Der Inhalt der Korrespondenztheorie erweist sich als so vage, daß L. B. Puntel218 bereits die Frage aufwirft, ob der Korrespondenztheorie im Vergleich mit den anderen Wahrheitstheorien überhaupt ein eigener Gehalt zukommt. Der Bezeichnung "Korrespondenztheorie" und dem Alltagsverständnis entsprechend kann eine Aussage dann als wahr bezeichnet werden, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt 219 . Innerhalb der zahlreichen, der Korrespondenztheorie zugeordneten, teilweise nur in Nuancen abweichenden Forrneln 22o für die Wahrheit können insbesondere materialistische und logisch-empiristische Korrespondenztheorien unterschieden werden 221 .
1. Die materialistische Korrespondenztheorie Nach der materialistischen Ausprägung der Korrespondenztheorie spiegelt eine wahre Aussage die Wirklichkeit so, wie sie objektiv ist, im Bewußtsein des erkennenden Subjekts wider. Die Korrespondenztheorie wird in diesem Verständnis auch als "Widerspiegelungs-" oder "Abbildtheorie" bezeichnet. Diese vom Marxismus und Leninismus geprägte materialistische Korrespondenztheorie beschränkt sich nicht auf eine Erklärung des Wahrheitsbegriffs, sondern behandelt darüber hinaus und sogar vornehmlich das Problem der Erkennbarkeit der We1t222 . Sie ist dem Weltbild des Realismus zuzuordnen und fußt auf einem streng dualistischen Erkenntnismode1l, demzufolge das erkennende Subjekt einer materiellen, objektiv existierenden Wirklichkeit gegenübersteht. Je nach der Qualität des Abbildes der zwar, daß in dem angeführten Zitat eine Korrespondenz von Aussage und Wirklichkeit zum Ausdruck kommt, bezeichnet Aristoteles aber gleichwohl auf Grund weiterer ZitatsteIlen als Vertreter der Korrespondenztheorie. Der scholastische Ursprung der Korrespondenztheorie ist demgegenüber unstrittig. Der Satz "veritas est adaequatio rei intellectus" von Thomas von Aquin bringt nicht nur den Korrespondenzgedanken eindeutig zum Ausdruck, sondern ist auch die Ursache dafür, daß die Korrespondenztheorie heute auch als "Adäquanztheorie" bezeichnet wird (vgl. dazu W. Pöter, Wahrheitstheorien und die Stellung des Wahrheitsbegriffs in den Sozialwissenschaften, 1989, S. 35.; W. Pranzen, Die Bedeutung von "wahr" und "Wahrheit", 1982, S. 42 ff.). 217 L. B. Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, 2. Auf!. 1983, S. 26. 218 L. B. Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, 2. Auf!. 1983, S. 27. 219 G. Andersson, in: SeiffertlRadnitzky (Hrsg.), Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, 1992, S. 369 ff., 370. 220 Vgl. z. B. die Zusammenstellung bei W. Pranzen, Die Bedeutung von "wahr" und "Wahrheit", 1982, S. 35 ff. 221 Siehe z. B. W. Pöter, Wahrheitstheorien und die Stellung des Wahrheitsbegriffs in den Sozialwissenschaften, 1989, S. 37 ff., 43 ff. 222 L. B. Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, 2. Auf!. 1983, S. 32.
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
211
Wirklichkeit kann dabei zwischen absoluter und relativer Wahrheit differenziert werden 223 . Die materialistische Variante der Korrespondenztheorie sieht sich berechtigterweise vehementer Kritik ausgesetzt, die sich bereits auf das zugrunde liegende Weltbild des Realismus bezieht. Zwischen Aussagen oder Sätzen einerseits und Tatsachen andererseits kann insbesondere keine reale Ähnlichkeit bestehen. Entgegen der Annahme der materialistischen Korrespondenztheorie können erstere daher auch nicht Abbilder oder Kopien der letzteren sein. Sprache und Welt stehen zueinander nämlich nicht in einem ikonischen, sondern in einem symbolischen Verhältnis 224 . Die materialistische Korrespondenztheorie wird den zwischen erkennendem Subjekt und Wirklichkeit bestehenden Wechselbeziehungen nicht gerecht, denen zufolge einerseits die Wirklichkeit durch das erkennende Subjekt konstituiert wird, andererseits und umgekehrt aber die erkannte Wirklichkeit auch das erkennende Subjekt bestimmt.
2. Die logisch-empiristische Korrespondenztheorie
Den gegen die materialistische Korrespondenztheorie angeführten Bedenken begegnet die logisch-empiristische Ausprägung der Korrespondenztheorie. Diese verwirft die auf dem Materialismus und Realismus fußende Abbildthese und bezeichnet Wahrheit als eine Relation zwischen Aussagen und Tatsachen 225 . Das allen Korrespondenztheorien zugrunde liegende Übereinstimmungskriterium sieht sie in einer Strukturgleichheit. Wahre Aussagen spiegeln die Wirklichkeit danach nicht direkt wider; es besteht nur eine umkehrbar eindeutige Zuordnung zwischen Aussage und Wirklichkeit 226 . Nach der logisch-empiristischen Korrespondenztheorie gibt die Qualität "wahr" - im Gegensatz zur materialistischen Korrespondenztheorie - keine Übereinstimmung mit einer objektiven Realität an, sondern bestimmt nur, wann berechtigt von "wahr" oder "falsch" gesprochen werden kann 227 . Ein Beispiel für dieses Verständnis der logisch-empiristischen Korrespondenztheorie liefern die frühen Werke Wittgensteins, der zunächst eine (später verworfene) Bildtheorie vertrat228 . Wittgenstein setzt dabei "Sprache" einerseits und "Welt" ande223 W. Pöter, Wahrheitstheorien und die Stellung des Wahrheitsbegriffs in den Sozialwissenschaften, 1989, S. 37 ff. 224 W. Franzen, Die Bedeutung von "wahr" und "Wahrheit", 1982, S. 71. 225 W. Pöter, Wahrheitstheorien und die Stellung des Wahrheitsbegriffs in den Sozialwissenschaften, 1989, S. 43 ff. 226 G. Andersson, in: SeiffertJRadnitzky (Hrsg.), Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, 1992, S. 369 ff., 371. 227 R. Sowitzki, Wahrheitstheorien als Beurteilungsrahmen konkurrierender Methodologien, 1985, S. 100 f. 228 L. B. Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, 2. Auf!. 1983, S. 38 ff.
14*
212
2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
rerseits in Beziehung. Dabei werden sowohl "Sprache" als auch "Welt" als jeweils komplexe Einheiten verstanden, die jeweils durch eine bestimmte Struktur geprägt sind 229 . Aussagen werden danach dann als "wahr" qualifiziert, wenn sie sich auf entsprechende - nicht: identische - Strukturen im Bereich der "Sprache" und der "Welt" richten. Auch in dieser logisch-empiristischen Ausprägung hat die Korrespondenztheorie viel methodologische Kritik erfahren. Dabei wird insbesondere angezweifelt, ob die von der logisch-empiristischen Korrespondenztheorie als Wahrheitskriterium angenommene Strukturgleichheit oder Isomorphie überhaupt möglich ist. Voraussetzung hierfür ist nämlich, daß "Welt" einerseits und "Sprache" andererseits mathematisch genau abgrenzbare Strukturen enthalten. Selbst wenn man diese Anforderung noch bejahen wollte, erreicht die Bildtheorie Wittgensteins und die logischempiristische Korrespondenztheorie allgemein bei Sätzen, die lunktoren und/oder Quantoren - z. B. "nicht", "oder", "alle" etc. - enthalten, ihre Grenzen, da diesen schwerlich Tatsachen entsprechen können 23o • Unabhängig von diesen Zweifeln geht die Bildtheorie selbst ebenso wie die logisch-empiristische Korrespondenztheorie allgemein von einer Entkoppelung zwischen "Sprache" einerseits und "Welt" andererseits aus. Sie nimmt - anders als die materialistische Korrespondenztheorie - nicht an, "wahren" Sätzen entsprächen identische Tatschen in der Wirklichkeit, sondern begnügt sich mit dem Kriterium der Isomorphie. Die logisch-empiristische Korrespondenztheorie nähert sich damit der hier vertretenen These eines kommunikativ konstituierten Weltbildes jedenfalls stark an, derzufolge dem Menschen die Wirklichkeit an sich nicht direkt zugänglich ist und er sein Verhalten an einer kommunikativ konstituierten "Welt" ausrichtet. 3. Die semantische Wahrheitstheorie
In eine ähnliche Richtung weist die von A. TarskP31 entwickelte semantische Theorie der Wahrheit, derzufolge zwischen einer "Meta-" und einer "Objektsprache" zu differenzieren ist. Der Wahrheitsbegriff ist in dieser Unterscheidung der "Metasprache" zuzuordnen. In der "Objektsprache" wird nämlich über Objekte, in der "Metasprache" hingegen über die "Objektsprache" gesprochen 232 • Die "Objektsprache" bildet das Objekt, den Gegenstand der Untersuchung, die "Metasprache" hingegen spricht über die Objektsprache233 . L. B. Punte!, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, 2. Auf!. 1983, S. 38 ff. W. Franzen, Die Bedeutung von "wahr" und "Wahrheit", 1982, S. 75 ff. 231 Vgl. dazu A. Tarski, in: G. Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 5. Auf!. 1989, S. 140 ff. - Dieser Aufsatz faßt die von A. Tarski schon 1933 in seiner Dissertation gefundenen Erkenntnisse zusammen. 232 G. Andersson, in: SeiffertlRadnitzky (Hrsg.), Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, 1992, S. 369 ff., 371 f. 233 R. Sowitzki, Wahrheits theorien als Beurteilungsrahmen konkurrierender Methodologien, 1985, S. 103 f. 229
230
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
213
Diese - semantische - Theorie nähert sich in der geschilderten Ausprägung und der Unterscheidung von "Objekt-" und "Metasprache" der Beobachtung eines Beobachters an. Die Annahme eines Beobachters zweiter Ordnung ist ihrerseits - wie sich noch zeigen wird - Voraussetzung für die Einführung des Wahrheitsbegriffs und insbesondere die Unterscheidung von Wissen und Wahrheit 234 .
4. Korrespondenztheorien und Realität - Bewertung und Zusammenfassung
Ungeachtet der zahlreichen unterschiedlichen Modifizienmgen der Korrespondenztheorie, die vorstehend allenfalls angedeutet werden konnten, geht diese prinzipiell davon aus, daß der "Mensch" Zugang zu einer objektiven Wirklichkeit hat. Am stärksten findet sich diese Prämisse in der materialistischen Korrespondenztheorie ausgeprägt. Die logisch-empiristische und die semantische Wahrheitstheorie gehen zwar prinzipiell ebenfalls von einer Erkennbarkeit der objektiven Wirklichkeit aus; sie beruhen hierauf indessen nicht vollständig. Während die materialistische Korrespondenztheorie der Wahrheit ihr Wahrheitskriterium gerade in der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit sieht, begnügt sich die logisch-empiristische Korrespondenztheorie mit strukturellen Gleichheiten. Die semantische Wahrheitstheorie schließlich stellt die (Objekt-) Sprache in den Vordergrund. Gegen Korrespondenztheorien der Wahrheit ist insbesondere anzuführen, daß sie selbstwidersprüchlich sind. Sie müssen nämlich jedenfalls inzident behaupten, sowohl Gegenstände als auch Tatsachen seien etwas in der Welt. Wenn Welt aber der Inbegriff aller Tatsachen ist, kann das Korrespondenzverhältnis zwischen Aussagen und Wirklichkeit wiederum nur durch Aussagen bestimmt werden. Die Korrespondenztheorien verbleiben sonach im sprachlogischen Bereich 235 .
111. Die Kohärenztheorie Die soeben dargestellten Korrespondenztheorien der Wahrheit wollen den Wahrheitsbegriff als Verhältnis zwischen Aussagen und Tatsachen definieren. Sie thematisieren damit die - hier bereits angesprochenen - nach wie vor - insbesondere zwischen Realismus, Idealismus und Konstruktivismus - äußerst umstrittenen Auffassungen zum Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung und scheitern nach hiesiger Meinung eben hieran. Die Kohärenztheorie 236 vermeidet diesen N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 167. J. Habermas, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handeins, 3. Aufl. 1989, S. 127 ff., 132 f. 236 V gl. zu dieser aus jüngerer Zeit G. Prauss, Einführung in die Erkenntnistheorie, 3. Aufl. 1993, S. 152 ff., 168 ff., der die Kohärenztheorie aus der Erkenntnistheorie von l. Kant entwickelt. 234
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
Streit, indem sie zur Definition des Wahrheitsbegriffs nicht auf die Übereinstimmung von Aussagen und Wirklichkeit, sondern auf die Übereinstimmung von Aussagen mit anderen Aussagen abstellt 237 . Nach der Kohärenztheorie ist eine neue Aussage nämlich dann wahr, wenn sie in die Gesamtheit der vorhandenen, bereits miteinander in Einklang gebrachten Aussagen eingegliedert werden kann 238 . Die Kohärenztheorie erscheint damit zwar als Weg in die richtige Richtung, der aber gleichwohl sein Ziel - eine Wahrheitsdefinition unabhängig von der Wirklichkeit - nicht erreicht. Allein aus der Übereinstimmung einer neuen Aussage mit den schon bestehenden, miteinander übereinstimmenden folgt keineswegs notwendig die Wahrheit der neuen Aussage. Es kann nicht einmal - umgekehrt - angenommen werden, daß eine einem vorliegenden homogenen Aussagengeflecht widersprechende neue Aussage jedenfalls unwahr ist. Vielmehr kann dieser Widerspruch auch daraus resultieren, daß die überkommenen widerspruchsfreien Aussagen unwahr, die neue aber wahr ist. Wahrheit kann daher nicht durch Kohärenz allein i.S.v. Widerspruchsfreiheit definiert werden 239 . Auch die Kohärenztheorie benötigt jedenfalls neben der Widerspruchsfreiheit zusätzliche Kriterien. N. Rescher240 fordert dementsprechend für eine Kohärenz neben Konsistenz auch Umfassendheit, Zusammengefügtheit und Zusammenhängendheit. Mit der - ohne weiteres möglichen - Entwicklung dieser oder ähnlicher zusätzlicher Kriterien neben der Widerspruchsfreiheit verschwindet jedoch die Unabhängigkeit von der Wirklichkeit als ein entscheidender Vorteil der Kohärenztheorie gegenüber der Korrespondenztheorie. Anders ausgedrückt ist Kohärenz entweder kein eindeutiges Wahrheitskriterium oder setzt die Korrespondenztheorie voraus 241 • Darüber hinaus basiert die Kohärenztheorie auf der impliziten Annahme einer Kohärenz der Wirklichkeit; diese bedürfte aber ihrerseits erst des Beweises 242 • Die Kohärenztheorie erweist sich damit insbesondere mit dem Versuch, Wahrheit als selbstreferentiell darzustellen, als grundsätzlich begrüßenswert. Im Hinblick auf die angeführten Bedenken stellt sie jedoch einen nur unzureichenden Lösungsversuch dar.
237 G. Andersson, in: SeiffertlRadnitzky (Hrsg.), Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, 1992, S. 369 ff., 373. 238 O. Neurath, in: Erkenntnis 2 (1931), 393 (403). 239 Anschaulich hierzu und gegen O. Neurath M. Schlick, in: Erkenntnis 4 (1934), 79 (86): "Wer es ernst meint mit der Kohärenz als alleinigem Kriterium der Wahrheit, muß beliebig erdichtete Märchen für ebenso wahr halten wie einen historischen Bericht oder die Sätze in einem Lehrbuch der Chemie, wenn nur die Märchen so gut erfunden sind, daß niemals ein Widerspruch auftritt." 240 N. Rescher, The Coherence Theory of Truth, 1973, S. 169 ff. 241 W. Pöter, Wahrheitstheorien und die Stellung des Wahrheitsbegriffs in den Sozialwissenschaften, 1989, S. 68 ff., 70. 242 W. Pöter, Wahrheitstheorien und die Stellung des Wahrheitsbegriffs in den Sozialwissenschaften, 1989, S. 75.
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
215
IV. Die Redundanztheorie
Einen - neben der Kohärenztheorie - weiteren Versuch zur Lösung des Wahrheitsproblems unter Vermeidung der kontroversen Wirklichkeits auffassungen stellt die Redundanztheorie dar. Diese von F. P. Ramsel43 erstmals auf nur zwei Seiten formulierte Auffassung bestreitet die Existenz eines Wahrheitsproblems 244 • Sie bietet daher konsequenterweise auch keine Definition von Wahrheit an. Wahrheit bzw. das Zutreffen von Sachverhalten wird von den jeweiligen Einzelwissenschaften thematisiert. Die unterschiedlichen Wahrheitstheorien beruhen nach der Redundanztheorie auf einer sprachlichen Verwirrung. Der Redundanztheorie zufolge ist Wahrheit keine Eigenschaft. Dem Zusatz "ist wahr" kommt in Sätzen nur rhetorische Bedeutung zu. Er ist - danach auch die Bezeichnung Redundanztheorie - redundant, d. h. er kann ohne Informationsverlust weggelassen werden. Innerhalb der Vielzahl der Vertreter245 der Redundanztheorie ist zusätzlich umstritten, welche konkrete Bedeutung der "ist wahr"-Zusatz im Sprachgebrauch hat. Die Negierung des Wahrheitsproblems durch die Redundanztheorie vermag nicht zu überzeugen 246 . Die von den Vertretern der Redundanztheorie behauptete Äquivalenz von "X ist wahr" und "X" ist zum einen nicht sinnvoll umkehrbar. Sie verstößt damit gegen eine fundamentale Äquivalenzbedingung. Zum anderen ist nicht ersichtlich, inwiefern - logisch, semantisch oder inhaltlich - "X ist wahr" und "X" äquivalent sein sollen. Darüber hinaus behauptet die Redundanztheorie nur, daß Wahrheit keine Eigenschaft sei. Die Frage, was Wahrheit aber dann ist, bleibt offen 247 . Schließlich widerspricht die Redundanztheorie der semantischen Wahrheitstheorie von A. Tarski, deren Vorzüge bereits angedeutet wurden. "X ist wahr" und "X" sind nur für einen Beobachter erster Ordnung, nicht aber für einen Beobachter zweiter Ordnung, d. h. einen Beobachter des Beobachters (erster Ordnung) logisch äquivalent248 .
F. P. Ramsey, in: G. Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 5. Aufl. 1989, S. 224 f. Ähnlich A. J. Ayer, in: G. Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 5. Aufl. 1989, S. 276 ff. 245 Zu den unterschiedlichen Vertretern und Ausprägungen der Redundanztheorie vgl. z. B. W. Franzen, Die Bedeutung von "wahr" und "Wahrheit", 1982, S. 84 ff., 90 ff., 96 ff., 137 ff., 153 ff. 246 V gl. zu den folgenden Einwänden gegen die Redundanztheorie zusammenfassend W. Pöter, Wahrheitstheorien und die Stellung des Wahrheitsbegriffs in den Sozialwissenschaften, 1989, S. 33 f. 247 W. Franzen, Die Bedeutung von "wahr" und "Wahrheit", 1982, S. 171. 248 J. Habermas, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen HandeIns, 3. Aufl. 1989, S. 127 ff., 129 ff.; N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 169, 190 m. Fußn. 39: 243
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
v. Die pragmatische Wahrheitstheorie Die Vertreter der pragmatischen Wahrheitstheorie ziehen aus den Defiziten der bereits geschilderten Wahrheitsbegriffe insofern Konsequenzen, als sie - im Gegensatz zu den Korrespondenztheorien der Wahrheit - weder die Übereinstimmung von Aussagen und Wirklichkeit in das Zentrum ihrer Betrachtungen stellen noch wie die Redundanztheorie der Wahrheit - Wahrheitsdefinition und -kriterium für überflüssig erklären. Stattdessen stellen die pragmatischen Wahrheitstheorien - ihrer Bezeichnung entsprechend - auf die praktischen Auswirkungen von Wahrheit ab 249 . Sie verstehen Wahrheit und die Übereinstimmung von Wirklichkeit einerseits sowie Aussagen hierüber andererseits nicht als statisches, sondern als dynamisches Verhältnis. Die Wahrheit einer Aussage ist nur wegen des praktischen Unterschieds zwischen wahren und unwahren Aussagen von Bedeutung. "Wahre Vorstellungen sind" nach W James "solche, die wir uns aneignen, die wir geltend machen, in Kraft setzen und verifizieren können. Falsche Vorstellungen sind solche, bei denen dies alles nicht möglich ist,,250. Die pragmatische Wahrheitstheorie setzt damit Wahrheit und Nützlichkeit gleich. Innerhalb der Vertreter der pragmatischen Theorie der Wahrheit gebührt W James insbesondere das Verdienst, deren Gedanken auch auf metaphysische und religiöse Ideen angewendet zu haben 251 . Das Fundament der pragmatischen Wahrheitstheorien legte jedoch bereits C. S. Peirce, der prinzipiell richtige oder unrichtige Überzeugungen dann als wahr qualifizieren wollte, wenn sie aufgrund gemachter Erfahrungen hoffen lassen, daß auf ihrer Grundlage weiteres erfolgreiches Handeln möglich ist. C. S. Peirce war dabei vorrangig an einer experimentellen Überprüfung wissenschaftlicher Hypothesen interessiert. Diese hielt er für wahr, wenn sie durch wiederholbare Experimente intersubjektiv nachprüfbar waren 252 . Darüber hinaus sieht C. S. Peirce in der Wahrheit die Erkenntnis, zu der die Vernunft nach einem unbegrenzt durchgeführten Forschungsprozeß führt 253 . Die pragmatische Wahrheitstheorie sieht sich wie der Pragmatismus allgemein gewichtigen Einwänden ausgesetzt. Ihr wird insbesondere vorgeworfen, sie ver249 Hierzu sowie zum folgenden W. James, in: G. Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 5. Auf!. 1989, S. 35 ff., 36 f. 250 W. James, in: G. Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 5. Auf!. 1989, S. 35 ff., 37. 251 G. Andersson, in: SeiffertJRadnitzky (Hrsg.), Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, 1992, S. 369 ff., 375. 252 G. Andersson, in: SeiffertJRadnitzky (Hrsg.), Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, 1992, S. 369 ff., 375. 253 Vgl. dazu C. S. Peirce, Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, Bd. 2, 2. Auf!. 1976, S. 459: "Wahrheit ist die Übereinstimmung einer abstrakten Feststellung mit dem idealen Grenzwert, an den unbegrenzte Forschung die wissenschaftliche Überzeugung anzunähern die Tendenz haben würde; jene Übereinstimmung kann die abstrakte Feststellung vermöge des Bekenntnisses ihrer Ungenauigkeit und Einseitigkeit besitzen; dieses Bekenntnis ist ein wesentliches Ingrediens der Wahrheit."
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
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wechsle "Wahrheit" und "Bewährung", sei zirkulär und führe zu offensichtlich falschen Ergebnissen. B. Russe1l254 kritisiert insbesondere, daß die pragmatische Wahrheitstheorie nicht angibt, wie die Auswirkungen einer Hypothese zu bestimmen sind und anhand welcher Kriterien sie als gut oder nützlich qualifiziert werden. Darüber hinaus müsse, so argumentiert B. RusselI, die pragmatische Theorie der Wahrheit unterstellen, daß die eigenen Ansichten über die Nützlichkeit einer Hypothese wahr sind. Wären sie dies nämlich nicht, könnte hieraus auch nicht auf die Wahrheit der Hypothese geschlossen werden. Die implizite Behauptung, die eigenen Ansichten über die Folgen einer Hypothese seien wahr, bedeute aber wiederum, sie hätten gute und nützliche Auswirkungen. Dies aber sei seinerseits nur wahr, wenn sie gute und nützliche Auswirkungen haben. Zudem hält B. Russell die Ergebnisse der pragmatischen Theorie der Wahrheit für offensichtlich falsch, zumal dieser Theorie zufolge die Aussage "Kolumbus existierte" ebenso als wahr beurteilt werden kann wie die, der "Weihnachtsmann existiert." Trotz dieser Kritik haben die pragmatischen Theorien der Wahrheit zu einer Klärung des Wahrheitsbegriffs insofern beigetragen, als sie mit der grundsätzlich möglichen Fehlerhaftigkeit von Überzeugungen, der Wahrheit als Ziel von Forschung und der Universalität von Wahrheit durch vernünftige Einsicht jedenfalls Teilaspekte des Wahrheitsbegriffs herausarbeiteten 255 . Diese Erkenntnisse wurden von J. Habermas und K. Popper aufgenommen und in deren Konsens- 256 bzw. Approximationstheorie 257 konkretisiert.
VI. Die Konsenstheorie
Nach der insbesondere von J. Habermai 58 vertretenen Konsenstheorie setzt Wahrheit Übereinstimmung aller, die dieselbe Sprache sprechen und bzgl. des behaupteten Sachverhalts kompetent sind, voraus. J. Habermas versteht Wahrheit als einen von vier Geltungsansprüchen, die die Teilnehmer eines Verständigungsprozesses erheben und dessen Annahme sie erwarten müssen. Wird die im kommunikativen Handeln unterstellte Wahrheit be254 Siehe hierzu sowie zum folgenden B. RusselI, in: G. Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 5. Aufl. 1989, S. 59 ff., 60 ff. 255 V gl. dazu sowie zum folgenden W. Pöter, Wahrheitstheorien und die Stellung des Wahrheitsbegriffs in den Sozialwissenschaften, 1989, S. 110 ff. 256 V gl. hierzu sogleich unten im Text folgend. 257 V gl. hierzu z. B. die Zusammenfassung bei W. Pöter, Wahrheitstheorien und die Stellung des Wahrheitsbegriffs in den Sozialwissenschaften, 1989, S. 145 ff. 258 Zu den Wahrheitstheorien vgl. insbesondere 1. Habermas, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handeins, 3. Aufl. 1989, S. 127 ff.; ders., in: ders.lLuhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung?, 1985, S. 101 ff.; ders., Wahrheitstheorien, in: H. Fahrenbach (Hrsg.), Wirklichkeit und Reflexion. Festschrift für W. Schulz, 1973, S. 211 ff.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
stritten, wird der Geltungsanspruch Wahrheit im Diskurs problematisiert. Der Diskurs ist darauf gerichtet, allein argumentativ einen Konsens zu erzielen 259 . Die Ableitung der Konsenstheorie aus den pragmatischen Wahrheitstheorien hat zur Folge, daß nicht nur deren Begründungen, sondern auch die gegen sie erhobenen Einwände auf die insbesondere von J. Habennas vertretene Konsenstheorie übertragbar sind26o • So wird der Konsenstheorie u. a. vorgeworfen, sie setze Wahrheit und Zustimmung der Kommunikatoren gleich. Irrtümer und daraus resultierende fälschliche Zustimmung blieben hierbei unbeachtet und würden zur Annahme von Wahrheit führen. Der Versuch, zwischen einem echten und einem nur scheinbaren Konsens zu differenzieren, sieht sich seinerseits dem Vorwurf der Zirkularität ausgesetzt. Der Verweis auf die ideale Sprechsituation und die Strukturierung konsensschaffender Argumente ist insofern zirkulär, als die Einführung dieser - zum Konsens führenden - Kriterien wiederum bereits Konsens hierüber voraussetzt. Dies stellt J. Habennas selbst fest, sieht aber keine andere Lösungsmöglichkeit, zumal nur eine ontologische Wahrheitstheorie den Zirkel durchbrechen könnte. Diese Theorien konnten aber ihrerseits bislang nicht überzeugen 261 • In die gleiche Richtung zielt der zusammenfassende Einwand, die Konsenstheorie könne eine korrespondenztheoretische Restproblematik nicht überwinden. Darüber hinaus werden gegen die von J. Habennas vertretene Wahrheitstheorie die gegen die Universalpragmatik allgemein erhobenen Einwände angeführt. Insbesondere wird moniert, die Theorie kommunikativen Hande1ns idealisiere; Diskurs, Konsens, ideale Sprechsituation etc. seien nicht empirisch, sondern gedankliche Abstraktionen.
VII. Wahrheit als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium N. Luhmann versteht Wahrheitstheorien als Antworten auf die funktionalistische Frage, welche Leistung Wahrheit für die Bestandserhaltung eines Systems erbringt. Nach ihm ist Wahrheit weder eine Eigenschaft von Sätzen, Objekten oder Kognitionen noch führt sie zur Aufhebung einer Differenz von vennutetem Wissen und Irrtum, von Sein und Schein oder von Gegenstand und Erkenntnis. Wahrheit ist vielmehr ebenso wie MachtlRecht, Eigentum/Geld und Liebe ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium 262 . Durch diese Medien können die bereits ge259 Siehe die Zusammenfassungen der Konsenstheorie von J. Habermas bei H. Scheit, Wahrheit. Diskurs. Demokratie. Studien zur "Konsensustheorie der Wahrheit", 1987, S. 116 ff.; W. Pöter, Wahrheitstheorien und die Stellung des Wahrheitsbegriffs in den Sozialwissenschaften, 1989, S. 131 ff. 260 Vgl. zum folgenden W. Pöter, Wahrheitstheorien und die Stellung des Wahrheitsbegriffs in den Sozialwissenschaften, 1989, S. 132 ff. 261 J. Habermas, in: ders./Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie Was leistet die Systemforschung?, 1985, S. 101 ff. 135 m. Fußn. 32. 262 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 172 ff.
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
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leisteten Reduktionen von Weltkomplexität ohne weiteres verbreitet werden. Der Umfang der gesellschaftlich verfügbaren Komplexität erweist sich - worauf bereits mehrfach hingewiesen wurde - als kaum überschätzbar. Der einzelne kann sich ihrer nur bedienen, wenn sie ihm in vereinfachter und reduzierter Form angeboten wird. Anders ausgedrückt muß sich jeder auf die Informationsverarbeitung durch andere verlassen. Wahrheit erleichtert die menschliche Verständigung und Reduktion von Komplexität durch die Unterstellung, daß auch Dritte eine bestimmte Auffassung für richtig halten würden263 . Wahrheit liegt danach dann vor, wenn jedermann dasselbe erleben würde, falls er sein Bewußtseinsfeld auf denselben Gegenstand richten würde 264 . Wahrheit motiviert sonach zur Annahme von Kommunikation. Wahrheit bezieht sich damit nicht auf Korrespondenz mit der Umwelt, sondern auf Intersubjektivität265 ; sie bezeichnet ausschließlich Selbstreferenz und enthält keinerlei Fremdreferenz266 . Wahrheit stellt damit eine Selbstbeobachtung, Selbstprägung und Selbststrukturierung des Systems dar267 . Die Selbstbeobachtung eines Systems setzt eine binäre Codierung, z. B. wahr/unwahr voraus 268 . Der Code wahr/unwahr erweist sich damit zugleich als der für einen Beobachter erster Ordnung nicht zu beobachtende "blinde Fleck" eines mit dieser Unterscheidung operierenden Teilsystems. Mit dem jeweils konstituierenden Code wird zugleich das jeweilige gesellschaftliche Teilsystem erst geschaffen. Wahrheit dient damit ebenso wie die übrigen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien der Steuerung der Gesellschaft. Sie transformiert Gefahren in Risiken, d. h. Schäden, die unabhängig von eigenem Zutun eintreten, in solche, die Folge eigenen Handeins oder Unterlassens sind269 .
VIII. Zusammenfassung
Trotz der vorausgehend dargestellten, kaum mehr überschaubaren Heterogenität der Wahrheitstheorien stimmen diese insofern überein, als sie Wahrheit nicht als Eigenschaft von Dingen, sondern von Sätzen verstehen. Wahrheit ist an Menschen als Erkenntnissubjekte gebunden und steht mit der Kommunikation zwischen den Menschen im Zusammenhang. Wahrheit erlangt damit nur mit Bezug auf sozial inN. Luhmann, Vertrauen, 3. Aufl. 1989, S. 56. N. Luhmann, in: Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung?, 1985, S. 291 ff., 342 ff., 348. 265 N. Luhmann, in: Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung?, 1985, S. 291 ff., 342 ff. 266 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 177. 267 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 188 f. 268 N. Luhmann, Erkenntnis als Konstruktion, 1988, S. 22 f. 269 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 252 ff. 263
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
teragierende Erkenntnissubjekte Sinn. Wahrheit ist ebenso wie Erfahrung, Erkenntnis etc. nur wegen der Vielfalt der Perspektiven möglich 270. Die eingangs behauptete kommunikative Konstruktion des Weltbildes findet sich somit auch durch die Wahrheitstheorien bestätigt.
E. Wirklichkeitsmodell und -system durch Kommunikation Zusammenfassung und erste Schlußfolgerungen für das Recht Die vorstehenden, im Ergebnis auf den Forschungen von N. Luhmann fußenden Ausführungen sind in ihrer Bedeutung sowohl allgemein als auch speziell für die hier interessierende polizeiliche Informationsvorsorge kaum zu überschätzen.
I. Allgemeinwissenschaftlicher Ertrag Die eingangs geäußerte These, derzufolge das menschliche Weltbild kommunikativ gebildet wird, hat sich bestätigt. Dabei wird allein die Systemtheorie in der von N. Luhmann zuletzt271 vertretenen Form der zunehmenden Komplexität der 270 Ebenso BergerlLuckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 5. Auf!. 1991, S. 11; N. Luhmann, in: HabermaslLuhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung?, 1985, S. 25 ff., 51 ff. m Innerhalb der zahlreichen von N. Luhmann vorliegenden Arbeiten können drei Phasen unterschieden werden: In einer ersten Phase steht noch die Rechtswissenschaft im Zentrum der Betrachtungen. Diese frühen Schriften weichen nur insofern vom gewöhnlichen Erscheinungsbild juristischer Abhandlungen ab, als sie versuchen, juristische Probleme nicht nur rechtswissenschaftlich, sondern multidisziplinär, insbesondere soziologisch und verwaltungswissenschaftlich darzustellen. Die Werke der zweiten Phase von N. Luhmann sind - ebenso wie die der dritten - voll umfänglich der Soziologie zuzuordnen. Ausführungen zu Teilgebieten - Recht, Religion, Wissenschaft, Wirtschaft etc. - stellen bloße Anwendungsfalle der inmitten stehenden soziologischen Betrachtung dar. Inhaltlich konzentriert sich N. Luhmann hier auf eine erste Fortentwicklung der Systemtheorie: Die überkommene Betrachtung eines Systems als geschlossene Ganzheit, die mehr ist als die Summe ihrer Teile, wird durch die Unterscheidung von System und Umwelt ergänzt bzw. abgelöst. Zwischen System und Umwelt werden Austauschprozesse angenommen, Systeme werden hier als offen charakterisiert. N. Luhmann vollzieht in dieser zweiten Phase seines Werkes insbesondere einen Wandel im Verhältnis von Struktur und Funktion von Systemen. Während die überkommene - vor allem von T. Parsons vertretene - strukturell-funktionale Systemtheorie bestimmte Strukturen sozialer Systeme voraussetzte und nach den funktionalen Leistungen für den Fortbestand des Systems fragte, untersucht N. Luhmann in seiner als funktional-strukturell zu bezeichnenden Systemtheorie umgekehrt, welche Strukturen für die Erfüllung bestimmter Funktionen erforderlich sind. Die dritte Phase im Werk von N. Luhmann ist durch die Ablösung dieser funktional-strukturellen Systemtheorie durch die Theorie autopoietischer Systeme gekennzeichnet. Systeme
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
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Welt gerecht. Nur sie kann das Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrnehmung und die hierbei als entscheidend befundene Kommunikation nach heutiger Kenntnis annähernd adäquat beschreiben. Kommunikation kann man sich hiernach - vereinfacht - wie folgt vorstellen: Ein Kommunikationsteilnehmer selektiert ein Segment der Realität und stellt dieses mit Hilfe gewählter Strukturen durch ein Modell dar. Dieses Modell dient als Mittel, um über andere Kommunikationsteilnehmer (oder sich selbst) die Wirklichkeit zu beeinflussen. Diese Kommunikationsteilnehmer können ihrerseits sowohl selbst als auch über andere Kommunikationsteilnehmer nicht nur die Realität, sondern auch deren Modell durch die Ergänzung bzw. Ersetzung des ersten beeinflussen. Kommunikation sorgt somit für eine ständige Überprüfung und Veränderung des Wirklichkeitsmodells. Bei der Betrachtung dieser vergleichsweise übersichtlich erscheinenden Vorstellung von Kommunikation darf nicht übersehen werden, daß die hier so bezeichneten Kommunikationsteilnehmer selbst wiederum als Modelle und Systeme zu qualifizieren sind. Kommunikation ist somit - entgegen vielfacher Ansicht - nicht auf Konsens, sondern auf permanente Erwartungsbildung gerichtet.
11. Erste Vorgaben für die Ausgestaltung eines Informationsrechts Grundsatz der Kommunikationsfreiheit
Das hier gefundene Verständnis von Kommunikation bildet einen ersten - noch vorläufigen - Rahmen zur Beurteilung rechtlicher Regelungen des Informationsflusses. Die Ablehnung des Nachrichtenmodells und der Übertragungsmetapher erteilt insbesondere im Zivilrecht272 vertretenen Ansichten, die Informationen ebenso direkt oder analog - wie absolute, gegen jedermann wirkende Rechte - z. B. Besitz und Eigentum - i. S. d. § 8231 BGB behandeln wollen, eine Absage. Informationen sind keine körperlichen Gegenstände, sondern immaterielle Güter273 .
sind hiernach autopoietisch, d. h. sie stellen sich selbst her und erhalten sich selbst. - Vgl. zu den unterschiedlichen Phasen der Systemtheorie N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 19 ff. 272 H. Meister (Datenschutz im Zivilrecht, 2. Aufl. 1981, S. 115; H. Meister, DuD 1984, 162 [167 ff.)) entwickelt ausgehend von der soziologischen Rollentheorie ein "Recht am eigenen Datum" als absolutes, "sonstiges Recht" i. S. d. § 823 I BGB. -Dagegen z. B. U. Sieber, eR 1995, 100 (111 m. Fußn. 81); A. Breitfeld, Berufsfreiheit und Eigentumsgarantie als Schranke des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, 1992, S. 38 f. 273 Zum Verhältnis von Information und körperlichen Sachen ausführlich J. N. Druey, Information als Gegenstand des Rechts, 1995, S. 93 ff.; U. Sieber, NJW 1989,2569 (2574 f.); D. Peitsch, ZRP 1992, 127.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
1. Das Recht am eigenen Datum - eine unzulässige Verkürzung der Kommunikation auf die Mitteilungshandlung Diese angedeuteten Meinungen erweisen sich als Ausfluß einer fehlgehenden Reduzierung von Kommunikation auf Miueilungshandlungen. Eine derartige Simplifizierung des dreistelligen Kommunikationsprozesses auf die Handlung einer Person liegt zwar insofern nahe, als Kommunikation selbst so verfährt und die Vereinfachung deshalb unreflektiert übernommen wird 274 • Soziale Systeme reduzieren Kommunikation auf die Miueilungshandlung, weil sie durch die dann mögliche Zurechnung an eine Person Identifikationspunkte markieren, die ihrerseits den Anschluß weiterer Kommunikation und damit die Reproduktion sozialer Systeme sichern. Dieser Vorgehensweise ist aber gleichwohl zu widersprechen. Denn Kommunikation ist zwar einerseits ohne Menschen undenkbar; andererseits kann der Mensch umgekehrt Kommunikation weder steuern noch bestimmen. Nicht Handlung, sondern Kommunikation ist aber die kleinste Einheit des Sozialen, zumal an Handlungen nur Einzelpersonen, an Kommunikationen aber mindestens zwei Menschen und damit mindestens zwei psychische Systeme beteiligt sind. Handlungen werden zudem durch Zurechnungsprozesse und durch die sie umgebende Kommunikation erst konstituiert 275 • Informationen sind daher im Gegensatz zu körperlichen Gegenständen nicht ausschließlich einer bestimmten Person zugeordnet. Information ist vielmehr "öffentliches Gut" und verlangt Informationsfreiheit sowie freien Informationsfluß 276 •
2. Freier Informationsfluß als Voraussetzung für eine permanente Erwartungsbildung und Systemerhaltung durch Kommunikation Soll Kommunikation eine permanente Erwartungsbildung ermöglichen, setzt dies einen freien Informationsfluß voraus. Informationen bilden nämlich ein kommunikativ erzeugtes geistiges Modell der Realität. Beschränkungen der Kommunikation und des Informationsflusses bewirken eine Verfälschung dieses Abbildes und entwerten die kommunikativ erstellten Erwartungen. Das (Verfassungs-)Recht trägt eben dem auch insbesondere in Art. 5 I GG durch die Anerkennung der Meinungs- und Informationsfreiheit Rechnung 277 .
274 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 233 m. Fußn. 66. - Ebenso U. Sieber, CR 1995, 100 (111 m. Fußn. 81). 275 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 228 f. 276 U. Sieber, CR 1995, 100 (111). 277 Dazu z. B. J. Brossette, Der Wert der Wahrheit im Schatten des Rechts auf informationeHe Selbstbestimmung, 1991, S. 215 f. m.w.N.
§ 4 Der Zugang des Menschen zur Wirklichkeit
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Schließlich fordert die gefundene Bedeutung von Kommunikation und Information für die Systemerhaltung und die hierfür erforderliche Anschlußfähigkeit ebenfalls einen ungehinderten Informationsfluß. Der Schutz von Informationen darf daher nicht nur die Interessen ihres Besitzers in Rechnung stellen, sondern muß überdies auch die Bedürfnisse derjenigen, die von der Information betroffen werden, berücksichtigen 278 .
3. Herrschaftsfreiheit von Kommunikation und Infonnation
Information ist wegen ihrer Bedeutung für die permanente Erwartungsbildung durch Kommunikation keinem Individuum zugeordnet, sondern frei verfügbar; entscheidend erscheint deshalb weniger die Information als solche als vielmehr die Zugangsmöglichkeit zu ihr279 . Die Verfügbarkeit von Information hat deshalb auch eine kaum überschätzbare Bedeutung: Sie ist Grundlage der Demokratie, weil nur der informierte Bürger ein mündiger Bürger ist. Sie ist darüber hinaus und deshalb überdies ein entscheidender Machtfaktor28o . Kommunikation und Information lassen daher - anders als absolute Rechte - prinzipiell weder einen Ausschließlichkeitsanspruch zu noch kann die kommunikative Vorenthaltung oder Weitergabe von Information durch Weiter- bzw. Rückgabe revidiert werden 281 . Die Abschottung zwischen psychischen und sozialen Systemen und die damit verbundene Einschränkung von Kommunikation und Zugang zur Wirklichkeit weisen andererseits auf eine - noch näher zu untersuchende - gegenläufige Tendenz hin. Insgesamt gewinnen dadurch Informationszugangsrechte zunehmende Bedeutung. Deren Regelung darf sich dabei nicht an den Verkehrsregeln für materielle Gegenstände orientieren, sondern darf dem Schöpfer einer Information einen nur begrenzten Schutz einräumen, muß den durch sie betroffenen Bürger schützen und zugleich den Zugang zur Information gewährleisten 282 .
U. Sieber, CR 1995, 100 (111). L. Meinhardt, Überlegungen zur Interpretation von § 303a StGB, 1991, S. 95. 280 U. Sieber, NJW 1989,2569 (2570). 281 Ähnlich J. Brossette, Der Wert der Wahrheit im Schatten des Rechts auf inforrnationeUe Selbstbestimmung, 1991, S. 216 f. 282 U. Sieber, CR 1995, 100 (111). 278
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
§ 5 Der Informationsbegriff zwischen Kommunikation, Wissen und Technik Die soeben erörterte These einer kommunikativen Konstitution des menschlichen Weltbildes und die dabei gefundene Klärung des Kommunikationsbegriffs 1 wirkt sich in entscheidender Weise auf den Informationsbegriff und damit auch auf das Verhältnis von Information, Kommunikation, Wissen und Technik aus. Beide der vorausgehend 2 bereits im Zusammenhang mit der Definition VOn Kommunikation kurz angesprochene Informationsbegriff und das Verhältnis von Information, Kommunikation und Wissen - werden im folgenden näher zu klären sein. Dabei wird sich der Informationsbegriff als ähnlich schwer konturierbar erweisen wie der Kommunikationsbegriff3 . Er wird daher teilweise sogar bewußt undefiniert verwendet4 . Dem Begriff der "Information" ist ein kaum überblickbares Bedeutungsspektrum zuzuordnen 5 . "Information" ist sowohl ein Alltags- als auch ein wissenschaftlicher Grundbegriff. Ein Überblick über die für den Informationsbegriff angebotenen Definitionen führt dessen Vagheit deutlich vor Augen: Es wurden 121 verschiedene Definitionen gefunden, die in sieben Gruppen zusarnmengefaßt werden konnten 6 .
A. Die Herkunft des Informationsbegriffs Das heutige deutsche Wort "Information,,7 hat sich aus dem lateinischen "informatio", der Substantivform des Verbs "informare" entwickelt. Das lateinische "informatio" geht seinerseits auf die griechischen Begriffe "typos", "morphe", "eidos" und "idea" zurück 8 . Die Vorsilbe VOn "informatio" - "in-" - kann zwar ohne Dazu oben im Text sub § 4. C. Siehe hierzu oben im Text insbesondere sub § 4. C. III. 2. a. 3 Im Ergebnis ebenso oder ähnlich K. Amelung, Infonnationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß, 1990, S. 11; H. Strohner, in: R. Weingarten (Hrsg.), Infonnation ohne Kommunikation?, 1990, S. 209 ff., 211 f. 4 W. Steinmüller u. a., Grundfragen des Datenschutzes, BT-Drs. VU3826, S. 42. 5 Zusf. dazu und zum folgenden O. Baller, in: HaratschiKugelmannJRepkewitz (Hrsg.), Herausforderungen an das Recht der Infonnationsgesellschaft, 1996, S. 33 ff.; J. Seggelke, in: BöhretIHill (Hrsg.), Ökologisierung des Rechts- und VerwaItungssystems, 1994, S. 43 ff. 6 Vgl. H. Mackeprang, Zum Infonnationsbegriff der Allgemeinen Technologie, 1987, S. 2, 72 ff. 7 Zusf. zur Begriffsgeschichte von "Infonnation" vgl. z. B. E. Wessling, Individuum und Infonnation, 1991, S. 11 ff.; H. Mackeprang, Zum Infonnationsbegriff der Allgemeinen Technologie, 1987, S. 48 ff.; R. Capurro, Infonnation, 1978; H. Seiffert, Infonnation über Infonnation, 1968. I
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§ 5 Infonnationsbegriff, Kommunikation, Wissen und Technik
225
weiteres mit "ein-" oder "hinein-" übersetzt werden; der zweite Teil des Wortes "fonna" - wirft indessen Probleme auf. "fonna" kann nämlich einerseits - in konkretem Sinn und ontologisch - die Anordnung von Materie im Raum und andererseits - in abstraktem Sinn und erkenntnistheoretisch - die Abbildung von Abstraktem in körperlichen Kategorien bedeuten. Neben diesem abstrakten und konkreten Verständnis des Wortteils "fonna" kam dem Verb "infonnare" eine dritte, pädagogische Bedeutung zu. Mit "infonnare" wurden nämlich nicht nur die Fonnveränderung eines körperlichen Gegenstandes und die verkörperte Vorstellung eines abstrakten Sachverhalts, sondern auch das Lehren und Lernen bezeichnet. Eine zusätzliche Erweiterung erfährt die Bedeutungsvielfalt des Substantivums "infonnatio" durch die Mehrdeutigkeit der Endung ,,-tio". Ein mit dieser Endung versehenes Substantivum kann sowohl einen Prozeß als auch dessen Ergebnis bezeichnen. Insgesamt können dem Substantivum "infonnatio" damit sechs verschiedene Bedeutungen zugeordnet werden. "infonnatio" kann in konkretem, abstraktem oder pädagogischem Zusammenhang gebraucht werden und es kann einen Prozeß oder dessen Ergebnis bezeichnen 9 . Die pädagogische Bedeutung von "infonnatio" als "Bildung" im heutigen Sinn dauerte bis in das 18. Jahrhundert fort. Danach erfuhr der Infonnationsbegriff eine Bedeutungsverengung auf Wissensvermittlung oder Mitteilung. Ähnliches - nämlich Darlegung, Mitteilung, Nachricht - bedeutet Infonnation auch heute noch lO •
B. Information und Kommunikation Der heute gültige, nach wie vor äußerst heterogene Infonnationsbegriff läßt sich aus den ausführlich erörterten Aspekten des Kommunikationsbegriffs 11 ableiten. Hier wie dort sind ähnlich differierende und unterschiedlich konkrete Auffassungen über Kommunikation bzw. Infonnation zu unterscheiden 12. Im folgenden ist daher insbesondere zu klären, welche Auswirkungen das gefundene Verständnis von Kommunikation auf den Infonnationsbegriff hat.
Vgl. R. CapuITo, Infonnation, 1978, S. 17 f. Siehe hierzu H. Mackeprang, Zum Infonnationsbegriff der Allgemeinen Technologie, 1987, S. 48 ff. 10 H.'Seiffert, Infonnation über Infonnation, 1968, S. 28 f. ll Siehe dazu oben im Text sub § 4. C. 12 Zur komplementären Begriffsdefinition von Infonnation und Kommunikation zusf. z. B. H. Taday, Infonnationelle Selbstbestimmung in modernen IuK-Systemen von Unternehmen und öffentlichen Organisationen, 1996, S. 18 ff. 8
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
Dabei wird die hiesige Präferenz für die Interpretation von Kommunikation als soziales System im Sinne der Theorie autopoietischer Systeme von N. Luhmann insofern bestätigt, als deren Anwendung auf den Informationsbegriff einen deutlichen, von rechtlichen Regelungen der polizeilichen Informationsvorsorge zu beachtenden Zusammenhang zwischen Information, Sicherheit, Selbststeuerung und Vorsorge ergeben wird.
I. Information als Nachricht
Aus dem Verständnis von Kommunikation als Zeichenübertragung 13 werden sowohl ein nur statistisch-syntaktischer als auch semiotische Informationsbegriffe abgeleitet l4 . Ersterer ergibt sich aus der Deutung von Kommunikation als reiner Zeichenübertragung; letztere basieren auf der Verfeinerung des Kommunikationsmodells von C. E. Shannon und W. Weaver. 1. Der statistisch-syntaktische Informationsbegriff
Die Gleichsetzung von Information und Nachricht oder Mitteilung, die Annahme einer Einheit von materiellem Träger und Inhalt der Information, die Reduzierung des Informationsbegriffs auf eine bloße Ansammlung von Zeichen sowie die Behandlung des Informationsbegriffs als ein nur physikalisches Ereignis zwischen einem Sender und einem Empfänger 15 entspricht dem Verständnis von Kommunikation als ausschließlicher Zeichenübertragung 16. Die gegen diesen Informationsbegriff erhobenen Bedenken ähneln deshalb den schon gegen eine rein nachrichtentechnische Interpretation von Kommunikation angeführten: Der Informationsbegriff der Informations-(besser: Nachrichten-) theorie von C. E. Shannon läßt Inhalt und Bedeutung einer Nachricht vollständig unberührt; er ist statistisch und erfaßt nur den aus den verwendeten Zeichen und deren Beziehungen zu anderen Zeichen resultierenden syntaktischen Aspekt. Information erscheint als Maß für die Wahrscheinlichkeit des Eintritts von ungewissen Ereignissen. Danach entspricht die Information, die durch das tatsächlich stattfindende Ereignis aus der Menge der möglichen Ereignisse gewonnen wird, in ihrem Maß der Unbestimmtheit vor dem betreffenden Ereignis, welches aus der Menge der möglichen Ereignisse eintriu 17 . Dazu bereits oben im Text sub § 4. C. I. Zusammenfassend zum folgenden vgl. J. N. Druey, Information als Gegenstand des Rechts, 1995, S. 3 ff.; U. Sieber, NJW 1989, 2569 (2572 f.); D. Peitsch, ZRP 1992,127. 15 So - referierend - H. Mackeprang, Zum Informationsbegriff der Allgemeinen Technologie, 1987, S. 75, 78 ff. 16 Ausführlich oben im Text sub § 4. C. I. 13
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§ 5 Infonnationsbegriff, Kommunikation, Wissen und Technik
227
Eine derartige nur statistische Bestimmung des Informationsbegriffs ist zu einseitig und damit unbefriedigend. Sie differenziert nämlich weder nach dem Grad der Relevanz der übermittelten Informationen noch bezieht sie deren Bedeutung oder den Verwendungszweck beim Empfänger mit ein.
2. Die semiotischen Informationsbegriffe
Die semiotischen Informationsbegriffe l8 werden diesen Bedenken jedenfalls teilweise gerecht. Deren Interpretation des Begriffs "Information" beschränkt sich nicht auf die syntaktische Dimension, sondern bezieht auch die semantischen, pragmatischen und sigmatischen Dimensionen mit ein. Die semiotischen Informationsbegriffe erweisen sich damit als das Ergebnis einer - verglichen mit dem statistisch-syntaktischen Informationsbegriff - näheren Analyse. Sie ermöglichen neben dieser weiteren Ausdifferenzierung des Informationsbegriffs die Zuordnung und Abgrenzung der Begriffe "Information", "Nachricht", ,,zeichen", "Signal", "Datum" und "Daten". Diese werden dabei im folgenden vornehmlich im Sinne der Allgemeinen Informationstheorie und nach dem technisch-informatischen Sprachgebrauch, weniger entsprechend - teilweise sogar entgegen! - der juristischen Terminologie gebraucht l9 .
a) Der statistisch-syntaktische Informationsbegriff als Ausgangspunkt Die semiotischen Informationsbegriffe bauen auf dem bereits dargestellten statistisch-syntaktischen Informationsbegriff auf. Der syntaktischen Ebene, die die Beziehungen zwischen den Zeichen thematisiert, wird allgemein sowie auch vorstehend der Terminus ,,zeichen,,2o zugeordnet21 . Hierdurch werden ausschließlich formale strukturbildende Aspekte erfaßt 22 .
Siehe z. B. die Darstellung bei M. Fleischer, Infonnation und Bedeutung, 1990, S. 142. Die Verwendung des Plurals "semiotische Infonnationsbegriffe" will andeuten, daß vielfach nur eine oder mehrere, nicht aber alle vier Dimensionen - Syntaktik, Semantik, Pragmatik, Sigmatik - zur Definition von "Infonnation" herangezogen werden. Andere sehen "Infonnation" umgekehrt gerade durch alle vier semiotischen Ebenen definiert. Die Vertreter der letzteren Meinung müßten den Tenninus "semiotischer Infonnationsbegriff" im Singular verwenden. 19 Hierzu sowie zum folgenden W. Steinmüller, Infonnationstechnologie und Gesellschaft, 1993, S. 202 ff., 203. 20 Zum - ebenfalls hierher gehörenden - Begriff der "Daten" und zu dessen Abgrenzung von "Information" vgl. noch unten im Text sub § 5. B. I. 3. 21 E. Wessling, Individuum und Infonnation, 1991, S. 16. 22 W. Steinmüller, Infonnationstechnologie und Gesellschaft, 1993, S. 202 ff. 17 18
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
b) Der semantische Informationsbegriff Die semantische Dimension des Informationsbegriffs behandelt demgegenüber die Beziehung zwischen Zeichen und ihrer Bedeutung. "Information" ist danach die Bedeutung von Zeichen für einen ideellen oder für einen bestimmten Empfänger23 • Hierfür wird einheitlich der Begriff "Nachricht" verwendet 24 .
c) Der pragmatische Informationsbegriff Der Informationsbegriff25 selbst wird der Pragmatik, d. h. den Beziehungen zwischen Zeichen und Zeichenverwendern, zugeordnet. Er spricht die zweckhafte und zeitliche Beziehung zum Erzeuger, Verbraucher sowie Empfänger oder Verwerter von Informationen an 26 .
d) Der sigmatische Informationsbegriff Im Gegensatz zur semantischen Dimension, die sich auf das Verhältnis von Zeichen und Bedeutung bezieht, betrifft die sigmatische Ebene die Relation zwischen Zeichen und der "Realität" als Bezeichnetem. Der sigmatischen Dimension kommt dabei insofern besondere Bedeutung zu, als der Fortschritt des semiotischen Informationsbegriffs gegenüber dem statistisch-syntaktischen teilweise gerade in der näheren Bestimmung des Verhältnisses von Zeichen und Realität gesehen wird. Im Gegensatz zum statistisch-syntaktischen Informationsbegriff, der auf die statistische Wahrscheinlichkeit eines Zeichens aus einem Zeichenvorrat abstellt, soll Information (i.w.S.) nach dem semiotischen Informationsbegriff den Grad der Präsenz des ,,realen" Objekts in den Zeichen darstellen 27 .
23 Dazu H. Mackeprang, Zum Informationsbegriff der Allgemeinen Technologie, 1987, S. 75, 87 f., der in diesem "Bedeutungs-Ansatz" das Wesen des semiotischen Informationsbegriffs insgesamt erblickt. 24 E. Wessling, Individuum und Information, 1991, S. 16. 25 Der Terminus "Information" wird in doppelter Bedeutung verwendet: Information Le.S. wird der - hier angesprochenen - pragmatischen Dimension zugeordnet. Information als solche oder Lw.S. meint demgegenüber die Gesamtheit, innerhalb derer syntaktische, semantische, pragmatische und sigmatische Ebenen ausdifferenziert werden können. 26 Siehe dazu zusf. z. B. W. Steinmüller, Informationstechnologie und Gesellschaft, 1993, S.201 ff.; E. Wessling, Individuum und Information, 1991, S. 13 ff. 27 M. Fleischer, Information und Bedeutung, 1990, S. 144 f., der diesen aber dann ablehnt Ca. a. 0., S. 147).
§ 5 Infonnationsbegriff, Kommunikation, Wissen und Technik
229
3. Strittige Termini - insbesondere" Datum" versus "Information"
Die Zuordnung von "Signal" und "Daten" als neben Zeichen weiteren Begriffen ist hingegen streitig und erweist sich daher als problematisch. "Signal" wird sowohl für die syntaktische als auch für die semantische Dimension reklamiert und zudem auch als Benennung für die Zeichenverkörperung vorgeschlagen 28 . Eine eindeutige Zuordnung ist hier nicht erforderlich, zumal die syntaktische und semantische Ebene bereits anderweitig bezeichnet sind und der Begriff "Signal" weder allgemein aus juristischer Sicht noch speziell unter dem Blickwinkel der polizeilichen Infonnationsvorsorge bedeutsam ist. Einer näheren Erläuterung bedarf demgegenüber der ebenfalls umstrittene Terminus der "Daten". Diesem aus der Fachsprache der Infonnatik stammenden Begriff29 kommt auch für die Rechtswissenschaften schon insofern gesteigerte Bedeutung zu, als er in der Rechtssprache quantitativ mindestens ebenso häufig Verwendung findet wie der Infonnationsbegriff3o . Dabei fällt auf, daß sich in der juristischen Terminologie eine falschliche Verwendung der Begriffe "Daten" und "Infonnation" eingebürgert hat. In der juristischen Fachsprache werden die beiden Begriffe nämlich vielfach ebenso wie in der Gesetzessprache bedeutungsgleich verwendet 3 ! . Tatsächlich stellt Infonnation (Lw.S.) aber einen auch "Daten" umfassenden Oberbegriff dar. Während Infonnation (Lw.S.) die Gesamtheit von Syntaktik, Semantik, Pragmatik und Sigmatik bezeichnet, betreffen die "Daten" nur den ersteren Aspeke 2 . Dies gilt unabhängig davon, ob man mit der h.M. in Daten Darstellungen von Infonnationen durch Zeichen oder mit einer Mindenneinung Rohelemente, durch deren Verknüpfung Infonnationen erst entstehen, sieht33 . Anders ausgedrückt sind Infonnationen Modelle von Ausschnitten der Welt 34 . Daten sind demgegenüber aufgrund ausdrücklicher oder konkludenter Vereinbarungen durch Zeichenketten auf Datenträgern dargestellte Infonnationen. E. Wessling, Individuum und Infonnation, 1991, S. 16. Vgl. hierzu sowie allgemein zum Unterschied von "Infonnation" und "Daten" z. B. R. Ellger, Der Datenschutz im grenzüberschreitenden Datenverkehr, 1990, S. 50 f. 30 Das BGBL enthält ausweislich einer Computeranfrage insgesamt ca. 100 Nachweise für eine Verwendung des Begriffs "Infonnation", gibt aber ca. 300 FundsteIlen für den Terminus "Daten" an. 31 Ähnlich kritisch speziell im Hinblick auf § 303a StGB L. Meinhardt, Überlegungen zur Interpretation von § 303a StGB, 1991, S. 92. 32 Vgl. Z. B. R. Ellger, Der Datenschutz im grenzüberschreitenden Datenverkehr, 1990, S. 50 f. 33 Zu diesem Streit m.w.N. P. Lazaratos, Rechtliche Auswirkungen der Verwaltungsautomation auf das Verwaltungsverfahren, 1990, S. 40 f.; R. Ellger, Der Datenschutz im grenzüberschreitenden Datenverkehr, 1990, S. 50 f. 34 A. Podlech, in: W. Steinmüller, Infonnationsrecht und Infonnationspolitik, 1976, S. 21 ff. 28 29
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
4. Information als Gefahr
Die Bedeutung und Intensität des Antagonismus zwischen Information (i.w.S.) einerseits und "Daten" andererseits kann kaum überschätzt werden. Aus der Zuordnung der "Daten" allein zur syntaktischen Ebene von Information (i.w.S.) resultiert nahezu die gesamte Problematik jeglicher Informations- oder Datenvorsorge. Eben weil die in der Automatischen Datenverarbeitung verwendeten "Daten" ausschließlich physikalische Ereignisse darstellen, können sie ihrer ursprünglichen pragmatischen, semantischen und sigmatischen Dimension entkleidet und anschließend in einen neuen fremden Zusammenhang gestellt werden. Daten sind unabhängig von Raum, Zeit, Inhalt, Zweck und Umwelt und damit interpretationsbedürftig. Hieraus kann sich ein Argument für eine Einschränkung der Automatischen Datenverarbeitung ergeben, obwohl zum einen die gefundene Feststellung, daß Daten, Information (Lw.S.) und Kommunikation Modelle und Systeme der Wirklichkeit liefern, dem ersten Anschein nach für eine möglichst umfassende und uneingeschränkte Kommunikation, Information (Lw.S.) und Datenverarbeitung spricht und zum anderen diese Abstrahierung eine Automatische Datenverarbeitung und die damit verbundenen Vorteile erst ermöglicht. Daten repräsentieren Menschen und soziale Beziehungen damit nicht nur modellhaft, sie können sie vielmehr auch manipulieren. Wegen der Interpretationsbedürftigkeit der in Automatischen Datenverarbeitungen verwendeten Daten stellt der Zugang zu Daten einen Machtfaktor dar35 . Die gerade in der Divergenz von "Daten" und "Information" begründeten Gefahren der Automatischen Datenverarbeitung sind im hiesigen Zusammenhang überdies deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie zugleich Anknüpfungspunkte für rechtliche Regelungen darstellen 36 .
11. Information als subjektbezogener Prozeß Ebenso wie der symbolische Interaktionismus 37 das Übergangsstadium von einem rein analytischen und statischen Verständnis von Kommunikation zu einem systemtheoretisch orientierten markiert, stellt auch die Interpretation von Information als subjektbezogenem Prozeß eine Fortentwicklung des Informationsbegriffs über die Deutung der Information als Nachricht und einen Schritt hin zu einem ebenfalls systemtheoretischen Verständnis von Information dar.
35
351.
Vgl dazu W. Steinmüller, Informationstechnologie und Gesellschaft, 1993, S. 211 ff.,
36 Zum Aspekt der Information als Gefahrenpotential vgl. U. Sieber, NJW 1989, 2569 (2570 f.). 37 Siehe dazu ausführlich oben im Text sub § 4. C. 11. I.
§ 5 Infonnationsbegriff, Kommunikation, Wissen und Technik
231
1. Die Subjektabhängigkeit von lnfonnation
Die Umschreibung von Information als subjektbezogenem Prozeß bezieht die wechselseitige Beeinflussung der Kommunikationsteilnehmer in die Betrachtung mit ein und bringt zum Ausdruck, daß Information nicht wie ein reines materielles Transportgut verstanden werden dares. Die - soeben dargestellten - semiotischen Informationsbegriffe konzentrieren sich zwar insbesondere in der pragmatischen, weniger in der semantischen, syntaktischen und sigmatischen Ebene auch auf Menschen als Handlungssubjekte und thematisieren Kommunikation als Instrument zur Entscheidungs- und Verhaltens beeinflussung. Die Betrachtung von Kommunikation und Information als Interaktion findet sich aber erst in den in sich wiederum äußerst heterogenen sozialwissenschaftlichen Erklärungen 39 . Mit dem Übergang zu einem Verständnis von Information als subjektbezogenem Prozeß und als Interaktion sind kaum überschätzbare Veränderungen verbunden, obwohl die semiotischen Informationsbegriffe die Kommunikationsteilnehmer bereits in ihre Betrachtungen miteinbeziehen. Die semiotischen Informationsbegriffe berücksichtigen die Kommunikationsteilnehmer nämlich nur insofern mit, als das Verhältnis von Zeichen zueinander ebenso wie deren Bedeutung, der ihnen jeweils zukommende "Abbildungsgrad" der "Realität" und das Verhältnis von Menschen und Zeichen die Kommunikationsteilnehmer notwendigerweise in den Informationsbegriff miteinbeziehen 4o . Während die Kommunikationsteilnehmer von den semiotischen Informationsbegriffen damit nur implizit und nachrangig erfaßt werden, stellt das Verständnis von Information als subjektbezogenem Prozeß die Interaktion zwischen den Kommunikationsteilnehmern gerade in das Zentrum seiner Betrachtungen und sieht die aus dem semiotischen Informationsbegriff ausdifferenzierten vier Ebenen in Abhängigkeit von diesem Wechselwirkungsverhältnis. Damit verändern sich sowohl die syntaktische, semantische, sigmatische und pragmatische Dimension der semiotischen Informationsbegriffe jeweils für sich als auch deren Verhältnis zueinander; insbesondere kommt, wenn man Information als subjektbezogenen Prozeß versteht, dem pragmatischen Informationsbegriff ein eindeutiger Vorrang gegenüber den anderen semiotischen Dimensionen zu. Anders und kürzer ausgedrückt stellt die Betrachtung von Information als Interaktion und subjektabhängigem Prozeß einen Paradigmenwechsel dar.
E. Wessling, Individuum und Infonnation, 1991, S. 19. Dazu z. B. G. Weiter, Technisierung von Infonnation und Kommunikation in Organisationen, 1988, S. 361 f. 40 Die mit dem technischen Fortschritt immer mehr zunehmende reine Maschine-Maschine-Kommunikation widerspricht dem nicht; auch an dieser sind nämlich - vergröbernd ausgedrückt - neben den Maschinen als unmittelbaren Kommunikationsteilnehmern mittelbar auch menschliche Kommunikationsteilnehmer "hinter" den jeweiligen Maschinen beteiligt. Zum Problem, daß psychische Systeme nicht (direkt) kommunizieren können vgl. unten im Text sub § 6. A. IV. 2. a. 38 39
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
2. Information als Prozeß
Das Verständnis von Infonnation als Prozeß bringt zum Ausdruck, daß Infonnation eine physische Beeinflussung darstellt und Zeit erfordert. Der Prozeßbegriff bietet sich im Zusammenhang mit Infonnation dabei insbesondere deshalb an, weil er auf deren dynamischen Charakter verweist. Die prozessualen Ansichten von Infonnation können nach der jeweils angenommenen Art der Beteiligung der Kommunikationsteilnehmer weiter aufgefächert werden: Von Meinungen, die die Informationsqualität vornehmlich in dem physischen Beeinflussungsprozeß sehen, sind solche zu unterscheiden, die Infonnation entweder als intra- oder interpersonale Einwirkung verstehen41 •
3. Information als subjektbezogener Prozeß - Vor- und Nachteile
Die Subjekthaftigkeit von Infonnation resultiert aus dem Ergebnis - H. Mackepranl2 spricht hier von "Wirkungs-Ansatz" - des Infonnationsprozesses. Information wird nämlich auch als Ergebnis der Beeinflussung der Kommunikationsteilnehmer und als Verringerung von Unsicherheit bzw. - umgekehrt fonnuliert als deren Wissensvennehrung verstanden. Die letztere Umschreibung verbindet dabei Wissen und Infonnation 43. Das Verständnis von Infonnation als subjektbezogenem Prozeß beschreibt diese aber ebenso unvollständig wie der symbolische Interaktionismus die Kommunikation. Beide klären nämlich die pragmatischen Dimensionen nicht hinreichend, weil sie offenlassen, wie das Verhältnis von Menschen und Zeichen geordnet wird. Ein Schritt zur Beantwortung dieser Frage stellt die Interpretation von Infonnation als kybernetische Struktur dar. IH. Information, Kybernetik und Struktur
Die Bestimmung des Verhältnisses von Infonnation, Kybernetik und Struktur führt zu einer weiteren Aufhellung der pragmatischen Ebene von Infonnation. Infonnation stellt hiernach neben Materie und Energie als Grundgrößen der klassischen Physik eine weitere und dritte Grundgröße dar44 . Damit ist Infonnation we41 Vgl. die Zusammenfassung von H. Mackeprang, Zum Informationsbegriff der Allgemeinen Technologie, 1987, S. 75, 76 f. 42 Dazu sowie zum folgenden H. Mackeprang, Zum Informationsbegriff der Allgemeinen Technologie, 1987, S. 75, 83 f. 43 AbI. z. B. W. Steinmüller, Informationstechnologie und Gesellschaft, 1993, S. 235. Zum Verhältnis von Information und Wissen vgl. noch näher unten im Text sub § 5. C. 44 N. Wiener, Kybernetik, 1963, S. 192; G. Günter, Das Bewußtsein der Maschinen. Eine Metaphysik der Erkenntis, 1963, S. 21 Cf., 31 ff., 80 Cf. - Ebenso U. Sieber, NJW 1989,2569 (2572 f.); D. Peitsch, ZRP 1992, 127.
§ 5 Infonnationsbegriff, Kommunikation, Wissen und Technik
233
der mit dem Informationsträger noch mit dem Bewußtseinsinhalt von Sender oder Empfänger identisch. Information wirkt aus diesem Blickwinkel ebenso strukturbildend wie Energie und Materie. Darüber hinaus wird Information auch als die statische Anordnung von Elementen in Raum und Zeit, als Gradient statischer Anordnung von Elementen oder als Attribut materieller Objekte definiert und auch insofern als Struktur verstanden 45.
1. Information als - neben Materie und Energie - dritte Grundgröße
Die Annahme von Information als einer dritten Grundgröße erscheint dabei aus naturwissenschaftlicher Perspektive schon deshalb angemessen, weil die Erkenntnisse der Molekulargenetik und Quantenmechanik mit Hilfe der herkömmlichen zwei Grundgrößen ebensowenig erklärt werden konnten wie die Ergebnisse der Thermodynamik. Vielfach werden Information und Entropie - bzw. umgekehrt: Negentropie - als Maß für die Unordnung eines Systems verglichen. Aus dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik wird dabei gefolgert, daß die Entropie eines sich selbst überlassenen, nach außen abgeschlossenen Systems immer nur zu-, nie aber abnehmen kann. Entsprechend der thermodynamischen Prognose eines Wärmetodes wird insoweit auch der Verbrauch aller nur denkbaren Information angenommen, sofern Information nicht von außen zugeführt werden kann. Der "Außenwelt" wird insoweit eine unabdingbare stabilisierende Wirkung zugeschrieben 46 . Der grundsätzliche und multidisziplinäre Charakter des Informationsbegriffs wird zudem durch die Ausprägung spezieller informationstheoretischer Forschungsmethoden in den traditionellen Wissenschaftszweigen bestätigt. Diese am Informationsbegriff orientierten Forschungsansätze haben sich in den einzelnen Disziplinen soweit verdichtet, daß von "Informationsbiologie", ,,-psychologie", ,,-pädagogik" und ,,-ästhetik" gesprochen wird. Die philologischen Wissenschaften haben sich als ebenso informationsorientiert erwiesen wie die Soziologie und die Politikwissenschaften. Die Entdeckung von Information als dritter Grundgröße trägt damit auch zu einer Vereinheitlichung der Wissenschaften allgemein und speziell zur Überwindung der Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften bei47 • Schließlich vermag die Qualifikation von Information als dritter Grundgröße auch eine rein tatsächliche, wirtschaftliche Entwicklung adäquat zu beschreiben: Neben den zwei traditionellen Transportnetzen für Energie und materielle Güter, 45 Vgl. dazu den von H. Mackeprang sog. "Struktur-Ansatz" und dessen Ausführungen hierzu in H. Mackeprang, Zum Infonnationsbegriff der Allgemeinen Technologie, 1987, S. 75, 81 ff. 46 H. Stachowiak, in: SeiffertJRadnitzky (Hrsg.), Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, 1992, S. 154 ff., 158. 47 H. Stachowiak, in: SeiffertJRadnitzky (Hrsg.), Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, 1992, S. 154 ff., 156.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
in denen der Austausch der ersten beiden Grundgrößen erfolgt, entwickelt sich mit dem Datenkommunikationsnetz nämlich ein drittes 48 . Die Qualifizierung von Information als dritter Grundgröße darf dabei nicht dahin (miß-)verstanden werden, daß Information, Energie und Materie voneinander völlig unabhängig wären. Vielmehr wirkt sich Information nicht nur auf Materie und Energie aus und wird hierdurch (nachrichtentechnisch49 ) meßbar, sondern ist darüber hinaus gerade zur Steuerung großer Energie- und Materieströme ohne nennenswerten Energie- oder Materieverbrauch geeignet 5o .
2. Das kybernetische Verständnis von Information
Die Kybernetik baut bei ihrem Verständnis von Information sowohl auf den statistisch-syntaktischen Informationsbegriff der Nachrichtentechnik als auch auf die Interpretation von Information als subjektbezogenem Prozeß auf. Der statistischsyntaktische Informationsbegriff wird um das Rückkopplungsprinzip ergänzt und bezieht damit auch die durch das Verständnis von Information als subjektbezogenem Prozeß thematisierte Wechselwirkung ein. Rückkoppelung meint dabei einen Regelkreis, in dem der Output eines Gliedes jeweils Input des nächstfolgenden Gliedes ist. Im einzelnen stellt sich dies abstrakt wie folgt dar: Störungen, die auf eine zu regelnde Größe (Regelstrecke) einwirken, wird gegengesteuert, indem die aus diesen Störungen resultierenden Abweichungen der Regelstrecke an einem Meßort als Input erscheinen. Von diesem Meßort wird dieser Istwert der zu regelnden Größe als Output an den Regler weitergeleitet. Dort werden der eingehende Istwert und die von einem Sollwertgeber vorgegebene Führungsgröße - der Sollwert der zu regelnden Größe - verglichen und die erforderliche Korrektur an den Stellort weitergegeben. Dieser wirkt mit dieser Stellgröße als Output auf die zu regelnde Größe ein. Die hierdurch und aus eventuellen weiteren Störungen resultierenden Abweichungen der Regelstrecke erscheinen wiederum im Meßort als Input - der Kreislauf wird somit erneut und immer wieder durchlaufen 51 . Aus der Sicht der Kybernetik stellen Kommunikationsteilnehmer sowohl Regler als auch Regelstrecken dar. Kybernetisch betrachtet erscheint Information bei einem Kommunikationsteilnehmer als Input und veranlaßt diesen zueiner Handlung als Output. Diese erscheint wiederum als Information beim Kommunikationspartner und regt diesen ebenfalls zu einer Handlung an. 48 49
U. Sieber, NJW 1989,2569 (2570). Zur nachrichtentechnischen Quantifizierung von Information vgl. oben im Text sub § 5.
B. I. 50 R. Kreibich, Die Wissenschaftsgesellschaft. Von Galilei zur High-Tech-Revolution, 1986, S. 243. 51 Zu diesem Regelkreisschema siehe z. B. H. Stachowiak, Kybernetik, in: SeiffertlRadnitzky (Hrsg.), Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, 1992, S. 182 ff., 183 f. und insbesondere die dortige Skizze.
§ 5 Infonnationsbegriff, Kommunikation, Wissen und Technik
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3. Strukturbildung durch Information
Die Strukturrelevanz von Information ergibt sich zum einen aus ihrer Einstufung als - neben Materie und Energie - dritter Grundgröße. Zum anderen wirkt Information nach dem kybernetischen Verständnis insofern strukturbildend, als das Durchlaufen des Regelkreises Zeit bindet und überwindet. Eine darüber hinaus gehende nähere Aufhellung des Verhältnisses von Information und Struktur wird sich sogleich, wenn Information als kommunikative Selektion im Sinne der Theorie autopoietischer Systeme dargestellt wird, ergeben.
IV. Information als kommunikative Selektion im Sinne der Theorie autopoietischer Systeme Die Theorie autopoietischer Systeme von N. Luhmann, derzufolge sich Information - neben Mitteilung und Verstehen - als die dritte Selektion von Kommunikation darstellt52 , ist angesichts ihrer Komplexität nicht nur in der Lage, die vielfältigen bereits angesprochenen Aspekte und Interpretationen von Information aufzunehmen, sondern erlaubt darüber hinaus eine weitere Konkretisierung des Informationsbegriffs. Insbesondere gelingt es ihr, die auch von anderen Ansichten schon angedeutete Verbindung zwischen Information und Sicherheit bzw. Unsicherheit, der im Zusammenhang mit der hier interessierenden polizeilichen Informationsvorsorge gesteigerte Bedeutung zukommt, weiter zu konkretisieren. Information ist nach N. Luhmann eine Selektion, die Systemzustände auswählt53 indem der Erlebende Ereignisse gegen einen Horizont anderer Möglichkeiten projiziert und den eigenen Systemzustand durch die Erfahrung "dies und nicht anders","dies und nicht das" festlegt 54 . Eben durch diese Differenz, bei der aus einer Vielzahl von Möglichkeiten gerade eine identifiziert und isoliert wird, gewinnt Information ihre Gestalt55 . Angesichts des permanenten Wandels des sich reproduzierenden Systems ist Information damit zeit- und strukturabhängig sowie sicherheitsrelevant. I. Der Selektionscharakter von Information
Die Tatsache, daß Information eine Selektion "dies und nicht das" darstellt, ist schon im Hinblick auf die menschliche Informationsverarbeitungskapazität kein Siehe dazu bereits oben im Text sub § 4. C. III. 2. a. N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 102. 54 N. Luhmann, Liebe als Passion, 1982, S. 28. 55 T. Bemdsen, Von Handlung zu Kommunikation, 1991, S. 35. - Ebenso zum Wesen von Infonnation H. F. Spinner, Die Wissensordnung, 1994, S. 26. 52
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
Zufall, sondern eine biologisch bedingte Notwendigkeit. Die Aufnahmekapazität der menschlichen Sinne erweist sich nämlich zwar als sehr groß. So wird für das menschliche Gehör ein maximaler Informationsfluß von ca. 104 bit/s, für das menschliche Sehen ein solcher von ca. 10 10 bit/s angenommen 56 . Das intellektuelle menschliche Gedächtnis (also unter Ausschluß von Verhaltensroutinen und der Steuerung lebenswichtiger Prozesse usw.) verfügt demgegenüber aber nach heutiger Annahme nur über eine Speicherkapazität von insgesamt 106 - 108 bit57 • Unterscheidet man drei Teilgedächtnisbereiche - das Gegenwarts-, Kurzzeitund Langzeitgedächtnis - kann das Gegenwartsgedächtnis 15 bit/s aufnehmen, das Kurzzeitgedächtnis nur noch 0,5 bit/s und das Langzeitgedächtnis schließlich sogar nur noch 0,05 bit/s58 . 2. Information und Struktur
Information ist zwar selbst keine Struktur, setzt eine solche aber einerseits voraus und kann zudem und andererseits strukturverändernd wirken. Strukturen sind erforderlich, da die mit einer Information verbundene Selektion eine Begrenzung und Vorsortierung von Möglichkeiten verlangt. Strukturen sind damit die Grundlage für die Bildung von Information 59 • Darüber hinaus wirken umgekehrt Informationen auf Strukturen zurück und können sie verändern.
a) Strukturabhängigkeit von Information Information darf dabei aber nicht als Input in ein System (miß-) verstanden werden. Dies würde der Theorie der autopoietischen Systeme widersprechen: Ein autopoietisches System ist nämlich nur bzgl. Materie und Energie, nicht aber im Hinblick auf seine Operationen offen; es ist nicht durch die Transformation von Input zu Output, sondern durch ein Netzwerk von Operationen, das es rekursiv reproduziert, charakterisiert. Aus der operativen Geschlossenheit autopoietischer Systeme folgt, daß sie die von ihnen verwendeten Informationen selbst produzieren müssen. Die für die Operationen eines Systems erforderlichen Informationen können daher nur durch rekursive Vor- und Rückgriffe der Operationen dieses Systems erzeugt werden 60 . Dementsprechend differenziert und synthetisiert jede Kommunikation Information, Mitteilung und Verstehen als eigene Komponenten 61 . H. V61z, Grundlagen der Information, 1991, S. 487. Zum Verhältnis des menschlichen Wahrnehmungsvermögens einerseits und der menschlichen Informationsverarbeitungskapazität andererseits vgl. auch B. Kraak, Der riskante Weg von der Information zum Wissen, 1991, S. 11. 58 H. Völz, Grundlagen der Information, 1991, S. 492 ff., 505 f. 59 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Auf!. 1988, S. 102 f. 60 Vgl. z. B. die Ausführungen bei D. Baecker, Womit handeln Banken?, 1991, S. 35 f. 56 57
§ 5 Infonnationsbegriff, Kommunikation, Wissen und Technik
237
Als strukturierend erweist sich hierbei insbesondere die Codierung62 von Systemen. Aus dem Verständnis von Information als Produkt der selbstreferentiellen Operationsweise eines Systems folgt, daß jede Information die Umsetzung einer Umweltirritation in die kognitiven Strukturen des Systems darstellt63 . Anhand des Codes lassen sich codierte und nicht codierte Ereignisse unterscheiden; erstere stellen eine Information, letztere eine Störung der Kommunikation dar64 .
b) Informationsabhängigkeit von Struktur Struktur ist nicht nur Voraussetzung für die Bildung von Information, sondern Information ist umgekehrt auch strukturrelevant. Informationen führen nämlich zu Aufbau, Bestätigung oder Modifikation von Erwartungen65 . Die von N. Luhmann vertretene autopoietische Theorie sozialer Systeme ist eine funktional-strukturelle Systemtheorie66 , d. h. sie stellt die durch ein soziales System zu erfüllende Funktion in den Mittelpunkt; die Strukturen des Systems werden nach diesem Verständnis in Abhängigkeit von der zu erfüllenden Funktion gebildet67 • Veränderliche und indeterminierte Strukturen sind für soziale Systeme zur Bewältigung der Umweltkomplexität erforderlich. Sie bestimmen die Reaktion des Systems auf Umweltereignisse nicht, sondern machen Anschlüsse intern und selbstreferentiell errechenbar. Strukturen produzieren Ereignisse nicht 68 ; sie zeichnen sich vielmehr dadurch aus, daß sie einerseits die Reproduktion des Systems durch beliebige Elemente verhindern, andererseits aber bestimmte Anschlußmöglichkeiten privilegieren und dadurch die Reproduktion fördern. Anders ausgedrückt weisen Strukturen den unzähligen Anschlußmöglichkeiten unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten zu. c) Erwartungen als Strukturen sozialer Systeme Soziale Strukturen in diesem Sinn bilden die Erwartungen. Erwartungen limitieren die Möglichkeiten zukünftiger Ereignisse und stellen die Anschlußfähigkeit beN. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 24. Zur Codierung und den unterschiedlichen Codes vgl. bereits oben im Text sub § 4. C. III. 2. c. bb. (2). 63 H. R. Maturana, Infonnation - Mißverständnisse ohne Ende, DELFIN VII, 1986, S. 24 ff. 64 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Auf). 1988, S. 197. 65 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Auf). 1988, S. 139 f., 396 ff. 66 Siehe dazu z. B. die Ausführungen bei N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Auf). 1988, S. 86, 382. 67 Die strukturell-funktionale Systemtheorie geht demgegenüber vom umgekehrten Verhältnis von Struktur und Funktion aus. 68 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Auf). 1988, S. 384 f. 61
62
238
2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
stimmter, nicht beliebiger Ereignisse sicher, ohne auszuschließen, daß etwas anderes, Unerwartetes geschieht. Dabei kann zwischen kognitiven, veränderbaren und normativen, unveränderbaren Erwartungen unterschieden werden 69 . Die Veränderbarkeit der Erwartungen hängt dabei von dem jeweils betroffenen gesellschaftlichen Teilsystem ab. Das Rechtssystem ist vorrangig durch normative, das Wirtschaftssystem durch kognitive Erwartungen geprägt. Schon hier sei darauf hingewiesen, daß sich später sowohl Recht als auch Wissen als generalisierte Erwartungen erweisen werden. Ersteres wird sich dabei als normative, letzteres als kognitive Erwartung darstellen.
3. Information und Vorsorge
Die Bedeutung von Erwartungen für soziale Systeme wird durch das Erwarten von Erwartungen zusätzlich gesteigert7o . Erwartungserwartungen ermöglichen Vorsorge als Selbststeuerung und Selbstkontrolle der Gesellschaft.
a) Gesellschaftliche Selbstkontrolle und Selbststeuerung durch Erwartungserwartungen Die aus dem wechselseitigen Erwarten von Erwartungen durch die Kommunikationsteilnehmer resultierende Reflexivität von Erwartungen nimmt die tatsächlichen Reaktionen von Kommunikationsteil!1ehmern kommunikativ vorweg. Dies führt zu einer präventiven Selbststeuerung und -kontrolle des Verhaltens der Kommunikationsteilnehmer. Geben Kommunikationsteilnehmer zu erkennen, daß sie erwägen, Erwartungen nicht einzuhalten, hängen die Folgen von der Reaktion der übrigen Kommunikatoren ab. Nehmen diese das Anzweifeln der Erwartungen hin, entfällt die Erwartungserwartung, die Erwartungen würden eingehalten. Weisen sie die erhobenen Zweifel zurück, können die zweifelnden Kommunikationsteilnehmer ihre Bedenken zurücknehmen; andernfalls entfällt die jeweilige Erwartungserwartung ebenfalls. Dieser Zusammenhang von Erwartungen und Erwartungserwartungen initiiert Vorsorge als eine dritte Ebene von Erwartungen: Um zu vermeiden, daß Erwartungserwartungen sich ändern, bekräftigen die Kommunikationsteilnehmer die jeweiligen Erwartungen vorsorglich - ohne daß diese in Frage gestellt worden wären.
N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 436 ff. Hierzu sowie zum folgenden siehe N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 411 ff. 69
70
§ 5 Infonnationsbegriff, Kommunikation, Wissen und Technik
239
Die Ausprägung dieser Erwartungsebenen macht die gesellschaftliche Entwicklung steuerbar. Wahrend ein Verhalten, das sich rückblickend als nachteilig erweist, nicht revidiert werden kann, können Erwartungen und Erwartungserwartungen korrigiert werden. Enttäuschte Erwartungen können modifiziert werden und so das weitere zukünftige Handeln steuerbar machen. Alles dies ermöglicht ein präventives Konfliktmanagement. Der Information kommt beim Aufbau, der Bestätigung oder Modifikation von Erwartungen und damit bei der gesellschaftlichen Selbststeuerung und -kontrolle entscheidende Bedeutung zu. Erwartungen bestimmen nämlich in ihrer Eigenschaft als Struktur einerseits, was als Information überhaupt relevant ist. Andererseits sind Informationen erforderlich, um Erwartungen zu bestätigen oder zu modifizieren.
b) Zeitabhängigkeit von Information Information ist in doppelter Hinsicht zeitabhängig: Zum einen hat Information keinen eigenen Perpetuierungseffekt, sondern wirkt sich auf den Systemzustand und die Struktur aus und verschwindet sodann. Information ist daher ein Ereignis. Hieraus ergibt sich auch, daß eine Information, die sinngemäß wiederholt wird, zwar Sinn behält, aber den Informationswert - abgesehen von einer damit verbundenen Bestätigung - verliert71 . Zum anderen kommt der Erzeugung von Information durch Selektion anhand vorhandener Strukturen insofern Einmaligkeit zu, als die Strukturen permanentem Wandel unterliegen. Festliegende Erwartungen schaffen als Strukturen eine Basis zur Bestimmung von Zukunft und Vergangenheit. Diese ermöglichen es, die Gesellschaft so zu steuern, daß die Sicherheit steigt, die Unsicherheit sinkt. So kann die von einem zwar unwahrscheinlichen, aber besonders schadensträchtigen Ereignis ausgehende Unsicherheit durch die vorsorgliche Bereitstellung wirksamer Verhinderungs- oder Bekämpfungsmittel reduziert und in Sicherheit transformiert werden. Anders ausgedrückt stellen Sicherheit bzw. Unsicherheit und Zeit unterschiedliche Dimensionen dar. Zeit ist absolut sicher, da sie immer gleichförmig fortschreitet. Die gesellschaftliche Steuerung kann sich daher an der Differenz zwischen Zeit und Sicherheit bzw. Unsicherheit orientieren72 .
c) Sicherheit und Information Die fortschreitende Verdichtung und Detaillierung der Erwartbarkeit von Ereignissen erfolgt in gesellschaftlichen Teilsystemen. Von der graduellen Dichte der 71 72
N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Auf!. 1988, S. 102 f. N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Auf!. 1988, S. 419 ff.
240
2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
Erwartungen hängen wiederum Sicherheit und Unsicherheit ab. Über die Erwartungen ergibt sich damit ein Zusammenhang zwischen Information und Sicherheit. Die Strukturbildung durch Erwartungen führt zur Differenz von Sicherheit und Unsicherheit 73 . Sicherheit und Unsicherheit knüpfen nämlich an Ordnung an. "Ein strukturloses Chaos wäre absolut unsicher, nur das wäre sicher.,,74 aa) Sicherheit durch Generalisierung von Erwartungen
Sicherheit und Strukturbildung durch Erwartungen sind einerseits untrennbar miteinander verbunden. Andererseits ist Strukturbildung durch Erwartungen aber nicht gleichbedeutend mit Sicherheit. Sicherheit ist vielmehr relativ und hängt von der Wahrscheinlichkeit des Eintritts des jeweils Erwarteten ab. Dabei sind in der Regel der Grad der Sicherheit und die Detailliertheit der Erwartungen zueinander umgekehrt proportional, d. h. die Verwirklichung einer sehr konkreten Erwartung ist eher unsicher, der Eintritt einer sehr generellen Erwartung demgegenüber eher sicher. Erwartungen sollten deshalb möglichst wenig präzise sein; sie sind daher nur so konkret zu fassen, wie dies zur Sicherung von Anschlüssen unerläßlich ist. Hieraus ergibt sich, da Information struktur- und erwartungsrelevant ist75 , bereits eine wichtige, zunächst erstaunliche Schlußfolgerung: Zunehmende Information bewirkt nicht wachsende Sicherheit, sondern steigende Unsicherheit. Die Richtigkeit dieses verblüffenden Zusammenhangs wird zusätzlich durch die Tatsache, daß bei Vorliegen von keiner oder nur sehr wenig Information eine sehr einfache Konstruktion zur Handhabung der Wirklichkeit genügt, bestätigt. Je mehr Information über einen Wirklichkeitsaspekt vorliegt, desto detaillierter muß das Modell, mit dessen Hilfe die Wirklichkeit kontrolliert und Einwirkungen gesteuert werden, sein. Je detaillierter das Modell der Wirklichkeit ist, desto deutlicher wird den Menschen jedoch die kaum zu überschätzende Komplexität der Welt76 . Dies führt zu einer Spirale, bei der Unsicherheit zu Informationssammlung, diese zu weiterer Unsicherheit und neuer Informationssammlung usw. führt. bb) Partielle Sicherheit durch Entscheidung
Neben der Generalisierung von Erwartungen kann Unsicherheit auch durch Entscheiden absorbiert werden. Wenn nämlich Erwartungen im Hinblick auf die von ihnen zu sichernde Anschlußfähigkeit nicht so weit verallgemeinert werden können, daß ihr Eintritt hinreichend gesichert ist, muß entschieden werden, ob sie erfüllt werden sollen oder nicht 77 . 73 Näher zu den Begriffen von Sicherheit und Unsicherheit, Gefahr und Risiko vgl. unten im Text sub § 6. B. 74 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Auf!. 1988, S. 417. 75 Vgl. hierzu bereits oben im Text sub § 5. B. IV. 2. 76 Siehe dazu z. B. aus der Sicht der Psychologie D. Dömer, Die Logik des Mißlingens, 1989, S. 145 f.
§ 5 Informationsbegriff, Kommunikation, Wissen und Technik
241
Unsicherheit kann mithin in zweifacher Weise absorbiert werden: Entweder werden die Erwartungen als Strukturen und damit ggf. auch die Organisation geändert oder es wird entschieden, ob ein Verhalten trotz der Unsicherheit fortgesetzt oder wegen dieser eingestellt wird. Anders ausgedrückt kann Unsicherheit dmch Strukturänderung oder durch Entscheidung abgebaut werden. Dabei ist letzteres jedoch zu relativieren: Entscheidung bewirkt nur partiell Sicherheit im Hinblick auf den unmittelbaren Entscheidungsgegenstand; im übrigen bleibt die Unsicherheit bestehen. Durch die Entscheidung wird aus der Vielzahl weiterer Entwicklungsmöglichkeiten nämlich eine herausgegriffen. Daraus resultiert eine Einschränkung der weiteren Entwicklung, aus der bei falscher Entscheidung neue Unsicherheit resultieren kann.
d) Erste Konturen des juristischen Vorsorgebegriffs - Zusammenfassung Diese soziologischen Betrachtungen verdeutlichen auch die Konturen des juristischen Vorsorgebegriffs: Dieser dient dazu, Unsicherheiten schon im Vorfeld eines Schadens gegenzusteuern. Gesellschaftlich in Kauf genommene Entwicklungen, die sich einerseits durch einen - sehr wahrscheinlichen - großen Nutzen für die Gesellschaft auszeichnen, andererseits aber auch mit einem sehr großen, wenn auch sehr unwahrscheinlichem oder jedenfalls ungewissem Schaden verbunden sind, müssen anhand von Erwartungen gesteuert werden. Soweit dies mittels rechtlicher Regelungen erfolgen soll, können diese - im Gegensatz zum traditionellen Gefahrenabwehrrecht - nicht an den Schadenseintritt anknüpfen. Vielmehr muß auch das Recht die zukünftige Entwicklung auf der Grundlage theoretischer Erwartungen steuern. Wird der im Hinblick auf einen überragenden Nutzen hingenommene große, aber unwahrscheinliche Schaden nach neueren Prognosen wahrscheinlicher, entwickelt sich also die Differenz von Zeit und Sicherheit zu Lasten der Sicherheit, muß entweder eine Neubewertung von Nutzen und Schaden erfolgen oder der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gegengesteuert werden. Rechtsvorschriften, die den letzteren Zweck verfolgen, sind der Vorsorge im rechtlichen Sinne zuzuordnen.
4. Information und Entscheidung
Information und Entscheidung sind wechselseitig voneinander abhängig. Information ist der "Stoff, aus dem Entscheidungen gemacht werden können,,78. Dies gilt insofern auch umgekehrt, als Entscheidungen wiederum selbst Informations77 Vgl. hierzu sowie zum Vorstehenden N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 417 ff. 78 Steinbuch, zitiert bei D. Peitsch, ZRP 1992,127.
16 Au1ehner
242
2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
wert zukommt. Letzteres kommt auch in der Bezeichnung von Entscheidung als Informationserzeugung zum Ausdruck. Darüber hinaus ist Entscheidung als dynamisches System bzw. als Prozeß zu qualifizieren 79.
a) Die Informationsabhängigkeit von Entscheidung Die Informationsabhängigkeit von Entscheidung ist sowohl qualitativ als auch quantitativ zu verstehen. aa) Qualitativer Bezug von Information und Entscheidung
Qualitativ ist der Zusammenhang von Information und Entscheidung schon deshalb unbestreitbar, weil zum einen die Entscheidung eine Unterart von Information, nämlich zusammengefaßte Information ist8o . Zum anderen ist das Entscheiden Informationsverarbeitung. Nach der Festlegung von Zwecken und Zielen und der Setzung von Prioritäten hierbei wird die Umwelt durch ein System selektiv im Hinblick auf diese Ziele und Zwecke wahrgenommen. Dabei muß die Umwelt im Systeminnern abgebildet werden; dieser Abbildungsvorgang erzeugt im Systeminnern Informationen über die Systemumwelt. Die Abbildung der Umwelt im System beinhaltet dabei notwendigerweise eine Prognose. Da Beobachtung, Wahrnehmung und Verarbeitung der Außenwelt Zeit verbrauchen, reicht keine punktuelle Momentaufnahme der Außenwelt aus. Erforderlich ist vielmehr eine Vorausschätzung der zukünftigen Zustände. Als problematisch erweist sich dabei insbesondere, daß die Produktion einer Entscheidung sowohl eine Fixierung der Ziele und Zwecke als auch eine Situationsdefinition voraussetzt81 . Darüber hinaus deckt die verhaltens wissenschaftliche Entscheidungstheorie eine Verbindung zwischen der kognitiv begrenzten menschlichen Informationsaufnahme- und Informationsverarbeitungsfähigkeit und der Unmöglichkeit objektiv rationaler individueller Entscheidungen auf. Das individuelle Entscheidungsverhalten folgt dabei nach der verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorie einem Konzept begrenzter Rationalität, d. h. die Individuen handeln zwar intentional rational, die kognitiv begrenzte Informationsaufnahme und -verarbeitung verhindert aber, daß objektiv rationale Entscheidungen getroffen werden können. Die Entscheider verfügen nämlich über nur unvollständiges Wissen, können zukünftige Ereignisse nur schwer bewerten und besitzen nur eine begrenzte Auswahl an Entscheidungsalternativen. Demzufolge werden keine optimalen, sondern nur befriedigende Lösungen gesucht. Darüber hinaus können die einzelnen Entscheider nicht beurteilen, ob eine weitere Informationserhebung noch sinnvoll wäre; dies kann zu 79
80 81
So bei W. Steinmüller, Infonnationstechnologie und Gesellschaft, 1993, S. 243 ff. W. Steinmüller, Infonnationstechnologie und Gesellschaft, 1993, S. 233 f. Vgl. dazu zusf. und m.w.N. B. Becker, Öffentliche Verwaltung, 1989, S. 421 ff.
§ 5 Infonnationsbegriff, Kommunikation, Wissen und Technik
243
dem im folgenden noch zu schildernden paradoxen Verhalten führen. Mit den befriedigenden Lösungen und den individuellen Erfahrungen korreliert auch das Anspruchsniveau 82. bb) Quantitatives Verhältnis von Infonnation und Entscheidung
Die Informationsabhängigkeit von Entscheidung ist darüber hinaus auch quantitativ zu verstehen, d. h. jeder Entscheidung - mit oder ohne Zeitdruck - kann eine bestimmte optimale Informationsmenge zugeordnet werden 83 . Sowohl ein Informationsüberschuß ("information overload") als auch ein Informationsdefizit ("information underload") verschlechtern die Qualität der Entscheidung84 . Die optimale Informationsmenge läßt sich hierbei nicht allgemein, sondern nur für den jeweiligen Entscheider bestimmen. Sie hängt insbesondere von dessen Informationsverarbeitungskapazität ab. Optimale Information ist daher nicht nur von Menge und Qualität der Information, sondern auch von der Informationsverarbeitungskapazität des Entscheiders abhängig. Die quantitativ erforderliche Information hängt hierbei von der Art der zu treffenden Entscheidung ab. Entscheidungen, die eine definierte und strukturierte Problemstellung betreffen, können programmiert werden. Darüber hinaus kann es sich um Routineentscheidungen, bei denen einem bekannten Problem eine bewährte Lösung zugeordnet wird, ebenso handeln wie um eine adaptive Entscheidung, bei der mittels vorhandener Programme eine Problemlösung gefunden werden kann. Wahrend derartige Entscheidungen ohne weiteres durch Informationen aus technischen Informationssystemen unterstützt werden können, erweist sich dies bei innovativen Entscheidungen, bei denen weder die Problemsituation noch das Problemlösungsprogramm fest definiert ist, als problematisch 85 . In der Realität ist das optimale Verhältnis von Information und Entscheidung in vielfacher Hinsicht verzerrt. Insbesondere werden mehr Informationen gesammelt als für die jeweiligen Entscheidungen benötigt werden. Informationen für eine Entscheidung werden teilweise erst gesammelt, nachdem diese bereits getroffen ist. Zur Verfügung gestellte Informationen werden nicht berücksichtigt, trotz hinreichend vorhandener Informationen werden weitere angefordert. In diesen vielfach zu beobachtenden Verhaltensweisen kommt zum einen die schon angesprochene und widerlegte 86 - Vorstellung zum Ausdruck, mehr Infor82 BergerlBemhard-Mehlich, in: A. Kieser (Hrsg.), Organisationstheorien, 1993, S. 127 ff., 136 ff. 83 Vgl. dazu sowie zum folgenden z. B. die Untersuchungen zum Verhältnis von Entscheidungsqualität und Infonnationssuche bei D. Dömer, Die Logik des Mißlingens, 1989, S. 150. 84 Zu "infonnation overload" und "infonnation underload" als Ursachen für pathologische Infonnationssysteme vgl. B. Becker, Öffentliche Verwaltung, 1989, S. 619; U. Sieber, NJW 1989,2569 (2570 f.). 85 Zu diesen Entscheidungsarten vgl. unter Hinweis auf W. Kirsch G. Weiter, Technisierung von Infonnation und Kommunikation in Organisationen, 1988, S. 370 ff.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
mation sei gleichbedeutend mit mehr Sicherheit. Zum anderen wird häufig zwischen der Quantität der Information und der Rationalität der Entscheidung ein linearer Zusammenhang gesehen. Darüber hinaus werden die Kosten für die Erhebung von Information häufig externalisiert, die Informationserhebung ist für den Erhebenden kostenneutral. Die Erhebung überschießender Informationen kann zudem die Umwelt überwachen und kontrollieren und im Fall notwendiger Entscheidung die dann erforderliche Zeit reduzieren 87 . Für eine rechtliche Regelung der polizeilichen Informationsvorsorge kann hieraus gefolgert werden, daß vor einer Entscheidung keine beliebige, sondern nur eine bestimmte Informationsmenge zu sammeln ist. Die Sachverhaltsermittlung ist daher nicht bis in das Unendliche fortzusetzen.
b) Parallelen von Information und Entscheidung Der wechselseitigen Abhängigkeit von Information und Entscheidung entsprechend ergeben sich zwischen Information und Entscheidung eine Vielzahl von Parallelen: Bei Entscheidungen lassen sich ebenso wie bei Informationen die vier semiotischen Dimensionen unterscheiden. Wie Information stellen das Entscheiden und die Entscheidung überdies Auswahlakte aus Alternativen dar88 . Das Entscheiden erweist sich hierbei als mehrgliedriger Prozeß, dessen Ergebnis die Entscheidung ist89 . Innerhalb des Entscheidens können Entscheidungen über Zweck- und Zielprogramme, Prioritäten, Definitionen der Umwelt, Suchvorgänge und Bewertungen alternativer Maßnahmen, Auswahl von Maßnahmen, Rechtsform der ausgewählten Maßnahme, Implementationsvorgänge und Entscheidungen über Erfolg oder Mißerfolg unterschieden werden 9o . Das häufig zu beobachtende Anknüpfen des Rechts allein an das Entscheidungsergebnis91 erscheint daher zweifelhaft. Sowohl Information als auch Entscheidung sind zudem Ereignisse und damit irreversibel. Darüber hinaus strukturieren sie Zeit. Hieraus folgt, daß Entscheidungen nicht nur auf der Differenz von Erwartung und Zeit beruhen, sondern zudem selbst wiederum eine Erwartung auslösen. In Entscheidungen kommen daher auch - entgegen vielfacher Annahme - nicht Präferenzen, sondern Erwartungen zum
Vgl. hierzu bereits oben im Text sub § 5. B. IV. 3. C. Zusf. und m.w.N. G. Weiter, Technisierung von Information und Kommunikation in Organisationen, 1988, S. 373 ff. 86 87
R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 29 f. B. Becker, Öffentliche Verwaltung, 1989, S. 421 ff. 90 B. Becker, Öffentliche Verwaltung, 1989, S., 435. 91 Dazu z. B. R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 155 f. 88 89
§ 5 Infonnationsbegriff, Kommunikation, Wissen und Technik
245
Ausdruck. Mit N. Luhmann ist daher "eine Handlung immer dann als Entscheidung anzusehen, wenn sie auf eine an sie gerichtete Erwartung reagiert,,92. Der bereits dargelegte Zusammenhang93 zwischen Information und Sicherheit wird auch bei der Betrachtung von Entscheidungen dadurch sichtbar, daß Entscheidungen als spezielle Informationsverarbeitungsprozesse zur Absorption von Unsicherheit und unter Ungewißheit ergehen müssen. Unsicherheit besteht dabei insofern, als der Entscheider weder weiß, ob und welche Alternativen die Lage tatsächlich enthält, noch, ob und welche alternativen Wege er einschlagen so1l94. Entscheidungen beenden daher auch die Differenz von Sicherheit und Zeit nicht, sondern setzen sie fort. Die Entscheidung zur Absorption von Unsicherheit kann nämlich selbst wieder Unsicherheit auslösen, wenn sich die Differenz von Zeit und Sicherheit zu Lasten der letzteren entwickelt. Hierauf beruht auch die soziologische Unterscheidung von Gefahr und Risiko. Letzteres liegt vor, wenn ein späterer Schaden der Entscheidung zugerechnet wird, weil er als Folge der Entscheidung verstanden wird; erstere wird angenommen, wenn ein späterer Schaden externalisiert und der Umwelt zugerechnet wird95 . Mit der Zurechnung von Entscheidungen wird Verantwortung begründet96 .
c) Verantwortung und Entscheidung Mit jeder Entscheidung ist die Übernahme von Verantwortung und die Absorption von Unsicherheit verbunden. Entscheidungen auf Grund lückenhafter Informationen unter Unsicherheit werden bei hinreichender Vertrauenswürdigkeit des Entscheidenden vom Adressaten wegen der damit verbundenen Verantwortungsübernahme als Entscheidungsprämisse akzeptiert und als solche weiterverwendet. Verantwortungsübemahme ersetzt somit Sicherheit. Entscheidend ist dabei die Zurechnung der Verantwortung auf eine andere Person, d. h. die Verantwortlichkeit für eine Entscheidung. Dementsprechend wird Risiko auch als Produkt von Verantwortlichkeit des Entscheiders für mögliche negative Folgen und Unsicherheit definiert97 .
92 N. Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, 2. Aufl. 1989, S. 278; ähnlich ders., Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 400. 93 Vgl. hierzu oben im Text sub § 5. B. IV. 3. C. 94 Auch hierzu siehe insb. W. Steinmüller, Infonnationstechnologie und Gesellschaft, 1993, S. 244 ff. 95 N. Luhmann, Soziologie des Risikos, 1991, S. 30 f., 54 f. 96 R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 242 f. 97 Ähnlich P. Hiller, Der Zeitkonflikt in der Risikogesellschaft, 1993, S. 96 ff.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
d) Entscheidung und Organisation Entscheidungen stellen - dies haben die vorstehenden Ausführungen gerade gezeigt - keinen Abschluß dar, sondern sind auf Anschluß ausgelegt. Sie reagieren auf Erwartungen und produzieren neue Erwartungen, die ihrerseits wiederum Entscheidungen erfordern. Über die rekursive Verknüpfung von Entscheidungen mit Entscheidungen schließen sich Organisationen. Soziale Systeme in Form von Organisationssystemen können sich daher über Entscheidungen reproduzieren. "Organisierte Sozialsysteme" sind danach "Systeme, die aus Entscheidungen bestehen und die Entscheidungen, aus denen sie bestehen durch die Entscheidungen, aus denen sie bestehen, selbst anfertigen,,98. Auf dem Zusammenhang von Entscheidung und Organisation fußt auch die verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie, die Organisationen ausgehend von Entscheidungsprozessen analysiert99 .
5. Infonnation und Organisation
Aus dem Bezug zwischen Information und Entscheidung und der Verbindung von Entscheidung und Organisation resultiert schon nach den Gesetzen der Logik ein Zusammenhang auch zwischen Information und Organisation I0o . Diesen betont auch K. Lenk I01 , der für die Verwaltungsorganisation die Verfügbarkeit von Information und die Verteilung von Entscheidungsbefugnissen oder von Ausführungshandlungen für entscheidend hält. Bevor diese Verbindung von Organisation und Information näher dargestellt werden kann, sind indessen zunächst der Organisationsbegriff und die Aufgabenabhängigkeit von Organisation grob zu skizzieren. Im Hinblick auf die polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge wird sich dabei bestätigen, daß die Organisation der Polizei, ihre Informationstätigkeit und das jeweils geltende Verständnis dessen, was Polizei ist, in Wechse1wirkungen stehen.
a) Organisationsbegriff - Organisationsstruktur, Aufgabenstellung und situatives Umfeld der Organisation Der Organisationsbegriff erweist sich insgesamt als ähnlich heterogen wie die schon erörterten Kommunikations- und Informationsbegriffe. Dies insbesondere N. Luhmann, in: Küpper/Ortmann (Hrsg.), Mikropolitik, 1988, S. 165 ff., 166. BergerlBernhard-Mehlich, in: A. Kieser (Hrsg.) Organisationstheorien, 1993, S. 127. 100 Vgl. dazu J. N. Druey, Information als Gegenstand des Rechts, 1995, S. 281 ff. sowie H. Mehlich, Die Verwaltung 29 (1996), 385 ff.; H. Reinermann, VerwArch 87 (1996), 431 ff. IOt K. Lenk, in: ReinermannIFiedler u. a. (Hrsg.), Neue Informationstechniken. Neue Verwaltungsstrukturen?, 1988, S. 85 ff., 87. 98
99
§ 5 Infonnationsbegriff, Kommunikation, Wissen und Technik
247
wiederum deshalb, weil der Organisations begriff mit doppelter Bedeutung verwendet wird: Der institutionelle \02 Organisationsbegriff sieht Organisation in ihrer Abgrenzung zur Umwelt. Als Organisationen können danach die sozialen Gebilde definiert werden, die dauerhaft ein Ziel verfolgen und eine formale Struktur aufweisen, mit deren Hilfe Aktivitäten der Mitglieder auf das verfolgte Ziel ausgerichtet werden sollen \03. Kennzeichnend für eine Organisation sind insoweit deren Zwekke und Ziele, ihre Grenzen, die internen Funktionsteilungen sowie die Regelungen zur Rationalität der Funktionserfüllung und Organisation \04. Der instrumentale Organisationsbegriff oder die innere Organisation meinen demgegenüber die inneren Arrangements, die zur Sicherung des Erfolgs der Organisation vorgenommen werden können \05. Damit werden die interne Arbeits- und Aufgabenteilung, Koordinations- und Integrationsvorkehrungen, die horizontale bzw. vertikale Differenzierung des inneren Stellengeflechts, die zentrierte oder dezentrierte Verteilung der Entscheidungsbefugnisse, die mehr oder minder strenge Formalisierung von Struktur-, Arbeits- und Verhaltensweisen der Mitglieder sowie die ggf. erforderliche strukturelle Flexibilität bezeichnet\06. Als Organisationsentwicklung firmiert demgegenüber die Organisation der Organisation als zweite Stufe der Organisation. Auf dieser Ebene bezeichnet Organisation die Errichtung, Veränderung oder Liquidation von Organisationen \07. N. Luhmann betont neben der schon angesprochenen Reproduktion von Organisationssystemen über Entscheidungen die Mitgliedschaft als Abgrenzung zwischen System und Umwelt. Mitgliedschaft und Mitgliedschaftsrollen rechtfertigen die Kommunikation über die Organisation betreffende Themen und entscheiden damit, was als Kommunikation wem zumutbar ist\08. Organisation steuert mithin die Kommunikation ihrer Mitglieder. Organisationssysteme sind prinzipiell von Personen unabhängig; sie werden durch Stellen definiert. Durch die Begründung der Mitgliedschaft übernehmen die Personen die Vorgaben für die jeweilige Stelle. Indem die Anerkennung und Befolgung bestimmter Verhaltenserwartungen zur Bedingung der Mitgliedschaft gemacht werden, reduziert Organisation damit zugleich soziale Komplexität \09. Darüber hinaus zeichnen sich Organisationen durch strukturell festgelegte Programme bzw. Aufgaben aus.
Auch die Terminologie ist hier uneinheitlich. KieserlKubicek, Organisation, 2. Auf!. 1983, S. I ff. 104 B. Becker, Öffentliche Verwaltung, 1989, S. 190 ff., 191. 105 B. Becker, Öffentliche Verwaltung, 1989, S. 190. 106 B. Becker, Öffentliche Verwaltung, 1989, S. 192. 107 B. Becker, Öffentliche Verwaltung, 1989, S. 193. 108 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Auf!. 1988, S. 268 f. 109 N. Luhmann, in: EllweiniGroothoff (Hrsg.), Erziehungswissenschaftliches Handbuch, Bd. 2, S. 387 ff., 393 f. 102 103
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
Durch die angeführten Kriterien - Vorgabe von Kommunikationsmöglichkeiten, disponible Mitgliedschaft und Programme - unterscheiden sich Organisationssysteme insbesondere von Interaktionssystemen. Jenseits der soeben angeführten begrifflichen Unsicherheiten weist schon die Definition von "Organisation" auf deren Abhängigkeit von der durch sie zu erfüllenden Aufgabe hin llO . Organisation ist nämlich ein soziales Gebilde, das dauerhaft ein Ziel verfolgt und eine formale Struktur aufweist, mit deren Hilfe die Aktivitäten der Mitglieder auf das verfolgte Ziel ausgerichtet werden sollen 111. Auf dem Zusammenhang zwischen der Leistung, die eine Organisation erbringen soll, und der internen Situation der Organisation beruhen mit der Organisationssoziologie und der betriebswirtschaftlichen Organisationslehre wesentliche Teile der Organisationswissenschaften. Gegenstand der Organisationssoziologie ist gerade der Zusammenhang zwischen Organisationszielen und -strukturen. Nach der betriebswirtschaftlichen Organisationslehre ist die Betriebsaufgabe der Ausgangspunkt der organisatorischen Gestaltung 1l2 . Daß zwischen Struktur und Leistungsprogramm einer Organisation eine Abhängigkeit besteht, ist zudem der Kerngehalt der klassischen Organisationstheorien 113. Erst die neoklassischen und moderneren Organisationslehren 1l4 tragen der Tatsache Rechnung, daß neben der zu erfüllenden Aufgabe oder dem zu verfolgenden Ziel das gesamte situative Umfeld die Struktur einer Organisation bestimmt. Hierzu sind insbesondere die technologischen, gesellschaftlichen, marktlichen und politischen Bedingungen zu zählen 115.
b) Informationstechnologie als Fixierung oder Flexibilisierung von Organisation Der Einfluß von Information auf Organisation ist ebenso vielgestaltig wie in seiner Tendenz umstritten 1l6 . 110 Hierzu sowie zum folgenden vgl. bereits wie hier Scholz/Aulehner, Archiv PT 1993, 221 (224). 111 Vgl. z. B. die einführende Definition bei KieserlKubicek, Organisation, 2. Aufl. 1983, S.l. 112 KieserlKubicek, Organisation, 2. Aufl. 1983, S. 244. 113 Zu den Entwicklungslinien der Organisations theorien und ihre Einteilung in Stufen vgl. B. Becker, Öffentliche Verwaltung, 1989, S. 547 f. 114 Erstere bringen die Bedeutung des Menschen für die Organisation zum Ausdruck; letztere sehen in Aufgabe, Technologie, Mensch und Struktur Variablen und behandeln den Zusammenhang jeder Variablen mit der Strukturvariablen. - Vgl. z. B. zusf. B. Becker, Öffentliche Verwaltung, 1989, S. 557 ff., 565 ff. 115 KieserlKubicek, Organisation, 2. Aufl. 1983, S. 247. 116 Zu den Wechsel wirkungen zwischen Informationstechnologie und Organisation vgl. jüngst C. Miller, Die Verwaltung 27 (1994), 111 (114 ff.).
§ 5 Infonnationsbegriff, Kommunikation, Wissen und Technik
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Unabhängig hiervon kann dabei jedenfalls der mit der Einführung der Informationstechnologie verbundene strukturelle Wandel auch für das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern kaum überschätzt werden. Während vordem Legislative, Exekutive und Judikative unmittelbar der Bevölkerung gegenüberstanden und wechselseitig miteinander verbunden waren, werden diese Beziehungen nunmehr vielfach durch Informationssysteme vermittelt 117. Die unterschiedlichen, häufig konträren Bewertungen des Verhältnisses von Information und Organisation überraschen dabei nicht, zumal sich bereits der Einsatz der Informationstechnik als solcher als ambivalent erweist. Wegen der dargestellten Verbindung von Entscheidung und Organisation wiederholen sich hier die schon bei der Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Information und Entscheidung angeführten Einschätzungen: Den durch die Technik geschaffenen Möglichkeiten, mehr Daten zu speichern und abzurufen, korrespondiert kein proportionaler Anstieg der Entscheidungsqualität. Die Situation in der Praxis ist vielmehr - wie bereits angedeutet - durch Datenflut bei gleichzeitigem Informationsdefizit gekennzeichnet 1l8 . Darüber hinaus erweisen sich die zur Verfügung stehenden technisch-organisatorischen Grundkonzepte als äußerst vielfältig. Dezentraler Technik mit unvernetzten Personalcomputern für den einzelnen Arbeitsplatz stehen zentralisierte Großrechner im eigenen Haus oder in externen Rechenzentren gegenüber. Dazwischen sind Lösungen mit eigenen Computern für die jeweiligen Abteilungen und Mehrplatzrechner mit lokalen Netzwerken angesiedelt 1l9 . Ob die der Polizei zur Verfügung stehenden Informationssysteme hier optimal ausgestaltet sind, darf bezweifelt werden. Bedenklich ist dabei nämlich, daß Gerichte und Staatsanwaltschaften, deren Entscheidungen in den polizeilichen Informationssystemen gespeichert werden, keinen Zugang zu diesen haben. Die Weitergabe von Information über den Erlaß oder die Aufhebung von Haftbefehlen, Verurteilungen etc. im Bürowege erscheint im Computerzeitalter anachronistisch und läßt befürchten, daß die polizeilichen Informationssysteme nicht immer - bei Verzögerungen im Bürowege - auf dem aktuellsten Stand sind. Ob diese Abschottung der polizeilichen Datenbestände wegen deren teils präventiver, teils repressiver Qualität unabdingbar ist, wird sich erst im folgenden zeigen. aa) Neuordnung und Flexibilisierung von Organisation durch Information
Die Einschätzungen des Verhältnisses von Information und Organisation unterliegen einem zeitlichen Wandel. Bei Einführung der Informationstechnologie wur-
ll7 118
W. Steinmüller, Infonnationstechnologie und Gesellschaft, 1993, S. 366 ff. M. Timmennann, in: H. Reinennann (Hrsg.) Führung und Infonnation, 1991, S. 323 ff.,
329. 119
L. Beyer, Infonnationsmanagement und öffentliche Verwaltung, 1992, S. 99 ff.
250
2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
de angenommen, diese würde generell eine grundlegende organisatorische Neuordnung bewirken 120. Als Ursache hierfür sah man die mit der Erhöhung der Kommunikationschancen verbundene Möglichkeit zur Dezentralisierung: Anders als früher setzte Kommunikation nun nicht mehr die Anwesenheit der Kommunikationspartner voraus. Darüber hinaus mußte die Organisation, soweit Informationstechnik genutzt werden sollte, auf ein Rechenzentrum und den dort installierten Zentralrechner ausgerichtet werden 121 . Die Art der durch die Informationstechnik bewirkten organisatorischen Neuordnung war hierbei bereits vehement umstritten: Teilweise wurden eine Verlagerung von Planungsaufgaben auf höhere Hierarchieebenen, eine Rezentralisierung und eine verschärfte Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Hierarchieebenen erwartet. Andere nahmen hingegen wegen der ortsunabhängig zur Verfügung stehenden Information eine so weit reichende Delegation von Entscheidungsbefugnissen, daß alle auftretenden Probleme am jeweiligen Ort gelöst werden, an und gingen überdies von einer Entlastung aller Instanzen von Routineaufgaben aus l22 . Rückblickend zeigt sich, daß die Informationstechnik allenfalls eine Änderung der Ablauf-, nicht aber der Aufbauorganisation bewirkte. Die anfangs bevorzugten zentralistischen informationstechnischen Lösungen führten zur Ausgliederung und Zusammenfassung gut strukturierter und formalisierter Teilaufgaben von Vorgangsketten, die sich einfach automatisieren ließen l23 . Dabei wurde die Informationstechnik zentral entwickelt und angewandt. Die dezentralen Behörden konnten die Anwendung der jeweils angebotenen Informationstechnik nur freigeben. Hierauf beschränkte sich auch die den Fachbehörden verbleibende Verantwortung 124. Informationstechnisch unterstützt wurden hierbei vorwiegend nur einfache, konditional programmierte, in der Regel auf Berechnungen ausgerichtete Massenentscheidungen 125. bb) Informationstechnologie als Fixierung von Organisation
Inzwischen werden die Auswirkungen der Informationstechnik mehr oder minder diametral gegensätzlich eingeschätzt: Es wird vielfach nicht nur bestritten, daß mit der Einführung der Informationstechnik notwendigerweise eine organisatorische Neuordnung einhergeht, sondern umgekehrt angenommen, die Informationstechnik würde die bestehende Organisation sogar bestärken. Die InformationstechC. Miller, Die Verwaltung 27 (1994), 111 (115). C.-E. Eberle, in: W. Thieme (Hrsg.), Veränderungen der Entscheidungsstrukturen in der öffentlichen Verwaltung, 1988, S. 95. 122 Vgl. die Darstellung bei KieserlKubicek, Organisation, 2. Auf!. 1983, S. 304 f. 123 C. Miller, Die Verwaltung 27 (1994),111 (115). 124 C.-E. Eberle, in: W. Thieme (Hrsg.), Veränderungen der Entscheidungsstrukturen in der öffentlichen Verwaltung, 1988, S. 95 ff., 96. 125 C.-E. Eberle, Die Verwaltung 1987,463. 120
121
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nik ist heute - anders als früher - sowohl im Hinblick auf die Systemarchitektur als auch bzgl. der Systemanwendung und -gestaltung dezentralistisch, d. h. Hardware steht am einzelnen Arbeitsplatz zur Verfügung, der Nutzer kann die Anwendung selbst steuern und ist an der Anwendungsentwicklung mitbeteiligt 126 . Die Bedeutung dieses Wandels von einer zentralen zu einer dezentralen und auf den einzelnen Arbeitsplatz zugeschnittenen Informationstechnik kommt zum Ausdruck, wenn c.-E. Eberle 127 von einer "kopernikanischen Wende" spricht. Der zentrale Rechner wird durch den informationstechnisch ausgerüsteten Einzelarbeitsplatz abgelöst oder ergänzt. Dies führt schon bei der Entwicklung der Informationstechnik zu gravierenden Vorteilen, zumal der immense Abstimmungsbedarf bei zentralen Lösungen entfallt. Durch die unmittelbare Kombination von Mensch und Maschine beschränkt sich der Einsatz der Informationstechnik nun nicht mehr auf Konditionalprogramme; Informationstechnik kann vielmehr auch Entscheidungen, bei denen Beurteilungsspielräume und Ermessen bestehen, unterstützen 128. Teilweise wird die Dauerhaftigkeit dieser gegenwärtigen Dezentralisierung bezweifelt und eine Übergangsphase konstatiert, in der die Behördenleitung auf Wissen und Kreativität der Beschäftigten für die Lösung innovativer, noch nicht formalisierter und strukturierter Aufgaben angewiesen ist 129 . Dem ist jedoch entgegen zu halten, daß Zentralisierung und Dezentralisierung keine (andere Möglichkeiten ausschließenden) Alternativen sind. Vielmehr ist von einem "mehrdimensionalen Distribuierungskontinuum" auszugehen, das durch technische Standards, Beschaffungsentscheidungen, Kriterien der Software-Gestaltung, Datenzugriff, Aktualisierung von Datenbeständen, Einsatz von Programmen und ~ntscheidungen über Nutzungsformen gebildet wird 130. ce) Informationsneutrale Organisation i
Die Beeinflussung von Organisation durch Information stößt bei alledem jedenfalls dort auf Grenzen, wo die formale Organisation endet. Informale Organisationen zeichnen sich - im Gegensatz zu formalen Organisationen und der Informationstechnik - gerade dadurch aus, daß sie ungeregelt sind. Neben dem Phänomen der informalen Organisation zeigt auch insbesondere schon der symbolische Interaktionismus Grenzen der Organisierbarkeit auf: Orga-
126
L. Beyer, Informationsmanagement und öffentliche Verwaltung, 1992, S. 102 f.
C.-E. Eberle, in: W. Thieme (Hrsg.), Veränderungen der Entscheidungsstrukturen in der öffentlichen Verwaltung, 1988, S. 95. 128 C.-E. Eberle, in: W. Thieme (Hrsg.), Veränderungen der Entscheidungsstrukturen in der öffentlichen Verwaltung, 1988, S. 95 ff., 96 f. 129 L. Beyer, Informationsmanagement und öffentliche Verwaltung, 1992, S. 103 f. 130 L. Beyer, Informationsmanagement und öffentliche Verwaltung, 1992, S. 104. 127
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
nisatorische Wirklichkeit ist nach diesem nicht objektiv gegeben, sondern wird nach den Erfahrungen und Handlungsorientierungen der Organisationsmitglieder sozial konstruiert l3l .
c) Das Verhältnis von Information und Organisation aus rechtlicher Perspektive Der Zusammenhang zwischen Information und Organisation ist auch in der Rechtsprechung zu behördlichen Warnungen anerkannt worden. Behördliche Informationstätigkeit ist zunächst dann zulässig, wenn sie ausdrücklich gesetzlich zugelassen ist. Aber auch außerhalb ausdrücklicher Normierungen wird allgemein eine Informationszuständigkeit einer jeden Behörde im Rahmen der ihr zugewiesenen Sachaufgaben bejaht l32 . Dabei kann zwischen Informationen aus bzw. über die Aufgabenerfüllung ("Öffentlichkeitsarbeit") einerseits und solchen zur Aufgabenerfüllung ("Öffentlichkeitsaufklärung") andererseits unterschieden werden. Für erstere - Informationen aus und über die Aufgabenerfüllung, d. h. Mitteilungen, die für die Beurteilung der behördlichen Aufgabenerfüllung durch die Öffentlichkeit von Bedeutung sind oder im Rahmen der behördlichen Tätigkeit angefallene Erkenntnisse von öffentlichem Interesse betreffen - folgt dies aus dem im Rechtsstaatsund Demokratieprinzip angelegten Grundsatz der Publizität der Verwaltung 133. Für Informationen zum Zweck der Aufgabenerfüllung - Mitteilungen, die die Behörde als Mittel zur Erfüllung der ihr rechtmäßig zugewiesenen Aufgaben einsetzt - folgt die Zuständigkeit für eine Informationstätigkeit unmittelbar aus der betreffenden Aufgabenzuweisung 134. In den Entscheidungen zur "Transzendentalen Meditation,,135 und zum "Diethylenglykol-Wein,,136 wird dementsprechend aus der Aufgabe der Bundesregierung als Organ der Staatsleitung und der damit der Bundesregierung übertragenen Verantwortung eine Befugnis zur Information der Öffentlichkeit abgeleitet. Damit wird eine wechselseitige Beziehung zwischen der Konstitution der Bundesregierung als Organ und den ihr eingeräumten Informationsbefugnissen betont. Die Konstitution der staatlichen und gesellschaftlichen Akteure setzt nämlich eine ge-
131 132
L. Beyer, Informationsmanagement und öffentliche Verwaltung, 1992, S. 100 f. G. Lübbe-Wolff, NIW 1987,2705 (2707) m.w.N.
133 R. Gröschner, DVBI. 1990,619 (620); R. Philipp, Staatliche Verbraucherinformation im Umwelt- und Gesundheitsrecht, 1989, S. 70; R. Scholz, NIW 1973,482 ff.; W. Leisner, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung im Rechtsstaat, 1966, S. 82 ff. 134 OVG Münster, NIW 1986, 2783. 135 BVerwGE 82, 76 ff.; BVerfG, NIW 1989,3269. 136 BVerwGE 87, 37 ff. - Zu den teilweise sehr kritischen Stellungnahmen zu dieser Entscheidung siehe z. B. aus jüngerer Zeit H. A. Hesse, Der Schutzstaat, 1994, S. 90 ff.
§ 5 Infonnationsbegriff, Kommunikation, Wissen und Technik
253
wisse Infonnationstätigkeit voraus, die auch im Rahmen des Rechts auf infonnationelle Selbstbestimmung zu berücksichtigen sein wird 137. Der Zusammenhang zwischen Organisation und Infonnation wird insoweit auch rechtlich anerkannt.
6. Informationsmanagement als Reaktion auf die vielgestaltige Bedeutung von Information
Die gegenseitige Interdependenz von Verwaltungsorganisation und Infonnationstechnik, die mit der Infonnationstechnik verbundenen Integrationstendenzen, die Handhabung der "Ressource" Infonnation und die an den Einsatz der Infonnationstechnik geknüpfte Erwartung langfristiger und qualitativer Verbesserungen 138 machen ein "Infonnationsmanagement" erforderlich 139. Erfolgreiches "Infonnationsmanagement" setzt voraus, daß im Rahmen der Aufgabenerfüllung der Verwaltung die richtige Infonnation am richtigen Ort zum richtigen Zeitpunkt zur Verfügung steht 140. Damit wird das prinzipiell für Waren geltende Just-in-time-Prinzip zwar auf Infonnationen übertragen 141. Das Infonnationsmanagement ist hierbei aber im Gegensatz zu den herkömmlichen Rationalisierungsstrategien weniger auf Kostenreduzierung, als vielmehr auf die Erzielung eines qualitativen Erfolgs ausgerichtet: Effektivität wird bedeutsamer als Effizienz, externe Effekte werden wichtiger als interne Prozesse l42 .
a) "Infonnationsmanagement" als Begriff Wenn die Forderung eines "Infonnationsmanagements" die Reaktion auf die vielgestaltigen Bezüge und Wechsel wirkungen zwischen Infonnation einerseits und Struktur, Vorsorge, Entscheidung und Organisation andererseits darstellt, kann es nicht überraschen, daß sich die begrifflichen Zweifel der in Bezug genommenen Positionen bei der Definition des "Infonnationsmanagements" fortsetzen. "Informationsmanagement" erweist sich ebenso wie schon Struktur, Vorsorge, Entschei-
Vgl. dazu bereits J. AuIehner, eR 1993,446 (449 f.) m.w.N .. Zu diesen Auswirkungen und Beziehungen der IuK-Technik ausführlich R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 377 ff. 139 L. Beyer, Infonnationsmanagement und öffentliche Verwaltung, 1992, S. 1 f.; E. Dollenbacher, in: R. Pitschas (Hrsg.), Politik und Recht der inneren Sicherheit in Mittel- und Osteuropa, 1996, S. 343 ff., 353 ff. 140 E. Fuchs, in: H. Reinennann (Hrsg.) Führung und Infonnation, 1991, S. 125 ff., 126. 141 M. Timmennann, in: H. Reinennann (Hrsg.) Führung und Infonnation, 1991, S. 323 ff., 329. 142 L. Beyer, Infonnationsmanagement und öffentliche Verwaltung, 1992, S. 98. 137 138
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
dung und Organisation als Oberbegriff für Konzeptionen, die auf ganz unterschiedlichen Gestaltungsebenen angesiedelt sind 143. Die Notwendigkeit eine~ "Informationsmanagements" wird durch den rasanten Fortschritt der Informationstechnik zwar unbestreitbar zusätzlich verstärkt. Das "Informationsmanagement" beschränkt sich aber keineswegs auf die Bewältigung der Informationstechnik. Ein - begrifflich richtig verstandenes - "Informationsmanagement" steht vielmehr mit Fragen der Arbeitsorganisation in Zusammenhang und stellt in seinem Kern "eine seit jeher bestehende Aufgabe,,144 dar. Dementsprechend weist schon M. Weber auf die Bedeutung kommunikativer Regelungen in der Behördenorganisation hin, wenn er die Einhaltung des "Prinzips der Aktenmäßigkeit der Verwaltung" auch da fordert, "wo mündliche Erörterung tatsächlich Regel oder geradezu Vorschrift ist: mindestens die Vorerörterungen und Anträge und die abschließenden Entscheidungen, Verfügungen und Anordnungen aller Art sind schriftlich fixiert,,145 und darüber hinaus feststellt, daß die modeme Aktenführung auf Schriftstücken (Akten) beruht, die in Urschrift oder Konzept aufbewahrt werden l46 . Ein so und damit weit zu verstehendes "Informationsmanagement" fordert auch K. Lenk, demzufolge es beim Informationsmanagement nicht nur und nicht in er-
ster Linie um das Management der Informationstechnik geht, sondern vielmehr Informationsinhalte und der auf Handeln und Entscheiden bezogene Prozeß der Informationsproduktion im Vordergrund stehen l47 . "Informationsmanagement" erfaßt sonach neben der Gestaltung der Systeme ("Informationssystem-Management") und deren individueller Nutzung ("Informations-Management") auch die grundsätzlichen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten (Informations-Ressourcen-Management") 148. So verstanden ist das "Informationsmanagement" Ausgangspunkt für eine rechtliche Informationsordnung. Ein polizeiliches Informationsrecht kann nur geschaffen werden, wenn feststeht, welche Informationen wann und wo erforderlich sind. Erst diese Kenntnis bildet den Ausgangspunkt für die Entscheidung, ob die benötigten Informationen auch tatsächlich bereitgestellt werden können und im Hinblick auf gegenläufige rechtliche Belange bereitgestellt werden dürfen. Dabei darf - worauf namentlich R. Pitschas hinweist - nicht übersehen werden, daß der technische Wandel eine Änderung der Machtrelationen bewirkt l49 . L. Beyer, Informationsmanagement und öffentliche Verwaltung, 1992, S. 26. N. Szyperski, in: H. Strunz (Hrsg.), Planung in der Datenverabeitung, 1985, S. 7. 145 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe, 5. Aufl. 1976, S. 126. 146 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe, 5. Aufl. 1976, S. 552. 147 K. Lenk, in: EllweinJHesse (Hrsg.), Verwaltungsvereinfachung und Verwaltungspolitik, 1985, S. 231 ff. 148 N. Szyperski, in: Angewandte Informatik 4/1980, S. 141 ff., 146. 149 R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 381 ff. 143
144
§ 5 Informationsbegriff, Kommunikation, Wissen und Technik
255
b) Dimensionen des Informationsmanagements Bezogen auf den Staat muß ein Informationsmanagement nicht nur regeln, wer innerhalb der Verwaltung wann und wie auf Informationen zugreifen kann. Erforderlich ist vielmehr darüber hinaus auch eine Regelung der Informationsbeziehungen zwischen Bürger und Verwaltung. aa) Infonnationsmanagement innerhalb der Verwaltung (Innenverhältnis)
Die Anforderungen an ein Informationsmanagement innerhalb der Verwaltung sind äußerst vielgestaltig und können hier nur unter zwei Aspekten skizziert werden: Das Informationsmanagement innerhalb der Verwaltung hängt insbesondere zum einen von der durch die Verwaltung zu erfüllenden AufgabensteIlung und zum anderen von der jeweiligen Organisation der Verwaltung ab. Innerhalb der von der Verwaltung zu erbringenden Leistungen kann zwischen dem programmierten Vollzug einerseits und der programmierenden Verwaltung andererseits differenziert werden. Die programmierende Verwaltung verlangt hierbei vorrangig die Erstellung von Abbildern der Außenwelt. Im Fall des programmierten Vollzugs stehen demgegenüber die Konstitution des Sachverhalts sowie dessen Subsumtion und Bewertung im Vordergrund. Die programmierende Verwaltung macht dementsprechend einen freien Zugang zu allen Informationen unabdingbar erforderlich. Bei der programmierten Verwaltung ist das Informationsmanagement demgegenüber durch das zugrunde liegende Programm vorstrukturiert. Eine nähere allgemeine Konturierung der Anforderungen an das Informationsmanagement ist kaum möglich. Dies gilt umso mehr, als sich schon die Differenzierung zwischen programmierter und programmierender Verwaltung nicht notwendigerweise auf das Informationsmanagement auswirken muß 150. In organisatorischer Hinsicht kann zwischen dem Kollegialprinzip und der hierarchischen Verwaltung unterschieden werden. Im ersteren Fall ist eine horizontale, auf Koordination ausgerichtete Kommunikation erforderlich, im letzteren hingegen eine vertikale 15l . Diese hier nur andeutbaren Zusammenhänge erhellen das bei der rechtlichen Regelung der polizeilichen Gefahren- und Informationsvorsorge auftretende Problem: Die Polizei befindet sich in einer Übergangsphase; die polizeiliche Tätigkeit war früher ohne weiteres als programmierter Vollzug einzustufen. Heute nimmt die Polizei zunehmend Aufgaben wahr, die der programmierenden Verwaltung zugeordnet werden können. Dieser Wandel muß bei der Ausdifferenzierung eines polizeilichen "Informationsmanagements" berücksichtigt werden.
150 151
Vgl. hierzu z. B. B. Becker, Öffentliche Verwaltung, 1989, S. 618 f. Vgl. insbesondere B. Becker, Öffentliche Verwaltung, 1989, S. 621.
256
2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
bb) Informationsmanagement im Verhältnis Verwaltung - Bürger (Außenverhältnis)
Bei der Betrachtung des bislang vorrangig am Innenverhältnis orientierten Informationsmanagements darf nicht übersehen werden, daß auch im Verhältnis zwischen Bürger und Verwaltung eine Ordnung des "Informationsflusses" unabdingbar ist. Dem Informationsmanagement flillt nämlich "die Aufgabe zu, die Weitergabe von Informationen innerhalb der pluralisierten Verwaltung zum Abbau von Koordinationsdefiziten zu steuern und dem interessierten Bürger durch technikunterstützte Kommunikationsmittel Verwaltungsinformationen zugänglich zu machen" 152.
c) Informationstechnik und Entscheidungsablauf Wenngleich das Informationsmanagement keinesfalls allein dazu dient, den Einsatz der modemen Informationstechnik zu bewältigen, darf dieser Aspekt andererseits auch nicht vernachlässigt werden. Auf den einzelnen Arbeitsplatz bezogene, dezentrale, ggf. zentral unterstützte Informationstechnik verändert nämlich den gesamten Informationsverarbeitungsprozeß 153: Innerhalb der Informationsaufnahme gewinnt der Zugriff des Sachbearbeiters auf zentrale Datenbanken, die rechtliches und sachliches Wissen enthalten, zunehmende Bedeutung. Dieses Wissen, aber auch die beim einzelnen Sachbearbeiter in herkömmlicher Form - als Schriftverkehr, Handakten, Karteien, Register - vorliegenden Informationen bedürfen am einzelnen Arbeitsplatz der Speicherung wiederum mit Unterstützung der Informationstechnik. Die Informationsverarbeitung i.e.S. wird schon heute durch Checklisten, Bildschirmmasken, Netzpläne etc. informationstechnisch unterstützt. Die fortschreitende Entwicklung von Expertensystemen wird die Bedeutung der Informationstechnik in diesem Bereich noch zusätzlich erhöhen. Der Output wird informationstechnisch durch Textverarbeitungsprogramme, Textbausteine, Editierhilfen und Grafikprogramme verbessert.
152 R. Pitschas, in: Hoffmann-RiemlSchmidt-AßmannlSchuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen VerwaItungsrechts, 1993, S. 219 ff., 284. 153 Zum folgenden zusf. z. B. C.-E. Eberle, in: W. Thieme (Hrsg.), Veränderungen der Entscheidungsstrukturen in der öffentlichen Verwaltung, 1988, S. 95 ff., 97 f.
§ 5 Infonnationsbegriff, Kommunikation, Wissen und Technik
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d) Infonnationsmanagement - Vorzüge und Defizite Die unter dem Begriff des "Infonnationsmanagements" zusammengefaßten vielfältigen Aufgaben - Beschaffung von Daten aus internen und externen Quellen, Auswertung dieser Daten zwecks Unterstützung von Entscheidungsprozessen, Weiterleitung der Daten und Infonnationen mit den Mitteln der modernen Telekommunikation - verdeutlichen die kaum überschätzbaren Notwendigkeiten zur Bewältigung der modernen "Infonnationsgesellschaft". Mit der Forderung nach einem Infonnationsmanagement i.w.S. ist insbesondere die Erkenntnis verbunden, daß es nicht genügt, jeden angemeldeten Infonnationsbedarf mit technischen Mitteln zu befriedigen. Die "Infonnationsgesellschaft" wirft neben technischen und technologischen Problemen vielmehr auch Fragen nach dem Infonnationsinhalt auf. "Infonnationsmanagement" bedeutet demzufolge nicht die Bereitstellung irgendwelcher angeforderter, sondern nur solcher Infonnationen, die zur Erreichung der der Verwaltung jeweils vorgegebenen Ziele erforderlich sind. So verstanden stellt Infonnationsmanagement nicht nur eine Zusatzfunktion zu anderen Funktionen einer Verwaltung dar. "Infonnationsmanagement" ist vielmehr der Inbegriff einer neuen Verwaltungsphilosophie, die nicht nur die Aufbauorganisation verändert, sondern die gesamte Verwaltungskultur bestimmt. Trotz des hier vertretenen weiten Verständnisses des "Infonnationsmanagements" sind allerdings auch Defizite dieses Begriffs erkennbar. Insbesondere läßt die Bezeichnung "Infonnationsmanagement" eine Unterscheidung zwischen dem Wissen als schon vorhandenem Bestand an Infonnationen einerseits und "neuen" Infonnationen andererseits vennissen. Infonnation setzt schon definitions gemäß einen Neuigkeitswert voraus; Infonnation ist nämlich nur die Teilmenge des Wissens, die innerhalb einer Organisation für einen Handlungsträger in einer problematischen Situation neu und relevant ist l54 . Der vom Infonnationsmanagement allenfalls unzureichend und mittelbar erfaßte Bereich des Wissens bedarf in der modernen "Infonnationsgesellschaft" einer "Wissensordnung", auf die im folgenden einzugehen sein wird.
C. Information und Wissen Der soeben für "Infonnation" festgestellte ausführliche Befund läßt sich ganz überwiegend auch auf das "Wissen" übertragen. Für die Beurteilung der polizeilichen Infonnationsvorsorge kommt dem "Wissen" und der "Wissensordnung" eine ebenso bedeutsame Rolle zu wie der "Infonnation" und dem "Infonnationsmanagement". Die Infonnationsgesellschaft ist nämlich nicht nur auf Infonnationen,
154
K. Gazdar, Infonnationsmanagement für Führungskräfte, 1989, S. 18.
17 Aulehner
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
d. h. den Zugang zu Neuigkeiten, sondern darüber hinaus und ebenso sehr auf die Nutzung des vorhandenen Bestands an Informationen - das Wissen - angewiesen. Darüber hinaus ist die Bedeutung von Wissen auch jenseits seines Bezugs zur Information kaum überschätzbar. Wissen ist nämlich Kondensierung von Beobachtung, unterstelltes Wissen ist Voraussetzung für jegliche Kommunikation 155.
I. Wissen als aggregierte Information
Die Parallelitäten zwischen dem Wesen von "Information" und dem Charakter von "Wissen" können bei näherem Zusehen nicht überraschen. Wissen stellt sich dann nämlich als gespeicherte Information dar; es besteht aus vielen Informationen und ist damit eine Anhäufung ideeller Modelle i56 . Die bereits konstatierte wechselseitige Abhängigkeit von Information einerseits und Struktur andererseits 157 setzt sich in einer ähnlichen Relation zwischen Struktur und Wissen fort. Wissen erweist sich als von einem faktischen Ereignis in gewissem Maße unabhängige und damit generalisierte kognitive Erwartung; es ist insofern strukturrelevant 158. Wie im Fall der Information l59 sind auch bei der Betrachtung von Wissen unterschiedliche Dimensionen zu beobachten: Der syntaktische Wissens gehalt bezeichnet dabei die formalen Relationen zwischen unterschiedlichen Wissensinhalten, der semantische Wissensbegriff betrifft das Verhältnis zwischen Wissen und Bedeutung, die Beziehung zwischen Wissen und Wissensverwendern unterfällt der pragmatischen Wissensdimension, die Sigmatik thematisiert schließlich das Verhältnis von Wissen und "Realität". Als Folge hiervon ist Wissen wie Information relativ und kontextabhängig, nicht aber objektiv 160. Die fortschreitende Technisierung darf daher Wissen ebensowenig seines Kontexts entkleiden wie Information l61 . Die zunehmende Autonomisierung des Wissens durch dessen Lösung vom Wissenden, den Zerfall der Wissensproduktion in autonome Teilbereiche und die Ausdifferenzierung verschiedener Arten des Wissens bedürfen daher der Bewältigung 162 . N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 122 f. W. Steinmüller, Informationstechnologie und Gesellschaft, 1993, S. 236. 157 Siehe dazu bereits oben im Text sub §5. R IV. 2. 158 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 445 ff. 159 Zum syntaktischen, pragmatischen, sigmatischen und semantischen Gehalt von Information vgl. bereits oben im Text sub § 5. B. I. 2. 160 Ähnlich W. Steinmüller, Informationstechnologie und Gesellschaft, 1993, S. 237 f. 161 Zur Gefahr eines derartigen Realitätsverlustes R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 378 f. 162 G. Wersig, Fokus Mensch, 1993, S. 64 f. 155
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11. Der Wissensbegriß' und die" Wissensordnung"
Die Wissensordnung ist neben der Rechts- und Wirtschaftsordnung die dritte Grundordnung des Informationszeitalters l63 , das durch die Ablösung der klassischen Wissensordnung durch eine modeme gekennzeichnet ist. Die erstere war durch die Trennungen von Erkenntnis und Eigentum, Ideen und Interesse, Theorie und Praxis sowie Wissenschaft und Staat charakterisiert. Die modeme Wissensordnung zeichnet sich demgegenüber durch die Unterscheidung von neun Bereichsordnungen - die akademische, archivarisch-bibliothekarische, verfassungsrechtliche, ökonomische, technologische, bürokratische, militärisch-polizeiliche, nationale und internationale Wissensordnung - aus 164. Die Wissensordnung stellt sich aus gesamtgesellschaftlicher Sicht als kleiner, aber umso wesentlicherer Teil der Gesellschaftsordnung insgesamt dar. Innerhalb der Wissensordnung wiederum kommt dem Recht zwar ein sehr großer, keinesfalls aber ein ausschließlicher Stellenwert zu. Die der Wissensordnung zuzurechnenden Rechtsvorschriften sind nämlich weder lückenlos noch vollständig umgesetzt l65 . Eine nähere Ausformung der Wissensordnung setzt deshalb einen - hier bereits eingangs geforderten und im vorstehenden verfolgten - interdisziplinären Blickwinkel voraus. 111. Besonderheiten von "Wissen"
Jedes Konzept für eine modeme Wissensordnung muß die Besonderheiten von "Wissen" berücksichtigen. Wissen kann weder wirtschaftlich als Ware noch rechtlich als Sache behandelt werden. Die Grundprinzipien einer "Wissensordnung" sind daher nicht mit denjenigen der Rechts- und Wirtschaftsordnung identisch. Selbst vermittelnden Positionen, die Wissen als öffentliches Gut oder als universelles Kulturgut verstehen, kann nicht in vollem Umfang gefolgt werden. Das erstere Verständnis hebt zwar hervor, daß Wissen unabhängig· von seiner Erzeugungsart nicht nach privatwirtschaftlichen, sondern nach öffentlich-rechtlichen Kriterien verteilt und genutzt wird; letzteres entbindet Wissen den Regeln der Rechts- und Wirtschaftsordnung und stellt damit den insbesondere internationalen Zugriff sicher. Damit werden indessen - wie sich sogleich zeigen wird - nur einzelne Aspekte, nicht aber auch nur annähernd die volle Palette der Sondereigenschaften von Wissen erfaßt l66 • 163 Grundlegend hierzu sowie zum folgenden und zur "Wissensordnung" insgesamt H. F. Spinner, Die Wissensordnung, 1994, S. 13. - Die Ausführungen H. F. Spinners zur "Wissensordnung" sind zwar einerseits von grundlegender Bedeutung; nicht überzeugen sie indessen, soweit die Systemtheorie abgelehnt wird (H. F. Spinner, Die Wissensordnung, 1994, insbes. S. 39, 41). 164 H. F. Spinner, Die Wissensordnung, 1994, S. 15 ff. 165 Siehe H. F. Spinner, Die Wissensordnung, 1994, S. 34 ff.
17*
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
Wissen repräsentiert informationell Gegenstände, ist aber selbst nicht gegenständlich. Einmal verbreitetes und vorhandenes Wissen ist deshalb kaum mehr zu beseitigen. Dies wiegt umso schwerer, weil Wissen andererseits inhaltlich störanfällig ist. Die prinzipielle Wahrheitsfähigkeit des Wissens kann sich deshalb vielfach nicht auswirken. Darüber hinaus ist Wissen ein Gemeingut; sein Besitz hat keinen Ausschließlichkeitscharakter 167 .
IV. Konzepte für eine" Wissensordnung"
Die bisher erkennbaren Konzepte für eine "Wissensordnung" vermögen insgesamt nicht zu überzeugen. Sie beschränken sich zumeist auf den Blickwinkel nur einer Disziplin und regeln häufig selbst innerhalb dieser nur ein Teilproblem. Die in der Rechtswissenschaft vielfach vertretene Sphärentheorie betrifft zum Beispiel nur personenbezogene Informationen l68 . Eine umfassende Konzeption für eine "Wissensordnung" kann sich demgegenüber aus dem Denken in "Ordnungen" oder in "Systemen" ergeben. Hierin wird teilweise ein Gegensatz erblickt l69 . Dem kann jedoch schon deshalb nicht gefolgt werden, weil Systeme Ordnungsformen darstellen, in denen sich die Realität selbst generiert 170. Beide - sowohl das Denken in "Ordnungen" als auch dasjenige in "Systemen" können der - auch aus der Sicht des Konstruktivismus zu bestätigenden - Vorstellung gerecht werden, daß jedes "Wissen von Anfang an ein kooperativer Gruppenprozeß"l7l und damit sozial erzeugt und standortbedingt ist. Entgegen der Ansicht von P. L. Berger und Th. Luckmann l72 kann Wissen daher auch nicht rein empirisch betrachtet werden, sondern hat notwendigerweise Bezug zur Erkenntnistheorie. Die soziale Erzeugung von Wissen wird zudem durch die - historisch betrachtet - unterschiedliche Wissensorganisation bestätigt 173. Rein mündlich organisierte Stammesgesellschaften zeichnen sich durch eine geschlossene Struktur des Wissens und absolute Vergangenheit aus. Die Unveränderbarkeit der Wissensstruktur H. F. Spinner, Die Wissensordnung, 1994, S. 32 f. Vgl. dazu H. F. Spinner, Die Wissensordnung, 1994, S. 27 ff. 168 H. F. Spinner, Die Wissensordnung, 1994, S. 41. 169 H. F. Spinner, Die Wissensordnung, 1994, S. 39,41,43. 170 N. Luhmann, Neue Sammlung 25 (1985), 33 (37). 171 K. Mannheim, Ideologie und Utopie, 1969, S. 27. 172 BergerlLuckrnann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 1991, S. 15 ff. 173 Vgl. hierzu sowie zum folgenden den Überblick bei AssmannlAssmann, in: Merten! SchmidtlWeischenberg (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Medien, 1994, S. 114 ff., 131 sowie die Erläuterungen hierzu, a. a. O. S. 130 ff. 166 167
§ 5 Infonnationsbegriff, Kommunikation, Wissen und Technik
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hindert hierbei den Wandel dieser Gesellschaftsform nicht, sondern bewirkt vielmehr nur, daß neue Erfahrungen mit altem Wissen kompatibel gemacht werden. Hieraus resultiert eine insofern absolute Vergangenheit, als die Vergangenheit im Verständnis dieser Gesellschaften das Urmodell ist, zu dem jede Gegenwart zurückkehrt. In "schriftlosen" Gesellschaften sind das kollektive Bewußtsein und das Wissen der Gemeinschaft in ihrem Umfang identisch. Es können nämlich nur solche Informationen, deren sich die Gemeinschaft bewußt ist, weitergegeben werden. Für die unbewußte Aufbewahrung von Informationen gibt es kein Medium. Eben dies ändert sich bei Gesellschaften, die der Schrift fähig sind. Sie zeichnen sich durch eine offene Wissensstruktur und Geschichtsbewußtsein aus. Während mündliche Kommunikation nur unter Anwesenden möglich ist, eröffnet Schrift die kommunikative Verständigung sowohl über räumliche als auch über zeitliche Distanzen hinweg. Die Herstellung eben dieser Gleichzeitigkeit ist nicht nur Voraussetzung für den Wissensaufbau, sondern für die Bildung einer Gesellschaft überhaupt. Zwischen den erlebenden Subjekten darf es, soll Gesellschaft möglich sein, keinen Zeitunterschied geben. Das aktuelle Erleben der Subjekte muß zeitlich synchronisiert sein, d. h. nach dem Verständnis der erlebenden Subjekte gleichzeitig ablaufen. Diese Gleichzeitigkeit wird dabei nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Zeithorizonte der Vergangenheit und Zukunft gefordert l74 . Eine offene Wissensstruktur ermöglicht die Schrift, weil die Gesellschaft jetzt nicht mehr gezwungen ist, nur Bewußtes zu überliefern. Schrift ermöglicht auch die Überlieferung von Unbewußtem und erhöht zudem die Quantität überlieferbaren Wissens eklatant. Aus der Erfindung der Drucktechnik resultiert ein weiterer Anstieg der überlieferbaren Wissensmenge, die ihrerseits die Ausdifferenzierung neuer Wissenschaften zur Folge hat. Hierdurch werden Wissensmonopole und Bildungsschranken abgebaut; zugleich wird die Überlieferung kontrovers. Im Elektronikzeitalter erfährt Wissen erneut einen tiefgreifenden, noch keineswegs abgeschlossenen Wandel. Die Möglichkeiten der modemen Textverarbeitung binden Wissen wieder an Zeit. Die Computertechnik eröffnet eine Zwischenstufe zwischen Mündlichkeit einerseits und Schriftlichkeit andererseits. Computermäßig erstellte Texte sind einerseits fixiert, andererseits aber jederzeit variabel. Damit beginnt eine neue Phase des Umgangs mit Wissen. Mit der Einführung neuer Wissenstechnologien gehen neue Wissensbeherrschungsformen einher, die die tradierte Wissenskultur mit neuen Wissenskonzepten konfrontieren. Dieses enge Verhältnis von Wissen und Technik bedarf der näheren Untersuchung.
174 N. Luhmann, in: HabennaslLuhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung?, 1985, S. 25 ff., 54 f.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
D. Information, Wissen und Technik Ursächlich für den angeführten Wandel und die damit erforderliche Neubewertung von Infonnation und Wissen ist der technische Fortschritt.
I. Skizzenhafter Umfang des technischen Fortschritts
Der in seinem Umfang kaum überschätzbare technische Fortschritt kann hier nur in Teilaspekten skizziert werden 175, zumal er sich nicht auf die Veränderung der Herstellung eines bestimmten Erfolgs oder der Produktpalette einer einzelnen Branche beschränkt l76 , sondern das gesamte technische System sowie darüber hinaus die ökonomischen, sozialen und administrativen Gesamtstrukturen erfaßt 177 • Als definitive "Basistechnologie" 178 hat sich hierbei die Mikroelektronik erwiesen. Sie ermöglichte die Herstellung immer leistungsfähigerer und zugleich kleinerer und billigerer elektronischer Schaltungen und schuf damit erst die Voraussetzung für die übrigen Änderungen. Eine ähnliche Bedeutung kommt der Digitalisierung, d. h. dem Übergang von einer analogen auf eine digitale Nachrichtenübertragung, zu. Dieser (hier nur andeutbare) technische Fortschritt führte zur Integration von Telekommunikation, Datenverarbeitung und Bürokommunikation und zur Entstehung einer neuen als Telematik bezeichneten Branche l79 . Mit dieser Entwicklung geht die "Infonnatisierung" einher, d. h. Computer dringen in alle Lebens- und Handlungsbereiche ein, steuern herkömmliche Geräte, bilden gemeinsam mit neuen Kommunikationstechnologien integrierte Komplexe und expandieren durch die Zusammenschaltung von Computern, Netzen, Geräten und Sensoren zu eigenständigen Systemen l80 • 175 Grundsätzlich zum Verhältnis von Technik und Gesellschaft G. Banse, in: TausslKolIbecklMönikes (Hrsg.), Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft, 1996, S. 248 ff. 176 ScholzlAulehner, Archiv PT 1993, 103 (107 f.). 177 Für den Bereich der Telekommunikation siehe z. B. E. Grande, Vom Monopol zum Wettbewerb?, 1989, S. 94 f. 178 J. Scherer, TeIekommunikationsrecht und Telekommunikationspolitik, 1985, S. 56. 179 Der Begriff wurde von Nora/Minc, Die Informatisierung der Gesellschaft, 1979, S. 35, geprägt. Telematik ist eine Abkürzung und Zusammensetzung der beiden französischen Worte telecommunication und automatique. In den USA ist demgegenüber die aus computing und telecommunications gebildete Wortschöpfung compucations geläufiger. Vgl. hierzu z. B. P. Seeger, in: TausslKollbecklMönikes (Hrsg.), Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft, 1996, S. 337 ff.; FangmanniScheurle/SchwemmlelWehner, Handbuch für Post und Telekommunikation, 1990, S. 415; BergerlBlankart/Picot (Hrsg.), Lexikon der Telekommunikationsökonomie, 1990, S. 300; M. Carpentier, in: Ungerer/Costello, Telekommunikation in Europa, 1989, S. 19. 180 G. Wersig, Fokus Mensch, 1993, S. 11.
§ 5 Inforrnationsbegriff, Kommunikation, Wissen und Technik
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11. Die wechselseitige Abhängigkeit von Technik und Wissen bzw. Information
Technik und Wissen bzw. Infonnation hängen in mehrfacher Hinsicht wechselseitig voneinander ab 181 : Einerseits ennöglicht die modeme, rasch fortschreitende Technik erst die Deckung des heute erforderlichen Infonnations- und Kommunikationsumfangs. Andererseits führt gerade die durch den technischen Fortschritt mögliche qualitativ und quantitativ ungleich größere und vielfältigere Industrieproduktion l82 zu neuen gesellschaftlichen Risiken, die ihrerseits wiederum weitere und detailliertere Infonnationen erfordern. Eine entsprechende Ambivalenz ergibt sich bei der Abwägung zwischen den Vor- und Nachteilen dieser Technisierung: Wahrend einerseits die modeme Technik den Menschen entlastet, indem sie für eintönige, gefährliche oder schwere Arbeiten Maschinen zur Verfügung stellt, birgt sie andererseits gerade dadurch auch Gefahren. Die zur Arbeitserleichterung eingesetzte Maschine kann nämlich zugleich auch die Arbeitszeit und Leistungsfähigkeit des sie bedienenden Menschen überwachen. Insgesamt ist mithin eine wechselseitige Durchdringung von Infonnation bzw. Wissen einerseits und Technik andererseits zu konstatieren 183. Der Technisierung des Wissens auf der einen Seite entspricht die Verwissenschaftlichung der Technik l84 auf der anderen Seite l85 . Eine Bewertung der Veränderungen von Wissen bzw. Infonnation und Technik setzt eine genauere Analyse der Entwicklungen in diesem Überschneidungsbereich voraus. Im Zentrum hat dabei die mehrdimensionale Ausweitung des vorhandenen Wissensumfangs zu stehen l86 . Der Infonnationsbestand - das Wissen - nimmt nicht nur quantitativ l87 mit rasender Schnelligkeit zu, es ist vielmehr eine ..Informationsex-" und ..-implosion,,188 zu beobachten. Erstere - die ..Infonnationsexplosion" - weist dabei darauf hin, daß die quantitative Infonnations- bzw. Wissenserhöhung nicht auf den wissenschaftlichen Bereich beschränkt ist, sondern alle ge181 Zur Dynamik im Spannungsfeld von Technik, Gesellschaft, Recht R. Stransfeld, in: Tauss/KollbeckIMönikes (Hrsg.), Deutschlands Weg in die Inforrnationsgesellschaft, 1996, S. 684 ff., 705 ff. 182 Siehe z. B. die Beschreibung bei R. Kreibich, Die Wissenschaftsgesellschaft, 1986, S. 285 ff. 183 Zur Konvergenz von Wissenschaft und Technologie vgl. R. Kreibich, Die Wissenschaftsgesellschaft, 1986, S. 314 ff. 184 Näher hierzu J. Haberrnas, Technik und Wissenschaft als "Ideologie", 1969, S. 79 f. 185 H. F. Spinner, Die Wissensordnung, 1994, S. 53. 186 Vgl. hierzu sowie zum folgenden grundlegend H. F. Spinner, Die Wissensordnung, 1994, S. 53 ff. 187 Zur quantitativen Entwicklung von Wissen vgl. z. B. R. Kreibich, Die Wissenschaftsgesellschaft, 1986, S. 26 ff. 188 Bezeichnungen von H. F. Spinner, Die Wissensordnung, 1994, S. 53 ff.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
sellschaftlichen Teilsysteme erfaßt; letztere - die "Infonnationsimplosion" - macht deutlich, daß die Infonnations- bzw. Wissenssteigerung nicht nur quantitativ, sondern qualitativ umgestaltend wirkt, insbesondere indem sie in traditionelle Fachdisziplinen eindringt und zur Ausbildung neuer Wissenschaftszweige, -gebiete und -methoden führt l89 • Diese qualitativen und quantitativen Veränderungen des Wissens- bzw. Infonnationsbestandes wirken auf die Verteilung der Anteile der Wissensarten zurück: Der quantitative Infonnations- bzw. Wissensanstieg erhöht vornehmlich das klassische allgemeine Wissen. Die durch die "Infonnationsex-" und ,,-implosion" bewirkte qualitative Ausbreitung des Infonnations- und Wissensbestandes erzeugt demgegenüber andere Infonnations- bzw. Wissensarten: Sie erhöht den Bestand an Informationen bzw. Wissen einfachster Art, das sich vielfach auf einzelne kontextunabhängige Daten beschränkt 190. Gerade diese letzteren Einzeldaten sind wegen ihres losen oder fehlenden Zusammenhangs vergleichsweise einfach mißbrauchbar, indem sie in einen neuen Kontext gestellt werden. Eben hierdurch werden die von der automatischen Datenverarbeitung ausgehenden Gefahren begründet. Die Technisierung von Wissen und Infonnation wirkt gesellschaftsgestaltend und führt zur Veränderung der Kommunikation. Der technische Fortschritt hat einen unumkehrbaren sozialen Wandel angestoßen, in dem die rasant fortschreitende Infonnationstechnik eine Führungsrolle übernommen hat und sich rechtlicher Steuerung zu entziehen droht l91 . Gesellschaftliche Konsensbildung, Integration und Koordinierung werden nicht mehr durch soziale Kommunikation, sondern technikbestimmt geleistet. Subjektive Handlungen werden erst im Kontext eines technischen Systems verständlich. Hieraus ergeben sich Rückwirkungen auf das Verhalten des einzelnen: Seine Handlungen erfolgen technikorientiert. So gewinnt die Technik zu Lasten der sozialen Kommunikation schließlich Steuerungsfunktionen für die gesellschaftliche Entwicklung 192.
IH. Kommunikation und Technik
Der technische Fortschritt verändert die Vorgaben für Kommunikation grundlegend. Kommunikation setzt nämlich - wie bereits ausgeführt wurde - Modellbildung voraus. Werden diese Modelle nicht mehr unmittelbar interaktiv, sondern 189 Zu den Folgen für die Wissenschaftsproduktion vgl. R. Kreibich, Die Wissenschaftsgesellschaft, 1986, S. 279 ff.
H. F. Spinner, Die Wissensordnung, 1994, S. 55 f. H. F. Spinner, in: A. Reuter (Hrsg.), GI - 20. Jahrestagung I, Stuttgart 1990, S. 257 ff., 260 ff. 190 191
192 Zum Zusammenhang z. B. R. Weingarten, in: ders. (Hrsg.), Information ohne Kommunikation?, 1990, S. 7 ff.
§ 5 Infonnationsbegriff, Kommunikation, Wissen und Technik
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technikvennittelt konstruiert, verändert dies das sachliche Substrat der Kommunikation und damit die Kommunikation selbst. Wer nämlich die Bedingungen für die Konstruktion der für die Kommunikation erforderlichen Modelle setzt, bestimmt damit unweigerlich die Kommunikation selbst l93 . Da technische Kommunikation die menschliche Kommunikation nicht umfassend, sondern nur perspektivisch abbilden kann l94, werden technisch gespeicherte Daten zu Machtfaktoren l95 . Informationen sind nämlich immer kontextabhängig. Die technik-unterstützte Informationsverarbeitung entkleidet die Daten aber ihres Zusammenhangs und eröffnet die Möglichkeit und Gefahr, daß die Daten in einen neuen, anderen Kontext gestellt werden. Eben diese Gefahr ist ursächlich für die allgemein kritische Haltung gegenüber der Informationstechnik und der hieraus resultierenden (Über-)Betonung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Dabei ist der Hinweis auf die durch die Informationstechnik geschaffene Manipulationsgefahr einerseits vollkommen richtig. Andererseits werden aber vielfach die bloße - und zu verhindernde - Mißbrauchsmöglichkeit und der tatsächliche Mißbrauch gleichgesetzt. Mißbrauch und Manipulation können nämlich nicht nur durch einen Verzicht auf Informationstechnik, sondern auch durch begleitende Maßnahmen - insbesondere Verwertungsverbote - verhindert werden. Die prinzipielle Zulassung von Informationstechnik bei gleichzeitiger Verhinderung von Mißbräuchen ist zudem schon deshalb vorzugswürdig, weil hierdurch die Vorteile der Technik genutzt, ihre Nachteile aber begrenzt werden können.
IV. Der Anspruch des Menschen auf Wissen
Die geschilderte, auch als "wissenschaftlich-technische Revolution"l96 bezeichnete Entwicklung führt in ihren Folgen zur Annahme eines Anspruchs des Menschen auf Wissen. Die Technologisierung des Wissens führt zwar zu einem nachhaltigen Wachstum des gesellschaftlichen Wissens. Dem steht indessen ein fortschreitender Wissensmangel des Individuums gegenüber. Je mehr Wissen der Gesellschaft insgesamt zur Verfügung steht, desto dringlicher wird die im Rahmen einer "Wissensordnung" zu regelnde Partizipation am Wissen. Isolation, Monopolisierung oder Kolonisierung von Wissen müssen auf wenige, eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt bleiben und dürfen keinesfalls zum Regelfall werden. Hierin läge ein Rückfall in längst überwundene Gesellschaftsstrukturen, in denen "Bildung" und damit Wissen das Privileg bestimmter Gesellschaftsschichten war 197 . 193 R. Weingarten, in: ders. (Hrsg.), Infonnation ohne Kommunikation?, 1990, S. 7 ff., 13. G. Weiter, Technisierung von Infonnation und Kommunikation in Organisationen, 1988, S. 366. 195 W. Steinmüller, Infonnationstechnologie und Gesellschaft, 1993, S. 351. 196 H. J. Sandkühler, Die Wirklichkeit des Wissens, 1991, S. 372. 194
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
Die möglichst umfassende Teilhabe am und der prinzipiell freie Zugang zu Wissen ist - anders als die Diskussion um das "Volkszählungs"-Urteillange Zeit glauben ließ und läßt - keine Gefahr für das Individuum, sondern vielmehr Voraussetzung für seine Selbstverwirklichung I98 . Wenn nämlich Wirklichkeit kommunikativ konstruiert wird, ist die gleichberechtigte Mitwirkung des einzelnen hieran nur unter der Bedingung möglich, daß prinzipiell allen der Zugang zum gleichen Wissen offen steht. Nur wer in Kenntnis aller Umstände an der Konstruktion und Fortschreibung der Wirklichkeit mitwirken kann, hat einen Gestaltungsspielraum und kann für dessen Ausfüllung Verantwortung übernehmen. Letzteres ist aber gerade Voraussetzung für die Selbstverwirklichung. Dies wird im folgenden ebenso näher zu zeigen sein, wie sich erweisen wird, daß ein weitgehend freier Informationsund Wissensfluß keine bzw. jedenfalls eine weitaus geringere Gefährdung für das Individuum darstellt als vielfach angenommen.
§ 6 Die kommunikative Konstitution von Person und Sicherheit Die bisherigen Erörterungen zeigen, daß der Kommunikation eine zentrale Rolle zukommt, weil der Mensch nur durch sie Zugang zur Wirklichkeit hat und Information und Kommunikation zudem in wechselseitiger Abhängigkeit stehen. Information und Kommunikation hängen insofern zusammen, als Information eine von mehreren Selektionen der Kommunikation darstellt. Information ist ihrerseits Voraussetzung für menschliches Wissen. Kommunikation, Information und Wissen wiederum sind technikbestimmt und bestimmen ihrerseits die Technik. Diese herausgehobene Position der Kommunikation wird sich im folgenden bestätigen, da sich sowohl die Person als auch die Sicherheit - also die beiden Gesichtspunkte, deren Belange im Fall der polizeilichen Gefahren- und Informationsvorsorge jedenfalls scheinbar konfligieren - ebenfalls als durch Kommunikation konstituiert erweisen werden.
A. Die Konstitution der Person durch Kommunikation Der Mensch hat nur durch Kommunikation Zugang zur Wirklichkeit. Die folgenden Ausführungen werden zeigen, daß nicht nur die Wirklichkeit, sondern auch der Mensch durch Kommunikation konstituiert wird. Dabei werden sich die früheH. J. Sandkühler, Die Wirklichkeit des Wissens, 1991, S. 373 ff. Hierzu sowie zum folgenden H. J. Sandkühler, Die Wirklichkeit des Wissens, 1991, S. 386 ff. 197
198
§ 6 Die kommunikative Konstitution von Person und Sicherheit
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ren individualistischen und sphärentheoretischen Modelle der Persönlichkeit als überholt erweisen 1• Es wird sich zeigen, daß Persönlichkeit ein soziales Konstrukt darstellt und ihre Sphären und Grenzen interaktional zu bestimmen sind.
I. Materieller PersönlichkeitsbegrifT
Versuche, den Persönlichkeitsbegriff materiellen Anforderungen zu unterstellen und insbesondere Persönlichkeit nur dem zuzubilligen, der "dem in seiner Naturbegabung liegenden Auftrag nachkommt, seine individuellen Anlagen wesensgerecht zu schulen, zu entfalten, und zu gebrauchen,,2, sind abzulehnen. Auch J. W. v. Goethe bringt nur die Bedeutung der Persönlichkeit für jeden Menschen zum Ausdruck, wenn er Suleika sprechen läßt: "Volk und Knecht und Überwinder Sie gestehen zu jeder Zeit: Höchstes Glück der Erdenkinder Sei nur die Persönlichkeit. ,,3 Eine materielle Definition von Persönlichkeit, wie H. Peters sie vorschlägt, kollidiert zum einen mit dem Freiheitsverständnis. Wollte man die freie Entfaltung der Persönlichkeit auf "die Auswirkung des Menschentums im Sinne der abendländischen Kulturauffassung,,4 beschränken, so würde dies der Freiheit, verstanden als autonome und eigenverantwortliche Entscheidungsfähigkeit und -beliebigkeit 5, widersprechen. Zum anderen ist materiellen Persönlichkeits begriffen entgegen zu halten, daß sie die Belange und Interessen des Individuums in das Zentrum ihrer Betrachtungen stellen und überbetonen; sie richten ihr Augenmerk allein auf das beobachtete Individuum. Dabei wird verkannt, daß für die Qualität des Individuums jedenfalls auch, wenn nicht sogar ausschließlich, dessen Verhältnis zu den Außenstehenden und damit die Positionen des den Beobachteten beobachtenden Beobachters entscheidend sind6 . I Überblicke über die einzelnen Persönlichkeitstheorien finden sich z. B. bei G. Duttge, Der Begriff der Zwangsmaßnahme im Strafprozeßrecht, 1995, S. 66 ff.; L. Kruse, in: R. Wilhelm, Inforrnation-Technik-Recht, 1993, S. 51 ff., 53 ff., 55 ff. und J. Aulehner, eR 1993, 446 (447 f.). Zu rechtsphilosophischen Implikationen des Personenstatus vgl. V. Petev, in: ErichsenlKoIIhosserlWelp (Hrsg.), Recht der Persönlichkeit, 1996, S. 235 ff. 2 H. Peters, in: Gegenwartsprobleme des internationalen Rechts und der Rechtsphilosphie. Festschrift für Rudolf Laun, 1953, S. 669 ff., 672 f. 3 J. W. v. Goethe, Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, 13. Auf!. 1982, Bd. 2, S. 71. 4 H. Peters, in: Gegenwartsprobleme des internationalen Rechts und der Rechtsphilosphie. Festschrift für Rudolf Laun, 1953, S. 669 ff., 673. 5 D. Merten, VerwArch 73 (1982), 103 (106); E. Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 1976, S. 1I 7,249.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
11. Sphären- und Schichtenmodelle der Persönlichkeit
Die Sphären- und Schichtenmodelle7 berücksichtigen die gesellschaftliche Bedingtheit des Menschen nicht bzw. nur unzureichend; sie konzipieren den Menschen individualistisch8 . Die in der Rechtswissenschaft mit dem Namen H. Hubmann 9 untrennbar verbundene Sphärentheorie unterteilt die menschlichen Lebensbereiche in verschiedene Sphären und ordnet diesen einen unterschiedlichen Schutz zu. Unterschieden werden insbesondere die Öffentlichkeits-, Sozial-, Individual-, Privat-, Geheimund Intimsphäre 10. In den Schichtenmodellen der Persönlichkeit spiegeln sich segmentäre und stratifikatorische Auffassungen von der Gesellschaft wider. Die menschliche Persönlichkeit wird hiernach durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Einheit - Familie, Geschlecht, Wohngemeinschaft, Dorf etc. - und zu einer bestimmten Schicht determiniert. Überschneidungen durch die Zugehörigkeit eines Menschen zu mehreren Schichten oder Sphären waren in früheren Gesellschaften ausgeschlossen 11. Erst die Emanzipation des einzelnen gegenüber der Gemeinschaft führt zu verstärkten Kollisionen zwischen den Persönlichkeits sphären der Individuen. Dies macht staatliche Rechtsnonnen zur Ordnung des Zusammenlebens erforderlich, wodurch ein neuer - hier thematisierter - Abgrenzungsbedarf zwischen Persönlichkeits- und Staatssphäre entsteht 12 . Sphärentheorie und Schichtenmodelle erkennen damit die Eingebundenheit des Menschen in die Gesellschaft allenfalls in Ansätzen an. Die Bedeutung von Umwelteinflüssen für die Entwicklung des Individuums wurde nur in einzelnen Teilbereichen und für einzelne Verhaltensweisen akzeptiert, ließ aber die im übrigen individualistische Konzeption des Individuums unberührt. Die Sphären- und Schichtenmodelle versuchen mit den Sphären bzw. Schichten im Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft verschiedene Bereiche auszudifferenzieren und zu typisieren 13. Diese bereichsmäßigen Differenzierungen setzen je6 T.-A. Hubert, Das datenschutzrechtliche Presseprivileg im Spannungsfeld zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht, 1993, S. 44 mit Fußn. 39,40, der zwischen "autotelisch" und "heterotelisch" differenzieren will. 7 G. Duttge, Der Begriff der Zwangsmaßnahme im Strafprozeßrecht, 1995, S. 67 ff.; T. Dalakouras, Beweisverbote bezüglich der Achtung der Intimsphäre, 1988, S. 36 ff. 8 L. Kruse, in: E.-J. Lampe (Hrsg.), Persönlichkeit, Familie, Eigentum, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 12, 1987, S. 60 9 H. Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 2. Auf!. 1967. 10 Vgl. ausführlich zur Sphärentheorie aus rechtswissenschaftlicher Perspektive unten im Text sub § 9. B. 11 N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. I, 1980, S. 30. 12 E.-J. Lampe, in: ders. (Hrsg.), Persönlichkeit, Familie, Eigentum, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 12, 1987, S. 73 ff., 81 ff.
§ 6 Die kommunikative Konstitution von Person und Sicherheit
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doch in unzulässiger Weise die Wahrnehmung von Personen und diejenige von unbelebten Objekten gleich. Personen sollen hiernach ebenso wie Objekte kognitiv wahrgenommen werden 14; beide - Personen und Objekte - erscheinen danach statisch. Aus kognitiver Perspektive steuern Motive die wegen der Differenz zwischen der sehr hohen Aufnahmekapazität menschlicher Sinne einerseits und der beschränkten Verarbeitungskapazität andererseits erforderliche Selektion. Die ausgewählten Reize werden psychisch verarbeitet, gegliedert und zu einem sinnvollen Bild strukturiert, aus dem ein Sinneserlebnis resultiert. Entgegen diesem kognitiven Blickwinkel werden Personen tatsächlich nur interaktiv wahrgenommen. Kognitive Ansätze ignorieren nämlich insbesondere die Gründe für menschliche Kognition; Gründe und Zwecke menschlichen Verhaltens werden erst durch Interaktion deutlich. Personenwahmehmung und Kommunikation stehen hiernach in einem Wechselverhältnis und beeinflussen sich gegenseitig. Die Person erscheint danach nicht statisch, sondern dynamisch. Die Selektion der verarbeiteten Reize wird nach dem interaktiven Verständnis nicht durch Motive, sondern durch die Infonnationsbedürfnisse für die weitere Interaktion gesteuert. Die Reize werden zu einem Konzept verarbeitet, aus dem neben dem Sinneserlebnis eine spontane Reaktion resultiert. Die Reaktion der beobachteten Person auf eine Interaktion bestimmt danach die Art der Reize für die nächste Interaktion. Darüber hinaus liegen den Sphären- und Schichtenmodellen zu einfache und heute überholte Auffassungen sowohl vom Aufbau des Individuums als auch der Gesellschaft zugrunde. Die Sphärenmodelle übertragen die klassisch-philosophische Zuordnung des Menschen sowohl zur Welt der Animalität als auch zu derjenigen der Transzendentalität auf die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen und unterteilen auch diese in Sphären. Aristotelischen Vorstellungen zufolge besteht die Welt aus konzentrischen Schichten, deren höchste der Geist und deren tiefste die fonnlose Materie ist. Dabei bildete erst der zivilisierte Mensch eine geschlossene Einheit; der primitive Mensch war unabgeschlossen. Die Einheitsbildung des Menschen stellt sich dabei als erster Schritt einer Vielzahl von Differenzierungen dar. Diese venneintlich sphärenmäßige Binnengliederung des Menschen wird - unreflektiert - auf die Außenbeziehungen der Person übertragen 15. Die Schichtenmodelle basieren überdies auf einem zu einfachen, der Komplexität der heutigen Gesellschaft nicht gerecht werdenden Gesellschaftsmodell. Sie stellen sich als zeitlich überholt dar, zumal heute das Individuum, seine personale Identität, seine Individualität und sein Selbstkonzept zunehmend als sozial konstituiert verstanden werden 16. 13 Zum Bedürfnis des einzelnen nach einem persönlichen Bereich vgl. z. B. T. Dalakouras, Beweisverbote bezüglich der Achtung der Intimsphäre, 1988, S. 19 ff. 14 E.-J. Lampe, in: ders. (Hrsg.), Persönlichkeit, Familie, Eigentum, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 12, 1987, S. 73 ff., 78 f. 15 L. Kruse, in: E.-J. Lampe (Hrsg.), Persönlichkeit, Familie, Eigentum, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 12, 1987, S. 60 ff., 61.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
III. Persönlichkeitskonstitution durch Interaktion
Der materielle Persönlichkeitsbegriff, die Sphären- und Schichtenmodelle der Person entsprechen abstrakt betrachtet dem Verständnis von Kommunikation als Zeichenübertragung und dem von Information als Nachricht. Alle diese Theorien beschränken sich auf ein physikalisch-statisches Verständnis von Kommunikation, Information bzw. Person und berücksichtigen nicht bzw. allenfalls teilweise, daß alle diese Systeme nur in ihrer Beziehung zur Umwelt gedacht werden können. Ebenso wie bei Kommunikation und Information ermöglicht auch hier erst die Einbeziehung der Interaktion in den Prozeß der Personwerdung eine zutreffendere Beschreibung. Interaktiven Aspekten tragen beim Verständnis der Person zunächst nur die Rollentheorie und die kybernetischen Modelle der Personwerdung Rechnung. Diese gehen davon aus, daß die personale Identität insgesamt und nicht nur in geringen Teilen gesellschaftlich vermittelt wird. Interaktionistischem Verständnis zufolge handelt der Mensch selbstreflexiv, indem er sich selbst als Subjekt in seiner Umwelt versteht 17. Voraussetzung hierfür ist, daß einerseits die Person die soziale Komponente ihres HandeIns integriert und daß andererseits die Individualität des einzelnen von der Allgemeinheit respektiert wird 18 • 1. Die Rollentheorie
Nach der insbesondere von P. J. Müller 19 vertretenen Rollentheorie 2o stehen Erwartungen im Mittelpunkt menschlichen Verhaltens. Soziale Rollen thematisieren wiederkehrende Verhaltensanforderungen sowohl der Gesellschaft an den einzelnen als auch des einzelnen, der sich außer ihm bestehenden Ansprüchen gegenübersieht21 . Rollenkonformes Verhalten der Individuen soll dabei sowohl durch Sozialisation als auch durch Sanktionen gewährleistet werden. Einem Schauspieler ähnlich muß der einzelne in der Gesellschaft unterschiedliche Rollen übernehmen und sich integrieren. Rollentheoretisch betrachtet entsteht eine Privatsphäre, indem das Individuum Informationen über sich unterschiedlich an die verschiedenen Interaktionspartner 16 L. Kruse, in: E.-J. Lampe (Hrsg.), Persönlichkeit, Familie, Eigentum, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 12, 1987, S. 60 ff., 62. 17 E.-J. Lampe, in: ders. (Hrsg.), Persönlichkeit, Familie, Eigentum, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 12, 1987, S. 73 ff., 78. 18 E.-J. Lampe, in: ders. (Hrsg.), Persönlichkeit, Familie, Eigentum, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 12, 1987, S. 73 ff., 79 f. 19 P. J. Müller, in: U. Dammann u. a. (Hrsg.), Datenbanken und Datenschutz, 1974, S. 65 ff. 20 Vgl. z. B. G. Duttge, Der Begriff der Zwangsmaßnahme im Strafprozeßrecht, 1995, S. 73 ff.; T. Dalakouras, Beweisverbote bezüglich der Achtung der Intimsphäre, 1988, S. 44 ff. 21
R. Dahrendorf, in: ders., Pfade aus Utopia, 3. Auf!. 1974, S. 128 ff., 145.
§ 6 Die kommunikative Konstitution von Person und Sicherheit
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verteilt. So kann sich der einzelne etwa im Beruf anders darstellen als in seiner Freizeit. Privatheit setzt dabei voraus, daß sich Informationen über den einzelnen auf die jeweilige Rolle beschränken. Eine dysfunktionale Weitergabe personenbezogener Informationen über die unterschiedlichen Interaktionsgruppen hinweg, denen der einzelne in verschiedenen Rollen gegenübertritt, würde die Privatheit des Individuums aufheben 22 . Die Rollentheorie stellt gegenüber den Sphären- und Schichtenmodellen zwar einen Fortschritt dar, weil sie Privatheit nicht mehr räumlich, sondern unter Einbeziehung der Interaktionspartner definiert. Ihr kann allerdings gleichwohl nicht gefolgt werden, weil sie allein dem Beobachteten die Bestimmung überläßt, welche Informationen über sich er in welcher Rolle weitergibt. Der einzelne könnte nach diesem Verständnis Interaktionspartnern aus verschiedenen Rollen den Informationsaustausch verbieten 23. Aus rechtlicher Sicht würde dies einerseits die Anerkennung eines allumfassenden Informationsschutzes, dem auch der Basisdatensatz - Name, Geburtsdatum und Geburtsort - unterfällt, und ein absolutes Recht am eigenen Datum24 bedeuten 25 . Andererseits wäre der Informationsschutz zur Disposition des Staates gestellt, weil der soziologische Rollenbegriff rechtlicher Definition bedarf26 . 2. Kybernetische Persänlichkeitstheorie
Während die Rollentheorie an der Trennung von Individual- und Sozialperson prinzipiell festhält und erstere nur um deren gesellschaftliche Bezüge ergänzt, gibt die kybernetische Persönlichkeitstheorie diese Unterscheidung auf. Sie trägt der sozialen Konstitution des Individuums Rechnung. Nach der kybernetischen Persönlichkeitstheorie ist für die Konstitution des Individuums dessen Darstellung als Interaktionspartner und die Reaktion der Umwelt hierauf entscheidend. Die Umwelt des Menschen nimmt dessen Selbstdarstellung als Information auf, bewertet sie und beeinflußt durch diese Bewertung die weitere Selbstdarstellung. Beeinflussen aber soziale Dimensionen (feedback) die Selbstdarstellung, so sind sie Teil der Persönlichkeitsentfaltung, weil der Mensch die Persönlichkeit wird, als welche er sich darstellt 27 . 22 T.-A. Hubert, Das datenschutzrechtliche Presseprivileg im Spannungsfeld zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht, 1993, S. 48 f. 23 Ablehnend auch K. Vogelgesang, Grundrecht auf informationelIe Selbstbestimmung?, 1987, S. 136 ff. 24 Zum Recht am eigenen Datum schon im Text sub § 4. E. 11. I. 25 T.-A. Hubert, Das datenschutzrechtliche Presseprivileg im Spannungsfeld zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht, 1993, S. 48 f. 26 M. Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen und deren Aufbewahrung durch die Polizei, 1992, S. 59 f. 27 N. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 58 ff., 60.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
Theorien, die von einer interaktiven Persönlichkeitskonstitution ausgehen, verstehen die Privatsphäre nicht mehr intrapersonal als realen personalen Kern, sondern interpersonal als Produkt zwischenmenschlicher Interaktion. Die Privatsphäre wird daher nicht allein vom jeweiligen Individuum, sondern auch von der jeweiligen Umwelt bestimmt, die die Privatheit anerkennen muß. Privatheit ist deshalb als von Person und Umwelt abhängig - relational und - wegen ihrer situativen Bindung - relativ 28 .
IV. Der Mensch als psychisches System und Irritation der Kommunikation Eine vollständige Abkehr vom zeitlich überholten Konzept einer in sich abgeschlossenen, asozialen, weltlosen Person29 markiert die Konstitution der Person durch Kommunikation.
1. Mensch und Gesellschaft
Die Rolle des Menschen ist einer der am heftigsten umstrittenen Aspekte der Theorie autopoietischer Systeme, zumal N. Luhmann das traditionelle Verständnis des Menschen nicht nur modifiziert, sondern dem Menschen eine gänzlich neue Rolle zuweist.
a) Gesellschaftliche Entwicklung als Vorbedingung für ein neues Verständnis des Menschen Mit seinem umstrittenen neuen Verständnis des Menschen reagiert N. Luhmann auf den Übergang von segmentären und stratifizierten Gesellschaftsformen zu solchen, die durch eine funktionale Differenzierung charakterisiert sind3o . Die Bedeutung des damit verbundenen Paradigmenwechsels kann kaum überschätzt werden: Die mit der funktionalen Differenzierung einhergehende Ausbildung gesellschaftlicher Teilsysteme verhindert eine lineare, insbesondere hierarchische Ordnung. Das Verhältnis der einzelnen gesellschaftlichen Teilsysteme ist flexibel; die einzelnen Teilsysteme stehen in keiner Über-/Unterordnung. Die Führungsrolle eines Teilsystems ist jeweils situationsabhängig. Dementsprechend kann auch die Identi28 L. Kruse, in: E.-J. Lampe (Hrsg.), Persönlichkeit, Familie, Eigentum, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 12, 1987, S. 60 ff., 68 f. 29 Dazu z. B. L. Kruse, in: E.-J. Lampe (Hrsg.), Persönlichkeit, Familie, Eigentum, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 12, 1987, S. 60 ff., 62. 30 N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1, 1980, S. 25 ff.
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tät des einzelnen nicht mehr durch die Zugehörigkeit zu einer Schicht oder Gruppe bestimmt werden. Gefordert ist vielmehr die "Inklusion" aller in alle Funktionssysteme, d. h. jeder muß Zugang zu allen Teilsystemen erhalten können. Aus dieser allgemeinen Inklusion resultieren Freiheit und Gleichheit als Werte 31 . Da nämlich die Gesellschaft nichts anderes ist als die Gesamtheit ihrer internen SystemJUmwelt-Verhältnisse und nicht selbst in sich selbst nochmals vorkommen kann, bietet sie dem einzelnen keinen Ort mehr, wo er als "gesellschaftliches Wesen" existieren kann 32 . Damit entfällt die gesellschaftliche Vorprägung des Menschen zwar nicht insgesamt, sie wird aber nachhaltig modifiziert: Der einzelne muß nunmehr seinen "Standpunkt" in den jeweiligen gesellschaftlichen Teilsystemen selbst bestimmen. Hieraus resultiert der Wunsch und das Bedürfnis des einzelnen nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. b) Der Mensch als Umwelt sozialer Systeme Im Gegensatz zur humanistischen Tradition 33 , die den Menschen innerhalb der sozialen Systeme verortete und ihn als Individuum, als unteilbares Letztelement der Gesellschaft verstand, sieht N. Luhmann den Menschen als Teil der Umwelt der Gesellschaft 34 . Aufgegeben wird damit zum einen die aristotelische Vorstellung vom Ganzen und seinen Teilen und zum anderen die mit der bewußtseinsphilosophischen Interpretation der Welt verbundene subjektzentrierte Perspektive35 . Durch diese scharfe Differenzierung zwischen Individuum und Gesellschaft und der Zuordnung des Menschen zur Umwelt, nicht zur Gesellschaft, die teilweise zu Unrecht als "Antihumanismus" kritisiert wird36 , soll die Bedeutung des Menschen im Vergleich zum traditionellen Verständnis keineswegs reduziert werden. Die Zuordnung des Menschen zur Umwelt der Gesellschaft soll es vielmehr ermöglichen, den Menschen komplexer und unabhängiger als nach der überkommenen Sichtweise zu verstehen 37 . Hieraus einen "methodischen" oder "leidenschaftlichen Antihu31 Hierzu N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1, 1980, S. 31, von dem auch der Begriff "Inklusion" stammt. 32 N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, 1989, S. 158. 33 Bezeichnend z. B. die Formulierung von N. Luhmann (Soziale Systeme, 2. Auf!. 1988, S. 289): "Er [der Mensch] ist nicht mehr das Maß der Gesellschaft. Diese Idee des Humanismus kann nicht kontinuieren." 34 Vgl. Z. B. N. Luhmann, ZfS 6 (1977), 62 (65). 35 U. Di Fabio, Offener Diskurs und geschlossene Systeme, 1991, S. 115 f. 36 J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Modeme. Zwölf Vorlesungen, 3. Auf!. 1991, S. 436. - Vgl. auch A. Metzner, Das Argument 31 (1989), 871; T. Schöfthaler, Das Argument 27 (1985), 372 f. 37 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Auf!. 1988, S. 286 ff. sowie S. 155, 234, 244, 428; ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 2, 1981, S. 277; ders., in: ders.lSchorr (Hrsg.), Zwischen Intransparenz und Verstehen, 1986, S. 72 ff., 92.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
manismus" zu folgern, geht schon deshalb fehl, weil N. Luhmann mit seiner Theorie gerade auf die Einheit der Differenz aufbaut: Indem Gesellschaft ausgewählt und als System deklariert wird, wird zugleich die Umwelt und damit der Mensch konstituiert. Darüber hinaus kommt dem Menschen nach der Theorie von N. Luhmann auch deshalb eine zentrale Rolle zu, weil sich Kommunikation und damit die sozialen Systeme nur durch Bewußtsein reizen lassen 38 . Kommunikation ist daher zwar ohne Bewußtsein und ohne Leben ebensowenig möglich wie ohne eine Vielzahl natürlicher Umweltbedingungen - Kohlenstoff, gemäßigte Temperaturen, Erdmagnetismus, atomare Festigung der Materie etc. Alle diese Bedingungen können wegen der Komplexität der Welt nicht zugleich thematisiert werden 39 . Die aufgezählten vielfältigen Umweltdeterminanten haben - im Gegensatz zum Bewußtsein - keinen Einfluß auf Kommunikation, wenn sie nicht speziell wahrgenommen und zum Gegenstand der Kommunikation gemacht werden. Dem Bewußtsein, das allein Kommunikation reizen kann, kommt damit innerhalb dieser vielfältigen Umweltfaktoren auch nach dem Theorieverständnis von N. Luhmann eine Sonderrolle zu 40 . aa) "Interpenetration" bzw. "strukturelle Kopplung" zwischen Individuen und sozialen Systemen
Das Verhältnis von Menschen und sozialen Systemen wird durch "Interpenetration" bzw. "strukturelle Kopplung" charakterisiert. Eine direkte Einwirkung sozialer Systeme auf den Menschen scheidet aus. Der Mensch stellt nämlich eine Ansammlung einer Vielzahl autopoietischer Systeme dar, die ebenso wie die sozialen Systeme autopoietisch geschlossen sind. Insbesondere können das psychische System des Menschen und soziale Systeme wegen der strikten Differenzierung zwischen ihnen nicht direkt aufeinander einwirken. Das psychische System des Menschen organisiert sich ebenso wenig wie die sozialen Systeme auf der Grundlage von Materie; es ist ebenso wie diese ein sinnverarbeitendes System41 • Soziale Systeme reproduzieren sich durch Kommunikation, psychische Systeme hingegen durch Gedanken42 . "Interpenetration" meint hierbei, daß ein System seine eigene Komplexität zum Aufbau eines anderen Systems zur Verfügung stellt ("Penetration") und umgekehrt43 . Sowohl psychische als auch soziale Systeme gewinnen über Erwartungs38 N. Luhmann, in: GumbrechtJPfeiffer (Hrsg.), Materialität der Kommunikation, 1988, 884 ff., 893. 39 N. Luhmann, in: F. B. Simon (Hrsg.), Lebende Systeme, 1988, S. 10 ff., 1l. 40 N. Luhmann, in: GumbrechtJPfeiffer (Hrsg.), Materialität der Kommunikation, 1988, 884 ff., 893. 41 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 92. 42 N. Luhmann, Soziale Systeme. 2. Aufl. 1988, S. 356; ders., Soziale Welt 36 (1985), 402 (406 ff.); ders., in: F. B. Simon (Hrsg.), Lebende Systeme, 1988, S. 10 ff., 16 ff. 43 Vgl. hierzu sowie zu den Begriffen der "Penetration" und "Interpenetration" N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 289 ff.
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bildungen und deren Überprüfung Umweltbezug. Psychische und soziale Systeme bewirken wechselseitig Initationen, die wechselseitig zur Fortsetzung der Strukturbildung und zum Aufbau neuer Strukturen führen. Das Zusammenwirken von Individuum und Gesellschaft im Wege der Interpenetration ist möglich, weil sowohl psychische als auch soziale Systeme durch Sinn verwendung Komplexität reduzieren. Sinn prozessiert fortlaufend die Differenz von Aktualität und Möglichkeit und ist somit selbstreferentiell. Damit wird zugleich die überkommene Annahme, soziale Systeme würden die Menschen in einer Weise prägen, daß die individuelle Freiheit gefährdet ist, abgelehnt oder jedenfalls relativiert. Zwischen sozialen Systemen und den Menschen als psychischen Systemen ist nämlich keine unmittelbare Einwirkung, sondern nur eine Beeinflussung der Resonanz möglich. Die Vorgaben sozialer Systeme wirken für die Menschen nicht als Input. Die Menschen reagieren auf die Determinanten sozialer Systeme nur insoweit und insofern, als sie diese bei ihrer Selbstreproduktion als Initationen in ihrer Systemumwelt wahrnehmen44 . Umweltsensibilität eines Systems einerseits und Autonomisierung andererseits schließen sich dabei nicht nur nicht aus, sondern bedingen sich vielmehr wechselseitig. Die Geschlossenheit der basalen Selbstreproduktionsoperationen ermöglicht gerade die Offenheit des Systems gegenüber Umwelteinflüssen im übrigen45 . N. Luhmann kann damit die in der geschichtlichen Entwicklung bislang unauflösbare Frage, wie eine gleichzeitige Komplexitätssteigerung und Autonomiezunahme sowohl der Individuen als auch der Gesellschaft möglich ist, beantworten. Die Kontinuität sozialer Systeme bleibt nicht trotz, sondern vielmehr gerade wegen der zunehmenden Autonomie der Individuen bestehen46 .
bb) Entmachtung des Menschen als Subjekt des Sozialen
Die Theoriekonstruktion von N. Luhmann sieht den Menschen nicht als Subjekt des Sozialen. Die menschliche Erkenntnis, Existenz und das menschliche Leben sind in Strukturen eingebettet, die er zwar denken und beschreiben kann, deren Subjekt oder souveränes Bewußtsein er jedoch nicht ist. Dementsprechend versucht N. Luhmann den Zusammenhang von Kommunikation, Handlung und Reflexion aus der Subjekttheorie herauszulösen47 . Insbesondere hier divergiert die von N. Luhmann vertretene Auffassung mit deIjenigen von J. Habermas. Letzterer geht von einer konstitutiven Beziehung zwischen individuellen und intentionalen Handlungen und der Entwicklung sozialer Strukturen aus. J. Habermas zufolge bleibt "die Lebenswelt das Subsystem, das den Bestand des Gesellschaftssystems im
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N. U. U. N.
Luhmann, Ökologische Kommunikation, 3. Aufl. 1990, S. 40 ff. Di Fabio, Offener Diskurs und geschlossene Systeme, 1991, S. 123 ff. Di Fabio, Offener Diskurs und geschlossene Systeme, 1991, S. 118. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 234.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
Ganzen definiert. Daher bedürfen die systemischen Mechanismen einer Verankerung in der Lebenswelt,,48.
c) Der Mensch im Verständnis von N. Luhmann Nach dem Theorieverständnis von N. Luhmann stellt der Mensch keine Einheit, sondern eine Mischung voneinander unabhängiger autopoietischer Systeme dar. Zwar ist die autopoietische Reproduktion auch des Menschen auf eine ausreichende Homogenität der Systemoperationen angewiesen und definiert so die Einheit einer bestimmten Systemtypik49 . Eine Abhängigkeit in diesem Sinne zwischen biologischem und psychischem System führt nach der Theorie von N. Luhmann jedoch nur zur "Interpenetration", nicht aber zur Bildung einer neuen Einheit. Der Mensch erweist sich nach dieser Theoriebildung nur noch als Einheits- bzw. Rahmenbegriff für unübersehbare KomplexitätSo . Ihm kommt ausschließlich im Rahmen der Kommunikation und damit allein soziale Bedeutung zu. Prägnant formuliert N. Luhmann: "Worte wie Mensch, Seele, Person, Subjekt, Individuum sind nichts anderes als das, was sie in der Kommunikation bewirken. (... ) Die Einheit, die sie bezeichnen, verdankt sich der Kommunikation"sl.
d) "Person" statt "Individuum" Das geschilderte Verhältnis von Mensch und Gesellschaft wirkt sich auch begrifflich aus. Der ehedem zur Bezeichnung der gesellschaftlichen Vorgaben für den Menschen gebrauchte Begriff "Individuum" wird durch den Terminus "Person" abgelöst. "Personen" sind dabei weder psychische Systeme oder komplette Menschen52 , sondern - jede für sich genommen - ein Komplex von Erwartungen, die an einen Einzelmenschen gerichtet werden s3 . Personen sind damit zudem Strukturen der Autopoiesis sozialer Systeme.
48 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handeins, Bd. 2, 4. Aufl. 1987, S. 230 sowie S. 173 ff., 225 ff.; ders., Der philosophische Diskurs der Moderne, 3. Aufl. 1991, S. 412. 49 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 67 f. 50 N. Luhmann, Neue Sammlung 25 (1985), 33 (35). 51 N. Luhmann, in: GumbrechtlPfeiffer (Hrsg.), Materialität der Kommunikation, 1988, 884 ff., 901. 52 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 33. 53 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 286, 429.
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2. Die kommunikative Konstitution des Menschen
a) Die UnHihigkeit des Menschen zur Kommunikation Aus dem hier vertretenen Kommunikationsbegriff54 und dem soeben dargestellten Verständnis des Menschen folgt, daß nicht Individuen, sondern nur soziale Systeme kommunizieren können. Gleichwohl werden umgekehrt aber Menschen durch Kommunikation - d. h. durch die kommunikative Bündelung von Erwartungshaltungen - konstituiert. Wenn Kommunikation aus den drei Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen besteht, impliziert schon dies, daß Individuen nicht kommunizieren können. Diese drei Selektionen realisieren sich nämlich räumlich und zeitlich verteilt in der Welt und bedingen deshalb einen subjektfreien Kommunikationsbegriff55 . Darüber hinaus reproduzieren sich soziale Systeme durch Kommunikation, psychische Systeme hingegen durch Gedanken. Sprache ermöglicht zwar die Überführung kommunikativer Ereignisse ins Bewußtsein und unterstützt so die Strukturierung von Vorstellungen. Der Gedanken- bzw. Vorstellungsablauf beinhaltet indessen sehr viel mehr als rein sprachliche Sinnsequenzen56 .
b) Beziehungen zwischen psychischen Systemen Die Unfähigkeit des Menschen zur Kommunikation darf nicht dahin (miß-)gedeutet werden, daß psychische Systeme beziehungslos nebeneinander stünden. Psychische Systeme korrelieren ebenso untereinander wie mit sozialen Systemen. Während das Verhältnis zwischen psychischen und sozialen Systemen bereits als "Interpenetration" oder "strukturelle Koppelung" beschrieben wurde, beobachten psychische Systeme andere psychische Systeme als Operationen in der eigenen Umwelt. Die Beobachtung bleibt dabei jedoch ein nur interner Vorgang des beobachtenden Systems; er kann von außen nur angeregt, nicht aber beeinflußt werden. Die Beziehungen zwischen psychischen Systemen beschränken sich hier mithin auf die interne Verarbeitung äußerer Irritationen und führen zu keinem auf Übertragung oder Koordination gerichteten intersubjektiven Kontakt. Das beobachtete psychische System bleibt für das beobachtende eine "black box". Diese extrem instabile Ausgangslage drängt zur Suche nach Anschlußmöglichkeiten und zum Aufbau einer Ordnung. Hier bietet die Beobachtung anderer psychischer Systeme Anknüpfungspunkte für die weitere Kommunikation, obwohl zwischen den psychischen Systemen kein direkter Kontakt besteht. Die nicht erkennbaren internen Vorgänge des beobachteten psychischen Systems werden näm54 55
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Vgl. dazu bereits oben im Text sub § 4. C. P. Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, 1992, S. 26 ff. N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 367 ff.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
lich durch die Annahme kompensiert, die internen Vorgänge des beobachtenden und des beobachteten Systems seien ähnlich 57 .
c) Die Bedeutung von Individualität in der modemen Gesellschaft Dies darf jedoch - wie sich sogleich zeigen wird - nicht dahin mißverstanden werden, daß Individualität nicht oder nicht mehr erforderlich wäre. aa) Gesellschaft und Individualität
Der frühere Gegensatz zwischen Gesellschaft einerseits und Individuen andererseits hat sich zwar gewandelt. An seine Stelle trat die Integration, derzufolge sich die Gemeinschaft als übergreifende geistige Einheit im Erleben von Individuen darstellt. Integration wiederum setzt Kommunikation voraus, der Integrationsvorgang läßt sich als Generalisierung von Kommunikationen begreifen. Die Integration des Menschen in die Gemeinschaft und die damit verbundene Generalisierung von Kommunikation verändert Individualität zwar, ersetzt sie aber nicht. Die modeme ausdifferenzierte Gesellschaft weist dem Menschen eine Vielzahl sozialer Rollen zu, die er nur ausfüllen kann, wenn er sich in allen diesen Rollen als ein und dasselbe darstellen kann. Hierfür ist eine individuelle Persönlichkeit als generalisierendes System erforderlich 58 . Der Gegensatz von Individuen und Gemeinschaft ist heute abgelöst durch eine wechselseitige Abhängigkeit. Individualität ist nicht mehr nur für den einzelnen erforderlich; auf ihr fußt vielmehr auch die Konstitution der Gemeinschaft. Die Sozialordnung muß einerseits Verhaltenserwartungen bereitstellen, um dem einzelnen eine Selbstdarstellung zu ermöglichen. Selbstdarstellung setzt nämlich sozialen Kontakt und komplementäre Verhaltenserwartungen voraus 59 . Andererseits bewirken umgekehrt die Selbstdarstellungsmöglichkeiten eine fortschreitende Ausdifferenzierung der Gemeinschaft. bb) Staat und Individualität
Die wechselseitige Abhängigkeit von Individuen und Gesellschaft wird staatlicherseits übernommen. Die hierdurch entstehende Ausdifferenzierung der Gesellschaft ist Voraussetzung für den modemen Staat. Hierdurch werden dem Staat die für ihn erforderlichen Komplementärrollen zur Verfügung gestellt und eine Aufgabenteilung zwischen dem Staat einerseits und der Gesellschaft andererseits erst ermöglicht60 • 57 58 59
N. Luhmann, Soziale Welt 36 (1985), 402 (405). N. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 43 ff., insb. 48. N. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 84 ff.
§ 6 Die kommunikative Konstitution von Person und Sicherheit
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Menschen- und Staatsbild sind untrennbar; wie sich noch zeigen wird, spiegelt sich der Wandel vom Rechts- über den Sozial- zum Schutzstaat im Menschenbild wider. Wahrend der Rechtsstaat den Menschen als handelndes und handlungsfähiges Individuum versteht, basiert der Sozialstaat auf der Vorstellung der handlungsfähig zu machenden Person. Der heutige Schutzstaat sieht den Menschen demgegenüber als Objekt eines entgrenzten - weder auf die Bundesrepublik Deutschland noch zeitlich oder auf den Menschen als alleiniges Schutzobjekt begrenzten - Individuums 61 .
d) Inhaltliche Umschreibung von Individualität Individuum und Individualität bezeichnen dementsprechend - richtig verstanden und im Gegensatz zu historisch früheren Annahmen - keinen gegenständlichen Teil des Menschen, sondern mit dem Bewußtsein eine bestimmte Form menschlicher Selbstreferenz62 . Die substanzorientierte frühere Denkweise wird durch eine funktionsorientierte abgelöst63 . Dies erscheint schon deshalb gerechtfertigt, weil der Mensch als Organismus nur ein individuelles Objekt darstellt; eine darüber hinausgehende selbstbewußte Individualität kommt dem einzelnen nur zu, indem er sich als Interaktionspartner darstellt 64 . Individualität ist so betrachtet Autopoiesis des Bewußtseins, d. h. die zirkuläre Geschlossenheit der selbstreferentiellen Reproduktion von Vorstellung zu Vorstellung bzw. Gedanke zu Gedanke 65 . Den Menschen wird es - betrachtet man die historische Entwicklung -, nach und nach möglich, ihre Individualität ihrer Selbstbeschreibung zugrunde zu legen und so die eigene soziale Identität zu bestimmen66 • Der Mensch wird - anders ausgedrückt - die Persönlichkeit, als welche er sich darstellt67 . Selbstdarstellung ist nämlich der Vorgang, der den einzelnen in Kommunikation mit anderen zur Person werden läßt und ihn damit in seiner Menschlichkeit konstituiert. Dementsprechend gibt es innerhalb des Bewußtseins zwar interne Selbstbeschreibungen zur Reflexionsvereinfachung, nicht aber ein "zweites Ich", ein "Selbst" oder "me", das als dem Bewußtsein übergeordnete Instanz über die Annahme oder Ablehnung sprachlich vorgeformten Denkens entscheiden würde. N. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 94 ff. Vgl. H. A. Hesse, Der Schutzstaat, 1994, S. 19 ff. 62 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 348 f. 63 N. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 60. 64 N. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 61. 65 H. R. Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, 2. Aufl. 1985, S. 192. 66 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 360 f. 67 N. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 60. 60
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
Hieraus resultiert schließlich auch die Ablehnung zweier Identitäten, einer personalen und einer sozialen68 . Damit wird jedoch umgekehrt nicht geleugnet, daß der Mensch eine strukturell differenzierte Einheit ist. Festgestellt wird nur, daß der einzelne durch die Interaktion individualisiert und sozialisiert wird. Als Persönlichkeit gewinnt der Mensch seine Individualität nur durch die Reaktionen auf seine Selbstdarstellung im sozialen Verkehr69 . Persönlichkeitsbildung und Selbstdarstellung sind jedoch nicht nur gesellschaftlich bestimmt. Der sozialen Außenbestimmung entspricht vielmehr auch eine Innenbestimmung. Letztere ergibt sich aus der Tatsache, daß die menschliche Selbstdarstellung stets eine Selektion beinhaltet. Diese ist erforderlich, weil über den einzelnen immer mehr Informationen vorhanden sind, als er in seine Selbstdarstellung aufnehmen, integrieren und idealisieren kann. Dieses Mißverhältnis zwischen in die Selbstdarstellung aufnehmbaren und insgesamt verfügbaren Informationen wird durch die automatische Datenverarbeitung und die mit ihr verbundenen Speicherkapazitäten zusätzlich verschärft. H. A. Hesse weist hier auf ein Ineinanderfließen von Öffentlichkeit und Pri vatheit hin70. Die Selbstdarstellungsfähigkeit kann unter diesen Bedingungen nur erhalten werden, wenn Kommunikationsschranken, die die Intimsphäre schützen, errichtet werden. Als intim erweisen sich hierbei gerade die Informationen, die nicht öffentlich zugänglich gemacht werden können, ohne die öffentliche Selbstdarstellung zu beeinträchtigen71. Ein Ausblick auf die verfassungsrechtliche Umsetzung dieser multidisziplinären Erkenntnisse ergibt bereits an dieser Stelle, daß das Grundgesetz die Selbstdarstellung des einzelnen sowohl gegenüber den gesellschaftlichen Außenbeeinflussungen als auch gegenüber den sie beschränkenden Binnenbedingungen schützt: Die durch die Sozialordnung vermittelten Beschränkungen unterfallen dem Freiheitsschutz, der in den speziellen Grundrechten, jedenfalls aber durch Art. 2 I GG gewährleistet wird. Die inneren Vorgaben für die Selbstdarstellung sichert die von Art. I I GG geschützte menschliche Würde 72. Die zunehmende Komplexität der Individuen einerseits und der Gesellschaft andererseits bedingen sich hierbei wechselseitig. Eine einfache Gesellschaftsordnung wäre durch ein hohes Maß an Individualität des einzelnen überfordert. Umgekehrt setzt eine sehr komplexe Sozialordnung auch eine entsprechende Komplexität des einzelnen voraus 73.
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73
N. N. H. N. N. N.
Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 367 ff., 372 ff. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 61 f. m. Fußn. 24. A. Hesse, Der Schutzstaat, 1994, S. 25 f. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 67. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 77. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 49 f., 55.
§ 6 Die kommunikative Konstitution von Person und Sicherheit
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In hochkomplexen Gesellschaften muß der in einfachen Sozialordnungen durch diese vermittelte Außenhalt durch eine stärkere individuelle Selbstbewußtheit ersetzt werden. Gleichzeitig ist eine Entpersönlichung des Alltagsverhaltens zu beobachten. Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß Individualität sowohl kulturbildend als auch kulturgeprägt, sowohl kontakt- und konsensbedürftig als auch kontakt- und konsensbildend sowie organisationsabhängig und organisationsbildend ist74 .
v. Manipulationsfreie Fremddarstellung statt manipulierte Selbstdarstellung
Die kommunikative Konstitution der Person führt zu einem Perspektivenwechsel: Die bislang allgemein- und rechtswissenschaftlieh im Zentrum stehende individuelle informationelle Selbstdarstellung verliert als Ziel an Bedeutung. Der einzelne hat nicht mehr ohne weiteres das Recht, sich nach eigenem Gutdünken in verschiedenen Situationen als jeweils anderer und ohne Anknüpfung an seine Vergangenheit darzustellen. Die Person hat vielmehr umgekehrt einen Anspruch gegen die Gemeinschaft auf korrekte Fremddarstellung in der Kommunikation. Eine Beeinträchtigung des Individuums liegt nämlich weniger dann vor, wenn die Selbstdarstellung des einzelnen in einer konkreten Situation - etwa im Beruf durch (korrekte) Informationen aus einem anderen Bereich der Person - etwa aus dem Privatleben - gestört wird oder die aktuelle Selbstdarstellung - etwa bei der Bewerbung als Hausmeister in einem Kindergarten - durch (richtige) Informationen aus der Vergangenheit - etwa über frühere Verurteilungen wegen Sexualdelikten an Kindern, auch wenn die diesbezüglichen Strafen bereits verbüßt sind - gestört wird. Eine derart manipulierte Selbstdarstellung des einzelnen bedarf grundsätzlich keines oder eines allenfalls geringen Schutzes. Der einzelne kann hier nur insoweit Schutz verlangen, als die Gemeinschaft keine oder im Vergleich mit den Belangen des einzelnen geringere Interessen an einer korrekten, manipulationsfreien Selbstdarstellung des Individuums hat. Dabei dürfen Kenntnisse über eine Person - frühere Verurteilung wegen Sexualdelikten an Kindern - hier ebensowenig mit deren Bewertung gleichgesetzt werden wie die durch die Informationstechnik eröffneten Mißbrauchsmöglichkeiten mit einem tatsächlichen Mißbrauch auf eine Stufe gestellt werden dürfen. Die Gefahr einer Diskriminierung wegen einer bereits abgeurteilten Straftat, trotz Verbüßung der hierfür ausgesprochenen Strafe und nach Ablauf der Löschungsfrist im Bundeszentralregister, beruht nicht auf der Kenntnis von der früheren Straffalligkeit, sondern allein auf deren Bewertung. Nicht das Wissen um die Straftat, sondern die 74
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
auf Grund dieses Wissens gezogenen Konsequenzen gefährden die Selbstdarstellung. Es ist deshalb ausreichend, zunächst negative Schlußfolgerungen wegen früherer, bereits geahndeter Straftaten zu verbieten. Damit muß nicht zugleich auch das Wissen von der Tat verboten und vernichtet werden; dies insbesondere auch deshalb nicht, weil Fallkonstellationen denkbar sind, in denen eine Nutzung dieser Informationen trotz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung des früheren Straftäters möglich und nötig ist, weil diese Rechtsposition in der Abwägung mit gegenläufigen Belangen zurücktreten muß. Dies kann z. B. der Fall sein, wenn dem früheren Straftäter neben weiteren Stellen, u. a. die eines Hausmeisters in einem Kindergarten, angeboten wird. Vornehmlich schutzbedürftig ist das Individuum überdies und demgegenüber nicht, wenn seine Selbstdarstellung beeinträchtigt wird, sondern im umgekehrten Fall, nämlich gegenüber einer manipulierten Fremddarstellung. Ein berechtigtes Interesse der Gemeinschaft, den einzelnen in der Kommunikation zu seinem Nachteil manipuliert und damit falsch darzustellen - etwa erfundene moralische Verfehlungen eines Politikers zu verbreiten -, ist prinzipiell nicht erkennbar. Die in der tagespolitischen ebenso wie in der allgemein- und rechtswissenschaftlichen Diskussion vorherrschende fälschlich höhere bzw. gleiche Gewichtung des Rechts auf eine manipulierte Selbstdarstellung im Verhältnis zu demjenigen auf eine manipulationsfreie Fremddarstellung beruht nach hiesiger Auffassung auf einem Mißverständnis von Ursache und Wirkung. Die - auch einer manipulierten Selbstdarstellung beigemessene hohe Bedeutung soll den einzelnen vor (unberechtigten) Diskriminierungen der Gemeinschaft - der wegen Sexualdelikten an Kindern verurteilte wird etwa wegen dieser Taten nach der Verbüßung der hierfür verhängten Strafe auch von einem Seniorenheim nicht als Hausmeister eingestellt schützen. Die zahlreichen Verfechter eines absoluten oder weit reichenden Rechts auf eine manipulierte Selbstdarstellung verwechseln dabei die Information mit deren Bewertung durch die Gemeinschaft. Nicht die Information - etwa der Bewerber wurde wegen Sexualdelikten an Kindern verurteilt und hat die Strafe verbüßt -, sondern die Reaktion der Gemeinschaft hierauf, gefährden die Resozialisierung des Täters. Abgesehen davon, daß statt an die unmittelbare an eine allenfalls mittelbare Ursache angeknüpft wird, fällt auf, daß dem einzelnen eine höhere Rationalität zugesprochen wird als der Gemeinschaft. Der einzelne - so wird implizit unterstellt - verhält sich bei seiner Selbstdarstellung gemeinschaftskonform oder jedenfalls -neutral; die Gemeinschaft verhält sich dagegen dem einzelnen gegenüber (unberechtigt) feindlich. Sie wird dem einzelnen keine Chance zur Resozialisierung einräumen. Die Berechtigung einerseits dieses Vertrauens in den einzelnen und andererseits dieses Mißtrauens gegenüber der Gemeinschaft darf mindestens angezweifelt werden. Korrekterweise wird weder die manipulationsfreie Fremddarstellung noch die auch manipulierte Selbstdarstellung, sondern allgemein eine manipulationsfreie Kommunikation zu fordern sein.
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B. Die kommunikative Konstitution von Sicherheit und Gefahr Neben der Information als einem Element des hier zu untersuchenden Begriffs Informationsvorsorge kann auch das Objekt der Informationsvorsorge - die Gefahr, das Risiko, die Unsicherheit, die Sicherheit oder wie immer man das Ziel der Informationsvorsorge umschreiben will - zu dessen näherer inhaltlicher Klärung führen. Dabei sind zunächst die Begriffe "Gefahr", "Risiko", "Unsicherheit" und ,,sicherheit" einer näheren Untersuchung zu unterziehen; insbesondere sind die Gemeinsamkeiten dieser Begriffe herauszuarbeiten. Hier wird sich im folgenden zeigen, daß auch Sicherheit und Unsicherheit bzw. Gefahr und Risiko kommunikativ konstituiert sind.
I. Gemeinsamkeiten von Sicherheit, Unsicherheit, Gefahr und Risiko Entgegen der verbreiteten - wie sich erweisen wird - fälschlichen Annahme, Sicherheit sei das Gegenteil von Risiko und Gefahr, sind Sicherheit und Unsicherheit, Gefahr und Risiko durch mehrere, weitreichende Gemeinsamkeiten charakterisiert. 1. Sicherheit, Unsicherheit, Gefahr und Risiko Ergebnisse eines Kommunikationsprozesses, keine objektiven Kategorien
Gefahr, Risiko, Unsicherheit und Sicherheit stellen keine objektiven Kategorien dar. Sicherheit75 - in objektivem Sinne - gibt es ebensowenig wie Risiko und Gefahr oder Unsicherheit. Die Anwendung ,,riskanter Techniken", wie z. B. die Nutzung der Kernenergie, läßt etwa einerseits mit der atomaren Verseuchung großer Teile der Erde gravierendste Nachteile für die Menschheit in den Bereich des Möglichen rücken; sie ist insofern "gefährlich", "riskant" und "unsicher". Andererseits führt der vielfach propagierte Ausstieg aus der Kernenergie nicht zu Sicherheit, sondern birgt vielmehr ebenfalls Gefahren, Risiken und Unsicherheit. Mit ihm sind nämlich andersartige Nachteile verbunden: Die Nutzung fossiler Brennstoffe anstelle der Kernkraft kann z. B. nachhaltige und schädliche klimatische Veränderungen zur Folge haben. Damit gewährleisten weder die Nutzung der Kernenergie noch ein Ausstieg aus ihr Sicherheit in dem Sinne, daß künftige Nachteile ausgeschlossen sind. Weder 75 Auf die Vieldeutigkeit des Sicherheitsbegriffs weist U. K. Preuß, in: D. Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 523, 526 f. hin.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
die Nutzung noch der Ausstieg aus der Kernenergie können eindeutig als Gefahr oder Risiko qualifiziert werden. Unsicherheit, Sicherheit, Gefahr und Risiko knüpfen bei näherer Betrachtung nicht an bestimmte Sachbedingungen an, sondern stellen vielmehr Fiktionen dar. Sicher, unsicher, gefährlich, riskant ist, was in der zwischenmenschlichen Kommunikation als sicher, unsicher, gefährlich, riskant behandelt wird76 . Sicherheit besteht ebensowenig wie Unsicherheit, Gefahr ebensowenig wie Risiko. Sicherheit und Unsicherheit, Gefahr und Risiko vermitteln sich vielmehr in vielschichtigen gesellschaftlichen Interaktions- und Interpretationsprozessen 77. Diese zunächst überraschende Feststellung erscheint, in größerem Zusammenhang betrachtet, selbstverständlich: Die Welt war und ist durch ein Übermaß an Komplexität gekennzeichnet. Eine Erklärung der Welt und der Rolle der Menschen in ihr erfordern notwendigerweise eine Reduktion dieser Komplexität. Im Gegensatz zu früheren Zeiten ist es uns heute fremd geworden, eine übermenschliche, absolute, göttliche Erklärung für die Welt und die Rolle der Menschen in ihr zu geben. Die Welt wird nicht mehr für vorgegeben gehalten, sondern erscheint durch den Menschen "machbar" und gestaltbar. Voraussetzung für die Gestaltung und "Machbarkeit" der Welt aber ist Kommunikation. Risiko, Gefahr, Unsicherheit und Sicherheit können folglich nicht mehr als Ausfluß einer unabänderlichen anthropologischen Bestimmung der Existenz verstanden werden. Sie erweisen sich vielmehr als gesellschaftliche Konstruktionen von Wirklichkeit 78. Sicherheit und Unsicherheit sind damit ebenso subjektiv determinierte Begriffe wie Gefahr oder Risiko. Die Akteure des diese Begriffe vermittelnden Kommunikationsprozesses sind nämlich in ihrem Verständnis dessen, was Sicherheit ist und in der Wahrnehmung von Unsicherheit, Gefahr und Risiko subjektiv und situativ höchst unterschiedlich strukturiert79.
2. Sicherheit, Unsicherheit, Gefahr und Risiko als vergegenwärtigte Zukunft
Sicherheit, Unsicherheit, Gefahr und Risiko gleichen sich zudem insofern, als sie auf etwaige zukünftige Schäden abstellen, deren Eintritt gegenwärtig unsicher und mehr oder weniger wahrscheinlich ist8o . Sicherheit, Unsicherheit, Gefahr und 76 N. Luhmann, in: ders., Soziologische Aufklärung 5, 1990, S. 131 ff., 134. Ähnlich schon die Sophisten der griechischen Antike, vgl. hierzu näher unten im Text sub § 8. B. 11.
I.
77 Siehe hierzu sowie zum folgenden aus jüngerer Zeit die Beiträge in G. Banse (Hrsg.), Risikoforschung zwischen Disziplinarität und Interdisziplinarität, 1996, die ebenfalls einen Wandel von der Illusion der Sicherheit zum Umgang mit Unsicherheit sehen. 78 F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge, 1991, S.51. 79 F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge, 1991, S.54.
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Risiko sind damit Instrumente, um Zukunft zu vergegenwärtigenSI. Eben dieser Vergegenwärtigung von Zukunft kommt bei der Beurteilung der Bedeutung von Gefahr und Risiko sowie Sicherheit oder Unsicherheit zentrale Bedeutung zu. Gefahr, Risiko, Unsicherheit und Sicherheit schaffen damit nämlich erst die Voraussetzung, um über die Zukunft entscheiden zu können. Sie binden die Zukunft und machen sie von der Gegenwart aus beherrschbar und entscheidbar82 . Anders ausgedrückt stellt Sicherheit die "Vernichtung der Zeitlichkeit der Zukunft"s3 dar. Umgekehrt sind aber auch Sicherheit, Unsicherheit, Gefahr und Risiko zeitlich gebunden: Was heute als riskant oder gefährlich erscheint, kann morgen als sicher gelten. Dies erscheint insofern selbstverständlich, als Sicherheit, Unsicherheit, Gefahr und Risiko kommunikativ vermittelte gesellschaftliche Konstruktionen von Wirklichkeit, nicht aber absolute sachliche Vorgaben sind. Die Qualifizierungen Risiko, Gefahr, Unsicherheit und Sicherheit können mithin nur jeweils auf eine bestimmte Gegenwart bezogen werden. Sie sind nicht nur an ein bestimmtes Objekt, sondern auch an eine bestimmte Zeitphase gebunden s4 . Dementsprechend kennt jede Epoche für sie spezifische Verunsicherungen und prägt hierfür jeweils eigene Bewältigungsstrategien aus S5 . Bestes Beispiel hierfür ist die gewandelte Einstellung der Gesellschaft gegenüber dem technischen Fortschritt: Während man zunächst mehrheitlich darauf vertraute, daß schädliche Auswirkungen moderner Technik durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt in der Zukunft kompensiert werden würden, hat sich diese Einschätzung in der jüngeren Vergangenheit gewandelt. Nunmehr werden die gegenwärtig erkennbaren negativen Folgen des technischen Fortschritts weitaus kritischer beurteilt. Die Bedeutung der "Vernichtung der Zeitlichkeit der Zukunft" kann kaum überschätzt werden, zumal Wirklichkeit und Gegenwart untrennbar verbunden sind. Vergangenheit und Zukunft sind nämlich keine Wirklichkeit, sondern Möglichkeitshorizonte, die in der Gegenwart kausal passend, zeitlich aufeinander bezogen werden. Jedes Ereignis transferiert eine Gegenwart in eine neue S6 . Nicht nur Sicherheit, Unsicherheit, Gefahr und Risiko, sondern die soziale Zeit selbst ist damit eine subjektive, bewußtseinsabhängige Interpretation der Realität 87 •
H. A. Hesse, Der Schutzstaat, 1994, S. 12. U. K. Preuß, in: D. Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 523 ff., 534. 82 U. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 55. 83 F.-X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Auf!. 1973, S. 157. 84 G. Bechmann, KritV 1991,212 (214). 85 Evers/Nowotny, Über den Umgang mit Unsicherheit, 1987, S. 64 f. 86 P. Hiller, Der Zeitkonflikt in der Risikogesellschaft, 1993, S. 31 ff. 87 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Auf!. 1988, S. 116. 80 81
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
3. Die Ausprägung von Sicherheit, Unsicherheit, Risiko und Gefahr durch Kommunikation
Die herausgearbeitete Subjekt-, Objekt- und Zeitbindung von Sicherheit, Unsicherheit, Gefahr und Risiko ermöglicht eine nähere Untersuchung über das Zustandekommen dieser Kategorien. Dieser dreifachen Bindung der Begriffe Sicherheit, Unsicherheit, Gefahr und Risiko entspricht ihre Wandelbarkeit und das Erfordernis, sie jeweils neu zu konstituieren bzw. ihren früher gefundenen Inhalt zu bestätigen. Aufgeworfen wird damit auch die Frage, wie die Gesellschaft angesichts neuer und sich wandelnder Gefährdungspotentiale, die in den Begriffen Sicherheit, Unsicherheit, Gefahr und Risiko Ausdruck finden, ihre Handlungsfähigkeit behalten und die Gestaltbarkeit der Zukunft durch sie sicherstellen kann. Neue Gefährdungspotentiale gestalten nämlich nicht nur die Gesellschaft selbst um, sondern machen darüber hinaus eine Bestätigung oder Neubestimmung der jeweiligen Art der gesellschaftlichen Selbstinterpretation und damit der Begriffe Sicherheit, Unsicherheit, Gefahr und Risiko erforderlich 88. Sicherheit, Unsicherheit, Gefahr und Risiko werden allgemein nur in einem kulturell und sozial strukturierten, also selektiven Prozeß wahrgenomrnen 89 . Entscheidend ist dabei die Bestimmung der Selektionskriterien bzw. die Klärung, wie sie sich ausbilden. Das Abstellen auf Organisationsformen ist hierbei nur ein erster Schritt, weil zum einen offenbleibt, nach welchen Gesichtspunkten sich diese bilden und verändern 90 . Darüber hinaus und zum anderen wird "Sicherheit" auch, aber nicht nur in Institutionen - wie z. B. Polizei, Militär, staatliche Sozialversicherung, private Versicherungen - ausgeprägt. Daneben existiert vielmehr eine Vielzahl sicherheitsrelevanter sozialer Beziehungen verschiedenster Art, wie z. B. die Familien 91 . Institutionell wird "Sicherheit" insbesondere durch Monopole, Märkte und Verträge geschaffen. Allgemein werden hierbei Bedrohungen sozialisiert, d. h. sie werden aus dem individuellen Bereich heraus- und in den kollektiven hineingenommen. Tatsächlich erweist sich das Wissen der Gesellschaft in der jeweiligen Situation als entscheidender Selektionsfaktor. Eben deshalb bewirkt der durch die Technik vermittelte Vertrauensverlust in die Objektivität des Wissens und die Geschichte als sozialer Fortschrittsgeschichte eine nachhaltige Verunsicherung, da hierdurch die letzten für absolut gehaltenen Sicherheiten, das Wissen und der Fortschritt, relativiert werden 92 . Dabei ist das "gesicherte" Wissen angesichts veränderter und kaum überschätzbarer neuer Gefährdungspotentiale nicht ausreichend. Vielmehr 88 89
90 91 92
EverslNowotny, EverslNowotny, EverslNowotny, EverslNowotny, EverslNowotny,
Über den Umgang mit Unsicherheit, Über den Umgang mit Unsicherheit, Über den Umgang mit Unsicherheit, Über den Umgang mit Unsicherheit, Über den Umgang mit Unsicherheit,
1987, S. 1987, S. 1987, S. 1987, S. 1987, S.
18 ff. 64. 26 ff. 59 f. 66.
§ 6 Die kommunikative Konstitution von Person und Sicherheit
287
muß auch der Bereich in geeigneter Weise strukturiert werden, den die Wissenschaft nicht erfaßt. Dies ist nur möglich, indem über die traditionellen und fortbestehenden Sicherungen hinaus ein Orientierungs wissen neu erworben wird, das aus der kooperativen Praxis mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen entstehen muß 93 . Sicherheit, Unsicherheit, Gefahr und Risiko machen Zukunft verfügbar und transferieren damit Zukunft in modernem Sinn in Zukunft in vorneuzeitlichem Sinn. Früher wurde Zukunft nämlich räumlich als das auf einen Zukommende verstanden. Dies drückt sich auch in den Begriffen "Gegenwart" und "Vergangenheit" aus, die dem räumlichen Wahrnehmungs- und Vorstellungsbereich entnommen sind94 . Nach heutigem Verständnis ist die Zukunft hingegen zeitlich zu denken. Sie erweist sich daher ebenso als wandelbar wie der in ihr stehende Mensch. Zukunft im heutigen Sinne vennag daher im Gegensatz zu dem früheren Verständnis von Zukunft keine "Sicherheit" mehr zu vermitteln. Zukunft erweist sich heute als ebenso unbeständig wie die Rolle des Menschen in ihr. Wenn die Bindung der Zukunft über die Begriffe Sicherheit, Unsicherheit, Gefahr und Risiko zugleich jeweils eine Neubestimmung der Rolle des Menschen darstellt, so müssen diese Kategorien kommunikativ bestimmt werden. Dies gilt umso mehr, als Sicherheiten nie intendiert und geplant oder das Ergebnis von bewußten Handlungsentwürfen waren, sondern vielmehr ungeplante kumulative Resultate des Zusammenwirkens vieler Einzelentscheidungen von Menschen sind95 . Die kommunikative Konstitution von Sicherheit läßt sich prägnant illustrieren, wenn man sich vor Augen führt, daß eine bloße Möglichkeit, wenn sie als Wirklichkeit aufgefaßt wird, jedenfalls in ihren Folgen realisiert wird und so eine neue Wirklichkeit entsteht96 . Entgegen der Ansicht von H. A. Hesse ist Sicherheit deshalb aber nicht konturenlos. Daß in der "Risiko-Gesellschaft" - wie H. A. Hesse fonnuliert - "alles und jedes zum Lebensführungs-Risiko werden kann", stellt kein durchgreifendes Gegenargument dar. Da es nämlich keine objektive Sicherheit gibt, ist Sicherheit eben das, was die Gesellschaft als solche kommunikativ konstituiert 97 . 4. Paradigmenwechsel von Gefahr, Risiko, Unsicherheit und Sicherheit
Die modeme "Risikogesellschaft,,98 führte zu einem Paradigmen wechsel von Gefahr, Risiko, Sicherheit und Unsicherheit. Während sich Gefahr, Risiko, SicherEverslNowotny, Über den Umgang mit Unsicherheit, 1987, S. 30. E-X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Auf). 1973, S. 160. 95 EverslNowotny, Über den Umgang mit Unsicherheit, 1987, S. 68. 96 H. A. Hesse, Der Schutzstaat, 1994, S. 14. 97 H. A. Hesse, Der Schutzstaat, 1994, S. 18. 98 Dazu z. B. U. Beck, Risikogesellschaft, 1986. 93
94
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
heit und Unsicherheit früher auf die Verteilung des von der Gesellschaft produzierten Reichtums bezogen, orientieren sie sich nunmehr an der Verteilung der mit der gesellschaftlichen Produktion von Reichtum einhergehenden Risiken. Die Begriffe Gefahr, Risiko, Sicherheit und Unsicherheit erhalten damit einen grundlegend anderen Gehalt und erfordern mithin eine Neubestimmung, zumal Risiken als neuer Bezugsrahmen sich teilweise diametral von Reichtümern als bisherigem Paradigma unterscheiden. Gefahren und Risiken sind im Gegensatz zu Reichtümern nicht immer "greifbar", sie bedürfen vielmehr der Vermittlung durch die Wissenschaft und stehen damit sozialen Definitionsprozessen offen. Damit verbunden ist eine Aufwertung, teilweise Überbewertung der Wissenschaft und des Wissens um Risiken. Risiken und Gefahren schaffen überdies soziale Gefährdungslagen, die sich anders als unter dem bisherigen Paradigma des Reichtums nicht auf einzelne Klassen oder Schichten der Gesellschaft beschränken, sondern die Gesellschaft insgesamt, auch die Verursacher der Gefahren und Risiken treffen 99 .
11. Sicherheit und Unsicherheit
Nachdem bereits festgestellt wurde, daß es Sicherheit in objektivem, vom einzelnen unabhängigen Sinne nicht gibt, Sicherheit vielmehr immer kommunikativ vermittelt und damit subjektiv bestimmt ist, herrscht Sicherheit nur dort, wo man sich des zuverlässigen Schutzes seiner Unversehrtheit gewiß und deshalb von Sorge befreit sein kann 100.
1. Sicherheit und Unsicherheit als komplexe Vorstellungen
Dabei bezieht sich Sicherheit nicht nur auf Personen und deren Verhältnisse oder das Verhältnis zwischen Sachen und Personen, sondern vielmehr auf die kollektiven Verhältnisse insgesamt. Sicherheit erweist sich damit nicht nur als Zustand des Geschütztseins, sondern vielmehr als komplexe Vorstellung lO1 • Institutionalisierte Sicherheitskomplexe stehen dabei in einem komplexen Wechselverhältnis zu gemeinschaftsbezogenen Sicherheitsgaranten und individuell erworbenen Kompetenzen, die sich im einzelnen nur schwer erfassen lassen lO2 •
U. Beck, Risikogesellschaft, 1986, S. 29 ff. F.-X. Kaufmann, in: Bayerische Rückversicherung AG (Hrsg.), Gesellschaft und Unsicherheit, 1987, S. 37 ff., 38. 101 F.-X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Aufl. 1973, S. 55 ff. 102 EverslNowotny, Über den Umgang mit Unsicherheit, 1987, S. 61. 99
100
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Zur näheren Klärung, unter welchen Bedingungen Sicherheit - im subjektiven Sinne - vorliegt, kann weiter zwischen äußerer und innerer Sicherheit differenziert werden. Erstere meint hierbei den Schutz vor Schaden, letztere die Freiheit von Angst und Furcht lO3 • Beide, die innere und die äußere Sicherheit hängen wechselseitig voneinander ab: Innere Unsicherheit kann zu einem verstärkten Streben nach einer Kompensation durch äußere Sicherheit führen; umgekehrt kann äußere Unsicherheit durch innere Sicherheit absorbiert werden. Sicherheit kann daher heute weder einseitig als bloße Gefahrsteuerung noch als Herstellung. des seelischen Gleichgewichts verstanden werden lO4 .
2. Äußere und innere Sicherheit bzw. Unsicherheit
Diese komplizierte Abhängigkeit von innerer und äußerer Sicherheit erklärt, daß eine erhöhte äußere Sicherheit nicht notwendig zu einer Steigerung der inneren Sicherheit führt. Anders ausgedrückt korreliert das Gefühl von Sicherheit oder Unsicherheit - die innere Sicherheit - nicht notwendigerweise mit der äußeren Sicherheit - dem bestehenden Schutz vor Schaden 105. Im Hinblick auf dieses Sicherheitsparadoxon erscheint es auch verständlich, daß heute ein Defizit an Sicherheit reklamiert wird, obwohl frühere Zeiten weitaus schadensträchtiger waren und der einzelne Mensch weitaus gefährdeter war lO6 . Subjektive Verunsicherung trotz objektiv gestiegener Sicherheit kann auf dem heute erreichten hohen Wohlstandsniveau, der Aufsplitterung des Sicherheitsdenkens nach Wegfall der zentralen Existenzbedrohung und auf den ihrerseits nur relative Sicherheit vermittelnden Sicherungen beruhen lO7 • Ursächlich für das Sicherheitsparadoxon ist insbesondere, daß die Qualitäten Sicherheit, Unsicherheit, Gefahr und Risiko nicht nur der Absicherung dienen, sondern zugleich soziale Identitäten und Erwartungshaltungen mitformen, die durch überraschende Abweichungen enttäuscht werden. Die damit verbundene Anzweifelung der sozialen Identität ist ursächlich für das Sicherheitsparadoxon. Dies gilt für die kollektive Identität ebenso wie für die individuelle lO8 • Die mögliche Diskrepanz zwischen innerer und äußerer Sicherheit trägt auch zur Klärung der Frage bei, warum Sicherheit erst verhältnismäßig spät, in der deutschen wissenschaftlichen Literatur erst seit etwa 1950, thematisiert wird. Vordergründig erscheint es nämlich als unverständlich und paradox, daß das Streben nach 103 F.-X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Auf!. 1973, S. 10. 104 Zum Sicherheitsgefühl vgl. U. Dörmann, Wie sicher fühlen sich die Deutschen?, 1996. Zur Diskrepanz von objektiver Sicherheitslage und subjektivem Sicherheitsgefühl vgl. auch R. Wassermann, Aus Politik und Zeitgeschichte B 23/95, S. 3 ff., 5. 105 Ähnlich U. K. Preuß, in: D. Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 523 ff., 531 f. 106 Evers/Nowotny, Über den Umgang mit Unsicherheit, 1987, S. 61. 107 G. Wersig, Fokus Mensch, 1993, S. 64. 108 Evers/Nowotny, Über den Umgang mit Unsicherheit, 1987, S. 61.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
Sicherheit einerseits allgemein erst im 20. Jahrhundert als menschliche Eigenschaft diskutiert wird, andererseits aber ein universales menschliches Attribut darstellt, dem immer und überall menschliche Verhaltensweisen zugeordnet werden können 109 . 3. Unsicherheit als Folge von Orientierungsverlust und gestiegener Komplexität der Welt
In den fraglichen Zeitraum, das 20. Jahrhundert, fällt jedoch nicht nur eine durch den technischen Fortschritt nachhaltig gestiegene Komplexität der Welt, die die äußere Sicherheit reduziert, sondern überdies auch die Abwendung von der Vorstellung einer durch Gott als einem absoluten Wesen beherrschten Welt 11 0. Letzteres führt zu einer Verringerung der inneren Sicherheit, aus der zusammen mit der defizitären äußeren Sicherheit allgemeine Unsicherheit resultiert. Unsicherheit erweist sich damit als Verlust von Orientierung und Ordnung. Das Streben nach Sicherheit ist damit umgekehrt dem Streben nach Orientierung und Ordnung oder nach einer Reduktion der Komplexität der Welt gleichzusetzen 111. Allgemeiner ausgedrückt ist das Streben nach Sicherheit Ausfluß einer Mangellage ll2 . Wenngleich das Defizit an Sicherheit erst im 20. Jahrhundert besondere Beachtung fand, darf indessen nicht verkannt werden, daß die Menschheit auch schon früher durch ein Streben nach Sicherheit gekennzeichnet war. Als frühe, teilweise noch heute gebräuchliche Formen zur Herstellung von Sicherheit können das Gelübde, der Vertrag, die Bürgschaft, das Faustpfand und die dinglichen Rechte gelten. Darüber hinaus wurde die Relativierung der Religion durch Macht und Recht als neue Sicherheitsgaranten kompensiert lI3 . 4. Vorbedingungen von Sicherheit
Aus der Erkenntnis, daß Sicherheit Orientierung und Ordnung sowie eine Reduktion der Komplexität der Welt voraussetzt, lassen sich weitere allgemeine Anforderungen zur Herstellung von Sicherheit ableiten. Die hohe Komplexität der Welt schließt es insbesondere aus, Sicherheit durch eine starre Ordnung oder Orientierung zu schaffen. Erforderlich ist vielmehr eine offene, wandlungsfähige, elastische, mit vielen inneren Reserven ausgestattete Ordnung oder Orientierung ll4 . Sicherheit dient zudem der Stabilisierung und Perpetuierung von Gegen109 E-X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und 1973, S. 10 ff. 110 U. K. Preuß, in: D. Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, III E-X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und 1973, S. 19 ff. 112 E-X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und 1973, S. 24 ff. 113 U. K. Preuß, in: D. Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben,
sozialpolitisches Problem, 2. Auf!. 1994, S. 523 ff., 524. sozialpolitisches Problem, 2. Auf!. sozialpolitisches Problem, 2. Auf!. 1994, S. 523 ff., 524 ff.
§ 6 Die kommunikative Konstitution von Person und Sicherheit
291
seitigkeitsverhältnissen. Unter diesem Vorzeichen ist auch die geschichtliche Entwicklung zu sehen: Zunächst wurden Gegenseitigkeitsverhältnisse durch den Tauschhandel stabilisiert. Die bereits angesprochenen Sicherheiten - Gelübde, Vertrag, Bürgschaft, Faustpfand und dingliche Rechte - gewährleisteten eine hinreichende Stabilisierung unter Aufgabe des Zug-um-Zug-Prinzips. Die Sicherheit erforderte wiederum die Erzwingbarkeit der gewährten Sicherheiten 115. 5. Die Reflexivität von Sicherheit
Damit richtet sich der Blick wieder auf den Charakter der Sicherheit als komplexer Vorstellung, auf den schon hingewiesen wurde. Dieser findet insofern seine Bestätigung, als Sicherheit reflexiv wirkt, indem sie auf die Sicherung VOn Sicherheit abzielt. Die Reflexivität der Sicherheit wird schon durch die erwähnten frühen Formen zur Gewährleistung von Sicherheit - Gelübde, Vertrag, Bürgschaft, Faustpfand und dingliche Rechte - bestätigt. Bei diesen garantierte der Staat nämlich, daß die durch die Bürger eingegangenen derartigen Verpflichtungen auch erfüllt wurden 116 • 6. Sicherheit als gesellschaftlicher Wert
Insgesamt kommt der "Sicherheit" heute die Rolle eines gesellschaftlichen Wertes zu ll7 . 111. Gefahr und Risiko
Die Soziologie 118 kennt ebensowenig wie das Recht einen einheitlichen Risikobegriff. Dabei erweisen sich die soziologischen Risikobegriffe generell als umfassender als die juristischen. EverslNowotny nehmen eine zur rechtlichen Terminologie nahezu diametral gegensätzliche Begriffsbildung vor, indem sie eine bloße, noch nicht konkretisierte, ungewisse, unbestimmte Schadensmöglichkeit als Gefahr, einen absehbaren Schadenseintritt hingegen als Risiko bezeichnen 119 • N. Luhmann betont demgegenüber 114 F.-X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Auf!. 1973, S. 26. 115 F.-X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Auf!. 1973, S. 77. 116 F.-X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Auf!. 1973, S. 56 ff. ll7 F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge, 1991, S. 53 ff.; F.-X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Auf!. 1973, S. 28 ff. 11S U. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 54 m.w.N. 119 EversINowotny, Über den Umgang mit Unsicherheit, 1987, S. 34.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
die mit der Unterscheidung von Gefahr und Risiko verbundene Zurechnung von Schäden. Der mit den Begriffen des Risikos und der Gefahr sowie der Vergegenwärtigung der Zukunft eröffnete Entscheidungsspielraum macht den Entscheidungsträger zugleich für die getroffene bzw. nicht getroffene Entscheidung verantwortlich. Der Eintritt bzw. das Ausbleiben eines Schadens werden dem Entscheidungsträger zugerechnet. Eben hierin unterscheiden sich Gefahr und Risiko: Bei Gefahren wird der Schadenseintritt der Umwelt zugerechnet, bei Risiken wird er hingegen als Folge des eigenen Handeins oder Unterlassens verstanden 120. Risiko setzt mithin eine Entscheidungsmöglichkeit voraus; Gefahr bedeutet hingegen das Fehlen einer Entscheidungsmöglichkeit. Teilweise wird neben der Unterscheidung zwischen Risiko und Gefahr innerhalb der letzteren weiter zwischen Belastung einerseits und Gefahr andererseits differenziert. Der Gefahrbegriff bezeichnet danach nur die nicht entscheidungsbedingte Betroffenheit durch negative Ereignisse; die negative Betroffenheit durch eine fremde Entscheidung wird als Belastung definiert. Darüber hinaus werden für die Betroffenheit durch positive Ereignisse entsprechende Gegenbegriffe gebildet: Dem Risiko als negativer Betroffenheit durch eigene Entscheidung entspricht die Chance, der Belastung die Begünstigung und der Gefahr die Gelegenheit l21 . Entscheidung kommt so neben der bereits dargestellten informationstheoretischen Relevanz l22 auch im Hinblick auf die gesellschaftliche Risikosteuerung eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu: Entscheidung kann zwar Unsicherheit nicht in Sicherheit verwandeln; Entscheidungen steigern vielmehr umgekehrt die Unsicherheit, da sie zum einen auf bestimmten Erwartungen beruhen und zum anderen Handlungsmöglichkeiten einschränken. Die Entscheidung markiert aber den Übergang von Gefahr bzw. Belastung zu Risiko. Durch Entscheidung wird Unsicherheit zurechenbar. Dabei ist jede Entscheidung riskant und kann Risiken nicht abbauen. Risiko thematisiert Zukunft als Verunsicherungsproblem und verengt das Handlungsspektrum durch das Festlegen von Optionen 123 • Sowohl Gefahr als auch Risiko stellen eine auf eine bestimmte Entscheidung bezogene Relation von Chancen und Verlusten dar; im Zentrum dieser Begriffe stehen mithin nicht nur mögliche Schäden, sondern auch die diesen gegenüber stehenden Nutzen. Sowohl Evers/Nowotnyl24 als auch N. Luhmann l25 gehen davon aus, daß Handlungs- und Kausalitätszusammenhänge in der Risikogesellschaft kaum mehr überblickbar sind. N. Luhmann erkennt hierbei eine Tendenz, den Staat als stellvertretenden Verantwortlichen heranzuziehen. N. Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, 2. Auf!. 1989, S. 269. P. Hiller, Der Zeitkonflikt in der Risikogesellschaft, 1993, S. 15 ff. 122 Siehe hierzu oben im Text sub § 5. B. IV. 4. 123 P. Hiller, Der Zeitkonflikt in der Risikogesellschaft, 1993, S. 10 f. 124 EverslNowotny, Über den Umgang mit Unsicherheit, 1987, S. 86. 125 N. Luhmann, Soziologie des Risikos, 1991, S. 35, demzufolge sich der Unterschied zwischen Risiko und Gefahr zunehmend egalisiert. 120 121
§ 6 Die kommunikative Konstitution von Person und Sicherheit
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IV. Verhältnis von GefahrlRisiko und SicherheitlUnsicherheit Gefahr und Risiko als Voraussetzung von Sicherheit und Unsicherheit
Die bereits angeführten Gemeinsamkeiten zwischen Gefahr und Risiko einerseits sowie Sicherheit und Unsicherheit andererseits beschreiben das Verhältnis dieser Begriffspaare nur unvollständig. Insbesondere war offen geblieben, ob die beiden Begriffspaare Gegensätze darstellen oder wie sie sonst voneinander abhängen. Bei näherer Betrachtung erhellt sich, daß Gefahr und Risiko, Sicherheit bzw. Unsicherheit überhaupt erst ermöglichen. Wenn Gefahr und Risiko ebenso wie Sicherheit und Unsicherheit - wie gezeigt 126 - Zukunft vergegenwärtigen, so muß diese strukturiert werden. Gefahr und Risiko verwandeln hierbei Unsicherheit nicht in Sicherheit; sie erweisen sich nur als Strukturelemente oder Maßstäbe für die Sicherheit oder Unsicherheit einer Entwicklung. Indem sie den Ablauf eines Geschehens von einer bekannten Ursache bis zu einem möglichen, zukünftigen Schaden vorzeichnen, binden sie Zukunft und schaffen die Voraussetzungen, um den Schadenseintritt gegenwärtig und in einer zukünftigen Gegenwart als wahrscheinlich bzw. unwahrscheinlich einzustufen. Gefahr und Risiko stellen damit Erwartungen dar, wie sich die Zukunft gestalten wird. Der vergleichsweise geringe Aussagegehalt der Begriffe Risiko und Gefahr, der sich hier als Feststellung, daß aus einer Ursache ein Schaden entstehen kann, umschreiben läßt, stellt dabei keinen Nachteil dar. Zwar wird durch diese Unbestimmtheit der Begriffe Gefahr und Risiko die Zukunft nur wenig konturiert. Unsicherheit wird nicht in Sicherheit transformiert. Vielmehr wird Unsicherheit nur durch relative Sicherheit ersetzt. Eben hierin liegt aber andererseits auch ein Vorteil: Gefahr und Risiko können gerade wegen ihrer geringen Bestimmtheit Zukunft weiträumig binden und abarbeiten. Je unbestimmter nämlich eine Erwartung ist, desto wahrscheinlicher ist ihre Realisierung. Die trotz der Einführung von Gefahr und Risiko als Strukturelemente verbleibende Unsicherheit, insbesondere die Beantwortung der Frage, ob überhaupt eine Gefahr oder ein Risiko vorliegen und bejahendenfalls die Entscheidung zwischen Gefahr und Risiko kann durch Erwartungen nicht umgesetzt werden. Sie muß durch eine Entscheidung abgearbeitet werden. Je bestimmter die durch die Begriffe Risiko und Gefahr ausgedrückten Erwartungen sind, desto unwahrscheinlicher ist ihre Realisierung und desto mehr Unsicherheit muß im Wege der Entscheidung umgesetzt werden l27 .
126 127
Vgl. oben im Text sub § 6. B.1. 2. N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Auf!. 1988, S. 417 ff.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
v. Risiko, Gefahr, Sicherheit und Unsicherheit als Steuerungsmedien der modernen Gesellschaft - Zusammenfassung
Risiko, Gefahr, Sicherheit und Unsicherheit erweisen sich damit insgesamt als zentrale Steuerungsmedien für die modeme Gesellschaft. Die Begriffe Risiko, Gefahr, Sicherheit und Unsicherheit machen zum einen die durch den technischen Fortschritt bereits heute eröffneten unzähligen Entscheidungsmöglichkeiten kalkulierbar. Darüber hinaus sind sie auch geeignet, zukünftige Entwicklungen aufzunehmen und die getroffene bzw. nicht getroffene Entscheidung anhand der zukünftigen Entwicklung zu überprüfen. Entgegen einer nahe liegenden Vermutung sind Gefahr und Risiko einerseits und Sicherheit andererseits keine Gegenbegriffe in dem Sinne, daß die Abwesenheit von Gefahr und Risiko Sicherheit bedeutet. Vielmehr erweist sich die Gefahr als das Gegenteil des Risikos und umgekehrt. Kommunikativ vermittelte Sicherheit stellt sich damit als subjektiv determinierter Begriff dar, weil die Akteure des Kommunikationsprozesses wiederum in ihrem Verständnis dessen, was Sicherheit ist, und in der Wahrnehmung von Unsicherheit subjektiv und situativ höchst unterschiedlich strukturiert sind 128. Sicherheit herrscht mithin dort, wo man sich des zuverlässigen Schutzes seiner Unversehrtheit gewiß und deshalb von Sorge befreit sein kann 129. Umgekehrt kann eine Gefahr oder ein Risiko nicht voraussetzen, daß die jeweilige Situation objektiv unsicher ist. Unsicherheit besteht vielmehr schon dann, wenn eine Konstellation subjektiv als unsicher empfunden wird. Gefahr und Risiko knüpfen damit nicht an eine objektive Gefährdung an, sondern können schon aus der Ungewißheit der Wahrnehmung oder der Orientierung sowie aus einem Gefühl oder einem Bewußtsein der Unsicherheit resultieren 130. Hieraus erklärt sich auch, daß die modemen, dem Schutz des Menschen dienenden Techniken keineswegs zu mehr Sicherheit geführt haben. Die mit ihnen verbundene, nachhaltig gesteigerte Komplexität der Welt, führt vielmehr zu einer zunehmenden Unsicherheit, die ihrerseits aus dem mit der steigenden Komplexität einhergehenden Orientierungs verlust der Menschen resultiert. Sicherheit kann damit als Bestehen von Ordnung, Unsicherheit dagegen als Verlust von Ordnung verstanden werden 13l • Im historischen Rückblick verschiebt sich die Grenze zwischen Gefahr und Risiko zunehmend zu Gunsten des Risikos und zu Lasten der Gefahr. Während in frü128
E Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge, 1991,
S.54. 129 E-X. Kaufmann, in: Bayerische Rückversicherung AG (Hrsg.), Gesellschaft und Unsicherheit, 1987, S. 37 ff., 38. 130 E-X. Kaufmann, in: Bayerische Rückversicherung AG (Hrsg.), Gesellschaft und Unsicherheit, 1987, S. 37 ff., 38. I3I E-X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Aufl. 1973,S. 19ff.
§ 6 Die kommunikative Konstitution von Person und Sicherheit
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heren Zeiten zahlreiche Phänomene nicht verstanden wurden und auf überirdische - göttliche - Erklärungen zurückgegriffen wurde, stellt sich die Welt heute als weithin durch den Menschen kontrollierbar dar. Ursächlich für diesen Wandel ist das gestiegene Wissen der Menschheit. Die Abgrenzung zwischen Gefahr und Risiko ist mithin nicht nur zeit-, sondern auch wissensabhängig. Daraus kann mittelbar eine Obliegenheit zur Wissenserhebung und -speicherung abgeleitet werden. Ein eingetretener Schaden kann nämlich dann nicht mehr externalisiert, der Umwelt zugerechnet und als Gefahr qualifiziert werden, wenn die Internalisierung und Zurechnung zu einem gesellschaftlichen Entscheidungsträger nur deshalb an dessen unzureichendem Wissen scheitert, weil Wissen bewußt nicht gebildet bzw. Informationen bewußt nicht erhoben oder gespeichert wurden. Die Zurechnung verlagert sich in solchen Fällen auf die bewußte Unterdrückung von Informationen bzw. Wissen vor und knüpft an diese an. Risiko erweist sich damit insgesamt als ein zentrales Steuerungsmedium für die modeme Gesellschaft. Der Begriff des Risikos macht zum einen die durch den technischen Fortschritt bereits heute eröffneten unzähligen Entscheidungsmöglichkeiten kalkulierbar. Darüber hinaus ist er auch geeignet, zukünftige Entwicklungen aufzunehmen und die getroffene bzw. nicht getroffene Entscheidung anhand der zukünftigen Entwicklung zu überprüfen. Wenn man sich erst einmal entschlossen hat, ein gewisses Risiko einzugehen, kann eben dieses Risiko als Maßstab für die zukünftige Entwicklung gewählt werden. Anhand dieses Maßstabs kann beurteilt werden, ob eine getroffene Entscheidung weiterhin aufrecht erhalten werden kann oder abgeändert werden muß. Risiko und Gefahr, Sicherheit und Unsicherheit markieren mithin Erwartungen und bieten so einen Maßstab für die Gesellschaftssteuerung. Ob die Rechtswissenschaft den vorausgehenden allgemeineren Überlegungen hinreichend Rechnung trägt, erscheint zweifelhaft. Von Juristen wird vielfach zwischen Gefahr und Risiko nur ein quantitativer Unterschied gesehen. Gefahr bezeichnet danach einen Zustand, in dem der Eintritt eines Schadens wahrscheinlich ist; ein Risiko liegt demgegenüber vor, wenn der Schadenseintritt nicht auszuschließen ist. Gefahr und Risiko differieren mithin quantitativ im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts. Aus dieser Sichtweise des Verhältnisses von Risiko und Gefahr resultieren die vielfältigen, nahezu unlösbaren Abgrenzungsprobleme zwischen diesen beiden Kategorien 132. Die naturgemäß im Zentrum dieser Arbeit stehenden juristischen Begriffe Gefahr und Risiko werden im einzelnen noch in anderem Zusammenhang dargestellt 133.
132 Vgl. hierzu z. B. M. Kloepfer, Chancen und Risiko als rechtliche Dimension, in: Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts Bd. 5,1988, S. 31 ff. I33 Vgl. hierzu unten im Text sub § 11. D. 1.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
§ 7 "Informationskultur" als Grundlage einer "Informationsordnung" - Schlußfolgerung Einerseits haben sich, faßt man die Ergebnisse der vorausgehenden Paragraphen zusammen, alle für die polizeiliche Informationsvorsorge paradigmatischen Begriffe - Kommunikation als Zugang zur Wirklichkeit ebenso wie Information und Wissen; die Konstitution der Person ebenso wie Sicherheit/Unsicherheit und GefahrIRisiko - als relativ und gesellschaftlich bestimmt erwiesen. Andererseits können diese Grundkategorien nicht in jeder Kommunikation von Grund auf neu bestimmt werden. Dies würde eine erfolgreiche Kommunikation unmöglich machen. Das damit angedeutete Dilemma wird kulturell gelöst l . Die auszudifferenzierende "Informationskultur" manifestiert sich in den gesellschaftsspezifischen Formen der Beschaffung, Verarbeitung und Weiterleitung von Informationen. Damit ist auch, aber nicht zentral die Bedeutung von Information als Kulturgut angesprochen, die durch die Fortentwicklung vom gesprochenen Wort über die Schrift und die Buchdruckerkunst zur jetzigen Computertechnik einem kaum überschätzbaren Wandel unterliegt2 . "Informationskultur" ist dabei vielmehr und vorrangig das implizite Bewußtsein einer Gesellschaft, das Aussagen über ihr typisches Informationsverhalten macht 3 . Die "Informationskultur" fungiert hierbei als Bindeglied zwischen den durch die Gesellschaft kommunikativ gefundenen sozialen Gepflogenheiten - insbesondere dem Verständnis dessen, was eine Person und was Sicherheit ist - und der rechtlichen Informationsordnung 4 . Die kommunikativ gefundene "Informationskultur" und die rechtliche Informationsordnung ergänzen sich gegenseitig5 und sind wechselseitig voneinander abhängig: Zum einen geht die rechtliche Informationsordnung aus der "Informationskultur" hervor6 ; zum anderen bestimmt die "Informationskultur" den Vollzug der Informationsordnung 7 • I Zu Wirklichkeitskonstruktion und Kultur siehe aus jüngerer Zeit S. J. Schmidt, in: Tausst KollbeckIMönikes (Hrsg.), Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft, 1996, S. 183 ff., 188 ff. 2 Siehe dazu z. B. U. Sieber, NJW 1989,2569 (2570). 3 Vgl. dazu schon J. Aulehner, DÖV 1994,853 (859). 4 PitschastAulehner, NJW 1989, 2353 (2355); ScholzlPitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, S. 64 f. 5 R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 368. 6 Zu den kulturellen Vorgaben der Verfassungsinterpretation siehe insb. P. Häberie, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982, S. 27 ff. 7 Zum Verhältnis von Informationskultur und Informationsordnung wie hier schon R. Pitschas, in: Hoffmann-RiernlSchmidt-AßmannlSchuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 219 ff., 250 ff. - Allgemein und ausführlich zum Verhältnis von Recht und Kultur namentlich P. Häberie, Europäische Rechtskultur, 1994, S. 16 ff.; vgl. hierzu darüber hinaus den Literaturbericht von E. Hilgendorf, ARSP 81 (1995),573 ff. - Speziell für die Verwaltungskultur F. Thedieck, Verwaltungskultur in Frankreich und Deutschland, 1992, S. 12 und D. Czybulka, JZ 1996,596 ff.
§ 7 "Informationskultur" und "Informationsordnung"
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A. Der Kulturbegriff Das Wort "Kultur"s ist aus dem lateinischen "colere" hervorgegangen, das mit "bebauen, bewohnen, pflegen, ehren" übersetzt werden kann. Der Kulturbegriff wurde in diesem Sinn zur Bezeichnung der Gesamtheit aller menschlichen Errungenschaften und Orientierungen, die das bloße Naturwesen des Menschen ausweiten und transzendieren 9 . Inhaltlich ist Kultur daher als Medium zwischen Mensch und Natur zu verorten. Sie wird als kognitives System der Information und Kommunikation, das Sinnentwürfe und Weltbilder liefert, gedeutet lO • Heute bezeichnet der Begriff der "Kultur oder Zivilisation" nach der deskriptiven Definition von E. R. Tylor ,jenes komplexe Ganze, das Kenntnis, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitten und andere Fähigkeiten und Gewohnheiten, die sich der Mensch als Mitglied der Gesellschaft erworben hat, einschließt"ll - kurz zusammengefaßt und verallgemeinert: die Gesamtheit der geistigen und künstlerischen Lebensäußerungen einer Gemeinschaft 12. In formaler Hinsicht stellt sich unter Zugrundelegung der Theorie autopoietischer Systeme von N. Luhmann auch die Kultur als ein autonomes System dar. Kultur organisiert sich - folgt man diesem Verständnis - selbst. Das Verhältnis des Menschen zur Kultur entspricht demjenigen des Menschen zur Kommunikation: Menschen sind zwar auch für die Existenz und das Funktionieren des kulturellen Prozesses, nicht aber für seinen Wandel erforderlich 13.
B. Aufgaben und Funktion von Kultur eine Grobskizzierung Kultur trägt zur Lösung einiger der durch gruppenmäßiges Zusammenleben entstehenden Probleme bei: Kultur regelt das Zusammenleben, stellt ein gemeinsames Wirklichkeitsmodell zur Verfügung und programmiert und überwacht Problemlösungen l4 . V gl. dazu ausführlich P. Häberle, Europäische Rechtskultur, 1994, S. 17. B. Krewer, Kulturelle Identität und menschliche Selbsterforschung, 1992, S. 182 f. Ausführlich zum Kulturbegriff und seine Entwicklung F. H. Tenbruck, in: H. Haferkamp (Hrsg.), Sozialstruktur und Kultur, 1990, S. 20 ff. 10 S. J. Schmidt, Kognitive Autonomie und soziale Orientierung, 1994, S. 216. 11 P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982, S. 10. 12 Zum Kulturbegriff und speziell zur Verwaltungskultur nach Max Weber und W. Thieme siehe auch E. Dollenbacher, in: R. Pitschas (Hrsg.), Politik und Recht der inneren Sicherheit in Mittel- und Osteuropa, 1996, S. 343 ff., 345 f. 13 S. J. Schmidt, Kognitive Autonomie und soziale Orientierung, 1994, S. 209. 14 S. J. Schmidt, Kognitive Autonomie und soziale Orientierung, 1994, S. 228 f. 8 9
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
Kultur gewährleistet einen Vorrat möglicher Themen, die für eine rasche und rasch verständliche Aufnahme in konkreten kommunikativen Prozessen bereitstehen 15. Kultur stellt sich dabei als ein System gemeinsamen Wissens und gemeinsamer Sinnkonstruktionen dar, mit deren Hilfe die Menschen ihre Wirklichkeit interpretieren. Dieses kulturelle Wirklichkeitsmodell ist die Vorbedingung für soziales Handeln; es gibt sozialen Handlungen durch die Bereitstellung von Erwartungserwartungen Orientierung und reduziert Kontingenz. Kultur ist damit eine besondere Form von Gedächtnis: Sie entsteht im Gegensatz zum Gedächtnis in biologischem und psychischem Sinn nicht im, sondern zwischen den Menschen. Kultur gewährleistet Kontinuität und Koordination durch ihren Charakter als Programm im Sinne einer begrenzten Menge von Verhaltensregeln, die auf eine unbegrenzte Menge von Situationen anwendbar sind. Koordinierend wirkt Kultur dabei indem sie Gegenwart und die jeweilige Zukunft und Vergangenheit synchronisiert l6 . Kontinuität gewährleistet Kultur durch Speicherung und Wiederherstellung von bereits Vergangenern. Dem Menschen kommt dabei eine Doppelrolle zu: Er ist einerseits Schöpfer der Kultur, umgekehrt aber gerade auch Produkt einer spezifischen Kultur.
C. Versuche zur Strukturierung von Kultur Die zunehmende Komplexität unserer Gegenwart führt zur Ausprägung nicht nur einer einheitlichen und umfassenden Kultur, sondern zur Ausdifferenzierung von Subkulturen I? und zur Herausbildung von Strukturmerkmalen der Kultur. Dementsprechend werden insbesondere und zum einen "Hochkultur, Volkskultur, Subkultur, Kastenkultur, parasitische Kultur u.ä. mehr" unterschieden; zum anderen wird Kultur historisch, normativ, psychologisch, strukturalistisch, genetisch, traditional, innovativ oder pluralistisch betrachtet l8 .
I. Kulturelle Strukturmerkmale
Innerhalb des an sich konturlosen Begriffs der Kultur können verschiedene Ebenen unterschieden werden: Äußerlich am deutlichsten erkennbar sind dabei kultuN. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 224 f. N. Luhmann, in: HabermaslLuhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung?, 1985, S. 25 ff., 54 f. 17 Zur Ausdifferenzierung der Kultur als Programm in Subkulturen und Subprogramme vgl. S. J. Schmidt, in: Merten/SchmidtlWeischenberg (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Medien, 1994, S. 592 ff., 601. 18 P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982, S. 10 ff. 15
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§ 7 "Infonnationskultur" und "Informationsordnung"
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relle Manifestationen unterschiedlichster Art, z. B. Gebäude, Institutionen, Rituale, Slogans etc. Auf einer darunter situierten Ebene liegen die das gesellschaftliche Informationsverhalten steuernden Werte. Darunter wiederum sind die kaum noch in Frage gestellten kulturellen Grundannahmen zu verorten.
11. "Subjektive" und "objektive" Kultur Die Unterscheidung zwischen" "subjektiver" und "objektiver" Kultur thematisiert den eingangs für das Verhältnis von "Informationskultur" und rechtlicher Informationsordnung bereits angedeuteten Zusammenhang zwischen den subjektiven Werten einerseits und ihren objektiven Erscheinungsformen andererseits 19. Je nachdem, ob die objektiven Ausprägungen der Kultur miteinbezogen werden oder nur deren subjektive Aspekte erfaßt werden sollen, kann auch von Kultur i.w.S. und Kultur i.e.S. gesprochen werden.
111. Verwaltungs- und Rechtskultur Der Begriff der Verwaltungskultur wurde aus demjenigen der Unternehmenskultur abgeleitet. Als Unternehmenskultur wird die "corporate identity" eines Unternehmens bezeichnet2o • Verwaltungskultur21 kann die in einer Gesellschaft vorhandenen Orientierungen gegenüber der öffentlichen Verwaltung, die in einer bestimmten oder in der Verwaltung insgesamt vorhandenen Orientierungen oder neben den Einstellungen und Werten auch Verhaltensmuster und Institutionen bezeichnen22 • Die ersten beiden Eingrenzungsversuche entsprechen dabei der soeben angesprochenen "subjektiven" oder Kultur i.e.S., die letztere Definition der "objektiven" oder Kultur i.w.S. Die Kultur i.e.S. thematisiert mentale Programme - d. h. Meinungen, Einstellungen und Werte - sowohl über, als auch in gesellschaftlichen Subsystemen. Die Kultur i.w.S. bezieht demgegenüber auch das individuelle Verhalten, Strukturen und Funktionen gesellschaftlicher Subsysteme, gesellschaftliche Rollen, Prozesse 19 W. Jann, Staatliche Programme und "Verwaltungskultur", 1983, S. 19; F. Thedieck, Verwaltungskultur in Frankreich und Deutschland, 1992, S. 48, dem die Unterscheidung zwischen "subjektiver" und "objektiver" Kultur im Ergebnis aber "gekünstelt" erscheint. 20 F. Thedieck, Verwaltungskultur in Frankreich und Deutschland, 1992, S. 12,42 ff. 21 Zur Verwaltungskultur insb. im Verhältnis zur Verfassungskultur vgl. P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982, S. 20 m. Fußn. 25 sowie zusammenfassend E. Dollenbacher in: R. Pitschas (Hrsg.), Politik und Recht der inneren Sicherheit in Mittel- und Osteuropa, 1996, S. 343 ff., 345 ff. 22 W. Jann, Staatliche Programme und "Verwaltungskultur", 1983, S. 23. Ihm folgend F. Thedieck, Verwaltungskultur in Frankreich und Deutschland, 1992, S. 51 f.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
und Institutionen mit ein 23 . Die Verwaltungskultur wird zuvörderst durch die Rechtskultur geprägt, aber auch durch Nonnen, Wertvorstellungen und Denkhaltungen gebildet und durch die unterschiedlichen Nationalkulturen, die sozio-ökonomischen Verhältnisse und durch das politische System bestimmt24 • Das Verhältnis von Verwaltungs- und Rechtskultur ist strukturgleich zu der Beziehung zwischen Verwaltung und Recht: Die Verwaltungskultur wird stark durch die Rechtskultur geprägt, die als die Gesamtheit der Werte und Einstellungen zum Recht definiert werden kann 25 . Bei der rasant fortschreitenden Europäisierung und Globalisierung der Polizei müssen daher nicht nur verschiedene Rechtskulturen 26 , sondern auch und insbesondere unterschiedliche Verwaltungskulturen in den einzelnen Staaten integriert werden. Hieraus resultieren kaum überschätzbare Probleme, da sich die Verwaltungskultur nur zu einem sehr kleinen Teil manifestiert. Eigentlich bestimmend ist die Kernkultur, die unsichtbar, un- und unterbewußt Handlungsmuster, Denk- und Gefühlsmuster sowie Werte, Nonnen und Einstellungen vorhält27 . Darüber hinaus sieht sich eine übernationale Polizei einer kulturell verschiedenen Kriminalität gegenüber28 .
D. Kultur, Kommunikation, Information, Technik, Wissen, Individuum - Zusammenhänge Kommunikation, Infonnation, Technik, Wissen und Individuum einerseits und Kultur andererseits sind wechselseitig voneinander abhängig. Kommunikation, Infonnation, Technik, Wissen und Individuum bilden die Kultur und sind umgekehrt kulturbestimmt. Die Bedeutung namentlich von Kommunikation und Infonnation beschränkt sich dabei keinesfalls auf die "Infonnationskultur"; Infonnation und W. Jann, Staatliche Programme und "Verwaltungskuitur", 1983, S. 25. Prägnante und aktuelle Darstellung der Rechts- und Verwaltungskultur bei U. Koch in: R. Pitschas (Hrsg.), Politik und Recht der inneren Sicherheit in Mittel- und Osteuropa, 1996, S. 323 ff., 326 ff. 25 Vgl. dazu wiederum U. Koch in: R. Pitschas (Hrsg.), Politik und Recht der inneren Sicherheit in Mittel- und Osteuropa, 1996, S. 323 ff., 326 ff. 26 Allgemein dazu und zur Erkennbarkeit einer gemeineuropäischen Verfassungs- und Wenegemeinschaft P. Häberle, AöR 117 (1992), 169 ff.; ders., EuGRZ 1992,429 ff.; ders., EuGRZ 1991,261 ff. 27 Vgl. dazu E. Dollenbacher, in: R. Pitschas (Hrsg.), Politik und Recht der inneren Sicherheit in Mittel- und Osteuropa, 1996, S. 343 ff., 357 ff., der die Verwaltungskuitur als Eisberg darstellt, bei dem der ganz überwiegende Teil unter der Oberfläche ist. 28 Ausführlich zu den interkulturellen Aspekten einer polizeilichen Zusammenarbeit in Europa R. Pitschas, in: ders. (Hrsg.), Politik und Recht der inneren Sicherheit in Mittel- und Osteuropa, 1996, S. 1 ff., 9 ff. 23
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§ 7 "Infonnationskultur" und "Infonnationsordnung"
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Kommunikation sind vielmehr entscheidende Aspekte des allgemeinen, nicht näher spezifizierten Kulturbegriffs: Kultur allgemein wird teilweise (A. Etzioni) als sich ständig wandelndes, der Umweltanpassung und -kontrolle dienendes Informations- und Kommunikationssystem verstanden 29 . Andere (l. R. Benninger) führen die Entstehung kultureller Programmierung auf die aus der reziproken und reflexiven Kommunikation resultierende zunehmende Notwendigkeit zurück, ständig steigende soziale, das Zusammenleben betreffende Informationen zu verarbeiten 30. Kultur und Kommunikation hängen insofern voneinander ab, als Kultur die Kommunikation durch die Zurverfügungstellung gemeinsamen Wissens koordiniert 3l und für Kontinuität sorgt. Darüber hinaus drückt sich Kultur in den Formen und Ordnungen der Kommunikation aus, die ihrerseits in Ausdrucksformen und Themen soziales und individuelles Leben prägt32 . Das entsprechende Wechselverhältnis zwischen Kultur und Wissen kann kaum treffender umschrieben werden als mit der Feststellung: "Wissenschaft und Forschung wurden so Grundlage und zentraler Ausdruck unserer Kultur,,33 sowie mit der Charakterisierung von "Kultur als kollektivem Wissen,,34.
E. Informationsordnung und "Informationskultur" Während bislang vornehmlich die Kultur allgemein erörtert wurde, ist im folgenden auf die hier interessierende "Subkultur" - die "Informationskultur" - näher einzugehen. Die "Informationskultur" als Grundlage einer Informationsordnung kann nur mit Hilfe der bereits gefundenen Verständnisse von Kommunikation, Information, Technik, Wissen und Individuum näher konturiert werden. Die soziale Einschätzung dieser Schlüsselbegriffe ist konstituierend für die "Informationskultur". Kommunikation als Zugang des Menschen zur Wirklichkeit postuliert die Informations- und Kommunikationsfreiheit, d. h. den freien Informationsfluß als Grundsatz. Dieser ist umso wichtiger, als die auf der Grundlage von Informationen erstellten Wirklichkeitsmodelle eine Gesellschaftssteuerung über Erwartungen ermöglichen. Einschränkungen des Informationsflusses und der Informationsverar29 S. J. Schmidt, Kognitive Autonomie und soziale Orientierung, 1994, S. 211 f. 30
S. J. Schmidt, Kognitive Autonomie und soziale Orientierung, 1994, S. 225.
3l S. J. Schmidt, in: MertenlSchmidtlWeischenberg (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Medien,
1994, S. 592 ff., 600 f. 32 S. J. Schmidt, Kognitive Autonomie und soziale Orientierung, 1994, S. 208. 33 1. Leitvorstellung im VII. Bundesforschungsbericht der BReg. vom 30. 5.1984. 34 S. J. Schmidt, Kognitive Autonomie und soziale Orientierung, 1994, S. 202 f., 236 ff. m.w.N.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
beitung führen zur Fehlerhaftigkeit der menschlichen Wirklichkeits vorstellungen und damit zur Fehlsteuerung. Darüber hinaus sind sowohl Entscheidungen als auch Organisationen informationsabhängig. Informationsdefizite und Kommunikationsunterbrechungen wirken überdies nicht nur momentan und punktuell, sondern dauerhaft und umfassend. Information und Kommunikation bilden nämlich Wissen, das seinerseits über die Bewertung weiterer Informationen entscheidet. Die durch den technischen Fortschritt rasant ansteigende Wissensfülle macht den Zugang des Individuums zum gesellschaftlichen Wissen umso dringlicher. Der Schutz des Individuums spricht dabei nur scheinbar gegen eine freie Information und Kommunikation. Der einzelne hat einen Anspruch auf korrekte Fremddarstellung, nicht aber auf eine manipulierte Selbstdarstellung in der Kommunikation. Das Postulat der grundsätzlich freien Information und Kommunikation wird schließlich auch durch die kommunikative Konstitution von Sicherheit und Unsicherheit, Gefahr und Risiko bestätigt. Andererseits ist Information kontextabhängig; werden Daten in einen neuen Zusammenhang gestellt, verändert sich der Informationsinhalt. Hieraus resultiert eine Manipulationsmöglichkeit und -gefahr. Der deshalb häufig in den Vordergrund gestellte und als Informations- und Kommunikationsschranke ausgestaltete Datenschutz erweist sich aber als nur ein Aspekt eines weit umfassenderen Gesamtproblems. Die Maßnahmen der Informationssystemgestaltung dürfen sich nicht auf den Datenschutz beschränken. Zwar ist Datenschutz zur Bewältigung der Risiken moderner Informationssysteme insofern geeignet, als er einer Zweckentfremdung durch Verwendung von Daten in anderem Kontext gegensteuert. Erforderlich ist aber statt einer derartig eindimensionalen, nur die überflüssige Informationsverarbeitung verhindernde und damit mittelbar eine humane Technikgestaltung bewirkende eindimensionalen Orientierung, eine mehrdimensionale Ausrichtung. Die Informationssystemgestaltung darf nicht nur die Interessen derjenigen, deren Daten gespeichert werden, berücksichtigen, sondern muß auch die Belange des Systembetreibers miteinbeziehen. Der Privatsphärenschutz und der Schutz der Daten sind ebenso eindimensionale Konzepte wie der Datenschutz und erfassen ebenso wie dieser nur einen Teilaspekt. Die Privatsphäre hat sich als nicht definierbar erwiesen; der Schutz der Daten ist unzureichend, weil diese kontextabhängig sind 35 . Informationssysteme müssen so gestaltet werden, daß zumindest die bisherige Freiheit erhalten bleibt. Hierzu können die technischen Möglichkeiten der Informationssysteme beschränkt werden (z. B. Beschränkung der Zugangsberechtigung) und die Technik zur Eigenüberwachung eingesetzt werden (z. B. Protokollierung von Abfragen). Schließlich können Informationssysteme gleichsam umgekehrt zur Erweiterung der Kommunikationsmöglichkeiten genutzt werden. 35
W. Steinmüller, Informationstechnologie und Gesellschaft, 1993, S. 662 ff.
§ 8 Wandel von Staat, Gesellschaft und Recht
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Erforderlich ist damit ein Informations- und Kommunikationsschutz. Die vielfach geforderten Informations- und Kommunikationsschranken beruhen auf einem Mißverständnis: Nicht die Erhebung, Sammlung und Bearbeitung von Informationen und Daten, sondern deren Bewertung und Verwendung sind steuerungsbedürftig. Die Informations- und Kommunikationstechnik ist prinzipiell wertneutral; gefährlich und regelungsbedürftig sind nur ihr mißbräuchlicher Einsatz. Die Informations- und Kommunikationstechnik darf daher nicht insgesamt diskreditiert werden. Die Nutzung ihrer Möglichkeiten hat kaum überschätzbare Vorteile. Die nicht zu unterschätzenden Gefahren eines Mißbrauchs sind durch dessen Verhinderung, nicht durch die Verwerfung der Informations- und Kommunikationstechnik an sich abzuwenden.
§ 8 Polizeiliche Informationsvorsorge und der Wandel von Staat, Gesellschaft und Recht Die gefundene Informationskultur muß umgesetzt werden, d. h. Informationssysteme, insbesondere die hier interessierenden polizeilichen Informationssysteme bedürfen der Gestaltung. Diese Gestaltung kann nicht durch eine einzige Wissenschaftsdisziplin, sondern muß multidisziplinär erfolgen. Die Informationskultur einerseits, Staat, Gesellschaft und Recht andererseits stehen in einem Wechselverhältnis. Die Informationskultur spiegelt sich im Staats-, Gesellschafts- und Rechtsverständnis wider; letztere sind Elemente der ersteren I . Die Ausgestaltung der polizeilichen Informationsvorsorge hängt daher namentlich vom jeweiligen Staatsbild, dem Verständnis von der Gesellschaft und der Bedeutung des Rechts ab. Geht man von einer hierarchischen Struktur der Gesellschaft aus, sieht den Staat an deren Spitze und hält das staatliche Handeln insgesamt für autoritär, so setzt dies umfassende Informationen des Staates voraus. Soweit der Staat nämlich von den Adressaten seines Handeins Gehorsam verlangt und somit deren Reaktion auf die staatlichen Maßnahmen bei deren Anordnung nicht beachtet, müssen diese Maßnahmen zumindest die Vermutung der Richtigkeit für sich haben. Die Vermutung der Richtigkeit setzt aber wiederum voraus, daß der Staat seine Entscheidung auf der Grundlage aller relevanten Informationen getroffen hat2 . Sieht man dagegen umgekehrt im Staat nur einen bloßen (nicht privilegierten) Kooperationspartner, kommt ihm einerseits kein Anspruch auf besondere InformaI V gl. zur unzureichenden Rezeption von Kultur durch das Recht allgemein die Beiträge in dem Sammelband von P. Häberle (Hrsg.), KulturstaatIichkeit und KuIturverfassungsrecht, 1982. 2 E.-H. Ritter, in: D. Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben - sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 69 ff., 70.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
tionen zu; andererseits darf ihm aber dann auch nicht die Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft übertragen werden. Der "kommunikative" Staat kann keiner dieser beiden Extrempositionen zugeordnet werden. Er nimmt vielmehr eine Mittelrolle zwischen den beiden Extremen ein, da er gegenüber der Gesellschaft sowohl kooperativ als auch autoritär auftreten kann. Für die Richtigkeit dieses Staatsverständnisses sprechen insbesondere die gesellschaftliche Entwicklung und der vom Staat verfolgte Zweck: Wenn namentlich Sicherheit nicht absolut, sondern nur kommunikativ bestimmbar ise, erscheint der Charakter des Staates als Kommunikationspartner naheliegend.
A. Der gesellschaftliche Wandel- von der Hierarchie zur Selbstorganisation Der gesellschaftliche Wandel 4 wird heute vielfach als Übergang von der Agrarüber die Industrie- zur Informationsgesellschaft 5 beschrieben6 .
I. Agrargesellschaft - Industriegesellschaft - Informationsgesellschaft Trotz der Verwendungshäufigkeit des Begriffs "Informationsgesellschaft"7 ist dessen insbesondere wissenschaftlicher Bedeutungsgehalt keineswegs unumstritten. Während die einen den Terminus "Informationsgesellschaft" nicht nur für sinnvo1l 8 halten, sondern ihn teilweise sogar als wissenschaftlichen (insbesondere soziologischen) Grundbegriff verstehen 9 , sehen andere hierin eine "populäre BeVgl. hierzu schon oben im Text sub § 6. B. I. I. Zum Problem der inneren Sicherheit in einer kulturell-differenzierten Gesellschaft vgl. R. Pitschas, in: ders. (Hrsg.), Politik und Recht der inneren Sicherheit in Mittel- und Osteuropa, 1996, S. 1 ff., 10 f. 5 Teilweise wird die postindustrielle Gesellschaft vorsichtiger als "informatisierte Industriegesellschaft" bezeichnet. - Vgl. dazu U. Sieber, NJW 1989,2569 (2570). 6 Die Abfolge Agrar-, Industrie- und Informationsgesellschaft ist streitig. Die Theorien der postindustriellen Gesellschaft etwa ähneln zwar der Theorie einer Informationsgesellschaft, sehen aber nicht die Informations-, sondern die Dienstleistungsgesellschaft als der Industriegesellschaft folgende Stufe an. 7 Zu den hiermit bezeichneten gesellschaftlichen Veränderungen vgl. z. B. Tauss/KollbeckJMönikes, in: dies. (Hrsg.), Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft, 1996, S. 14 ff., 17 ff.; K. Merten, ebenda, S. 82 ff.; BernhardtlRuhmann, ebenda, S. 114 ff.; U. Sieber, eR 1995, 100 (110 f.). 8 Siehe z. B. H. Willke, Systemtheorie entwickelter Gesellschaften, 1989, S. 23. 9 B. Schäfers, Grundbegriffe der Soziologie, 2. Aufl. 1986, S. 131 ff. 3
4
§ 8 Wandel von Staat, Gesellschaft und Recht
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griffshülse"lO, ein bloßes "Schlagwort" II , das zeigt, daß sich die Modeme selbst noch nicht hinreichend beschreiben kann 12, oder gar eine "Lebenslüge,,13. Im Hinblick auf diese konträren begrifflichen Einschätzungen ist festzuhalten, daß die Bezeichnung "Informationsgesellschaft" jedenfalls richtigerweise die kaum zu überschätzende Bedeutung von Information und Kommunikation als Prozeß der sozialen Konstruktion von Informationen hervorhebt. Zugleich ist indessen zuzugeben, daß die zentrale Frage nach der Autonomie kognitiver und sozialer Systeme gegenüber ihrer Umwelt ungeklärt ist. Die Annahme, gesellschaftlicher Wandel hänge sowohl mit der Eigenschaft der Menschen, mehrere soziale Systeme zu konstituieren, als auch mit der Veränderung sozialer Systeme durch selbstorganisierende Prozesse zusammen, kann diesen Mangel nicht verdecken 14. Darüber hinaus ist das Verhältnis von "Industrie-" und "Informationsgesellschaft" weder geklärt noch im Terminus "Informationsgesellschaft" erkennbar. Während einerseits Informatisierung als Fortsetzung der Industrialisierung verstanden wird, wird andererseits zwischen Informatisierung und Industrialisierung ein Gegensatz gesehen. Die Defizite des begrifflichen Verständnisses der Informationsgesellschaft werden insbesondere deutlich, wenn man die Informationsgesellschaft als "information economy" versteht. Danach zeichnet sich eine Industriegesellschaft dadurch aus, daß die überwiegende Zahl der Beschäftigten in Industrieberufen tätig ist und mit Material und Energie umgeht. In einer Informationsgesellschaft ist die Mehrzahl der Arbeitnehmer hingegen in Informationsberufen, die durch den Umgang mit Informationen, Signalen, Symbolen, Zeichen oder Bildern geprägt sind, beschäftigt 15. Dieses Verständnis der Informationsgesellschaft ist als rein statistisch zu kritisieren; es ermöglicht keine Einschätzung der mit der Entwicklung zur Informationsgesellschaft verbundenen, umstrittenen sozialen Folgen. Gegner und Kritiker dieser Entwicklung sehen in den modemen Informations- und Kommunikationstechniken eine Organisations-, Steuerungs- und Kontrolltechnologie, die der Machtausübung dient l6 , und weisen auf die erhöhte Abhängigkeit von den Informations10 H. F. Spinner, Die Wissensordnung, 1994, S. 17, der überdies allgemein den Aussagegehalt der soziologischen ..Bindestrich-Konstrukte" wie .. Informations-", .. Kommunikations-", .. Risikogesellschaft" bezweifelt (a. a. 0., S. 56). 11 N. Luhmann, Beobachtungen der Modeme, 1992, S. 17. 12 N. Luhmann, Beobachtungen der Modeme, 1992, S. 14. 13 O. Hauf, Die Informationsgesellschaft, 1996, insb. S. 155 ff. 14 P. M. Hejl, in: S. J. Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, 5. Auf!. 1992, S. 303 ff., 329 ff. 15 Otto/Sonntag, Wege in die Informationsgesellschaft, 1985, S. 7 f.; K. Deutsch, Soziale und politische Aspekte der Informationsgesellschaft, in: P. Sonntag (Hrsg.), Die Zukunft der Informationsgesellschaft, 1983, S. 68 ff., 69 f. - Vgl. hierzu sowie zum folgenden bereits Scholz/Aulehner, Archiv PT 1993, 103 (l08 f.). 16 KubicekIRolf, Mikropolis. Mit Computernetzen in die Informationsgesellschaft, 2. Auf!. 1986, S. 57 ff.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
und Kommunikationstechniken hin, die gesteigerte Sicherungsmaßnahmen erfordere und möglicherweise nicht nur gesellschaftliche Freiheitsräume erweitere, sondern auch beschränken könne 17. Die Befürworter einer Informationsgesellschaft sehen hierin demgegenüber neue Dimensionen der Freiheit, der Chancengleichheit, der Lebenserleichterung und damit auch einen sozialen Fortschritt. Die Informationsgesellschaft nimmt den Menschen schwere, gefährliche, stupide und zeitraubende Tätigkeiten ab und steigert gleichzeitig die wirtschaftliche Produktivität nachhaltig. Diese konträren Einschätzungen der Informationsgesellschaft beruhen auf einer häufig nur vordergründigen Analyse der sozialen Entwicklung. Statt die gesellschaftlichen Auswirkungen inhaltlich und im Hinblick auf ihre wechselseitigen Abhängigkeiten zu analysieren, werden die Veränderungen nur empirisch beschrieben. Über das bisher dargestellte Verständnis der Informationsgesellschaft hinausreichende Deduktionen ermöglichen insbesondere die hier vertretenen konstruktivistischen Auffassungen selbstorganisierender Systeme.
11. "Heterarchie" statt Hierarchie
Ein Blick auf das aktuelle Verständnis der Gesellschaft läßt mit der Abkehr vom Ordnungsprinzip der Hierarchie und der Hinwendung zur Selbstorganisation im Vergleich zur überkommenen Gesellschaftstheorie eine tiefgreifende Veränderung 18 erkennen.
1. Die -frühere - starr-hierarchische Gesellschaft
Über die im einzelnen konträren Auffassungen über das Wesen der Gesellschaft hinweg bestand ein jahrhundertelanger Konsens, daß die Gesellschaft starr-hierarchisch geordnet ist. An der Spitze stand hierbei zunächst die Religion; diese wurde nach der Säkularisation durch den Staat abgelöst. Die gesellschaftliche Pluralität koordiniert der modeme Staat - zunächst entweder indem er die Rahmenbedingungen für ein Tauschwesen bereitstellt oder hierarchisch - und schafft hierdurch eine Einheit.
17 Roßnagel/WeddelHammerfPordesch, Die Verletzlichkeit der Informationsgesellschaft, 2. Auf!. 1989. 18 Dieser Wechsel des Paradigmas kommt auch sprachlich zum Ausdruck: Während die Veränderungen jahrzehntelang als "Trends" bezeichnet und damit als kontinuierlich und steuerbar eingestuft wurden, weist die heutige Terminologie und die Bezeichnung als Selbststeuerung auf die Kontingenz und Unsicherheit der Entwicklung hin.
§ 8 Wandel von Staat, Gesellschaft und Recht
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2. Die - heutige - dynamisch-heterarchische Gesellschaft
Heute erscheint angesichts der Ausdifferenzierung immer weiterer funktionaler und spezialisierter Teilsysteme - z. B. Gesundheitssystem, Kunst, Technologie, Wissenschaft, Religion, Umwelt etc. - eine starre hierarchische Ordnung als unzeitgemäß. Der Übergang von der Hierarchie zur Heterarchie 19 erfolgt dabei keinesfalls zufällig, sondern ist das Ergebnis der steigenden funktionalen Differenzierung und der damit verbundenen Kontingenz gesellschaftlicher Teilsysteme. Hierdurch erhöhen sich nämlich einerseits die für eine gesellschaftliche Integration erforderlichen Interdependenzen zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen; zugleich und andererseits steigt aber auch die Unabhängigkeit einzelner sozialer Systeme zu einer operativen Geschlossenheit, aus der wiederum Heterarchie und Selbstorganisation resultieren 2o . Die Ablösung der Gesellschaftsstruktur nach Schichten durch funktional ausdifferenzierte, prinzipiell gleichgeordnete Teilsysteme führt zur Abkehr vom Staat als dauernder Spitze einer Hierarchie und zur Hinwendung zu einem als "Heterarchie" zu bezeichnenden Ordnungsprinzip. "Heterarchie" als "Prinzip der potentiellen FÜhrung,,21 meint hierbei gleichsam eine dynamisch-hierarchische Ordnung: Die Gesellschaft verstanden als Netzwerk, das durch gleichberechtigte gesellschaftliche Subsysteme gebildet wird, die einerseits zunehmend wechselseitig voneinander abhängen, andererseits aber über eine fortschreitende operative Geschlossenheit verfügen, erfordert Flexibilität im Hinblick auf die Führungsrolle. Diese Führungsrolle wird dabei heute jeweils dem Teilsystem zugeordnet, das in der jeweiligen Situation über die optimale Information verfügt 22 . Im Gefolge dieses Wandels tritt neben die Formen des Tausches und der Hierarchie die Präzeption 23 .
IH. "Informationsgesellschaft" als Selbstorganisation durch Information
Steigende Unabhängigkeit der gesellschaftlichen Teilsysteme einerseits und vermehrte Interdependenzen andererseits erfordern eine erhöhte Kommunikation. Dieser gestiegene Informations- und Kommunikationsbedarf führt zu einer zunehmenden Technisierung der Kommunikation 24 . 19 Zum Begriff der "Heterarchie" und seinem Ursprung siehe H. Willke, Ironie des Staates, 1992, S. 64 ff.; ders., Systemtheorie entwickelter Gesellschaften, 1989, S. 118. 20 N. Luhmann, in: ders., Soziologische Aufklärung 2, 4. Auf!. 1991, S. 170 ff., 171. 21 H. v. Foerster, Sicht und Einsicht, 1985, S. 8. 22 H. Willke, Systemtheorie entwickelter Gesellschaften, 1989, S. 111 ff. ,insb. S. 118. 23 H. Willke, Ironie des Staates, 1992, S. 144 f. 24 R. Kreibich, Die Wissenschaftsgesellschaft, 1986, S. 722 ff. beschreibt die zunehmenden Möglichkeiten der Mensch-Maschine-Kommunikation.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
Diese hat ihrerseits umfassende Folgen: Sie wirkt auf das Individuum und dessen soziale Beziehungen ebenso ein wie auf das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern25 . Insbesondere können die persönlichen Erfahrungen und die hieraus resultierende Kreativität und Unabhängigkeit des einzelnen ebenso beeinträchtigt werden wie die sozialen Beziehungen, die zunehmend maschinell vermittelt werden. Als entscheidend für die konkrete Ausgestaltung der Selbstorganisation erweist sich dabei die Verteilung und Verfügbarkeit von Information. Stellt man den Terminus "Informations gesellschaft" in diesen Kontext, sind auch die eingangs dargestellten begrifflichen Bedenken ausgeräumt. "Informationsgesellschaft" wird dabei als Bezeichnung für einen Paradigmenwechsel zur Informationstechnik, -wirtschaft, -gesellschaft usw. verstanden. Die gesellschaftlichen Teilsysteme werden danach "durchinformatisiert" in dem Sinne, daß sie als Informationsprozesse verstanden und informationell erklärt werden 26 .
IV. Risikogesellschaft
Die Folgen des Wandels von der Agrar- über die Industrie- zur Informationsgesellschaft werden durch die heraufziehende Risikogesellschaft nochmals potenziert. Die genaue Definition dessen, was mit dem Terminus Risikogesellschaft bezeichnet wird, ist dabei streitig. Manche sehen hierin die Entgrenzung der menschlichen Macht durch die technische Möglichkeit der Selbstzerstörung der Menschheit, andere bezeichnen damit die veränderte soziale Wahrnehmung neuer Technologien 27 . Jedenfalls thematisiert die Risikogesellschaft die Entstehung neuer, weder eingrenz- noch zurechenbarer Risiken. Zugleich macht sie darauf aufmerksam, daß sowohl die technischen als auch die gesellschaftlichen Veränderungen immer schneller erfolgen und der Glaube an einen linearen, kontinuierlich auf Perfektionierung gerichteten Fortschritt mindestens erschüttert ist. Darüber hinaus wird die Ausdifferenzierung von Wissenschaft in ihrer früheren Form relativiert: "Die Gesellschaft selbst ist zum Labor für eine Vielzahl von Realexperimenten der Großtechnik geworden und damit unmittelbar den riskanten Folgen unvollständigen Wissens ausgesetzt.,,28 Das frühere Vertrauen, Gegenwartsprobleme würden in der 25 Zu den umfassenden, teilweise zudem irreversiblen Auswirkungen der "Inforrnationsgeseilschaft" vgl. auch TausslKollbeckIMönikes, in: dies. (Hrsg.), Deutschlands Weg in die Inforrnationsgesellschaft, 1996, S. 14 ff., 34 ff.; R. Kreibich, Die Wissenschaftsgesellschaft, 1986, S. 714 ff. 26 Zu diesem Inhalt H. F. Spinner, Die Wissensordnung, 1994, S. 56 f., der jedoch die Bezeichnung "Inforrnationsgesellschaft" ablehnt. 27 Zusf. U. K. Preuß, in: D. Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 523 ff., 532 m.w.N.
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Zukunft durch gesteigertes Wissen und verbesserte Technologien lösbar, schwindet, zumal sich die zeitliche Entwicklung immer weiter beschleunigt29 • Ist nicht mehr oder immer seltener mit einer linearen Weiterentwicklung zu rechnen, kann die Vergegenwärtigung von Zukunft keine Sicherheit mehr gewährleisten. Die Vernichtung der Zeitlichkeit der Zukunft bewirkt nicht mehr Sicherheit, sondern Unsicherheit, da die Unsicherheit der Zukunft in die Gegenwart transferiert wird. Hieraus resultieren die Forderungen nach einer Vorverlagerung der staatlichen Steuerung und dem Wandel von der Repression zur Prävention. Darüber hinaus bilden sich neue Risikogemeinschaften, neue Rechtsgüter und der Wirkungsbereich der Gefährdungshaftung wird ausgedehneo.
B. Staatsbild - der kommunikative Staat Den angeführten gesellschaftlichen Veränderungen korrespondiert ein Wandel des Staatsbildes. Dies gilt umso mehr, als die früher angenommene Distanz zwischen Staat und Gesellschaft durch eine fortschreitende Annäherung beider abgelöst wird. I. Staat und Gesellschaft 1. Der Staat als Selbstbeschreibung der Gesellschaft
Ob der Staat - wie Wissenschaft, Religion, Kunst etc. - ein gesellschaftliches Teilsystem31 oder - im Gegensatz zur Gesellschaft als ,,selbstorganisation der nicht rechtlich geeinten Bürger" - die "Selbstorganisation der zum Volk geeinten Bürger" darstellt, kann hierbei zunächst offen bleiben 32 . Jedenfalls kann festgehalten werden, daß die Definition eines Staatsbildes erforderlich ist, um gesellschaftliche Entwicklungen aufzuzeigen und zu steuern. Erst die begriffliche Erfassung des Staates ermöglicht eine rechtliche Gestaltung und Regelung 33 . Anders ausgeU. K. Preuß, in: D. Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 523 ff., 543. H. Nowotny, Eigenzeit, 1989, S. 12. 30 Zusf. U. Sieber, eR 1995, 100 (Ill f.). 31 Vehement gegen ein Verständnis des Staates als Selbstorganisation der Gesellschaft N. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 14 m. Fußn. 1. 32 Vgl. zu der diesbzgl. Kontroverse E.-W. Böckenförde, Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, 1973, S. 36 einerseits und K. Hesse, in: E.-W. Böckenförde (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, 1976, S. 484 ff., 490 f. andererseits sowie die Darstellung von J. Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, § 13 Rdnr. 49 m. Fußn. 77. 33 J. Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, § 13 Rdnr. 27. 28 29
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
drückt erweist sich der Staat als sprachliches Gebilde, mit dem das politische System befähigt wird, sich über die jeweils konkreten Machtlagen hinweg selbst zu beschreiben und sich zu reproduzieren 34 . 2. Staat und Gesellschaft als dialektische Einheit
Staat und Gesellschaft sind heute keine autarken Ordnungen, sondern erweisen sich als "dialektische Einheit". Der Staat stellt hierbei sowohl die "Antithese zur Gesellschaft" als auch die "umgreifende, einheitstiftende Synthese" dar35 . Der modeme Staat ist notwendigerweise sowohl nach außen als auch nach innen ein kooperativer Staat; der vormalige Dualismus von Staat und Gesellschaft ist mithin überholt 36 . Mit dieser Entwicklung geht eine Abkehr weg von dem Modell staatlicher Herrschaft und hin zu einer Kooperation zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Aufgabenträgem einher37 • Eben dieses Verhältnis von Staat und Gesellschaft thematisieren auch die unterschiedlichen Staatsauffassungen38 , die im hiesigen Rahmen allenfalls in Umrissen skizziert, nicht aber ausführlich dargestellt werden können. Der heraufgezogene "Kommunikationsstaat,,39 verfolgt zwar mit der Gewährleistung der Sicherheit der Bürger den gleichen Zweck wie die durch die überkommenen Staats bilder beschriebenen früheren Erscheinungen des Staates. Ein nachhaltiger Unterschied wird sich indessen bei den zur Erreichung des Staatszwecks Sicherheit eingesetzten Mitteln ergeben. 11. Sicherheit als Staatszweck im historischen Rückblick
Die kaum zu überschätzende Bedeutung der Gewährleistung von "Sicherheit" wurde durch die Staatstheorie frühzeitig erkannt. Die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten, gilt, sowohl gegenwärtig als auch historisch betrachtet, als primärer Staatszweck4o . N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 626 f. Zu diesem Verständnis siehe J. Isensee, in: E.-W. Böckenförde (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, 1976, S. 317 ff., 323, von dem auch die Begriffsbildung stammt. - V gl. hierzu auch R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 275. 36 P. Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, 1984, S. 124; BöhretlJannlKronenwett, Innenpolitik und politische Theorie, 3. Aufl. 1988, S. 289. 37 R. Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 153. 38 R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 11. Aufl. 1991, S. 242. 39 R. Pitschas, in: Hoffmann-RiemlSchmidt-AßmanniSchuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 219 ff., 244. 40 u. K. Preuß, in: D. Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 523; J. DietIein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 21 ff.; C. Link, VVDStRL 48 (1990), 34 35
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Staatszwecke dürfen hierbei nicht mit Staatszielen oder Staatsaufgaben gleichgesetzt werden. Staatszwecke sind überzeitliche Wesenszüge, Rechtfertigungsgründe oder rationale Begrenzungen des Staates41 . Sicherheit erweist sich im historischen Rückblick nicht erst für den neuzeitlichen Staat als essentiell. Das Verständnis des Staates als Garant der Sicherheit seiner Bürger reicht vielmehr bis in die Antike zurück42 •
1. Sicherheit im Denken der Antike a) Sicherheit wurde bereits im antiken Griechenland, in dem viele Gedanken der abendländischen Rechts- und Staatsphilosophie bereits vorhanden waren, als Aufgabe des Staates erkannt. In der griechischen Aufklärung43 stellten die Sophisten die Existenz eines religiösen Fundaments von Recht und Gerechtigkeit in Frage bzw. lehnten sie ab. Die sophistische Philosophie markiert das Ende der kosmologischen Epoche und den Beginn der anthropologischen in der griechischen Philosophie, d. h. das Sein überhaupt wird als Zentrum des philosophischen Nachdenkens durch den in den Mittelpunkt der Betrachtung rückenden Menschen abgelöst. Die Sophisten nahmen an, es gäbe keine absolute Wahrheit, sondern nur eine relative: Dinge, die für einen Menschen so erscheinen, wie sie ihm erscheinen, erscheinen einem anderen so, wie sie ihm erscheinen. Jeder einzelne Mensch ist danach das Maß aller Dinge44 • Die sophistische Philosophie ist mithin durch Relativismus und Subjektivismus geprägt.
Schon Protagoras von Abdera (ca. 410 v. ehr. gestorben), der berühmteste Sophist der griechischen Aufklärung, wies dem Staat u. a. die Aufgabe zu, die Sicherheit zu gewährleisten. Er lehrte, der Mensch sei ein Mängelwesen, er müsse sich deshalb mit seinesgleichen zusammentun und sich vertragen. Die Menschen hätten ursprünglich zerstreut und in ständigem Kampf gegen wilde Tiere gelebt. Die Überwindung dieses Zustandes der Unsicherheit und das friedliche Zusammenleben erforderten die Bildung eines Staats und Gesetze, bei deren Zustandekommen alle gleichberechtigt zu beteiligen seien45. 7 (27 ff.); G. Ress, VVDStRL 48 (1990), 56 (83 ff.); R. Herzog, Staaten der Frühzeit, 1988, S. 75 f.; H. Bethge, DVBI. 1989,482 (487 f.); H. P. Bull, NVwZ 1989, 801 (803 ff.); D. Ehlers, in: Festschrift für R. Lukes zum 65. Geburtstag, 1989, S. 337 ff., 338 f.; J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 3 ff.; ders., VVDStRL 41 (1983), 131; E. Klein, NJW 1989, 1633 ff.; G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 27 ff.; D. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 102 ff. 41 J. Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, § 57 Rdnm. 115 f. 42 G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 151. 43 Vgl. zur "griechischen Aufklärung" z. B. R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 6. Aufl. 1989, S. 13 f. 44 Vgl. hierzu R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 6. Aufl. 1989, S. 14 f.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
In ähnlicher Weise nahm Glaukon an, das Unrechttun sei von Natur aus gut, das Unrechtleiden hingegen ein Übel. Deshalb hätten sich die Menschen darauf geeinigt, weder Unrecht zu tun noch Unrecht zu leiden. Hierzu hätten sie Gesetze erlassen und Verträge abgeschlossen 46 . Die attische Philosophie widersprach zwar der sophistischen, indem sie die Existenz einer allgemeinen Wahrheit postulierte, hielt aber an der Aufgabe des Staates, Sicherheit zu gewährleisten, fest. Auch Platon (427 - 347 v. ehr.), der sich grundsätzlich ebenso wie sein Lehrer Sokrates (469 - 399 v. ehr.) gegen die Lehren der Sophisten und den von diesen geprägten Relativismus und Subjektivismus wandte, weist dem Staat die Aufgabe zu, für den - neben den Herrschern bzw. Philosophen als erster Schicht und den Kriegern und Ordnungshütern als zweiter Schicht - dritten Stand der Erwerbstätigen Ruhe und Ordnung, also Sicherheit, zu schaffen47 • Dieser Zweckbestimmung des Staates kommt umso mehr Bedeutung zu, als Platon den Staat nicht als Ergebnis eines vertrags ähnlichen Übereinkommens, sondern als notwendige Organisation für die Befriedigung elementarer menschlicher Bedürfnisse betrachtet und der Sicherheit damit mittelbar die Qualität eines elementaren menschlichen Bedürfnisses zuweist. Der Philosoph Aristoteles aus Stagria (384 - 322 v. ehr.) kann zwar in mehrfacher Hinsicht als das Gegenteil von Platon bezeichnet werden. Insbesondere versteht sich Aristoteles weder als Seher noch als Prophet, sondern als reiner Gelehrter, dessen Positionen im Gegensatz zu denen von Platon auch politisch umsetzbar sind. Auch lehnt Aristoteles die von Platon befürwortete Frauen-, Kinder- und Besitzgemeinschaft ab. Ebenso wie Platon weist aber auch er Maßnahmen zum Schutz von Frieden und Ruhe, also der Gewährleistung von Sicherheit, eine zentrale Rolle zu 48 . Die - neben der Akademie Platons und dem Lyzeum von Aristoteles - dritte, von Epikur (371 - 270 v.ehr.) gegründete, große Philosophen schule Griechenlands kennzeichnet einen grundlegenden Wandel des Staatsverständnisses und den politischen Niedergang der Polisgemeinschaft. Das Leben im Staat ist nicht mehr das Endziel der menschlichen Bestimmung; der Staat ist vielmehr nur ein Mittel zum Zweck49 . Den Zweck menschlicher Gesellschaften sieht Epikur aber wiederum eindeutig darin, die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten5o . 45 W. Kersting, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, 1990, S. 901 ff., 904; G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 148 f. 46 Vgl. hierzu G. Hennes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S.149. 47 R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 6. Aufl. 1989, S. 22. 48 R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 6. Aufl. 1989, S. 31 f. 49 W. Kersting, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, 1990, S. 901 ff., 905 f. 50 G. Hennes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 149.
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Zusammenfassend kann daher festgestellt werden, daß Sicherheit trotz der sich wandelnden Staatsideen im alten Griechenland durchgehend als vorrangiger Staatszweck verstanden wurde. b) Ein entsprechender Befund ergibt sich für die Bedeutung der Sicherheit in Rom. Cicero (106 - 43 v. ehr.) erklärt die Staatenbildung primär mit dem natürlichen Hang der Menschen zur Gemeinschaft und versteht den Staat damit nicht als unabdingbar notwendige Zweckgemeinschaft für das menschliche Überleben. Ursächlich für den Zusammenschluß der Menschen zu Staaten sind vielmehr vernunftgemäße Verhaltensweisen, Gerechtigkeit und Güte 51 . Ein Hauptbestandteil des von Cicero postulierten, dem Naturrecht entsprechenden ewigen Gesetzes ist jedoch die Forderung, niemand solle anderen Unrecht tun, d. h. die Gewährleistung der Sicherheit52 . Ausdrücklich erklärt Cicero, Staaten würden auch zur Wahrung des Eigenbesitzes gegründet. Die Menschen suchten den Schutz des Staatswesens53 .
Daß der Gewährleistung von Sicherheit auch nach römischer Anschauung eine gesteigerte Bedeutung zukam, bestätigt zudem die Etymologie des Begriffs ,,sicherheit". Das Wort "Sicherheit" gehört nämlich trotz seiner fundamentalen Bedeutung nicht zu den indogermanischen Urwörtern, sondern ist auf das lateinische "securus" zurückzuführen. "Sicherheit" wurde in der indogermanischen Terminologie durch die Begriffe "Friede" und "Freiheit'; ausgedrückt54 . "Securus" (= "ohne Sorge") erfaBte ursprünglich den objektiven Zustand des Geschütztseins nicht 55 , sondern beschränkte sich auf den subjektiven Gefühlszustand. "Securus" war danach sowohl der furchtlose, unbesorgte, ruhige, aber auch der fahrlässig sorglose Mensch. Neben "tutus" und "securus" kennt die lateinische Sprache zudem weitere dem Bedeutungsfeld von "sicher" zuzuordnende Wörter. So wurde die Gewißheit im religiösen und im philosophisch-erkenntnistheoretischen Sinn als "certus" bzw. "certudio" bezeichnet. "Securus" erfuhr erst später in nachklassischer Zeit eine Sinnausweitung und schloß dann auch die objektive Sicherheit, d. h. Sicherheit im Sinn von "gefahrlos" und "geschützt" ein56 .
51 W. Kersting, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, 1990, S. 901 ff., 906. 52 G. Herrnes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 150. S3 G. Herrnes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 150 m. Fußn.30. 54 W. Conze, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, S. 831 ff., 832 f. ss Die lateinische Sprache verwendete hierfür "tutus". 56 Vgl. hierzu F.-X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Aufl. 1973, S. 49 ff.; W. Conze, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, S. 831 ff., 832 f.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
2. Sicherheit im Verständnis des Mittelalters Im Mittelalter wird zwar der vordem weltliche Staatszweck von einem göttlichen abgelöst. Sicherheit bleibt aber gleichwohl insofern bedeutsam, als sie auch eine biblisch-theologische Bedeutung erlangt. Das Christentum thematisiert nämlich mit der Diskrepanz zwischen Schwachen und Starken den Gegensatz zweier Extreme: Die Starken fühlen sich sorglos und sicher, die Schwachen hingegen unsicher. Die christliche Lehre transferiert Sicherheit in Unsicherheit und umgekehrt, indem sie die Sicherheit der Stärkeren als gebrechlich bewertet und ihr im Hinblick auf den Unglauben der Stärkeren die göttliche Anerkennung versagt. Den Schwachen wird demgegenüber nach der christlichen Religion dauernde Sicherheit zuteil, weil sie auf die Verheißung Christi und damit auf die Gnade Gottes vertrauen, dessen Kraft in den Schwachen mächtig sei 57 . Im Mittelalter verschmelzen das christliche und weltliche Verständnis von Sicherheit ebenso wie die weltlichen und religiösen Vorstellungen vom Staat. Die Verehrung Gottes soll Frieden und Sicherheit des weltlichen Herrschers garantieren, Krieg und Sieg sollen wiederum Sicherheit schaffen. Darüber hinaus waren die Schutzverträge, aus denen sich die mittelalterliche Verfassung vorwiegend konstituierte, gerade auf die Gewährleistung von Sicherheit gerichtet. Andererseits ist das Ende des Mittelalters durch eine Bedeutungsverengung des Begriffs "Sicherheit" gekennzeichnet. Sicherheit bezog sich nunmehr, anders als vordem, nicht mehr auf das Reich als Ganzes, sondern nur noch auf das Geschütztsein der Straßenverbindungen. Die auf das Reich bezogene Sicherheit wurde nicht mehr als Sicherheit, sondern als Friede tituliert 58 .
3. Sicherheit im Absolutismus am Übergang zur Modeme: Thomas Hobbes Der Sicherheit kommt in der von Thomas Hobbes (1588 - 1679) geprägten Staatsidee eine so zentrale Rolle zu, daß sie auch als "Sicherheitsphilosophie,,59 bezeichnet wird. T. Hobbes erkennt, daß die Gehorsamspflicht der Bürger und das staatliche Gewaltmonopol einerseits mit der Garantie der Sicherheit durch den Staat andererseits korrespondieren. Die Staatenbildung ist nach T. Hobbes nicht auf das gesellige Wesen der Menschen zurückzuführen. T. Hobbes schreibt den Menschen vielmehr das Streben nach Selbsterhaltung und Lustgewinn als primäre Eigenschaften zu, aus denen die menschlichen Machtambitionen zum Zwecke der Selbstsicherung resultieren. Er ist damit einer der ersten modemen Utilitaristen 60 . 57 W. Conze, in: Brunner/Conze/Koselieck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, S. 831 ff., 832. 58 W. Conze, in: Brunner/Conze/Koselieck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, S. 831 ff., 834 ff. 59 G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 40 ff.; J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 7.
§ 8 Wandel von Staat, Gesellschaft und Recht
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Im Naturzustand entwickelt sich deshalb ein "Krieg aller gegen alle", der weniger aus den triebhaften, von rücksichtslosem Egoismus geprägten und mit dem Satz ,,homo homini lupus est" umschreibbaren negativen menschlichen Eigenschaften resultiert, als vielmehr Folge der Unsicherheit des Naturzustandes ist, in dem der Mensch zur Selbsterhaltung mißtrauisch sein und versuchen muß, der Gewaltanwendung anderer zuvorzukommen 61 . In diesem "Krieg aller gegen alle" sind mit dem Wettkampf, der Furcht vor einer Übermacht der Mitbewerber und dem Kampf um Prestige drei Stufen unterscheidbar62 . In dieser Situation weisen die menschliche Vernunft und der Selbsterhaltungstrieb den Leviathan Staat als Mittel, um den Krieg aller gegen alle aufzuheben und die Sicherheit der Individuen zu gewährleisten. Die Bürger verzichten hiernach vertraglich, in Verträgen eines jeden mit jedem anderen, die den Staat erst konstituieren, zu dessen Gunsten auf private Gewalt und unterwerfen sich dem staatlichen Gehorsam. T. Hobbes unterscheidet hierbei nicht zwischen Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag; beide sind vielmehr wechselseitig voneinander abhängig. Eine Vergesellschaftung der Individuen erfolgt nur insoweit, als zugleich eine Herrschaft errichtet wird; umgekehrt wird eine Herrschaft nur insoweit begründet, als die Individuen vergesellschaftet werden 63 • Der Staat seinerseits ist verpflichtet, den Bürgern Sicherheit zu gewährleisten. Nur solange und soweit der Staat hierzu willens und in der Lage ist, schulden ihm die Bürger Gehorsam und dürfen selbst keine Gewalt ausüben64 . Die Bedeutung der Lehre von T. Hobbes für das Verhältnis des Staates zur Sicherheit der Bürger kann kaum überschätzt werden. Nach T. Hobbes ist Sicherheit zum einen der zentrale Staatszweck. Zum anderen wird der Umfang der Sicherheit nachhaltig erweitert. Sicherheit besteht nicht schon dann, wenn das Existenzmini60 J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 4 f.; 1. Fetscher, in: T. Hobbes, Leviathan, 3. Auf!. 1989, S. IX ff., XIX f. 61 W. Kersting, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, 1990, S. 901 ff., 918. 62 1. Fetscher, in: T. Hobbes, Leviathan, 3. Auf!. 1989, S. IX ff., XXI f.; R. Scholz, NJW 1983,705. Das pessimistische Menschenbild von T. Hobbes wird verständlicher, wenn man sich das damalige Umfeld, das durch den englischen Bürgerkrieg, die Religionskriege und insb. durch den 30jährigen Krieg geprägt war, vergegenwärtigt. 63 W. Kersting, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, 1990, S. 901 ff., 920 f. 64 J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 3 f. - T. Hobbes, Leviathan, Teil H, Kap. 21, 3. Auf!. 1989, S. 171: "Die Verpflichtung der Untertanen gegen den Souverän dauert nur solange, wie er sie auf Grund seiner Macht schützen kann, und nicht länger. Denn das natürliche Recht der Menschen, sich selbst zu schützen, wenn niemand anderes dazu in der Lage ist, kann durch keinen Vertrag aufgegeben werden. Die Souveränität ist die Seele des Staates, von der die Glieder keinen Bewegungsantrieb empfangen können, wenn sie einmal den Körper verla~sen hat. Der Zweck des Gehorsams ist Schutz. Findet ihn ein Mensch in seinem eigenen Schwert oder in dem eines anderen, so ist er von Natur aus diesem Schutz gehorsam und bemüht sich ihn zu erhalten ... "
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
mum gewährleistet ist. Neben der Sicherung des Lebens setzt Sicherheit vielmehr auch die Gewährleistung von Eigentum, Wohlfahrt, Ruhe, Zufriedenheit und Bequemlichkeit voraus 65 . Nach T. Hobbes besteht gegenüber dem absoluten Bürgerkrieg nur die Alternative eines absoluten Staates. Die Macht des Herrschers ist nach der Sicherheitsphilosophie von T. Hobbes unbeschränkt und nicht auf das zum Schutz der Bürger vor wechselseitigen Übergriffen erforderliche Maß begrenzt66 . Wollte man nämlich eine weiterreichende Bindung des Staates insbesondere an ein Naturrecht annehmen, so wären Streitigkeiten um den Umfang dieser Bindung und hieraus resultierender Ansprüche unausweichlich. Nach T. Hobbes beschränkt sich der Gesellschaftsvertrag daher auch darauf, die Souveränität eines Dritten, einer Person oder eines Kollegiums, festzuschreiben. Allein um die absolute Ungebundenheit des Herrschers zu gewährleisten, ist überhaupt ein Zusammenschluß der Vertragsschließenden und deren Repräsentation in einer künstlichen Person erforderlich. Hierdurch soll nämlich ausgeschlossen werden, daß der Herrscher seine Souveränität von den Vertragsschließenden ableiten muß 67 .
4. Sicherheit und Liberalismus: lohn Locke lohn Locke (1632 - 1704) erweitert die ,,sicherheitsphilosophie" von T. Hobbes um den Gedanken der Freiheit. l. Locke geht bei seinen Betrachtungen ebenso wie T. Hobbes von einem vorstaatlichen Naturzustand aus, den er aber im Gegensatz zu T. Hobbes nicht als "Krieg aller gegen alle", sondern als Friedenszustand, in dem alle Menschen frei und gleich sind, charakterisiert68 . Als Grenze dieser ursprünglichen Freiheit und Gleichheit der Menschen erkennt l. Locke das Naturgesetz, demzufolge niemand Leben, Gesundheit, Freiheit oder Besitz eines anderen schädigen soll. Dies ist aber im Naturzustand nicht ohne weiteres gewährleistet, zumal wegen des Eigennutzes, der Unkenntnis, Parteilichkeit, Leidenschaft und Rachsucht in eigenen Angelegenheiten einerseits und der Nachlässigkeit gegenüber den Belangen anderer andererseits Eingriffe in die Angelegenheiten der Mitmenschen drohen 69 . Trotz der konträren Einschätzung des menschlichen Wesens hält daher l. Locke ebenso wie T. Hobbes einen Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag zur Abwendung dieser Gefährdungen für erforderlich.
Anders als T. Hobbes entwickelt l. Locke jedoch kein absolutes Staatsbild und verneint eine vollständige Unterwerfung der Bürger unter die Staatsgewalt. 65 W. Conze, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, S. 831 ff., 845. 66 J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 5. 67 c.-F. Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 7. Aufl. 1990, S. 56 ff. 68 A. Verdroß, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1963, S. 122 f. 69 G. Herrnes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 153 f.
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J. Locke erkennt im Gegensatz zu T. Hobbes, daß der Staat keine absolute und un-
eingeschränkte Macht benötigt, um die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten7o . Der Gesetzgeber ist deshalb konsequenterweise nach J. Locke nicht Vertragspartner des Volkes, sondern dessen Treuhänder bzgl. des ihm durch das Volk anvertrauten Herrschaftsrechts. Im Gegensatz zu der Staatsphilosophie von T. Hobbes befindet sich der Gesetzgeber in einer reinen Pflichtenposition 71. Nach J. Locke soll der Staat nur die durch das Naturrecht geschaffene Ordnung verbürgen. Die Grenzen der Staatsgewalt ergeben sich deshalb nicht nur aus dem Gesellschaftsvertrag, sondern darüber hinaus auch aus dem Naturrecht.
J. Locke übernimmt deshalb den von T. Hobbes geprägten Begriff der Sicherheit, demzufolge der Staat den einzelnen vor den Übergriffen anderer schützen muß, modifiziert und ergänzt ihn aber. Der Schutz des Bürgers vor Übergriffen anderer Bürger wird durch drei andere Inhalte der Sicherheitsmaxime erweitert: Zum einen erweist sich die Sicherheit nicht mehr als objektiv erforderliches, sondern als subjektiv fundiertes Konstitutionsprinzip des Staates. Zum anderen wird der Staat sowohl als Mittel zur Gewährleistung von Sicherheit als auch und darüber hinaus als ihr möglicher Gegner identifiziert. J. Locke differenziert zwischen der Sicherheit durch den Staat einerseits und der Sicherheit vor dem Staat andererseits. Der Staat verliert damit seine absolute Stellung, wird rechtlich gebunden und in seiner Macht begrenzt72 . Sicherheit setzt damit insbesondere, drittens und letztens ein Willkürverbot voraus 73.
5. Sicherheit in der Aufklärung: Samuel Pufendorfund Christian Wolff
In der Aufklärung wird die Gewährleistung der Sicherheit zum festen Bestandteil des Staatsverständnisses74 . In dieser Zeit prägen insbesondere Samuel Pufendorf und Christian Wolff ein neues Verständnis des Naturrechts. Die mittelalterliche, auf der Religion fußende Naturrechtslehre hatte nämlich in Renaissance, Reformation und Gegenreformation ihre Überzeugungskraft verloren. Die Aufklärung ist daher von dem Versuch gekennzeichnet, das Recht aus der allgemeinen Natur des Menschen abzuleiten 75 . Das Naturrecht sollte so fundiert werden, als ob Gott nicht existierte 76. Samuel Pufendorf (1632 - 1694) macht den ersten Versuch, allein mit Hilfe der Vernunft ein Naturrecht zu konstruieren. S. Pufendorfs Verdienst ist es primär, die J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 7. W. Kersting, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, 1990, S. 901 ff., 928 f. 72 J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 6 f. 73 G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987,48 f. 74 G. Hennes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 155. 75 R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 8. Aufl. 1991, S. 128. 76 Hugo Grotius, De iure belli ac pacis, Prolegomena 11. 70
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
damals drohende Entwicklung einer Universalwissenschaft, die Natur- und Geisteswissenschaften in sich vereinigt hätte, verhindert zu haben. S. Pufendorf erkannte, daß das Weltbild der Physik die Gesamtheit des Gegebenen nicht erschöpft und unterschied deshalb zwischen den "entia physica" und den "entia moralia". Die Physik beschreibt nach S. Pufendorf die Erscheinungen nur oder erklärt sie genetisch; die Moralwissenschaft bewertet sie demgegenüber als gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht 77 . Der von S. Pufendorf entwickelten Naturrechtslehre kommt dabei insofern eine geringere Bedeutung zu, als S. Pufendorf die Trennung von Naturrecht und Religion 78 nur partiell gelang. Zwar unterscheidet S. Pufendorf mit dem Naturrecht, der Rechtswissenschaft und der Moraltheologie, die sich aus der Vernunft, den Anordnungen des Gesetzgebers bzw. den Offenbarungen der Religion ergeben, drei verschiedene Ordnungen und trennt insbesondere Naturrecht und Moraltheologie. Diese Aufteilung ist jedoch insofern unvollständig, als S. Pufendorf die Geltung des Naturrechts unter Hinweis auf ein diesbzgl. Gebot Gottes begründet 79. Unabhängig hiervon qualifiziert auch die Naturrechtslehre von S. Pufendorf die Gewährleistung von Sicherheit als primären Staatszweck. Ausgehend von der imbecillitas, der Schwachheit und Hilflosigkeit, und der socialitas, dem Bedürfnis am Sozialleben teilzunehmen, als menschliche Eigenschaften entwickelt S. Pufendorf folgende grundlegenden Gemeinschaftsverpflichtungen: Erstens soll keiner den anderen schädigen ("alterum non laedere"), zweitens soll jeder den anderen als ein Wesen achten und behandeln, das ihm gleichgeartet ist ("suum cuique"). Drittens soll jeder dem anderen nützen, soweit er kann (Fürsorge), und viertens sollen übernommene Verpflichtungen eingehalten werden 80. Aus der Pflicht des "alterum non laedere" und dem Gebot, jeder möge dem anderen, soweit er kann, nützen, folgt die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten, zumal die Staatengründung nach S. Pufendorf erfolgt, um sich mit einem Schutz gegen die Übel zu umgeben, die dem Menschen vom Menschen drohen. Das Naturrecht allein könne nämlich die Sicherheit nicht gewährleisten. Zur Abwehr der von anderen Menschen drohenden Gefahren schließe man sich deshalb zusammen und gebe seine Freiheit durch Unterordnung unter eine Staatsgewalt aurB l .
77 A. Kaufmann, in: ders./Hassemer (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 5. Aufl. 1989, S. I ff., 54; A. Verdroß, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1963, S. 128 f. 78 A. Kaufmann sieht hierin das Entscheidende der von S. Pufendoif entwickelten Lehre. Die im Text folgende, nur eingeschränkte Trennung von Naturrecht und göttlichem Recht beanstandet er nicht (A. Kaufmann, in: ders./Hassemer (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 5. Aufl. 1989, S. I ff., 54). 79 R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 8. Aufl. 1991, S. 133 f. 80 A. Verdroß, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1963, S. 131 f.; R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 8. Aufl. 1991, S. 134 f. 81 R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 8. Aufl. 1991, S. 135 f.
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Die Naturrechtslehre von S. Pufendorf gründet sich damit in weiten Teilen auf die Lehre von T. Hobbes. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Qualifizierung der Sicherheit als Staatszweck und deren Begründung mit der Staatenentstehung durch Vertrag 82 als auch bzgl. des Inhalts des Sicherheitsbegriffs. Dabei darf nicht übersehen werden, daß S. Pufendorf zwar ebenso wie T. Hobbes von einer Entstehung des Staates durch Vertrag ausgeht. Im Gegensatz vornehmlich zu T. Hobbes, aber auch zu J. Locke, J. J. Rousseau und l. Kant differenziert S. Pufendorfjedoch zwischen dem Gesellschafts- und dem Herrschaftsvertrag. Nach S. Pufendorf besteht die Staatengründung aus drei - jedenfalls stillschweigend geschlossenen - Verträgen: dem Zusammenschluß der einzelnen zur Staatenbildung, der Festlegung der Regierungsform und der Einsetzung der Regierung 83 . Die Differenzierung zwischen Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag hat weitreichende Konsequenzen. Anders als nach der Staatsphilosophie von T. Hobbes können die Bürger nach der Lehre von S. Pufendorf die Gewährleistung der Sicherheit vom Herrscher fordern, da sie mit diesem in einer vertraglichen Beziehung stehen. S. Pufendorf geht sogar noch einen Schritt weiter und räumt dem einzelnen einen Anspruch auf Erfüllung der Sicherheitsgarantie gegen den Herrscher ein, obwohl der Herrschaftsvertrag nur zwischen dem Herrscher einerseits und dem Volk als ganzem andererseits geschlossen ist und daher auch nur das Volk insgesamt berechtigen kann 84 . Dem Recht auf Schutz durch den Staat stellt der Herrschaftsvertrag die Pflicht zum Gesetzesgehorsam gegenüber85 . Das von T. Hobbes, J. Locke und S. Pufendorf entwickelte Verständnis von Sicherheit wird in Deutschland insbesondere durch Christian Woljf (1679 - 1754) fortgeschrieben und läßt sich noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts weiter verfolgen 86 . Nach C. Woljfverpflichtet die Moral den Menschen zur Vollkommenheit. Diese kann der Mensch aber nicht allein erreichen. Die Rechtsordnung und der Staat müssen daher die Vervollkommnung des Menschen durch die Bereitstellung der notwendigen Güter, durch Befreiung von der Furcht vor Unrecht und durch den Schutz vor äußerer Gewalt fördern. Das Recht wird als Errnöglichung sittlicher Pflichterfüllung verstanden 87 ; Gleichheit, Freiheit und Sicherheit sind "angeborene Rechte,,88. 82 Vgl. hierzu R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 8. Auf!. 1991, S. 135 f.; W. Kersting, in: Brunner/ConzelKoselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, 1990, S. 901 ff., 920 ff. 83 W. Conze, in: Brunner/ConzelKoselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, S. 831 ff., 845 f. 84 G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 82 f. 85 G. Herrnes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 156. 86 G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 83; W. Conze, in: Brunner/Conze/ Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, S. 831 ff., 846. 87 A. Kaufmann, in: ders./Hassemer (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 5. Auf!. 1989, S. 1 ff., 57.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
Sicherheit liegt zuvörderst in der Befreiung von Furcht vor Unrecht. Damit ist nicht nur der Schutz vor bevorstehenden konkreten Rechtsverletzungen, sondern ein allgemeiner rechtlicher Status gemeint. Aus diesem leitet C. Wolf! wiederum das Recht, sich gegen Angriffe zu wehren, und das Recht, Unrecht zu verhüten, indem Rechtsverletzungen bestraft werden, ab 89 . Sicherheit wird dabei im Kontext der Wohlfahrt gesehen und dem Begriffsfeld von Glückseligkeit und Gemeinwohl zugeordnet9o . Die Gewährleistung der Sicherheit ist nämlich Bestandteil des weit darüber hinaus reichenden Staatszwecks Wohlfahrt91 . Wohlfahrt und Sicherheit werden im 18. Jahrhundert als gleichrangige Staatszwecke verstanden. Nach C. Wolf! ist dementsprechend der Staat am vollkommensten, in dem ein Optimum an Sicherheit und Wohlfahrt besteht, d. h. wo die meisten Menschen glückselig nebeneinander leben 92 • C. Wolf! weist der Sicherheit als "angeborenem Recht" einen dreifachen Gehalt zu: Danach richtet sich die Sicherheit zunächst und erstens gegen die Mitmenschen und soll vor deren Übergriffen schützen. Den Menschen obliegt gegenüber den Mitmenschen die Grundpflicht, ein selbst in Anspruch genommenes Grundrecht auch bei anderen nicht zu verletzen. Abgesichert wird dieses Verletzungsverbot sowohl bürgerlich-rechtlich durch Unterlassungs-, Duldungs- und Leistungspflichten sowie strafrechtlich durch Unterlassungspflichten 93 . Sicherheit wirkt jedoch nicht nur auf der durch den Gesellschaftsvertrag geregelten Ebene, sondern auch und zweitens in der durch den Herrschaftsvertrag bestimmten Dimension. Dort beschränkt Sicherheit die Macht des Herrschers. Das Recht auf Sicherheit behält der einzelne nämlich auch im Staat. Er überträgt die Befugnis zur gewaltsamen Rechtsverfolgung nur insoweit auf den Staat, als er von diesem insbesondere durch die Gerichte Schutz und Sicherheit erlangen kann 94 . Neben diesen Sicherheitsdimensionen, die C. Wolf! nur überliefert und weitergeführt hat, kommt der Sicherheit auch und drittens organisatorischer Gehalt zu. Aus der Gewährleistung der Sicherheit als Staatszweck leitet C. Wolf! das Erfordernis einer Gerichtsbarkeit ab, die unparteilich, gerecht, wahrheitsliebend und unbestechlich sein muß 95 .
88 W. Conze, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, S. 831 ff., 847. 89 G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 84. 90 W. Conze, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, S. 831 ff., 846 f. 91 G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 155; C. Link, VVDStRL 48 (1990), 7 (34 f. m. Fußn. 136). 92 W. Conze, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, S. 831 ff., 847. 93 G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 156. 94 G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 84. 95 G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 85.
§ 8 Wandel von Staat, Gesellschaft und Recht
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6. Das Preußische Allgemeine Landrecht Sicherheit im "Grundgesetz des friderizianischen Staates" Die neue, in den Staatslehren von S. Pufendorfund C. Woljfzum Ausdruck kommende Staatsauffassung wurde nicht nur vom Herrscher, sondern auch von den Beamten, die das "Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten" von 179496 schufen, vertreten 97 . Das Preußische Allgemeine Landrecht stellt eine "Art von Verfassung,,98 dar, weil es - abgesehen vom Prozeß- und Militärrecht - eine rechtliche Gesamtordnung des preußischen Staates aufstellt. Die Kodifikation reagiert damit auf die fortschreitende Arbeitsteilung in der Gesellschaft, die Sicherheit im wirtschaftlichen und rechtlichen Verkehr und damit eine umfassendere Normierung des innerstaatlichen Lebens verlangt99 . Nach earl Gottlieb Svarez (1746 1798) sollte das Preußische Allgemeine Landrecht dementsprechend ein Grundgesetz darstellen, d. h. es sollte die Grundlegung des Staates und seiner Zwecke sowie die daraus resultierende Einschränkung der Macht der Regierung enthalten 100. Das Preußische Allgemeine Landrecht kodifiziert die insbesondere von S. Pufendorf und C. Woljfherausgearbeiteten Zusammenhänge zwischen dem StaatlBürgerVerhältnis einerseits und dem BürgerlBürger-Verhältnis andererseits. Diese Verhältnisse werden nämlich zum einen im Herrschafts- bzw. Gesellschaftsvertrag abgebildet; zum anderen entsprechen ihnen die Schutzpflicht des Staates bzw. die Grundrechte und Grundpflichten der Menschen 101. Dementsprechend steht die Gewährleistung der Sicherheit im Zentrum der Staatszwecke. Das Preußische Allgemeine Landrecht enthält neben mehreren objektiv-rechtlichen Verpflichtungen, denen zufolge einzelne Staatsorgane die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten haben 102, auch ein subjektives Recht auf Sicherheit. § 76 Einl. ALR bestimmt nämlich, daß jeder Einwohner des Staates dessen Schutz für seine Person und sein Vermögen fordern kann 103.
96 H. Conrad, Das Allgemeine Landrecht von 1794 als Grundgesetz des friderizianischen Staates, 1965. 97 c.-F. Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 7. Auf!. 1990, S. 68. 98 H. Conrad, Das Allgemeine Landrecht von 1794 als Grundgesetz des friderizianischen Staates, 1965, S. 7. 99 c.-F. Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 7. Auf!. 1990, S. 68 f. 100 H. Conrad, Das Allgemeine Landrecht von 1794 als Grundgesetz des friderizianischen Staates, 1965, S. 11. - Speziell zur Rechtsstaatsidee im Allgemeinen Landrecht siehe D. Merten, in: F. Ebel (Hrsg.), Gemeinwohl - Freiheit - Vernunft - Rechtsstaat. 200 Jahre Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, 1995, S. 109 ff. 101 G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 156. 102 § 211 13, § 111 17, § 311 17, § 1011 17 ALR. 103 G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 91 ff. - § 76 Ein!. ALR: "Jeder Einwohner des Staates ist den Schutz desselben für seine Person und sein Vermögen zu fordern berechtigt."
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
Das Preußische Allgemeine Landrecht geht dabei ebenso wie die Naturrechtslehre der Aufklärung von der Entstehung des Staates durch einen Gesellschaftsund Herrschaftsvertrag aus und sieht den Sinn des staatlichen Zusammenschlusses wie diese in der Überwindung des unzulänglichen Naturzustandes sowie der Gewährleistung von Sicherheit. Daraus wurde weiter gefolgert, daß der Herrscher an das Preußische Allgemeine Landrecht als Grundgesetz des Staates gebunden war und die Wohlfahrt der Gemeinschaft und des Staates als dessen Zweck zu beachten hatte 104• Das Preußische Allgemeine Landrecht beschränkt den Staat nicht auf die Gewährleistung der Sicherheit durch Gefahrenabwehr unter Ausschluß der Wohlfahrtspflege 105 • Auch wenn § 1 11 17 ALR nur noch festlegt, daß die Sorge des Staates für die "Sicherheit seiner Untertanen, in Ansehung ihrer Person, ihrer Ehre, ihrer Rechte und ihres Vermögens" zur staatlichen Pflicht gehört und den Staat nicht mehr wie noch im § I, I V des gedruckten Entwurfs "für die Sicherheit und besondere Wohlfahrt seiner Einwohner zu sorgen verpflichtet", so kann hieraus nicht auf eine Verdrängung der Wohlfahrtspflege als Staatszweck geschlossen werden. Gemäß den §§ 2, 3 11 13 ALR ist es nämlich nicht nur die "vorzüglichste Pflicht des Oberhauptes im Staat, sowohl die äußere als innere Ruhe und Sicherheit zu erhalten und einen jeden bei dem Seinigen gegen Gewalt und Störungen zu schützen" (§ 2 11 13 ALR), sondern dem Staat kommt es auch zu, "für Anstalten zu sorgen, wodurch den Einwohnern Mittel und Gelegenheiten verschafft werden, ihre Fähigkeiten und Kräfte auszubilden und dieselben zur Beförderung ihres Wohlstandes anzuwenden" (§ 3 11 13 ALR). Das Preußische Allgemeine Landrecht beschränkte nicht einmal den Begriff der Polizei auf die Gefahrenabwehr. § 10 11 104 H. Conrad, Das Allgemeine Landrecht von 1794 als Grundgesetz des friderizianischen Staates, 1965, S. 11 f. - Conrad/Kleinheyer (Hrsg.), Vorträge über Staat und Recht von Carl Gottlieb Svarez, 1960, S. 64 f.: " ... Daher kommt es, daß der Zustand der Natur und der göttlichen Gleichheit nach dem Zeugnis der Geschichte ein Zustand der Unruhe und Verwirrung ist, in welchem keine Sicherheit des Eigentums und der Rechte, kein ungestörter Genuß der natürlichen Freiheit, keine Ausbildung und Veredelung unserer Natur, folglich keine wahre Glückseligkeit stattfinden kann. Durch diese Unvollkommenheit des Naturzustandes sind die Menschen veranlaßt worden, aus demselben herauszutreten und unter einem gemeinschaftlichen Oberhaupt bürgerliche Gesellschaften zu errichten, die wir mit dem Namen Staat bezeichnen. Die Rechte dieses Oberhaupts in einem Staat oder des Regenten können nicht aus einer unmittelbaren göttlichen Einsegnung, nicht aus dem Rechte des Stärkeren, sondern sie müssen aus dem Vertrage hergeleitet werden, durch welchen sich die Bürger des Staates den Befehlen des Regenten zur Beförderung ihrer eigenen gemeinschaftlichen Glückseligkeit unterworfen haben .... Sicherheit des Eigentums und der Rechte für jeden einzelnen durch die vereinigten Kräfte aller, ungestörter Gebrauch der natürlichen Freiheit eines jeden, soweit damit die Sicherheit und Freiheit der übrigen bestehen kann, Erleichterung der Mittel und Gelegenheiten zur Beförderung des Privatwohlstandes durch Veranstaltungen zur Ausbildung des Verstandes und Herzens, wodurch allein Neigung und Bereitwilligkeit zur Erfüllung der Pflichten des Wohlwollens erreicht werden kann, - das sind die großen und wichtigen Zwekke der bürgerlichen Gesellschaft, zu deren Erreichung sie dem Regenten die Macht, ihr zu befehlen, übertragen und die Disposition über ihre vereinigten Kräfte seinen Händen anvertraut hat. ... " 105 So aber wohl G.-c. v. Unruh, in: JeserichIPohUv.Unruh, Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. I, 1983, S. 423.
§ 8 Wandel von Staat, Gesellschaft und Recht
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17 ALR bestimmte zwar "die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung, und zur Abwendung der dem Publiko, oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der Polizey". Damit wird jedoch nur die Befugnis der Polizeibehörde eingeschränkt I06 .
7. Die Demokratie und der Beginn einer neuen Epoche: Jean Jacques Rousseau
Das Preußische Allgemeine Landrecht markiert nicht den Höhepunkt des neuzeitlichen Naturrechts, sondern das Ende dieser Epoche. Schon davor hatte sich insbesondere mit der Staatslehre von Jean Jacques Rousseau (1712 - 1778) ein neues Zeitalter angekündigt 107. Ebenso wie die am Anfang des Absolutismus stehende Staatstheorie von T. Hobbes als Reaktion auf die innere Zerrissenheit politischer Gemeinschaften verstanden werden kann, spiegeln sich in der Staatslehre von J. J. Rousseau die aufkommenden Zweifel am Absolutismus wider. Die sich bis in persönlichste Bereiche der Bürger erstreckende Bevormundung und die ungerechte Verteilung des Wohlstandes durch das System der Privilegien zogen Zweifel am Absolutismus nach sich I08 . Die Frage, von wem die staatliche Herrschaft ausgeübt wird, wurde vordem kaum thematisiert. Der jeweilige Herrscher war nämlich darauf beschränkt, zunächst den Willen Gottes, später dann das Vernunftrecht zu erforschen und umzusetzen. Sie rückte jedoch in das Zentrum des Interesses, als man erkannte, daß die Gesetze von Menschen für Menschen gemacht werden und dem Ausgleich zweier gegensätzlicher Grundforderungen der Menschen dienen: Einerseits erfordert das Zusammenleben der Menschen, daß diese eine staatliche Ordnung für sich anerkennen. Andererseits wird durch die damit verbundene Unterordnung die zweite Grundforderung der Menschen nach Freiheit beeinträchtigt. Dieses Spannungsverhältnis kann nur über den Gesetzespositivismus ausgeglichen werden. Ein Mensch ist danach nur dann frei, wenn er nicht mehr Menschen, sondern nur Gesetzen gehorchen muß. Damit sind zugleich die Forderungen nach Freiheit und Gleichheit thematisiert I09 • Sicherheit erscheint in der Staatstheorie von J. J. Rousseau bereits als so fester Bestandteil der Staatszwecke, daß sich das Interesse hiervon ab- und der Einschränkung der staatlichen Macht zuwendet llo . J. J. Rousseau betont zwar einerseits die Pflicht des Staates, Person und Eigentum jedes Bürgers zu schützen. Andererseits fordert er aber, daß jeder Bürger, der sich mit anderen zu einem Staat 106 H. Conrad, Das Allgemeine Landrecht von 1794 als Grundgesetz des friderizianischen Staates, 1965, S. 22 m. Fußn. 34. 107 A. Kaufmann, in: ders./Hassemer (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 5. Auf!. 1989, S. 1 ff., 57. 108 R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 8. Auf!. 1991, S. 110 f. 109 c.-F. Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 7. Auf!. 1990, S. 81 f. 110 G. Herrnes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 157.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
zusammenschließt, nur sich selbst gehorchen muß und ebenso frei wie vor dem Zusammenschluß bleibt lll . Formal geht die Staatslehre von J. J. Rousseau wie die bereits dargestellten Staatslehren früherer Philosophen von einem Naturzustand und einem Gesellschaftsvertrag aus. J. J. Rousseau mißt diesen Termini jedoch einen abweichenden Inhalt zu. Er beschreibt den Naturzustand als einen Zustand der Reinheit, Unschuld und spontanen Großzügigkeit und verwendet ihn als Gegenbegriff, um die Mängel der bestehenden Gesellschaft zu illustrieren. Im Gegensatz zu den bisher angeführten Philosophen beinhaltet der Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag nach der Staatstheorie von J. J. Rousseau die vollständige und endgültige Aufgabe der persönlichen Rechte und des Eigentums der Vertragsparteien. Diese Rechte gehen wiederum anders als nach den oben angeführten Staatstheorien - nicht auf den Herrscher oder den Staat, sondern auf alle Mitglieder der Gemeinschaft über. In dieser Gesellschaftsform, in der Regierende und Regierte identisch sind, werden nach der Lehre J. J. Rousseaus sowohl die Sicherheit als auch die Freiheit der Bürger geWährleistet. J. J. Rousseau hält dies auch für praktisch umsetzbar, weil es der wahre und eigentliche Wille aller Mitglieder der Gemeinschaft ist, den allgemeinen Willen (volonte generale) zu verwirklichen. Die volonte generale sei nämlich das Gemeinsame aller Interessen der Staatsbürger. Ermittelt wird die volonte generale durch die Stimmenmehrheit. Der Wille der Mehrheit und die volonte generale seien identisch ll2 .
8. Sicherheit im Konstitutionalismus und Liberalismus: Wilhelm von Humboldt und lmmanuel Kant
Mit dem Konstitutionalismus und Liberalismus rückt der Zusammenhang zwischen Freiheit und Sicherheit in den Vordergrund des Interesses. Der Staat ist zwar weiterhin der Garant der Sicherheit; die Prioritäten haben sich jedoch verändert. Die Sicherheit dient als Mittel zur Gewährleistung der Freiheit des Individuums. Dem Liberalismus zufolge herrscht im Naturzustand zwar Unsicherheit, aber Freiheit. Diese, natürlich vorgegebene Freiheit läßt der Staat nur bestehen, er stellt sie nicht her. Die Herstellung der Sicherheit ist demgegenüber eine staatliche Aufgabe 113. Staatliche Aktivitäten zur Gewährleistung der Sicherheit werden durch diesen Zweck begrenzt 1l4 . Das Recht auf Sicherheit wird damit auf ein Recht auf Vollzug bestehender Gesetze beschränkt; es verliert seine umfassende Bedeutung für das staatliche und gesellschaftliche Leben. Der Staat wird auf den Schutz vor
111 lI2 113
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R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 8. Aufl. 1991, S. 111. R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 8. Aufl. 1991, S. 112 f. J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 11. G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 158.
§ 8 Wandel von Staat, Gesellschaft und Recht
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Rechtsverletzungen durch Dritte begrenzt 1l5 . Das soziale Staatsziel, die staatliche Sorge um die Wohlfahrt der Bürger wird ausgeschlossen 116. Diese Entwicklung kommt besonders deutlich in der Staatslehre von Wilhelm von Humboldt zum Ausdruck. W. v. Humboldt wendet sich gegen die Forderung, der Staat habe für das Glück und das physische sowie moralische Wohl der Bürger zu sorgen. Zentrale Aufgabe des Staates ist es nach W. v. Humboldt vielmehr, die Freiheit der menschlichen Persönlichkeit vor rechtswidrigen staatlichen Eingriffen zu bewahren. Der Staat habe sich hierfür auf Gefahren abwehrende Tätigkeiten zu beschränken und dürfe keine positiven, das Wohl der Bürger fördernden Maßnahmen treffen ll7 . Die Erhaltung der Sicherheit ist nach W. v. Humboldt zwar Zweck und legitime Aufgabe des Staates. Dies gilt aber nur deshalb, weil der Mensch ohne Sicherheit weder seine Kräfte ausbilden, noch deren Früchte erlangen kann. Sicherheit ist erforderlich, weil es ohne Sicherheit keine Freiheit gibt 1l8 . Staat und Gesellschaft betrachtet W. v. Humboldt als Gegensätze, die nur durch die Gesetze verbunden werden. Eine Selbstorganisation und Selbstverwaltung der Gesellschaft lehnt W. v. Humboldt ab; er geht vielmehr von einer radikalen Beschränkung der staatlichen Kompetenzen aus 119. Nach Immanuel Kant (1724 - 1804) sind Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit 120, nicht aber die Sicherheit die wesentlichen Prinzipien der bürgerlichen Ordnung. Die Freiheit ist dabei das einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht 12l . Die Sicherung eines Maximums an Freiheit ist dementsprechend ein wesentliches Ziel der Gesellschaft. Der einzige Zweck des Staates besteht in der Sicherung der Herrschaft der Gesetze. Der Staat wird als Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen charakterisiert 122. Die Aufrechterhaltung der Freiheit der Menschen schließt nämlich eine staatliche Wohlfahrt aus. Denn die durch die staatliche Wohlfahrt angestrebte Glückseligkeit der Menschen ist von der jeweiligen Zeit und den jeweiligen Anschauungen abhängig. Das vom Staat zu verwirklichende öffentliche Wohl ist deshalb eine gesetzliche Verfassung, die jedem seine Freiheit sichert 123 .
G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 107. J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 10. 117 c.-F. Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 7. Auf!. 1990, S. 119. 118 G. Hennes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 158; J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 10 f. 119 c.-F. Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 7. Auf!. 1990, S. 119. 120 W. Conze, in: Brunner/ConzelKoselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, S. 831 ff., 851. 121 G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 96. 122 G. Hennes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 158 f.; R. Zippelius, Geschichte der Staats ideen, 8. Auf!. 1991, S. 154. 123 W. Conze, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, S. 831 ff., 851. 115
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
9. Sicherheit in den amerikanischen undfranzösischen Menschenrechtserklärungen Die amerikanischen Verfassungen des 18. Jahrhunderts, insbesondere die Virginia Declaration of Rights von 1776 sowie die Erklärungen von Massachussetts von 1780 und New-Hampshire nehmen Sicherheit als eines der Staatsziele auf124 . Danach gehört Sicherheit zu den natürlichen, angeborenen Rechten der Menschen. Aufgabe des Staates und der Regierung ist es, diese Rechte zu schützen; sie sind Hüter der Sicherheit. Dabei wird wiederum der Zusammenhang zwischen Sicherheit und Freiheit durch die Feststellung betont, jede Rechts- und Freiheitsverletzung einer Regierung hebe die Sicherheit auf125 . Ähnlich wie in den Staatstheorien von S. Pufendorf und T. Hobbes wird der Staat als "eine Art Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit" 126 verstanden, d. h. zwischen den Bürgern und dem Staat besteht ein Gegenseitigkeitsverhältnis: Der Staat gewährleistet die Sicherheit der Bürger; diese geben dafür einen Teil ihrer natürlichen Rechte auf127 • Das Recht auf Sicherheit wird durch den Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft nicht aufgehoben. Erfüllt der Staat seine Pflicht zur Gewährleistung der Sicherheit nicht, ist ein kollektives Widerstandsrecht des Volkes als Sanktion vorgesehen 128 . Sicherheit wird zur Garantie der Rechtsordnung, die ihrerseits Glück und Eigentum der Bürger verbürgt. Ein Mißbrauch der Freiheit wird - anders als bei T. Hobbes - nicht durch eine absolute Kompetenz des Herrschers, sondern durch die Verfassung verhindert 129 . Die aus der gleichen Zeit stammenden französischen Menschenrechtserklärungen standen - verglichen mit den amerikanischen Verfassungen - zwar vor einer völlig anderen Aufgabe. Während die amerikanischen Verfassungen nämlich einen Staat neu konstituieren mußten, sollten die französischen Menschenrechtserklärungen den bestehenden Staat liberal und demokratisch umformen 130. Diese Umgestaltung des in Frankreich bestehenden, absolutistischen Staates fußt aber auf dem gleichen theoretischen Konzept, das den amerikanischen Verfassungen als Grundlage dient 13l. Die Declaration des droits de I'homme et du citoyen von 1789 zählt 124 G. Robbers, Sicherh,eit als Menschenrecht, 1987, S. 51 f.; G. Herrnes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 171 f.; J. Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111 Rdnr. 25; ders., Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 12 ff. 125 W. Conze, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, S. 831 ff., 849. 126 J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 13. 127 J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 13. 128 G. Herrnes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 172. 129 W. Conze, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, S. 831 ff., 850. 130 J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 14. l3l G. Herrnes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 172.
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die Sicherheit neben der Freiheit, dem Eigentum und dem Widerstand gegen Unterdrückung zu den natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechten. Die Erhaltung dieser hervorragenden Rechte ist nach der Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 der Endzweck des Staates 132. Die Garantie der Menschen- und Bürgerrechte setzt überhaupt erst eine durch den Staat verkörperte öffentliche Macht voraus. Sie gehört deshalb zusammen mit dem Prinzip der Gewaltenteilung zu den Elementen, die für die Verfassung einer Gesellschaft unverzichtbar sind 133. Dabei erscheint die Sicherheit wiederum als gesetzliche Schranke der Freiheit l34 . Die Freiheit ist nämlich grundsätzlich unbeschränkt; sie endet erst, wenn einem anderen Schaden zugefügt wird. Die nähere Bestimmung des Bereichs, in dem andere geschädigt werden und die Freiheit daher endet, obliegt den Gesetzen. Diese haben den Schutz der natürlichen Rechte zu gewährleisten 135. Mit der Verfassung von 1793 werden die vier natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte zwar modifiziert; die Sicherheit behält aber ihren herausgehobenen Rang 136. Sie wird darüber hinaus in der Verfassung näher definiert als der von der Gesellschaft jedem ihrer Mitglieder zugesprochenen Schutz für die Erhaltung seiner Person, seiner Rechte und seines Eigentums 137. Die Revolutionsverfassung von 1795 schließlich behält die natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte bei. Sicherheit ergibt sich ihr zufolge aus dem Zusammenwirken aller mit dem Ziel, die Rechte jedes einzelnen zu gewährleisten 138. Diese Formulierungen geben jedoch keinen vollständigen Aufschluß über den Inhalt der durch sie gewährleisteten Sicherheit. Hierfür ist vielmehr auf die Entstehungsgeschichte zu rekurrieren 139. Aus dieser ergibt sich neben der herausgehobenen Stellung der Sicherheit allgemein ein ganzes Spektrum von einzelnen Möglichkeiten, gegen die die Gewährleistung der Si.cherheit schützen soll: Neben dem Schutz vor willkürlicher Verfolgung und Verhaftung und der Verbürgung bestimmter Organisationsprinzipien in der Gerichtsbarkeit, wird Sicherheit auf den gesamten Strafprozeß, das Briefgeheimnis, die Postwege und Straßen, die Unantastbarkeit der Privatsphäre sowie auf den Schutz der Städte, Dörfer und Landstraßen bezogen. Schließlich werden sowohl im Hinblick auf das Recht auf Sicherheit als auch als Resultat der Freiheitsgewährleistung eine gesetzliche Ordnung der gesamten Gesellschaft und die Gesetzmäßigkeit des staatlichen HandeIns postuliertl 40 . 132 W. Conze, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, S. 831 ff., 850. 133 W. Conze, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, S. 831 ff., 850. 134 J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 15. 135 G. Herrnes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 173. 136 J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 15. 137 G. Robbers, Sicherheit als Menschemecht, 1987, S. 74. 138 J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 15. 139 G. Robbers, Sicherheit als Menschemecht, 1987, S. 64. 140 Vgl. hierzu ausführlich G. Robbers, Sicherheit als Menschemecht, 1987, S. 64 ff.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
JO. Sicherheit - Friede - Freiheit - Zusammenfassung und Konsequenzen des historischen Rückblicks auf den Staatszweck Sicherheit
Die voraufgehenden Ausführungen zum Staatszweck Sicherheit zeigen, daß dieser die Jahrhunderte und die sich wandelnden Staatsauffassungen überdauerte. Auch eine denkbare bloß vordergründige und semantische Identität des Staatszwecks "Sicherheit" bestätigt sich nicht. "Sicherheit" im Sinne der Staatszwecklehre hatte immer eine ähnliche Bedeutung. Die Bedeutung der "Sicherheit" als Staatszweck ist im Gegenteil nicht nur Ausgang, sondern auch vorläufiger Endpunkt des sich entwickelnden Staatsverständnisses. Dies gilt auch für das Grundgesetz, wenngleich bei dessen Interpretation die Bedeutung der Sicherheit als Staatszweck vielfach nicht hinreichend beachtet wird. Gerade die polizeiliche Informationsvorsorge wird häufig fälschlicherweise allein unter dem Aspekt des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung als Abwehrrecht des Bürgers gegen eine staatliche Informationstätigkeit betrachtet. Dabei wird übersehen, daß die Rechtsprechung die Bedeutung der Sicherheit auch für das Grundgesetz immer wieder betont. Das BVerfG führt ausdrücklich aus: "Die Sicherheit des Staates als verfaßter Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung sind Verfassungswerte, die mit anderen im gleichen Rang stehen und unverzichtbar sind, weil die Institution Staat von ihnen die eigentliche und letzte Rechtfertigung herleitet" 141 • Die geschichtliche Entwicklung betont dies zusätzlich: Staaten entstanden zunächst überhaupt nur, um die physische Sicherheit der Bürger zu gewährleisten; dieser Zweck allein rechtfertigt die staatliche Herrschaft als solche. Im folgenden wandelte sich das Staatsbild historisch betrachtet vom Rechts- über den Sozialzum Schutzstaat. Im Zuge dieser Entwicklung wurde die Gewährleistung der physischen Sicherheit durch immer weitere Zwecke ergänzt, nicht aber verdrängt. Vorrangiges Ziel des Rechtsstaates neben der Gewährleistung der physischen Sicherheit der Bürger war es, die individuelle Freiheit des einzelnen gegen staatliche Eingriffe zu schützen. Der Übergang zum Sozialstaat geht dabei mit einem Paradigmenwechsel einher: Der Staat soll nunmehr primär das Existenzminimum des einzelnen gewährleisten. Heute ist der Staat zum Schutzstaat mutiert und garantiert Schutz vor, wie auch immer gearteten, Unsicherheiten 142.
BVerfGE 49, 24 (53 ff., 56 f.); BVerwGE 49, 202 (209). H. A. Hesse, Der Schutzstaat, 1994, S. 17 ff. - J. Isensee, in: ders.lKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111 Rdnrn. 32 ff. sieht nur drei Stadien der staatlichen Entwicklung und lehnt insbesondere den Umweltschutz als viertes ausdrücklich ab. 141
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III. Der "kommunikative Staat" als Instrument zur Gewährleistung von Sicherheit
Zwar blieb der Staatszweck Sicherheit mehr oder weniger gleichförmig erhalten; ein nachhaltiger Wandel ist aber bei der Betrachtung der Art der Gewährleistung dieses Staatszwecks zu konstatieren. Damit werden die unterschiedlichen Staatsbilder in den Blick genommen.
1. Der "kommunikative Staat" - eine Skizze
Die Herausbildung des "kommunikativen Staates"143 ist als Fortentwicklung des im Begriff des "kooperativen Staates" zum Ausdruck kommenden Staatsverständnisses zu sehen.
a) Der "kooperative Staat" aa) Kooperation als Reaktion auf die Pluralität des staatlichen Umfelds
Der "kooperative Staat" stellt die Reaktion auf eine zunehmende funktionale Ausdifferenzierung der staatlichen Umwelt dar. Neben der Herausbildung der Person als individuellem und vom Staat zu berücksichtigendem Akteur entwicklen sich zahlreiche gesellschaftliche Subsysteme. Die hieraus resultierende, rasant wachsende Komplexität führt zu einem nachhaltig gesteigerten Koordinationsbedarf und stellt die Rolle des Staates in Frage 144 . Diese Pluralisierung unterminiert die Grundlagen des traditionellen Eingriffsstaats. Der Staat sieht sich nicht länger einer einfach strukturierten, konstanten und direkt steuerbaren Umwelt gegenüber; er kann nicht mehr über alle erheblichen Informationen verfügen und muß sich deshalb von der autoritären Durchsetzung seiner Vorstellungen verabschieden 145 . Als Folge hiervon ergibt sich der "Weg vom hoheitlichen zum kooperativen Staat, von der zentral staatlichen Weisung zur dezentralen Koordination, von der regulativen Steuerung zur partnerschaftlichen Übereinkunft, von der Normsetzung zur Überzeugung" 146.
143 Zur Kommunikation als öffentlicher Aufgabe siehe insb. H.-R. Horn, ARSP 82 (1996), 562 ff. 144 Vgl. zu diesem Befund z. B. H. Willke, Systemtheorie, 2. Auf!. 1987, S. 159 ff. 14S Damit sind die Prämissen des Eingriffsstaates entfallen. Vgl. zu diesen sowie zum "kooperativen Staat" allgemein grundlegend E.-H. Ritter, AöR 104 (1979), 389 (390 f.). 146 J. J. Hesse, in: EllweinJHesse (Hrsg.), Staatswissenschaften: Vergessene Disziplin oder neue Herausforderung?, S. 151 ff., 165.
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bb) Kooperation und Koordination
Kooperation zeichnet sich hierbei durch die ,,zusammenfassung aller von einer Entscheidung gestaltungsbetroffenen Funktionsträger zu einer Wirkungseinheit mit dem Ziel" aus, "die differenzierten Entscheidungs- und sonstigen Funktionen in einem optimalen Wirkungszusammenhang aufeinander zuzuordnen" 147. Kooperation erweist sich sonach gegenüber der Koordination als ein "Mehr". Koordination ist nämlich (nur) "die Aufteilung der Entscheidungskonkretisierung mit der Maßgabe, die einzelnen Arbeitsvorgänge aufeinander abzustimmen und die Wechselwirkungen zwischen Einzelzielen und Maßnahmen in einem offenen Willensbildungsprozeß zu maximieren oder aber negative Folgen auszuschließen,,148. cc) Der Staat als Kooperationspartner
Der kooperative Staat beschränkt sich hierbei nicht darauf, die Kooperati.on von den gesellschaftlichen Akteuren einzufordern, sondern tritt seinerseits selbst als Kooperationspartner auf. Verglichen mit dem traditionellen Staatsbild nimmt der Staat nunmehr eine neue Rolle ein. In der (Selbst-)Beschränkung des Staates auf die Funktion eines Verhandlungspartners kommt ein neues staatliches Rollenverständnis zum Ausdruck. Es ist mithin im Sinne von H. Willke die "Entzauberung" des Staates und keine bloß "publikumswirksamere 'Verpackung' seiner traditionellen Rolle,,149 zu konstatieren. Zweifelhaft bleibt indessen, ob der Staat deshalb generell und einschränkungslos als Kooperationspartner qualifiziert werden kann. Es erscheint demgegenüber nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich, daß der Staat in Teilbereichen nach wie vor autoritär und hoheitlich handelt und nur in einigen, von den Entwicklungen der postmodernen Gesellschaft besonders betroffenen Fällen kooperativ auftritt. Dieser differenzierteren Betrachtungsweise wird das Bild des kommunikativen Staates besser gerecht. b) Der ,,kommunikative Staat" aa) "Kommunikativer Staat" und Gesellschaft
Der Staat - verstanden als Kommunikationspartner - ist der Gesellschaft weder zu- noch übergeordnet; er unterscheidet sich von ihr vielmehr in funktioneller Hin147 R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 275, der sich bei dieser Definition jedoch auf die Zusammenarbeit staatlicher Funktionsträger beschränkt. 148 So wiederum R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S.275. 149 H. Willke, Entzauberung des Staates, 1983, S. 144 führt diese beiden Möglichkeiten zwar an, entscheidet sich aber unter Hinweis auf die damals noch zu junge Veränderung nicht.
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sicht: Sein Zweck ist es, verbindliche Entscheidungen zu produzieren 150. Staat und Gesellschaft korrelieren hiernach insofern, als einerseits der Staat durch das planmäßige, bewußte und organisierte gesellschaftliche Zusammenwirken konstituiert wird l51 , andererseits aber das Leben in der Gesellschaft der staatlichen Verantwortung, Organisation und Planung bedarf. Wenn der Staat durch die Gesellschaft konstituiert wird, ist er dem Menschen nicht vor-, sondern aufgegeben. Der Staat ist für den Menschen verfüg- und machbar i52 . Die Konstitution des Staates stellt angesichts der vielfältigen und permanenten Veränderungen in der Gesellschaft keinen einmaligen, sondern einen dauernden Prozeß dar, der seinerseits eines geordneten Verfahrens bedarf. Dieses wiederum kann - darauf wird weiter unten einzugehen sein - nur durch das Recht sicher gestellt werden i53 . Die Konstitution des Staates durch die Gesellschaft darf freilich nicht dahin mißverstanden werden, daß der Staat die Menschen oder die Gesellschaft vollständig umfasse. Staat und Gesellschaft sowie der einzelne korrelieren zwar; der Staat erfaßt aber nur einzelne Beziehungen und Funktionen der Menschen und der Gesellschaft. Der Staat kann und darf daher weder eine vollständige Integration der Menschen und der Gesellschaft noch Autarkie l54 , sondern nur Autonomie anstreben. bb) Sicherheit als Zweck des "kommunikativen Staates" Der "kommunikative Staat" als Oberbegriff Darin liegt keine Abkehr vom früher ausführlich dargestellten 155, klassischen Staatszweck der Sicherheit; verändert wird nämlich nur der Modus der Produktion von Sicherheit. Während Sicherheit klassischerweise durch staatliche Autorität geschaffen wurde, beschränkt sich der (post-)moderne Staat auf Unsicherheitsabsorption ohne Fixierung auf eine bestimmte Art und Weise: Er kann Sicherheit autoritär, aber auch konsensual, kooperativ oder präzeptoral herstellen 156. Als Oberbegriff für diese unterschiedlichen Formen der Erzeugung von Sicherheit figuriert der Terminus ,,kommunikativ". N. Luhmann, in: ders., Soziologische Aufklärung 1, 6. Aufl. 1991, S. 154 ff., 161. E.-W. Böckenförde, Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, 1973, S. 24 ff.; H. Heller, Staatslehre, 6. Aufl. 1983, S. 87 ff., 225 ff. 152 J. Isensee, in: ders.lKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, § 13 Rdnrn. 56 f. 153 Zu diesen Zusammenhängen insgesamt und zusf. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 17. Aufl. 1990, § 1 Rdnrn. 11 ff. m.w.N. 154 J. Isensee, in: ders.lKirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, § 13 Rdnrn. 58 ff. 155 Siehe hierzu oben im Text sub § 8. B. 11. 156 Das Staatsbild wird damit gleichsam nur an die modernen Erkenntnisse über die Entstehung von Sicherheit (vgl. hierzu schon oben im Text sub § 6. B.) angepaßt. 150
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cc) Umwelt- und Binnenkomplexität
Aufgabe des im Staat zum Ausdruck kommenden politischen Systems 157 ist es, die in der Gesellschaft vorhandenen und entstehenden Konflikte zu thematisieren und abzubilden. Die kaum überschätzbare "Weltkomplexität" setzt dabei eine ebenfalls möglichst hohe "Systemkomplexität" voraus, die Konflikt, Dissens, Varianten und Alternativen erlaubt 158 . dd) Politik und Verwaltung als BinnendiJferenzierung
Anders ausgedrückt verlangt die damit geforderte optimale Offenheit des Staates eine hohe Binnendifferenzierung. Als gröbste Unterscheidung ist dabei diejenige zwischen Politik und Verwaltung erkennbar. Letzterer kommt hierbei die Aufgabe zu, die vom Staat zu erstellenden verbindlichen Entscheidungen auszuarbeiten und zu erlassen. Die Politik hat demgegenüber für die Akzeptanz der von der Verwaltung produzierten Entscheidungen insgesamt, nicht bezogen auf eine bestimmte Entscheidung, zu sorgen I59 . Um der hohen Umwe1tkomplexität möglichst gerecht zu werden, müssen sich Verwaltung und Politik ihrerseits weiter ausdifferenzieren. Dies kann und muß hier nicht mehr weiter verfolgt werden. Wichtig ist nur die Einsicht, daß diese Binnendifferenzierung des Staates entscheidend für die Abbildung und damit Beurteilung gesellschaftlicher Veränderungen ist; nach ihr richtet sich die Sensibilität des Staates für Veränderungen in seiner Umwe1t 160 • ee) Flexibilität und Reproduktion des StaatesOffenheit und Geschlossenheit
Der modeme Staat sieht sich damit vor dem Problem, ein Höchstmaß von Flexibilität ermöglichen, zugleich aber auch die permanente eigene Reproduktion si157 Die Begriffe Staat und politisches System sind nicht ohne weiteres deckungsgleich; vielmehr betonen beide eine jeweils andere Sichtweise ihres Bezugsobjekts. Dementsprechend findet sich die Bezeichnung politisches System vornehmlich in der Soziologie. Den Staatsbegriff verwenden demgegenüber die Rechts- und teilweise die Politikwissenschaften. Die systemtheoretisch orientierte Soziologie bevorzugt den Terminus politisches System insbesondere deshalb, weil er - anders als der Staatsbegriff - keine Mystifikation beinhaltet, sondern sein Bezugsobjekt funktional und im Zusammenhang mit der Vielzahl weiterer gesellschaftlicher Teilsysteme beschreibt; er ermöglicht daher Vergleiche zwischen diesen und dem politischen System. Überdies beschränkt sich die Anwendungsbreite des Begriffs politisches System nicht auf den nationalstaatlichen Bereich, sondern ist auch auf darüber angesiedelte Organisationsformen anwendbar (vgl. hierzu zusf. V. Ronge, in: D. Nohlen [Hrsg.], Wörterbuch Staat und Politik, 1991, S. 663 ff., 665 f.). Nachdem der Staat hier insbesondere aus systemtheoretischer Sicht beurteilt wird, werden die Termini im folgenden parallel verwendet. 158 Zu diesem Zusammenhang vgl. N. Luhmann, in: ders., Soziologische Aufklärung 1, 6. Auf!. 1991, S. 154 ff., 160, von dem auch die verwendeten Termini stammen. 159 So die Beschreibung der von N. Luhmann vertretenen Systemtheorie bei BöhretlJannl Kronenwett, Innenpolitik und politische Theorie, 3. Auf!. 1988, S. 262. 160 N. Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, 1981, S. 151.
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cherstellen zu müssen. Aus dem Blickwinkel der Systemtheorie 161 setzt dies sowohl Offenheit als auch Geschlossenheit voraus. Der Staat muß so nach einerseits Veränderungen in seiner Umwelt erkennen und auf sie reagiererr; andererseits müssen trotzdem die grundlegenden Operationen des Systems konstant bleiben. Konstanz meint dabei nicht Starrheit oder Unveränderbarkeit, sondern nur die Sicherung einer permanenten Neukonstitution der basalen Operationen. Als solche erweisen sich die Selektionsprozesse, mit denen das jeweilige System - hier der Staat - auf seine Umwelt reagiert. Dem Staat stehen sowohl auf der "input"- als auch auf der "output"-Seite nur bestimmte Möglichkeiten zur Selektion zur Verfügung. Veränderungen der Umwelt, die durch diese Filter nicht registriert werden, kann der Staat nicht wahrnehmen. Dies gilt auch umgekehrt: Die staatlichen Möglichkeiten, auf die Umwelt einzuwirken, beschränken sich ebenfalls auf die dem Staat zur Verfügung stehenden Handlungsformen 162 . ff) SystemlUmweltkontakt - symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
Als solche Filter erweisen sich allgemein die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien 163 , z. B. Kunst, Glaube, Religion, MachtJRecht, Eigentum! Geld, Liebe und Wahrheit 164. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien stellen einen Code generalisierter Symbole dar, die die Übertragung von Selektionsleistungen steuern. Sie erfüllen damit insofern die Funktion einer Sprache, als sie die intersubjektive Verständlichkeit garantieren. Darüber hinaus kommt Kommunikationsmedien eine Motivationsfunktion zu, weil sie dem Kommunikationspartner die Abnahme fremder Selektionsleistungen nahelegen und sie erwartbar machen 165. gg) Programm und Code
Damit läßt sich auch das systemtheoretische Zusammenspiel von invarianten und variablen Faktoren durch die Differenzierung zwischen - unveränderlichen Codes und - veränderbaren - Programmen beschreiben 166. Modifikationen im Umfeld des Staates können, ohne die permanente Neukonstitution und damit den Bestand des Staates zu gefährden, nur über Veränderungen der Programme aufgenommen werden. Eine direkte Intervention der Umwelt in die Codes des Staates würde zum Verlust der staatlichen Autonomie führen und damit die Existenz des 161 Zur Reproduktion aus der Sicht der Systemtheorie vgl. N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 61 f., 79, 258. 162 Ähnlich N. Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, 1981, S. 150 ff. 163 V gl. dazu bereits oben im Text sub § 4. C. III. 2. C. 164 N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Aufl. 1988, S. 222. 165 N. Luhmann, Macht, 2. Aufl. 1988, S. 7. 166 Zum Code namentlich aus der Perspektive der Diskurs- und der Systemtheorie von N. Luhmann vgl. U. Stäheli, Soziale Systeme 2 (1996), 257 ff.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
Staates vernichten. Dies ist weder anzustreben noch erforderlich, zumal Umwelteinwirkungen über die Programme ohne Existenzgefährdung des Staates aufgenommen werden können l67 . hh) Der autoritäre, konsensuale, kooperative, präzeptorale kurz - kommunikative Staat
Die Bezeichnung als kommunikativer Staat erweist sich wegen der hierin zum Ausdruck kommenden Offenheit und Flexibilität als besonders treffend. Kommunikativ ist nämlich der autoritäre, einseitig-hoheitlich handelnde Staat ebenso wie der konsensuale, kooperative oder der - sogleich zu behandelnde - präzeptorale Staat. Selbst der autoritäre Staat ist zugleich kommunikativ. Daß auch einseitig-hoheitliches Handeln kommunikativ ist, zeigt schon die Tatsache, daß man nicht nicht kommunizieren kann l68 .
c) Der "präzeptorale" Staat aa) Information als staatliches Kommunikationsmedium
Die Qualifizierung als präzeptoraler Staat bringt einen heute besonders in den Vordergrund drängenden Aspekt des "kommunikativen" Staates zum Ausdruck: Neben den dem Staat bisher zur Verfügung stehenden Kommunikationsmedien von MachtJRecht und Eigentum/Geld tritt nunmehr mit der Infonnation ein weiteres. Als präzeptoral wird der warnende und ennahnende oder allgemein: der informierende Staat bezeichnet l69 . bb) Der präzeptorale Staat als Reaktion auf die zunehmende Komplexität der staatlichen Umwelt
Infonnation wird damit neben Macht und Geld zum dritten Kommunikationsmedium des Staates, mit dessen Hilfe der Staat die zunehmende Individualisierung und Differenzierung in der Gesellschaft zu bewältigen sucht. Die vielfältigen, kaum noch überschaubaren Teilsysteme in der staatlichen Umwelt und die rapide abnehmende Integrationskraft herkömmlicher Integrationssysteme - insbesondere der Religion, der Familie und der Schule - setzen den Staat zunehmend außerstande, seine Umwelt umfassend und direkt zu steuern. Der Staat kann hierauf in dreifacher Weise reagieren: Er kann versuchen, - erstens - die Integrationskraft der H. Willke, Ironie des Staates, 1992, S. 167 ff. WatzlawicklBeavinlJackson, Menschliche Kommunikation, 8. Aufl. 1990, S. 50 ff. Vgl. auch den Hinweis für die Kommunikation des Staates bei H. Hill, JZ 1993, 330. 169 I. E. Vassilaki, eR 1997,90; U. Di Fabio, JuS 1997, 1 ff.; ders., JZ 1993, 689 (690). 167
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herkömmlichen Institutionen zu erhalten, - zweitens - die eigene Einheit aufgeben und sich darauf beschränken, das zersplitterte Bild der Gesellschaft wiederzugeben, oder - drittens - danach streben, seine Rolle der zunehmenden Spezialisierung und Differenzierung anzupassen!70. Im Hinblick auf die zuletzt genannte Möglichkeit liegt der Übergang zu einer indirekten Einwirkung nahe. Die beiden zuerst genannten staatlichen Reaktionen erscheinen demgegenüber wenig aussichtsreich: Das Ziel, die Integrationskraft der traditionellen Teilsysteme zu erhalten, negiert den gerade gegenteiligen Befund. Mit der bloßen Widerspiegelung der gesellschaftlichen Zerrissenheit verliert der Staat seine überkommene Führungsrolle. ce) Voraussetzungen für eine präzeptorale Steuerung
Dabei erweist sich der Erfolg einer präzeptoralen Steuerung als weitaus voraussetzungsvoller als der einer hierarchischen. Während Hierarchie erforderlichenfalls auf die Anwendung von Zwang zurückgreifen kann, ist Präzeption auf Verstehen angewiesen. Dies ist insofern besonders schwierig, als die für den Erfolg der Präzeption entscheidenden Kriterien durch das intervenierte System vorgegeben werden und diese Kriterien zudem nicht erkennbar sind. Denn das intervenierte System erscheint aus der Perspektive des präzeptoralen Staates als undurchdringbare Einheit!7!. Der präzeptorale Staat kann daher die Identität eines vorgefundenen Systems nicht ändern; er kann nur die Ausbildung und Perfektionierung einer, mit der Identität des Systems konformen Operationsweise, fördern. Selbst wenn dieser für sich schon mehr als problematische Vorgang gelingt, ergibt sich hierdurch eine neue Schwierigkeit: Der Staat wird nämlich durch sein präzeptorales Einwirken in die Einheitsbildung miteinbezogen, er verliert seine vordem übergeordnete, jedenfalls aber neutrale Rolle und kann deshalb die weitere Entwicklung nicht mehr umfassend objektiv beurteilen 172 .
d) Fazit - Der flexible Staat Zusammenfassend sind die in den Termini Staatskrise oder Staatsversagen zum Ausdruck kommenden Befürchtungen zurückzuweisen. Die Funktionsfähigkeit des Staates soll und muß ebenso erhalten bleiben wie seine besondere Stellung innerhalb der anderen Systeme. Freilich ist eine Relativierung der staatlichen Vorrangstellung sowohl zu konstatieren als auch hinzunehmen.
170 171 l72
H. Willke, Ironie des Staates, 1992, S. 152 f. H. Willke, Ironie des Staates, 1992, S. 164 f. H. Willke, Ironie des Staates, 1992, S. 299 f.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
Der Staat kann zwar Defizite der spezifischen Teilsysteme, insbesondere der Wirtschaft oder der Ökologie nicht im Wege eines Selbsteintritts beheben. Dies wird zum einen durch die funktionale Differenzierung, aus der gerade die unterschiedlichen gesellschaftlichen Systeme hervorgehen, verhindert 173. Zum anderen können sich Freiheitsbeschränkungen heute sowohl aus der staatlichen Intervention als auch aus der Nicht-Intervention ergeben. Nach wie vor kommt dem Staat jedoch insofern eine Sonderrolle zu, als nur er imstande ist, den in einer hochdifferenzierten Gesellschaft mehr denn je notwendigen, am öffentlichen Interesse oder Gemeinwohl orientierten Interessenausgleich zu gewährleisten 174, allgemein gültige Normen zu setzen, Gruppen- und Individualinteressen zu einem Ausgleich zu bringen und Partikularinteressen zurückzuweisen 175 . Selbst wenn sich im Umfeld des Staates ein kaum überschätzbarer Wandel vollzieht und insbesondere die überkommenen bürgerlichen Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit durch ökologische Erfordernisse für die Existenzerhaltung und Überlebenssicherung ergänzt werden, bleibt der Staat gleichwohl unverzichtbar. Diese nachhaltigen Modifikationen ändern freilich die Rolle des Staates: Die bisher vielfach für ausreichend gehaltene Legitimation durch Verfahren wird unzureichend, erforderlich werden materiale Begründungen und Rechtfertigungen. Der Wandel macht den Staat indessen nicht überflüssig. Diese Einschätzung wird durch einen empirischen Seitenblick bestätigt: Trotz oder wegen der kaum überseh- und beschreibbaren Veränderungen im staatlichen Umfeld sind die Aufgaben des Staates nicht gesunken, sondern gestiegen. Der Staat übernimmt heute deutlich mehr Aufgaben und - damit verbunden - die Verantwortung für immer mehr Bereiche 176. Es ist also weniger ein Abbau als vielmehr eine "Aufblähung" des Staates zu befürchten. Der sonach zu fordernde flexible Staat entspricht dem vorausgehend dargestellten kommunikativen Staat.
2. Der "kommunikative Staat" in der Entwicklung der Staatsbilder
Das hier gefundene flexible und kommunikative Staatsverständnis stellt den vorläufigen Endpunkt einer insgesamt kontinuierlichen historischen Entwicklung dar. Dementsprechend sind zwar Parallelen mit einigen überkommenen Staatsauffassungen, nicht aber eine vollständige Übereinstimmung zu erwarten.
173 Vgl. für das Verhältnis von Staat und Wirtschaft N. Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, 2. Aufl. 1989, S. 325 und für das Verhältnis von Staat und Ökologie N. Luhmann, Ökologische Kommunikation, 3. Aufl. 1990, S. 174 f., 181 f. 174 M. Bulling, in: Hesse/Zöpel (Hrsg.), Der Staat der Zukunft, 1990, S. 81 ff., 85. 175 H. P. Bull, in: Hesse/Zöpel (Hrsg.), Der Staat der Zukunft, 1990, S. 31 ff., 38. 176 H. P. Bull, in: Hesse/Zöpel (Hrsg.), Der Staat der Zukunft, 1990, S. 31.
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a) Entwicklungstendenzen der Staatsbilder aa) Gruppen von Staatsauffassungen
Die insgesamt kaum überschaubaren Staatsauffassungen können zunächst in verschiedene Gruppen eingeteilt werden, die sich vornehmlich in der Einschätzung des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft unterscheiden: (1) Das konservative Staatsverständnis
Konservative Staatsauffassungen sehen den Staat als Wert an sich und halten ihn daher im Verhältnis zur Gesellschaft für übergeordnet. Sie rechnen den Staat dem Raum von Geist und Sittlichkeit zu; in ihm herrschen Freiheit und Gleichheit der Staatsbürger. Die Gesellschaft ist demgegenüber durch Interessenauseinandersetzungen geprägt; sie zeichnet sich durch Ungleichheit aus 177 • Dabei wird dem Staat grundsätzlich eine Allzuständigkeit eingeräumt: Er darf, solange er Belange des Gemeinwohls verfolgt, in freier Entschließung und eigener Verantwortung alle die Aufgaben an sich ziehen, die er für erforderlich hält 178 . Hierin liegt kein Widerspruch zu der schon früher festgestellten zunehmenden Konvergenz von Staat und Gesellschaft. Diese erkennen vielmehr auch die konservativen Staats auffassungen und kritisieren sie. Teilweise sprechen die Vertreter eines konservativen Staatsverständnisses dem modernen Staat die Staatsqualität ab; dieser - so wird argumentiert - erfülle die an einen Staat zu stellenden Grundvoraussetzungen nicht mehr. Die Staatsqualität setze voraus, daß der Staat das Gemeinwohl verkörpert, die Freiheit der Bürger garantiert sowie Krisen und Ernstfälle bewältigt. Diesen Anforderungen entspreche der modeme Staat nicht; er sei in seinem Wirken von der Gesellschaft abhängig. Das Handeln des modemen Staates werde durch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse bestimmt, der Staat sei nicht mehr Herr, sondern Funktion der Gesellschaft, seine Stabilität hänge von derjenigen der Gesellschaft ab l79 . Im Zeitalter der Technik wird insbesondere eine Ablösung der staatlichen Sonderrolle durch die Technik befürchtet. Der Staat, verstanden als Produzent verbindlicher Entscheidungen, steht diesen konservativen Staatsbildern insgesamt neutral gegenüber. Das hier vertretene Staatsverständnis widerspricht konservativen Positionen einerseits insofern, als es das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft nicht hierarchisch, sondern funktional definiert; andererseits stimmen die konservativen Positionen und die hier ver-
177 G. W. F. Hege\, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1955, S. 207 ff.; E. Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel, 1954 - 1973,2. Aufl. 1976, S. 41; Böhret/JannlKronenwett, Innenpolitik und politische Theorie, 3. Aufl. 1988, S. 285; R. Voigt, in: GörlitzJPrätorius (Hrsg.), Handbuch Politikwissenschaft, S. 508 ff., 509. 178 H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 760 f. 179 So die Zusammenfassung bei Böhret/Jann/Kronenwett, Innenpolitik und politische Theorie, 3. Aufl. 1988, S. 286 m.w.N.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
tretene Ansicht insofern überein, als sowohl die einen als auch die anderen dem Staat eine Sonderrolle zumessen und in ihm einen Wert an sich sehen. (2) Pluralistische Staatsauffassungen Im Gegensatz zu den konservativen Staatsauffassungen sehen die pluralistischen in den Verschränkungen zwischen Staat und Gesellschaft keine Krise des Staates, sondern halten sie für notwendig und begrüßen sie. Nach den pluralistischen Staatsauffassungen erscheint der Staat - anders als nach den konservativen - nicht als alleiniger Hüter, Interpret und Sachwalter des Gemeinwohls. Dieses wird vielmehr durch die politischen, ökonomischen und sozialen Kräfte bestimmt. Dem Staat kommt hierbei die Rolle eines Schiedsrichters ZU I80 , der insbesondere dafür sorgen soll, daß alle Interessen und Gruppen hinreichenden Einfluß erhalten 181. Diese Staatsauffassungen haben den Vorteil, daß sie die mit dem technischen Fortschritt verbundenen, kaum bestreitbaren gesellschaftlichen Veränderungen nicht als Bedrohung des Staates bewerten müssen, sondern sie ohne weiteres in ihr Staatsbild aufnehmen können. Die hiesige Sicht des Staates als Produzent verbindlicher Entscheidungen fügt sich in diese Staatsauffassungen insofern nahtlos ein, als auch sie darauf abzielt, durch die gesellschaftlichen Kräfte gefundene Entscheidungen staatlich zu sanktionieren. (3) Interventionistische Staatsauffassungen Das Erfordernis staatlicher Eingriffe zur Steuerung der gesellschaftlichen Entwicklung vernachlässigen die skizzierten pluralistischen Staatsbilder; eben dieses betonen hingegen die interventionistischen Staatsauffassungen, innerhalb derer zwischen planungs- und krisentheoretischen Positionen differenziert werden kann. Die Meinungen innerhalb der interventionistischen Staatsbilder unterscheiden sich insbesondere in der Einschätzung der für den Staat bestehenden Steuerungshindernisse. Die Ansätze der policy science sehen zwar Kompetenzen, die Wirtschaftsverfassung, Sachzwänge und Konsensgrenzen als staatsinterne und die wirtschaftlichen Schwankungen, horizontale Ungleichheiten zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Lebensbereichen - insbesondere solchen, die den Bestand des bestehenden Systems gefährden können, und anderen - als externe Beeinträchtigungen der staatlichen Steuerung an. Sie halten diese Restriktionen staatlichen Handeins aber durch eine Erhöhung der Problemverarbeitungskapazität - insbesondere durch eine Steigerung der Informations-, Koordinations- und Konfliktregelungskapzität l82 für überwindbar. Nach der politischen Krisentheorie bestehen 180 Böhret/JannlKronenwett, Innenpolitik und politische Theorie, 3. Auf!. 1988, S. 287 ff.; R. Voigt, in: GörlitzJPrätorius (Hrsg.), Handbuch Politikwissenschaft, S. 508 ff., 509 f. 181 E. Fraenkel, in: ders., Reformismus und Pluralismus, 1973, S. 430 ff. 182 Vgl. die Zusammenfassungen bei Böhret/JannlKronenwett, Innenpolitik und politische Theorie, 3. Auf!. 1988, S. 289 ff.; R. Voigt, in: GörlitzJPrätorius (Hrsg.), Handbuch Politikwissenschaft, S. 508 ff., 510.
§ 8 Wandel von Staat, Gesellschaft und Recht
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derartige Restriktionen nicht; der Staat handelt vielmehr aus Interesse an sich selbst. Beim Versuch, sein eigenes Handeln zu optimieren, kann der Staat aber - so die Vertreter der politischen Krisentheorie - wiederum selbst neue krisenhafte Entwicklungen auslösen 183. Auch mit diesen Theorien steht die hiesige Ansicht, derzufolge der Staat durch die Produktion verbindlicher Entscheidungen charakterisiert ist, im Einklang. bb) Der Rückzug des Staates aus Konfliktfeldern
Das Verständnis des Staates als Kommunikationspartner steht am Ende einer Entwicklung, die sich durch die zunehmende Ausdifferenzierung unterschiedlicher Funktionsbereiche auszeichnet. Dabei ist der Staat seiner Aufgabe zur Einheitsbildung im historischen Rückblick vielfach dadurch gerecht geworden, daß er sich aus Konfliktfeldern zurückzog und sie der Gesellschaft überantwortete l84 . An erster Stelle ist hier der Rückzug des Staates aus dem Religionsstreit zu nennen. Daneben können die grundrechtlichen Freiheiten der Meinung, der Medien, der Koalitionen, der Wissenschaft, etc. angeführt werden. Indem der Staat in diesen Bereichen Dissens erkennt und zuläßt, sichert er seinen Bestand, zumal er in diesen Konflikten sodann nicht mehr als Partei, sondern als neutrale Instanz auftritt. Diese Strategie stößt indessen unbestreitbar auf mehrfache Grenzen: Zum einen ist gerade der Staat oder das politische System die einzige Instanz, die den gesellschaftlichen Wandel begleiten und steuern kann. Es ist nämlich weder aktuell noch historisch ein anderes Teilsystem erkennbar, dem eine ähnlich umfassende oder umfassendere Kompetenz zukäme 185. Vielmehr wurde und wird das durch den Staat repräsentierte politische System als ,,zentrum" oder "Spitze", jedenfalls aber als privilegierte Teileinheit verstanden l86 . Die Erwartungen an den Staat gehen dabei soweit, daß selbst eine Nichtentscheidung als Entscheidung bewertet wird l87 . Zum anderen höhlt ein Staat, der immer weitere konfliktträchtige Sachbereiche der Gesellschaft (rück-)überantwortet, sich gleichsam selbst aus und wird hierdurch entbehrlich. Dem wird vorgebeugt, indem entweder bestimmte Entscheidungen - insbesondere solche über Existenzfragen des ganzen Volkes - einer Privatisierung entzogen werden 188 oder indem die Rolle des Staates modifiziert und auf 183 Siehe dazu zusf. BöhretlJann/Kronenwett, Innenpolitik und politische Theorie, 3. Auf!. 1988, S. 291 ff.; R. Voigt, in: GörlitzlPrätorius (Hrsg.), Handbuch Politikwissenschaft, S. 508 ff., 510.
184 Vgl. hierzu sowie zum folgenden J. Isensee, in: ders.lKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1,1987, § 13 Rdnrn. 50 ff.
N. Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, 1981, S. 143 f. N. Luhmann, Ökologische Kommunikation, 3. Auf!. 1990, S. 167 ff. 187 N. Luhmann, in: ders., Soziologische Aufklärung 1,6. Auf!. 1991, S. 154 ff., 161. 188 J. Isensee, in: ders.lKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, § 13 Rdnr.55. 185
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
die bloße Bereitstellung von Verfahren zur Koordination und Konsensbildung gegenüber und unter den Bürgern reduziert wird 189 . Die letztere Tendenz wird hierbei zugleich der Erkenntnis, daß es keinen eindeutigen, einheitlichen und ewigen Zweck des Staates gibt und der damit verbundenen Abkehr von einem mechanistisch-instrumentalistischem Staatsbild gerecht 190. Dies hat zur Folge, daß sich auch das Interesse der Staatswissenschaften - anders als vordem - nicht mehr auf die staatlichen Institutionen und Instrumente beschränkt, sondern darüber hinaus auch das staatliche Handeln und damit auch die prozessuale Dimension des Staates mit in den Blick nimmt.
b) Die Staatsbilder im einzelnen - Überblick aa) Die Problematik der Staatsdefinition
Der Wissenschaft ist es bislang trotz unzähliger Vorschläge nicht gelungen, eine gemeinsame Definition des Staates vorzulegen. Teilweise glaubt man, daß es keinen Sinn habe, den Staat definieren zu wollen, da man Gemeinschaften und Lebensordnungen nur charakterisieren könne 191 . Auch wird angenommen, es gebe keine zeitlos gültige Definition des Staates 192 und - weiter gehend -, es könne einen ein für allemal gültigen Staat auch nicht geben 193 . Ob diese Feststellung auch für die hier vertretene, von der Funktion des politischen Systems ausgehende Meinung, derzufolge der Staat ein gesellschaftliches Teilsystem mit der Aufgabe, verbindliche Entscheidungen zu produzieren, darstellt, gilt, kann an dieser Stelle offenbleiben. bb) Der Staat in den einzelnen WissenschaJtsdisziplinen
Die Heterogenität der Staatsauffassungen überrascht insofern wenig, als die einzelnen Wissenschaften den Staat mit jeweils unterschiedlichen Erkenntnisinteressen betrachten. Eben deshalb wird der Staat in den RechtswissenschaJten zumeist durch die Elemente Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt definiert 194 . Das Recht knüpft nämlich an die Staatsqualität eine derartige Vielzahl von Folgerungen, daß klare Merkmale als Entscheidungsgrundlage für die Frage, ob ein soziales 189 Siehe hierzu R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, insb. S. 135 ff. 190 J. J. Hesse, in: EllweinlHesse (Hrsg.), Staatswissenschaften: Vergessene Disziplin oder neue Herausforderung?, S. 151 ff., 152. 191 So E. v. Hippe!, Allgemeine Staatslehre, 2. Auf!. 1967, S. 213. 192 R. Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Auf!. 1968, S. 517 ff., 519. 193 K. Loewenstein, Verfassungslehre, 3. Auf!. 1975, S. V. 194 Die Drei-Elemente-Lehre geht auf G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Auf!. 1914, S. 394 ff. zurück. - Siehe heute z. B. P. Badura, Staatsrecht, 1986, S. 3 f.
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Gebilde Staatseigenschaft besitzt, unabdingbar sind l95 . Die Soziologie richtet ihren Blick demgegenüber verstärkt auf die Art, wie der Staat in Erscheinung tritt l96 ; ihr Thema sind insbesondere die gesellschaftlichen Wechselbeziehungen. Sie analysiert - in der Terminologie der Soziologie - die "Rollen", d. h. die Verhaltensmuster der Individuen und folgert, daß die Menschen sich so verhalten, als ob es den Staat als Einheit gäbe. Aus der Sicht der Soziologie erscheint der Staat sonach als komplexes Rollenerwartungssystem l97 . Die Philosophie richtet ihr Augenmerk demgegenüber nicht auf die aktuellen oder historischen Erscheinungsformen des Staates, sondern auf die über die Zeiten hinweg fortbestehende Identität des Staates; der Staat in seinen derzeitigen oder früheren Gestalten stellt für die Philosophie nur den Ausgangspunkt für die Erschließung des Staates und der ihn konstituierenden Elemente dar 198 . Im Hinblick auf diese Interessen der unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen ergibt sich zwischen den traditionellen Staatsauffassungen und dem hier verfolgten Staatsverständnis kein erkennbarer wesentlicher Unterschied. Die hiesige Staatsdefinition wird den angeführten rechtswissenschaftlichen, soziologischen und philosophischen Anforderungen ebensowenig oder ebensoviel gerecht wie die überkommenen Staatsauffassungen. Bei einer - im hiesigen Rahmen nur möglichen - kursorischen Betrachtungsweise ist die Definition des Staates als System zur Produktion verbindlicher Entscheidungen geeignet, die grundsätzlichen Anforderungen der Rechtswissenschaft insofern zu erfüllen, als sie eine hinreichend klare Bestimmung, ob einem sozialen Gebilde Staatsqualität zukommt, ermöglicht. Das hiesige Verständnis wird auch den soziologischen Ansprüchen gerecht, zumal der Staat eben gerade durch die Produktion verbindlicher Entscheidungen sozial in Erscheinung tritt. Im Hinblick auf den Blickwinkel der Philosophie ist festzuhalten, daß das hier vertretene Staatsverständnis an keine einzelne, auf einen bestimmten Zeitpunkt fixierte Erscheinungsform des Staates festgelegt ist, sondern unabhängig von dem erheblichen Wandel, dem der Staat unterlag, gültig ist. ce) Die Natur des Staates
Die Auffassung vom Staat als Produzenten verbindlicher Entscheidungen steht auch mit den bekannten Versuchen, die Natur des Staates zu beschreiben, im Einklang. Diesen ist das Bestreben gemeinsam, den Staat als Einheit zu konstituieren.
Wittkämper/Jäckering, Allgemeine Staatslehre und Politik, 2. Auf!. 1990, Rdnr. 12. Wittkämper/Jäckering, Allgemeine Staatslehre und Politik, 2. Auf!. 1990, Rdnr. 13. 197 Vgl. die Beschreibung der soziologischen Sicht des Staates bei P. Pemthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 1986, S. 28. 198 U. Matz, in: KringslBaumgartner/Wild (Hrsg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Studienausgabe, Bd. 5,1974, S. 1403 f. 195
196
342
2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
(I) Die Organismustheorien Die Organismustheorien, die im Staat ein Lebewesen sui generis entweder im Sinne eines Willensverbandes oder eines sonstigen lebendigen Ganzen sehen l99 , führen zu keinem Widerspruch mit der hier vertretenen Ansicht. Diese insbesondere im Mittelalter weit verbreiteten, aber auch später noch vielfach vertretenen 200 Theorien, die die Begriffe der Staatslehre bis heute prägen (z. B. Staatsoberhaupt, Staatsorgan etc.), stehen einer Sicht des Staates als komplexem Steuerungs- und Informationssystem nicht entgegen 201 . (2) Der Staat als reales Beziehungsgefüge
Die vornehmlich soziologisch orientierte Auffassung vom Staat als realem Beziehungsgefüge 202 nimmt zwar - verglichen mit den Organismustheorien - einen grundsätzlich anderen Standpunkt ein. Während jene dem Staat überindividuellen Charakter zubilligen, wird das Wesen des Staates nach diesen durch die Individuen und die zwischenmenschlichen wechselseitigen Beziehungen charakterisiert. Der Staat stellt nach diesen Ansichten einen Komplex spezifischen Zusammenhandelns von Menschen dar; er besteht, weil die Menschen sich bei ihren Handlungen daran orientieren, daß er besteht oder bestehen so1l203. Der Staat stellt sonach - dies erscheint besonders wichtig - keine feste, statische Einheit dar, die sich durch Gesetze, Verwaltungsakte, Urteile etc. äußert; vielmehr wird umgekehrt der Staat erst durch diese, seine Akte gebildet204 . Eben deshalb gibt es auch keinen Staat im Sinne einer starren unveränderlichen Einheit, sondern nur eine sich permanent neu bildende staatliche Gesamtheit 205 . 199 Vgl. J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts, 1796; F. W. Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur, 2. Aufl. 1803, Einleitung; F. W. Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, 1802. - Zu den Organismustheorien z. B. P. Badura, Die Methoden der neueren Allgemeinen Staatslehre, 1959, S. 87 ff., 115 ff.; H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 147 ff.; H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 10 ff., 376 ff.; F. Ermacora, Allgemeine Staatslehre, 1970, S. 72; R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 95 ff., 100 f.; P. Pemthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 1986, S. 26 f.; R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 11. Aufl. 1991, S. 27 f. 200 Siehe insb. O. v. Gierke, Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung, 1883 und H. Preuss, Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveränität, 1889. 201 P. Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 1986, S. 27.; R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 11. Aufl. 1991, S. 29. 202 G. Simmel, Soziologie, 4. Aufl. 1958; L. v. Wiese, Allgemeine Soziologie, 4. Aufl. 1966; M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe, 5. Aufl. 1976, S. 1 ff. - Dazu F. Ermacora, Allgemeine Staatslehre, 1970, S. 409 ff.; H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 150 f.; H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 7 ff.; P. Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 1986, S. 27 ff.; R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 11. Aufl. 1991, S. 29 ff. 203 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe, 5. Aufl. 1976, S. 7. 204 R. Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Aufl. 1968, S. 119 ff., 136.
§ 8 Wandel von Staat, Gesellschaft und Recht
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Auch innerhalb der Auffassungen, die den Staat als reales Beziehungsgefüge verstehen, besteht keine Einigkeit darüber, wie die staatliche Einheitsbildung erfolgt. Die soziologisch orientierten Vertreter stellen hierbei insbesondere auf die innere Willensrichtung der Menschen ab und meinen, diese sei für die Bildung des Staates als Einheit ausschlaggebend. Das von R. Smend geprägte Verständnis des Staates als Integrationsordnung geht zwar auch von einer Einheitsbildung durch gemeinschaftliches menschliches Handeln aus. Im Gegensatz zu den soziologisch orientierten Ansichten ist für die staatliche Einheitsbildung hiernach aber nicht nur die innere Einstellung der Menschen, sondern auch das vielgestaltige menschliche Umfeld entscheidend. Integrationsfaktoren sind danach das Recht, die Wirksamkeit staatlicher Institutionen und die gesamte Kultur206 • Gleichwie, ob der Staat autoritär, kooperativ, konsensual, präzeptoral oder schlicht kommunikativ handelt, gehen alle an staatlichen Handlungen Beteiligten sowohl die für den Staat Handelnden als auch die Adressaten staatlicher Maßnahmen - davon aus, daß der Staat letztlich eine verbindliche Entscheidung selbst produzieren bzw. das gemeinsam erarbeitete Ergebnis in seinen Willen aufnehmen und ihm dadurch allgemeine Verbindlichkeit verschaffen soll. Ein gleich gerichteter innerer Wille der den Staat konstituierenden Menschen ist insofern auch nach dem hiesigen Verständnis des Staats als Produzenten verbindlicher Entscheidungen ohne weiteres zu bejahen. Dies gilt auch im Hinblick auf die gegenläufige Meinung, derzufolge die Koordination der Menschen zu einem Staat nicht nur vom inneren Willen der Menschen, sondern auch von deren gesamtem Umfeld abhängt. (3) Der Staat als Nonnenkonstruktion Das von Kelsen 207 geprägte Verständnis des Staates als Nonnenkonstruktion erscheint ähnlich einseitig wie die - schon angeführte - Ansicht, derzufolge die staatliche Einheitsbildung allein auf der inneren Willensrichtung der Menschen beruht. Nach der von Kelsen vertretenen Reinen Rechtslehre ist das Recht nicht nur ein Integrationsfaktor für die staatliche Einheitsbildung, sondern der einzige 208 • Der Staat produziert danach die Rechtsordnung nicht nur, sondern ist mit ihr identisch. Die hier vertretene Ansicht vom Staat als Produzenten verbindlicher Entscheidungen steht mit dem von Kelsen geprägten Staatsverständnis in Einklang, zumal der Entscheidungsprozeß nonnorientiert erfolgt. Ob Recht damit zugleich der einzige Integrationsfaktor ist, kann offenbleiben. Das Verständnis des Staates als Pro205 R. Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Auf!. 1968, S. 119 ff., 134 f. 206 P. Pemthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 1986, S. 28 f. 207 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Auf!. 1960; H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 2. Auf!. 1966, S. 13 ff.; H. Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, 2. Auf!. 1928. 208 VgI. Z. B. H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 2. Auf!. 1966, S. 14 f., 16 ff.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
duzenten verbindlicher Entscheidungen ist sowohl mit einem einzigen als auch mit einer Gesamtheit von Integrationsverfahren kompatibel. (4) Der Staat als Prozeß Der Staat, verstanden als Prozeß 209 , stimmt ebenfalls mit der hier vertretenen Ansicht vom Staat als Produzenten verbindlicher Entscheidungen überein, zumal Entscheidungen verfahrensmäßig vorstrukturiert werden müssen. Nach dieser Ansicht findet die staatliche Einheitsbildung durch Verfahren statt. Verfahren koordinieren die menschlichen Handlungen und versuchen einen Konsens der Bürger zu bilden. Aufgabe des Staates ist es hiernach, dauerhaft und verläßlich eine vorausschauende Planung und ein bewußtes, auf Einheitsbildung gerichtetes Handeln zu gewährleisten. Der Staat ist sonach eine durch das Recht organisierte funktionelle Wirkungseinheit, der die Äußerungen aller in ihm tätigen Elemente und Einflüsse zugeordnet werden 21O • Die Auffassung vom Staat als Prozeß und die hiesige, derzufolge sich der Staat durch das Produzieren verbindlicher Entscheidungen auszeichnet, stimmen zudem insofern überein, als beide Ansichten erkennen, daß der Staat kein statisches, zeitloses Gebilde ist, sondern permanent neu konstituiert werden muß. (5) Fazit - Minimierung der Anforderungen an den Staat oder Summe der einzelnen Staatsauffassungen Insgesamt kann daher festgehalten werden, daß alle vorausgehend kurz skizzierten Staatsauffassungen unbestreitbar richtige Aspekte der Staatlichkeit beschreiben. Bedenken bestehen nur gegen solche Ansichten, die ihre Staatsdefinition als absolut und umfassend verstehen. Korrekterweise muß zugestanden werden, daß jede Umschreibung des staatlichen Wesens nur den jeweils eigenen Blickwinkel erfaßt. Eine Definition, die den Staat vollends und zugleich zeitunabhängig beschreibt, wird es nicht geben. Der Staat ist weder ausschließlich sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit noch allein ideell zu qualifizieren, sondern beides: Er muß fortwährend durch sinnhafte, kulturbedeutsame menschliche Akte erneuert werden. Die staatliche Realität besteht somit in seiner Aktualität 211 • Die Staatslehre kann dem in zweifacher Weise gerecht werden: Sie kann sich entweder auf eine sehr allgemein gehaltene Beschreibung des Staates beschränken oder muß, statt einer einzigen, eine Summe von Definitionen bieten. Letztere Möglichkeit wird gewählt, wenn der Staat als ontologische, politische und normative Einheit212 verstanden wird. Die erstere Alternative ist angesprochen, wenn im Staat nur eine "dynamische Verbindung mehrerer Schichten oder Seinsweisen der politisch/recht209 R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 135 ff.; P. Pemthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 1986, S. 32. 210 R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 135 ff. 2ll H. Heller, in: A. Vierkandt, Handwörterbuch der Soziologie, 1931, S. 608 ff., 612. 212 Vgl. z. B. F. Ermacora, Allgemeine Staatslehre, 1970, S. 269 ff.
§ 8 Wandel von Staat, Gesellschaft und Recht
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lichen Ordnung" erblickt wird oder - wie hier - der Staat (nur) als Produzent verbindlicher Entscheidungen verstanden wird 213 .
3. Staat und Information - Die Auswirkungen des gefundenen Staatsverständnisses auf die Rechte und Pflichten des Staates zur Informationserhebung, -verarbeitung und -weitergabe
Die Rechte und Pflichten des Staates zur Informationserhebung, -verarbeitung und -weitergabe hängen entscheidend vom jeweiligen Staatsverständnis ab. Trotz vielfältigster Bemühungen ist der Staatsbegriff nach wie vor weitgehendst ungeklärt. J. Isensee spricht prägnant vom "Dilemma des Staatsbegriffs,,214. Ein vollständiger oder weitreichender Ausschluß des Staates von Informationen, wie er insbesondere nach dem "Volkszählungs-"Urtei1215 vielfach gefordert wurde, kommt freilich nach keinem der noch so heterogenen Staatsbilder in Betracht. Der autoritäre Staat benötigt im Gegenteil möglichst umfassende Informationen. Andernfalls wäre sein Anspruch, einseitig-hoheitliche Entscheidungen zu treffen und diese notfalls gewaltsam durchzusetzen, nicht gerechtfertigt 216 . Eben dies gilt, wenn auch in abgeschwächter Form, auch für den präzeptoralen Staat. Der informierende oder belehrende Staat verlangt ebenfalls optimale Sachkenntnis, zumal staatliche Hinweise, Warnungen etc. vielfach eine ebenso große Eingriffsintensität aufweisen wie zwingende Ver- oder Gebote. Auch für den kooperativen Staat ist ein möglichst großes Wissen unverzichtbar, obwohl der Staat hier nur als pares inter pares auftritt. Wenn der Staat wie ein Privater an Verhandlungen teilnimmt, müssen ihm Informationserhebung, -verarbeitung und -weitergabe jedenfalls insoweit erlaubt werden, wie dies auch den übrigen privaten Verhandlungspartnern zugestanden wird. Weitergehende Restriktionen des Staates würden das Gleichgewicht der Verhandlungspartner stören und den Staat benachteiligen. Forderungen, die staatliche Informationstätigkeit weiter als die Privater zu beschränken, ist mithin schon deshalb eine Absage zu erteilen. Darüber hinaus verlangt im Gegenteil auch der Staat, verstanden als Kooperationspartner, eine erhöhte staatliche Informationstätigkeit. Denn auch nach diesem Modell bleibt der Staat - anders als seine privaten Verhandlungspartner - dem Gemeinwohl verpflichtet. Ungünstige Vereinbarungen gehen nur vordergründig zu Lasten 213 Zum Verhältnis von Staat und Verfassung vgl. insbesondere D. Merten, in: Kloepfer/ MertenlPapier/Skouris, Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Verfassungsgeschichte, 1994, S. 19 ff. 214 J. Isensee, in: ders.lKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, § 13 Rdnm.26f. 215 BVerfGE 65, 1 ff. 216 E.-H. Ritter, in: D. Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben - sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 69 ff., 70.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
des agierenden Staates; richtig besehen beeinträchtigen sie die Allgemeinheit, für die der Staat als juristische Person und Zuordnungsobjekt steht. Insgesamt plädieren die unterschiedlichen Staatsbilder eher für eine verstärkte als für eine verringerte staatliche Informationstätigkeit. Damit soll jedoch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Abwehrrecht der Bürger gegen den Staat nicht übersehen werden. Vielmehr erscheint der Staat hier in seinem überkommenen Bild als Leviathan. Dieses Staatsverständnis verlangt eine Einschränkung der staatlichen Informationstätigkeit. Zwischen diesen konträren Anforderungen - verstärkte staatliche Informationstätigkeit einerseits, Einschränkung der staatlichen Informationstätigkeit andererseits - ist ein sinnvoller Ausgleich anzustreben. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, daß der Staat nur solche Informationen bei seinen Entscheidungen berücksichtigen oder ggf. als Hinweise oder Warnungen an die Bürger weitergeben kann, die er in zulässiger Weise erhoben oder durch Verarbeitung vorhandener Informationen gewonnen hat. Eine Mißachtung dieser eigentlich banalen Erkenntnis hätte ein strukturelles Dilemma zur Folge: Der Staat müßte - vereinfacht ausgedrückt - geben ohne zu nehmen 217 . Ein vernünftiger Ausgleich zwischen den staatlichen Informationserfordernissen und dem Interesse des Bürgers, seine Identität nicht umfassend offenbaren zu müssen, kann - dies wird im weiteren Verlauf der Untersuchung näher zu prüfen sein darin liegen, dem Staat weitreichende Befugnisse zur Informationserhebung und -verarbeitung einzuräumen, die Informationsweitergabe durch den Staat jedoch grundsätzlich restriktiv zu handhaben.
C. Recht und Kommunikation Nachdem eingangs 218 die faktischen und rechtlichen Probleme der Polizei aufgezeigt worden waren, ist im folgenden zu untersuchen, inwieweit sich hierbei im Polizeirecht eine Krise des Rechts allgemein 219 widerspiegelt. Sodann ist ggf. zu fragen, ob die für das Recht allgemein vorgeschlagenen Abhilfemöglichkeiten auch im Polizeirecht greifen können. 217 Daß dieser Aspekt trotz seiner Banalität keineswegs selbstverständlich Beachtung findet, zeigen die Befürchtungen Böckenfördes (E.-W. Böckenförde, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 185 ff., 2\0 f.) im Hinblick auf die Divergenz zwischen den umfangreichen sozialstaatlichen Erwartungen an den Staat einerseits und dessen eingeschränkten Interventionsrechten andererseits. 218 Vgl. dazu oben im Text sub § I. 219 Überblicksartig zu den Problemen der Steuerung durch Recht M. R. Deckert, ZRP 1995, 63 ff. - Umfassend zur staatlichen Steuerung in interdisziplinärer Perspektive die Beiträge in Teil II bei König/Dose (Hrsg.), Instrumente und Formen staatlichen Handeins, 1993, S. 153 ff.
§ 8 Wandel von Staat, Gesellschaft und Recht
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I. Recht als autopoietisches System Mit dem Wandel der Gesellschaft und des Staates geht auch ein Wandel des Rechts einher. Neben dem Staat ist auch das Recht kommunikativ orientiert. R. Pitschas hat den Charakter von Recht als Kommunikationsform betont. Recht strukturiert Kommunikation, indem es Muster zur Ortung von Problemen und zur Sachverhaltsfeststellung vorgibt 22o. Nach der von N. Luhmann vertretenen Theorie autopoietischer Systeme hat Recht ebenfalls Systemcharakter. Es stellt ein kommunikatives System dar, in dem jeweils eine Kommunikation an die andere anschließt. Die Leitunterscheidung des Rechtssystems ist dabei die Differenz zwischen Recht und Unrecht.
11. Entwicklungstendenzen der Steuerung durch Recht Die staatliche Steuerung durch Recht, das neben Macht, Geld, Moral und Wissen zu den wichtigsten Steuerungsmedien in den westlichen Industriegesellschaften gehört221 , ist durch die Tendenzen der Verrechtlichung einerseits und der Gegentendenz der Entrechtlichung andererseits geprägt.
1. Verrechtlichung
Verrechtlichung meint sowohl die Detaillierung und Spezifizierung bestehender rechtlicher Regelungen als auch die Ausdehnung des Rechts auf bislang hiervon nicht erfaßte Bereiche 222 . Ersteres wird auch als Zunahme der Regelungstiefe bzw. als "interne Verrechtlichung", letzteres als Erhöhung der Regelungsdichte bzw. "externe Verrechtlichung" charakterisiert. Als Maßstab für den Grad der Verrechtlichung dient der sog. Regelungsbesatz, d. h. die Menge gültiger Rechtsnormen mit Steuerungsintention 223. Innerhalb des als Verrechtlichung beschriebenen Gesamtphänomens sind die Parlamentarisierung, Justizialisierung und Bürokratisierung unterscheidbar.
220 R. Pitschas, in: Hoffmann-RiemlSchmidt-AßmannlSchuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 219 ff., 228 f. 221 R. Voigt, in: ders., Recht als Instrument staatlicher Steuerung, 1988, S. I. 222 R. Voigt, in: ders., Gegentendenzen zur Verrechtlichung, 1983, S. 17. 223 R. Voigt, in: ders., Recht als Instrument staatlicher Steuerung, 1988, S. 33.
348
2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
a) Parlamentarisierung Unter Parlamentarisierung oder Vergesetzlichung versteht man die steigende Normproduktion der Parlamente, die mit einer Ausdehnung des ihnen zuzuordnenden Zuständigkeits- und Einflußbereichs verbunden ist 224 • Als positiver Aspekt dieser Entwicklung kann zwar angeführt werden, daß das Parlament - anders als Exekutive und Judikative - unmittelbar demokratisch legitimiert ist. Zudem wird ein Parlamentsgesetz den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts und der Wesentlichkeitstheorie am ehesten gerecht. Dem stehen jedoch eine Vielzahl häufig nicht hinreichend berücksichtigter Nachteile der Parlamentarisierung gegenüber: So verlieren die Gesetze insbesondere zunehmend an Steuerungskraft. Anders als unter den Anfangsbedingungen des Rechtsstaates im 19. Jahrhundert sind die gesellschaftlichen Verhältnisse heute unüberschaubar und unbeständig; die zu schützenden Werte sind umstritten. Auch kann sich der modeme Wohlfahrtsstaat nicht mehr auf eine bloße Ordnungsfunktion zurückziehen, sondern hat Gestaltungsaufgaben zu erfüllen 225 . Im Zusammenhang mit der Parlamentarisierung sind daher Qualitätseinbußen der Gesetzgebung unvermeidbar: Die Gesetze treffen vielfach keine befriedigende Lösung, sondern stellen bloße Kompromißformeln auf "kleinstem gemeinsamen Nenner" dar. Die jeweiligen Probleme werden hierdurch keiner Lösung zugeführt, sondern nur zur Verwaltung bzw. zur Rechtsprechung verlagert 226 • Darüber hinaus können die modemen Gesetze - anders als sog "Jahrhundertgesetze" wie das BGB und die GewO - keine programmatisch-ordnenden und "präventiven" Funktionen erfüllen, sondern begnügen sich vielfach mit der Reaktion auf die tagespolitischen Anforderungen227 . Dementsprechend sind in weiten Bereichen inkrementalistische Problemverarbeitungsstrategien zu beobachten, d. h. es werden keine umfassenden Lösungen, sondern nur marginale und schrittweise Verbesserungen angestrebt; dabei dienen die vorhandenen Mittel statt der zu verfolgenden Zwecke als Orientierungsmarken. Die letzteren werden an die ersteren angepaßt statt umgekehrt228 • Auch die hervorgehobene unmittelbare demokratische Legitimation verliert in der Praxis an Gewicht: Die Gesetze werden faktisch nicht vom Parlament, sondern vielmehr von der Ministerialbürokratie in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Verbänden erstellt und in den Parlamentsausschüssen beraten 229 • 224
GörlitzIVoigt, Rechtspolitologie - eine Einführung, 1985, S. 133.
225
W. Brohm, in: H. Hill (Hrsg.), Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, 1989,
S. 217 f. Eine nähere Charakterisierung der Gesetzgebung in der pluralistischen Industriegesellschaft gibt z. B. C. Böhret, in: H. Hili (Hrsg.), Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, 1989, S. 55 ff., 67 ff. 226 GörlitzIVoigt, Rechtspolitologie ...: eine Einführung, 1985, S. 139 f. 227 C. Böhret, in: H. Hill (Hrsg.), Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, 1989, S. 55 ff. 228 GörlitzIVoigt, Rechtspolitologie - eine Einführung, 1985, S. 140 f.
§ 8 Wandel von Staat, Gesellschaft und Recht
349
b) Justizialisierung Justizialisierung bezeichnet die zunehmende Produktion von Rechtsnormen mit Steuerungswirkung durch Akte der Rechtsprechung, in deren Gefolge politische Initiative und Entscheidung partiell auf die Judikative verlagert werden 23o . Die Gründe für diese Entwicklung wurden bereits im Zusammenhang mit der Parlamentarisierung angesprochen. Judikative und Exekutive müssen zum einen die notwendigerweise regelmäßig abstrakt-generellen Gesetze auf den Einzelfall anwenden; zum anderen müssen sie die schon angedeuteten Defizite der legislativen Lösungsangebote kompensieren 231 . Besonders deutlich zeigt sich die Justizialisierung in der Rechtsprechung des BVerfG, da sich dessen Entscheidungen nicht nur auf Verwaltung und einfache Gerichte, sondern auch auf die Legislative auswirken. Umgekehrt versucht insbesondere die Exekutive, aber auch die Legislative, durch die Judikative eine zusätzliche Legitimationsgrundlage für ihre Entscheidungen zu erhalten. Für die Exekutive ist dies z. B. der Verweis auf "Musterentscheidungen,m2.
c) Bürokratisierung Die Bürokratisierung ist durch die Schaffung eigenen und neuen Rechts durch die Exekutive gekennzeichnet. Für diese Entwicklung ist charakteristisch, daß die Verwaltungs aktivitäten nicht mehr auf ein Gesetz zurückgeführt werden können 233 .
2. Entrechtlichung
Das Steuerungsmedium Recht ist in vielfacher Weise mängelbehaftet: Insbesondere kann nicht als selbstverständlich unterstellt werden, daß rechtliche Regelungen auch umgesetzt werden. "Umsetzungsdefizite" sind zu erwarten, wenn - erstens - dem Recht keine anderen gesellschaftlichen Normen zugrundeliegen. In diesen Fällen fehlt es zumeist an der Folgebereitschaft der Adressaten. Wirkungsgrenzen des Rechts sind auch - zweitens - dort erkennbar, wo unerwünschte Nebenfolgen den angestrebten Steuerungserfolg in sein Gegenteil verkehren. Drittens GörlitzfVoigt, Rechtspolitologie - eine Einführung, 1985, S. 143 f. GörlitzfVoigt, Rechtspolitologie - eine Einführung, 1985, S. 133 f. 231 Näher zur Justizialisierung z. B. GörlitzfVoigt, Rechtspolitologie - eine Einführung, 1985, S. 145 ff. 232 R. Voigt, in: ders., Recht als Instrument staatlicher Steuerung, 1988, S. 33 ff., 36. 233 R. Voigt, in: ders., Recht als Instrument staatlicher Steuerung, 1988, S. 33 ff., 35 f.; näher dazu GörlitzfVoigt, Rechtspolitologie - eine Einführung, 1985, S. 161 ff. 229
230
350
2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
besteht die Gefahr, daß bestehendes Recht durch Interessengruppen einseitig vereinnahmt wird 234 . Die schon dargestellte Verrechtlichung führt zu "Überkomplizierung", "Übersteuerung" und "Überstabilisierung". "Überkomplizierung" meint hierbei die Überforderung der Verwaltung durch eine Vielzahl zu berücksichtigender Rechtsvorschriften und Belange. Die Exekutive reagiert darauf, indem sie entscheidet und nur die die Entscheidung stützenden Normen berücksichtigt. Im Falle der "Übersteuerung" ist umgekehrt der Entscheidungsspielraum der Verwaltung so weit eingeschränkt, daß auch offensichtlich unpassende Normen angewendet und Rechtsansprüche Betroffener übersehen werden. "Überstabilisierung" meint demgegenüber, daß einzelne verselbständigte Bürokratien Eigengesetzlichkeiten gehorchen, eigenes Recht produzieren und hierbei den eigenen Verwaltungs zielen höchsten Vorrang einräumen 235 . Diesen "Verwaltungspathologien" stehen entsprechende "Justizpathologien,,236 gegenüber, die durch eine Überforderung der Gerichte in quantitativer und qualitativer Hinsicht verschärft werden 237 . Auf Grund dieser Unzuträglichkeiten haben sich zahlreiche Vorschläge zur Gegensteuerung entwickelt 238 . Vorgeschlagen wird u. a. eine ,,Entstaatlichung" durch Aufgabenrevision, Aufgabenverweigerung und Privatisierung 239 , d. h. die vollständige Herausnahme einer Aufgabe aus der staatlichen Entscheidungskompetenz und Verantwortung durch Übertragung auf Privatunternehmen. Nicht gemeint ist damit die nur "formelle Privatisierung", d. h. das Wahrnehmen öffentlicher Aufgaben durch die öffentliche Hand in Privatrechtsform oder der Einsatz Beliehener24o . Zum Abbau der "Übersteuerung" werden darüber hinaus die Verlagerung von Steuerungsaufgaben auf dezentrale Einheiten (Dezentralisierung), der Übergang von einer Detailregelung zur Rahmengesetzgebung (Entfeinerung) und die Verwendung von Generalklauseln, unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessensermächtigungen (Flexibilisierung i.e.S.) vorgeschlagen 241 . Eine weitere rechtspolitische Forderung verlangt eine "bürgernahe Verwaltung", die sich durch sog. kooperatives Verhalten auszeichnet242 .
R. Voigt, in: ders., Recht als Instrument staatlicher Steuerung, 1988, S. 33 ff., 37 ff. R. Voigt, in: ders., Gegentendenzen zur Verrechtlichung, 1983, S. 17 ff., 32; Görlitzl Voigt, Rechtspolitologie - eine Einführung, 1985, S. 176 f. 236 Ausdrücke nach R. Voigt, in: ders., Gegentendenzen zur Verrechtlichung, 1983, S. 17 ff., 32 ff. 23? R. Voigt, in: ders., Gegentendenzen zur Verrechtlichung, 1983, S. 17 ff., 33 ff. 238 Zusammenstellung z. B. bei W. Brohm, in: H. Hill (Hrsg.), Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, 1989, S. 217 ff., 218 f. 239 R. Voigt, in: ders., Gegentendenzen zur Verrechtlichung, 1983, S. 17 ff., 26. 240 GörlitzlVoigt, Rechtspolitologie - eine Einführung, 1985, S. 173 f. 241 GörlitzIVoigt, Rechtspolitologie - eine Einführung, 1985, S. 178. 242 W. Brohm, in: H. Hill (Hrsg.), Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, 1989, S. 217 ff., 218. 234
235
§ 8 Wandel von Staat, Gesellschaft und Recht
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III. Veränderte Steuerungsformen
Die moderne Gesellschaft ist durch ein nachhaltig gesteigertes Maß an Komplexität geprägt. Dies muß Rückwirkungen auf die geforderten Steuerungsfonnen haben.
1. Repressive Steuerung bis zum Ende des Mittelalters
Bis zum Ende des Mittelalters war die Gesellschaft vorrangig nach Schichten differenziert. Die damit verbundene vergleichsweise geringe Komplexität konnte durch relativ einfache Regelungssysteme gesteuert werden. Ausreichend waren religiöse Nonnen oder ein hierauf aufbauendes, ausschließlich an außergesellschaftlichen Autoritäten und der Vergangenheit orientiertes Rechtssystem.
2. Zentrale Steuerung oder Selbststeuerung in der Neuzeit
Die Neuzeit ist geprägt durch eine nachhaltige Steigerung der Komplexität der Gesellschaft. Die moderne Gesellschaft kann als hochdifferenziertes komplexes System243 , dessen Teilsysteme (z. B. Ökonomie, Politik, Wissenschaft, Religion etc.) partiell autonom sind, verstanden werden. Daraus resultiert eine Überlastung der Politik als Steuerungsinstanz, die einer hierarchisch strukturierten, weniger aber einer polyzentrischen Gesellschaft gerecht werden kann. Damit ändern sich auch die Vorbedingungen für staatliche Interventionen. Diese müssen berücksichtigen, daß sowohl innerhalb als auch zwischen den Teilsystemen ein hohes Maß an Komplexität verarbeitet werden muß. Die ersten Reaktionen auf diese veränderten Vorbedingungen - die Entwicklung einer zentralen Steuerung oder einer Selbststeuerung - können dem nicht gerecht werden. Die (liberale) Selbststeuerung zeichnet sich zwar durch eine hohe interne Komplexität aus; sie verzichtet aber auf eine Abstimmung der Beziehungen zwischen den Teilsystemen. Umgekehrt bietet die (sozialistische) zentrale Steuerung zwar eine optimale Abstimmung der Intersystem-Beziehungen; die Teilsysteme verfügen jedoch mangels erforderlicher Komplexität nicht über eine zureichende Problemverarbeitungskapazität. Die zentrale Steuerung wird daher in absehbarer Zeit überlastet. Sowohl die zentrale Steuerung als auch die Selbststeuerung erscheinen unbefriedigend: Ersterer steht als Steuerungskonzept nur die Hierarchie zur Verfügung, bei der die Belange der Teilsysteme keine hinreichende Berücksichtigung finden. Letztere ist auf die Evolution als Steuerungsprinzip beschränkt. Die damit verbun243 Diese Sichtweise findet ihre Grundlage in der Systemtheorie, Einen Überblick hierüber bietet H. Willke, Systemtheorie, 2. Auf!. 1987.
352
2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
dene zufallsgesteuerte Anpassung in kleinen Schritten, erlaubt keine angemessene Reaktion auf langfristige Risiken und Gefahrdungslagen.
3. Kontext-Steuerung als Fortentwicklung
Als Lösung bietet sich eine neue Steuerungsfonn, die Kontext-Steuerung an. Diese ennöglicht sowohl eine hohe interne wie auch externe Problemverarbeitungskapazität. Innerhalb der Teilsysteme wird die schon geschilderte Selbststeuerung installiert; deren Nachteil - die mangelnde Abstimmung unter den Teilsystemen - wird durch eine reflexive, dezentrale Steuerung der Kontextbedingungen kompensiert. Dem Abstimmungserfordernis unter den Teilsystemen wird also nicht durch die Vorgabe einer gemeinsamen Orientierung Rechnung getragen. Die geforderte Gemeinsamkeit haben vielmehr die Teilsysteme gemeinsam zu entwikkeln 244 .
IV. Unterschiedliche Typen von Vorschriften
Die aufgezeigten Veränderungen der Steuerung durch Recht haben einen Wandel der Rechtsvorschriften zur Folge. Die hierfür vorgeschlagenen Unterscheidungskriterien sind kaum überschaubar. Einige wollen zwischen Konditional- und Finalprogrammen, andere 245 zwischen Verhaltens steuerung und staatlich gestützter Selbstregulierung differenzieren. Im folgenden soll zwischen fonnalem, materialem und reflexivem Recht unterschieden werden 246 .
1. Formales Recht
Fonnales Recht ist durch Konditionalprogramme, die genau definierten Tatbeständen ebenso genau definierte Rechtsfolgen zuordnen, geprägt. Konditionalprogramme sind vergangenheitsorientiert, erklären nur einen kleinen Anteil der prinzipiell unendlichen Infonnationen für relevant und stellen daher Vereinfachungen dar. Die Zukunft der durch Konditionalprogramme geprägten Systeme ist an der Vergangenheit orientiert. Entscheidungsgegenstand eines Konditionalprogramms ist, anders als bei Finalprogrammen, kein zukünftiges Ereignis, sondern ein abgeschlossener Sachverhalt. Auch Konditionalprogramme nehmen zwar die Zukunft Vgl. dazu insgesamt die Darstellung bei H. Willke, KritV 1988,214 ff. Z.B. W. Brohm, in: H. Hili (Hrsg.), Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, 1989, S. 217 ff., 219. 246 Vgl. zur Gesamtproblematik z. B. TeubnerlWilIke, ZfRSoz 6 (1984), 4 (20 ff.); G. Teubner, ARSP 68 (1982), 13 ff., insb. die Übersicht S. 28 sowie zusf. A. Müller, Konzeptbezogenes Verwaltungshandeln, 1992, S. 66 ff. 244 245
§ 8 Wandel von Staat, Gesellschaft und Recht
353
in Bezug; diese Bezugnahme beschränkt sich aber darauf, daß man sich vorstellt, wie ein in Zukunft in Gang gesetzter Rechtsstreit entschieden werden soll und versucht, die Bedingungen für diese Entscheidung im voraus festzulegen 247 . Konditionalprogramme lassen einerseits die Folgen einer Entscheidung unberücksichtigt und verschieben die Verantwortung vom Anwender zum Normgeber; andererseits ermöglichen sie eine strikte Kontrolle des Normanwenders. Soweit die Lebenswelt tatbestandsmäßig nicht erfaßt wird, obliegt sie der eigenverantwortlichen Ausgestaltung durch die privaten Akteure. Das formale Recht schafft die Strukturvoraussetzungen für eine Marktgesellschaft.
2. Materiales Recht
Demgegenüber ist materiales Recht durch Finalprogramme, die nur den zu erreichenden Zweck, nicht aber die Mittel vorschreiben, charakterisiert. Im Gegensatz zu Konditionalprogrammen ist bei Finalprogrammen mit der Implementierung ein weiterer Schritt zur Rechtsanwendung erforderlich: Die allein vorgegebenen Zwecke müssen zunächst durch Auswahl geeigneter Verhaltensweisen in Verhaltensnormen transformiert werden. Finalprogramme sind im Vergleich zu Konditionalprogrammen bereits weitaus komplexer: Zweckprogramme machen die Entscheidung zwischen Recht und Unrecht von künftigen, im Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht feststehenden Tatsachen, abhängig. Hieraus resultiert das Risiko einer Divergenz zwischen gegenwärtiger Zukunft und künftigen Gegenwarten, das das Recht aber negiert248 . Das materiale Recht zeichnet sich durch vage Standards und Generalklausein aus. Sein Ziel ist die direkte und ergebnisorientierte Regelung sozialer Prozesse. Es liefert die Voraussetzungen für politische Interventionen des Wohlfahrtsstaates.
3. Reflexives Recht
Reflexives Recht 249 wird hingegen und anders als das interventionistische Recht durch Organisations-, Verfahrens- und Kompetenznormen geprägt. Es reguliert indirekt und abstrakt die soziale Selbstregulierung. Damit schafft es die verfahrensmäßigen und organisatorischen Voraussetzungen für Reflexionsprozesse innerhalb sozialer Subsysteme. Reflexives Recht vermittelt im Gegensatz zum formalen und materialen Recht Sicherheit weniger dadurch, daß es den Bestand bestimmter N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 195 ff. N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 199 ff. 249 Dazu auch R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 152 ff. m. zahlr. Nachw. in Fußn. 80 bis 82; ders., VSSR 1990,241 (241 f.); GörlitzlVoigt, Rechtspolitologie - eine Einführung, 1985, S. 221 ff. 247 248
23 Aulehner
354
2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
Rechtsgüter bzw. deren Optimierung gewährleistet, sondern durch die "Pennanenz der Rechtsänderung im Medium des Rechts,,25o. Reflexives Recht reagiert damit auf die neuen Anforderungen an das Recht in der Risikogesellschaft: Es beschränkt sich nicht auf die Stabilhaltung nonnativer Erwartungen, sondern versucht die Bewertung von Werten angesichts unterschiedlicher Betroffenheiten. Ziel der hierdurch gewonnenen Lernfähigkeit des Rechts ist es, dessen strukturbildende Eigenschaften, die auf der Festlegung von Erwartungen gründen, zu bewahren und zugleich das hiervon ausgehende Risiko zu minimieren. Reflexives Recht ist damit zugleich ein Versuch, die prinzipielle Vergangenheitsorientierung des Rechts zu überwinden. Reflexives Recht orientiert sich dabei nicht an den Folgen für die Umwelt, sondern an den Folgen für die zukünftigen Entscheidungsmöglichkeiten des Systems. Anders als fonnales und materiales Recht zielt reflexives Recht nicht nur auf die Regulierung erlebter Gefährdungen und Risiken, sondern schon auf Risikobestimmung und -bewertung. Dabei ersetzen weder reflexives noch materiales Recht das ursprünglich fonnale Recht, sondern ergänzen es nur. Mit der Ausprägung reflexiven Rechts löst sich dessen Geltungsgrund zugleich endgültig von jeglicher außergesellschaftlicher Autorität. Recht wird als Recht allein dadurch legitimiert, daß es für Recht erkannt wird. Versuchen, innerhalb der Forderungen nach einem "neuen Recht" zwischen alternativen Rechtsfonnen und -konzepten einerseits und Alternativen zum Recht als solchem andererseits zu unterschieden, kann aus hiesiger Sicht nicht gefolgt werden. Dabei wird nämlich das reflexive Recht der ersteren Kategorie, die kulturelle Rahmensteuerung 251 hingegen der letzteren zugeordnet. Beide - die kulturelle Rahmensteuerung und das reflexive Recht - stellen aber sich ähnelnde Reaktionen auf eine vergleichbare Ausgangslage dar: Kulturelle Rahmensteuerung und reflexives Recht reagieren auf die zunehmende gesellschaftliche Komplexität, die eine zentrale Steuerung erschwert. Sowohl das reflexive Recht als auch die kulturelle Rahmensteuerung sind weniger auf die kausalen, funktionalen und temporalen Zusammenhänge, sondern vielmehr auf die Verbesserung, Motivation und Befähigung zur selbständigen Anpassungs-, Reaktions- und Problemlösungsfähigkeit ausgerichtet 252 . Die kulturelle Rahmensteuerung versteht Recht nicht nur als Speicherung und Absicherung von Inhalten, sondern erkennt, daß das Recht bei seinen Adressaten auf bereits vorhandene Verhaltensweisen stößt. Da von diesen die Umsetzung auch des herkömmlichen, insbesondere an Konditionalprogrammen orientierten Rechts abhängt, versucht die kulturelle Rahmensteuerung eben sie zu beeinflussen und postuliert namentlich Werte, Leitziele und Verhaltens standards. Das re250 u. K. Preuß, in: D. Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 523 ff., 526 unter Hinweis darauf, daß Gesetzgebung heute zumeist Gesetzesänderung ist. 251 Zu dieser GörlitzJVoigt, Rechtspolitologie - eine Einführung, 1985, S. 195 ff. 252 R. Mayntz, Steuerung, Steuerungsakteure und Steuerungsinstrumente. Zur Präzisierung des Problems, 1986, S. 14.
§ 8 Wandel von Staat, Gesellschaft und Recht
355
flexive Recht ist demgegenüber auch nicht etwa einseitig auf eine dezentrale Selbststeuerung fixiert, sondern behält deren Verhältnis zur Kontextsteuerung und damit auch zur kulturellen Rahmensteuerung im Blick 253. Reflexives Recht kombiniert gerade autonome Selbstorganisation und gesellschaftlich verbindliche Kontextvorgabe 254 • Reflexives Recht ist zwar (auch) durch die Selbststeuerung der gesellschaftlichen Teilsysteme gekennzeichnet: Die verschiedenen Teilsysteme thematisieren ihre eigene Identität und stellen sich darauf ein, daß sie in der Umwelt anderer Teilsysteme agieren und daher für diese anderen Teilsysteme auch eine entsprechend brauchbare Umwelt darstellen müssen 255 . Durch die Selbststeuerung der Teilsysteme wird aber die Koordination des Ganzen und die Festlegung der Kompatibilitätsbedingungen nicht obsolet. Reflexives Recht ist geeignet, die in der Risikogesellschaft rapide angestiegenen Anforderungen an die Politik rechtlich umzusetzen. Da sich das politische System in der Risikogesellschaft nicht mehr durch die Verteilung von Reichtümern, sondern namentlich durch die Gewährleistung von Sicherheit legitimiert, wird der Bereich der Risikovorsorge immer weiter ausgedehnt und es werden immer mehr Techniken und Lebensumstände als riskant definiert 256 . Hier ist eine sachgerechte und hinreichende Begrenzung erforderlich.
V. Das Polizeirecht
Die neuen Polizeigesetze bzw. deren Entwürfe sind durch Verrechtlichungs-, insbesondere durch Parlamentarisierungstendenzen geprägt, sie privilegieren eine zentrale Steuerung durch die Politik und enthalten überwiegend formales Recht. Die nunmehr gesetzlich geregelte Informationsverarbeitung erfolgte bislang auf der Grundlage von Verwaltungsvorschriften. Die neuen Regelungen sind durch Konditionalprogramme geprägt. Für eine Selbststeuerung der Polizei ist nur insoweit Raum, als die gesetzlichen Regelungen unbestimmt sind. Das Polizeirecht trägt damit der wachsenden staatlichen Bedeutung der Prävention und ihren Folgeerscheinungen nicht hinreichend Rechnung. Der moderne Wohlfahrtsstaat beschränkt sich im Gegensatz zum liberalen Ordnungsstaat nicht auf Repression, sondern wendet sich verstärkt der Prävention zu. Die Ursachen hierfür liegen sowohl im gewandelten Staatsverständnis als auch im technischen Fortschritt: Wahrend sich der liberale Ordnungsstaat weitgehend auf die rechtliche Gewährleistung eines "staatsfreien" Bereichs beschränken konnte, muß der moderne Wohlfahrtsstaat die rechtlichen und faktischen Rahmenbedingungen für die 253 254 255 256
23*
TeubnerlWillke, ZfRSoz 6 (1984), 4 (5). TeubnerlWillke, ZfRSoz 6 (1984), 4 (13). N. Luhrnann, Rechtstheorie 10 (1979),176 ff.; ders., Rechtstheorie 4 (1973),130 ff. P. Hiller, Der Zeitkonflikt in der Risikogesellschaft, 1993, S. 111 f.
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2. Teil: Risikosteuerung - multidisziplinäre Grundlegung
Freiheitsausübung gewährleisten. Der technische Fortschritt erfordert zum einen wegen der neu produzierten Risiken eine Hinwendung des Staates zur Prävention. Zum anderen schafft er - insbesondere im Bereich der Informationsverarbeitung erst die Voraussetzungen für eine wirksame Prävention. Dieser Wandel von der Repression zu verstärkter Prävention wirkt sich auf die Gesetzgebung aus: Anders als repressiv orientierte Gesetze können präventive nicht nur die Reaktion auf genau umschreibbare punktuelle Ereignisse normieren. Die denkbaren - von Präventivmaßnahmen zu erfassenden - Gefahrenherde sind nämlich weitaus vielgestaltiger und zahlreicher als die tatsächlich entstehenden Gefahren 257 . Wünschenswert und erforderlich wäre daher die Schaffung eines reflexiven Rechts, eine Entrechtlichung und die Einführung einer Kontext-Steuerung auch für den Bereich der Polizei258 , kurz: ein "neues" Polizeirecht.
257 258
Siehe hierzu D. Grimm, KritV 1986,38 ff.; P.-A. Albrecht, KritV 1986,55 (60 ff.). Im Ansatz ebenso Pitschas/Aulehner, NJW 1989,2353 (2355 f.).
Dritter Teil
Verfassungsrechtliche Rezeption der umfassenden Risikosteuerung Der vorstehend festgestellte Wandel von Gesellschaft, Staat und Recht muß durch das Verfassungsrecht rezipiert werden. Hierfür genügen die eher spärlichen Änderungen des Verfassungstextes nicht; erforderlich ist vielmehr das Gesamtspektrum der unter dem Begriff "Verfassungswandel"l zusammengefaßten Entwicklungen. Das von der polizeilichen Informationsvorsorge erzeugte Spannungsfeld zwischen individueller Selbstbestimmung einerseits und umfassender staatlicher Bedrohungsabwehr und Bedrohungsvorsorge andererseits ist - was schon der damit verbundene Wandel von Gesellschaft, Staat und Recht2 indiziert - nicht nur multidisziplinär, sondern auch und insbesondere verfassungsrechtlich zu bewältigen. Die verfassungsrechtliche Untersuchung kann sich dabei im Gegensatz zur soziologischen und multidisziplinären Betrachtung nicht auf eine erläuternde Strukturierung des Problemfeldes beschränken. Verfassungsrecht hat - jedenfalls soweit es durch die Gerichte Anwendung findet - Entscheidungen zu treffen bzw. Kriterien für die Lösung konkreter Einzelfälle vorzugeben. Das Grundgesetz muß daher die konfligierenden Erfordernisse von Sicherheit und Vorsorge einerseits und die Bedürfnisse des Individuums nach Freiheit und Privatheit andererseits thematisieren und lösen. Der multidisziplinäre Paradigmen wechsel zu einer Gesellschaftssteuerung durch Erwartungen muß nicht nur gesellschafts-, staats- und rechtstheoretisch verarbeitet werden, sondern erfordert auch Reaktionen der Verfassungsrechtslehre. Die Verfassungsrechtslehre mißt dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung bislang vielfach immer noch eine nur eindimensionale Bedeutung im Verhältnis von Staat und Bürger zu. Die folgenden Ausführungen werden demgegenüber den Blick dafür schärfen, daß das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in seiner Abwehrdimension nur die Seite des Dreiecks zwischen dem Staat und dem in seinem Recht auf informationelle Selbstbestimmung betroffenen Bürger markiert. Die Beziehungen zwischen dem Staat und den Bürgern, die durch I Siehe hierzu insb. B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982 sowie N. Achterberg, VVDStRL 38 (1980), 55 ff.; W.-R. Schenke, JZ 1989,653 ff. 2 Dazu ausführlich oben § 8.
358
3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
den in seiner informationellen Selbstbestimmung tangierten einzelnen in ihren Grundrechten beeinträchtigt werden oder werden könnten, bleiben ebenso unberücksichtigt bzw. werden in ihrer Bedeutung unterschätzt wie die zwischen den Bürgern untereinander. Dies ist umso mehr zu beklagen, als der Umfang und die Bedeutung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung nur im Zusammenhang mit der Schutzpflicht des Staates gegenüber den anderen Bürgern und dem im Verhältnis zwischen den Bürgern geltenden "neminem laedere"-Grundsatz bestimmt werden können 3 . Die verfassungsrechtliche Abbildung und Verortung der multidisziplinären Probleme und ihrer aufgezeigten Lösungen wird dabei zu einer neuen verfassungsrechtlichen Qualifizierung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung führen. Dieses wird entgegen einer weit verbreiteten Auffassung 4 nicht als Grundrecht, sondern als verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff eingestuft. Damit wird das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht mehr einseitig zur Gewährleistung einer (absoluten) informationellen Selbstbestimmung instrumentalisiert, sondern trägt zur Erschließung des Gesamtkonflikts zwischen informationeller Selbstbestimmung des Individuums und staatlicher Informationsverantwortung, zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der staatlichen Aufgabe zur Informationsvorsorge sowie zwischen der Privatheit des einzelnen und der Sicherheit der Gemeinschaft5 bei. Im Ergebnis wird sich dabei zeigen, daß die Rechtswissenschaft schon zu lange an überholten Wirklichkeits- und insbesondere Persönlichkeits modellen festhält. Die überkommenen Sphären- und Schichtenmodelle vom Menschen kommen dem Recht zwar wegen ihres Typisierungs- und Normierungscharakters entgegen. Die bereits früher6 gefundene - kommunikative Konstitution des Individuums bedarf gleichwohl der juristischen Umsetzung. Speziell das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verlangt eine interaktionistische und kommunikative Umformung. Gerade aus der Perspektive eines hier vertretenen funktionalen Grundrechtsverständnisses ist zu fordern, daß das Recht nicht an überholten soziologischen Auffassungen festhält, sondern neuere allgemeinwissenschaftliche Erkenntnisse miteinbezieht. Das Recht muß daher das herkömmliche soziologische Verständnis eines sphären- oder schichtenmäßigen Persönlichkeitsmodells 7, von Information als einer 3 Vgl. dazu im Zusammenhang mit den Schutzpflichten J. Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111 Rdnrn. 4 ff. 4 Das BVerfG spricht ausdrücklich erstmals in BVerfGE 84, 239 (279 f.) - Zinsbesteuerung vom Grundrecht auf Datenschutz. 5 V gl. hierzu bereits ScholzlPitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, S. 66 ff., 103 ff. und passim. 6 Vgl. zur Konstitution des Individuums durch Kommunikation bereits oben im Text sub § 6. A. 7 Hierzu oben im Text sub § 6. A. II.
§ 9 RiS - ein verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff
359
Nachricht8 und Kommunikation als bloßer Zeichenübertragung9 aufgeben und die kommunikative Konstitution des Individuums 10, Information als kommunikative Selektion II und Kommunikation als System i. S. d. Theorie autopoietischer Systeme 12 anerkennen 13. Insgesamt gesehen hat das (Verfassungs-)Recht diesem Wandel bereits in weitem Umfang Rechnung getragen. Die Bedeutung der Grundrechte beschränkt sich allgemein schon seit langem nicht mehr auf die klassische Staat-Bürger-Dimension, sondern erfaßt auch das Verhältnis Bürger-Bürger. Dies belegt gerade die Ausdifferenzierung der neben dem Abwehrgehalt weiteren grundrechtlichen Gewährleistungsdimensionen und der Ausprägungen des Sozialstaats- und Rechtsstaatsprinzips 14. Ein näherer Blick auf die verfassungsrechtliche Entwicklung des Freiheitsbegriffs und des in ihm jeweils zum Ausdruck kommenden Persönlichkeitsverständnisses zeigt deutliche Parallelen zu den gefundenen unterschiedlichen allgemeinwissenschaftlichen und insbesondere soziologischen Strömungen. Der Inhalt des Freiheitsbegriffs ist dabei schon nach liberalem Verständnis für das Persönlichkeitsbild entscheidend, zumal die Individualität - jedenfalls auch - auf der individuellen Selbstentfaltung des Menschen beruht und deshalb notwendigerweise freiheitsbezogen ist l5 . Darüber hinaus ist Freiheit ebenso wie Verantwortung ein konstitutives Element der Persönlichkeit und nicht allein ausreichende, aber unabdingbare Bedingung menschlicher Würde l6 .
§ 9 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung steht einer verfassungsrechtlichen Rezeption der umfassenden Risikosteuerung 17 nicht entgegen. Die Anerkennung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts in der Rechtsprechung von BGH und Dazu oben im Text sub § 5. B. I. Vgl. hierzu bereits ausführlich oben im Text unter § 4. C. I. 10 Siehe dazu oben im Text sub § 6. A. IV. 2. 11 Vgl. oben im Text sub § 5. B. IV. 12 Dazu bereits ausführlich oben im Text sub § 4. C. III. 2. 13 Zu Theorieelementen eines al1gemeinen juristischen Rezeptionsmodel1s siehe P. Häberle, JZ 1992, 1033 ff. 14 D. Suhr, Die Entfaltung der Menschen durch die Menschen, 1976, S. 80 f. weist auf "soziologische Importe in die Grundrechtsdogmatik" hin. 15 R. Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 71. 16 P. Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, 1984, S. 82. 17 Vgl. dazu zusammenfassend C. Engel, Die Verwaltung 29 (1996), 265 ff. 8
9
360
3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
BVerfG sowie die Entwicklung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung vor, in und nach dem "Volkszählungs"-Urteil werden zeigen 18 , daß die grundrechtlich geschützte Entfaltung der Person einerseits und die ebenfalls unter dem Schutz der Verfassung stehende allgemeine Handlungsfreiheit andererseits zwei unterschiedliche Dimensionen eines Grundrechts thematisieren. Während die allgemeine Handlungsfreiheit die grundrechtliche Abwehrdimension betont, bezieht sich die freie Entfaltung der Persönlichkeit auf den sozialen, objektiv-rechtlichen und Teilhabegehalt der Grundrechte. Die nähere verfassungsrechtliche Begutachtung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung wird zeigen, daß dieses nicht auf die Abschottung des Individuums gerichtet ist, sondern eine manipulationsfreie Kommunikation bezweckt. Innerhalb dieser wird weniger die manipulierte Selbstdarstellung als vielmehr die manipulationsfreie Fremddarstellung geschützt. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird sich als verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff und damit weniger als konkretes Handlungsveroder -gebot als vielmehr als verfassungsrechtliche "Zwischenschicht" und als Optimierungsgebot erweisen.
A. Die Anerkennung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts in der Rechtsprechung von BGH und BVerfG Die Rechtsprechung entwickelte das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht 19 . Dieses hatte zunächst20 der BGH als "sonstiges Recht" i. S. d. § 823 I BGB anerkannt. Das BVerfG bestätigte und übernahm diese Judikatur. In der Folgezeit wurde das zunächst nur sphärenorientierte Schutzkonzept zu einem Selbstbestimmungsrecht ausgeweitet und durch ein Selbstdarstellungsrecht ergänzt. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht wurde dabei zu einem Recht auf informationelle Selbstbestimmung fortentwickelt und durch die Ausdifferenzierung typischer Fallkonstellationen wie dem Recht am eigenen Bild und dem Recht am gesprochenen Wort konkretisiert 21 • 18 Zusammenfassend zur Entwicklung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung vgl. z. B. M. Albers, in: Haratsch/KugelmannJRepkewitz (Hrsg.), Herausforderungen an das Recht der Informationsgesellschaft, 1996, S. 113 ff., 114 ff. 19 Ausführlich zum Allgmeinen Persönlichkeitsrecht aus jüngerer Zeit S. Gottwald, Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, 1996, S. 7 ff., 59 ff., 156 ff., 200 ff., 261 ff., 317 ff., 328 ff. 20 Ein weiter zurück reichender rechtsgeschichtlicher Überblick über die Vorgeschichte des allgemeinen Persönlichkeitsrechts findet sich bei H. Holzhauer, in: ErichseniKollhosserl Welp (Hrsg.), Recht der Persönlichkeit, 1996, S. 51 ff. 21 Ähnlich zur Entwicklung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung insb. T.-A. Hubert, Das datenschutzrechtliche Presseprivileg im Spannungsfeld zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht, 1993, S. 87, im Anschluß an K. Vogelgesang, Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung?, 1987, S. 40 ff. - Zusammenfassend namentlich G. Duttge, Der Begriff der Zwangsmaßnahme im Strafprozeßrecht, 1995, S. 50 ff.
§ 9 RiS - ein verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff
361
Schon die Ausdifferenzierung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Rechtsprechung und Literatur fixiert daher die rechtsdogmatischen Grundzüge auch des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung.
I. Die Entwicklung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts
Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht wurde durch die Rechtsprechung des BGR ausdifferenziert und durch das BVerfG bestätigt.
1. Das Allgemeine Persänlichkeitsrecht in der Rechtsprechung des BGH
Ausgangspunkt für die Entwicklung des (verfassungsrechtlichen) Rechts auf informationelle Selbstbestimmung in seiner heutigen Form ist die Anerkennung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch den BGR. Im Gegensatz zum RG, das ein Allgemeines Persönlichkeitsrecht trotz entsprechender Forderungen in der Literatur stets abgelehnt hatte 22 , bejaht der BGR und ihm folgend die Literatur 23 ein solches erstmals in der Leserbriefentscheidung 24 und danach in ständiger Rechtsprechung 25 . Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht wird dabei sowohl als subjektives öffentliches Recht als auch als "sonstiges Recht" i. S. d. § 823 I BGB 26 qualifiziert. Für diesen Bruch des BGR mit der Rechtsprechung des RG führt J. Brossette 27 mit Recht insbesondere die folgenden Gründe an: 22 RGZ 139,92; 123,312; 113,413 (414); 79, 397 (398); 69, 401 (403); 64, 156; 58, 29; 58,24 (28); 56, 275; 51, 369 (373). - Ausführlich m.w.N. hierzu J. Brossette, Der Wert der Wahrheit im Schatten des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, 1991, S. 92 ff. sowie A. Breitfeld, Berufsfreiheit und Eigentumsgarantie als Schranke des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, 1992, S. 36 ff.; M. Langer, Informationsfreiheit als Grenze informationeller Selbstbestimmung, 1992, S. 54 ff. - Über das Urheberrecht gelangte das RG (RGZ 69,304; 41, 43) jedoch teilweise indirekt zu einem Privatsphärenschutz für vertrauliche Notizen. 23 Vgl. aus der Literatur frühzeitig H. Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967; H. Hubmann, JZ 1957, 521 ff. 24 BGHZ 13, 334 (338 f.). 25 BGHZ 81, 75 (80); BGHZ 80,25 (42); BGHZ 73, 120 (124); BGHZ 50, 133 (136 f.); BGHZ 39,124 (127); BGH, MDR 1965,371 ff.; BGHZ 35,363 ff.; BGH, NJW 1968,685 ff.; BGHZ 31,308 (316); BGHZ 30, 7 (11); BGHZ 27,284 (286, 288); BGHZ 26,349 (355); BGHZ 24, 200 (208); BGHZ 24, 72 (76, 80 f.); BGHZ 15,249 ff. 26 Teilweise wird statt eines "sonstigen Rechts" i. S. d. § 823 I BGB eine Analogie zu den Rechtsgütern Leben, Gesundheit, Körper und Freiheit angenommen. Insbesondere D. Medicus (Bürgerliches Recht, 16. Aufl. 1993, Rdnr. 615) sieht das Persönlichkeitsrecht - mit Recht - auf einer Stufe mit diesen Rechtsgütern, nicht aber mit dem Sacheigentum, da es wie erstere und im Gegensatz zu letzterem nicht von der Persönlichkeit getrennt werden kann (ähnlich MK-Schwerdtner, § 12 Rdnr. 186).
362
3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
a) Zum einen hat die Ablösung der Weimarer Reichsverfassung durch das GG auch die zivilrechtliche Rechtslage geändert. Diesem Gesichtspunkt kommt dabei um so mehr Bedeutung zu, als der BGH in den meisten, das Allgemeine Persönlichkeitsrecht betreffenden Entscheidungen 28 ausdrücklich auf Art. I I und Art. 2 I GG Bezug nimmt. Das sich aus diesen Grundrechten ergebende Allgemeine Persönlichkeitsrecht gelte - so die Argumentation des BGH29 - gemäß Art. 1 III GG auch für den Bereich des Zivilrechts. b) Zum anderen reagierte der BGH mit der Anerkennung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts auf die sich erst in der Nachkriegszeit ergebenden, rasch fortschreitenden technischen Möglichkeiten. Denn die in dieser Zeit entwickelten und sich verbreitenden Filmkameras, Teleobjektive, Tonband- und Abhörgeräte ermöglichten ein immer tieferes Eindringen in den persönlichen Bereich 3o . Diese Möglichkeiten nutzte insbesondere die Presse, um "immer unverschämter in das Privatleben der Kaiserin von Persien, eines Herrenreiters, eines Kirchenrechtlers, einer Fernsehansagerin, von Filmschauspielern, Schriftstellern, Politikern, vereinzelt auch einer Dachdeckertochter mit ihrer Familie sowie von Individuen, die durch Scheußlichkeiten im Dritten Reich oder durch sonstige Abartigkeiten und Mordtaten ein allgemeines Interesse erregten"31, einzudringen 32 .
c) Neben der geänderten (Verfassungs-)Rechtslage und dem technischen Fortschritt erwies sich schließlich die gesellschaftliche Entwicklung als entscheidend. Die Auflösung der früher engen Familien- und Dorfgemeinschaften und die hieraus resultierende Anonymität des einzelnen machten die Individuen anfällig für Einzelinformationen. Während vordem der einzelne als Mitglied der engen und vielfältigen Familien-, Dorf-, Zunft- etc. Gemeinschaften bekannt war und einzelne - positive oder negative - Informationen über ihn das Bild dieser Gemeinschaft von ihm allenfalls schrittweise verändern konnten, stieg nunmehr angesichts eines fehlenden Gesamtbildes vom einzelnen die Bedeutung der Einzelinformationen. Eine - positive oder negative - Information über den einzelnen bestimmte nun mangels einer berichtigenden Gesamteinschätzung der jeweiligen Person den - kaum noch korrigierbaren - Gesamteindruck33 . 27 J. Brossette, Der Wert der Wahrheit im Schatten des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, 1991, S. 114 ff., 116 f., 117 f. 28 Z.B: BGH, NJW 1988, 1017; BGHZ 27, 284 (285); 26, 349 (354); 24, 72 (76 f.); 13, 338 - nicht aber z. B. in BGH, JZ 1979, 102. 29 BGHZ 24, 72 (76 f.). 30 Vgl. A. Geiger, Verfassungsfragen zur polizeilichen Anwendung der Video-Überwachungstechnologie bei der Straftatbekämpfung, 1994, S. 89; 1. Brossette, Der Wert der Wahrheit im Schatten des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, 1991, S. 114 ff. 31 So die wertende Zusammenfassung der die Rechtsprechung beschäftigenden Fälle von H. Ehmann, AcP 188 (1988), 230 (244); ihm folgend A. Breitfeld, Berufsfreiheit und Eigentumsgarantie als Schranke des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, 1992, S. 36 f. 32 Auf die Anerkennung eines sphärentheoretischen Persönlichkeitsschutzes als Reaktion auf Eingriffe der Massenmedien weist auch M. Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen und deren Aufbewahrung durch die Polizei, 1992, S. 37 hin.
§ 9 RiS - ein verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff
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d) Neben der zunehmenden Anonymität des einzelnen wird dessen Anfälligkeit für Einzelinformationen über ihn auch durch den zunehmenden Wertepluralismus gesteigert. Durch den Verlust eines früher weitreichenden allgemeinen gesellschaftlichen Wertekonsenses sieht sich das Individuum zunehmend heterogenen und gegensätzlichen Verhaltenserwartungen ausgesetzt, die es nicht mehr gleichzeitig erfüllen kann. Auch hierdurch wird ein Rückzugsbereich in eine private Sphäre immer notwendiger34 . e) Als Rechtsgüter des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts wurden dabei - teilweise im Gegensatz zu dem aus ihm ausdifferenzierten Recht auf informationelle Selbstbestimmung - nicht allein der Schutz für das Individuum, sondern auch die Belange der Allgemeinheit verstanden. Der Schutz der Persönlichkeit sollte nämlich gesellschaftlichen Minderheiten ebenfalls eine Möglichkeit zur Verwirklichung ihrer Interessen bieten und so die soziale Integration befördern. Die - unauflösbare - Bedeutung des Persönlichkeitsschutzes für die Gemeinschaft einerseits und das Individuum andererseits fand darüber hinaus auch in anderer Richtung schon früh 35 Beachtung: Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht durfte und darf weder die Gesamtordnung noch die Durchsetzung berechtigter Belange anderer beeinträchtigen 36 . Da jeder Erweiterung der Freiheit eines Individuums die Schmälerung der Freiheit eines anderen korrespondiert, muß das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des einzelnen eingeschränkt werden. Als Grenze für den durch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht vermittelten Schutz wurde deshalb - dem Schutzumfang des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb entsprechend37 - der gegenständlich verkörperte Freiheitsbereich angenommen 38 . Diesen in der Praxis nur schwer abgrenzbaren Raum hat die Rechtsprechung durch die Herausbildung von Fallgruppen konkretisiert 39 .
33 H. Ehmann, AcP 188 (1988), 230 (245); J. Brossette, Der Wert der Wahrheit im Schatten des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, 1991, S. 116 f. 34 J. Brossette, Der Wert der Wahrheit im Schatten des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, 1991, S. 116 f. 35 BVerfGE 55,37 (41 ff.). 36 Zusf. J. Brossette, Der Wert der Wahrheit im Schatten des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, 1991, S. 117 f. 37 Vgl. dazu in anderem Zusammenhang ScholzlAulehner, BB 1993,2250 (2260 f.). 38 A. Breitfeld, Berufsfreiheit und Eigentumsgarantie als Schranke des Rechts auf informationeIle Selbstbestimmung, 1992, S. 37 f. 39 Siehe dazu aus jüngerer Zeit H. D. Jarass, in: ErichsenIKollhosserlWelp (Hrsg.), Recht der Persönlichkeit, 1996, S. 89 ff. sowie J. Brossette, Der Wert der Wahrheit im Schatten des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, 1991, S. 131 ff.
364
3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
2. Bestätigung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch das BVerfG
Das BVerfG40 hat das durch den BGH ausdifferenzierte Allgemeine Persönlichkeitsrecht aus verfassungsrechtlicher Sicht bestätigt und gemeinsam mit dem BGH fortentwickelt 41 • BVerfG und BGH legten dabei zunächst ein räumliches, an der Differenzierung zwischen unterschiedlichen Sphären orientiertes Schutzkonzept zugrunde42 . Diese sog. "Sphärentheorie", die schon im Hinblick auf die gegenständliche Verkörperung als Grenze des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts naheliegt, zeichnet sich durch die Ableitung verschiedener, objektiv festzustellender und in ihrer Schutzwirkung unterschiedlich intensiver Sphären aus. Die Terminologie differiert hierbei; unterschieden werden insbesondere Geheim-, Privat- und Individualsphäre43 . Unabhängig von begrifflichen Zweifeln 44 differenziert die Sphärentheorie inhaltlich zwischen einem absolut geschützten Bereich einerseits und einer Öffentlichkeitssphäre andererseits, die den Teil der Persönlichkeit betrifft, mit dem sich die Person in der Öffentlichkeit bewegt. Zu letzterer gehören die von einer Person im öffentlichen Leben bewußt und gewollt offenbarten individuellen Rechtsgüter; dem absolut geschützten Bereich unterfallen demgegenüber Handlungen, Äußerungen und Gedanken, die die Person niemandem oder höchstens einem beschränkten Kreis von Vertrauten zur Kenntnis geben will. Zwischen diesen beiden extremen Sphären liegt eine dritte, die einer Interessenabwägung offen steht. Ihr unterfallen Lebensumstände, die einem bestimmten oder wenigstens beschränkbaren Personenkreis ohne weiteres zugänglich sind, die der einzelne aber jedenfalls nicht der Öffentlichkeit bekanntgeben möchte. Die Öffentlichkeitssphäre soll rechtlich ungeschützt sein; in den absolut geschützten Bereich darf nur durch ein Gesetz, das das Maß des Eingriffs und die zuständige Behörde bestimmt, eingegriffen werden. In dem einer Interessenabwägung zugänglichen mittleren Bereich der relativ geschützten Privatsphäre darf
40 Zum Allgemeinen Pesönlichkeitsrecht aus europäischer Perspektive vgl. A. Bleckmann, in: ErichsenlKollhosserlWelp (Hrsg.), Recht der Persönlichkeit, 1996, S. 9 ff. 41 BVerfGE 34, 269 (281 f.) im Anschluß an BVerfGE 34, 238 (246 f.); 34, 118 (135 f.); 30, 173 (194 ff.) sowie BVerfGE 68, 226 (231); 63, 131 (142); 52, 131 (169). - A. Geiger (Verfassungsfragen zur polizeilichen Anwendung der Video-Überwachungstechnologie bei der Straftatbekämpfung, 1994, S. 93 m. Fn. 92) bezeichnet das Verhältnis von Verfassungsund Zivilgerichtsbarkeit unter Rückgriff auf einen von E. Forsthoffin anderem Zusammenhang gebrauchten Begriff als "ständige Osmose" und erhebt methodische Zweifel. 42 Vgl. die Darstellung der Entwicklung m.w.N. bei K. Vogelgesang, Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung?, 1987, S. 42 ff. - Zum sphärentheoretischen Ansatz in der Rechtsprechung des BVerfG siehe bereits BVerfGE 6,32 (48). 43 M. Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen und deren Aufbewahrung durch die Polizei, 1992, S. 37; R. Scholz, AöR 100 (1975), 81/265 (266). 44 Vgl. dazu z. B. M. Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen und deren Auf'; bewahrung durch die Polizei, 1992, S. 37 m. Fußn. 3.
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zwar ebenfalls nur auf gesetzlicher Grundlage, aber durch jede Behörde, die ein berechtigtes Interesse hat, eingegriffen werden45. Das BVerfG folgt zwar prinzipiell dieser vornehmlich vom BGH geprägten Rechtsprechung 46 • Es fällt jedoch auf, daß das BVerfG die Ausdifferenzierung und Bezeichnung der einzelnen Sphären durch den BGH nicht übernimmt, sondern unpräziser formuliert. So hat das BVerfG den absolut geschützten Bereich nicht positiv definiert, sondern nur negativ Informationen, die auch ohne Befragung des einzelnen ermittelt werden können47 , Angaben über die Gesundheit48 und vertrauliche Gespräche über geschlechtliche Unzucht eines Jungen mit seinem Vater49 ausgeschieden. Die einer Abwägung zugängliche Sphäre wird durch den Lebensausschnitt markiert, in dem sich das Individuum zwar vor der breiten Öffentlichkeit, nicht aber von Vertrauten zurückzieht. In diesem Bereich läßt das BVerfG Einschränkungen unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu. Die ungeschützte Öffentlichkeitssphäre ist demgegenüber betroffen, wenn der Adressatenkreis nicht auf Vertraute beschränkt ist. Abgesehen von der Leserbrief-Entscheidung, in der der BGH das Allgemeine Persönlichkeitsrecht begründete, ist die gesamte Judikatur sowohl des BGH als auch des BVerfG lange Zeit jedenfalls auch durch die "Sphärentheorie" bestimmt. So stellt der BGH im Fall Co sima Wagner50 auf die Vertraulichkeit schriftlicher Äußerungen ab, überläßt Paul Dahlke51 und Caterina Valente 52 die Entscheidung, ob sie ihre Anonymität aufheben wollen und betont im Herrenreiter-Fall, das Unzulässige liege darin, daß dem Abgebildeten die Freiheit entzogen wird, auf Grund eigener Entschließung über ein Gut seiner Individualsphäre zu verfügen 53 . Der gleiche Befund ergibt sich für die Rechtsprechung des BVerfG, wenn das Gericht im Mikrozensus-Beschluß54 dem einzelnen einen vor dem Zutritt der Umwelt geschützten Rückzugsbereich gewährt, in dem er sich selbst besitzt und in Ruhe gelassen wird, und dem einzelnen damit ein "Recht auf Einsamkeit" zubilligt. Sphärentheoretisch argumentiert das BVerfG auch in seiner Entscheidung über die Weitergabe von Scheidungsakten 55 , in der es hierfür das Einverständnis der Betroffe45 Zur "Sphärentheorie" vgl. z. B. J. Brossette, Der Wert der Wahrheit im Schatten des Rechts aufinformationelle Selbstbestimmung, 1991, S. 129 ff. 46 R. Scholz (AöR 100 [1975], 80/265 [266]) unterscheidet in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - statt der hier angeführten drei - vier verschiedene Sphären. Ablehnend dazu D. Rohlf, Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre, 1980, S. 76 ff. 47 BVerfGE 27,8. 48 BVerfGE 33, 373. 49 BVerfGE 33,367. 50 BGHZ 15, 249. 51 BGHZ 20, 345. 52 BGHZ 30,7. 53 BGHZ 26, 349 (355). 54 BVerfGE 27, I (6). 55 BVerfGE 27, 344.
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
nen verlangt und damit das eheliche IntimIeben der Geheimsphäre zuweist. Auch in seiner Soraya-Entscheidung konstatiert das BVerfG schließlich eine Verletzung der Privatsphäre56 .
11. Rechtsdogmatische Vorgaben für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung Diese tatsächliche Entwicklung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts strukturiert auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung rechtsdogmatisch vor5 ? Sie läßt insbesondere erkennen, inwieweit das Recht auf informationelle Selbstbestimmung mit der allgemeinen Handlungsfreiheit die Abwehrdimension des Art. 2 I GG thematisiert und Individualität als Staatsfreiheit garantiert.
1. Formaler Freiheitsschutz durch Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit Die vorstehend dargestellte empirische Entwicklung ist der Ausgangspunkt für eine erste rechtsdogmatische Einschätzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Dabei erweist sich schon die Anerkennung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch den BGH und dessen Bestätigung durch das BVerfG als paradigmatisch für die Gesamtkonzeption des erst später ausdifferenzierten Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Die Ausdifferenzierung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch BGH und BVerfG führte einerseits zu wichtigen Klarstellungen, die in der Folgezeit einen nahezu einhelligen Konsens entstehen ließen. Andererseits sind aber Zweifel offen geblieben, die bis heute fortwirken und auch die Beurteilung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung behindern. Die nach dem Entstehen des Grundgesetzes anfangs in Zweifel gezogene Grundrechtsqualität des Art. 2 I GG kann aus heutiger Sicht als geklärt bezeichnet werden58 . Versuche am Beginn der Verfassungsdiskussion, Art. 2 I GG als allgemeine Leitlinie für die Auslegung oder als objektives Gebot der Freiheitlichkeit einzustufen 59 , sind vornehmlich der damaligen Novität des Art. 2 I GG zuzuschreiben. Für ein als Auffanggrundrecht wirkendes Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gab es nämlich kein verfassungsgeschichtliches Vorbild6o . BVerfGE 34, 269 (285). Zur Struktur des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts jüngst H. Ehmann, JuS 1997, 193 ff. 58 BVerfGE 1,7 (8). 59 Vgl. Z. B. D. Haas, DÖV 1954,70 ff.; H. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), 53 (82 ff.). 60 D. KlippeI, in: G. Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte der spätbürgerlichen Gesellschaft, 1987, S. 269. 56
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Diesen unstrittigen Aspekten stehen allerdings tiefgreifende, bis heute fortwirkende und das Verständnis des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung bestimmende Zweifel auch an Grundstrukturen des Art. 2 I GG gegenüber. BGH und BVerfG differenzieren mit der Ableitung eines Allgemeinen Persönlichkeitsrechts einen materialen Inhalt des Art. 2 I GG aus und betonen diesen61 . Art. 2 I GG schützt nach der richtig interpretierten Rechtsprechung sowohl die allgemeine Handlungsfreiheit als auch die Entfaltungsfreiheit des einzelnen; ihm kommt daher sowohl materialer als auch formaler Gehalt zu. Beide Aspekte sind wie sich noch zeigen wird - untrennbar miteinander verbunden, thematisieren aber unterschiedliche Dimensionen des Art. 2 I GG62 . Die allgemeine Handlungsfreiheit, weit als allgemeine Eingriffsfreiheit verstanden 63 , betont die Offenheit der Möglichkeiten des einzelnen, sich selbst zu verwirklichen. Dabei bleibt es dem Individuum überlassen, ob und in welcher Form es von dem durch Art. 2 I GG vermittelten Freiheitsrecht Gebrauch macht. Art. 2 I GG schützt die Freiheit zur Entfaltung nach je eigenem Entwurr4 und erfaßt somit die gesamte Bandbreite möglicher Verhaltensformen65 . Eben dies bringt das BVerfG auch in seiner grundlegenden Entscheidung zu Art. 2 I GG zum Ausdruck: Im Elfes-Urteil folgt das Gericht, nachdem es in einer früheren Entscheidung66 ausdrücklich offen gelassen hatte, ob Art. 2 I GG "nur den Schutz eines Mindestmaßes menschlicher Handlungsfreiheit, ohne das der Mensch seine Wesensanlage als geistig-sittliche Person überhaupt nicht entfalten kann" oder eine "umfassende Gewährleistung der Handlungsfreiheit" beinhaltet, ausdrücklich der letzteren Alternative und stellt somit fest, daß Art. 2 I GG die Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne meint. Geschützt ist damit jede Form menschlichen Handeins unabhängig davon, welches Gewicht der Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt. Die allgemeine Handlungsfreiheit schützt damit auch "banale,,67 Tätigkeiten wie Taubenfüttern68 oder das Reiten im Wald69 . Zur Begründung führt das 61 Hierzu sowie zum folgenden vgl. R. Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 71 ff., 73; ders., AöR 100 (1975), 80/265 (94 f.); ScholzlPitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, S. 66 ff., 68. 62 Zum Recht der allgemeinen Handlungsfreiheit und dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht als "zwei ganz verschiedene(n) Stränge(n) ein- und desselben Grundrechts" aus jüngerer Zeit W. Hoppe, in: ErichsenIKollhosserlWelp (Hrsg.), Recht der Persönlichkeit, 1996, S. 73 ff., 80 ff. 63 Vgl. dazu z. B. BVerfGE 9,83 (88). 64 D. Suhr, Die Entfaltung der Menschen durch die Menschen, 1976, S. 57; N. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 78. 65 H.-V. Erichsen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, § 152 Rdnr. 21. 66 BVerfGE 4,7 (15) - Zitate bereits im Original. 67 D. Grimm beklagt in seinem Sondervotum in BVerfGE 80, 137 (164 ff., 166) eine "Banalisierung der Grundrechte" durch die h.M. 68 BVerfGE 54, 143 (146) - Vorprüfungsausschuß.
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BVerfG neben der Entstehungsgeschichte des Art. 2 I GG 70 , die in den Schranken des Art. 2 I GG zum Ausdruck kommenden, "dem Individuum als Mitglied der Gemeinschaft auferlegten Beschränkungen,,7!, den nach der Gegenmeinung eintretenden Verlust des Freiheitsraumes des Bürgers sowie Abgrenzungsprobleme 72 an. Dieser verfassungsgerichtlichen Judikatur sind in der Folgezeit sowohl Rechtsprechung als auch Literatur im Ergebnis einerseits weitgehend 73 und insbesondere mit dem Argument, erst die Auswahl, die der einzelne aus den durch das Grundrecht geschützten Freiheitsalternativen tätigt, lasse die individuelle Freiheit entstehen, gefolgt. Andererseits ist das Ergebnis einer derartigen Interpretation - die weitgehende Konturlosigkeit des Art. 2 I GG - auch auf Kritik gestoßen. Schutzbereich und Schranken des Art. 2 I GG sind wechselseitig voneinander abhängig. Nur der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zieht den staatlichen Eingriffen Grenzen und bestimmt damit zugleich die Reichweite des Grundrechts 74 . D. Grimm wendet sich in seinem Sondervotum zur das "Reiten im Walde" betreffenden Entscheidung des BVerfG gegen die h.M. und fordert, daß ein Verhalten, das den Schutz des Art. 2 I GG beanspruchen wolle, eine gesteigerte, dem Schutzgut der übrigen Grundrechte vergleichbare Relevanz für die Persönlichkeitsentfaltung aufweisen müsse. Art. 2 I GG schütze nicht die Freiheit des einzelnen, zu tun und zu lassen, was er will, sondern die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Das Grundrecht habe daher einen weiten, aber keinen grenzenlosen Schutzbereich; sein Anwendungsbereich sei die Zone von Freiheitsbetätigungen zwischen dem unantastbaren Persönlichkeitskern einerseits und der allgemeinen Handlungsfreiheit andererseits, die zwar nicht den Schutz spezieller Grundrechte gefunden haben, für die Persönlichkeitsentfaltung aber gleichwohl von erheblicher Bedeutung sind 75 . Dieser Einwand ist zwar nicht unberechtigt; ihm kann aber gleichwohl in dieser Form nicht zugestimmt werden. Die von D. Grimm geforderte "gesteigerte, dem Schutzgut der übrigen Grundrechte vergleichbare Relevanz für die Persönlichkeitsentfaltung" ist nur erforderlich, soweit der Staat die Entfaltung der Persönlichkeit BVerfGE 80, 137 ff. BVerfGE 6,32 (39 f.) sowie BVerfGE 80, 137 (154). 71 BVerfGE 6, 32 (36). - Ebenso BVerfGE 80, 137 (152); 54, 143 (144); 12,341 (347); 8, 274 (328). 72 BVerfGE 80, 137 (154). 73 Vgl. nur BVerfGE 75, 108 (154 f.); 74, 129 (151); 54, 143 (146). - Ausführlich zur Rechtsprechung des BVerfG R. Scholz, AöR 100 (1975), 80/265 ff. Zur übrigen Rspr. vgl. z. B. - zustimmend - BVerwGE 45,224 (227), OVG Münster, OVGE 11, 174 (177), ablehnend aber z. B. OLG Koblenz, NStZ 1982,338 (339). 74 BVerfGE 44, 353 (373) sowie BVerfGE 34, 238 (246); 32, 373 (379) und BVerfGE 80, 137 (153); 63, 131 (144); 54, 143 (146 f.); 52, 214 (220). 75 D. Grimm, BVerfGE 80, 164 (164 f.) - Sondervotum unter Hinweis auf K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl. 1993, Rdnr. 428. 69
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des einzelnen unterstützen soll. Art. 2 I GG gewährleistet zwar die Eingriffsfreiheit des einzelnen umfassend, eine Pflicht des Staates zur Ermöglichung der Selbstdarstellung des einzelnen wird jedoch nur mit Einschränkungen begründet. Die allgemeine Handlungsfreiheit und das Allgemeine Persönlichkeitsrecht stellen - wie sogleich noch näher zu begründen sein wird - zwei Dimensionen eines einheitlichen Grundrechts dar: Erstere markiert die Gewährleistung des Art. 2 I GG als Abwehrrecht; mit letzterem wird Art. 2 I GG als Teilhaberecht bzw. in seiner objektivrechtlichen Dimension verstanden.
2. Allgemeine Handlungsfreiheit als Abwehrdimension des Art. 2 I GG Die beiden von Rechtsprechung und Literatur ausdifferenzierten Aspekte des Art. 2 I GG - die allgemeine Handlungsfreiheit und der Persönlichkeitsschutz nehmen unterschiedliche Freiheitsbegriffe und Dimensionen des gleichen Grundrechts in Bezug. Dabei thematisiert nur das erstere Verständnis des Art. 2 I GG als allgemeine Handlungsfreiheit im Sinne einer umfassenden Eingriffsfreiheit das Grundrecht in seiner Abwehrdimension 76 . Nach der klassischen liberalen Auffassung, der auch das BVerfG folgt, wenn es in den Grundrechten "in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat"77 sieht, schützen die Grundrechte die individuelle Freiheit nicht umfassend, sondern beschränken sich vielmehr auf das Staat-Bürger-Verhältnis und hier auf die Abwehr staatlichen Zwangs. Grundrechtlich nicht erfaßt werden hingegen Ansprüche des Bürgers gegen den Staat und das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Die "Gleichheit der freiheitlichen Startbedingungen" wird dem Bürger nur gegenüber dem Staat, nicht hingegen gegenüber der Gesellschaft gewährleistet. Die Grundrechte garantieren nach dem liberalen Grundrechtsverständnis die "Freiheit der - auch ungleichen - Chancen,,78. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß die Bürger nach der liberalen Grundrechtstheorie in den anderen, grundrechtlich nicht erfaßten Verhältnissen schutzlos wären. Vielmehr gewinnen dort das Sozialstaatsprinzip und der Schutz der Menschenwürde 79 Bedeutung und weisen dem Staat einen Handlungsauftrag zu. Insofern wird selbst bei einem Verständnis der Grundrechte als (bloße) Abwehrrechte neben der vorrangigen Staat-Bürger-Beziehung nachrangig auch das Verhältnis zwischen den Bürgern miteinbezogen. Stärkere Beachtung findet die letztere Beziehung aber
Vgl. zum folgenden wie hier bereits ScholzlAulehner, Archiv PT 1993, 103 (133 ff.). BVerfGE 7, 198 (Ls. I) - Vgl. auch BVerfGE 68, 193 (205); 61, 82 (101); 50, 290 (327); 49, 89 (141 f.); 39,68 (70 ff.); 39,1 (41); 21, 362 (369 ff.); 10,59 (81); 7, 198 (204 f.); 6,55 (72); 5, 85 (204); 1,97 (104). 78 R. Scholz, Wirtschaftsaufsicht und subjektiver Konkurrentenschutz, 1971, S. 149. 79 Zur Bedeutung des Art. 1 I GG für die Interpretation der Grundrechte vgl. T. GeddertSteinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, S. 136 ff. 76 77
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erst bei den hier noch zu erörternden 80 weiteren Grundrechtsdimensionen, die Individualität und Staatsfreiheit nicht gleichsetzen, sondern die interaktiven Bezüge der Persönlichkeit in Rechnung stellen. Die h.M. leitet das Allgemeine Persönlichkeitsrecht ebenso wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aber - wie sich sogleich näher zeigen wird aus Art. 2 I GG i.V.m. Art. I I GG ab, versteht das Allgemeine Persönlichkeitsrecht bzw. das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vorrangig als Abwehrrecht und sieht hierin primär eine Thematisierung des formalen Freiheitsschutzes.
3. Die Gewährleistung des Allgemeinen Persänlichkeitsrechts zwischen Art. 2 I GG und Art. I I GG Das BVerfG leitet das Allgemeine Persönlichkeitsrecht ebenso wie später das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 I i.Y.m. Art. I I GG ab. Dabei kommt der Garantie der Menschenwürde in Art. I I GO eine nur unterstützende Funktion zu: Art. 1 I GG beinhaltet kein eigenständiges, von Art. 2 I GG unabhängiges Persönlichkeitsrecht81 , sondern ist diesem zugeordnet und prägt das aus Art. 2 I GG resultierende Allgemeine Persönlichkeitsrecht inhaltlich, unterstützt und präzisiert es82 . Die Menschenwürdegarantie markiert damit einen innersten Bereich, in dem eine Einschränkung des Persönlichkeits schutzes oder dessen Abwägung mit anderen gegenläufigen Belangen ausscheidet83 . Art. 1 I GG gewährleistet sonach, daß der einzelne nicht zum bloßen Objekt degradiert wird 84 . Art. 1 I GG wird daher ebenso wie Art. 2 I GG insoweit als bloßes Abwehrrecht thematisiert.
4. Individualität durch Staatsfreiheit - das der allgemeinen Handlungsfreiheit zugrunde liegende Freiheitsverständnis Aus der klassisch-liberalen, die Grundrechte als Abwehrrechte thematisierenden Perspektive ist Freiheit mit inhaltlich offenem Belieben gleich zu setzen85 . Der liVgl. dazu unten im Text sub § 9. B. II. I. b. BVerfGE 27,344 (350 ff.). 82 ScholzIPitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, S. 68 f.; E. Benda, in: LeibholzIFallerlMikatlReis (Hrsg.), Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung. Festschrift für WilIi Geiger, 1974, S. 25 ff., 33. 83 BVerfGE 80, 367 (373 ff.); 80, 137 (153). 84 BVerfGE 27, I (6). 85 Zum Freiheitsverständnis und dessen Wandel insgesamt D. Suhr, EuGRZ 1984, 529 (532 ff.). Auf die Offenheit des liberalen Freiheitsbegriffs geht insbesondere R. Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 23 ff., 28 ff., 188 ff. ein. 80 81
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berale Freiheitsbegriff vertraut auf die Vernunft des freien einzelnen und rechtfertigt sich so selbst86 . Freiheit wird danach grundrechtlich als Sphäre des einzelnen, die er gegen Eingriffe des Staates und Dritter verteidigen kann, gewährleistet. Die grundgesetzlichen Freiheitsgarantien konstituieren somit Freiheit nicht, sondern nehmen die vorstaatliche 87 Freiheit des Individuums in ihren Schutzumfang auf. Freiheit ist dabei immer die Freiheit des einzelnen. Der Staat und Dritte sind aus diesem Blickwinkel zunächst und unmittelbar allein potentielle Störer der individuellen Freiheit. Mittelbar werden die Rechte der Mitmenschen bei diesem Freiheitsverständnis in mehrfacher Weise berücksichtigt: Zum einen wird Freiheit durch Gleichheit in dem Sinne ergänzt, daß jedem Individuum prinzipiell die gleiche Freiheit eingeräumt werden muß. Die Freiheit des einzelnen endet sonach dort, wo die Freiheit des anderen beginnt88 . Kollidieren die Freiheitsbereiche mehrerer, so ist ein Ausgleich erforderlich. Dieser wird vorgenommen indem die Freiheit des einzelnen im Hinblick auf die Gemeinschaft Bindungen unterworfen und durch Schranken begrenzt wird 89 . Das BVerfG90 konnte dementsprechend schon sehr früh die Gemeinschaftsbezogenheit des Individuums betonen, ohne hierdurch einen grundlegenden Wandel der Grundrechtstheorie auszulösen. Zum anderen wird auch von der liberalen Grundrechtstheorie anerkannt, daß Freiheit jedenfalls teilweise nur von mehreren Individuen gemeinsam ausgeübt werden kann. Dogmatisch werden diese Konstellationen - insbesondere die Koalitionsfreiheit 91 - aber nur durch die Annahme einer Bündelung der Freiheit der einzelnen bewältigt. Der weitergehende Schritt, die Freiheit des einzelnen interaktiv und im Verhältnis zu Dritten zu definieren, wird nicht vollzogen.
R. Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 24. Vgl. R. Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 72 f. 88 Anschaulich dazu der bei R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 11. Auflage 1991, S. 327 zitierte amerikanische Spruch: "Die Freiheit, deine Arme zu schwingen, endet dort, wo die Nase deines Mitbürgers beginnt." 89 Hieraus erklärt sich auch die in neuerer Zeit wieder häufiger hervorgehobene partielle Überschneidung der Freiheitsrechte mit dem Gleichheitssatz. Zwischen der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen eines Freiheitsrechts und den Ausführungen zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem bzw. der Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem - dem "sachlichen Grund" im Sinne des Gleichheitssatzes - besteht eine strukturelle Parallelität (S. Huster, JZ 1994, 541 ff.; ders., AöR 118 [1993], 109 [117 m. Fußn. 40]). Eine Ungleichbehandlung ist nämlich dann nicht willkürlich bzw. von einem sachlichen Grund getragen, wenn die mit ihr verbundene Differenzierung geeignet, erforderlich und angemessen ist. Das BVerfG erörtert deshalb in Konstellationen, in denen die Freiheit der Betroffenen gleichheitssatzwidrig unterschiedlich intensiv eingeschränkt wird, Art. 3 I GG teilweise im Rahmen der Angemessenheitsprüfung des jeweiligen Freiheitsrechts (wie hier bereits J. Aulehner, BB-Beil. 3 zu Heft 12/1995, S. 14). 90 BVerfGE 4,7 (15 f.). 91 Dazu R. Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 121 ff., 135. 86 87
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Darüber hinaus war bereits früh erkannt worden, daß Freiheit nicht unbegrenzt zur Verfügung steht, sondern als knappes materielles, nicht nur formales Gut durch den Staat unter den Bürgern verteilt werden muß. Den Staat trifft dementsprechend eine diesbezügliche Verteilungsverantwortung, die auch Bindungen und damit einhergehende Freiheitseinschränkungen der Bürger rechtfertigt 92 .
III. Schutz vor einer Pflicht des Bürgers zur Übermittlung seiner Daten an den Staat - Zusammenfassung Als Abwehrrecht schützt das aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht abgeleitete Recht auf informationelle Selbstbestimmung ebenso wie dieses nur die Privatsphäre und damit nur vor einer staatlich begründeten Verpflichtung der Bürger, ihre Daten an den Staat zu übermitteln. Der Sonderkonstruktion des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung bedarf es dabei eigentlich nicht; dies folgt vielmehr bereits aus der durch Art. 2 I GG geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit93 . Ein Zwang des Bürgers zur Informationsabgabe an den Staat ist - eben dies geht auch aus dem "Volkszählungs"-Urteil hervor - nur zulässig, wenn und soweit dies gesetzlich vorgesehen ist und ein überwiegendes Allgemeininteresse besteht. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht wird damit vornehmlich im StaatlBürgerVerhältnis verortet; im BürgerlBürger-Verhältnis findet es nur untergeordnete Beachtung.
B. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vor, in und nach dem "Volkszählungs"-Urteil Neben dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht differenzierte das BVerfG schrittweise das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus. Die Betrachtung dieser tatsächlichen Entwicklung ermöglicht daher eine nähere rechtsdogmatische Einordnung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung.
I. Die Ausdifferenzierung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung in Rechtsprechung und Literatur Neben dem durch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht vermittelten Persönlichkeitsschutz entwickelten Rechtsprechung und Literatur ein Recht auf informatioVgl. dazu R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 11. Auflage 1991, S. 324 ff. T.-A. Hubert, Das datenschutzrechtliche Presseprivileg im Spannungsfeld zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht, 1993, S. 94. 92 93
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nelle Selbstbestimmung. Mit der Erweiterung des durch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht vermittelten Privatsphärenschutzes um ein Recht auf informationelle Selbstdarstellung, dem "Volkszählungs"-Urteil und der nachfolgenden Rechtsprechung sind dabei drei Zäsuren erkennbar.
1. Privatsphärenschutz und informationelle Selbstdarstellung
Die bundesverfassungsgerichtliche Judikatur sah anfänglich ebenso wie die des BGH das Selbstbestimmungsrecht in einem Verhältnis strenger Akzessorietät zum Schutz der Privatsphäre. Der BGH nahm insofern ein Recht des einzelnen auf Selbstdarstellung an, als dieser berechtigt sein sollte, zu entscheiden, ob, an wen und in welcher Weise der Privatsphäre des einzelnen zuzuordnende Informationen offenbart werden. Zwischen dem Sphärenschutz einerseits und dem Recht auf Selbstdarstellung andererseits bestand somit eine feste und unauflösliche Verknüpfung. Diese zunächst von der Rechtsprechung angenommene strikte Akzessorietät zwischen der Sphärentheorie und dem Recht auf Selbstdarstellung kann in allen der bereits 94 angeführten Entscheidungen des BGH und des BVerfG nachgewiesen werden 95 . Über den Privatsphärenschutz hinaus erweitert das BVerfG das Recht auf Selbstdarstellung erstmals im Eppler-Fa1l96 . Das Gericht stellt in diesem Judikat ausdrücklich fest, daß zwar die Privat-, Geheim- oder Intimsphäre des Beschwerdeführers nicht betroffen ist, der einzelne aber grundsätzlich selbst entscheiden können soll, wie er sich Dritten oder der Öffentlichkeit gegenüber darstellen will. Diese Fortentwicklung und Ergänzung über den Schutz der Privatsphäre hinaus hat das BVerfG in späteren Entscheidungen - insbesondere in den Judikaten zur Selbstbezichtigung 97 und zur Gegendarstellung - bestätigt. Das BVerfG erkennt damit erst ca. 30 Jahre nach der Begründung eines Allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch den BGH in der Leserbrief-Entscheidung ein sphärenunabhängiges Selbstbestimmungsrecht an. Bemerkenswert ist dies insbesondere deshalb, weil der BGH bereits in seiner grundlegenden Entscheidung von 1954 dem Verfasser einer presserechtlichen Berichtigung, dessen Text als Leserbrief veröffentlicht worden war, das Recht eingeräumt hatte, darüber zu entscheiden, ob und in welcher Form seine Aufzeichnungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden 98 Vgl. dazu schon oben im Text sub § 9. A. I. 1. und 2. Siehe hierzu insgesamt T.-A. Hubert, Das datenschutzrechtliche Presseprivileg im Spannungsfeld zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht, 1993, S. 72 ff.; ScholzlPitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, S. 69 ff. 96 BVerfGE 54, 148 (155, 159). 97 BVerfGE 56,37 ff.; 63, 131 ff. 98 BGHZ 132, 334 (339). - Wie hier zum Ganzen T.-A. Hubert, Das datenschutzrechtliche Presseprivileg im Spannungsfeld zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht, 1993, S. 72 ff. 94 95
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
und damit - wenn auch nicht ausdrücklich - ein sphärenunabhängiges Selbstbestimmungsrecht angenommen hatte.
2. Das" Volkszählungs "-Urteil Im "Volkszählungs"-Urteil bestätigt das BVerfG nochmals 99 die Befugnis des einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden. Dieses Recht hält das Gericht - darin liegt die eigentliche Bedeutung des "Volkszählungs"-Urteils - unter den heutigen und künftigen Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung für besonders gefährdet, da diese Technik unbegrenzte Speicherkapazitäten und einen entfernungsunabhängigen Datenzugriff ebenso ennöglicht wie die Erstellung eines teilweise oder weitgehend vollständigen Persönlichkeitsbildes. Die automatische Datenverarbeitung erweitert damit - so das BVerfG - in einer bisher unbekannten Weise die Möglichkeiten einer Einsicht- und Einflußnahme und wirkt daher auf das Verhalten des einzelnen schon durch den psychischen Druck öffentlicher Anteilnahme ein 100. Individuelle Selbstbestimmung setzt aber auch unter den Bedingungen moderner Infonnationstechnologien infonnationelle Selbstbestimmung voraus. Das BVerfG hält deshalb eine Gesellschaftsordnung und eine diese ennöglichende Rechtsordnung, in der die Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß, mit dem Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung nicht für vereinbar. Das Gericht betont dabei, daß andernfalls nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des einzelnen, sondern auch das Gemeinwohl beeinträchtigt würden, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines aus Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist. Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG schützt daher den einzelnen gegen eine unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten 101. Umgekehrt betont das BVerfG - dies wird vielfach nicht hinreichend gewürdigt - auch, daß dieses Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung nicht schrankenlos gewährleistet ist und der einzelne Einschränkungen im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen muß. Der einzelne hat kein Recht im Sinne einer absoluten uneinschränkbaren Herrschaft über seine Daten, sondern ist eine sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfaltende, auf Kommunikation angewiesene Persönlichkeit. Infonnation - so das BVerfG ausdrücklich - stellt, auch soweit sie personenbezogen ist, ein Abbild sozialer Realität dar, das nicht ausschließlich dem Betrof99 Vgl. zum Schutz des Selbstbestimmungsrechts schon vor dem "Volkszählungs"-Urteil BVerfGE 63, 131 (142 f.); 57, 170 (210); 56, 37 (41 ff.); 54, 148 (155); 44,353 (372 f.); 35, 202 (220); 32, 373 (379); 27, 344 (350 f.); 27, 1 (6 f.) und nach dem dem "Volkszählungs"Urteil BVerfGE 72,155 (170). 100 BVerfGE 65, 1 (42). 101 BVerfGE 65, 1 (43).
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fenen allein zugeordnet werden kann. Das Grundgesetz habe das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit der Person entschieden. Für derartige Beschränkungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse fordert das BVerfG unter Hinweis auf Art. 2 I GG eine verfassungsmäßige gesetzliche Grundlage, aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger erkennbar ergeben und die damit dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspricht. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten und muß organisatorische und verfahrensrechtliche Vorkehrungen treffen, die der Gefahr einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts entgegenwirken lO2 . Schließlich betont das BVerfG, im "Volkszählungs"-Urteil sei keine erschöpfende Erörterung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung erforderlich. Entschieden werde nur über Eingriffe, mit denen der Staat die Angabe personenbezogener Daten vom Bürger verlangt. Dabei sei neben der Art der Daten auch auf deren Nutz- und Verwendbarkeit abzustellen. Entscheidend seien daher neben dem Zweck, für den Daten erhoben werden, auch die von der Informationstechnologie bereitgestellten Verarbeitungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten. Durch diese könne ein belangloses Datum einen neuen Stellenwert bekommen 103 .
3. Die Rechtsprechung nach dem" Volkszählungs "-Urteil
Die Rechtsprechung des BVerfG nach dem "Volkszählungs"-Urteil beschränkt sich häufig auf eine Wiederholung der dortigen Ausführungen und versucht, diese für den jeweils zu entscheidenden Sachbereich zu konkretisieren 104. Dabei sind insbesondere zwei Entwicklungslinien zu erkennen: Zum einen erweitert das BVerfG und die übrige Rechtsprechung den Anwendungsbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung fortlaufend und negiert dabei die im "Volkszählungs"-Urteil noch angeführten Einschränkungen. Zum anderen differenziert die Rechtsprechung immer mehr Belange des Gemeinwohls aus, die eine Beschneidung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung rechtfertigen.
a) Ausdehnung des durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung geschützten Bereichs Die Rechtsprechung nach dem "Volkszählungs"-Urteil beschränkt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung im Gegensatz zu den Ausführungen im "Volks102 103
104
BVerfGE 65, 1 (44). BVerfGE 65, 1 (45). So bereits J. Aulehner, eR 1993,446.
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zählungs"-Urteil selbst weder auf die zwangsweise Datenerhebung durch den Staat noch auf die automatische Datenverarbeitung. Obwohl das BVerfG im "Volkszählungs"-Urteil auf die Gefahren der automatischen Datenverarbeitung durch den Staat abstellt, reduziert es die Geltung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung in späteren Judikaten nicht hierauf, sondern sieht jede Informationssammlung als durch den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung erfaßt an 105.
b) Belange des Gemeinwohls, die das Recht auf informationelle Selbstbestimmung einschränken Als Belange des überwiegenden Allgemeininteresses, die eine Einschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung rechtfertigen, sind in der Rechtsprechung nach dem "Volkszählungs"-Urteil vornehmlich Sicherheit, die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege lO6 , Effektivität und Funktionsfähigkeit amtlicher Statistiken, finanzielle Sicherheit des Staates und Gleichmäßigkeit der Besteuerung, der Schutz des Rechtsverkehrs, insbesondere die Verringerung volkswirtschaftlicher Fehlentwicklungen und die Abwehr der Wirtschaftskriminalität zu erkennen 107. aa) Schutz des Rechtsverkehrs
Den Schutz des Rechtsverkehrs hat das BVerfG bereits mehrfach als überwiegendes Allgemeininteresse, das eine Einschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung rechtfertigt, anerkannt. In seiner Entscheidung zum Schuldnerverzeichnis führt das BVerfG I08 aus, die Eintragung im Schuldnerverzeichnis gemäß § 107 11 KO diene nicht nur den Informationsinteressen möglicher Gläubiger und solle weitere mangels hinreichender Masse abzuweisende Konkursanträge verhindern; ihr komme vielmehr überdies eine besondere Schutz- und Wamfunktion zu. Die Eintragung in das Schuldnerverzeichnis trage zur Verringerung volkswirtschaftlicher Fehlentwicklungen und zur Abwehr der Wirtschaftskriminalität bei. 105 BVerfGE 80, 367 ff. = eR 1990, 367 ff. - "Verwertung tagebuchähnlicher Aufzeichnungen im Strafprozeß"; BVerfGE 85, 219 ff. - "Begründung einer Eigenbedarfskündigung"; BVerfGE 84, 192 ff. - "Offenbarung einer Entmündigung bei Mietvertragsabschluß" BVerfGE 78, 77 ff. - "Öffentliche Bekanntmachung einer Entmündigung" = eR 1989, 51 ff.; BVerfGE 77, 1 (46 ff.) - "Neue Heimat"; 72, 155 (170 f.) - "Minderjährige"; 67, 100 (142 ff.) - "Flick-Ausschuß"; BVerwG, DVB!. 1990,707 (708) - "Auskunftsanspruch". 106 Siehe dazu ausführlich z. B. M. Himmelreich, Die Schranken der Wahrheitsermittlung bei der Strafverfolgung und neue Ermittlungsmethoden der Polizei, 1993, S. 133 ff. 107 Dazu sowie zum folgenden wie hier bereits J. Aulehner, eR 1993,446 (451 f.). 108 BVerfG, eR 1989,528 ff. - "Schuldnerverzeichnis". Seit I. I. 1995 gilt insoweit nunmehr das Gesetz zur Änderung von Vorschriften über das Schuldnerverzeichnis vom 15.7. 1994 (BGB!. I, S. 1566).
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Ein rechtlich geordneter, ziel- und zweckgebundener Infonnationsfluß innerhalb des ökonomischen Prozesses diene dem Schutz letztlich aller Marktteilnehmer und damit einem überwiegenden Allgemeininteresse. Die öffentliche Bekanntmachung einer Entmündigung wegen Verschwendung oder Trunksucht erklärt das BVerfG\09 zwar für verfassungswidrig. Den durch § 687 ZPO bezweckten Schutz des Rechtsverkehrs erkennt das Gericht jedoch ausdrücklich als zulässig an.
bb) Effektivität und Funktionsfähigkeit amtlicher Statistiken Als das Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung einschränkende Belange des Gemeinwohls erkennt das BVerfG auch praktische Anforderungen wie die Effektivität und Funktionsfähigkeit amtlicher Statistiken an. Nach der Rechtsprechung des BVerfG zum Vollzug des Volkszählungsgesetzes 1987 hat der einzelne ein verbleibendes Reidentifizierungsrisiko anonymisierter Daten grundsätzlich als notwendige Folge einer im überwiegenden Allgemeininteresse angeordneten Statistik hinzunehmen 11o. Der einzelne kann nach einer anderen Entscheidung des BVerfG zum gleichen Themenbereich lll keine organisatorischen und verfahrensrechtlichen Vorkehrungen verlangen, die mit einem erheblichen, von der Gesellschaft vernünftigerweise nicht zu beanspruchenden Mehraufwand an nur begrenzt verfügbaren öffentlichen Mitteln verbunden sind und die nicht nur möglichen, mit einiger Wahrscheinlichkeit drohenden und vernünftigerweise in Betracht zu ziehenden Gefahren einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts entgegenwirken, sondern darauf abzielen, alle nur denkbaren Gefährdungen völlig auszuschließen.
cc) Sicherheit Ausdrücklich als einen Belang des Gemeinwohls, der eine Einschränkung des Rechts auf infonnationelle Selbstbestimmung rechtfertigt, sieht das BVerfG auch das Bedürfnis nach Sicherheit an ll2 . Dabei versteht das Gericht Sicherheit umfänglich: Es erkennt nicht nur die Gewährleistung der Sicherheit im Bereich des öffentlichen Dienstes als legitimes und dringendes Ziel, das eine Sicherheitsüberprüfung bei Beamten rechtfertigt, an 113, sondern berücksichtigt auch die finanzielle Sicherheit des Staates als öffentliches Interesse mit Verfassungsrang bei der Beurteilung eines Auskunftsersuchens der Steuerfahndung l14 . 109 BVerfGE 78, 77 ff. =eR 1989,51 ff. - "Öffentliche Bekanntmachung einer Entmündigung". 110 BVerfG, eR 1987,872 (875) - "Volkszählungsgesetz und Anonymisierung". III BVerfG, eR 1988, 147 (149) - "Volkszählungsgesetz - Abschottungsgebot und Zufallsdaten". 112 Allgemeiner zum Verhältnis von Menschenrechten und Staatsaufgaben aus europäischer Perspektive E. Denninger, JZ 1996, 585 ff. 113 BVerfG, eR 1989,416 - "Sicherheitsüberprüfung bei Beamten".
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Darüber hinaus sieht das BVerfG aber auch Sicherheit im Hinblick auf die Erfordernisse der Strafrechtspflege als das Recht auf informationelle Selbstbestimmung einschränkenden Gemeinwohlbelang. In der "Tagebuch"-Entscheidung betont es, das Grundgesetz weise den Erfordernissen einer an rechtsstaatlichen Garantien ausgerichteten Rechtspflege im Hinblick auf die Idee der Gerechtigkeit einen hohen Rang zu. Das BVerfG habe wiederholt die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung und Verbrechensbekämpfung hervorgehoben, das öffentliche Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung im Strafverfahren betont und die wirksame Aufklärung gerade schwerer Straftaten als einen wesentlichen Auftrag eines rechtsstaatlichen Gemeinwesens bezeichnet lJ5 . Der Schutz des Gemeinwesens, der durch die Straftat Verletzten und möglicher künftiger Opfer, aber auch der Anspruch des Täters auf ein gerechtes Urteil setzten dem Persönlichkeitsrecht Schranken lJ6 .
11. Rechtsdogmatische Strukturen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung Die Erweiterung des Privatsphärenschutzes durch das Recht auf Selbstdarstellung, das "Volkszählungs"-Urteil und die daran anschließende Rechtsprechung haben das Recht auf informationelle Selbstbestimmung näher strukturiert. Dabei erweist sich das Recht auf Selbstdarstellung als materiell-inhaltliche Freiheitsgewährleistung; im "Volkszählungs"-Urteil wird die bis dahin geltende strikte Akzessorietät zwischen Sphärenschutz und Se1bstdarstellungsrecht aufgelöst und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in seiner objektiv-rechtlichen und sozialen Teilhabedimension thematisiert. Die Rechtsprechung nach dem als Reflexionsaufforderung an die Gesetzgeber zu verstehenden "Volkszählungs"-Urteil l17 konnte dessen Anspruch auf Fortentwicklung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung nicht einlösen.
1. Materiell-inhaltliche Freiheitsgewährleistung durch Persönlichkeitsschutz Der durch die allgemeine Handlungsfreiheit gewährte formale Freiheitsschutz wird teilweise fälschlich als der allein durch Art. 2 I GG geschützte Aspekt betrachtet. Tatsächlich korrespondiert diesem formalen aber auch ein materialer Schutzaspekt. Das BVerfG legt seinem Verständnis des Art. 2 I GG zwar keinen BVerfG, eR 1989, 827 (828) - "Auskunftsersuchen der Steuerfahndung". BVerfGE 80, 367 ff. = eR 1990,142 (143) - "Verwertung tagebuchähnlicher Aufzeichnungen im Strafprozeß". 116 BVerfGE 80, 367 ff. = eR 199Q, 142 (144) - "Verwertung tagebuchähnlicher Aufzeichnungen im Strafprozeß". 117 Pitschas/Aulehner, NJW 1989,2353 (2358). 114 115
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materialen Personalismus 11 8 zugrunde, verzichtet umgekehrt aber auch nicht auf ein eigenes Persönlichkeitskonzept. Es gewinnt dieses vielmehr aus einer verbindenden Interpretation von Art. 2 I und Art. I I GG. Gerade in der Verknüpfung der Art. 2 I und Art. 1 I GG durch das BVerfG II9 liegt dabei die Bedeutung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Das Gericht entwickelt aus dieser Verknüpfung ein "unbenanntes" Freiheitsrecht, das die speziellen Freiheitsrechte ergänzt und die Grundbedingungen menschlicher Existenz und den Bestand eines abgeschirmten Bereichs persönlicher Lebensgestaltung garantieren soll 120.
a) Art. 2 I GG als einheitliches Grundrecht Entgegen einer verbreiteten Ansicht l21 stehen sich der durch Art. 2 I GG vermittelte Persönlichkeits schutz einerseits und die allgemeine Handlungsfreiheit andererseits nicht wie "zwei Schichten" gegenüber. Die Entfaltung der Persönlichkeit und die allgemeine Handlungsfreiheit sind vielmehr untrennbar wechselseitig voneinander abhängig. Die - von der Gegenmeinung vertretene - Aufspaltung des Art. 2 I GG in eine das "Tun" und eine das "Sein" schützende Komponente 122 ist nicht möglich. Selbst wenn Art. 2 I GG auch oder vorrangig die Freiheit des einzelnen vor staatlichen Eingriffen schützt, kann sich das Individuum nicht isoliert, sondern nur im Miteinander, im Bezug zu und im Kontakt mit anderen als den Bedingungen, Mitteln, Verstärkern und Vervielfältigern der eigenen Freiheit entfalten l23 . Nicht nur die menschliche Sozial-, sondern auch die Individualperson wird nämlich kommunikativ und damit gesellschaftlich konstituiert. Denn die individuelle Person bildet sich nur durch die gesellschaftlichen Beziehungen der Individuen zueinander l24 • Dies zeigt schon die "Sphärentheorie", die den Schutz des Art. 2 I GG (i.Y.m. Art. 1 I GG) eben nicht auf die Abwehr von Eingriffen in einen wie auch immer gearteten Persönlichkeitskern beschränkt, sondern vielmehr die soziale Entfaltung 118 So z. B. H. Peters, in: Constantopoulos/Wehberg (Hrsg.), Gegenwartsprobleme des internationalen Rechts und der Rechtsphilosphie. Festschrift für R. Laun, 1953, S. 669 ff., 673. 119 BVerfGE 72, 155 (170 f.); 63, 131 (142 f.); 56, 37 (41 ff.); 54, 148 (153 ff.); 49, 286 (298); 47, 46 (73); 44, 353 (372 f.); 35, 202 (220); 34, 269 (282 f.); 34, 238 (245 f.); 32, 373 (379); 27, 344 (350 f.); 27, 1 (6). 120 BVerfGE 54,148 (153). - Vgl. auch BVerfGE 79,256 (268); 72, 155 (170); 65,1 (41); 60, 329 (339); 35, 202 (220 f.). 121 W. Schmitt Glaeser, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, § 129 Rdnr. 18; C. Degenhart, JuS 1990, 161 (161 f.); ders., JuS 1992,361 (361 f.) 122 So insbesondere W. Schmitt Glaeser, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, § 129 Rdnr. 18. 123 D. Suhr, EuGRZ 1984,529 (535). 124 R. Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 73 f.
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des einzelnen garantiert. Die "Sphärentheorie" bestätigt auch, daß der einzelne sowohl als Individual- wie auch als Sozialperson nur im gesellschaftlichen Kontakt konstituiert und geschützt wird. Ein gegenteiliges Verständnis der "Sphärentheorie" scheidet aus, da es die von ihr zusammengefaßten drei Sphären auf die innerste, den durch einen absoluten Schutz gekennzeichneten Bereich, reduzieren würde. Darüber hinaus würde eine Interpretation, die das Allgemeine Persönlichkeitsrecht auf ein bloßes Abwehrrecht verkürzt, die Person als statisch und vorgegeben (miß-)verstehen. Das Verfassungsrecht schützt aber die Person als dynamischen Prozeß der Personwerdung. Die fortwährende (Neu-)Konstitution des Individuums erfolgt notwendigerweise interaktiv und in seinen kommunikativen Bezügen. Die vom Grundgesetz geschützte Individualität ist dabei - aus der Perspektive eines allgemein funktionalen Verfassungsverständnisses l25 - ebenfalls funktional zu verstehen. Geschützt ist sonach eine einheitliche Realisierung der Sozial- und Individualperson l26 . Schließlich kommt diese Einschätzung auch in der Rechtsprechung des BVerfG mehrfach jedenfalls andeutungsweise zum Ausdruck: Zum einen qualifiziert das Gericht die freie menschliche Persönlichkeit als den nach der Gesamtauffassung des Grundgesetzes obersten Wert I 27. Allgemeines Persönlichkeitsrecht und allgemeine Handlungsfreiheit können deshalb nur Elemente dieses obersten Wertes sein; eine Gegensätzlichkeit zwischen beiden ist daher auch nach der Rechtsprechung des BVerfG ausgeschlossen. In einem anderen Judikat weist das BVerfG mit Recht darauf hin, daß Art. 2 I GG zwar die aktive Gestaltung der Lebensführung durch den Grundrechtsträger selbst akzentuiert, diese aber die Freiheit von unberechtigten Eingriffen der Staatsgewalt geradezu voraussetzt 128 . b) Die Grundrechtsdimensionen und Art. 2 I GG Die durch Art. 2 I GG geschützte allgemeine Handlungsfreiheit einerseits und das Allgemeine Persönlichkeitsrecht andererseits unterscheiden sich zwar; diese Differenz kann aber nicht als ,,zweischichtigkeit" beschrieben werden. Wie bereits angedeutet sind die allgemeine Handlungsfreiheit und das Allgemeine Persönlichkeitsrecht unterschiedlichen Dimensionen des Art. 2 I GG zuzuordnen. Als Abwehrrecht gewährleistet Art. 2 I GG einen umfassenden Schutz vor verfassungsbzw. rechtswidrigen Eingriffen in die Freiheitssphäre des einzelnen 129. Dieser 125 Vgl. dazu noch näher unten im Text sub § 9. C. III. 3. b. cc. und speziell im Hinblick auf Art. 2 I GG und Art. 1 I GG sub § 9. B. II. 2. a. 126 R. Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 73 f. 127 BVerfGE 7, 377 (405). - Vgl. auch BVerfGE 72, 105 (115). 128 BVerfGE 9,83 (88) sowie BVerfGE 19,206 (257); 19,206 (215); 9, 3 (11) und BVerfGE 42,20 (27 f.); 33, 44 (48); 29, 402 (408). 129 Vgl. dazu bereits oben im Text sub § 9. A. II. 2.
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Schutzumfang reduziert sich, wenn der Staat die Entfaltung der Persönlichkeit des einzelnen nicht nur nicht verhindern, sondern sie überdies tolerieren oder aktiv fördern soll. Eine Zuordnung der allgemeinen Handlungsfreiheit und des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu unterschiedlichen Dimensionen des Art. 2 I GG ist nur möglich, wenn man sich zunächst die verschiedenen Grundrechtsgehalte vergegenwärtigt 13o.
aa) Die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension Grundrechte als objektive Wertordnung Heute beschränkt sich die Bedeutung der Grundrechte nicht mehr auf ihre klassisch-liberale Eigenschaft als Abwehrrechte. Grundrechte werden vielmehr als Leistungs-, Verfahrens- und Organisationsrechte interpretiert. Ausgangspunkt für diese Entfaltung der Grundrechte ist die Erkenntnis, daß die Grundrechte eine objektive Wertordnung beinhalten. Das BVerfG führt zu diesem Gehalt der Grundrechte aus: "Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts enthalten die grundrechtlichen Verbürgungen nicht lediglich subjektive Abwehrrechte des einzelnen gegen die öffentliche Gewalt, sondern stellen zugleich objektiv-rechtliche Wertentscheidungen der Verfassung dar, die für alle Bereiche der Rechtsordnung gelten und Richtlinien für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung geben" 131. Aus dem Gehalt der Grundrechte als objektiver Wertordnung leitet die Rechtsprechung sowohl die grundrechtliehe "Ausstrahlungswirkung" in das Zivilrecht 132 als auch deren Weiterentwicklung von der nur negativen Verpflichtung des Staates, Eingriffe zu unterlassen, zu der positiven Aufforderung an ihn, alles zu tun, um eine Verwirklichung der Grundrechte zu ermöglichen, ab. Die Grundrechte geben demnach insbesondere dem Gesetzgeber "Richtlinien und Impulse,,133.
Vgl. zum folgenden wie hier bereits ScholzJAulehner, Archiv PT 1993, 103 (133 ff.). BVerfGE 49, 89 (141 f.). - Vgl. auch BVerfGE 73, 261 (269); 68, 193 (205); 61, 82 (101); 56, 54 (73); 50, 290 (327); 39, 68 (70 ff.); 39, 1 (41); 21, 362 (371 f.); 10,59 (81); 7, 198 (204 f., 215); 6, 55 (72); 6, 32 (40 f.); 5, 85 (134 ff., 197 ff.); 2, 1 (12) sowie C. Starck, in: Heyde/Starck (Hrsg.), Vierzig Jahre Grundrechte in ihrer Verwirklichung durch die Gerichte, 1990, S. 9 ff. abgedruckt auch in ders., Praxis der Verfassungsauslegung, 1994, S. 21 ff., 29 ff.; H. D. Jarass, AöR 110 (1985),363 ff. 132 Vgl. hierzu insbeondere BVerfGE 62, 230 (242); 60, 234 (239); 53, 257 (298, 312); 52, 131 (165 f.); 42, 143 (148); 7,198 (205 f.). 133 BVerfGE 7, 198 (205). - Vgl. auch K. Hesse, in: BendalMaihoferNogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Auf!. 1994, § 5 Rdnrn. 17 ff.; U. Scheuner, DÖV 1971, 505 ff. 130
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bb) Die Leistungsdimension der Grundrechte Das Grundgesetz enthält zwar im Gegensatz zu den Verfassungen der Bundesländer 134 mit Art. 6 IV GG nur ein subjektives Recht auf Leistung. Gleichwohl können aber dem Schutz der Menschenwürde (Art. 1 I GG), der Sozialstaatsklausel (Art. 20 I, 28 I 1 GG) und Art. 6 I, V GG sowie Art. 3 I GG hinreichende objektive Anhaltspunkte für eine Leistungsdimension der Grundrechte \35 entnommen werden. Das BVerfG nimmt in seinen Leitentscheidungen zur Leistungsdimension der Grundrechte - insbesondere in den Entscheidungen zur Sozialhilfe 136 , zum numerus c1ausus bei der Zulassung zum Hochschulstudium 137 und zum Niedersächsischen Gesamthochschulgesetz 138 - eine vermittelnde Position ein, indem es derivative Leistungsrechte anerkennt und originäre darüber hinaus nicht ausschließt 139 . Insgesamt ist die Diskussion um den Charakter der Grundrechte als Leistungsrechte sehr kontrovers und reicht von einer nahezu vollständigen Befürwortung 140 bis zu einer beinahe kompletten Ablehnung 141 •
cc) Der verfahrens- und organisationsrechtliche Gehalt der Grundrechte Die Verfahrensgrundrechte (Art. 19 IV, 101 I, 103 I, 104 GG) verbinden die Grundrechte mit dem Verfahrens- und Organisationsrecht. Dieses von den Verfahrensgrundrechten thematisierte Wechselverhältnis findet erst in der neueren Grundrechtsdiskussion stärkere Beachtung 142.
134 Vgl. z. B. (Bayern) Art. 106, 128, 166, 168, 175 BV; (Bremen) Art. 8,14,27,58 BrV; (Hessen) Art. 28, 37 HessV; (Nordrhein-Westfalen) Art. 8, 24, 26 NRWV; (Rheinland-Pfalz) Art. 53, 67 Rh-PfV; (Saarland) Art. 45 SaarlY. 135 Vgl. z. B. R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 396 f. 136 BVerfGE I, 97 ff. - Dazu z. B. H. Steiger, in: BerberichIHolllMaaß (Hrsg.), Neuere Entwicklungen im öffentlichen Recht, 1979, S. 255 ff., 258 ff. 137 BVerfGE 33, 303 ff. 138 BVerfGE 43,291 ff. 139 BVerfGE 33, 303 (330 ff.). - Vgl. auch BVerfGE 59, 172 (199); 59, 1 (25); 45, 376 (386 ff.); 43, 291 (313 f., 326 ff.); 40, 121 (133); 39, 258 (269 f.); 39, 276 (293); 37, 104 (113); 35,79 (1l5 f.); 1,97 (104 f.). 140 Vgl. Z. B. H. Willke, Stand und Kritik der neueren Grundrechtstheorie, 1975, S. 216. 141 Zusammenfassend R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 401. 142 Vgl. hierzu z. B. P. Häberle, VVDStRL 30 (1972), 43 (86 ff., 121 ff.); H. H. Rupp, AöR 101 (1976), 161 (187 ff.); C. Starck, in: ders. (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz 11, 1976, S. 480 ff.; K. Hesse, EuGRZ 1978,427 (434 ff.); C. Starck, JuS 1981, 237 (242 f.); H. Bethge, NJW 1982, 1 ff.; K. Hesse, in: Benda/MaihoferNogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, Rdnm. 42 ff.; P. Lerche, in: ders.lSchmitt Glaeser/ Schmidt-Aßmann, Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, 1984, S. 97 ff.; R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990.
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Das BVerfG entnimmt nicht nur den Verfahrensgrundrechten und denjenigen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten, deren Verwirklichung - wie im Falle der Art. 4 m143 , 9 I, 1611 2 144, 17 und 38 GG - ohne verfahrensmäßige Ausgestaltung undenkbar ist, sondern allgemein allen - auch den materiellen - Grundrechten Verfahrens- und Organisationsdirektiven. So verlangt das Gericht z. B. "materielle, organisatorische und Verfahrensregelungen ( ... ), die an der Aufgabe der Rundfunkfreiheit orientiert und deshalb geeignet sind, zu bewirken, was Art. 5 I GG gewährleisten Will,,145. Im Bereich der wissenschaftlichen Hochschulen "hat der Staat durch geeignete organisatorische Maßnahmen dafür zu sorgen, daß das Grundrecht der freien wissenschaftlichen Betätigung soweit unangetastet bleibt, wie das unter Berücksichtigung der anderen legitimen Aufgaben der Wissenschaftseinrichtungen und der Grundrechte der verschiedenen Beteiligten möglich iSt.,,146
Die (materiellen) Grundrechte entfalten unterschiedliche Organisations- und Verfahrensdirektiven. Aus den Grundrechten können sich - erstens - besondere Anforderungen an die Organisations- und Verfahrens gestaltung und -teilhabe ergeben. Das Organisations- und Verfahrensrecht kann - zweitens - dem Ausgleich kollidierender verfassungsrechtlicher Positionen dienen 147. Organisation und Verfahren können - drittens - Instrumente für eine möglichst effektive Verwirklichung der Grundrechte sein l48 . Grundrechte können - viertens - von einer bestimmten Organisation oder einem bestimmten Verfahren abhängig sein l49 . Sie können - fünftens - ihrerseits auf das Verfahrensrecht einwirken.
c) Allgemeine Handlungsfreiheit und Allgemeines Persönlichkeitsrecht als zwei unterschiedliche Dimensionen des Art. 2 I GG Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht thematisiert - was vielfach nicht hinreichend beachtet wird - nicht die Abwehrdimension des Art. 2 I GG. Anders als die allgemeine Handiungsfreiheit 150 beschränkt sich das Allgemeine PersönlichkeitsVgI. z. B. BVerfGE 69, 1 (24 ff.). Siehe z. B. BVerfGE 65, 76 (94); 60, 253 (294 ff.); 56, 216 (236). 145 BVerfGE 57,295 (320). - VgI. auch BVerfGE 73, 118 (153 f.). 146 BVerfGE 35,79 (115). - VgI. auch z. B. BVerfGE 61, 210 (239 ff.); 47,327 (386 ff.); 43, 242 (267 ff.). 147 So insbesondere im FaII des Versammlungsrechts. VgI. z. B. BVerfGE 69, 315 (355 ff.). 148 Siehe dazu die dargesteIlte Rechtsprechung zum Rundfunk- und Hochschulrecht. 149 VgI. hierzu die Ausführungen im Text zu Art. 4 III, 1611 2,17 und 38 GG. 150 T. -A. Hubert (Das datenschutzrechtliche Presseprivileg im Spannungsfeld zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht, 1993, S. 93) beschreibt das Verhältnis von aIIgemeiner Handlungsfreiheit und AIIgemeinem Persönlichkeitsrecht entweder mißverständlich oder vertritt eine abweichende Ansicht, wenn er das AIIgemeine Persönlichkeitsrecht als passiv und eher statisch, die aIIgemeine Handlungsfreiheit hingegen als aktiv und dynamisch qualifiziert. 143
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3. Teil: Verfassungsrechtiiche Rezeption
recht nicht auf den Schutz einer nur "formalen" Freiheit, sondern will die Freiheit des einzelnen "real,,151 verwirklichen. Wahrend die allgemeine Handlungsfreiheit die Freiheit als Freisein von staatlichem Zwang, als natürliche, der gesellschaftlichen und staatlichen Organisation vorausliegende Freiheit schützt, gewährleistet das Allgemeine Persönlichkeitsrecht die faktische Möglichkeit, sich auf der Grundlage eines eigenen Entschlusses diesem entsprechend zu verhalten. Erstere schützt nur die rechtliche Möglichkeit, sich selbstbestimmt zu verhalten, letzteres gewährleistet eben dies auch in tatsächlicher Hinsicht. Dabei setzt die allgemeine Handlungsfreiheit in ihrem weiten Verständnis als allgemeine Eingriffsfreiheit nur voraus, daß staatliche Eingriffe unterbleiben, das Allgemeine Persönlichkeitsrecht verlangt demgegenüber ein staatliches Handeln, um die Realisierung zu garantieren i52 . Die allgemeine Handlungsfreiheit wirkt dabei nur im Verhältnis zwischen Staat und Bürgern, das Allgemeine Persönlichkeitsrecht thematisiert demgegenüber die Horizontalwirkung der Grundrechte in der Gesellschaft und betrifft somit jedenfalls auch das Bürger/Bürger-Verhältnis. Daß Art. 2 I GG in seinen Dimensionen als allgemeine Handlungsfreiheit und Allgemeines Persönlichkeitsrecht inhaltlich differiert bzw. jedenfalls unterschiedlich akzentuiert ist, überrascht wenig. Die Verhältnisse StaatlBürger und Bürger/Bürger unterliegen divergierenden Anforderungen und erfordern deshalb einen jeweils unterschiedlichen Grundrechtsschutz. Der Bürger/Bürger-Relation kommt dabei insofern auch gesamtgesellschaftliche und hierdurch wiederum das StaatlBürger-Verhältnis betreffende Bedeutung zu, als individuelle Freiheitsrechte für ihre Verwirklichung einer freiheitlichen Umwelt bedürfen 153. Die allgemeine Handlungsfreiheit beinhaltet so gesehen tatsächlich (nur) eine Reformulierung des Grundsatzes, daß der Staat keine originären, sondern nur die ihm in der Verfassung zugestandenen Kompetenzen hat, staatliches Handeln also mithin der (verfassungs-)rechtlichen Grundlage bedarf. Der Staat ist Garant, nicht aber Inhaber der Freiheit; er ist freiheitslos 154. Die Differenzierung zwischen subjektiv-rechtlicher Abwehrdimension einerseits und sozialem, Teilhabe- bzw. objektiv-rechtlichem Charakter des Art. 2 I GG andererseits durchzieht die gesamte bundesverfassungsgerichtliche Judikatur hierzu, obwohl dies dogmatisch kaum reflektiert wird. Diese Trennlinie ist sowohl im Verhältnis zwischen allgemeiner Handlungsfreiheit und Allgemeinem Persönlichkeitsrecht als auch innerhalb der Entscheidungen zur allgemeinen Handlungsfreiheit er151 Zusf. zum Verhältnis von ,,realer" und ,,fonnaler" Freiheit z. B. D. Murswiek, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 112 Rdnrn. 26 ff. 152 Zu der damit angesprochenen sozialstaatiichen Grundrechtskonzeption siehe z. B. E.W. Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1535 f.); G. Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaates, 1983, S. 72 ff. 153 H. H. Rupp, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, § 28 Rdnrn. 34 ff. 154 Vgl. z. B. H. H. Rupp, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, § 28 Rdnr. 32.
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kennbar. Neben dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht wurden aus der allgemeinen Handlungsfreiheit als Abwehrdimension des Art. 2 I GG nämlich weitere soziale, objektiv-rechtliche bzw. Teilhabefunktionen abgeleitet. Die subjektiv-rechtliche Abwehrdimension des Art. 2 I GG thematisiert das BVerfG insbesondere, wenn es Art. 2 I GG einen Schutz des einzelnen vor hoheitlichen Eingriffen in Verträge entnimmt 155, die Gewährleistung der Ausreisefreiheit durch Art. 2 I GG bejaht 156 , den Aufenthalt von Ausländern durch Art. 2 I GG geschützt sieht 157 sowie Taubenfütterung 158 und Reiten 159 ebenso im Gewährleistungsbereich des Art. 2 I GG ansiedelt wie das Aushandeln von Vergütungsvereinbarungen 160, die Privatautonomie allgemein 161 und die negative Vereinsfreiheit 162 . Speziell die bundesverfassungsgerichtlichen Judikate zum Aufenthaltsrecht von Ausländern und diejenigen zur Privatautonomie illustrieren dabei die Diskrepanz zwischen der klassischen Abwehrfunktion des Art. 2 I GG einerseits und dessen sozialen, Teilhabe- bzw. objektiv-rechtlichen Dimensionen andererseits: Während der Aufenthalt von Ausländern in der Bundesrepublik jedenfalls auch durch Art. 2 I GG gewährleistet wird 163 , begründet dieses Grundrecht beim Nachzug von Ehegatten und Familienangehörigen keinen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt l64 . Ursächlich hierfür ist die Diskrepanz zwischen dem Schutz des (bloßen) status quo einerseits und dessen Erweiterung andererseits. Entsprechendes gilt für die Judikatur zur Privatautonomie: Während Art. 2 I GG den einzelnen ebenso ohne weiteres vor hoheitlichen Eingriffen in Verträge, die er abgeschlossen hat, schützt 165 wie die Privatautonomie als solche, setzt die Herstellung einer faktischen Chancengleichheit zwischen den Vertragspartnern durch gesetzliche Regelungen, die die Privatautonomie beeinträchtigen, das Vorliegen besonderer Voraussetzungen starkes Übergewicht einer Partei, das die durch die Privatautonomie geschützte Selbstbestimmung in Fremdbestimmung verwandelt - voraus 166 • Auch diese Divergenz markiert die Differenz zwischen subjektiv-rechtlicher Abwehrdimension des Art. 2 I GG einerseits und dem Teilhabe- bzw. objektiv-rechtlichen Gehalt dieses Grundrechts andererseits.
BVerfGE 89, 48 (61). - St. Rspr. seit BVerfGE 8, 274 (328). BVerfGE 72,200 (245); 6, 32 (36, 41 f.). 157 BVerfGE 80, 81 (96); 49,168 (181); 38, 52 (57); 35, 382 (399 f.). 158 BVerfGE 54, 143 (246 f.). 159 BVerfGE 80, 137 (154 f.). 160 BVerfGE 70, 1 (25). 161 BVerfGE 85, 191 (213); 81, 242 (254 ff.). 162 BVerfGE 78, 320 (329 ff.); 50, 290 (356); 38, 281 (297 ff., 303); 10, 89 (102, 104): 4, 7 (26). 163 BVerfGE 80, 81 (96); 49,168 (181); 38, 52 (57); 35, 382, (399 f.). 164 BVerfGE 76, I (47,71). 165 BVerfGE 89, 48 (61); 8, 274 (328). 166 BVerfGE 85, 191 (213); 81, 242 (254 ff.). 155
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
Unabhängig hiervon wird die hier als These vertretene Zuordnung der allgemeinen Handlungsfreiheit zur Abwehrdimension und die Einstufung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts als Teilhaberecht oder objektiv-rechtliche und soziale Grundrechtsgewährleistung des Art. 2 I GG in mehrfacher Hinsicht eindrucksvoll bestätigt: Neben der bereits geschilderten Entwicklung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch Rechtsprechung und Literatur - das Allgemeine Persönlichkeitsrecht wurde durch die Zivilrechtsprechung anhand von Fällen im BürgerIBürgerVerhältnis entwickelt 167 ; erst neuerdings glaubt das BVerfG die vordem auch von ihm als selbstverständlich angenommene mindestens mittelbare Drittwirkung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts gesondert prüfen und betonen zu müssen !68 stellt das BVerfG an die tatbestandlichen Voraussetzungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts auch engere Anforderungen als an diejenigen der allgemeinen Handlungsfreiheit 169. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht erfaßt im Gegensatz zur allgemeinen Handlungsfreiheit nicht alle oder beliebige, sondern nur "konstituierende Elemente der Persönlichkeit", "wie etwa die Gewissens- oder die Meinungsfreiheit,,17o. Höhere Anforderungen an den Tatbestand des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts als an denjenigen der allgemeinen Handlungsfreiheit als Aspekte des gleichen Grundrechts - Art. 2 I GG - sind grundrechtsdogmatisch nur, aber eben auch gerade dann gerechtfertigt, wenn letztere die klassische Abwehr-, ersteres aber die soziale, objektiv-rechtliche oder Teilhabedimension markiert. Die grundrechtsdogmatische Zuordnung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts zur sozialen, objektiv-rechtlichen oder Teilhabedimension des Art. 2 I GG erhellt auch dessen vom BVerfG betonte tatbestandliche Offenheit. Der Tatbestand des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts kann wegen der Vielzahl der geschützten Interessen zwar nur generalklauselartig umschrieben werden!7!; es ist aber gleichwohl nicht umfassend, sondern nur in seinen schutzwürdigen Konkretisierungen gewährleistet. Der Tatbestand ist daher im Einzelfall durch eine umfassende Güter- und Interessenabwägung zu bestimmen. Daß das BVerfG - wie es selbst bekundet wegen der Eigenart des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts den Inhalt des geschützten Rechts nicht abschließend umschreibt, sondern seine Ausprägungen jeweils anhand des zu entscheidenden Falles herausarbeitet l72 und einen abschlie167 Zur lückenausfüllenden Bedeutung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Zivilrecht und dessen Anerkennung durch das BVerfG vgl. insb. BVerfGE 34, 269 (281 f.); 34, 238 (246 f.); 34,118 (135 f.); 30,173 (194 ff.) sowie BVerfGE 68,226 (331); 63,131 (142); 52, 131 (169). 168 Siehe BVerfGE 84,192 (194 f.). 169 BVerfGE 54, 148 (153) sowie BVerfGE 79, 256 (268); 72, 155 (170); 65, 1 (41); 60, 329 (339); 35, 202 (220 f.). 170 BVerfGE 54, 148 (153) sowie BVerfGE 79, 256 (268); 72, 155 (170); 65, 1 (41); 60, 329 (339); 35, 202 (220 f.). 171 D. Medicus (Bürgerliches Recht, 16. Auf!. 1993, Rdnr. 615) kritisiert das Persönlichkeitsrecht daher als ,juristische Mißgeburt". 172 BVerfGE 79,256 (268); 54, 148 (153 f.).
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ßenden Charakter bisheriger Konkretisierungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts in der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur - als solche 173 sind die Privat-, Geheim- und Intimsphäre 174, die persönliche Ehre, das Verfügungsrecht über die Darstellung der eigenen Person 175 , das Recht am eigenen Bild und am gesprochenen Wort 176 und unter bestimmten Umständen das Recht, von der Unterschiebung nicht getaner Äußerungen verschont zu bleiben l77 , anerkannt - ausdrücklich verneint, zeigt einmal mehr, daß Art. 2 I GG in diesem Zusammenhang nicht in seiner klassischen Funktion als Abwehrrecht verstanden wird. In dieser Dimension würde Art. 2 I GG nämlich einen umfassenden, wenn auch nicht schrankenlosen Schutz vermitteln. Denn als Abwehrrechte zielen die Grundrechte auf einen möglichst weitreichenden Schutz der Bürger. Die Eröffnung des Schutzbereichs ist daher in dieser Grundrechtsdimension großzügig zu bejahen, wenngleich ein Eingriff in den Schutzbereich damit freilich keineswegs verfassungswidrig ist. Die Schutzbereichseröffnung erhöht nur die Voraussetzungen, unter denen ein Eingriff verfassungsmäßig ist. Eine als Eingriff zu qualifizierende staatliche Maßnahme ist nur dann zulässig, wenn sie eine Grundrechtsschranke konkretisiert.
d) Die Sphärentheorie - ein bloßes Indiz Die Zurückhaltung des BVerfG gegenüber der durch den BGH fein ausdifferenzierten Sphärentheorie kann nicht überraschen, zumal die Person hier bereits als durch die Differenz von System und Umwelt, also in der Umwelt, und nicht als Einheit konstituiert befunden wurde 178 • Daß das BVerfG eine positive Definition des von ihm grundsätzlich ebenso wie vom BGH anerkannten absolut geschützten Innenbereichs schuldig bleibt, erscheint daher nur konsequent. Die Anerkennung einer solchen Intimsphäre 179 ist nämlich mit der kommunikativen Konstitution des Individuums unvereinbar. Denn danach wird auch der absolut geschützte Innenbereich kommunikativ vermittelt 180. 173 Vgl. für die folgende Aufzählung BVerfGE 54, 148 (154), worauf auch das "Volkszählungs"-Urteil des BVerfG (E 65, I [41 f.D Bezug nimmt. 174 BVerfGE 49, 286 (298); 47, 46 (73); 34, 238 (245 f.); 32, 373 (379); 27, 344 (350 f.); 27, I (6). 175 BVerfGE 35, 202 (220). 176 BVerfGE 34, 238 (246). 177 BVerfGE 34, 269 (282 f.). 178 Vgl. dazu bereits oben im Text § 6. A. 179 Zur divergierenden Terminologie vgl. z. B. D. Rohlf, Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre, 1980, S. 76 ff. 180 Kritisch wie hier insbesondere R. Scholz, AöR 100 (1975),80/265 (89 ff., 273 ff.); D. Rohlf, Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre, 1980, S. 127 ff., 195 ff.; B. Schlink, Die Amtshilfe, 1982, S. 169 ff.; W. Rüfner, in: C. Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz H, 1976, S. 453 ff.
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
Die "Tagebuch"-Entscheidung des BVerfG hat diesen Umstand eindrucksvoll bestätigt: Wegen der Gemeinschaftsbezogenheit des Individuums kann von vorneherein nur ein minimaler Bereich des menschlichen Verhaltens als absolut geschützter Bereich qualifiziert werden. Ein staatliches Interesse an der Information über private Vorgänge ist nur zu verneinen, wenn jeder soziale Bezug fehlt. Dies gilt insbesondere für Gefühle, Gedanken, Selbstgespräche. Sobald diese jedoch den innersten persönlichen Bereich verlassen, verlieren sie den absoluten Schutz. Generell läßt die Rechtsprechung des BVerfG stärker als diejenige des BGH das Bestreben erkennen, die unterschiedlichen Sphären nach der Intensität des Sozialbezugs zu definieren. Der absolut geschützte Bereich markiert eine Intimsphäre ohne sozialen Bezug; in der einer Abwägung zugängigen Sphäre ist der Kreis derer, die von einem Verhalten Kenntnis erlangen, mindestens eingeschränkt, das Verhalten in der Öffentlichkeits sphäre kann demgegenüber beliebig von Dritten wahrgenommen werden. So verstanden bilden die Sphären das Individuum nicht als geschichtete Einheit, sondern als Differenz zwischen System und Umwelt, also in seinen sozialen Kontakten ab. Die Sphären markieren sonach die Intensität des sozialen Bezugs.
2. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung im" Volkszählungs "-Urteil
Im "Volkszählungs"-Urteil löste das BVerfG die vordem strikte Akzessorietät zwischen Sphärenschutz und Selbstdarstellungsrecht auf, differenzierte das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in seiner sozialen und objektiven Dimension sowie als Teilhaberecht aus und forderte zu dessen Fortentwicklung auf.
a) Auflösung der vordem strikten Akzessorietät zwischen Sphärenschutz und Selbstdarstellungsrecht Im "Volkszählungs"-Urteil bestätigt das BVerfG die Auflösung der strikten Akzessorietät zwischen sphärentheoretischen Aspekten einerseits und dem Selbstdarstellungsrecht andererseits zwar, wendet sich aber umgekehrt keineswegs - wie teilweise behauptet wird - von der Sphärentheorie vollends ab. Das Gericht öffnet das Allgemeine Persönlichkeitsrecht in diesem Judikat für den Datenschutz und bestätigt dessen materiale Grundlegung, verlangt aber zugleich, daß dieses jeweils funktional gewährleistet wird 181 • Die Ausdifferenzierung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung durch das BVerfG im "Volkszählungs"-Urteil beruht auf einer funktionalen Interpretation 181 Schol:zIPitschas, Infonnationelle Selbstbestimmung und staatliche Infonnationsverantwortung, 1984, S. 69.
§ 9 RiS - ein verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff
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der Art. 1 I und 2 I GG. Angesichts der durch die modemen Informationstechnologien eröffneten Möglichkeiten erscheint es nicht mehr ausreichend, durch Art. I I GG eine Behandlung des Individuums als Objekt zu verbieten und durch die in Art. 2 I GG garantierte allgemeine Handlungsfreiheit eine allgemeine Eingriffsfreiheit zu gewährleisten. Vielmehr hielt es das BVerfG mit Recht für erforderlich, das Individuum in der Kommunikation zu schützen und ihm eine Befugnis zur Selbstdarstellung zuzusprechen.
b) Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung - kein Abwehrrecht Wie das BVerfG selbst ausdrücklich konstatiert, stellt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eine weitere Konkretisierung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts dar. Es ist daher wie dieses nicht der klassischen Abwehrdimension der Grundrechte zuzuordnen, sondern unterfällt den Grundrechten in ihrer Eigenschaft als Teilhaberechte bzw. in ihrer sozialen und objektiv-rechtlichen Dimension. Die klassische Abwehrdimension der Grundrechte thematisiert das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nur insoweit, als es Beschränkungen für ein staatliches Auskunftsverlangen enthält l82 . Zwingt der Staat den Bürger, ihm Informationen zu geben, ist der Schutzbereich der aIIgemeinen Handlungsfreiheit, verstanden als Eingriffsfreiheit, betroffen l83 . Der Bürger wird hierdurch nämlich zu einem ihm möglicherweise widerstrebenden Verhalten veranlaßt. Aus diesem Blickwinkel werden die Forderungen des BVerfG nach einer gesetzlichen Grundlage, aus der sich Voraussetzungen und Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger erkennbar ergeben, ebenso verständlich wie der Hinweis auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz l84 . Wenn das BVerfG hingegen organisatorische und verfahrensrechtliche Vorkehrungen verlangt, um der Gefahr einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts entgegenzuwirken, ist damit die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension angesprochen. Denn der Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren ist anerkanntermaßen nicht mehr der klassischen Abwehrfunktion zuzuordnen. Die Qualifizierung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung als Konkretisierung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts einerseits und die Zuordnung der Forderung nach einer normenklaren und verhältnismäßigen gesetzlichen Grundlage zur allgemeinen Handlungsfreiheit andererseits widerspricht nicht der hier früher getroffenen l85 Einstufung der allgemeinen Handlungsfreiheit als Ab182 In ähnlicher Weise differenziert T.-A. Huben (Das datenschutzrechtliche Presseprivileg im Spannungsfeld zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht, 1993, S. 93 ff.), der den Zwang zur Informationsabgabe und die zu duldende Informationserhebung am Maßstab der aUgemeinen Handlungsfreiheit, die Verwendung der Informationen hingegen nach den Vorgaben des AUgemeinen Persönlichkeitsrechts beurteilen will. 183 Ähnlich J. Brossette, Der Wert der Wahrheit im Schatten des Rechts auf informationeUe Selbstbestimmung, 1991, S. 232. 184 BVerfGE 65, 1 (44).
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
wehrrecht und des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts als Teilhabedimension bzw. soziale oder objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension. Die allgemeine Handlungsfreiheit schützt nämlich mittelbar auch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht ist wie der Gleichheitssatz und die speziellen - benannten - Freiheitsrechte 'der folgenden Grundrechte eine durch die allgemeine Handlungsfreiheit geschützte Position. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht stellt sich richtigerweise auch als Schranken-Schranke für Beschränkungen der allgemeinen Handlungsfreiheit dar.
c) Das "Volkszählungs"-Urteil- eine Reflexionsentscheidung Insgesamt erweist sich das "Volkszählungs"-Urteil nicht als abschließende Kodifikation des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, sondern vielmehr als bloße "Reflexionsentscheidung" 186, die die Gesetzgeber zur Ausdifferenzierung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung nur auffordert, sie aber keineswegs selbst vornimmt. Dieser Charakter des "Volkszählungs"-Urteil kommt in dem Judikat selbst in mehrfacher Hinsicht zum Ausdruck: Das BVerfG erklärt nämlich ausdrücklich, "die Verfassungsbeschwerden geben keinen Anlaß zur erschöpfenden Erörterung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung,,187. Auch kann den im "Volkszählungs"-Urteil geäußerten Ansprüchen des Gerichts keinesfalls wörtlich gefolgt werden. Wollte man der Forderung, jeder müsse jederzeit wissen können, wer was wann über ihn weiß, nachkommen, würde dies einerseits zu einer paradoxen und totalen Informations-Information führen 188. Wörtlich genommen würde diese Forderung die Einrichtung eines totalen Überwachungsstaates erfordern l89 . Andererseits würde umgekehrt die bloße Kenntnismöglichkeit eine Rechtsverletzung durch jegliche Information unabhängig von ihrem Inhalt ausschließen 190. Schließlich erweist sich das im "Volkszählungs"-Urteil durch das BVerfG skizzierte Recht auf informationelle Selbstbestimmung als konturenarm und unpräzise. Das BVerfG folgt bei der Beschreibung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung in weiten Teilen Vorarbeiten in der Literatur, entscheidet sich aber nicht zwischen unterschiedlichen Ansätzen, so daß das Judikat nunmehr umgekehrt als Vgl. dazu oben sub § 9. A. 11. 2. So bereits Pitschas/Aulehner, NJW 1989,2353 (2358). 187 BVerfGE 65, I (44). 188 H. Fiedler, eR 1989, 131 (133). 189 T.-A. Hubert, Das datenschutzrechtliche Presseprivileg im Spannungsfeld zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht, 1993, S. 161 f. 190 J. Brossette, Der Wert der Wahrheit im Schatten des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, 1991, S. 231. 185
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Bestätigung für die unterschiedlichsten Verfassungsinterpretationen herangezogen wird. Selbst Vertreter eines - hier bereits abgelehnten - absoluten Rechts am eigenen Datum berufen sich auf das "Volkszählungs"-Urteil. Zur Begründung führen sie die Ausführungen des BVerfG an, denen zufolge in seiner Freiheit, aus eigener Selbstbestimmung zu planen und zu entscheiden wesentlich gehemmt ist, "wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffenden Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag,,191. 3. Defizite der Rechtsprechung zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach dem" Volkszählungs "-Urteil
In der Rechtsprechung zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach dem "Volkszählungs"-Urteil ist eine Fehlentwicklung zu konstatieren. Das BVerfG hat zwar an seinen Ausführungen im "Volkszählungs"-Urteil festgehalten, den Anwendungsbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ausgedehnt und die die informationelle Selbstbestimmung einschränkenden Gemeinwohlbelange bereichsspezifisch konkretisiert. Eine durch den Reflexionscharakter des "Volkszählungs"-Urteils geforderte dogmatische Fortentwicklung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung unterblieb allerdings. Die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung versteht das "Volkszählungs"-Urteil - entgegen den eigenen Ausführungen in diesem Judikat - vielmehr zunehmend als inhaltlich abschließende Ausprägung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Anders ausgedrückt: Das Gericht übernimmt und erweitert reflexionslos den Anwendungsbereich seiner Reflexionsentscheidung. Die näheren dogmatischen Strukturen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung sind daher auch zehn Jahre nach dem "Volkszählungs"-Urteil nach wie vor ungeklärt l92 .
a) Personale und soziale Identität des Individuums versus Sozialbezogenheit des Individuums insgesamt Die bundesverfassungsgerichtliche Judikatur zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung läßt nicht hinreichend erkennen, ob das Individuum insgesamt sozialbezogen verstanden wird oder ob zwischen einer von sozialen Kontakten abgeschlossenen personalen und einer gesellschaftlichen Kontakten geöffneten sozialen Identität zu unterscheiden ist 193 . BVerfGE 65, 1 (44). Zu dieser Kritik und zu den folgenden Ausführungen wie hier schon J. Aulehner, eR 1993, 446 ff. 193 Vgl. zur Unschärfe des grundgesetzlichen Menschenbildes allgemein U. Becker, Das "Menschenbild des Grundgesetzes" in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 191
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
In der allgemein-, insbesondere sozialwissenschaftlichen Literatur l94 werden beide Ansichten vertreten. Teilweise werden allein die sozialen Kontakte eines Individuums als entscheidend für dessen Selbstkonzeption gehalten. Eine Aufspaltung der Person in eine personale und eine soziale Identität wird dabei abgelehnt, weil die Identität umfassend in gesellschaftlichen Prozessen konstituiert wird 195 . Die Gegenansicht unterscheidet innerhalb einer umfassenden "Ich-Identität" eine soziale und personale Identität der Person. Erstere umfaßt die Erwartungen, die die anderen gegenüber dem Individuum in Interaktion hegen, bezieht sich also auf das Bild, das sich andere von einer Person machen 196. Letztere gewährleistet personale Kontinuität in einer sich fortlaufend wandelnden Umwelt, indem sie der Person Geschlossenheit und Autonomie vermittelt. Zu diesen allgemeinwissenschaftlichen Unschärfen hat das BVerfG aus rechtswissenschaftlicher Perspektive bislang nicht hinreichend Stellung genommen. Der insbesondere soziologische Meinungsstreit um die Konstitution des Individuums setzt sich daher in der juristischen Perspektive fort. Die Konstitution des Individuums allein durch seine sozialen Bezüge spiegelt sich rechtswissenschaftlich in Meinungen wider, nach denen die Konstitution der Person auf dem" 'sozialisierenden' Vorgang eines ständigen interindividualen Handlungs- und Kommunikationsprozesses,,197 beruht. Die (sozialwissenschaftliche) freie Entscheidung des einzelnen über seine kommunikative Offenbarung wird (rechtswissenschaftlich) in eine kommunikationsrechtliche Freiheits- und Schutzgewähr in Form des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung abgebildet l98 . Der vornehmlich soziologischen Differenzierung zwischen personaler und sozialer Identität entspricht aus juristischer Sicht die Differenzierung zwischen dem Schutz der Privatsphäre einerseits und dem Recht auf Selbstdarstellung andererseits. Die Rechtsprechung des BVerfG - insbesondere die "Tagebuch"-Entscheidung l99 - kann für beide Ansichten als Argument herangezogen werden. Auf die 1996, S. 125 ff. und passim sowie P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, der aber jedenfalls "vorläufige Antworten" (a. a. 0., S. 73 ff.) gibt, die aus hiesiger Sicht aber mindestens sehr weiterführend erscheinen. Zum Problem aus philosophischer Sicht K. Bayertz, ARSP 81 (1995), 465 ff. 194 Ausführlich zur Konstitution des Individuums aus allgemeinwissenschaftlicher Sicht vgl. bereits oben sub §. 6. A. - Zusammenfassend z. B. H. Taday, Informationelle Selbstbestimmung in modemen IuK-Systemen von Unternehmen und öffentlichen Organisationen, 1996, S. 11 ff., 14 ff. 195 Vgl. Z. B. BergerlLuckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 5. Aufl. 1991, S. 185 ff. 1% Siehe hierzu W. Schmitt Glaeser, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, § 129 Rdnr. 32. 197 R. Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 73 f. 198 ScholzlPitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, S. 78 f. 199 BVerfGE 80, 367 ff. = eR 1990, 142 - "Verwertung tagebuchähnlicher Aufzeichnungen im Strafprozeß".
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Ablehnung einer personalen Identität weisen Ausführungen des BVerfG in diesem Judikat hin, nach denen auch Vorgänge, die sich in Kommunikation mit anderen vollziehen, hoheitlichem Eingriff schlechthin entzogen sein können und der Mensch als Person, auch im Kern seiner Persönlichkeit notwendigerweise in sozialen Bezügen existiert2oo . Andererseits leitet das BVerfG ebenfalls in seiner "Tagebuch"-Entscheidung aus Art. 19 11 GG und Art. 1 I GG einen unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung ab, der der öffentlichen Gewalt schlechthin entzogen ist. b) Die Bestimmungsfaktoren des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und ihr Verhältnis zueinander Auch die den Umfang des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung bestimmenden Faktoren sind in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nur unzureichend geklärt201 . Zwar bemüht sich das Gericht um eine fortschreitende Ausdifferenzierung der Gemeinwohlbelange, die eine Einschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung rechtfertigen 202 . Nach wie vor wenig erforscht und weitgehend unklar sind indessen die Voraussetzungen für die durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu gewährleistende individuelle Selbstbestimmung und die dem entgegenstehenden Rechte Dritter. Die dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung entgegenstehenden Rechte Dritter behandelt das BVerfG in seinen Judikaten kaum. Wenige Ausführungen hierzu finden sich zumeist nur bei der Erörterung von Gemeinwohlbelangen. Die mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung kollidierende Freiheit, sich Informationen zu beschaffen bzw. Informationen zu verbreiten, kommt insbesondere in der Meinungs-, Presse- und Rundfunk-, Kunst-, Wissenschafts- und Wirtschaftsfreiheit sowie im Post- und Fernmeldegeheimnis zum Ausdruck203 . Das Spannungs verhältnis zwischen diesen Grundrechten und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist noch nicht hinreichend ausgelotet. Bei der Frage, welches Maß an informationeller Selbstbestimmung erforderlich ist, um dem einzelnen eine individuelle Selbstbestimmung zu ermöglichen, gewinnt die ungeklärte Konstitution des Individuums allein in seinen sozialen Bezügen oder gemeinsam durch eine soziale und personale Identität erneut Bedeutung. Folgt man nämlich der Differenzierung zwischen sozialer und personaler Identität 200 BVerfGE 80, 367 ff. = CR 1990, 142 (142 f.) - "Verwertung tagebuchähnlicher Aufzeichnungen im Strafprozeß". 201 Dazu wie hier schon J. Aulehner, CR 1993,446 (450 ff.). 202 Vgl. dazu bereits oben im Text sub § 9. B. I. 3. b. 203 Ein Überblick dazu findet sich z. B. bei Bothe/Kilian, Rechtsfragen grenzüberschreitender Datenflüsse, 1992, S. 302 ff.; J. Scherer, Telekommunikationsrecht und TeIekommunikationspolitik, 1985, S. 577 ff., 682 f. - Speziell auf einzelne kollidierende Grundrechte geht z. B. J. Bizer, Forschungsfreiheit und Informationelle Selbstbestimmung, 1992, ein.
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
und der damit verbundenen Unterscheidung zwischen dem Schutz des Rückzugsbereichs und dem Recht auf infonnationelle Selbstdarstellung, so gewährleistet das Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung grundsätzlich und im Gegensatz zu einer Konstitution des Individuums allein durch seine sozialen Bezüge einen absoluten, jeder Abwägung mit anderen Belangen entzogenen Infonnationsschutz, wenn und soweit der Rückzugsbereich betroffen ist.
c) Verhältnis von Schutzbereich, Eingriff und verfassungsrechtlicher Rechtfertigung beim Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung Die offene Frage nach der Existenz einer von sozialen Kontakten abgeschotteten personalen Identität verunklart auch das Verhältnis von Schutzbereich, Eingriff und verfassungsrechtlicher Rechtfertigung im Fall des Rechts auf infonnationelle Selbstbestimmung. Bejaht man eine personale Identität, dann ist der Schutzbereich des Rechts auf infonnationelle Selbstbestimmung, soweit dieser Bereich der Persönlichkeit betroffen ist, festgelegt. Geht man demgegenüber von einer allein sozialen Konstitution des Individuums aus, so kann schon im Schutzbereich und nicht erst beim Eingriffsbegriff bzw. im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eine Reduzierung des Rechts auf infonnationelle Selbstbestimmung vorgenommen werden. Der letzteren Alternative entspricht die überkommene zivilrechtliche Dogmatik des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, nach der die Schutzwürdigkeit des Rechts auf infonnationelle Selbstbestimmung jeweils im Einzelfall durch Abwägung festgestellt werden muß und eine Beeinträchtigung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts nur bei Rechtswidrigkeit vorliegt. Nach dem "Volkszählungs"-Urteil folgten Literatur und Rechtsprechung nahezu einhellig der ersteren Alternative, bejahten ein Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung und erkannten damit grundsätzlich alle damit verbundenen Interessen des Betroffenen an.
Tatsächlich muß das Datenschutzrecht beide Aufgaben erfüllen und sowohl den Schutz des Betroffenen als auch einen Interessenausgleich zwischen Betroffenem und Verarbeiter schaffen 204. Einen umfänglichen Schutzbereich des Rechts auf infonnationelle Selbstbestimmung nimmt das BVerfG sowohl in seiner Entscheidung über die Eintragung in das Schuldnerverzeichnis als auch in seinem Judikat über die am Maßstab des Art. 10 GG zu beurteilenden postalischen Fangschaltungen an. Im ersteren Urteil bejaht das Gericht einen gesteigerten Sozialbezug solcher Daten, die zum Bereich des wirtschaftlichen Handeins gehören. Dieser könne jedoch nicht dazu führen, daß diese Daten als dem Schutzbereich des Rechts auf infonnationelle Selbstbe204 Vgl. dazu H.-U. Gallwas, in: HaftIHassemer/Neumann u. a. (Hrsg.), Strafgerechtigkeit. Festschrift für A. Kaufmann zum 70. Geburtstag, 1993, S. 819 ff., 819 f.
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stimmung von vornherein entzogen anzusehen sind 205 . Bei den an Art. 10 GG zu messenden postalischen Fangschaltungen lehnt das Gericht ebenfalls eine in der Literatur vertretene Einschränkung des Schutzbereichs von Art. 10 I GG durch "betriebsbedingte Schranken", "immanente Schranken" oder "innere Begrenzungen" ab, weil die Grundrechte das freie Bürgerverhalten schützten. Staatliche Maßnahmen gegenüber grundrechtsgeschütztem Bürgerverhalten seien Eingriffe. Die Lehre von den immanenten Grenzen sei eingriffsorientiert. Eingriffsorientierte Gesichtspunkte hätten aber bei der Definition des Schutzbereichs keinen Platz 206 , auch wenn auf die Erfassung kommunikationsrelevanter Daten durch die Post nicht gänzlich verzichtet werden kann. In der "Tagebuch"-Entscheidung behandelt das BVerfG die Anforderungen der individuellen Selbstbestimmung, die Belange des Gemeinwohls und die Rechte Dritter demgegenüber innerhalb des Schutzbereichs und führt aus, es erkenne einen letzten unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung an, der der öffentlichen Gewalt schlechthin entzogen ist. Selbst schwerwiegende Interessen der Allgemeinheit könnten Eingriffe in diesen Bereich nicht rechtfertigen; eine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips finde nicht statt207 . Diese unzureichende Ausdifferenzierung des Schutzbereichs des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ist um so mehr zu beklagen, als die Argumentation mit Grundrechtsschranken ohne vorherige Bestimmung des grundrechtlichen Schutzbereichs sowohl der Rechtslogik als auch dem ,,rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip,,208 zuwiderläuft. Dabei betont das BVerfG selbst, daß die Schranken der Grundrechte im Hinblick auf den Schutzbereich interpretiert werden müssen und nicht etwa umgekehrt 209 . Ein Verstoß gegen das "rechtsstaatliche Verteilungsprinzip" wird insofern angenommen, als sich im Verhältnis von Schutzbereich und Schranke das Spannungsverhältnis zwischen individueller Freiheit und Staatsgewalt ausdrückt2\O.
d) Keine materiellen Kriterien für eine Informationsordnung Schließlich trifft das BVerfG kaum materielle Vorgaben für die von ihm zur Einschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung geforderten prozeBVerfG, eR 1989,528 (529) - "Schuldnerverzeichnis". BVerfG, eR 1992,431 (433) - ,,Fangschaltung". 207 BVerfGE 80, 367 ff. = eR 1990, 142 - "Verwertung tagebuchähnlicher Aufzeichnungen im Strafprozeß". 208 J. Isensee, in: ders.lKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111 Rdnr.45. 209 BVerfGE 32, 54 (72). 210 J. Isensee, in: ders.lKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111 Rdnrn. 44 ff. 205 206
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
duralen Anforderungen. Bei der Anmahnung einer gesetzlichen Regelung bleibt offen, wie diese auszugestalten ist. Dem Verhältnismäßigkeitsprinzip kommt dabei als Maßstab keine allzu hohe Bedeutung zu, da er für jedes staatliche Handeln gilt. Zu klären ist mithin der Inhalt der geforderten gesetzlichen Regelung, insbesondere wer welche Informationen haben darf und wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und gegenläufige Interessen, insbesondere Sicherheitsinteressen, miteinander abzuwägen sind.
4. Persönlichkeit durch Interaktion - Zusammenfassung
Vor, in und nach dem "Volkszählungs"-Urteil kommt in der Rechtsprechung des BVerfG zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung mittelbar ein neues Persönlichkeitsverständnis zum Ausdruck. Individualität wird jetzt - anders als noch z.Zt. der Ausdifferenzierung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts 211 - nicht mehr allein durch Staatsfreiheit gewährleistet; Rechtsprechung und Literatur tragen vielmehr den geänderten allgemeinwissenschaftlichen Vorgaben einer interaktiven Persönlichkeitsbildung Rechnung. Damit geht auch ein gewandeltes Freiheitsverständnis einher. Die allgemeinwissenschaftliche - insbesondere soziologische - Abkehr von gegenständlichen, autarke Einheiten voraussetzenden Vorstellungen sowohl von der Welt als auch ihrer Teile und der Person führt auch in der Jurisprudenz zu einer Reformulierung des Freiheitsverständnisses: Freiheit des einzelnen wird nicht mehr als Freiheit vor dem Staat und den anderen, insbesondere als Freiheit vor staatlichen Eingriffen und Einengungen 212 , sondern als Freiheit durch die anderen verstanden 213 . D. Suhr erklärt pointiert: "Nur Freiheit ohne andere: Das ist wie Schwimmen ohne Wasser, wie Atmen ohne Luft.,,214 Staat und Dritte mutieren von den vormaligen Opponenten der Freiheit des einzelnen zu deren Voraussetzung und nehmen eine Doppelrolle ein. Einerseits wirken sie zwar nach wie vor freiheitsbeschränkend; andererseits konstituieren und ermöglichen sie Freiheit aber erst. "Das 'Prinzip Freiheit' setzt daher unabdingbar" - so stellt R. Pitschas zurecht fest - "Gemeinverträglichkeit, gegenseitige Verständigung und die Bereitschaft zu Kompromissen voraus.,,215 Neben die aus dem liberalen Freiheitsverständnis resultierende "Aufrichtung von Bereichen, vor denen die Staatsgewalt Halt macht,,216 211
Vgl. dazu oben im Text sub § 9. A. II. 4.
212 So noch die liberale Freiheitsgarantie. Vgl. G. F. Schuppert, Funktionell-rechtliche
Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980, S. 18 ff. 213 Eingängig dazu D. Suhr, EuGRZ 1984, 529 (534 ff.) und ders., Die Entfaltung der Menschen durch die Menschen, 1976, S. 83 ff. 214 D. Suhr, Freiheit durch Geselligkeit, EuGRZ 1984, 529 (534). 215 R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 238.
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tritt eine soziale Grundrechtsdimension, die Dritte und den Staat in die Grundrechtsvorsorge und -förderung miteinbezieht. Diese letztere grundrechtliche Gewährleistungsrichtung läßt die allein auf die Abwehr staatlicher Eingriffe bezogene Forderung, der Staat dürfe die Freiheitsverwirklichung des einzelnen nicht beeinträchtigen, nicht mehr genügen, sondern setzt eine inhaltliche Definition der einzelnen Grundrechtsgarantien voraus 217 .
IH. Die Person als Schutzgut des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung - Zusammenfassung
Das der Rechtsprechung vor, im und nach dem "Volkszählungs"-Urteil zugrunde liegende interaktive Persönlichkeitsverständnis ersetzt die frühere Gewährleistung von Individualität durch Staatsfreiheit218 nicht, sondern ergänzt sie. Eine Pflicht des Bürgers gegenüber dem Staat zur Erteilung von Informationen wäre dementsprechend nach wie vor am Maßstab der allgemeinen Handlungsfreiheit, das Recht sich gegenüber Dritten selbst darzustellen hingegen am Allgemeinen Persönlichkeitsrecht, verstanden als Recht auf informationelle Selbstdarstellung, zu messen 219 . Rechtsprechung und Literatur fassen diese beiden Aspekte häufig nur unreflektiert und verschwimmend einheitlich unter dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung zusammen. Das durch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht neben dem Privatsphärenschutz gewährleistete Selbstdarstellungsrecht erstreckt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung über das StaatlBürger-Verhältnis hinaus auf die Beziehung zwischen den Bürgern; es erfaßt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung daher - im Gegensatz zum Privatsphärenschutz, der allein die Abwehrdimension betrifft - in seinem sozialen sowie objektiven Gehalt und als Teilhaberecht. Das Recht auf Selbstdarstellung stellt dabei zwar einerseits einen Fortschritt gegenüber dem vordem herrschenden sphären- und substanzhaften Verständnis des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung als reinem Privatsphärenschutz dar. Zu kritisieren bleibt aber, daß Rechtsprechung und Literatur vor, im und nach dem "Volkszählungs"-Urteil den Mitmenschen zumeist nicht als Entfaltungsmedium, sondern als Schranke für die Entfaltung des einzelnen thematisieren. Das interaktive Persönlichkeitsbild stellt zwar die Gemeinschaftsbezogenheit des einzel216 E. Forsthoff, VVDStRL 12 (1954), 8 ff. wiederabgedruckt in: ders., Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl. 1976, S. 65 ff., 74. 217 R. Pitschas, Berufsfreiheit und Berufslenkung, 1983, S. 471 ff. speziell im Hinblick auf die Berufsfreiheitsgarantie. 218 Vgl. dazu oben im Text sub § 9. A. H. 4. 219 T.-A. Hubert, Das datenschutzrechtliche Presseprivileg im Spannungsfeld zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht, 1993, S. 94.
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
nen in Rechnung, berücksichtigt aber nicht bzw. nur unzureichend, daß die Persönlichkeitsentfaltung des einzelnen durch die anderen nicht nur beschränkt, sondern auch erst ermöglicht wird. Die ihm folgende Rechtsprechung und Literatur bestimmt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung daher einseitig aus der Perspektive und nach den Belangen des einzelnen. Dementsprechend ziehen Rechtsprechung und Literatur den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung zu weit. Aus der vom BVerfG im "Volkszählungs"-Urteil gewährleisteten Befugnis des einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen, wird vielfach fälschlich und im Gegensatz zu den Ausführungen des BVerfG, das den "Einzelnen (nur) gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten" schützt, auf einen unbegrenzten Schutz des einzelnen gegen Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten geschlossen. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung soll danach und dementsprechend sämtliche Schritte der Informationsverarbeitung in vollem Umfang erfassen. Die Informationserhebung als das Beschaffen von Informationen über den Betroffenen unmittelbar beim Betroffenen selbst oder bei Dritten fällt ebenso und in vollem Umfang in den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung wie das Speichern von Informationen, d. h. das Erfassen, Aufnehmen oder Aufbewahren von personenbezogenen Informationen auf einem Informationsträger zur weiteren Verarbeitung oder Nutzung. Die Informationsweitergabe220 , der sowohl die Informationsübermittlung als auch schon das Angebot von Informationen zum Abruf oder zur Einsichtnahme zuzurechnen sind, gehört ebenso zum Schutzbereich wie allgemein die Informationsverwendung. Letztere stellt schließlich einen Auffangtatbestand dar, der alle nicht als Erhebung, Speicherung oder Weitergabe von Informationen zu definierenden Verarbeitungsformen erfaßt221 . Trotz der angeführten Defizite ermöglicht schon die Annahme einer interaktiven Persönlichkeitsbildung eine im Vergleich zur bloßen Gleichsetzung von Individualität und Staatsfreiheit nähere Strukturierung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Insbesondere können schon auf dieser Grundlage einige radikalere Interpretationen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung abgelehnt werden. Die bereits früher222 verworfene Annahme eines absoluten Herrschaftsrechts am eigenen Datum wird aus der Perspektive einer interaktiven Persönlichkeitsbildung bestätigt. Darüber hinaus kann aus dem Blickwinkel der interaktiven 220
Vgl. BVerfG, CR 1990, 798 (799) - "Planfeststellungsverfahren" ; BVerfGE 78, 77 ff.
= CR 1989, 51 ff. - "Öffentliche Bekanntmachung einer Entmündigung"; BVerfGE 77, 1
(46) - "Neue Heimat"; BVerfGE 67, 100 (142) - "Flick-Ausschuß"; BVerfGE 65, I (43,51) - "Volkszählungs"-Urteil. 221 Siehe hierzu sowie zu den Verarbeitungs schritten insgesamt J. Bizer, Forschungsfreiheit und Informationelle Selbstbestimmung, 1992, S. 155 ff., 158. 222 Siehe dazu bereits oben im Text sub § 4. E. II. 1.
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Persönlichkeitsbildung auch Betrachtungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung als subjektiv-öffentliches Recht bzw. als umfassendes Abwehrrecht die Gefolgschaft versagt werden. Auch diese Ansichten konfligieren mit einer Persönlichkeitsbildung durch Interaktion. Ebenfalls abzulehnen ist schon bei dieser Sichtweise die Ansicht, jede staatliche Informationserhebung und -verwendung stelle einen Grundrechtseingriff dar. Auch diese Meinung fußt nämlich auf einem Verständnis, das Daten als eigentumsähnlich qualifiziert 223 .
c. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung Versuch einer Fortentwicklung
Den zuletzt angeführten Bedenken gegen ein interaktionistisches Verständnis des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung kann nur durch eine weitere Fortentwicklung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung begegnet werden. Dazu muß zunächst die allgemeinwissenschaftliche Vorgabe eines nicht nur an der Staatsfreiheit orientierten interaktiven, sondern eines kommunikativen Selbstkonzeptes rechtlich umgesetzt werden. Das Paradigma des Rechts auf eine auch manipulierte Selbstdarstellung wird ersetzt durch den Anspruch auf eine korrekte, manipulationsfreie Fremddarstellung 224 . Hierbei verliert das Recht auf informationelle Selbstbestimmung seine einseitige, auf den Schutz einer Person bezogene Ausrichtung. Aus rechtlicher Perspektive wird der einzelne als Schutzgut des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung abgelöst durch die manipulationsfreie Kommunikation 225 . Aus dieser Perspektive mutiert das bislang vorrangig als eindimensionales Abwehrrecht verstandene Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu einem Element des die unterschiedlichen Interessen der Kommunikatoren aufnehmenden mehrdimensionalen Ausgleichsinstruments. Es thematisiert damit weder ausschließlich noch vorrangig das für ein Grundrecht klassische StaatIBürger-Verhältnis, sondern betrifft ebenso auch die BürgerlBürger-Beziehungen und die staatlichen Garantien hierfür. Rechtlich betrachtet stellt sich das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dabei als verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff dar. 223 Vgl. dazu die Zusammenfassung bei T.-A. Hubert, Das datenschutzrechtliche Presseprivileg im Spannungsfeld zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht, 1993, S. 150 ff. m.w.N. 224 Siehe hierzu bereits oben im Text sub § 6. A. V. 225 Zum Schutz der Kommunikationschancen als Schutzgut des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung vgl. z. B. ScholzlPitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, S. 76 m.w.N.
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
I. Kommunikatives Selbstkonzept und Recht
Der Mensch wird ebenso wie die Wirklichkeit insgesamt nicht als Einheit oder interaktiv, sondern kommunikativ konstituiert. Diese allgemeinwissenschaftlich bereits erläuterte 226 Erkenntnis ist bislang durch das Recht nicht bzw. nur unzureichend umgesetzt. Dies ist umso mehr zu beklagen, als bei einer (verfassungs-) rechtlichen Rezeption dieses vorrechtlichen Persönlichkeitsbildes das Recht auf informationelle Selbstbestimmung grundlegend reformuliert wird. T.-A. Huber?27 weist eindrucksvoll nach, daß die Belange anderer keinesfalls nur Schranken für ein prinzipiell unendliches Recht auf informationelle Selbstbestimmung des einzelnen sind. Der Kontakt zu anderen ist vielmehr Voraussetzung für die Selbstentfaltung des einzelnen. Der einzelne und die anderen haben dabei anders als von der Rechtsprechung und Literatur zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung ganz überwiegend angenommen - keineswegs nur gegenläufige Interessen.
Das Individuum hat insbesondere kein durchgängiges Interesse, informationeIl von anderen abgeschottet zu sein. Die Möglichkeit des einzelnen, von anderen beobachtet zu werden, ist im Gegenteil gerade die erste Voraussetzung für eine Selbstdarstellung. Dem von seinen Mitmenschen isolierten einzelnen ist eine Selbstdarstellung unmöglich. Hiervon macht auch die Privatsphäre keine Ausnahme: Die Ausbildung einer solchen setzt vielmehr eine besonders intensive und intime Kommunikation voraus. Denn Vertrauensverhältnisse entstehen nur durch die intensive Kenntnis des anderen. Neben der für die Selbstdarstellung des einzelnen damit unentbehrlichen Kommunikation an sich decken sich auch bei deren näherer Ausgestaltung die Interessen des einzelnen und der anderen. In einem von T.-A. Hubert als "asymmetrische Befangenheit,,228 bezeichneten Bereich hat nicht nur der einzelne ein Interesse, nicht beobachtet zu werden, sondern - dies wird vielfach übersehen - auch die Mitmenschen haben in diesem Bereich kein Interesse an einer Kenntnisnahme. Das Interesse der Mitmenschen am Nichtwissen kann dabei verschiedene Ursachen haben: Zum einen ist die menschliche Informationsverarbeitungskapazität beschränkt und daher eine Selektion erforderlich. Anders als in der Datenschutzdiskussion zumeist angenommen wird, ist das Beobachtetwerden des einzelnen nicht die Regel, sondern der Ausnahmefa1l 229 . Zum anderen erleichtert ein in der jeweiVgl. dazu oben im Text sub § 6. A. T.-A. Hubert, Das datenschutzrechtliche Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht, 1993, S. 228 T.-A. Hubert, Das datenschutzrechtliche Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht, 1993, S. 229 T.-A. Hubert, Das datenschutzrechtliche Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht, 1993, S. 226 227
Presseprivileg im Spannungsfeld zwischen 97 ff. Presseprivileg im Spannungsfeld zwischen 105 ff. Presseprivileg im Spannungsfeld zwischen 119.
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ligen Situation nicht erforderliches Wissen die Kommunikation nicht nur nicht, sondern erschwert sie 230. Für das Recht bedeutet dies, daß vier Konstellationen unterschieden werden können: In einer ersten Fallgruppe ist weder der einzelne noch die Allgemeinheit an einer Kenntnisnahme interessiert; die spiegelbildliche Position wird durch Fälle markiert, in denen sowohl die Allgemeinheit als auch der einzelne ein Interesse daran haben, daß ihr Verhalten beobachtet wird. Diese Konstellationen müssen durch das Recht nur hinreichend präzise umschrieben werden. Der dritte und vierte Bereich zeichnet sich durch gegenläufige Interessen von Individuum und Gemeinschaft aus: Der einzelne möchte, daß sein Verhalten zur Kenntnis genommen wird bzw. nicht zur Kenntnis genommen wird. Die Gemeinschaft hat diametral gegensätzliche Interessen und möchte dasselbe Verhalten nicht beobachten bzw. beobachten. Diese durch gegenläufige Interessen von Individuum und Gemeinschaft gekennzeichneten Bereiche müssen durch das Recht nicht nur beschrieben, sondern auch entschieden werden, indem entweder das Individual- oder das Gemeinschaftsinteresse als vorrangig eingestuft wird oder aber indem Kriterien für die Auflösung des Konflikts vorgegeben werden.
11. Manipulationsfreie Kommunikation als Schutzgut des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung Die kommunikative Konstitution des Individuums führt zur Neuformulierung des vom Recht auf informationelle Selbstbestimmung geschützten Rechtsgutes. Im Vordergrund steht danach nicht mehr der Schutz der Privatsphäre des Individuums oder das Recht auf Selbstdarstellung als Teil des Rechts auf Selbstbestimmung. Dem Privatsphärenschutz korrespondiert eine Vorstellung des einzelnen als autarke Einheit ohne Kontakte zu anderen. Das Selbstdarstellungsrecht thematisiert das Individuum demgegenüber in seinem interaktionistischen Verständnis. Es nimmt damit eine MittelsteIlung zwischen dem alleinigen Abstellen auf die Person als autarke Einheit einerseits und deren Ablösung durch die Beziehungen, in denen sie steht, andererseits ein. Das letztere, erst noch zu vollziehende - und aus heutiger Perspektive - vorläufige Ende der Entwicklung, die kommunikative Konstitution des Individuums durch seine sozialen Beziehungen, unabhängig von der Vorstellung der Person als autarker Einheit, verlangt eine abweichende Bestimmung des vom Recht auf informationelle Selbstbestimmung geschützten Rechtsguts: Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt aus diesem Blickwinkel nicht 230 Der eilige Einkäufer im Supermarkt begnügt sich etwa mit dem Wissen, daß die Verkäuferin in diesem Geschäft für den Verkauf von Wurst zuständig ist; weitere Informationen über Geburtsdatum, Familienstand, Wohnort etc. sind nicht nur nicht erforderlich, sondern würden - müßte der Einkäufer sie zur Kenntnis nehmen - den Einkauf allenfalls erschweren.
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
bzw. jedenfalls nicht mehr vorrangig die Privatsphäre oder die Selbstdarstellung des einzelnen, sondern eine manipulationsfreie Kommunikation. Mit dem von G. Rüpke231 schon früh kreierten kommunikations theoretischen Ansatz hat dieses Verständnis kaum mehr als die ähnliche tenninologische Bezeichnung gemeinsam. G. Rüpke sieht in der Unbefangenheit und Spontaneität der sprachlichen Kommunikation den Zweck des Privatheitsschutzes. Hier wird aber umgekehrt die manipulationsfreie Kommunikation im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Konstitution der Wirklichkeit und namentlich der Individuen als Schutzgut des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung verstanden. G. Rüpke geht damit von einem nur eindimensionalen Schutz der Kommunikation durch Gewährleistung der Privatheit aus und differenziert verschiedene Eingriffsformen aus: Er unterscheidet die Privatheitsdurchbrechung durch Überwachung des persönlichen Gesprächs 232 , die erzwungene Vergemeinschaftung als Pflicht zu einer kommunikativen Partnerschaft233 und die Privatheitsunterwanderung234 . Hier wird hingegen die manipulationsfreie Kommunikation in allen ihren Dimensionen geschützt, etwa auch unter dem Aspekt, daß das Individuum selbst bestimmt, wer es infonniert und wie es mit Informationen umgeht 235 . Dabei ist zwischen dem Schutz- oder Rechtsgut einerseits und dem Schutzbereich andererseits zu differenzieren. Das Schutz- bzw. Rechtsgut umschreibt das Objekt eines Grundrechtseingriffs, der Schutzbereich markiert demgegenüber den Raum, in dem staatliches Handeln Eingriffsqualität erlangt und rechtfertigungsbedürftig ist. Der Schutzbereich ist Teil des Schutzgutes. Ersterer ist gleichsam nur zwei-, letzteres hingegen dreidimensional; ersterer thematisiert nur das StaatlBürger-Verhältnis, letzteres bezieht auch die Bürger/Bürger-Relation mit ein. Der Schutzbereich zeichnet sich dementsprechend durch strikte Regeln aus, das Schutzgut beinhaltet demgegenüber ein Optimierungsgebot236 . Die Festlegung der manipulationsfreien Kommunikation als Schutzgut des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung erweist sich als paradigmatisch und kann in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden. Denn "das Schutzgut bestimmt" - wie das BVerfG237 mit Recht ausdrücklich feststellt - "den Inhalt des Grundrechts.,,238 Darüber hinaus erfaßt der erweiterte Eingriffsbegriff alle staatliG. Rüpke, Der verfassungsrechtliche Schutz der Privatheit, 1976. G. Rüpke, Der verfassungsrechtliche Schutz der Privatheit, 1976, S. 85 ff. 233 G. Rüpke, Der verfassungsrechtliche Schutz der Privatheit, 1976, S. 95 ff. 234 G. Rüpke, Der verfassungsrechtliche Schutz der Privatheit, 1976, S. 115 ff. 235 R. Pitschas, VVDStRL 48 (1990), 311 (312) - Redebeitrag. 236 J. Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111 Rdnrn. 40 ff. 237 BVerfGE 50,290 (354). 238 Diese Feststellung wird auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auch dann übertragen werden können und müssen, wenn dieses nicht als Grundrecht, sondern als verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff qualifiziert wird. 231
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chen Ingerenzen, so daß es, wenn grundrechtliche Schutzgüter betroffen sind, nur noch darauf ankommt, ob die Einwirkung gegen den Willen des Betroffenen erfolgt 239 . Die Festlegung einer manipulationsfreien Kommunikation als Schutzgut des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung bildet den übergreifenden Bezugsrahmen für den Ausgleich der konfligierenden Interessen von Individuum und Gemeinschaft. In den Konstellationen, die sich durch gleichläufige Individual- und Gemeinschaftsinteressen auszeichnen, kommt der manipulationsfreien Kommunikation nur insofern mittelbare Bedeutung zu, als diese Bereiche kommunikativ festgelegt werden müssen. In den Fällen, in denen die Interessen des Individuums und der Gemeinschaft divergieren, plädiert das Schutzgut der manipulationsfreien Kommunikation für die Möglichkeit der Kenntnisnahme als Regelfall. Wenn nämlich eine Wechselwirkung zwischen Informationen und Erwartungen besteht - Information erwartungsabhängig ist und umgekehrt Erwartungen informationsabhängig sind240 -, Erwartungen und Erwartungserwartungen für die gesellschaftliche Selbststeuerung entscheidend sind 241 und Kommunikation den Zugang des Menschen zur Wirklichkeit242 darstellt, muß freie Kommunikation der Regelfall sein. Anders als in der Datenschutzdiskussion vielfach fälschlich angenommen, bedarf nicht die Informationserhebung, -verarbeitung und -verwendung, sondern umgekehrt deren Beeinträchtigung oder Beschränkung der Rechtfertigung. Jede Manipulation der Kommunikation beeinträchtigt nämlich die menschliche Vorstellung von der Wirklichkeit, die Bildung von Erwartungen und Erwartungserwartungen und damit die gesellschaftliche Selbststeuerung.
III. "Verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff" und Verfassungsdogmatik
Die Bedeutung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung sowohl für das StaatIBürger- als auch für das BürgerlBürger-Verhältnis kommt nicht nur in der Festlegung der manipulationsfreien Kommunikation als Schutzgut, sondern auch in der Qualifizierung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung als verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff zum Ausdruck. Die Qualifizierung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung als "verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff' kann in ihrer Bedeutung und Problematik kaum überschätzt werden: Zum einen ist der Terminus "verfassungsrechtlicher 239 J. Isensee, in: ders.lKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111 Rdnr.63. 240 Siehe dazu bereits oben im Text sub § 5. B. IV. 2. 241 Ausführlich hierzu schon oben im Text sub § 5. B. IV. 3. 242 Siehe dazu oben im Text unter § 4. C.
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
Schlüsselbegriff' noch nicht bzw. nur unzureichend definiert; zum anderen steht die Annahme von verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffen und die Zuordnung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung zu diesen in einem untrennbaren Zusammenhang zu der ihrerseits vehement umstrittenen Verfassungsinterpretation. Schließlich artikuliert die Qualifizierung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung als verfassungsrechtlicher Schlüssel be griff dessen verfassungsrechtliche Einstufung. 1. Veifassungsrechtliche Schlüsselbegriffe als Bindeglieder zwischen Wirklichkeits-, insbesondere Sozial- und Rechtswissenschaften
Die vorstehenden 243 ausführlichen multidisziplinären Deduktionen bedürfen der Aufnahme in die juristische Dogmatik. Die dafür erforderlichen Bindeglieder stellen aus rechtswissenschaftlicher Perspektive die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe dar. Diese ermöglichen den Ausgleich zwischen Faktizität und Geltung. Der konkrete und aktuelle Inhalt der Verfassungsnormen läßt sich nur in einer Synthese von Verfassungspraxis einerseits und Verfassungszielen andererseits gewinnen. Die grundgesetzlichen Normprogramme bedürfen nämlich der Abstimmung mit den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen. Die für die Ermittlung des Inhalts einer Verfassungsnorm wesentliche Verfassungspraxis kann weniger juristisch als vielmehr allgemein-wissenschaftlich, insbesondere soziologisch und philosophisch bestimmt werden. Die Festlegung des von der Verfassung verfolgten Ziels geschieht demgegenüber rechtswissenschaftlich. Die juristischen und soziologischen Elemente schließen sich dabei weder wechselseitig aus noch verhalten sie sich dialektisch zueinander, sondern werden gemeinsam angewendet244 . Der kumulative Einsatz soziologischer und juristischer Elemente verlangt ein ausgleichendes Instrument. Als solches erweisen sich die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe. Sie werden der Offenheit der Verfassung und der Vielzahl und Vielgestaltigkeit möglicher Fallkonstellationen gerecht 245 .
2. Die veifassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe - Grundzüge
Die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe lösen das Spannungsverhältnis zwischen Verfassung und Wirklichkeit ebenso wie sie den Wandel von Staat und Gesellschaft aufnehmen. Diese kaum zu überschätzenden Aufgaben erfordern be243 Vgl. zu den multidisziplinären Vorgaben der polizeilichen Informationsvorsorge oben im Text sub 2. Teil. 244 P. Lerche, DVBI. 1961,690 (699), wieder abgedruckt in Dreier/Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 110 ff., 136 f.; R. Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 95 f. 245 R. Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 96.
§ 9 RiS - ein verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff
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sondere dogmatische Strukturen der verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe, die ihrerseits vielfältige Konsequenzen für die Qualifizierung einer Rechtsfigur als verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff nach sich ziehen.
a) Die Ausdifferenzierung verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriffe als Reaktion auf den Wandel von Staat und Gesellschaft Mit der Ausdifferenzierung verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriffe haben Rechtsprechung und Literatur auf das gewandelte Verhältnis zwischen Staat und Bürgern reagiert. Während der liberale Staat noch als Gegner der bürgerlichen Rechte begriffen wurde, wird der Wohlfahrtsstaat zu deren Garant246 . Hierdurch wurden mehrfache Reaktionen sowohl des Verfassungsgebers als auch und insbesondere der Verfassungsinterpretation erforderlich. aa) Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe und rechtsdogmatische Entfaltung der Grundrechte
Dem gewandelten Verhältnis zwischen Staat und Bürgern korrespondiert ein erweitertes Verständnis der Grundrechte, das (verfassungs-)rechtsdogmatisch durch die Ausdifferenzierung verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriffe bewältigt werden kann. Die Entfaltung des grundrechtlichen Bedeutungsgehalts über die Abwehrdimension hinaus steigert die Wirkungskraft der Grundrechte nur, wenn diese Erweiterung des Geltungsbereichs nicht mit einem Verlust der grundrechtlichen Konturen verbunden ist. Mit Hilfe der verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe wird zum einen der erweiterte grundrechtliehe Bedeutungsgehalt strukturiert. Zum anderen konturieren die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe die Ausdehnung der klassischen Grundrechtssicherungen ebenso wie die Gegenpositionen. (1) Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe als Korrelate für die Entfaltung der Grundrechte als objektive Wertentscheidungen Die klassische liberale Auffassung sah in den Grundrechten bloße Abwehrrechte des einzelnen gegen den Staat. Diese ursprüngliche Grundrechtsdimension hat insbesondere auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung durch die Ausdifferenzierung zusätzlicher Bedeutungsebenen weit ausgedehnt. "Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts enthalten die grundrechtlichen Verbürgungen nicht lediglich subjektive Abwehrrechte des einzelnen gegen die öffentliche Gewalt, sondern stellen zugleich objektiv-rechtliche Wertentscheidungen der Verfassung dar, die für alle Bereiche der Rechtsordnung gelten und Richtlinien 246 Zum Wandel des Staatsverständnisses allgemein vgl. bereits oben im Text sub § 8. B. sowie D. Grimm, in: ders., Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, S. 53 ff.; R. Herzog, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 111, 1988, § 58 Rdnm. 7 ff., 38 ff., 54 ff., 66 ff.
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung geben,,247. Die den Grundrechten damit zugesprochene umfassende Bedeutung hat das Bundesverfassungsgericht in deren Dimensionen als Leistungs-, Verfahrens- und Organisationsrechte weiter detailliert 248 . Die Grundrechte werden dadurch selbst zu "objektiven GrundsatznormenlWertentscheidungen,,249 und nehmen die Charakteristika verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriffe an. Als Verfassungsprinzipien stellen jene ebenso wie diese Optimierungsgebote dar und teilen mit Unbestimmtheit, Beweglichkeit und Dynamik die gleichen Eigenschaften. (2) Ergänzung der klassischen Grundrechtssicherungen
durch verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe Dem gewandelten Verhältnis zwischen Staat und Bürgern entsprechend bedürfen auch die Grundrechtssicherungen des klassischen Rechtsstaats - insbesondere Gesetzesvorbehalte, Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 II GG), Verbot einschränkender Einzelfallgesetze (Art. 19 I 1 GG), Zitiergebot (Art. 19 I 2 GG) - der Ergänzung. Deshalb haben das Bundesverfassungsgericht und die Literatur eine kaum noch überschaubare Vielzahl verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriffe entwickelt: Als solche sind vornehmlich das Verhältnismäßigkeitsprinzip, die Stufentheorie des Art. 12 GG, der Vorbehalt des Möglichen 25o , die Grundrechte Dritter oder andere Verfassungsrechtsgüter als immanente Schranken251 , der dynamische Grundrechtsschutz im Bereich der technischen Sicherheit252 , der Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren 253 , der Wesentlichkeitsgrundsatz 254 sowie Effektivität, Systemgerechtigkeit255 , Modellkonsistenz, institutioneller Schutzgehalt, Bundes-256, Organ-, Gemeinschaftstreue und die Formeln zur Erfassung des Gleichheitssatzes, Funktionsfähigkeit, Einheit der Verfassung, Sicherheit des Staates als verfaßter Friedens- und Ordnungsmacht, Prinzip der streitbaren Demokratie etc. zu benennen. Siehe dazu bereits oben im Text sub § 9. B. 11. 1. b. aa. m.w.N. Vgl. dazu bereits oben im Text sub § 9. B. 11. 1. b. und m.w.N. in anderem Zusammenhang ScholzlAulehner, Archiv PT 1993, 103 (133 ff.) 249 E.-W. Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989, S. 54. 250 BVerfGE 33, 303 (333). 251 BVerfGE 30,173 (193); 28, 243 (261). 252 BVerfGE 56,54 (78 ff.); 49,89 (135 ff.). 253 BVerfGE 63,131 (143); 53, 30, 65, 71 ff.; K. Hesse, EuGRZ 1978,427 ff. 254 BVerfGE 47, 46 (78); 33, 125 (158). 255 BVerfGE 81, 156 (207). 256 Zur Bundestreue allgemein, ihrer dogmatisch-systematischen Einordnung und zu verwandte\} Grundsätzen ausführlich H. Bauer, Die Bundestreue, 1992, insb. S. 6 ff., 22 ff., 245 ff. 247 248
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bb) Synthese von gesellschaftlicher Pluralität und staatlicher Einheit durch verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe
Die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe sind aus staatstheoretischer Sicht auch unter einem weiteren Aspekt von entscheidender Bedeutung. Der modeme Staat sieht sich nämlich vor den widerstreitenden Anforderungen, sowohl die staatliche Einheit garantieren als auch die gesellschaftliche Pluralität erhalten zu müssen. Dieses "Dilemma des modemen Staates"257 überwindet die Staatspraxis insbesondere mit Hilfe der verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe. Die relationale Struktur der verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe erlaubt es nämlich, subjektiv-rechtliche, in der Verfassung insbesondere durch die Grundrechte ausgedrückte Elemente und soziale und objektiv-rechtliche, der Staatseinheit dienende Bauprinzipien miteinander in Einklang zu bringen. Dabei beschränkt sich dieser Ausgleich nicht auf die jeweils beteiligten konträren Verfassungspositionen, sondern wirkt vielmehr in den vor-verfassungsrechtlichen Bereich hinein. Die konfligierenden subjektiv- und objektiv-rechtlichen sowie sozialen Verfassungspositionen fußen nämlich auf konträren multidisziplinären Haltungen 258 . Die subjektiv-rechtlichen Verfassungselemente spiegeln handlungstheoretische, die objektiv-rechtlichen demgegenüber systemtheoretische soziologische und philosophische Ansichten wider. Die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe vermitteln zwischen diesen beiden und schaffen so die Voraussetzungen für einen Ausgleich zwischen der individuellen Handlungsebene - "Mikroebene" - einerseits und der Systemebene - "Makroebene" - andererseits 259 . Dieser Befund wird zudem durch das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Verfassung bestätigt. Denn wenn verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe auf Regelungsmuster des Grundgesetzes verweisen, nehmen sie damit zugleich die staatliche und gesellschaftliche Entwicklung in Bezug. Die Verfassung ist nämlich ihrerseits als Grundordnung des Staates sowohl an dessen Entwicklung als auch an die der Gesellschaft angebunden 26o .
257 Begriff und Erläuterun,gen bei J. Isensee, in: ders.lKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, § 13 Rdnrn. 46 ff., insb. 47. 258 Vgl. dazu bereits oben im Text sub 2. Teil. 259 Hierzu sowie zur Problematik der verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe insgesamt E. Denninger, in: Broda/Deutsch u. a. (Hrsg.), Festschrift für Rudolf Wassermann zum sechzigsten Geburtstag, 1985, S. 279 ff., 295 f. 260 In diese Richtung weisen die Ausführungen von R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 409.
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
cc) Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe als Ausdruck des flexiblen Staates - Zusammenfassung
Resümierend kann festgehalten werden, daß sich in der Ausdifferenzierung der verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe der "flexible Staat" widerspiegelt. Unter diesem Terminus wurden die heterogenen - in den dem Staatsbegriff beigefügten Attributen "kooperativ", "kommunikativ" und "präzeptoral" zum Ausdruck kommenden - Entwicklungsaspekte des modemen Staates gebündelt261 • Die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe kennzeichnen damit zugleich den Übergang vom früheren Staat der starr-hierarchischen Gesellschaft zum Staat der heutigen dynamisch-heterarchischen Gesellschaft262 . Diesem gesellschaftlichen und staatlichen Wandel tragen die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe Rechnung, indem sie korrelierende Rechte und Pflichten zwischen Staat und Bürgern ebenso dogmatisch einbinden wie Kooperation und Chancen- und Risikozuordnung im StaatJBürger-Verhältnis 263 •
b) Dogmatische Strukturen der verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe eine Skizze Die Zusammenfassung all der bereits genannten 264 heterogenen Rechtsfiguren unter dem Fachausdruck "verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff' ist dabei keineswegs selbstverständlich. aa) Entstehung des Terminus" verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff"
Soweit ersichtlich wurde der Terminus "verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff' von E. Denninger265 geprägt oder jedenfalls wiederbelebt. E. Denninger hat damit Anregungen aufgenommen und strukturiert, die vornehmlich P. Lerche schon früh zur Diskussion stellte. P. Lerche hat bereits 1961 zur "schrittweisen Ausbildung von in sich stehenden Zwischenbegriffen im Sinne von wirklichen Maßen und handgreiflichen Standards" aufgerufen 266 • Später hat P. Lerche mit Blick auf die Verfassungsinterpretation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor "zu 'großen' Konstruktionen", "allzu großen Formeln, die dann eben teilweise V gl. dazu oben im Text sub § 8. B. III. I. d. Dazu ebenfalls bereits oben im Text sub § 8. A. 263 E. Denninger, in: BrodalDeutsch u. a. (Hrsg.), Festschrift für Rudolf Wassermann zum sechzigsten Geburtstag, 1985, S. 279 ff., 296 f. 264 Vgl. soeben oben im Text sub § 9. C. III. 2. a. aa. (2). 265 E. Denninger, in: BrodalDeutsch u. a. (Hrsg.), Festschrift für Rudolf Wassermann zum sechzigsten Geburtstag, 1985, S. 279 ff. 261
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266 P. Lerche, DVBI. 1961, 690 (699) wieder abgedruckt in DreierlSchwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 110 ff., 135 f.
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Leerfonneln sind", gewarnt und stattdessen wiederum die Entwicklung von" 'Zwischen'fonneln" angeregt. Diese ,,'Zwischen'fonneln" hat P. Lerche dabei als ,,zwischenstandards, die wirkliche Hilfen geben könnten, wenn sie auch nur aus dem konkreten Fall entwickelt werden könnten, von hier her aber eine typisierende Wirkung entfalten", charakterisiert und ausgeführt, daß die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung erst durch die Entwicklung solcher Zwischenfonneln eine von der Verfassung nicht gelieferte Maßstabsbestimmtheit schaffen müsse267 . Dabei bedürfen die rechtliche Qualität und Abgrenzung dieser verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe bzw. Zwischenfonneln ihrerseits noch der weiteren und näheren Klärung. Die unzureichende dogmatische Durchdringung dieser für die Verfassungs interpretation entwickelten "Zwischenschicht" wird schon durch die Uneinigkeit ihrer Urheber illustriert. Im Gegensatz zu E. Denninger unterscheidet P. Lerche nämlich zwischen konkretisierenden Zwischenkonstruktionen einerseits und methodischen Leitprinzipien - z. B. der "Einheit der Verfassung" - andererseits 268 . bb) Wirkungsweise der verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe
Jenseits dieser Zweifel im Detail zeichnen sich die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe jedenfalls durch eine zwar nur mittelbare Wirkungsweise aus, die aber die Wahrnehmung der diesen Grundkategorien zugewiesen Aufgaben ermöglicht, die Ausdifferenzierung bestimmter Falltypen zuläßt und die Basis für einen Ausgleich zwischen der Mikro- und der Makroebene schafft. (1) Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe als Meta-Ebene Die verfassungsrechtlichen Schlüssel be griffe wirken mittelbar, indem sie die Diskussion auf eine neue Meta-Ebene heben 269 und so eine Argumentationsdimension für das jeweils durch sie bezeichnete verfassungsrechtliche Phänomen bereitstellen. Sie verweisen damit nur auf das Spektrum der in der Verfassung verfügbaren und ihre Aussagen erschließenden Möglichkeiten. Diese "Erschließungsfunktion" der verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe ist gleichwohl in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen. Durch sie wird nämlich die Einführung neuer bewertender und konfliktlösender Aspekte in eine festgefahrene Diskussion ennöglicht; damit wiederum werden die Kommunikationschancen zum Thema des jeweiligen verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffs erweitert 27o .
267 P. Lerche, in: K. Vogel (Red.), Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle, 1979, S. 104 f. - Diskussionsbeitrag. 268 P. Lerche, BayVBI. 1991,517 m. Fußn. 4. 269 E. Denninger, in: BrodaIDeutsch u. a. (Hrsg.), Festschrift für Rudolf Wassermann zum sechzigsten Geburtstag, 1985, S. 279 ff., 289. 270 Ähnlich zu den Schlüsselbegriffen insbesondere der Verfahrensordnung R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 404 ff., insb. 405.
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
(2) Aufgaben der verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe Durch diese mittelbare Wirkungsweise können die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe ihrer doppelten Aufgabenstellung gerecht werden: Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe sollen zum einen eingängige Sinngehalte zur Verwendung sowohl im rechtswissenschaftlichen Diskurs als auch zur Begründung von Rechtsentscheidungen der Praxis in Kurzform fixieren. Zum anderen sind die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe gehalten, die ideengeschichtliche Entwicklung und die der jeweils thematisierten Rechtskontroverse zugrunde liegenden politischen Aspekte zu rezipieren und zu erschließen 271 . Diese Aufgabenstellung setzt ein hohes Abstraktions- und Komplexitätsniveau der verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe voraus. Aus eben diesem Grund artikulieren die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe keine definitiven Regelungsvorgaben, sondern verweisen nur auf verfassungsrechtliche Direktiven. Diese Eigenschaften der verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe rechtfertigen ihre Charakterisierung als formal und relational, weil sie zwar keine Entscheidungen vorgeben, aber auf das entscheidende Beziehungsgeflecht verweisen. (3) Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe als situative Typisierungen Der konkret zu entscheidende Fall wird zwar nach wie vor an der Verfassung, aus der die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe abgeleitet wurden, gemessen 272 ; die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe erleichtern und verbessern die Verfassungsinterpretation aber, indem sie bestimmte (Konflikt-)Situationen abstrahieren. Hierdurch werden diese Fallkonstellationen entzeitlicht und ermöglichen eine Systematisierung und Generalisierung. Der verfassungsrechtliche Schlüsselbegriff wird zum Kurzausdruck für eine von der Verfassung geschützte spezifische Struktur und errichtet wertende Beziehungen zwischen den fraglichen Strukturkomplexen der Verfassung 273 . Läßt sich ein vorliegender neuer Fall einem verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriff zuordnen, strukturiert dieser die Lösung vor. Erweist sich das so gefundene Ergebnis als nicht hinnehmbar, führt dies zu einer Überprüfung des verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffs. Typisierungen und verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe beschränken sich jedoch nicht darauf, einzelne (Verfassungs-) Rechtsnormen zu einem Komplex zu strukturieren. Neben dieser innerrechtlichen Strukturierung setzen sie das Recht auch mit der Wirklichkeit in Beziehung. 271 So G. F. Schuppert, AöR 114 (1989), 127 (127 ff.); E. Schmidt-Aßmann, in: Selmerl v.Münch (Hrsg.), Gedächtnisschrift für W. Martens, 1987, S. 249 ff., 249 f. zur Selbstverwaltung als staatsrechtlichem Schlüsselbegriff. 272 Vgl. z. B. R. Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 103 f. 273 E. Denninger, in: BrodaIDeutsch u. a. (Hrsg.), Festschrift für RudolfWassermann zum sechzigsten Geburtstag, 1985, S. 279 ff., 291.
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(4) Ausgleich zwischen objektiv- und subjektiv-rechtlichen Elementen der Verfassung durch verfassungsrechtliche Schlüsse1begriffe E. Denninger hat darauf aufmerksam gemacht, daß die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe die Geltungskraft der Grundrechte relativieren 274 . Selbst Grundrechten ohne Schrankenvorbehalt wird durch verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe die Absolutheit abgesprochen. Im Kollisionsfall mindert das Bundesverfassungsgericht jedes Grundrecht in vierfaeher Richtung ab 275 : Zwischen kollidierenden Grundrechten muß - erstens - ein Ausgleich gefunden werden ("Verträglichkeitstest"). Grundrechte dürfen - zweitens - nur unter Berücksichtigung der Funktionsfähigkeit verfassungsrechtlich geschützter Institutionen gebraucht werden ("Effizienztest"). Für die Verfassungsmäßigkeit ist - drittens - nicht mehr allein die Übereinstimmung mit der (positivierten) Verfassung ausreichend; der Prüfungsgegenstand muß vielmehr auch im Einklang mit der durch das Grundgesetz markierten Wertordnung stehen ("Konsensustest"). Schließlich darf die Verwirklichung des Grundrechts im Einzelfall- viertens - der Sicherheit des Staates als verfaßter Friedens- und Ordnungsrnacht nicht widersprechen ("Sicherheits- und Integritätstest").
Diese Relativierungen der Grundrechte beruhen - darauf weist wiederum E. Denninge?76 hin - auf den verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffen der Systemrationalität, Effizienz, Legitimations- und Innovationskraft. (5) Vor- und Nachteile der verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe Den verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffen kommt dabei jedenfalls das Verdienst zu, mehrdimensionale Spannungssituationen im verfassungsrechtlichen Bereich überhaupt thematisieren und deren Lösung vorstrukturieren zu können. Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe tragen zur Entwicklung des Grundgesetzes bei, indem sie helfen, staatlicher Macht unter Einbeziehung lebensweltlicher Funktionsanforderungen Einhalt zu gebieten, und Teilhabe an der staatlichen Herrschaft vermitteln. Sie ermöglichen die Präzisierung im Grundgesetz nicht bzw. nur unzureichend bestimmter Rechtsgrundsätze. Insbesondere entwicklungsoffene Rechtsgrundsätze, deren Inhalt zu einem fixen Zeitpunkt nicht abschließend bestimmt werden kann, können durch verfassungsrechtliche Schlüsse1begriffe konkretisiert werden. Diesem nachhaltigen Vorteil korrespondieren erhebliche Gefahren. Die durch die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe erreichbare Konkretisierung einer E. Denninger, in: ders., Der gebändigte Leviathan, 1990, S. 9 ff., 19. E. Denninger, in: ders., Der gebändigte Leviathan, 1990, S. 9 ff., 19.; ders., in: Brodal Deutsch u. a. (Hrsg.), Festschrift für Rudolf Wassennann zum sechzigsten Geburtstag, 1985, S. 279 ff., 287 f. spricht von "Verfassungstests". Die im Text folgenden in Klammern gesetzten Begriffe gehen ebenfalls und ebenso wie die Erläuterungen auf E. Denninger, a. a. O. zurück. 276 E. Denninger, in: ders., Der gebändigte Leviathan, 1990, S. 9 ff., 19. 274
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vordem unübersichtlichen, durch zahlreiche divergierende verfassungsgeschützte Positionen gekennzeichneten Konstellation verführt dazu, die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe nicht nur als Mittel zum Auffinden einer Lösung, sondern bereits selbst als die Lösung zu verstehen. Eben dies geschieht - wie noch zu zeigen sein wird - im Fall des hier interessierenden Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, wenn dieses nicht als Wegweiser zur Lösung verfassungsrechtlicher Konflikte, sondern als absolutes Ergebnis verstanden wird. Auf diese Gefahr einer Überformung der geschriebenen Verfassung durch die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe weist insbesondere auch schon E. Denninger hin 277 . Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe implizieren nur eine formale Thematisierung, nicht aber ein materielles Arrangement eines Verfassungskonflikts. Sie stellen im Ergebnis Rechtsgrundsätze, nicht aber etwa methodisch nicht faßbare, losgelöste Interpretationsmaximen dar.
c) Konsequenzen einer Qualifizierung als verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff Die Qualität des verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffs bringt insbesondere ein Optimierungsgebot zum Ausdruck, d. h. die durch einen verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriff markierten konfligierenden rechtlichen Interessen sollen einem möglichst schonenenden bzw. verhältnismäßigen Ausgleich zugeführt werden. aa) Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe zwischen Regeln und Prinzipien
Verfassungsrechtliche Schlüssel be griffe sind, so betrachtet, in der insbesondere 278 von R. Alexy für das Verfassungsrecht geprägten Differenzierung zwischen Regeln und Prinzipien letzteren zuzuordnen 279 . Mit seiner Differenzierung zwischen Regeln einerseits und Prinzipien andererseits kategorisiert R. Alexy Versuche, den Grundrechten nicht nur individualrechtliche Inhalte zu entnehmen und sie in herkömmlicher Weise als Abwehrrechte zu verstehen, sondern ihnen überdies einen objektiv-rechtlichen Gehalt zuzusprechen und sie insbesondere als objektive Wertordnungen, aber auch als Organisations- und Verfahrensvorgaben zu interpretieren. Diese Auslegungsbestrebungen, die zumeist in konturarmen Bezeichnungen 277 E. Denninger, in: BrodalDeutsch u. a. (Hrsg.), Festschrift für Rudolf Wassermann zum sechzigsten Geburtstag, 1985, S. 279 ff., 288 ff., 293, 297. 278 Vgl. davor schon H.-J. Wolff, in: Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Recht. Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, 1955, S. 33 ff. und primär zivilrechtlieh orientiert J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Rechtsfortbildung, 2. Aufl. 1964; ders., Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. Rationalitätsgarantien der richterlichen Entscheidungspraxis, 1970, S. 35 ff.; W. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1964, S. 93 ff.; ders., Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, 1969, S. 46 ff. 279 R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 71 ff.
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wie Werten, Zielbestimmungen, Kurzformein oder Argumentationslastregeln zum Ausdruck kommen, werden durch die Differenz von Regeln und Prinzipien systematisiert und konkretisiert. Regeln und Prinzipien unterscheiden sich dabei insofern qualitativ, als Regeln Normen sind, die nur entweder befolgt oder mißachtet werden können. Die Einhaltung der Prinzipien kann demgegenüber graduell differenziert werden: Prinzipien stellen Optimierungsgebote dar, die gebieten, daß ihre Intentionen in einem relativ - bezogen sowohl auf die rechtlichen als auch auf die tatsächlichen Gelegenheiten - hohen Maß umgesetzt werden 28o . Prinzipien ermöglichen damit auch im Bereich von Vagheitsspielräumen und Normenkollisionen eine rechtliche Bindung des Entscheidungsträgers281 . Diese Zuordnung der verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe zu den Prinzipien i. S. d. von R. Alexy getroffenen Unterscheidung soll deren Charakter als Optimierungsgebote aufzeigen. Sie darf aber nicht als Gleichsetzung der verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe mit Grundrechten (miß-)verstanden werden 282 . E. Grabitz differenziert dabei innerhalb der Prinzipien weiter zwischen "normativen" und nur "informativen". Letztere haben im Gegensatz zu ersteren keinen Normcharakter und bedürfen daher zur Umsetzung und Geltung einer sie konkretisierenden Gesetzesnorm 283.
bb) Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe im Spektrum der Verfassungsgrundsätze Jenseits der heftig umstrittenen Frage, ob innerhalb der Vielzahl der Verfassungssätze eine Rangfolge erkennbar und damit insbesondere auch "verfassungswidriges Verfassungsrecht,,284 denkbar ist, kann nicht geleugnet werden, daß die Verfassung divergierende Verfassungssätze enthält. Innerhalb der Verfassungssätze kann zum einen vergröbernd jedenfalls zwischen formellen und materiellen sowie im Hinblick auf Art. 79 III GG285 zwischen abänderbaren und unabänderbaren Verfassungssätzen differenziert werden. Während die letztere Unterscheidung hier weder weiter verfolgt werden kann noch muß, ist die erstere zusätzlichen Verfeinerungen zugänglich. K. Stern unterscheidet z. B. Kompetenz-, Kreations-, Verfahrens-, Revisionsnormen, Normativbestimmungen, Grundrechtsnormen, Gewährleistungen, Staatsstruktur- und Staatszielnormen, Verfassungsauftragsnormen und 280 Vgl. auch schon R. Alexy, Rechtstheorie 18 (1987), S. 405 ff., 407; ders., ARSP Beiheft 25 (1985), S. 13 ff.; ders., Rechtstheorie, Beiheft I (1979), S. 59 ff. 281 R. Dreier, NJW 1986,890 (892 f., 895). 282 Wie hier R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 404 ffi. Fußn. 17. 283 E. Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 1976, S. 240 ff. 284 Dazu insb. O. Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen?, 1951, S. 7 ff. 285 Ob der die Verfassung ändernde Gesetzgeber neben Art. 79 III GG weiteren Bindungen unterliegt, kann hier dahinstehen. - Bejahend z. B. BVerfGE I, 14 (32); K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl. 1993, Rdnm. 700 ff.
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sonstige materiell- und fonnellrechtliche Nonnen 286 . Für die Verortung der verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe sind dabei die Staatsstruktur- und Staatszielnormen von besonderer Bedeutung, zumal sie gemeinsam mit den Grundrechten und den institutionellen und Institutsgarantien die materielle Grundordnung bilden. P. Badura qualifiziert dementsprechend mit Recht die Staatsstruktur- und Staatszielnormen als neben den grundgesetzlichen Handlungsdirektiven weitere Typen von Verfassungsgrundsätzen. Diese definiert er allgemein als "Verfassungsrechtssätze, in denen Leitlinien der Staatsgestaltung, der Staatsform und der Staatsorganisation aufgestellt oder Direktiven für die Ausübung der Staatsgewalt und des sonstigen Verhaltens des Staates festgelegt sind,,287. Die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe sind durch Verfassungsinterpretation gefundene Verfassungsgrundsätze. Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe unterscheiden sich ebenso wie die Verfassungsgrundsätze von den Verfassungssätzen. Abgesehen davon, daß Verfassungssätze im Gegensatz zu den Verfassungsgrundsätzen und den verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffen im Grundgesetz kodifiziert sein müssen, sind beide nur schwer voneinander zu unterscheiden. Strukturelle und inhaltliche Divergenzen lassen nur vordergründig eine klare Trennung zwischen Verfassungssätzen einerseits und Verfassungsgrundsätzen bzw. verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffen andererseits zu. Strukturell kann die Beziehung zwischen Verfassungssätzen und Verfassungsgrundsätzen nicht auf das Verhältnis Nonn und Grundsatz zurückgeführt werden. Nonnen sind ebenso wie Grundsätze apodiktische, nicht nur hypothetische Urteile. Die Verfassung stellt nämlich zum einen ein langfristiges Programm und einen dauerhaften Plan dar. Zum anderen würden die Grundrechte, wollte man in ihnen nur hypothetische Urteile sehen, entwertet. Eine inhaltliche Differenzierung zwischen Verfassungsgrundsätzen bzw. verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffen einerseits und Verfassungssätzen andererseits wirft neue Probleme, insbesondere die aus geblendete Frage nach einem unterschiedlichen Rang innerhalb des Verfassungsrechts auf. Weder die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe noch die Verfassungsgrundsätze sollen aber Verfassungsrecht "brechen"; beide dienen vielmehr nur zur Interpretationserleichterung. Ungeschriebene verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe und Verfassungsgrundsätze sind damit von der Verfassung stillschweigend in Geltung gesetztes positives Recht. Sie konkretisieren naturrechtliche Anforderungen und stellen dogmatisch lückenausfüllende Prinzipien oder Verfassungsgewohnheitsrecht dar288 . Dementsprechend ist eine enge Anbindung sowohl der verfassungs286 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auf!. 1984, S. 113 ff., 117 ff. 287 P. Badura, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 159 Rdnm. 35 f. 288 Zur grundsätzlichen Diskussion um ungeschriebenes Verfassungsrecht vgl. E. v. Hippel, VVDStRL 10 (1952), I ff.; A. Voigt, VVDStRL 10 (1952), 33 ff.; H.-J. Wolff, in: Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Recht. Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, 1955, S. 33 ff., der eine inhaltliche Berichtigung geschriebenen Verfassungsrechts durch ungeschriebene Verfassungsgrundsätze für möglich hält (a. a. 0., S. 47).
§ 9 RiS - ein verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff
rechtlichen Schlüsselbegriffe als auch der Verfassungs grundsätze an die sungssätze erforderlich 289 . Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe und sungsgrundsätze können, soweit sie ungeschrieben sind, "immer nur als tung, Vervollständigung oder Fortbildung der Prinzipien der geschriebenen sung" entstehen und bestehen 29o .
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VerfasVerfasEntfalVerfas-
Die Existenz verfassungsrechtlicher Schlüsse1begriffe ist daher von vornherein weder selbstverständlich noch kann und darf zur Begründung stereotyp auf sie verwiesen werden. Vielmehr bedürfen sowohl die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe als auch die Verfassungsgrundsätze zunächst der inhaltlichen Konkretisierung anhand der durch sie repräsentierten Verfassungssätze. So verstanden und unter diesen Einschränkungen kann die Existenz ungeschriebener verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriffe bzw. Verfassungs grundsätze umgekehrt aber auch nicht bestritten werden: Die geschriebene Verfassung allein begründet nämlich Legalität, nicht aber notwendigerweise auch Legitimität. Legitimität erlangt eine Verfassung nur, wenn ihr Inhalt respektiert wird und mit obersten Rechtsprinzipien in Einklang steht291 . cc) Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe versus soziale Grundrechte, Staatszielbestimmungen, GesetzgebungsauJträge, Programmsätze Abgrenzung
Nach dieser ersten Charakterisierung der verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe müssen diese in das Spektrum der herkömmlichen Rechtsformen eingeordnet werden. Die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe sind dabei insbesondere gegenüber sozialen Grundrechten, Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträgen und Programmsätzen abzugrenzen. Die nähere Bestimmung des Verhältnisses zwischen diesen überkommenen Rechtsformen einerseits und den verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffen andererseits ist dabei insbesondere deshalb problematisch, weil die sozialen Grundrechte, Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträge und Programmsätze ihrerseits nicht trennscharf definiert sind. Auch in der Debatte um eine Reform des Grundgesetzes nach der Wiedervereinigung gehen soziale Grundrechte einerseits und Staatszielbestimmungen andererseits evident durcheinander, obwohl Grundrechte als subjektive Rechte des einzelnen und Staatszielbestimmungen als allgemeine, objektiv-rechtliche Aufträge oder Appelle an den Staat grundsätzlich klar unterscheidbar sind292 . 289 H. Krüger, in: R. Schnur (Hrsg.), Festschrift für Ernst Forsthoff zum 70. Geburtstag, 1972, S. 187 ff., 192 ff., 196 ff., 204 ff. 290 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Auf!. 1993, Rdnr. 34. 291 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Auf!. 1993, Rdnr. 35. - Die Divergenz zwischen Legitimität und Legalität erlangt derzeit insbesondere bei der rechtlichen Würdigung von Verhalten im Geltungsbereich des Rechts der DDR nach der Wiedervereinigung Bedeutung. Dazu J. Aulehner, DÖV 1994,85.3 ff.
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
(1) Soziale Grundrechte
Auch wenn es keine allgemeine Definition gibt, ist doch anerkannt, daß soziale Grundrechte verfassungsrechtlich garantierte Leistungsansprüche gegen den Staat darstellen 293 und in ihrem Kern darauf gerichtet sind, die Voraussetzungen der Freiheitsausübung zu garantieren 294 . Soziale Grundrechte sind damit subjektivrechtlich formulierte soziale Staatsaufgaben, insbesondere das Recht auf Arbeit, Wohnung, Bildung, gesunde und gesicherte Lebensbedingungen 295 . Unter dem Begriff der gesunden und gesicherten Lebensbedingungen wird dabei neben sozialer Sicherheit und Umweltschutz auch die informationelle Selbstbestimmung zusammengefaßt. Soziale Grundrechte im Sinne von Rechten des einzelnen auf Leistung gegen den Staat stehen zum System des Grundgesetzes im Widerspruch 296 . Der Normtyp der sozialen Grundrechte begnügt sich nicht mit dem Schutz einer Freiheitssphäre des einzelnen vor staatlichem Zugriff, sondern überträgt dem Staat die Verantwortung für soziale Gerechtigkeit. Soziale Grundrechte gehen damit deutlich über die herkömmliche Sichtweise der Grundrechte als Abwehrrechte, Ordnungsprinzipien und Wertmaßstäbe sowie als Schutzaufträge hinaus 297 . Im Gegensatz zu den Freiheitsgrundrechten knüpfen die sozialen Grundrechte nicht an etwas Vorausliegendes, schon Vorhandenes an, sondern verlangen ein aktives, positives staatliches Handeln. Soziale Grundrechte einerseits und Freiheitsrechte andererseits divergieren mithin strukturell deutlich 298. Ein derartiges Verständnis sozialer Grundrechte setzt einen perfektionierten Wohlfahrtsstaat sozialistischer Prägung voraus. Andernfalls kann der Staat nämlich die reale Grundrechtsverwirklichung im ,,horizontalen" BürgerlBürger-Verhältnis nicht garantieren, sondern muß sich auf das "vertikale,,299 StaatIBürger-Verhältnis und damit auf die klassische Abwehrdimension der Grundrechte beschränken. Das Grundgesetz zeichnet sich durch die Einheit von liberaler - im "vertikalen" StaatIBürger-Verhältnis herrschender - und sozialer - die ,,horizontale" BürgerlBürger-Beziehung thematisierender - Freiheit aus. Die Ausübung der im "vertikalen" Verhältnis gewährleisteten rechtsstaatlichen Freiheit unterliegt zwar "sozialen", die "horizontale" BürgerlBürger-Beziehung betreffenR. Scholz, ZfA 22 (1991), 683 (688). E. Stein, Staatsrecht, 14. Auf!. 1993, § 541. 294 D. Murswiek, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 112 Rdnr. 40. 295 P. Badura, Staatsrecht, 1986, S. 67 f. 296 Siehe z. B. R. Scholz, Das Wesen und die Entwicklung der gemeindlichen öffentlichen Einrichtungen, 1967, S. 228 ff. 297 W. GrafVitzthum, ZfA 22 (1991), 695 (698 f.). 298 E.-W. Böckenförde, in: Böckenfördel1ekewitzlRamm (Hrsg.), Soziale Grundrechte, 1981, S. 7 ff., 10 f. 299 Vgl. zur Bezeichnung des BürgerlBürger-Verhältnisses als "horizontal" und der Staat! Bürger-Beziehung als "vertikal" insbesondere R. Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 275 ff. 292 293
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den Voraussetzungen. Die daran anknüpfende Unterscheidung von Grundrechtsgewährleistung im "vertikalen" und Grundrechtsausübung im ,,horizontalen" Verhältnis wird aber grundrechtsdogmatisch nicht durch soziale Grundrechte, sondern durch das Sozialstaatsprinzip thematisiert 3OO . Soziale Grundrechte im Sinne subjektiver, gerichtlich durchsetzbarer Rechte des einzelnen sind daher im Hinblick auf ihre Unbestimmtheit, die strukturellen Unterschiede zu den liberalen Freiheitsrechten, die Garantie individueller Freiheit und der damit verbundenen beschränkten Verfügungsmacht des Staates, die begrenzten Ressourcen und die Aufgabenverteilung zwischen den staatlichen Gewalten in der Demokratie abzulehnen 301 . Beschränkt man den Begriffsinhalt demgegenüber darauf, daß soziale Grundrechte "den Menschen in seinen gesellschaftlichen Zusammenhängen begreifen", Freiheitsrechte den einzelnen hingegen als "isoliertes staatsbürgerliches Individuum,,302 verstehen, so ist dieser Aussage zuzustimmen. Soziale Grundrechte gewähren dann aber entgegen ihrer Formulierung ("Jeder hat das Recht ... ") keine subjektiven Rechte, sondern begründen nur eine soziale Staatsaufgabe; sie stellen überdies keinen gesonderten Normtyp dar. Auch nach diesem Verständnis unterscheiden sich soziale Grundrechte und verfassungsrechtliche Schlüssel begriffe insofern, als erstere jedenfalls regelmäßig kodifiziert sind, letztere hingegen typischerweise durch die verfassungs gerichtliche Rechtsprechung entwickelt werden. Umgekehrt ähneln sich die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe und die sozialen Grundrechte, weil beide im Rahmen der Verfassungsinterpretation bestimmte typische Konstellationen hervorheben wollen. Die sozialen Grundrechte betonen dabei allein die "horizontale", die soziale BürgerlBürger-Beziehung betreffende Ausprägung der Grundrechte, die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe stellen demgegenüber einen inhaltsneutralen Oberbegriff dar, der sowohl das "horizontale" BürgerlBürger-Verhältnis als auch die "vertikale" StaatIBürger-Beziehung betrifft. Insofern sind die sozialen Grundrechte eine Teilmenge der verfassungsrechtlichen Schlüssel be griffe. (2) Gesetzgebung saufträge
Gesetzgebungsaufträge sind Anweisungen an den Gesetzgeber zu meist konkreten Gesetzgebungsinitiativen 303 , die keine grundlegende Bedeutung haben, sondern ausführende Verfassungsergänzungen oder gesetzgeberische Veränderungen betreffen, die von nur begrenzter Bedeutung sind304 . Sie unterscheiden sich damit 300
R. Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 188 f.
301
W. Brohm, JZ 1994, 213 (216).
302
c.-F. Menger, Der Begriff des sozialen Rechtsstaates im Bonner Grundgesetz, 1953,
S.61. 303 304
H. J. Wipfleder, ZRP 1986, 140 (J43). J. Lücke, AöR 107 (1982),15 (23).
27 Aulehner
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
klar von den verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffen, die gerade auf eine Typisierung in einer Vielzahl von Konstellationen gerichtet sind. (3) Programmsätze
Programmsätze stellen bloß unverbindliche Empfehlungen an den Gesetzgeber dar305 . So verstanden ähneln sie den verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffen allenfalls insofern, als beide Richtlinien für künftige Gesetze darstellen. Während die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe aber jedenfalls mittelbar verpflichtend wirken, weil sie den Gehalt verschiedener Verfassungsnormen "destillieren", wird den Programmsätzen meist ein auch nur irgendwie verpflichtender Charakter abgesprochen 306 . Etwas anderes gilt nur, wenn man den Programmsätzen mit P. Lerche doch eine gewisse Bindungswirkung für den Gesetzgeber zuspricht. Die Programmsätze schreiben der Legislative danach eine bestimmte Richtung für ihre Aktivitäten vor307 . Ohne diesen "Pflichtcharakter" verneint P. Lerche die Programmsatzqualität308 . Die von P. Lerche so gebildeten "Leitgrundsätze,,309 entsprechen den verfassungsrechtlichen Schlüssel be griffen. (4) Staatszielbestimmungen Die von H. P. Ipsen 310 erstmals so bezeichneten Staatszielbestimmungen werden nach einer weithin anerkannten 311 Definition der Sachverständigenkommission StaatszielbestimmungeniGesetzgebungsaufträge von 1983 als "Verfassungsnormen mit rechtlich bindender Wirkung, die der Staatstätigkeit die fortdauernde Beachtung oder Erfüllung bestimmter Aufgaben - sachlich umschriebener Ziele - vorschreiben,,312 definiert. D. Merten beschreibt sie als "die erste Stufe wohlfahrtsstaatlicher Nobilitierung, ein niedriger Sozialadel gleichsam, wenn man zum Hochadel der sozialen Grundrechte nicht im ersten Anlauf emporkommen kann,,313. Sie stehen mithin auf einer Stufe zwischen unmittelbar verpflichtenden Rechtssätzen einerseits und nichtverpflichtenden Programmsätzen andererseits. Die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe stützen sich im Gegensatz zu den Staatszielbestimmungen nicht auf eine konkrete Verfassungsnorm, sondern stellen vielmehr gerade einen Interpretationszusammenhang her. Staatszielbestimmungen erscheinen insofern als Sonderfall der verfassungsrechtlichen Schlüsse1begriffe. N. Paech, DuR 1992,265 (269). T. Maunz, BayVBI. 1989,545 (545). 307 P. Lerche, AöR 90 (1965),341 (347). 308 P. Lerche, AöR 90 (1965), 341 (351). 309 P. Lerche, AöR 90 (1965),341 (347). 310 H. P. Ipsen, Über das Grundgesetz, 1950, S. 14 ff. 311 H. H. Klein, DVBI. 1991,729 (733). 312 Bundesministerium des Inneren/der Justiz (Hrsg.), Bericht der Sachverständigenkommission "Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge, 1983, S. 21; vgl. auch S. 13. 3I3 D. Merten, DÖV 1993,368 (369). 305
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3. Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe und Verfassungsinterpretation
Die Einführung der verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe als Rechtsfigur muß schließlich mit den ihrerseits vehement umstrittenen Methoden der Verfassungsauslegung in Einklang stehen314 . Mit der Annahme verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriffe ist eine Präferenz für einzelne Interpretationsmethoden verbunden, andere werden hierdurch ausgeschlossen. Die Behauptung der Existenz verfassungsrechtlicher Schlüssel begriffe ist nämlich - wie sich sogleich zeigen wird nicht mit allen Auslegungsmethoden für das Verfassungsrecht vereinbar. Die auf die Verfassung anzuwendenden Interpretationsmethoden stehen ihrerseits in einem untrennbaren Zusammenhang mit dem Verfassungsbegriff315 • a) Verfassungsinterpretation als Auslegung des Verfassungsgesetzes aa) Anwendung der Regeln zur Gesetzesinterpretation auf die Verfassung
Jenseits der Unklarheit des Verfassungsbegriffs stellt sich Verfassungsinterpretation in der Bundesrepublik Deutschland als Auslegung des Verfassungsgesetzes dar und wirft somit die für die Gesetzesinterpretation charakteristischen Probleme auf316 . Insbesondere das Bundesverfassungsgericht beschränkt sich auf die Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes. Zu den durch das Verfassungsrecht in der Methodenlehre aufgeworfenen theoretischen Fragestellungen nach einer spezifisch juristischen Methode im Verfassungsrecht und dessen geistes- oder sozialwissenschaftlicher Auslegung bezieht das Bundesverfassungsgericht nicht explizit Stellung, sondern wendet vielmehr auch auf die Verfassung die Auslegungsmethoden für einfache Gesetze an. Die Bedeutung dieser Interpretationsmethoden ist nicht auf die Auslegung einfacher Gesetze beschränkt. In der Praxis bilden sie vielmehr - jenseits des Streits um spezifische Merkmale der Verfassungsauslegung auch den Kern für die Interpretation der Verfassung 317 • Tendenzen, die Verfassungsinterpretation vollends von der Gesetzesauslegung abzukoppeln 318 , wird da314 Allgemein zur Verfassungsinterpretation z. B. P. Häberle, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 2. Aufl. 1996, S. 155 ff. 315 Auf den Zusammenhang zwischen Verfassungsinterpretation und Verfassungsbegriff weisen z. B. C. Starck, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 164 Rdnr. 1; E.-W. Böckenförde, NJW 1976,2089 (2097), abgedruckt auch in ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 53 ff., 80 ff. hin. 316 R. Dreier, in: ders.lSchwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 13 ff., 13 abgedruckt auch in ders., Recht - Moral- Ideologie, 1981, S. 106 ff., 106; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 1992, S. 248 ff., 251. 317 Vgl. Z. B. BVerfGE 35, 263 (278); 24, I (15); 11, 126 (130 f.) und F. Müller, Juristische Methodik, 4. Aufl. 1990, S. 31 f. sowie die Nachweise in den folgenden Fußnoten. 318 Vgl. dazu - referierend - C. Starck, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 164 Rdnr. 17 sowie ders., in: Heyde/Starck (Hrsg.), Vierzig Jahre Grundrechte in ihrer Verwirklichung durch die Gerichte, 1990, S. 9 ff. abgedruckt auch in ders., Praxis der Verfassungsauslegung, 1994, S. 21 ff., 22 f.
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
mit weder zugestimmt noch widersprochen. Die Auslegung der Verfassung weist verglichen mit der Gesetzesinterpretation - einerseits unbestreitbar Besonderheiten auf. Damit sind aber andererseits die klassischen Savigny'schen Auslegungskriterien als Ausgangspunkt der Verfassungsinterpretation nicht entwertet. bb) Die Savigny'sehen Interpretationskriterien
Die zentrale, von jeder Gesetzesinterpretation zu beantwortende Frage, ob Gesetze nach dem historisch-psychologischen Willen des Normgebers (sog. subjektive Theorie oder Willenstheorie ) oder nach dem im Gesetz selbst artikulierten Sinngehalt (sog. objektive Theorie oder Theorie der immanenten Gesetzesbedeutung) auszulegen sind, beantwortet das Bundesverfassungsgericht in einem vermittelnden Sinn319 : Maßgebend für die Auslegung einer Verfassungsnorm ist danach der in der Norm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Normgebers, so wie er sich aus Wortlaut und Sinnzusammenhang ergibt32o . Damit erkennt das Bundesverfassungsgericht zwar einerseits die Urheberschaft des Gesetz- bzw. Verfassungsgebers an und schließt sich insoweit der subjektiven Theorie an. Im übrigen erteilt es dieser Theorie aber eine Absage und folgt der Theorie der objektiven Verfassungsinterpretation, schränkt aber auch diese wiederum ein 321 : Das Bundesverfassungsgericht gibt nämlich vor, daß der "objektivierte Wille des Gesetzgebers" nach Wortlaut, Zusammenhang und Zweck zu bestimmen ist. Neben dieser grammatischen oder wörtlichen, systematischen und teleologischen Verfassungsinterpretation räumt das Bundesverfassungsgericht der an der Entstehungsgeschichte orientierten Auslegung nur einen sekundären Rang ein 322 . Die historische oder genetische Verfassungsinterpretation hat nämlich keine eigenständige, sondern nur eine bestätigende oder klärende Bedeutung323 . Auf die bereits vielfach angespro319 Vgl. insb. BVerfGE 79, 127 (143 f.) sowie wie hier z. B. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 124 f. 320 BVerfGE 62, 1 (45); 57, 250 (262); 55, 159 (170 f.); 53, 207 (212); 48, 246 (256); 45, 272 (288); 41, 399 (411); 35, 263 (278); 33, 265 (294); 24, 1 (15); 11, 126 (130 f.); 10, 234 (244); 8, 274 (307); 6, 389 (431); 6, 55 (75); 1,299 (312) zur Gesetzesinterpretation. - Vgl. auch U. Ramsauer, VerwArch 72 (1981),89 ff. 321 Vgl. z. B. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl. 1993, Rdnr. 54: "Es [das Bundesverfassungsgericht] entscheidet sich, wenn auch nicht eindeutig, für die 'objektive Theorie' der Interpretation ... " 322 Zu diesen vier Auslegungsmethoden vgl. z. B. WolfflBachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl. 1974, S. 159 ff. und die Nachweise in den vorstehenden Fußnoten. Teilweise werden - anders als hier - mehr als die vier Savigny'schen Auslegungsarten unterschieden: So wird insbesondere zwischen grammatischer und logischer, historischer und genetischer (hierzu z. B. ScholzlAulehner, Archiv PT 1993,5 [23 f.]), systematisch-teleologischer und komparativer (speziell dazu P. Häberle, JZ 1989,913 [916 ff.]) Interpretation differenziert (z. B. R. Dreier, in: ders.lSchwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 13 ff., 25 abgedruckt auch in ders., Recht - Moral- Ideologie, 1981;S. 106 ff., 114 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 125 f.). 323 Anders aber BVerfGE 41, 205 (220); 33,125 (152 f.).
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chene324 Divergenz zwischen den methodischen Postulaten einerseits und der Anwendungspraxis in der Rechtsprechung des BVerfG andererseits kann hier nur hingewiesen werden. ce) Die Offenheit der Verfassungsauslegung nach den klassischen Interpretationskriterien
Die Anwendung der klassischen Auslegungsmethoden führt häufig zu keinen definitiven, sondern zu bloß vagen Erträgen 325 . Hierfür sind insbesondere zwei Gründe ursächlich: Zum einen führt vielfach schon die jeweils dem "Kanon" der Savigny'schen Methoden entnommene Auslegungsart zu einem ambivalenten Ertrag. Denn der Wortlaut ist zumeist mehrdeutig und für die Argumentation mit der Entstehungsgeschichte sind die jeweils selektierten historischen Gegebenheiten, deren Verständnis und Gewichtung entscheidend. Die Bedeutung des systematischen Zusammenhangs der jeweiligen Norm hängt insbesondere davon ab, ob auf die formale Stellung der Norm im Grundgesetz oder den sachlichen Zusammenhang und allgemein, ob der zur Beurteilung herangezogene Kontext eng oder weit gezogen wird. Der von einer Norm verfolgte Zweck schließlich ist vielfach ebenfalls unter den Rechtsanwendern umstritten 326 . Zum anderen haben bislang weder das Bundesverfassungsgericht noch die Literatur eine stringente Rangordnung zwischen den unterschiedlichen Interpretationsmethoden gefunden 327 . W. Krawietz hat insoweit eine "Methodenlehre ohne Methode" konstatiert 328 . Die vielfache Aufforderung 329 zur Kombination der einzelnen Auslegungsmethoden ("Methodensynkretismus") erscheint zwar einerseits per se plausibel, kumuliert aber andererseits die sich schon bei den einzelnen Auslegungsarten ergebenden Unsicherheiten. Zur Gewichtung der einzelnen Ausle324 Vgl. dazu z. B. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auf!. 1984, S. 131; G. Roellecke, in: C. Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz 11. Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, S. 22 ff., 24 ff. 325 M. Kriele, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 110 Rdnr. 27 spricht von einem "Versagen der klassischen Methodenlehre". 326 Vgl. hierzu z. B. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Auf!. 1993, Rdnr. 57. 327 Siehe z. B. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Auf!. 1993, Rdnm. 57 ff.; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Auf!. 1992, S. 231 ff., 233 f.; W. Hasserner, ARSP 1986, 204; R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 4. Auf!. 1985; R. Dreier, in: ders./Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 13 ff., 23 ff. abgedruckt auch in ders., Recht - Moral - Ideologie, 1981, S. 106 ff., 113 ff. 328 W. Krawietz, JuS 1970,425 (431). 329 Siehe z. B. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auf!. 1984, S. 126; WolfflBachof, Verwaltungsrecht I, 9. Auf!. 1974, S. 161; R. Dreier, in: ders./ Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 13 ff., 26 f., 37 abgedruckt auch in ders., Recht - Moral- Ideologie, 1981, S. 106 ff., 114 ff., 123.
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
gungsarten sind insgesamt nur überschlägige, sehr relative Aussagen möglich: Je mehr Interpretationsmethoden zum gleichen Ergebnis führen, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit gerade dieser Auslegung. Diese an sich wiederum von vorneherein eingängige Interpretationsformel, tendiert bei näherer Betrachtung zur Leerformel, da die Anteile der jeweiligen Interpretationsarten bei der Ergebnisfindung offen bleiben. Selbst wenn eine Auslegung nur durch ein einziges Interpretationskriterium gestützt wird und alle übrigen dagegen sprechen, wird das Ergebnis dadurch noch nicht widerlegt. Die zur Begründung herangezogene Auslegungsart kann nämlich im Einzelfall die allein richtige darstellen 33o . N. Luhmann hat hieraus für juristische Entscheidungsbegründungen allgemein gefolgert, sie würden nicht die Herstellung der Entscheidung, sondern nur deren Darstellung und Präsentation bestimmen 331. Dieser vage Befund überrascht freilich nicht; vielmehr spiegelt sich an dieser Stelle die gerade für das - abstrakte - Verfassungsrecht geltende Notwendigkeit einer Konkretisierung durch Interpretation wider. P. Lerche bringt dies wie folgt zum Ausdruck: "Die Verfassung ist nicht so sehr konkretes wie konzentriertes Recht; sie verlangt nicht so sehr Auslegung wie Vermittlung, nicht so sehr nachvollziehende rechtslogische Interpretation wie nachvollziehbar geordnete, 'gekonnte' Konkretisierung,,332. Konkretisierung wird dabei als ein qualitatives "Mehr" im Verhältnis zur Interpretation verstanden. Letztere ist gewöhnliche Auslegung einer Vorgabe, die komplettiert und strukturiert wird; erstere ist rechtsschöpferische Sinngebung, nicht bloße Sinndeutung333 .
b) Grundkonzeptionen der Verfassungsinterpretation In dem durch die klassischen Auslegungsmethoden eröffneten Interpretationsspielraum lassen sich verschiedene Konzeptionen der Verfassungsauslegung unterscheiden. Als Differenzierungskriterium dient dabei u. a. die Gewichtung der einzelnen Auslegungsmethoden im Verhältnis zueinander. Die - im folgenden darzustellenden - unterschiedlichen Auffassungen entnehmen der Verfassung hierbei nicht nur verschiedene materielle Gehalte, sondern bestimmen auch die Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgerichtsbarkeit unterschiedlich.
Vgl. - die Kritik zusf. - z. B. H.-J. Koch, EuGRZ 1986,345 (348). N. Luhmann, Recht und Automation der öffentlichen Verwaltung, 1966, S. 51 ff. Ähnlich z. B. B. Schlink, Der Staat 19 (1980), 73 (87 ff.). 332 P. Lerche, DVBI. 1961,690 (692 f.) wieder abgedruckt in Dreier/Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 110 ff., 118. 333 E.-W. Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989, S. 55 ff. 330
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aa) Veifassungsinterpretation als Kompetenzverteilung
Verfassungsinterpretation ist Kompetenzverteilung zwischen Legislative und Judikative; sie b,estimmt das Verhältnis von Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit. Je weiter die Verfassung ausgelegt wird, desto größer wird der verfassungsgerichtliche Einfluß und umso mehr sinkt die Bedeutung des Gesetzgebers 334 . bb) Rechtspositivistische Interpretation
Rechtspositivistische Verfassungsauslegungen betonen Wortlaut und Entstehungsgeschichte der grundgesetzlichen Normen; systematischer Zusammenhang und Zweck der Verfassungsvorschriften werden demgegenüber für weniger relevant gehalten. "Interpretation - auch Verfassungsinterpretation -" besteht, so beschreibt K. Hesse 335 diese Auslegungsrichtung, "prinzipiell im bloßen Nachvollzug eines präexistenten (objektiven oder subjektiven) Willens, der durch [die klassischen Interpretationsregeln] unabhängig von dem zu lösenden Problem mit objektiver Gewißheit ermittelt werden kann." Dem ist entgegen zu halten, daß der Aussagegehalt des Grundgesetzes damit (zu) stark eingeschränkt wird. Ein konkretes Ergebnis gibt die Verfassung nämlich nur in wenigen relativ detaillierten und spezifischen Regelungen vor. Der verbleibende, wohl überwiegende Bereich wird aus dem Wirkungsbereich des Verfassungsrechts entfernt. Auch Relativierungen der rechtspositivistischen Verfassungsauslegung, denen zufolge zunächst zu prüfen ist, ob und inwieweit sich aus dem Grundgesetz eine Klärung der jeweils im Einzelfall zu beantwortenden Frage ergibt, vermögen nicht zu überzeugen. Die damit verbundene Ausgrenzung größter Komplexe aus dem verfassungsrechtlichen Anwendungsfeld und der gleichzeitige Verweis dieser Probleme in den Bereich der Politik stärkt zwar den (einfachen) Gesetzgeber und reduziert die Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit. Die rechtspositivistische Interpretation bewertet aber auch Rechtssicherheit höher als Gemeinwohl und Gerechtigkeit. Eine rechtspositivistisch orientierte Auslegung des Grundgesetzes setzt ein abgeschlossenes und einheitliches, logisch-axiomatisches und werthierarchisches System der Verfassung voraus. Eben hieran fehlt es aber, zumal die Verfassungsnormen nicht ein-, sondern mehrdimensional sind. Die Verfassung wird daher als Obersatz, der eine syllogistische Subsumtion ermöglicht, nur und erst in Verbindung mit der Wirklichkeit am jeweiligen Einzelfall und in der konkreten Rechtsanwendung konkretisiert 336 .
334 Kritisch hierzu E.-W. Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989, S. 60 ff. 335 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Auf). 1993, Rdnr. 53.
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
ce) Funktionale Auslegung ( 1) Ebensowenig wie die Konstitution des Sachverhalts und die Anwendung des einfachen Rechts voneinander getrennt werden können, ist Verfassungsinterpretation als bloßer Nonnvollzug denkbar. Die rechtspositivistische, an der Alten Hermeneutik orientierte Verfassungsinterpretation, ist durch eine funktionale, auf topischen Denkweisen fußende Grundgesetzauslegung jedenfalls zu ergänzen, wenn nicht zu ersetzen. Damit geht ein Paradigmenwechsel einher: Während das rechtspositivistische Verständnis den konkret-aktuellen Inhalt einer Nonn nach dem (Verfassungs-)Gesetzestext bestimmen will, geht die funktionale Auslegung in ihrer Argumentation von dem jeweiligen Problem aus und versucht dieses unter Abwägung aller relevanten Gesichtspunkte zu lösen 337 . Zu der im vorliegenden Zusammenhang - gegenüber dem rechtspositivistischen Verfassungsverständnis wesentlichen Relativief\lng der Bedeutung des Wortlauts der (Verfassungs-)Normen trägt auch die Neue Henneneutik bei. Nach dieser ist juristische Gesetzesund Verfassungsauslegung unabdingbar zirkulär bzw. spiralenfönnig, weil das Vorverständnis des jeweiligen Entscheidungsträgers zwingend das Entscheidungsergebnis beeinflußt.
So betrachtet ist der Wortlaut einer Nonn nur die "Spitze des Eisbergs,,338 und fonnuliert lediglich ein "Nonnprogramm", das der Ergänzung durch einen "Nonnbereich" bedarf. Nonnbereich ist dabei der Wirklichkeitsausschnitt, in dem die jeweilige (Verfassungs-) Vorschrift nicht nur Geltung entfaltet (Sachbereich), sondern der als Gegenstand des Nonnativtatbestands herausgehoben wird339 . Die Ablehnung eines "wertungs freien Gesetzespositivismus,,34o durch das Bundesverfassungsgericht ist dabei schon in frühen Judikaten erkennbar. So beurteilte das BVerfG341 die gesetzliche Regelung des Fortbestehens der Dienstverhältnisse der Angestellten des öffentlichen Dienstes, die der NSDAP angehörten, unter Rückgriff auf die "Ereignisse vom Mai 1945 in ihrer politisch-historischen und staatsrechtlichen Bedeutung" und prüfte, "ob die Annahme des unveränderten Weiterbestehens der Rechte der Beamten sich mit dem so gewonnenen Bild vereinbaren" ließ. Das BVerfG wies zudem ausdrücklich darauf hin, daß "die Einordnung eines staatsrechtlich relevanten Sachverhalts unter einen Rechtsbegriff [ ... ] nur aufgrund einer unmittelbaren und umfassenden Anschauung der tatsächlichen Verhältnisse und des politischen Zusammenhangs, in dem sie stehen, vollzogen werden" kann. 336 R. Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 91 f.; a.A. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Auf!. 1914, S. 335: "Alles Recht ist Beurteilungsnorm und daher niemals mit den von ihm zu beurteilenden Verhältnissen zusammenfallend." 337 H. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), 53 ff. 338 F. Müller, Juristische Methodik, 4. Auf!. 1976, S. 107. 339 BVerfGE 34, 269 (288); F. Müller, Juristische Methodik, 4. Auf!. 1990, S. 74; F. Müller, Juristische Methodik, 2. Auf!. 1976, S. 117, 120. 340 BVerfGE 23, 98 (106); 3, 225 (232). 341 BVerfGE 3, 58 (85).
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Die Verfassung bedarf nach dem hiesigen funktionalen Verständnis der Realisierung 342 und Aktualisierung 343 . Hierdurch wird der Gegensatz von - vornehmlich soziologisch zu ermittelndem - Sein und - juristisch detenniniertem - Sollen durch die permanente - jeweils nur aktuell und für den Einzelfall geltende - Konkretisierung der Verfassung "abgearbeitet". Die Bestimmung dieses aktuellen und konkreten Inhalts des Grundgesetzes ist Aufgabe der Verfassungsinterpretation 344 . Diese hat sich hierbei an der optimalen Verwirklichung der Verfassungsnorm zu orientieren und die Auslegung zu wählen, die den gegenwärtigen Sinn der grundgesetzlichen Norm am besten realisiert. Die funktionale Verfassungsinterpretation beruht auf der Wechselwirkung von Verfassungswirklichkeit und Verfassungsziel. Sie schließt einerseits aus der Verfassungsrealität auf den Inhalt der verfassungsrechtlichen Gewährleistung. Insofern erscheint das ,,rein ,Faktische' als Bestandteil der Normativität selbst,,345. Andererseits ist die gefundene Verfassungsausübung ihrerseits an der jeweiligen Verfassungsnorm zu messen. Die funktionale Verfassungsinterpretation erweist sich mithin als zukunfts gerichtet und strebt die Optimierung der einzelnen verfassungsrechtlich geschützten Werte an. (2) Die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe sind mit einer funktionalen Verfassungsinterpretation nicht nur vereinbar, sondern stellen geradezu ein notwendiges Instrument hierfür dar. Sie verbinden nämlich ebenso wie die funktionale Verfassungsauslegung Zweck und Wirkung der jeweiligen Verfassungsnorm 346 .
Die kompetentiellen Auswirkungen einer funktionalen Verfassungsinterpretation für das Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung werden hierbei weder übersehen noch unterschätzt oder gar verkannt. Die hierdurch heraufziehenden Gefahren sind aber auch bei einer "Rücknahme" der Verfassungsinterpretation auf eine rechtspositivistische Position nicht vermeidbar. Eine Beschneidung der ausufernden Grundrechtsauslegung und Reduzierung auf die ursprüngliche Abwehrdimension 347 wird den Konflikt zwischen Verfassungs gerichtsbarkeit und Gesetzgeber nicht ausräumen können. Dies gilt schon deshalb, weil auch der Grundrechtsschutz des Bürgers unmittelbar gegen den Staat zunehmend erweitert wurde 342 Siehe dazu z. B. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Auf). 1993, Rdnrn. 41 ff.; R. Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 19 ff., 91 343 Vgl. z. B. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Auf). 1993, Rdnrn. 66 ff.; R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 419. 344 R. Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 91 ff. 345 R. Pitschas, Berufsfreiheit und Berufslenkung, 1983, S. 28. 346 R. Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 96. 347 Befürwortend E.-W. Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989, S. 63 ff.
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3. Teil: VerfassungsrechtIiche Rezeption
und die unter Hinweis auf die objektiven Dimensionen der Grundrechte thematisierten Konflikte sich auch in der Abwehrdimension reformulieren lassen 348 .
IV. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff Mit den vorstehenden verfassungsdogmatischen Erörterungen der verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe ist der Boden bereitet für die Einstufung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung als verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriff. Die Qualifizierung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung als verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff bringt dessen "Querschnittscharakter" zum Ausdruck. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung steht "quer" zu den im GG kodifizierten Freiheits(grund)rechten. Während diese grundsätzlich jeweils einen einzelnen Sachbereich thematisieren und ihre Schutzwirkung hierauf beschränken, erfaßt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung einen bestimmten, in jedem Sachbereich vorkommenden, für die jeweilige Sachmaterie aber jeweils gesondert auszufüllenden Aspekt. Die vielfach allein als Rechtsgrundlage angeführten Art. 2 I i. Y.m. Art. 1 I GG setzen insoweit nur die allgemein bekannte und anerkannte subsidiäre Auffangfunktion des Art. 2 I GG fort, dürfen aber keinesfalls als spezielles, die übrigen kodifizierten Grundrechte verdrängendes Grundrecht auf Datenschutz mißverstanden werden 349 . Daß das Grundgesetz die Privatsphäre des Menschen nur in einzelnen Grundrechten (Art. 4 I, 11, 10, 13 GG) schützt und die übrigen Grundrechte, insbesondere z. B. die Art. 9 I, 8 I, 5 I GG bislang nicht als Prüfungsmaßstab für den Schutz der Privatsphäre herangezogen wurden, widerspricht dem nur scheinbar. Diese Grundrechte enthalten zwar ein Recht auf Selbstdarstellung, stehen aber zum aus Art. 2 I i. Y.m. Art. 1 I GG abgeleiteten Recht auf informationelle Selbstbestimmung gleichwohl nicht in einem Verhältnis der Spezialität. Im Hinblick auf Art. 5 I GG verneint das BVerfG350 nämlich ausdrücklich einen aus der negativen Meinungsfreiheit resultierenden Schutz gegenüber der Ermittlung, Speicherung und Weitergabe von Tatsachen. Zudem enthielten, so wird argumentiert, die Kommunikationsgrundrechte keinen spezialgrundrechtlichen Datenschutz. Vielmehr seien - umgekehrt - alle Kommunikationsgrundrechte jedenfalls in ihrer Zielrichtung als öffentliche Meinungsfreiheit zur Beeinflussung anderer gerade darauf gerichtet, daß 348 G. Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 69 ff.; D. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 88 ff.; B. Schlink, EuGRZ 1984,457 ff. 349 Zum Verhältnis des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung zu den speziellen Grundrechten aus jüngerer Zeit M. Albers, in: Haratsch/Kuge1man'n/Repkewitz (Hrsg.), Herausforderungen an das Recht der Informationsgesellschaft, 1996, S. 113 ff., 137 ff. 350 BVerfGE 65, I (40 f.).
§ 9 RiS - ein verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff
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die zu beeinflussenden Adressaten das von den Kommunikationsgrundrechten geschützte Verhalten wahrnehmen. Art. 10, 13 GG schützten zwar, so wird auch angeführt, die Privatsphäre, sie gewährten aber kein umfängliches Recht auf Selbstdarstellung, da nicht ersichtlich sei, wie diesen Grundrechten ein Informationsverarbeitungsverbot entnommen werden könnte. Auch zeigten die Schranken dieser Grundrechte, daß nur der Geheimbereich, nicht aber die Selbstdarstellung der Person geschützt wird 351 . Darüber hinaus gilt Art. 2 I GG im Verhältnis zu den speziellen Grundrechten zwar zunächst nur subsidiär und ergänzend. Art. 2 I GG stellt daneben aber auch eigenständige Freiheitstatbestände zur Verfügung. Ein Beispiel hierfür bietet gerade der Schutzbereich der Privatsphäre, in dem sich die Persönlichkeitsrechte ebenso ausdifferenziert darstellen wie die speziellen Grundrechte 352 . Art. 2 I i.Y.m. Art. I I GG wäre danach neben Art. 5 I, 8 I, 9 I GG ebenso anzuwenden wie neben Art. 13 GG. Dem ist entgegenzuhalten, daß die einzelnen Spezialgrundrechte jeweils verschiedene Geheimnis- und Kommunikationsbereiche strukturieren, hinter denen die Geheimnis- und Kommunikationsgarantie des Art. 2 I i.Y.m. Art. I I GG zurücktritt; sie sichert die informationelle Selbstbestimmung nur subsidiär und ergänzend. Zur Begründung ist anzuführen, daß die freie Entfaltung der Persönlichkeit die Basis eines offenen Systems grundrechtlicher Freiheiten darstellt. Dem entspricht es, den Privatsphärenschutz vorrangig bei den einschlägigen Spezialgrundrechten anzusiedeln und Art. 2 I GG als Auffangtatbestand nur anzuwenden, wenn die speziellen Grundrechte nicht einschlägig sind353 Richtigerweise muß bei Fragen der Informationserhebung, -aufbewahrung oder -verarbeitung innerhalb der dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 I i.Y.m. Art.l I GG) gegenüber stehenden speziellen Freiheitsrechte differenziert werden: Während die Art. 5, 8, 9 GG bestimmte Tätigkeiten schützen, gewährleisten die Art. 13, 10, 6 GG eher Sphären354 . Dabei entwickeln alle diese Grundrechte - die tätigkeits- und sphärenbezogenen ebenso wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 I i.Y.m. Art. 1 I GG) - eine gemeinsame Schutzrichtung: Das Individuum soll sich - in gewissen Grenzen - selbst darstellen können, ohne dabei befürchten zu müssen, daß Interaktionspartner ein anderes und weitergehendes Wissen über das Individuum haben. Berücksichtigt man dies, sind die speziellen Freiheitsgrundrechte gegenüber Art. 2 I i. Y.m. Art. 1 I GG vorran351 W. Schmitt Glaeser, in: IsenseelKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, § 129 Rdnrn. 3 ff., 81 ff. 352 Vgl. bei ScholzlPitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, S. 89. 353 ScholzIPitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, S. 89 f., 98 ff. 354 M. Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen und deren Aufbewahrung durch die Polizei, 1992, S. 86 f.
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
gig, wenn und soweit sie dieses Selbstdarstellungsrecht gewährleisten. Dies ist für die bereichs bezogenen Grundrechte insofern zu bejahen, als sie das Individuum instand setzen, gewisse Informationen nur einem durch das Individuum selbst bestimmten und eher eng begrenzten Personenkreis - z. B. den in der Wohnung Anwesenden, dem Telefongesprächspartner und der Familie - zugänglich zu machen. Die Einschätzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung als Querschnittsbegriff und verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff wird durch die einfachrechtliche Umsetzung bestätigt. Im BDSG kommt zum Ausdruck, daß der Datenschutz grundsätzlich alle Sachbereiche übergreift. Andererseits und zugleich spiegelt sich in den einfachen Gesetzen aber auch der Bedarf nach einer spezifischen Konkretisierung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung für den einzelnen Sachbereich wider. Insbesondere die hier interessierenden Polizei gesetze enthalten nämlich jeweils eigene, vom BDSG abweichende Regelungen des Datenschutzes.
§ 10 Das "Grundrecht auf Sicherheit" als Gegenpol zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung Das von J. Isensee geprägte "Grundrecht auf Sicherheit'" ist ebensowenig bzw. ebensoviel ein Grundrecht wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Isensee selbst definiert das "Grundrecht auf Sicherheit" als die Gesamtheit der grundrechtlichen Schutzpflichten, die ihrerseits aktives Handeln zum Schutz grundrechtlicher Rechtsgüter gebieten, und erklärt zur Qualifikation der Sicherheit als Grundrecht, diese könne nur cum grano salis erfolgen. Im Vergleich des "Grundrechts auf Sicherheit" mit den staatlichen Schutzpflichten ist der Perspektivenwechsel entscheidend: Während die staatlichen Schutzpflichten den staatlichen Blickwinkel einnehmen, thematisiert das Grundrecht auf Sicherheit die Sicht der Bürger2 . Im hiesigen Zusammenhang erweist sich das "Grundrecht auf Sicherheit" als Komplementärbegriff zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Wahrend unter dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung alle die verfassungsrechtlichen Aspekte zusammengefaßt werden, die im Rahmen einer manipulationsfreien Kommunikation die Fremddarstellung des Individuums schützen, bündelt das "Grundrecht auf Sicherheit" alle die verfassungsrechtlichen Elemente, die den Bürger berechtigen, vom Staat die Gewährleistung von Sicherheit einzufordern. So gesehen entsprießt dem "Grundrecht auf Sicherheit" auch das Verfassungsgebot I J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983. - Gegen das "Grundrecht auf Sicherheit" aus rechtspolitischer Sicht und mit sprachlichen Erwägungen H. Lisken, ZRP 1994, 49 ff. 2 J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 33 f.
§ 10 "Grundrecht auf Sicherheit" als Gegenpol
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der Vorsorge 3 . Im Zusammenhang mit der polizeilichen Informationserhebung, -verarbeitung und -verwendung interessieren dabei nur die Aspekte, die den Staat zur Informationsvorsorge auffordern. Im Hinblick auf die hier thematisierte polizeiliche Informationsvorsorge haben ScholziPitschas4 schon unmittelbar nach Erscheinen des "Volkszählungs"-Urteils Inhalt und Grenzen eines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung näher abgesteckt. Die Verfasser gehen dabei von der dem Staat gestellten Aufgabe aus, die Sicherheit zu gewährleisten 5 , zu deren Erfüllung der Staat hinreichende Informationen benötigt. Der hierdurch entstehende staatliche Informationsbedarf ist kein bloßer Annex der jeweils zu erfüllenden Staatsaufgabe, sondern - so legen Scholzl Pitschas überzeugend dar - eine eigenständige staatliche Aufgabe zur Informationsvorsorge6 . Diesen staatlichen Informationsvorsorgeauftrag qualifizieren Scholzl Pitschas als "prinzipale Verfassungszielbestimmung des Rechtsstaates"7. Im Hinblick hierauf darf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht verabsolutiert werden, zumal bei der Interpretation der Verfassung nicht angenommen werden kann, daß das Grundgesetz einerseits eine "prinzipale Verfassungszielbestimmung" enthält, andererseits aber die zu ihrer Erfüllung erforderlichen (Informations-)Mittel versagt. Zwar kann von der Aufgabe zur Gewährleistung der Sicherheit nicht auf eine Befugnis zu Grundrechtseingriffen geschlossen werden. Dies wäre ein unzulässiger Schluß von einer Aufgabe auf eine Befugnis. Ein solcher liegt aber dann nicht vor, wenn man mit ScholziPitschas aus der verfassungsrechtlichen Zielsetzung nicht auf eine Eingriffsermächtigung, sondern nur auf eine rechtlich verbindliche Zielbestimmung für die staatlichen Organe zu Aktivitäten im Rahmen ihrer Befugnisse schließt. Diese an die Qualität der Informationsvorsorge als Staatsaufgabe und Verfassungsziel anknüpfende Argumentation hat zwar teilweise vehemente Kritik 8 erfahren, wird sich aber im folgenden aus dem Blickwinkel der unter dem "Grundrecht auf Sicherheit" zusarnmengefaßten Schutzpflichten bestätigen. Das "Grundrecht auf Sicherheit" erweist sich dabei im Ergebnis ebenso wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff, zumal die Schutzpflichten, die zum "Grundrecht auf Sicherheit" zusamDazu C. Illig, Das Vorsorgeprinzip im Abfallrecht, 1992, S. 11. ScholzIPitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, S. 102 ff. 5 Vgl. zu diesem klassischen Staatszweck bereits oben im Text sub § 8. B. H. 6 ScholzlPitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, S. 104. 7 ScholzlPitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, S. 110. S Siehe z. B. E. Denninger, KJ 1985, 215 ff. wieder abgedruckt in: ders., Der gebändigte Leviathan, 1990, S. 375 ff., 376 ff.; ders., KritV 1986,291 ff., wieder abgedruckt in: ders., Der gebändigte Leviathan, 1990, S. 51 ff., 54 ff. 3
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3. Teil: VerfassungsrechtIiche Rezeption
mengefaßt werden, im Grundgesetz "nur indirekt, nur verdeckt und nur partiell,,9 zum Ausdruck kommen. Das "Grundrecht auf Sicherheit" bedarf daher ebenso wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Konkretisierung durch die es betreffenden verfassungsrechtlichen Aspekte. Als solche stellen sich insbesondere die staatlichen Schutzpflichten, das Rechts- und Sozialstaatsprinzip dar.
A. Keine ausdrückliche Regelung im Grundgesetz Das Grundgesetz regelt das "Grundrecht auf Sicherheit" nicht ausdrücklich. Art. 1 I 2 GG weist zwar insbesondere in Verbindung mit Art. 1 III GG auf die Möglichkeit von Schutzpflichten hin lO, bedarf aber der interpretatorischen Erläuterung, zumal "schützen" i. S. d. Art. 1 I 2 GG auch als Durchsetzung der grundrechtlichen Abwehrfunktion verstanden werden kann ll. In eben diesem Sinn war auch eine frühere, nicht in das Grundgesetz aufgenommene Fassung des Art. 2 11 GG gemeint, derzufolge jeder das "Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, auf persönliche Freiheit und Sicherheit,,12 haben sollte. Dieses Recht auf Sicherheit sollte nur die Sicherheit vor dem staatlichen Eingriff gewährleisten 13. In seiner heutigen Fassung begründet das Grundgesetz keine allgemeine, ausdrückliche, staatliche Schutzpflicht, sondern schreibt nur einzelne, besondere Schutzaufträge explizit vor. Zu nennen sind hier Art. 6 I, IV, 7 IV und 5 III 1 GG I4 . Soweit das Grundgesetz Schutzpflichten und damit ein "Grundrecht auf Sicherheit" auch nur ansatzweise vorsieht, kommt dies in den Schranken der Freiheitsgrundrechte zum Ausdruck l5 .
9 J. Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § III Rdnr.12. 10 E. Stein, Staatsrecht, 14. Aufl. 1993, § 42 V 5. Zu ausdrücklichen Schutzpflichten im Grundgesetz vgl. P. Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 26 ff. 11 J. Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § III Rdnr.13. 12 Siehe hierzu JöR n.F. Bd. I (1951), S. 59 ff. 13 J. Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § III Rdnr. 23 m. Fußn. 49. 14 Siehe hierzu K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/l, 1988, S. 934 ff. 15 Deutlicher demgegenüber Art. IOI BV: "Jedermann hat die Freiheit, innerhalb der Schranken der Gesetze und der guten Sitten alles zu tun, was anderen nicht schadet." - O. Seewald, Zum Verfassungsrecht der Gesundheit, 1981, S. 79 ff., 141 ff. leitet die Schutzpflichten aus den Grundrechtsschranken ab.
§ 10 "Grundrecht auf Sicherheit" als Gegenpol
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B. Staatliche Schutzpflichten als verfassungsrechtliche Grundlagen eines "Grundrechts auf Sicherheit" Staatliche Schutzpflichten resultieren aus der staatlichen Fundamentalfunktion zur Sicherheitsgewährung, die ihrerseits mit der Freiheit korrespondiert. Rechtlich knüpfen die Schutzpflichten des Staates an dessen Gewaltmonopol und die Grundrechte an. Ein subjektives Recht gewähren die staatlichen Schutzpflichten dabei nicht allgemein, sondern nur, wenn dem Staat eine Garantenstellung zukommt!6.
I. Grundrechtliche Schutzpflichten
Die Existenz grundrechtlicher Schutzpflichten ist zwar allgemein anerkannt!7. Insbesondere bejaht das BVerfG in seiner Kalkar-Entscheidung!8 eine staatliche Pflicht zur Gefahrenvorsorge auch unterhalb der Gefahrenschwelle bis hin zum Restrisiko, bei dem Gefahren nach praktischer Vernunft ausgeschlossen sind. Vehement umstritten sind aber die näheren Modalitäten der staatlichen Schutzpflicht!9. 1. Grundrechtsdimensionen und staatliche Schutzpjlichten
Rechtsprechung und Literatur ordnen die staatlichen Schutzpflichten unterschiedlichen Grundrechtsdimensionen 20 zu. Dabei wird nahezu das gesamte Spektrum an Möglichkeiten vertreten: Die staatlichen Schutzpflichten werden ebenso als Aspekte der in den Grundrechten zum Ausdruck kommenden objektiven Wertordnung wie als Teil der abwehr- und leistungsrechtlichen Dimensionen der Grundrechte verstanden.
a) Schutzpflicht und Grundrechte als objektive Wertentscheidungen Das BVerfG2 ! und weite Teile der Literatur22 identifizieren die grundrechtlichen Schutzpflichten mit dem Charakter der Grundrechte als objektive WertentscheiVgl. dazu D. Merten, BayVBI. 1978,554 (555). Zur dogmatischen Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten durch das BVerfG und die Literatur zusammenfassend siehe P. Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 29 ff., 50 ff., 37 ff. 18 BVerfGE 49, 89 ff. 19 Vgl. z. B. den Überblick bei A. Pietrzak, JuS 1994,748 ff. 20 Siehe dazu bereits ausführlich oben im Text sub § 9. A. 11. 2. und B. 11. I. b. 21 BVerfGE 77, 170 (214); 65, I (45 f.); 56, 54 (73, 78); 53, 30 (53, 57); 49, 89 (141 f.); 49,24 (53); 39, 1 (41 f.). 16 17
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dungen. Dabei wird teilweise sogar ein Vorrang der grundrechtlichen Qualität als Schutzpflicht vor derjenigen als objektiver Wertentscheidung erwogen 23 und bejaht24 . Zur Begriindung wird auf die Verpflichtung des Staates verwiesen, eine Rechtsordnung zu schaffen, die die Grundrechte schützt und die Entfaltung der durch sie gewährleisteten Freiheiten zuläßt. Folgt man der umgekehrten überwiegenden Meinung, derzufolge die Schutzpflichten aus dem Charakter der Grundrechte als objektiver Wertordnung resultieren, wird den Schutzpflichten hierdurch ein nur sekundärer Rang zugebilligt. Während nämlich bei einem Vorrang der Schutzpflicht vor dem Verständnis der Grundrechte als objektiver Wertordnung ebenso wie bei einer Ableitung der Schutzpflicht aus der grundrechtlichen Abwehr- oder Leistungsdimension die Schutzpflichten subjektive öffentliche Rechte markieren, entstehen sie bei einer Deduktion aus dem als vorrangig betrachteten Charakter der Grundrechte als objektiver Wertordnung als nur objektive Rechte, deren Erfüllung der Bürger nicht erzwingen kann 25 . Bei einer Ableitung der Schutzpflichten aus der Dimension der Grundrechte als objektiver Wertordnung bleibt schließlich zweifelhaft, ob der Umfang der Schutzpflichten den staatlichen Unterlassungspflichten entspricht oder dahinter zuriickbleibt 26 .
b) Abwehrdimension der Grundrechte und Schutzpflicht Andere 27 , insbesondere D. Murswiek?-8 und J. Schwabe 29 ordnen die Schutzpflichten der Abwehrdimension der Grundrechte ZU30, indem sie dem Staat die Erteilung einer Erlaubnis oder allgemein: das Unterlassen eines Verbots als Handlung 22 K. Hesse, in: BendalMaihoferNogel, (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Auf!. 1994, § 5 Rdnrn. 26, 50; PierothlSchlink, Staatsrecht 11, 11. Auf!. 1995, Rdnr. 103; E.-W. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (12 f.); G. Robbers, Sicherheit als Menschschenrecht, 1987, S. 121, 194 f.; H. D. Jarass, AöR 110 (1985), 363 (378 f.); J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 21 ff., 33 ff.; D. Rauschning, VVDStRL 38 (1980), 167 (183). A.A. D. Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 106. 23 Vgl. insb. E.-W. Böckenförde, Der Staat 29 (1990),1 (12). 24 H. H. Klein, DVBl. 1994,489 (491 m. Fußn. 38). 25 U. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 44. 26 Siehe hierzu R. Fleury, Das Vorsorgeprinzip im Umweltrecht, 1994, S. 34 f. 27 Vgl. dazu G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 79 ff. 28 D. Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 62 ff., 91 ff., 102 ff. - ders., WuV 1986, 182 ff.; ders., NVwZ 1986, 611 f.; ders., NVwZ 1987,481 (Stellungnahme zu S. Langer, NVwZ 1987, 195 ff.). 29 J. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 213 ff.; ders., Die sog. Drittwirkung der Grundrechte, 1971, S. 16 f., 26 ff., 62 ff. 30 Zusf. dazu C. Blig, Das Vorsorgeprinzip im Abfallrecht, 1992, S. 29 ff.
§ 10 "Grundrecht auf Sicherheit" als Gegenpol
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zurechnen. Wegen des staatlichen Gewaltmonopols müsse nämlich - so wird argumentiert - der Bürger nicht verbotene Beeinträchtigungen anderer hinnehmen. Die Grundrechtsbeeinträchtigung komme hierbei zum einen im Verbot zur Selbstverteidigung und zum anderen im Fehlen eines Eingriffsverbots gegen Dritte zum Ausdruck3 !. Hierdurch wird die tripolare Beziehung zwischen StaatlBürger und BürgerIBürger, die den staatlichen Schutzpflichten zugrundeliegt, zurückgeführt auf den bipolaren Antagonismus zwischen Staat und Bürgern. Hierfür spricht auch, daß sich die Schutzpflichten auf die Gewährleistung des status quo, d. h. auf die Unversehrtheit der Rechte in ihrer bestehenden und realisierten Form beschränken und nicht etwa deren inhaltlichen Umfang thematisieren. Die grundrechtliche Abwehrdimension und die Schutzpflichten haben vielmehr ein gleiches inhaltliches Substrat32 . Eine aus der grundrechtlichen Abwehrdimension abgeleitete Schutzpflicht kann überdies - anders als die Zurückführung der Schutzpflicht auf die Grundrechte als objektive Wertordnung - deren vom BVerfG33 mehrfach angenommenen Charakter als subjektives öffentliches Recht erklären und gewährt den Schutzpflichten einen dem grundrechtlichen Abwehrgehalt entsprechenden Rang im Spektrum der Grundrechtsdimensionen 34 . Diese vornehmlich von D. Murswiek gefundene Ableitung der Schutzpflichten aus der grundrechtlichen Abwehrdimension unter Hinweis auf eine umfassende staatliche Garantenpflicht entspricht zudem einer insbesondere von N. Luhmann hervorgehobenen soziologischen Beobachtung 35 : Die zunehmende Komplexität von Handlungsund Verursachungszusammenhängen erfordert die Bestimmung eines ersatzweisen Verantwortlichen. Als solcher stellt sich der Staat dar, da er sich die gesellschaftlich produzierten Risiken zurechnen lassen muß 36 . Diese Deduktion der Schutzpflicht aus dem Abwehrgehalt der Grundrechte erscheint aber schon problematisch, wenn der Staat ein grundrechtsbeeinträchtigendes Verhalten Dritter nicht (einfach-)gesetzlich ausdrücklich gestattet hat. Noch zweifelhafter ist, ob eine legislative Untätigkeit auch schon beim Auftreten neuer Gefahren eine staatliche Garantenpflicht begründen kann 3? Hinter diesen Detailfragen steht das allgemeinere Problem, ob dem Staat die Erlaubnis, Genehmigung oder das bloße Nichteinschreiten zurechenbar sind. Dies ist zu bejahen, wenn eine staatliche Schutzpflicht besteht. Die Bewertung eines staatlichen Unterlassens als Eingriff setzt mithin eine Schutzpflicht voraus, begründet sie aber nicht 38 .
D. Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 104, 109. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 11111,1988, S. 728. 33 BVerfGE 79, 174 (201 f.); 77, 381 (402 f.); 77, 170 (214). 34 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 11111,1988, S. 729. 35 Auf diesen Zusammenhang weist U. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 58 hin. 36 Vgl. dazu N. Luhmann, Soziologie des Risikos, 1991, S. 35. 37 U. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 46 f. 31
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3. Teil: VerfassungsrechtIiche Rezeption
Darüber hinaus entsteht der grundrechtliehe Abwehranspruch erst, wenn das Grundrecht verletzt oder jedenfalls erheblich gefährdet wird und eine Verletzung des grundrechtlichen Schutzguts zumindest hinreichend wahrscheinlich ist. Auch das staatliche Gewaltmonopol39 verpflichtet den Bürger zudem nicht, Eingriffe Dritter zu dulden, sondern reduziert die Reaktionsmöglichkeiten nur auf das Ausweichen vor dem Angriff oder auf die Selbstverteidigung4o . Selbst wenn man eine solche Duldungspflicht entgegen hiesiger Ansicht bejahen wollte, resultiert daraus zunächst eine Pflicht des Staates, zukünftige Eingriffe Dritter zu verhindern, nicht aber ein Anspruch auf Kompensation durch eine SChutzpflicht41 . Darüber hinaus divergieren der Abwehrgehalt der Grundrechte und die Schutzpflichten schon strukturell insofern, als erstere allein die "vertikale" StaatlBürger-Beziehung, letztere hingegen auch das "horizontale" BürgerlBürger-Verhältnis betreffen. Während die klassisch-liberale Abwehrdimension der Grundrechte ein bipolares Verhältnis betrachtet, liegt den Schutzpflichten eine tri polare Relation zugrunde. Insgesamt ist die Reduktion der staatlichen Schutzpflichten auf den Abwehrgehalt der Grundrechte aber aus einem anderen Grund abzulehnen: Diese Rückführung in die herkömmliche Grundrechtsdogmatik muß von ihren Vertretern nämlich bei näherem Zusehen durch deren Auflösung bezahlt werden. Denn im Gegensatz zur klassisch-liberalen Grundrechtstheorie, die sich in der grundrechtlichen Abwehrdimension manifestiert, wird Freiheit jetzt als vom Staat durch die Rechtsordnung konstituiert und nicht mehr als etwas von ihm zu beachtendes vorgegebenes verstanden. Die überkommenen Freiheitsrechte der Bürger werden dabei uminterpretiert in Handlungspflichten des Staates und Duldungspflichten der Bürger42 .
c) Schutzpflichten als Teil der grundrechtlichen Leistungsdimension Die Leistungsdimension der Grundrechte thematisieren die Schutzpflichten insofern, als sie es nicht genügen lassen, daß der Staat selbst die Freiheitssphäre der Bürger nicht beeinträchtigt43 . Gefordert wird vielmehr, daß der Staat dem Bürger auch im ,,horizontalen" BürgerlBürger-Verhältnis Sicherheit gegenüber seinen Mitbürgern gewährleistet44 .
38 G. Hennes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 97; G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 125 f., 190 f.; R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 417, 418 f.; D. Rauschning, VVDStRL 38 (1980), 167 (184 f.). 39 Dazu sogleich noch näher unten im Text sub § 10. B. 11. 40 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 111/1, 1988, S. 730. 41 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 111/1,1988, S. 731. 42 H. A. Hesse, Der Schutzstaat, 1994, S. 18. 43 Zum Verhälntis von Schutzpflichten und Teilhaberechten vgl. M. Hund, in: FürstlHerzog/Umbach (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. 2, 1987, S. 1445 ff.
§ 10 "Grundrecht auf Sicherheit" als Gegenpol
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Daß grundrechtliche Schutzpflichten weniger das "vertikale" StaatJBürger-Verhältnis, als vielmehr die ,,horizontale" Beziehung gegenüber Dritten betreffen, wird besonders in den Fällen deutlich, in denen vom Staat nicht nur Schutz gegenüber den Mitbürgern, sondern gegenüber auswärtigen Staaten gefordert wird. Die dogmatische Zuordnung dieser Fälle4s zu den Schutzpflichten ist streitig 46 . Gegen sie spricht insbesondere, daß andere Staaten, anders als die Mitbürger, nicht der deutschen Staatsgewalt unterliegen.
d) Schutzpflichten als grundrechtlicher "Querschnittsbegriff' Gleichwie welcher Grundrechtsdimension man die Schutzpflichten auch zuordnet, sind sie jedenfalls nicht generell aus einem einzelnen Grundrecht abzuleiten, sondern werden durch das jeweils sachlich einschlägige aktualisiert. Die Rechtsprechung des BVerfG hierzu ist zwar uneinheitlich, weil das Gericht einerseits teilweise nur auf die speziellen Grundrechte - insbesondere Art. 2 11 I GG - abstellt und diesen eine objektive Wertentscheidung entnimmt, die für alle Bereiche der Rechtsordnung gilt und verfassungsrechtliche Schutzpflichten begründet47 , andererseits aber - sei es allein, sei es ergänzend - Art. 1 I 2 GG zur Begründung heranzieht 48 . Art. 1 I 2 GG spiegelt zwar die Existenz staatlicher Schutzpflichten wider. Diese beschränkt sich auch nicht auf die Menschenwürde, sondern ist im Hinblick auf das staatliche Gewaltmonopol und aus der Perspektive des Rechts- und Sozialstaatsprinzips49 auf alle Grundrechte zu übertragenso. Entscheidend für die Annahme von Schutzpflichten ist aber nicht der Wortlaut des Art. 1 I 2 GG; diesem sind vielmehr nur in der Zusammenschau mit dem Grundgesetz insgesamt staatliche Schutzpflichten zu entnehmen. Die Schutzpflichten sind dabei insbesondere aus den "unspezifizierten, ganzheitlichen Verweisungsklauseln"Sl der benannten 44 Zum Leistungsgehalt der Schutzpflichten vgl. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 11111, 1988, S. 947 f.; R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S.418. 45 Vgl. BVerfGE 77,170 (214 ff.); 72, 66 (75 ff.); 66, 39 (57 ff.). 46 Verneinend J. Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111 Rdnr. 79 m. Fußn. 174; J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 30bejahend J. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 120 ff., 122 ff. 47 BVerfGE 85,191 (212); 79, 174 (201 f.); 77,170 (214). 48 BVerfGE 49,89 (142); 46, 160 (164); 39, 1 (41). - Zu BVerfGE 88, 203 (251) siehe in diesem Zusammenhang insbesondere HerrnesIWalther, NJW 1993,2337 (2339). 49 Vgl. dazu noch ausführlicher unten im Text sub § 10. B. 11., III., IV. 50 J. Isensee, in: ders.lKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111 Rdnrn. 83 ff.; H. H. Klein, DVBI. 1994,489 (493). 51 J. Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111 Rdnr.13.
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Schranken der Freiheitsgrundrechte - insbesondere "verfassungsmäßige Ordnung" (Art. 2 I GG), "um strafbaren Handlungen vorzubeugen" (Art. 11 11 GG), "zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung" (Art. 13 III GG) sowie der "Rechte anderer" (Art. 2 I GG) - abzuleiten.
e) Gefahrenvorsorge und Schutzpflichten Obwohl die genaue dogmatische Ableitung der Schutzpflichten aus den Grundrechten und ihr näherer Umfang noch ungeklärt sind, bilden sie doch eine verfassungsrechtliche Erklärung für die Erweiterung der Staatstätigkeit über die Gefahrenabwehr hinaus auch zur Gefahrenvorsorge. Schutzpflichten richten sich nämlich vorrangig nicht gegen einen bestimmten Eingriff, sondern wollen primär ein bestimmtes Grundrecht schützen. Die übrigen Grundrechtsdimensionen, namentlich die klassische Abwehrdimension der Grundrechte, entsprechen in ihrer Schutzperspektive der Gefahrenabwehr: Sie wollen einen singulären bereits erfolgten oder jedenfalls konkret drohenden Eingriff, dessen Eintritt mindestens hinreichend wahrscheinlich ist und der dem Staat oder Dritten zurechenbar ist, abwenden. Schutzpflichten können indessen schon durch die kumulative Einwirkung verschiedener Faktoren ausgelöst werden, ohne daß die einzelne Einwirkung allein einen Eingriff darstellen muß 52 . Damit wird der Begriff des Eingriffs von der einzelnen Verletzungshandlung gelöst und auf die Gesamtkonstellation bezogen.
2. Innere Sicherheit als grundrechtliches Schutzgut
Im Zentrum sowohl der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung als auch der Stellungnahmen in der Literatur zu den Schutzpflichten stehen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit als Objekte der die Schutzpflicht begründenden Gefährdung. Hierbei handelt es sich indessen nur um eine Konstellation aus einer Vielzahl von Möglichkeiten, die zudem strukturelle Besonderheiten aufweist. Denn Art. 2 11 1 GG ist insofern ein untypisches Schutzgut einer Schutzpflicht, als das Recht auf Leben, aber auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit gegenüber gegenläufigen Interessen prinzipiell vorrangig sind. Schutzpflichten sind keineswegs nur in diesem Sonderfall denkbar, sondern bestehen in Bezug auf die Schutzgüter aller Freiheitsgrundrechte. Schutzgüter sind daher neben der Gesundheit auch Freiheit und Eigentum. Darüber hinaus - und hier besonders interessierend - ist auch die innere Sicherheit ein anerkanntes Schutzgut. Als Staatsaufgabe53 kommt der inneren Sicherheit verfassungsrechtlicher Rang zu. Der Begriff der "inneren Sicherheit" bündelt die sicherheitsrelevanten Aussa52 53
C. Illig, Das Vorsorgeprinzip im Abfa1lrecht, 1992, S. 40. Dazu z. B. H.-P. BuH, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 2. Auf!. 1977, S. 347.
§ 10 "Grundrecht auf Sicherheit" als Gegenpol
437
gen der Grundrechte, insbesondere der grundrechtlichen Schutzpflichten, des Gewaltmonopols sowie des Rechts- und Sozialstaatsprinzips 54.
11. Das staatliche Gewaltmonopol und die Staatsaufgabe Sicherheit als Anknüpfungspunkt für Schutzpflichten Die Ableitung von Schutzpflichten aus den Grundrechten wird weithin anerkannt55 , obwohl die bundesverfassungsgerichtliche Argumentation insoweit jedenfalls nicht zwingend ist. Die grundrechtlichen Schutzpflichten sind nämlich weder die einzigen Instrumente zum Schutz des Bürgers, noch ist gesichert, daß der grundgesetzlich für die Menschenwürde eingeforderte Schutz auch für die übrigen Grundrechte gilt56 • Darüber hinaus haben v.BrünneckiSimon in ihrem Sondervotum5 ? zur Entscheidung des BVerfG über die Freigabe der Abtreibung im Rahmen der Fristenlösung grundsätzliche und fundamentale Kritik an der dogmatischen Konstruktion der Schutzpflichten angemeldet. v.Brünneck/Simon kritisieren, daß "eine objektive Wertentscheidung dazu dienen soll, eine Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß von Strafnormen, also zum stärksten denkbaren Eingriff in den Freiheitsbereich des Bürgers zu postulieren." Hierin sehen sie eine Verkehrung der Funktion der Grundrechte in ihr Gegenteil und warnen davor, daß die Grundrechte so "unter der Hand aus einem Hort der Freiheitssicherung zur Grundlage einer Fülle von freiheitsbeschränkenden Reglementierungen werden" könnten. Die Schärfe der Argumentation des Sondervotums richtet sich dabei weniger gegen die fundamentale grundrechtsdogmatische Bedeutung der Entscheidung, sondern darf vielmehr und jedenfalls zu einem nicht unerheblichen Teil auf die ebenso kontroverse wie emotionale Diskussion des Sachverhalts - die Zulässigkeit von Schwangerschaftsunterbrechungen - zurückgeführt werden. Daß die Existenz staatlicher Schutzpflichten gleichwohl kaum bestritten wird ss , kann mit Di Fabio 59 auf die Ablösung der bislang vorherrschenden bipolaren Anti54 V. Götz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, § 79. Zum Gewaltmonopol, Rechts- und Sozialstaatsprinzip vgl. sogleich unten im Text sub 11. III. und IV. 55 Kritik wurde nur an einzelnen Entscheidungen, in denen das BVerfG Schutzpflichten zur Begründung heranzog, geübt. Vgl. dazu insbesondere das Sondervotum Rupp von BrünneckiSimon, BVerfGE 39, 68 (73). 56 J. Isensee, in: ders.lKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111 Rdnm.80ff. 57 Rupp von BrünneckiSimon, BVerfGE 39, 68 (73) - Sondervotum. 58 C.-D. Bracher, Gefahrenabwehr durch Private, 1987, S. 101 ff.; G. Herrnes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 163; G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 13; J. Isensee, in: ders.lKirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, § 13 Rdnr. 79; J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 15, 17. 59 U. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 43.
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3. Teil: VerfassungsrechtIiche Rezeption
nomie zwischen freiheits gefährdendem Staat einerseits und Freiheit erstrebendem Bürger andererseits zurückgeführt werden. Dieser Wandel hin zu einer Forderung nach einer multipolaren Sicherheitsgewährleistung beruht seinerseits auf der Erkenntnis, daß nicht nur der Staat, sondern vielmehr auch die Gesellschaft, Wissenschaft, Wirtschaft, Technik etc. die Freiheit des Bürgers gefährden. Darüber hinaus ist dem Sondervotum insofern Inkonsequenz vorzuwerfen, als v.Brünneck/Simon zwar einerseits den Charakter der Grundrechte als objektive Wertentscheidungen anerkennen, andererseits aber eine hieraus resultierende Schutzpflicht verneinen. Dem ist mit dem BVerfG60 entgegenzuhalten, daß, "wenn der Staat durch eine wertentscheidende Grundsatznorm verpflichtet ist, ein besonders wichtiges Rechtsgut auch gegen Angriffe Dritter wirksam zu schützen, oft Maßnahmen unvermeidlich sein werden, durch welche die Freiheitsbereiche anderer Grundrechtsträger tangiert werden. Insofern ist die Rechtslage beim Einsatz sozialrechtlicher oder zivilrechtlicher Mittel grundsätzlich nicht anders als beim Erlaß einer Strafnorm." Zugespitzt bedeutet dies: Wenn es staatliche Schutzpflichten auf welcher verfassungsrechtlichen Grundlage auch immer gibt, ist es unabdingbar, aus eben dieser verfassungsrechtlichen Grundlage auch eine Pflicht zum Eingriff des Staates in Rechte Dritter zu bejahen. Das tripolare Verhältnis zwischen Staat, Störer und Gestörtem bietet keine andere Möglichkeit: Ist der Staat zum Schutz des einen Bürgers verpflichtet, muß er notwendigerweise in die Freiheit des anderen Bürgers jedenfalls dann eingreifen, wenn der letztere bei der Ausübung seiner Freiheit in Rechte des ersteren eingreift. Dem Sondervotum ist aber insoweit zu folgen, als die staatliche Schutzpflicht keinen beliebig intensiven Eingriff in Rechte Dritter legitimiert. Gefordert ist vielmehr ein Ausgleich zwischen den Schutzinteressen des einen und den kollidierenden Freiheitsinteressen des anderen Bürgers. Dieser ist mit Hilfe des Übermaßverbots und im Wege der praktischen Konkordanz zu finden. Unabhängig hiervon finden die Schutzpflichten aber jedenfalls außerhalb der Grundrechte in der Staatsaufgabe Sicherheit eine hinreichende Basis. Die Staatsaufgabe Sicherheit ist der eigentliche Staatszweck, dessen Umsetzung insbesondere auch das staatliche Gewaltmonopol dient61 . Dem (grundsätzlichen) Verzicht der Bürger auf Privatgewalt korrespondiert deren Anspruch auf Schutz vor Rechtsverletzungen oder -gefährdungen durch Dritte62 . Schutzpflichten ergeben sich damit zwar nicht aus dem Gewaltmonopol selbst, sondern dienen der Erfüllung der originären Staatsaufgabe, Sicherheit zu gewährleisten. Wird diese aber erfüllt, rechtfertigt dies erst das staatliche Gewaltffionopol63.
BVerfGE 39, 1 (47). V gl. z. B. C. Link, VVDStRL 48 (1990), 7 (27). 62 U. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 43; J. DietIein, Die Lehre von den grundrechtIichen Schutzpflichten, 1992, S. 22, 26 ff. 63 J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 58. 60 61
§ 10 "Grundrecht auf Sicherheit" als Gegenpol
439
Daß es Aufgabe des Staates ist, die Sicherheit zu gewährleisten, war im 19. Jahrhundert selbstverständlich64 ; eine diesbezügliche verfassungsrechtliche Regelung erschien aus der damaligen Perspektive überflüssig65 . Die Qualität von Sicherheit als Staatsaufgabe ist daher evident; dies gilt aber nicht für ihre Zuordnung zu den Grundrechten. Die staatlichen Schutzpflichten sind nicht notwendigerweise grundrechtliche Schutzpflichten. Statt den Grundrechten können sie vielmehr auch als Inhalt der Staatlichkeit oder als Element des Sozial- und Rechtsstaatsbegriffs verstanden werden.
III. Staatliche Schutzpflichten aus dem Rechtsstaatsprinzip
Schließlich verbietet auch das Rechtsstaatsprinzip66, die elementaren Rechtsgüter anderer zu verletzen 67 . Der Staat darf sich dabei nicht darauf beschränken, eigene Eingriffe zu verhindern; er muß vielmehr auch von Dritten ausgehendes Unrecht unterbinden. Das Rechtsstaatsprinzip gibt dem Staat gleichfalls auf, mögliche Schäden abzuwehren. Scholv'Pitschas 68 entnehmen dem Rechtsstaatsprinzip dementsprechend den Auftrag, Rechtssicherheit und Rechtsfrieden zu wahren69 . Ein effektiver Schutz von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden setzt aber eine effektive Gefahrenabwehr ebenso wie einen effektiven Rechtsschutz voraus. Diese können nur gewährleistet werden, wenn der Staat Informationsvorsorge betreibt.
Andererseits wird umgekehrt im Ausbau der staatlichen Gefahren- und Informationsvorsorge auch eine nicht zu unterschätzende Gefahr für das Rechtsstaatsprinzip erblickt. Mit der Zulassung von Eingriffen nicht erst zur Gefahrenabwehr, sondern schon zur Gefahrenvorsorge entscheiden nicht mehr gesetzliche Tatbestände, sondern, so wird befürchtet, die subjektiven Einstellungen der Amtsträger über die zu treffenden Maßnahmen. Gesetzesbindung der Verwaltung und ihre Kontrolle durch die Gerichtsbarkeit werden geschwächt. Voraussehbarkeit und BerechenbarVgl. zur Entwicklung der Sicherheit als Staatszweck bereits oben im Text sub § 8. B. 11. DrewslWackeNogellMartens, Gefahrenabwehr, 9. Auf!. 1986, S. 2 ist daher zuzustimmen, wenn sie feststellen, daß auch nach dem Grundgesetz die Gefahrenabwehr eine notwendige staatliche Aufgabe ist. 66 Grundlegend dazu D. Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S. 35 ff. 67 H. H. Klein, DVBI. 1994,489 (491); G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 133 ff. 68 ScholzlPitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, S. 108 ff. 69 Allgemein zu Rechtssicherheit und Rechtsfrieden als Elemente des Rechtsstaatsprinzips U. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 446 f.; E. Benda, in: ders./MaihoferNogel, (Hrsg.), Handb4ch des Verfassungsrechts, 2. Auf!. 1994, § 17 Rdnm. 14 ff.; E. Schmidt-Aßmann, in: IsenseelKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, § 24 Rdnm. 81 ff. 64 65
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
keit staatlicher Entscheidungen sind gefährdet. Umfassende Vorsorge bedroht durch allseitige Überwachung die Freiheit der Bürger7o . Die mit der Normenflut einhergehende Rechtsunsicherheit und das ihr folgende Vollzugsdefizit sowie das permanente Hinterherhinken71 des Rechts hinter der immer rasanter fortschreitenden wissenschaftlich-technischen Entwicklung gefährden den Bestand des Rechts insgesamt. Gleichwohl kann auf Maßnahmen zur Gefahrenvorsorge nicht verzichtet werden. Eine Fehlerkorrektur nur und erst dann, wenn der Fehler definitiv erkannt ist, reicht nur aus, wenn eine Korrekturmöglichkeit auch besteht. Eben dies ist in der modemen Risikogesellschaft nicht mehr überall anzunehmen. Daher kann auf eine staatliche Einflußnahme schon bei einer auch noch nicht vollständig nachweisbaren Gefährdung nicht verzichtet werden. Unabhängig hiervon mag das Rechtsstaatsprinzip zwar staatliche Handlungspflichten zum Schutz der Bürger begründen, konkrete inhaltliche Aussagen sind ihm indessen nicht zu entnehmen.
IV. Sozialstaatsprinzip und staatliche Schutzpflichten Das Sozialstaatsprinzip beauftragt den Staat mit der Gesellschaftsgestaltung; es zielt auf die dauerhafte Sicherstellung zentraler Kategorien gesellschaftlicher Wohlfahrt bzw. Lebensqualität ab. Damit ist der Staat aufgefordert, durch Dritte dem einzelnen drohende Schäden abzuwenden und zu verhindern. Dem Sozialstaatsprinzip wurde deshalb eine Verpflichtung des Staates zu Leistungen, namentlich zum Umweltschutz noch vor dessen Aufnahme in Art. 20a GG entnommen. Insbesondere J. Isensee differenziert demgegenüber zwischen staatlichen Gestaltungs- und Leistungsaufträgen einerseits und dem Schutz vor Beeinträchtigungen durch Dritte andererseits und sieht nur erstere durch das Sozialstaatsprinzip erfaßt 72 . Zur Begründung wird die Unterscheidung zwischen Gewaltmonopol, liberalem und sozialem Rechtsstaat angeführt. Die Verpflichtung des Staates zum Schutz vor Beeinträchtigungen durch Dritte wird dabei (ausschließlich) dem Gewaltmonopol, der staatliche Leistungs- und Gestaltungsauftrag demgegenüber dem sozialen Rechtsstaat zugeordnet. Dem ist entgegenzuhalten, daß zwischen der Beeinträchtigung durch Dritte und sozialer Hilfe nicht trennscharf differenziert werden kann 73. Darüber hinaus markieren das staatliche Gewaltmonopol, der liberale und soziale R. Fleury, Das Vorsorgeprinzip im Umweltrecht, 1994, S. 15 ff. Vgl. dazu R. Pitschas, DÖV 1989,785 (787). 72 J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 17 f. 73 Hierzu sowie zum Verhältnis von Sozialstaatsprinzip und Schutzpflichten insgesamt G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 129 ff., der das SoziaIstaatsprinzip im Ergebnis für die Ableitung von Schutzpflichten jedoch nicht für ausreichend konkret hält. 70 71
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Rechtsstaat zwar unterschiedliche Entwicklungsstufen des modemen Staates; diese gehen jedoch ineinander über und lösen einander nicht ab. Scho/vPitschas schließen daher mit Recht aus der durch die modeme Informations- und Kommunikationstechnik eröffneten Möglichkeit, soziale Systeme durch ihre Informationsprozesse zu steuern, auf eine aus dem Sozialstaatsprinzip resultierende staatliche Informationsverantwortung und - jedenfalls objektive - Pflicht zur Informationsvorsorge74 . Subjektive Rechte ergeben sich indessen weder aus dem Rechts- noch aus dem Sozialstaatsprinzip75. Das Sozialstaatsprinzip ist nur "Auftrag und Richtlinie" bzw. "Verfassungsprogramm, das sich je nach Sachlage zu einem Verfassungsauftrag verdichten kann,,76.
c. Verfassungsdogmatische Zuordnung des "Grundrechts auf Sicherheit"
Die staatlichen Schutzpflichten, die zum "Grundrecht auf Sicherheit" zusammengefaßt werden, stellen ebenso wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung einen verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriff dar77 .
I. Abgrenzung zu anderen tripolaren (Verfassungs-)Rechtsfiguren Soziale Grundrechte, Drittwirkung der Grundrechte und Sozialstaatsprinzip
Die Schutzpflichten thematisieren ebenso wie die sozialen Grundrechte, die Drittwirkung der Grundrechte und das Sozialstaatsprinzip nicht nur das bipolare, "vertikale" StaatIBürger-Verhältnis, sondern auch die ,,horizontale" BürgerlBürger-Beziehung. J. Isensee spricht insoweit für Schutzpflichten prägnant von einem "Rechts-Dreieck" 78.
74 ScholzlPitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, S. 105 f. 75 D. Merten, BayVBI. 1978,554 (555 f.). 76 P. Badura, Der Staat 14 (1975), 17 (32, 34). 77 Ähnlich U. K. Preuß, in: D. Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 523 ff., 542, der die aus dem "Grundrecht auf Sicherheit" ersprießende Risikovorsorge als ein "übergreifendes Rechtsprinzip" begreift. J. Dietiein, Die Lehre von den grundrechtiichen Schutzpflichten, 1992, S. 31 ff. spricht von den Schutzpflichten als "obiter dicta" des Grundgesetzes. 78 J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 34. - Ähnlich G. Herrnes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 204 ff.; H.-U. Gallwas, Grundrechte, 1985, S. 63 ff.; einschränkend G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 124 im Hinblick auf die Möglichkeit von Störungen durch Naturkatastrophen.
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
Vom Sozialstaatsprinzip und erst recht von den sozialen Grundrechten unterscheiden sich die staatlichen Schutzpflichten insofern, als sie lediglich den status quo gewährleisten, nicht aber eine Fortentwicklung garantieren wollen. Im Gegensatz zur (insbesondere unmittelbaren) Drittwirkung der Grundrechte79 knüpfen die staatlichen Schutzpflichten an das ,,horizontale" BürgerlBürger-Verhältnis nur an, begründen zwischen den Bürgern aber keine Rechte und Pflichten. Verpflichtend wirkt die staatliche Schutzpflicht allein im "vertikalen" StaatIBürger-Verhältnis.
11. Staatliche Schutzpflichten zwischen Regeln und Prinzipien Als verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff stellen die staatlichen Schutzpflichten ebenso wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung keine Regeln, sondern Prinzipien dar. Das in ihnen zum Ausdruck kommende Optimierungsgebot verlangt nur eine Annäherung.
111. "Grundrecht auf Sicherheit" als Legitimation staatlichen Handeins Unabhängig davon, ob es ein Grundrecht im rechtstechnischen Sinn auf Sicherheit gibt, stellt die Gewährleistung von Sicherheit jedenfalls eine allgemeine Staatsaufgabe dar. Damit mag es vielleicht keine einklagbare Pflicht zur Gefahren79 Die Drittwirkung der Grundrechte war früher streitig. Für eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte wurde angeführt, nach Art. I 11 GG würden die Grundrechte für die gesamte Rechtsordnung gelten. Art. 20 I GG wurde entnommen, daß die Grundrechte nicht nur vor staatlicher, sondern auch vor gesellschaftlicher Macht schützen. Nach Art. I III GG entfalten, so wurde argumentiert, die Grundrechte jedenfalls durch Zwischenschaltung eines staatlichen Richters auch zwischen Privaten Geltung. Gegen eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte wurde angeführt, diese seien historisch Abwehrrechte gegen den Staat. Darüber hinaus wurde auf Umkehrschlüsse zu den Art. 100 I GG einerseits und den Art. 9 III 2, 38 I I i.Y.m. Art. 48 11 GG andererseits ebenso verwiesen wie auf die Beschränkung der Art. I III, 93 I Nr. 4a GG auf Organe öffentlicher Gewalt. Darüber hinaus würde, so wurde argumentiert, einer weiten Grundrechtsberechtigung eine weite Grundrechtsverpflichtung entsprechen. Schließlich wäre mit einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte eine Verlagerung der Entscheidungskompetenzen auf die Gerichte und eine "Aushöhlung" der Bindung der Richter an die Gesetze verbunden. Dies sei auch deshalb nicht hinnehmbar, weil die Gerichte im Gegensatz zum Gesetzgeber politisch nicht verantwortlich sind. Die heute h.M. differenziert zwischen einer unmittelbaren und einer vermittelten Geltung der Grundrechte zwischen Privaten. Eine unmittelbare Geltung der Grundrechte zwischen Privaten wird insofern angenommen, als zum einen zivilrechtliche Gesetze den Grundrechten entsprechen müssen und als zum anderen das Prozeßrechtsverhältnis betroffen ist. Eine mittelbare Drittwirkung der Grundrechte wird insoweit bejaht, als zum einen die Gesetzmäßigkeit der Anwendung des zivilrechtlichen Gesetzes durch die Gerichte gewahrt werden muß und zum anderen die Grundrechte auf Entscheidungsspielräume für Rechtsanwender (Generalklausein, Ermessen) "ausstrahlen".
§ 10 "Grundrecht auf Sicherheit" als Gegenpol
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vorsorge geben; die Gewährleistung von Sicherheit als allgemeiner Staatsaufgabe vermittelt aber jedenfalls eine Legitimation für die staatliche Gefahrenvorsorge.
D. Staatliche Informationsvorsorge der Umfang der Schutzpflichten Die innere Sicherheit, die rechtlich insbesondere durch die staatlichen Schutzpflichten, das Gewaltmonopol und das Sozial- und Rechtsstaatsprinzip abgebildet wird, verpflichtet den Staat zur Gewährung umfassenden Schutzes. Diese Schutzverpflichtung ist insofern gefahrenunabhängig als sie auch die Vorsorge 80 mitumfaßt. Die innere Sicherheit und die ihr korrespondierenden rechtlichen Aspekte übertragen dem Staat die Verantwortung für die Sicherheit in vollem - namentlich nicht auf die Abwehr von Gefahren beschränkten - Umfang.
I. Vorsorge als umfassende Risikosteuerung durch Erwartungen
Vorsorge ist dabei durch ihre Ganzheits- und Vernetzungsfunktion gekennzeichnet 8 !. Anders als die klassische Gefahrenabwehr des traditionellen Polizei- und Ordnungsrechts beschränkt sich die Vorsorge nicht auf bestimmte Situationen insbesondere das Vorliegen einer konkreten Gefahr -, sondern gibt dem Staat auf, die Entwicklung in bestimmten Sachmaterien umfassend zu beobachten und ggf. steuernd darauf einzuwirken bzw. sich auf eine Einwirkung vorzubereiten. Ganzheitliche und vernetzte Vorsorge setzt die Einbeziehung privaten Verhaltens, die Berücksichtigung der technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten ebenso wie diejenige zeitlicher und finanzieller Faktoren voraus. Funktion der Vorsorge ist es daher, bislang rechtlich getrennt betrachtete Konstellationen, die aber faktisch voneinander abhängen, gemeinsam zu erfassen. Vorsorge betrifft daher neben der überkommenen Gefahrenabwehr und der Risikovorsorge allgemein die vorausschauende Gestaltung der Zukunft82 . Sie dient dazu, Unsicherheiten schon im Vorfeld einer Gefahr gegenzusteuern. Dies geschieht, indem das Recht nicht erst an tatsächliche Ereignisse, sondern schon an Erwartungserwartungen anknüpft83 •
80 Zur Ausweitung der staatlichen Gefahrenabwehr wegen der Schutzpflichten vgl. U. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 50 f., 101 f. sowie F. Ossenbühl, NVwZ 1986, 161 (163, 165 f.). 81 Vgl. dazu sowie zum folgenden A. Müller, Konzeptbezogenes Verwaltungshandeln, 1992, S. 178 ff. 82 A. Müller, Konzeptbezogenes Verwaltungshandeln, 1992, S. 182. 83 Vgl. dazu schon oben im Text sub § 5. B. IV. 3. a.
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
11. Vorsorge durch kollektive Zurechnung
Vorsorge basiert dabei auf der kollektiven Zurechnung von Risiken an den Staat. Es wird - anders als im Fall der klassischen Gefahrenabwehr - nicht mehr der einzelne als Störer84 , sondern die Gesellschaft als Ganzes oder eine Gesellschaftsgruppe verantwortlich gemacht. Die frühere Individualzurechnung wird durch eine Kollektivzurechnung ersetzt 85 . Damit reagiert die Gesellschaft zum einen auf kognitive Defizite, die eine Zurechnung verunmöglichen oder jedenfalls erschweren. Zum anderen spiegeln sich in diesem Wechsel von der Individual- zur Kollektivzurechnung Bewertungsprobleme innerhalb der Zurechnung wider. Damit gehen auch die früheren Zurechnungsgründe verloren: Weder konkret belegbare Ursachenzusammenhänge noch subjektive Schutzansprüche sind für die Auslösung von Vorsorgemaßnahmen erforderlich. Entscheidend sind vielmehr Wertungen in Form von Interessen- und Schutzstrukturen86 .
111. Vorsorge durch reflexives Recht
Die mit der Vorsorge verbundene Kollektivierung und Abstrahierung von Risiken schließt eine Steuerung durch rechtliche Konditionalprogramme aus. Auch eine Finalprogrammierung erscheint unzureichend, da auch der Zweck zeitabhängig und daher überprüfungsbedürftig ist. Vorsorge erfordert aber ein Rezeptionsprogramm, das den Rechtsanwender dazu anhält, die jeweils optimale Vorsorge zu verlangen und zu vollziehen 87 • Die gesetzlichen Maßstäbe müssen ein Höchstmaß präventiver Kontrolle gewährleisten und zugleich zukunftsoffen sein. Eine abstrakt-generelle Formulierung der Vorsorge ist daher nur durch reflexives Recht möglich. Gesetze können dabei entweder die Vorsorge insgesamt der Verwaltung ausdrücklich aufgeben oder nur einzelne Vorsorge-Aspekte ausdrücklich anordnen. E. Rehbinder differenziert zwischen der Vorsorge als rechtssatzförmigem Prinzip einerseits und als Strukturprinzip andererseits. In ersterem Sinn stellt die Vorsorge einen unmittelbar anwendbaren normativen Maßstab dar; als Strukturprinzip ist Vorsorge ein bestimmten Regeln zugrunde liegender, nicht unmittelbar anwendbarer Leitgedanke 88 . 84 Eine Verabschiedung der das überkommene Polizeirecht prägenden Individualverantwortung konstatiert E. Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-RiemlSchmidt-AßmanniSchuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 11 ff., 28. 85 H.-H. Trute, Vorsorgestrukturen und Luftreinhalteplanung im Bundesimmissionsschutzgesetz, 1989, S. 64 ff. 86 E. Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-RiemlSchmidt-AßmanniSchuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 11 ff., 36 ff. 8? H.-H. Trute, Vorsorgestrukturen und Luftreinhalteplanung im Bundesimmissionsschutzgesetz, 1989, S. 68 ff.
§ IO "Grundrecht auf Sicherheit" als Gegenpol
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IV. Vorsorge und Handlungsformen Vorsorge muß mehrpolige Interessen wahrnehmen und gegeneinander abwägen; sie muß formale und informale Handlungsformen zu Optionen zusammenführen und die Entwicklung des gesamten durch sie betroffenen Sachbereichs berücksichtigen 89 . Insbesondere ist die Exekutive - ausdrücklich oder konkludent - zur doppelten - Konkretisierung der Vorgaben im Einzelfall berufen. Sie muß zum einen "Leitlinien" unterhalb des Gesetzes aufstellen, an denen sich der Vollzug der Vorsorge zu orientieren hat. Diese "Leitlinien" müssen auch gerichtlich überprüfbar sein. Zum anderen muß sie diese auf der Grundlage der Gesetze gefundenen "Leitlinien" im Einzelfall vollziehen. Dabei wird namentlich mit den Konzepten - darauf wird später noch näher einzugehen sein90 - eine neue verwaltungsrechtliche Handlungsform ausdifferenziert. Konzepte bilden Maßstäbe; sie sind Erwartungen, die empirische Aussagen ermöglichen. Konzepte ermöglichen daher die rechtliche Umsetzung der Gesellschaftssteuerung über Erwartungserwartungen und Erwartungen.
V. Informationsvorsorge Bei der Bewältigung dieser Ganzheits- und Vernetzungsfunktion kommt der Informationsvorsorge entscheidende und kaum überschätzbare Bedeutung zu. Die rechtliche Bewältigung einer Gesamtentwicklung verlangt nämlich neben einer effizienten Informations- und Kommunikationstechnik ein wirksames Informationsmanagement91 . Ohne einen optimierten Umgang mit Informationen kann die ganzheitliche Entwicklung eines Phänomens weder beobachtet werden noch können Handlungsalternativen ausgearbeitet, ausgewählt und umgesetzt werden. Dementsprechend darf das allgemeine wie das besondere Verwaltungsrecht nicht weiterhin allein an der Entscheidung ausgerichtet werden, sondern muß schon die Information in den Blick nehmen 92 • Das Verwaltungsrecht allgemein und insbesondere das hier interessierende polizeiliche Informationsrecht kann eine hinreichende Innovationsoffenheit und flexibilität nur sichern, wenn es nicht nur die Entscheidung als solche, sondern sowohl deren Zustandekommen als auch ihre Auswirkungen thematisiert. VerwaltungsE. Rehbinder, Das Vorsorgeprinzip im internationalen Vergleich, 1991, S. 7 f. A. Müller, Konzeptbezogenes Verwaltungshandeln, 1992, S. 179 f. 90 Zu den Konzepten als neuer verwaItungsrechtlicher Handlungsform vgl. noch ausführlich unten im Text sub § 13. 91 R. Pitschas, DÖV 1989,785 ff. 92 E. Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-RiemlSchmidt-AßmannlSchuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen VerwaItungsrechts, 1993, S. 11 ff., 28. 88 89
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
und Polizeiinfonnationsrecht müssen vor der Entscheidung die Probleminitiative und Problemidentifikation, die Sachverhaltsermittlung, die Zurechnung, die Optionenermittlung und -auswahl und die Instrumentenbestimmung, nach einer ergangenen Entscheidung deren Revision und die aus den Auswirkungen zu ziehenden Lehren steuern93 .
§ 11 Der Ausgleich zwischen dem "Grundrecht auf Sicherheit" und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung Grundlagen einer neuen Informationsordnung Dem "Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung" kommt zusammenfassend eine doppelte Bedeutung zu: Es bündelt zum einen die Gehalte der Verfassung, die die infonnationelle Selbstbestimmung des Individuums schützen. Zum anderen muß es aber auch die durch das "Grundrecht auf Sicherheit" aufgeworfenen Anforderungen miteinbeziehen. Das "Grundrecht auf Sicherheit" seinerseits muß die grundgesetzlich geschützten Belange der inneren Sicherheit zusammenfassen, hat dabei aber umgekehrt die Belange des Rechts auf infonnationelle Selbstbestimmung zu respektieren. Das Ziel kann daher nicht ein allgemein gültiges, starres Rangverhältnis zwischen den konkurrierenden Belangen, sondern muß ein Interessenausgleich sein.
A. Das Spannungsverhältnis zwischen dem "Grundrecht auf Sicherheit" und der informationellen Selbstbestimmung Zwischen den im "Grundrecht auf Sicherheit" zusammengefaßten staatlichen Schutzpflichten und der infonnationellen Selbstbestimmung namentlich als Abwehrrecht besteht ein grundrechtliches Spannungsverhältnis. In diesem gebührt weder der Schutz- noch der Abwehrdimension ein grundsätzlicher Vorrang. Nachdem sich sowohl das "Grundrecht auf Sicherheit" als auch das Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung als verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe erwiesen haben und daher grundsätzlich als gleichrangig zu gelten haben, ist die Ablehnung der Gemeinsamen Verfassungskommission, ein Grundrecht auf infonnationelle Selbstbestimmung in das Grundgesetz aufzunehmen 1, zu begrüßen. Die 93 Vgl. dazu W. Hoffmann-Riem, in: ders./Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandeins, 1994, S. 9 ff., 31 ff. 1 Ziff. 3.4. des Berichts der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drs. 12/6000 a.A. im Ergebnis S. Simitis, KritV 1993,46 ff.
§ 11 Der Ausgleich - Grundlagen einer neuen Inforrnationsordnung
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Aufnahme einer derartigen Verfassungs bestimmung hätte das bislang bestehende Gleichgewicht innerhalb des Grundgesetzes in mehrfacher Hinsicht gefährdet oder gar zerstört: Zum einen hätte die explizite Regelung des Rechts auf infonnationelle Selbstbestimmung im Grundgesetz als Vorrang der infonnationellen Selbstbestimmung vor den Belangen der Sicherheit (miß-)verstanden werden können. Zum anderen kommt - wie bereits ausführlich dargelegt 2 - dem Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung eine soziale Dimension zu. Soweit sich das Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung aber als soziales Grundrecht darstellt, ist dieser Gehalt im Sozialstaatsprinzip jedenfalls bereits miterfaßt. Das Sozialstaatsprinzip fordert den Staat auf, zur Realisierung der infonnationellen Selbstbestimmung im "horizontalen" BürgerlBürger-Verhältnis ebenso beizutragen wie zur Verwirklichung der Rechte auf Arbeit, Wohnung, soziale Sicherheit, Bildung und Kultur sowie zur Gewährleistung des Umweltschutzes. Hätte man mit dem Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung eines dieser sozialen Rechte ausdrücklich in die Verfassung aufgenommen, wäre dies als gegenüber den nicht aufgenommenen wichtiger bewertet worden. Ein derartig privilegierter Rang gebührt dem Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung aber nach den bisherigen Darlegungen und insbesondere aus allgemein wissenschaftlicher Perspektive nicht. Dabei wird nicht verkannt, daß die durch das Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung betroffene grundrechtliche Abwehrdimension selbstverständlich ist, der vom "Grundrecht auf Sicherheit" thematisierte Schutzpflichtgehalt hingegen erst nachgewiesen werden muß. Die Dimension der Grundrechte als Schutzpflichten hat nämlich zum einen nahezu einhellige Zustimmung gefunden 3 . Zum anderen wird die Schutzpflicht gegenüber dem Abwehrrecht nur grundrechtsdogmatisch überwiegend für sekundär gehalten 4 ; in der Verfassungstradition rangiert sie umgekehrt vor dem Abwehrcharakter5 • Zwischen den aufeinandertreffenden Schutzpflichten einerseits und Abwehrrechten andererseits ist vielmehr im jeweiligen Einzelfall ein Ausgleich zu finden. Diese Lösungen für Einzelfälle können durch die Bildung von Fallgruppen vorstrukturiert und typisiert werden. Bevor auf diesen Ausgleich im Einzelfall und die einzelnen Fallgruppen näher einzugehen ist, wird sich zeigen, daß sich das Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung einerseits und das "Grundrecht auf Sicherheit" andererseits nicht als diametral gegensätzlich gegenüberstehen, sondern daß beide relativiert werden. Das "Grundrecht auf Sicherheit" darf schon deshalb nicht überbewertet werden, weil es im Grundgesetz nicht ausdrücklich benannt wird. Das Recht auf infonnationelle Vgl. dazu ausführlich oben im Text sub § 9. J. Isensee, in: ders.lKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111 Rdnrn. 18 ff. 4 Zu neueren gegenteiligen Einschätzungen vgl. bereits oben im Text sub § 10. A. I. I. a. 5 Vgl. zur Entwicklung der Sicherheit als Staatszweck schon oben im Text sub § 7. B. Ir. sowie J. Isensee, in: ders.lKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111 Rdnr.21. 2
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
Selbstbestimmung wird durch Verfassungserwartungen sowie durch seinen Charakter als verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff und als soziales Grundrecht relativiert.
B. Relativierungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung Auch wenn das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht als Grundrecht, sondern als verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff qualifiziert wurde und wird, kann im folgenden die an den Grundrechten orientierte terminologische Unterscheidung von Schutzbereich, Eingriff und verfassungsrechtlicher Rechtfertigung verwendet werden. Diese Differenzierung beschränkt sich nicht auf die Grundrechtsdogmatik, sondern bringt nur zum Ausdruck, daß zunächst der Umfang des Schutzgehalts einer Rechtsfigur bestimmt und ein Widerspruch hierzu festgestellt werden muß, um sodann über eine Rechtfertigung dieses Verstoßes zu entscheiden. I. Schutzbereich
Der Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung wird nicht nur durch die schon geschilderten Belange des Gemeinwohls 6 , sondern auch im Hinblick auf die unterschiedlichen Grundrechtsdimensionen und bezogen auf den Schutzumfang des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung relativiert.
1. Der Schutzbereich und die Grundrechtsdimensionen
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird durch Verfassungserwartungen in seinem Abwehrgehalt eingeschränkt; darüber hinaus stellt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung jedenfalls auch ein soziales Grundrecht dar.
a) Verfassungserwartungen als Relativierung des Abwehrgehalts Eine nähere Betrachtung des Dreiecks zwischen Staat, in der informationellen Selbstbestimmung betroffenen und anderen vom Staat Schutz fordernden Bürgern 6 Vgl. dazu bereits oben sub § 9. B. 1. 3. b. - S. Simitis (in: Däubler-GmelinlKinkel u. a. [Hrsg.], Gegenrede. Festschrift für E. G. Mahrenholz, 1994, S. 573 ff., 584 ff.) fordert im Hinblick auf diese Relativierungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung nicht nur eine "amtshilfefeste", sondern darüber hinaus eine "gemeinwohlfeste" Datenverarbeitung.
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bestätigt den schon gefundenen grundsätzlichen Gleichrang des "Grundrechts auf Sicherheit" einerseits und der Abwehrdimension der informationellen Selbstbestimmung andererseits. Ebenso wie nämlich der Staat bei seiner Informationstätigkeit an das Gemeinwohl gebunden ist, sind dies auch die durch diese Informationshandlungen beeinträchtigten Bürger. Denn während der Staat in allen seinen Handlungen - sei es bei der Verwirklichung sozialer Grundrechte, der Erfüllung von Staatszielen oder Staatsaufgaben etc. - das Gemeinwohl realisieren muß, wird eben dies prinzipiell auch vom Bürger erwartet. Das Grundgesetz bringt derartige Bindungen der Bürger an das Gemeinwohl durch Verfassungserwartungen zum Ausdruck?
b) Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als soziales Grundrecht Entgegen der öffentlichen Meinung und der überwiegenden juristischen Diskussion stellt sich das Recht auf informationelle Selbstbestimmung grundrechtsdogmatisch nicht ausschließlich oder auch nur vorrangig als Abwehrrecht dar. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht nur aus dem Blickwinkel dieser einen klassischen Grundrechtsdimension, sondern vielmehr vor dem Spektrum aller zwischenzeitlich ausdifferenzierten Grundrechtsgehalte zu sehen. Auf den mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung einhergehenden Teilhabe- und Leistungsgehalt wurde bereits mehrfach hingewiesen 8 : Das Recht auf informationelle Selbstdarstellung wirkt sich nicht nur im StaatlBürger-Verhältnis aus, sondern betrifft auch das Bürger/Bürger-Verhältnis. Die informationelle Selbstdarstellung des einzelnen wird nämlich durch jegliche "gegenläufige" Information gefährdet. Die Beeinträchtigung der Selbstdarstellung des einzelnen hängt weniger davon ab, ob der Staat oder Private eine Information verbreiten, sondern vielmehr vom Inhalt der Information. Will man daher - wie von der SPD in der Gemeinsamen Verfassungskommission gefordert 9 - jedem Menschen das Recht einräumen, "über die Erhebung und Verarbeitung seiner persönlichen Daten selbst zu bestimmen,,10 und läßt eine Einschränkung dieses Rechts "nur durch oder auf Grund eines Gesetzes" zu, "soweit überwiegende Interessen der Allgemeinheit es erfordern" 11 , so wird hierdurch 7 Eingehend zu den Verfassungserwartungen J. Isensee, in: ders.lKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 115 Rdnrn. 163 ff. 8 Siehe hierzu bereits oben im Text sub § 9.
9 Vgl. dazu den "Antrag zur Einfügung eines Artikels 2a (neu), eines Artikels 5 Abs. 2a (neu) und eines Artikels 45d (neu) - "GrundrechtelDatenschutz" der SPD-Mitglieder der Gemeinsamen Verfassungskommission, Kommissionsdrucksache Nr. 25, abgedruckt in BT-Drs. 12/6000, S. 144. 10 Art. 2a I I GG des Vorschlags der SPD-Mitglieder der Gemeinsamen Verfassungskommission, Kommissionsdrucksache Nr. 25, abgedruckt in BT-Drs. 12/6000, S. 144.
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
nicht nur die staatliche, sondern auch die private Informationserhebung, -verarbeitung und -verbreitung eingeschränkt. 2. Umfang des Schutzbereichs
Entgegen der herrschenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung fällt nicht jede staatliche Informationstätigkeit in den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Der Umfang des Schutzbereichs des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht natürlich oder vorrechtlich vorgegeben, sondern durch den jeweiligen Zivilisationsstand geprägt. Der Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung bedarf daher erst der kommunikativen und gesellschaftlichen Konstitution. Zwar beschränkt sich der Schutzumfang des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung nicht auf die automatische Datenverarbeitung, sondern erfaßt auch manuelle Arten der Informationsverarbeitung 12 . Der Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung erstreckt sich aber nicht auf anonymisierte Daten. Darüber hinaus schließt ein Einverständnis des Betroffenen die Eröffnung des Schutzbereichs aus. Schließlich entfällt auch für "belanglose Daten" der Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung 13.
a) Zwangsweise Datenerhebung Entgegen der Ansicht des BVerfG!4 und der Literatur!5 schützt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nur gegen eine zwangsweise oder heimliche Datenerhebung!6. Die Konstitution der Person durch Kommunikation!7 zeigt, daß das Individuum für seine Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung auf Fremdwahrnehmung angewiesen ist. Soweit der einzelne bereit ist, Informationen über sich zu erteilen, bedarf er hierzu nicht des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. 11 Art. 2a II GG des Vorschlags der SPD-Mitglieder der Gemeinsamen Verfassungskommission, Kommissionsdrucksache Nr. 25, abgedruckt in BT-Drs. 12/6000, S. 144. 12 Dazu bereits J. Aulehner, eR 1993,446 (453) mit Nachw. der diesbzgl. Rspr. sowie M. Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen und deren Aufbewahrung durch die Polizei, 1992, S. 72 f. 13 Zu diesen Einschränkungen des Schutzbereichs zusammenfassend z. B. T. Mayen, Der grundrechtliehe Informationsanspruch des Forschers gegenüber dem Staat, 1992, S. 193 ff. 14 BVerfGE 67, 157 (169); 67, 100 (142 f.) verzichten auf das Merkmal der zwangsweisen Erhebung. 15 Z.B. G. Groß, AöR 113 (1988), 162 (166 ff.) erstreckt den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung auch auf die Datenerhebung ohne staatlichen Zwang. 16 Zur heimlichen Datenerhebung umfassend M. Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen und deren Aufbewahrung durch die Polizei, 1992. 17 Vgl. dazu schon ausführlich oben im Text sub § 6. A.
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Dies gilt nur dann nicht, wenn der einzelne faktisch zur Preisgabe seiner Daten gezwungen ist. Willigt der einzelne in eine bestimmte staatliche Datenerhebung und -verarbeitung zur Erfüllung eines verfassungsrechtlich legitimierten Zwecks freiwillig ein, berührt die staatliche Informationstätigkeit im Rahmen des vom Betroffenen erteilten Einverständnisses das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht. Wollte man jede Informationstätigkeit dem Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung unterstellen, so würde die informationelle Selbstbestimmung des einzelnen eben hierdurch beeinträchtigt. Die im "Volkszählungs"Urteil postulierte "Befugnis des einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen,,18, beinhaltet eben auch das Recht des einzelnen, seine Daten preiszugeben 19 .
b) Personenbezogene Daten Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt nur personenbezogene Daten, d. h. Einzelangaben über persönliche oder sächliche Verhältnisse einer bestimmten Person. Nur individualisier- und auf eine Person beziehbare Daten unterfallen entgegen der herrschenden Meinung 20 nicht dem Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Die informationelle Selbstbestimmung ist nämlich zum einen erst dann gefährdet, wenn die ansieh anonymen Daten tatsächlich einer bestimmten Person zugeordnet werden. Dem entspricht auch der Versuch von B. Schlink, die einzelne Schritte der Datenverarbeitung als gesonderte Eingriffe zu betrachten21 . Zum anderen erweist sich die Abgrenzung zwischen anonymisierten und individualisierbaren Daten als schwer möglich, zumal nahezu alle anonymen Daten bei einem entsprechenden Aufwand reidentifizierbar sind. Die Rechtsprechung und herrschende Meinung begnügt sich dementsprechend mit einer nur "faktischen Anonymisierung,m.
c) Keine belanglosen Daten Nicht in den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung fallen auch sog. belanglose Daten23 . Die nähere Bestimmung dessen, was ein beBVerfGE 65, 1 (43). Zum Begriff der zwangsweisen Datenerhebung vgl. insb. M. Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen und deren Aufbewahrung durch die Polizei, 1992, S. 71 f. 20 BVerfGE 77, I (46); 67, 100 (144). 21 B. Schlink, Die Amtshilfe, 1982, S. 174 f. - Krit. dazu ScholzlPitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, S. 83. 22 BVerfGE 65, 1 (49,68). 18 19
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langloses Datum ist, flillt indessen schwer, zumal die Relevanz von Informationen kontextbezogen ist. In Situationen, in denen eine Namensangabe üblich ist, sind Name, ggf. auch Adresse etc. belanglose Daten. Ist hingegen ein anonymes Auftreten üblich, sind nur die äußeren Körpermerkmale belanglos. Informationsverarbeitung ist ein Regelfall im menschlichen Zusammenleben: Information und Kommunikation ist Voraussetzung für die Konstitution von Wirklichkeit. Personen und staatliche Organisationen entstehen erst durch ihre Informationstätigkeit 24 . Ein Schutz gegen diese alltägliche Informationstätigkeit ist weder erforderlich noch wünschenswert. Sie würde insbesondere das Gegenteil von informationeller Selbstbestimmung, nämlich institutionalisierte Kommunikationslosigkeit und monopolisierte Information, bewirken 25 . Damit ist zugleich schon an dieser Stelle und allein deshalb der "Lehre vom Informationseingriff' eine Absage erteilt. Diese betrachtet jedes Informationsverhalten der Exekutive als grundrechtsrelevant. Eine derartige Sichtweise widerspricht aber schon dem "Volkszählungs"-Urteil: Dort führt das BVerfG nämlich aus, daß es "zur Feststellung der persönlichkeitsrechtlichen Bedeutung eines Datums der Kenntnis seines Verwendungszusammenhangs,,26 bedarf. Dieser Befund wird sogleich nochmals aus anderen Gründen bestätigt27 .
11. Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung
Der Eingriffsbegriff relativiert das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, obwohl er auch mittelbare Beeinträchtigungen als Eingriffe qualifiziert. Zum einen werden nämlich bloße Belästigungen als nicht grundrechtsre1evant ausgeschieden; zum anderen wird die Vermittlung von Eingriffen begrenzt.
J. Enveiterung des Eingriffsbegriffs
Der durch die moderne Grundrechtsdogmatik immer weiter ausgedehnte Begriff des Grundrechtseingriffs macht gegensteuernde Korrekturen erforderlich. Der traditionelle Eingriffsbegriff orientierte sich vor allem an normativen Regelungen, 23 M. Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen und deren Aufbewahrung durch die Polizei, 1992, S. 77. 24 Vgl. dazu ausführlich oben im Text sub 2. Teil., namentlich § 5. B. IV. 5. und § 6. A. IV. 2. 25 Ähnlich M. Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen und deren Aufbewahrung durch die Polizei, 1992, S. 82. 26 BVerfGE 65, I (45). 27 Siehe dazu sofort im Text folgend unter § 11. B. 11. I.
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insbesondere an Ge- und Verboten. "Regelung" in diesem tradierten Sinne ist eine einseitig angeordnete, verbindliche, Rechtsfolgen begründende und hoheitliche Ordnung eines Lebenssachverhaltes 28 . Sie trifft den Bürger gewollt und unvennittelt. Danach stellt nur der "direkte Informationserhebungseingriff,29, die zwangsweise staatliche Datenerhebung, einen Eingriff dar. Die übrige staatliche Informationstätigkeit wurde als bloßes Verwaltungsinternum betrachtet 3o . An die Stelle dieses unmittelbaren und eindeutigen Eingriffs sind in weiten Teilen insbesondere der leistenden und planenden, aber auch der - etwa im Bereich des Wirtschaftsrechts - ordnenden Verwaltung die sog. mittelbaren faktischen Beeinträchtigungen getreten. Letzteren ist insbesondere die staatliche Informationstätigkeit zuzuordnen. Einigkeit besteht jedoch grundSätzlich darüber, daß auch derartige mittelbare faktische Beeinträchtigungen Grundrechtseingriffe darstellen können. Der Eingriffs begriff hat sich nämlich am Schutzgut und seiner Gefährdung bzw. Beschränkung zu orientieren und nicht an den eingesetzten Mitteln 3]. Jedoch hat sich eine dem klassischen Eingriffsbegriff vergleichbare griffige Umschreibung des Bereichs, in dem die faktisch wirksame Staatstätigkeit einer gesetzlichen Befugnis bedarf, noch nicht herausgebildet. Hier wird vielmehr bereichs spezifisch auf unterschiedliche, manchmal kumulativ herangezogene Kriterien abgestellt, wie z. B. auf Unmittelbarkeit 32 , Intensität33 , Zurechenbarkeit 34 , Finalität35 , der Beeinträchtigung sowie den Schutzzweck der beeinträchtigten Norm 36 . Das BVerwG sieht speziell in der behördlichen Informationstätigkeit einen Eingriff, "wenn und soweit diese staatlicherseits final und grundrechtsspezifisch erfolgt". Dies sei, so meint das Gericht, insbesondere bei Maßnahmen der Fall, die "eindeutig auf einen auf Seiten des Unternehmens eintretenden nachteiligen Effekt abzielen und diesen Effekt nicht lediglich als Begleiterscheinung mit sich bringen,,37. Das Merkmal der "grundrechts spezifischen" Betroffenheit hat allerdings nicht durchweg eigenständige Bedeutung. In dem vom BVerwG entschiedenen Fall ging es um die behördliche Veröffentlichung sog. Transparenzlisten, die durch Preisund Wirksamkeitsvergleiche zwischen Arzneimitteln den verschiedenen Ärzten 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37
Vgl. WolfflBachof, Verwaltungsrecht I, 9. Auf!. 1974, § 46 Va). B. Schlink, Die Amtshilfe, 1982, S. 188. A. Kowalczyk, Datenschutz im Polizeirecht, 1989, S. 43 ff. BVerwGE 71,183 (192). BGH, NJW 1988,478 BVerwGE 50, 282 (287 f.) BVerfGE 66, 39 (60) BVerwGE 71,1893 (193 f.) U. Ramsauer, VerwArch 72 (1981),89 ff. BVerwGE 71,183 (194); OVG Münster, NJW 1986,2783.
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die Möglichkeit zur Auswahl der bei gleicher Wirkung jeweils kostengünstigsten Medikamente verschaffen und damit letztlich kostensenkend wirken sollen. Das BVerwG sah darin eine finale Beeinträchtigung der Grundrechte auf Seiten der Arzneimittelhersteller, wofür eine Befugnisnorm nicht zu erkennen war. An dieser Rechtsprechung zeigt sich, daß unter "Finalität" im Sinne des Gerichts nicht nur der motivierende primäre Zweck - dort: die Kostendämpfung im Gesundheitswesen - steht, sondern auch dessen notwendige Kehrseite einbezogen wird: die erschwerte Absetzbarkeit der Produkte vieler Arzneimittelhersteller. Dementsprechend stellte das BVerwG im Urteil über die "Transzendentale Meditation,,38 bei der Frage des Eingriffs entscheidend auf die schwerwiegenden Folgen der staatlichen Warnung ab 39 . Erst Beeinträchtigungen, nicht aber schon bloße Belästigungen stellen einen verfassungsrechtlich zu rechtfertigenden Eingriff in ein Grundrecht dar. Diese Abgrenzung ist schwierig; Indikatoren für die Qualifizierung als Belästigung oder als Beeinträchtigung stellen das Schutzgut, die Intensität der Gefahr, die Sozialadäquanz und die herrschenden gesellschaftlichen Anschauungen dar4o . Die Eingriffsqualität einer staatlichen Informationstätigkeit hängt danach insbesondere von der Zweckbindung und dem Verwendungszweck der erhobenen Daten ab 41 . Eine bloße Grundrechtsgefährdung löst indessen den Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung noch nicht aus, obwohl das Recht auf informationelle Selbstbestimmung im "Volkszählungs"-Urteil als Gefährdungstatbestand konstruiert wird. Die Gleichsetzung von Grundrechtsgefährdung und Grundrechtsverletzung ist nämlich nur dann ausnahmsweise gerechtfertigt, wenn irreversible Schäden für Leib und Leben als höchste Rechtsgüter drohen42 . Damit ist zugleich die schon gefundene43 Diagnose nochmals bestätigt und der "Lehre vom informationellen Totalvorbehalt", derzufolge durch jede Möglichkeit der Informationserhebung und -verarbeitung die Gefahr der Beeinträchtigung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung gegeben sein und ein regelungsbedürftiger Eingriff vorliegen soll, eine erneute Absage erteilt44 . 38 BVerwG, NJW 1989,2272; das BVerfG, NJW 1989, 3269 ließ die Frage eines Eingriffs offen. 39 Vgl. auch K.-P. Dolde, Behördliche Warnungen vor nicht verkehrsfähigen Lebensmitteln, 1987, S. 11 ff.; F. Ossenbühl, Umweltpflege durch behördliche Warnungen und Empfehlungen, 1986, S. 14 ff.; W.-R. Schenke, JuS 1989,557 (558). 40 J. Isensee, in: ders.lKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111 Rdnr.66. 41 BVerfGE 65, 1 (47). 42 H. Mayer-Metzner, Auskunft aus Dateien der Sicherheits- und Strafverfolgungsorgane, 1994, S. 104 f. 43 V gl. dazu oben im Text sub § 11. B. I. 2. c. 44 Vgl. dazu auch M. A. Ernst, Verarbeitung und Zweckbindung von Informationen im Strafprozeß, 1993, S. 50 ff.; K. Rogall, Informationseingriff und Gesetzesvorbehalt im Strafprozeßrecht, 1992, S. 30 f., 47.
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2. Funktionale Beschränkungen des Grundrechtsschutzes Das Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung schützt nach der h.M. die Selbstdarstellung des einzelnen in der Gesellschaft und gegenüber dem Staat. Es soll gewährleisten, daß der Dritte oder der Staat das durch den einzelnen von sich gezeichnete Bild nicht (zer-)stören. Dabei ist jedoch zu beachten, daß die Selbstdarstellung des einzelnen durch eine staatliche oder private Infonnationstätigkeit - sei es das Erheben, Sammeln, Verarbeiten oder die Weitergabe von Infonnationen - nicht unmittelbar beeinträchtigt werden kann. Eine Störung der Selbstdarstellung entsteht vielmehr erst durch die Reaktion auf die Infonnationstätigkeit. Nur soweit derartige nur mittelbare Folgen der Infonnationstätigkeit beabsichtigt sind, ist die Finalität der Beeinträchtigung zu bejahen. Diese Einschätzung wird auch nicht durch die funktionale - im Gegensatz zur modalen - Schutzbereichslehre45 modifiziert. Zwar ist die jeweils aktuelle und typische Funktion des einzelnen Grundrechts für die Grundrechtsgewährleistung und Grundrechtsausübung entscheidend. Auch ist eben diese Grundrechtsfunktion jeweils der Maßstab für die Qualifizierung als Grundrechtseingriff oder als bloße Belästigung 46. Der Grundrechtsschutz wird hierbei jedoch gleichwohl und insofern relativiert, als die Verfassung gesteigerte Anforderungen an den Intensitätsgrad des mittelbar verursachten nachteiligen Effektes und an die Kausalbeziehung zwischen dem staatlichen Verhalten und der beeinträchtigenden Wirkung stellt. Insbesondere je länger die Kausalkette zwischen einer beeinträchtigenden Wirkung und dem betreffenden Verhalten öffentlicher Gewalt ist, umso weniger kann ein für eine Grundrechtsbetroffenheit erforderlicher Ursachenzusarnmenhang nachgewiesen werden. IH. Verfassungs rechtliche Rechtfertigung Die Eröffnung des Schutzbereichs und ein Eingriff in diesen stellen noch keinen Verfassungsverstoß dar. Vielmehr kann der Eingriff in den Schutzbereich verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.
1. Gesetzesvorbehalt Sowohl der grundrechtliche als auch der rechtsstaatliche Gesetzesvorbehalt verlangen nur dann Beachtung, wenn der Eingriff final ist. Dementsprechend fordert 45 J. Isensee, in: ders.lKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111 Rdnr.67. 46 R. Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 105 f.
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die Rechtsprechung 47 zu Recht48 für schlichthoheitliches Handeln, insbesondere für Warnungen vor bestimmten Produkten oder Religionen keine formal-gesetzliche Ermächtigungsgrundlage, sondern läßt hierfür die Aufgabenstellung des jeweils handelnden staatlichen Organs genügen 49 . Aber auch finale Eingriffe können verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden. Im Fall des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ist hierfür ein Gesetz erforderlich. Dabei ist zwischen dem einfachen, dem qualifizierten Gesetzesvorbehalt und dem Parlaments vorbehalt zu differenzieren. Der einfache Gesetzesvorbehalt verlangt nur, daß Eingriffe durch oder auf Grund Gesetzes erfolgen. Der qualifizierte Gesetzesvorbehalt fordert darüber hinaus, daß das eingreifende Gesetz an bestimmte Situationen anknüpft, bestimmten Zwecken dient oder bestimmte Mittel benutzt. Der Parlamentsvorbehalt verlangt neben der Gesetzesform, daß der Gesetzgeber alle wesentlichen Entscheidungen selbst trifft und nicht an die Verwaltung delegiert. Die Wesentlichkeit bemißt sich dabei nach der Intensität des Eingriffs ("Wesentlichkeitslehre"). Selbst im letzteren Fall des Parlamentsvorbehalts, den das "Volkszählungs"-Urteil 50 für Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung fordert, sind dabei GeneralklauseIn nicht ausgeschlossen. Sie sind vielmehr umgekehrt sogar geboten, wenn der zu regelnde Sachverhalt sich einer normativen Fixierung entzieht 51 . Darüber hinaus hängt das Eingreifen des Parlamentsvorbehalts von der Intensität des Eingriffs ab. Seine Anforderungen sind daher ebenso flexibel wie die Intensität des Eingriffs. Ein besonders starker Grundrechtseingriff kann eine vollständige Regelung durch den Gesetzgeber erfordern. Ein immer noch erheblicher, aber geringerer Grundrechtseingriff kann hingegen bereits durch ein parlamentsgesetzliches Finalprogramm erfüllt werden 52 . Damit besteht insbesondere kein allgemeiner Parlamentsvorbehalt für jegliche staatliche Informationstätigkeit. Prinzipiell muß daher auch die Einräumung einer Befugnis oder die Zuweisung einer Aufgabe genügen, um die für ihre Erfüllung notwendigen Informationen zu erheben und zu verarbeiten. Eine gegenteilige Sichtweise würde den - allgemeinwissenschaftlichen - Zusammenhang von Information und Entscheidung verkennen 53 und zudem den Belangen des Datenschutzes nicht gerecht. Die Aufspaltung in sachliche Aufgabenzuweisungen und BefugBVerfG, NJW 1989,3269; BVerwG, NJW 1989,2272; NJW 1991, 1766; 1991, 1770. A.A. mit der Begründung, die Warnungen zielten auf bestimmte Grundrechtsträger J. Isensee, in: ders.lKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111 Rdnr. 68. 49 Prinzipiell ähnlich H.-V. Gallwas, Der Staat 18 (1979), 507 ff. 50 BVerfGE 65, I (44). 51 K. Rogall, Informationseingriff und Gesetzesvorbehalt im Strafprozeßrecht, 1992, S. 67 f. 52 Scholz!Pitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, S. 128 f. 53 Vgl. dazu ausführlich oben im Text sub § 5. B. IV. 4. 47
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nisse einerseits und Ennächtigungen zur staatlichen Infonnationstätigkeit andererseits schafft nämlich erst die mit Hilfe des Datenschutzes zu bekämpfende Gefahr des Datenmißbrauchs. Die Rechtfertigung einer staatlichen Infonnationstätigkeit aus einer sachlichen Aufgabe bzw. Befugnis stellt demgegenüber von vorneherein die Verbindung zwischen Daten und Kontext sicher. Die aus multidisziplinärer Sicht gefundene Besorgnis, daß Daten ihrem sachlichen Zusammenhang entzogen werden und mit einem neuen kombiniert werden könnten, wird so auf den vorsätzlichen Mißbrauch reduziert. Die Intensität des Eingriffs einer Infonnationstätigkeit wird eben gerade nach der Gefahr des Mißbrauchs der verarbeiteten Daten und deren Bereichsspezifität beurteilt54. Für die polizeiliche Infonnationsvorsorge sind danach GeneralklauseIn - seien es die neu für die polizeiliche Datenverarbeitung geschaffenen bereichsspezifischen, seien es die allgemeinen polizeilichen GeneralklauseIn - nach wie vor ausreichend. Es muß lediglich sicher gestellt werden, daß die auf dieser Grundlage verarbeiteten Infonnationen nur zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit Verwendung finden können. Der gegenteiligen Auffassung von E. Denninger55 , derzufolge GeneralklauseIn im Bereich der polizeilichen Gefahrenvorsorge keine zureichende Ennächtigungsgrundlage bilden, kann nicht zugestimmt werden. Zwar ist E. Denninger zuzubilligen, daß die Maßstäbe des Übennaßverbots im Bereich des staatlichen Vorsorgeprinzips noch wenig konturiert sind. Dies bedeutet aber nur, daß Rechtsprechung und Literatur hier zu einer weiteren Konkretisierung aufgerufen sind56 •
2. Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinn
Neben dem Gesetzesvorbehalt als fonneller Anforderung werden Eingriffe in den Schutzbereich jedenfalls durch das Übennaßverbot einer Kontrolle auch in materiellrechtlicher Hinsicht unterzogen 57 • Danach muß der Eingriff einen zulässigen Zweck verfolgen, hierfür geeignet und erforderlich sowie verhältnismäßig im engeren Sinne sein.
54 ScholzlPitschas, Infonnationelle Selbstbestimmung und staatliche Infonnationsverantwortung, 1984,S. 129. 55 E. Denninger, eR 1988,51 (56 ff.). 56 M. Deutsch, Die heimliche Erhebung von Infonnationen und deren Aufbewahrung durch die Polizei, 1992, S. 227 f. 57 Vgl. hierzu sowie zum folgenden J. Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111 Rdnrn. 69 ff. sowie namentlich zur verfassungsrechtlichen Herleitung des Verhältnismäßigkeitsprinzips D. Merten, in: Hengstschläger/Köck/Korinek u. a. (Hrsg.), Für Staat und Recht. Festschrift für Herbert Schambeck, 1994, S. 349 ff.
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a) Zweck des Eingriffs Die Bestimmung des durch eine staatliche Informationstätigkeit angestrebten Zwecks ist in zweifacher Hinsicht von zentraler Bedeutung: Zum einen wird hierdurch der Bezugspunkt für die Zweck-Mittel-Prüfung festgelegt. Entscheidend ist dabei der vom jeweiligen staatlichen Organ verfolgte Zweck; es besteht insoweit ein Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Als zulässiger Zweck kommt die Erfüllung jeder legitimen Staatsaufgabe in Betracht58 . Zum anderen soll die Zweckbindung der Daten deren Mißbrauch verhindern, indem sie sie an ihren jeweiligen Kontext bindet. Dabei darf bezweifelt werden, ob die allgemeinwissenschaftlich begründete Forderung, Daten nur in ihrem jeweiligen Zusammenhang zu verwenden 59 , durch die Zweckbindung juristisch korrekt übersetzt wird. Die Zweckbindung allein gewährleistet nämlich einerseits nicht, daß Daten nicht ihres Kontextes entkleidet werden. Denn das einzelne Datum kann auch zum gleichen Zweck unter Verkürzung des Zusammenhangs, in dem es steht, verwendet werden. Andererseits kann umgekehrt die Verwendung eines vorhandenen Datums zu einem neuen Zweck dessen Kontext wahren, wenn Datum und Zusammenhang verwendet werden. Das Zweckbindungsgebot ist daher weniger aus der Perspektive eines möglichen Datenmißbrauchs, als vielmehr und allenfalls im Hinblick auf die Norrnenklarheit gerechtfertigt. Die nähere Bestimmung des Zwecks der einzelnen staatlichen Informationstätigkeiten erweist sich als zentrales Problem der Datenschutzdiskussion6o . Die weitreichenden Folgen der Zweckbestimmung seien an zwei Extrempositionen exemplifiziert: Denkbar wäre es einerseits, die "Verwaltung" insgesamt als Zweck zu definieren; dann können Daten im gesamten staatlichen Exekutivbereich ausgetauscht werden. Andererseits gibt es sogar Versuche, in der Behördenhierarchie den einander jeweils über- bzw. untergeordneten Behörden ebenso unterschiedliche Zwecke zuzuordnen wie Behörden mit gleicher sachlicher, aber örtlich unterschiedlicher Zuständigkeit. An dieser Stelle entfaltet der allgemeinwissenschaftliche Zusammenhang zwischen Organisation und Inforrnation 61 Bedeutung: Daten, die unterschiedlichen Zwecken dienen und daher abgeschottet werden müssen, setzen Differenzierungen in der Behördenorganisation voraus. Daraus resultieren Forderungen nach einer "informationellen Gewaltenteilung,,62.
58 J. Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111 Rdnr.73. 59 Vgl. dazu bereits oben im Text sub § 5. B. I. 60 Hierzu sowie zum folgenden ähnlich M. Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen und deren Aufbewahrung durch die Polizei, 1992, S. 79. 61 Siehe dazu bereits oben im Text sub § 5. B. IV. 5. 62 BVerfGE 65, 1 (69).
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Ursächlich für die Probleme bei der näheren Umschreibung des Zwecks ist die bislang nur ansatzweise geglückte Ausdifferenzierung einer Staatsaufgabenlehre. Weitgehende Einigkeit besteht hier nur insoweit, als die Gefahrenabwehr nach außen, die Sicherung des inneren Friedens und die Gesellschaftsgestaltung als fundamentale Bereiche staatlicher Aufgaben unterschieden werden63 . Ausgehend hiervon ist es sachgerecht, jedenfalls die innere Sicherheit als einen Verwendungszweck im Rahmen der Datenverarbeitung zu definieren. Zwischen den einzelnen Sicherheitsbehörden sind daher wegen deren Funktionsidentität keine informationellen Schranken zu errichten64 • b) Mittel Die innere Sicherheit soll durch polizeiliche Informationsvorsorge realisiert werden. Dabei kann innerhalb der polizeilichen Informationsvorsorge zwischen unterschiedlichen Mitteln differenziert werden. Zu denken ist hier an den Gegensatz zwischen offener und verdeckter65 Informationstätigkeit und an die verschiedenen Arten polizeilicher Maßnahmen. E. Weßlau unterscheidet dabei Streifen, informatorische Befragung, Razzien und Kontrollstellen, Observation, V-Leute und verdeckte ErmittIer, die Überwachung mit technischen Hilfsmitteln, die polizeiliche Beobachtung und die Rasterfahndung 66 . Darüber hinaus können auch die einzelnen Schritte der Informationstätigkeit - Erhebung, Speicherung, Verwendung oder Weitergabe der Daten - das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in unterschiedlicher Weise beeinträchtigen67.
c) Zweck-Mittel-Relation Unter Beachtung der insoweit bestehenden Einschätzungs- und Prognoseprärogative muß das gewählte Mittel zur Verfolgung dieses Zweckes geeignet, erforderlich und verhältnismäßig i.e.S. sein. aa) Geeignetheit
Die polizeiliche Informationsvorsorge ist jedenfalls zur Gewährleistung der inneren Sicherheit geeignet. Ein generelles Verbot einer Datensammlung auf Vorrat 63 R. Herzog, in: IsenseelKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, § 58 Rdnrn. 24 ff. 64 Scholz/Pitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, S. 190. 65 Dazu M. Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen und deren Aufbewahrung durch die Polizei, 1992, insb. S. 13 ff. 66 E. Weßlau, Vorfeldermittlungen, 1989, S. 76 ff. 67 Zu den einzelnen Verarbeitungsschritten siehe J. Aulehner, eR 1993,446 (454).
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
besteht nicht 68 . Dieses Verbot schließt nur die Infonnationssammlung zu beliebigen Zwecken aus. bb) Eiforderlichkeit
Das eingesetzte Mittel muß zur Erreichung der angestrebten Zwecke erforderlich sein oder anders ausgedrückt: Es darf kein milderes Mittel geben. Die polizeiliche Infonnationsvorsorge stellt dabei selbst schon insofern ein milderes Mittel dar, als zunächst nur die Infonnationen für einen dann später eventuell erforderlichen staatlichen Eingriff bereitgestellt werden 69 .
C. Das "Grundrecht auf Sicherheit" Kriterien für die Annahme einer Schutzpflicht Ebenso wie das Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung bedarf auch das "Grundrecht auf Sicherheit" der Einschränkung. Andernfalls verlieren die Grundrechte ihre klassische Funktion als Eingriffsabwehrrechte des Bürgers gegen den Staat nicht nur, sondern werden umgekehrt zu Eingriffstiteln des Staates in Rechte der Bürger?o. Das "Grundrecht auf Sicherheit" und das Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung sind die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe, mit deren Hilfe im Dreieck zwischen Staat, dem durch eine staatliche Infonnationstätigkeit betroffenen Bürger einerseits und dem staatlichen Schutz begehrenden Bürger andererseits ein Ausgleich gefunden werden muß. Dieses tripolare Spannungsverhältnis wird weder durch eine Verabsolutierung des Rechts auf infonnationelle Selbstbestimmung noch durch eine Verabsolutierung des "Grundrechts auf Sicherheit" angemessen gelöst. Der Staat tritt in diesem tripolaren Verhältnis nicht mehr allein als die Rechte des Bürgers gefährdender Leviathan, sondern als Vermittler, Schlichter und Koordinator auf. Seine Autorität reduziert sich vielfach auf die Bereitstellung von Lösungswegen, die Sicherstellung der Gleichberechtigung der Partner im Spannungsverhältnis und die Verbindlicherklärung gemeinsam gefundener Entscheidungen. Der Staat ist kooperativer, koordinierender, präzeptoraler, kommunikativer - kurz: - flexibler Staat?l. Will man daher aus der Verfassung eine staatliche Schutzpflicht ableiten, sind die folgenden - sogleich jeweils noch näher zu erläuternden - Voraussetzungen zu 68 Vgl. dazu und gegen E. Denninger, eR 1988,51 (56 ff.) schon Pitschas/Aulehner, NJW 1989,2353 (2355 m. Fußn. 35). 69 Pitschas/Aulehner, NJW 1989,2353 (2355). 70 Hierzu insb. Wahl/Masing, JZ 1990, 553 ff. 71 Dazu bereits oben im Text sub § 8. B. III.
§ 11 Der Ausgleich - Grundlagen einer neuen Informationsordnung
461
beachten 72: Eine erste Relativierung der Schutzpflichten tritt bereits mit der Errichtung von Tatbestandsvoraussetzungen für die Annahme einer Schutzpflicht ein. Darüber hinaus begründen diese Tatbestandsvoraussetzungen zunächst noch keine Schutzpflicht, sondern nur Sicherheit als Staatsaufgabe. Für die Annahme einer Schutzpflicht ist überdies eine gesetzliche Grundlage erforderlich. Als subjektives Recht bedarf die an sich nur objektiv-rechtliche Schutzpflicht schließlich der zusätzlichen Verdichtung.
I. Tatbestandsvoraussetzungen für eine Schutzpflicht
Eine staatliche Schutzpflicht kann angenommen werden, wenn die Gefahr eines rechtswidrigen Eingriffs in ein grundrechtliches Schutzgut durch einen privaten Störer besteht73. Das grundrechtliche Schutzgut als Objekt einer staatlichen Schutzpflicht muß, soll eine solche eintreten, durch einen rechtswidrigen Eingriff eines anderen Bürgers gefährdet sein. Ein als rechtswidrig zu qualifizierender Eingriff ist erforderlich, weil sich insbesondere nach der weiten Tatbestandstheorie der Grundrechte deren Schutzbereich nicht auf Konstellationen beschränkt, in denen keine gegenläufigen Grundrechte beeinträchtigt werden, und zudem der modeme Eingriffsbegriff schon nur mittelbare faktische Grundrechtsbeeinträchtigungen erfaßt. Schutzpflichten greifen dementsprechend nicht nur bei Beeinträchtigungen ein, die die Voraussetzungen des klassischen Eingriffsbegriffs erfüllen. Danach würden nur konkrete, dem Staat oder einem Dritten zuzurechnende Beeinträchtigungen eine Schutzpflicht auslösen. Schutzpflichten entstehen aber bereits dann, wenn mehrere Verursacher - auch räumlich und/oder zeitlich getrennt - zusammenwirken und jeder Tatbeitrag für sich nicht die Qualität eines Eingriffs besitzt74 . Maßstäbe für die Rechtmäßigkeit eines Eingriffs sind die dem staatlichen Gewaltmonopol korrespondierende verfassungsrechtliche Friedenspflicht des Bürgers und das verfassungsrechtliche neminem-Iaedere-Gebot. Dabei stellt das Gewaltmonopol nur einen Unterfall des neminem-Iaedere-Gebots dar. Dieses bedarf selbst keiner weiteren Begründung: Denn es ergibt sich zum einen aus den Prinzipien der Gleichheit, Allgemeinheit und Gerechtigkeit. Zum anderen wäre, wollte man die "horizontale" BürgerlBürger-Beziehung ausklammern, die Gewährleistung der grundrechtlichen Schutzgüter durch die Grundrechte als Abwehrrechte unvollständig.
72 Vgl. hierzu sowie zum folgenden J. Isensee, in: ders.lKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111 Rdnrn. 86 ff. 73 Zu den Tatbestandsvoraussetzungen einer Schutzpflicht vgl. P. Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 74 ff. 74 G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 226.
462
3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
Der im Vordergrund der Stellungnahmen des BVerfG und der Literatur stehende staatliche Schutz der Schutzgüter des Art. 2 11 I GG betrifft zumeist Eingriffe durch physische Gewalt. Diese sind schon wegen des Verstoßes gegen das staatliche Gewaltmonopol regelmäßig rechtswidrig. Die Intensität der Gefährdung ist für das Entstehen der Schutzpflicht irrelevant. Die Differenzierung zwischen einer - ggf. zusätzlich qualifizierten ("dringenden", "gegenwärtigen") - Gefahr, einem Risiko und einem Restrisiko erlangt erst bei der Beurteilung der aus der Schutzpflicht entstehenden Rechtsfolge Bedeutung. Dies gilt umso mehr, als bei den Schutzpflichten der Staat als Adressat der Verpflichtung und der Bürger als Verursacher auseinanderfallen 75. Schutzpflichten müssen daher schon im vorfeld einer konkreten Gefahr eingreifen. Ausreichend sind mithin bereits "nicht unerhebliche Grundrechtsgefährdungen,,76.
11. Sicherheit als Staatsaufgabe
Aus dem Vorliegen der vorgenannten Merkmale resultiert nicht sofort eine Schutzpflicht; vielmehr wird zunächst nur Sicherheit als Staatsaufgabe 77 begründet. 1. Umfang der Staatsaufgabe "Sicherheit"
Der Staat ist prinzipiell verpflichtet, Beeinträchtigungen des status quo zu verhindern bzw. ggf. zu beseitigen. Der Umfang der Staatsaufgabe Sicherheit bestimmt sich dabei nach der Art des gefährdeten Guts, dem Ausmaß eines eventuellen Schadens und der Intensität der Gefährdung. Während einerseits eine sich aktualisierende Gefährdung jedenfalls Schutzpflichten auslöst, kann andererseits nicht jede noch so fernliegende Gefährdung staatliche Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit nach sich ziehen; ein gewisses Restrisiko ist vielmehr hinzunehmen. Dementsprechend lösen "Ungewißheiten jenseits der Schwelle praktischer Vernunft" keine Schutzpflichten aus; erforderlich ist vielmehr mindestens eine "entferntere Wahrscheinlichkeit" oder eine "nicht unerhebliche Grundrechtsgefährdung"78. Der Umfang der Schutzpflicht ist dabei aber in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt79: Zum einen aktualisiert sich die staatliche Aufgabe zur Gewährleistung 75
C. Illig, Das Vorsorgeprinzip im Abfallrecht, 1992, S. 40 f.
BVerfGE 56, 54 (78); 49, 89 (141 f.). Vgl. dazu ausführlich aus jüngerer Zeit C. Gusy, DÖV 1996, 573 ff. 78 BVerfGE 49, 89 (141 f.); F. Ossenbühl, NVwZ 1986, 161 (166). - Kritisch dazu U. K. Preuß, in: D. Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 523 ff., 539 ff. mit der Begründung, hierdurch würde die "Einmaligkeit der eigenen Überraschung" aus der Betrachtung ausgeschlossen und fälschlich eine lineare und kausale Entwicklung unterstellt. 76
77
§ 11 Der Ausgleich - Grundlagen einer neuen Infonnationsordnung
463
der Sicherheit nur, wenn und soweit der Bürger für seine Sicherheit nicht selbst sorgen kann, ohne hierbei gegen das staatliche Gewaltmonopol zu verstoßen. Zum anderen kann vom Staat nicht die Gewährleistung von subjektiver Sicherheit verlangt werden. Wollte der Staat eine ..Freiheit von Angst" sicherstellen, müßte er auch gegen irrationale Ängste Abhilfe schaffen. Die Verfassungsgarantie der Sicherheit beschränkt sich indessen auf die staatliche Gewährleistung eines Zustandes, in dem objektiv kein Grund zur Angst besteht. Die Bestimmung dieser objektiven Sicherheit erfolgt kommunikativ 8o ; sicher ist danach das, was in der Kommunikation als sicher behandelt wird. Schließlich beziehen sich die Schutzpflichten nur auf Gefährdungen, nicht aber auf bereits eingetretene Schäden 81 . Der Staat ist nur zur Beseitigung einer Störung, nicht aber zu Schadensersatz oder einem anderen Ausgleich verpflichtet. Dementsprechend hat das BVerfG einen Anspruch des Opfers einer Straftat auf Überlassung von Informationen aus dem Ermittlungsverfahren für die Geltendmachung von Ersatzansprüchen vemeint82 . Die Bedeutung dieser Beschränkungen kann kaum überschätzt werden. Denn ebenso wie der Schutz des Menschen eine überkommene Staatsaufgabe darstellt, unterliegt eben diese Schutzpflicht vielfachen normativen Begrenzungen 83 .
2. Adressat der Staatsaufgabe "Sicherheit"
Als Staatsaufgabe richtet sich das Verlangen nach Sicherheit an den Staat, d. h. an Legislative, Exekutive und Judikative. Die Legislative hat die erforderlichen Schutznormen bereitzustellen, Exekutive und Judikative haben sie im Rahmen ihrer Zuständigkeit zu vollziehen. Die Zuständigkeit innerhalb der Staatsorganisation wird durch eine Staatsaufgabe nicht festgelegt. Aufgaben grenzen nur das staatliche gegenüber dem gesellschaftlichen Tätigkeitsspektrum ab. Die Zuordnung zu einer Stelle innerhalb der Staatsorganisation setzt darüber hinaus eine Kompetenznorm voraus 84 .
79 Hierzu sowie zum folgenden J. Isensee, in: ders.lKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111 Rdnrn. 141 ff. 80 Siehe hierzu schon oben im Text sub § 6. B. 81 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/l, 1988, S. 737. 82 BVerfG, NJW 1988,405. 83 H. A. Hesse, Der Schutzstaat, 1994, S. 21 f. weist auf die Bedeutung der nonnativen Begrenzung des staatlichen Schutzes nachhaltig hin; er sieht - im Gegensatz zur hiesigen Ansicht - die Gegenwart durch eine Entgrenzung des staatlichen Schutzes gekennzeichnet. 84 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/l, 1988, S. 738.
464
3. Teil: VerfassungsrechtJiche Rezeption
III. Erfüllung der Schutzpflichten auf der Grundlage einer gesetzlichen Regelung
Die an sich weitreichenden, insbesondere nicht auf höchste Rechtsgüter beschränkbaren Schutzpflichten erfordern gesetzliche Grundlagen.
1. Umfang der veifassungsrechtlichen Schutzpjlichten
Die grundrechtlichen Schutzpflichten schützen vor Verletzungen oder Gefährdungen der grundrechtlichen Schutzgüter durch andere Grundrechtsträger, ausländische Hoheitsträger und Naturereignisse 85 . Dies gilt insbesondere dann, wenn man die Schutzpflichten aus der Abwehrdimension der Grundrechte ableitet; in diesem Fall kommt es nämlich auf die Beeinträchtigung des Schutzgutes, nicht aber auf deren Verursacher an. Die verfassungsrechtlichen Schutzpflichten enthalten dabei einen umfassenden Schutzauftrag an den Staat; neben der Schutzverpflichtung stehen die Erhaltungs-, Sicherungs-, Vorbeuge- und Förderpflichten. Der staatliche Schutzauftrag umfaßt mithin auch das Recht und sogar die Pflicht des Staates zur Gefahren- und Informationsvorsorge.
2. Gesetzesmediatisierung der Schutzpjlichten
Die Staatsaufgabe Sicherheit gibt keine Eingriffsbefugnisse; sie legitimiert nur schon bestehende, insbesondere straf- und polizeirechtliche Schutznormen bzw. fordert den Erlaß derartiger gesetzlicher Grundlagen 86 . Dies gilt auch für die aus dem Gewaltmonopol resultierende Friedenspflicht und das neminem-Iaedere-Gebot; auch diese bedürfen, sollen sie durch den Staat durchgesetzt werden, einer gesetzlichen Grundlage. Entweder müssen daher vorhandene gesetzliche Regelungen so ausgelegt werden, daß sie die Erfüllung der Schutzpflicht ermöglichen oder es müssen die jeweils notwendigen Schutznormen erlassen werden. Eine gesetzliche Regelung der Eingriffsbefugnisse ist dabei aus zwei Gründen unabdingbar: Zum einen wird bei der Umsetzung der Schutzpflicht in Rechte Drit85 K. Hesse, in: Benda/MaihoferNogel, (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Auf!. 1994, § 5 Rdnr. 50. 86 Vgl. dazu aus jüngerer Zeit P. Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpf!ichten, 1996, S. 23 ff. Der Begriff der "Gesetzesmediatisierung" von Schutzpflichten findet sich bei J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 44. Ebenso R. Schmidt, in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandeins, 1994, S. 67 ff., 91 ff., der aber auch auf die Konkretisierungskompetenz der Verwaltung hinweist.
§ 11 Der Ausgleich - Grundlagen einer neuen Informationsordnung
465
ter eingegriffen. Zum anderen führt die Schutzpflicht zu einer staatlichen Leistung, nicht nur zur Abwehr von Gefahren für den Bestand. Bei der Erfüllung des Ziels der Störungsabwehr kommt dem Gesetzgeber ein weitreichender Spielraum zu: Er hat die Gefährdung abzuschätzen, die betroffenen Belange abzuwägen und über Schutzvorkehrungen zu entscheiden 87 . Lediglich in Ausnahmefällen ist nur eine einzige Möglichkeit denkbar, durch die der verfassungsrechtlich geforderte Schutz erreicht werden kann 88 . Zuvörderst die gesetzliche Regelung dient als Handlungsanweisung bzw. Kontrollmaßstab für Exekutive und Judikative. Entgegen der Ansicht von D. Murswiek ist der Gesetzgeber nicht primär verpflichtet, durch Verbote vor privaten Grundrechtsbeeinträchtigungen zu schützen 89 . Präventive Mittel sind mit repressiven mindestens gleichrangig, zumal die Verhinderung einer Störung grundsätzlich deren Sanktion vorzuziehen ist. Überdies wirken auch repressive Maßnahmen insofern präventiv, als sie potentielle Störer abschrecken. Um den tatsächlichen - technischen, wissenschaftlichen, soziologischen etc. Anforderungen gerecht zu werden, sind dabei dynamische Regelungen anzustreben; andernfalls sind mit zunehmendem Fortschritt der tatsächlichen Verhältnisse Regelungslücken zu erwarten. Für die Bereitstellung eines derartigen dynamischen Rechtsgüterschutzes sind die überkommenen polizeilichen Generalklausein geradezu prädestiniert.
IV. Verdichtung der Schutzpflicht zu einem subjektiven Recht auf Schutz
Rechtsprechung und Literatur billigen den Schutzpflichten nunmehr den Charakter subjektiver öffentlicher Rechte zu 90 . Dabei richtet sich der Anspruch des einzelnen aber zunächst nur auf staatliche Vorkehrungen zum Schutz der Grundrechte, die nicht gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind91 . Ein über dieses "Ob" eines staatlichen Schutzes hinaus reichendes subjektives öffentliches Recht auf eine bestimmte staatliche Schutzmaßnahme ("Wie") ist wiederum im Einzelfall denkbar.
87 BVerfGE 79, 174 (201 f.); 77, 170 (214 f.); 46, 160 (164 f.); 39, 1 (44). - G. LübbeWolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 26 f.; R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 421; W.-R. Schenke, DVBI. 1988, 165 (166). 88 BVerfGE 39, 1 (46 f.). 89 D. Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 108 ff. 90 BVerfGE 79, 174 (201 f.); 77, 381 (402 f.); 77, 170 (214 f.); 69, I (22); 48, 127 (161). Dazu zusammenfassend P. Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 58 ff. 91 BVerfGE 79, 174 (201 f.); 77, 170 (214 f.).
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
V. Kriterien einer Schutzpflicht - Zusammenfassung
Die Schutzpflichten verpflichten den Staat, zum Schutz grundrechtlich geschützter Rechtsgüter vor grundrechtsgefährdenden Eingriffen Dritter Regelungen zu erlassen, die Grundrechtsgefährdungen praktisch ausschließen 92 .
D. Bauformen des Ausgleichs zwischen dem "Grundrecht auf Sicherheit" und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung Die Entwicklung wenigstens der Grundzüge einer rechtlichen Informationsordnung setzt einen Ausgleich zwischen dem kollidierenden "Grundrecht auf Sicherheit" einerseits und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung andererseits voraus. Die Grundstruktur einer rechtlichen Informationsordnung entsteht, wenn aus dem "Grundrecht auf Sicherheit" und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung unterschiedliche Stufen ausdifferenziert und verknüpft werden.
I. Stufen des "Grundrechts auf Sicherheit"
Die zum "Grundrecht auf Sicherheit" zusammengefaßten staatlichen Schutzpflichten "lassen sich nicht über einen juristischen Leisten,,93 schlagen, sondern hängen von dem jeweils betroffenen Schutzgut, der Wahrscheinlichkeit eines drohenden Schadens und dessen Zurechenbarkeit ab. Dabei hat das Recht für die einzelnen Sachbereiche unterschiedliche Differenzierungen ausgeprägt. Die exemplarisch herausgegriffenen Sachgebiete - das Atom-94, Immissionsschutz-95, Sozial- 96 und Wirtschaftsrecht97 - extrahieren jeweils unterschiedliche Aktualisierungsgrade der staatlichen Schutzpflichten und bezeichnen diese auch nicht einheitlich. Alle diese Differenzierungen resorbieren aber die allgemein für die Auslösung der staatlichen Schutzpflichten entscheidenden Kriterien - Schutzgut, Wahrscheinlichkeit und Zurechnung -; ihre Divergenz
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C. Illig, Das Vorsorgeprinzip im Abfallrecht, 1992, S. 42. J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 37. Siehe hierzu oben im Text sub § 2. D. I. I. Vgl. zu diesem oben im Text unter § 2. D. I. 2. Ausführungen hierzu bereits im Text sub § 2. D. I. 3. Dazu oben im Text sub § 2. D. I. 4.
§ 11 Der Ausgleich - Grundlagen einer neuen Infonnationsordnung
467
resultiert weniger aus einem diesbezüglichen strukturellen Unterschied, als vielmehr aus den Besonderheiten der einzelnen Sachgebiete.
1. Maßnahmen der Gefahrenabwehr und der traditionelle Gefahrenbegriff
Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist ebenso wie im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht insbesondere zwischen dem Vorliegen einer Gefahr i. S. d. Polizeigesetze bzw. einem hinreichenden Tatverdacht i. S. d. StPO und deren Vorfeld zu differenzieren. Auf diese (Grund-)Unterscheidung können prinzipiell auch die inhaltlich wie terminologisch abweichenden Stufungen in den besonderen Sachgebieten zurückgeführt werden.
a) Schaden und Eintrittswahrscheinlichkeit Eine - selbst in Rechte der Bürger eingreifende - Maßnahmen der Gefahrenabwehr rechtfertigende konkrete Gefahr ist eine Sachlage, die bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens im Einzelfall mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden - einer Verletzung der Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung - führt 98 . aa) Schaden
Schutzgüter der polizeilichen Gefahrenabwehr sind die öffentliche Sicherheit oder Ordnung99 . Die öffentliche Sicherheit umfaßt die Unversehrtheit des Lebens, der Gesundheit, Ehre, Freiheit und des Vermögens, der Rechtsordnung und der Einrichtungen des Staates und sonstiger Träger von Hoheitsgewalt einschließlich 98 Vgl. z. B. Nr. 2.2. VollzBek. z. BayPAG sowie BVerwGE 45, 51 (57); BVerwG, NJW 1970, 1890 (1892); E. Mußmann, Allgemeines Polizeirecht in Baden-Württemberg, 4. Auf!. 1994, Rdnr. 161; C. Gusy, Polizeirecht, 2. Auf!. 1994, Rdnr. 108; SchollerlSchloer, Grundzüge des Polizei- und Ordnungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Auf!. 1993, S. 68; W.-R. Schenke, in: V. Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 5. Auf!. 1995,11 Rdnrn. 46 ff.; DrewslWackeNogellMartens, Gefahrenabwehr, 9. Auf!. 1986, S. 220; Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht III, 4. Auf!. 1978, § 125 Rdnr. 18; F. Schoch, JuS 1994,667; BrandtiSmeddinck, Jura 1994,225 (227); Roller, DVBI. 1993,20 (21); VGH München, BayVBI. 1993, 429 (431). 99 SchollerlSchloer, Grundzüge des Polizei- und Ordnungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Auf!. 1993, S. 62 ff.; H.-V. Gallwas, in: ders./Mößle, Bayerisches Polizeiund Sicherheitsrecht, 2. Auf!. 1996, Rdnrn 49 ff. - Gefahrenabwehr und Strafverfolgung sind keine Schutzgüter. Der Sprachgebrauch der "Gemeinsame(n) Richtlinien der Justizministerl -senatoren und der Innenrninister/-senatoren des Bundes und der Länder über die Anwendung unmittelbaren Zwangs durch Polizeibeamte auf Anordnung des Staatsanwaltes", B III. a.E. (abgedruckt z. B. bei KleinknechtIMeyer-Goßner, StPO, 42. Auf!. 1995, Anh. A 15) ist insoweit - worauf E. Denninger, in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Auf!. 1996, E Rdnr. 154 hinweist - verfehlt.
30*
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
der ungehinderten Ausübung der Hoheitsgewalt. Unter öffentlicher Ordnung versteht man demgegenüber die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des einzelnen in der Öffentlichkeit, soweit die Beachtung dieser Regeln nach den herrschenden Auffassungen als unerläßliche Voraussetzung eines geordneten Gemeinschaftslebens betrachtet wird IOD. Schaden ist dabei zwar jede Verletzung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung lOl , nicht aber eine bloße Belästigung, ein reiner Nachteil, eine Unbequemlichkeit oder GeschmacklosigkeitlO2 . Letztere sind für das klassische Polizei- und Ordnungsrecht - anders als für das neuere Gefahrenabwehrrecht (§§ 4 I I BImSchG; 5 I Nr. 3 GastG; I StVO) - irrelevant, wenngleich die Abgrenzung zwischen Gefahr einerseits und Belästigung oder Nachteil andererseits in der Praxis häufig schwierig ist lO3 . Dies gilt umso mehr als die Einstufung als Schaden bzw. als bloße Belästigung oder reiner Nachteil von den zeitlichen und örtlichen Verhältnissen abhängt 104. Die Ausgrenzung bloßer Belästigungen und Nachteile aus der polizeilichen Gefahrenabwehr ist gerechtfertigt, weil das Polizei- und Ordnungsrecht nur die Nonnallage schützt lO5 . Ein Schaden kann sonach nur dann eintreten, wenn der vorhandene Bestand gefährdet ist lO6 . Diese Begrenzung des polizeilichen Handeins auf die Abwehr von Schäden stand historisch im Zentrum der Entwicklung des herkömmlichen Polizeirechts. Sie und die mit ihr verbundene gleichzeitige Ausgrenzung der Wohlfahrtspflege und Gütervennehrung aus dem polizeilichen Aufgabenbereich ist eines der Verdienste der sog. Kreuzberg-Entscheidungen des Preußischen OVG I07 . Ungeschützt sind daher auch bloße Erwerbschancen und die reguläre Abnutzung von Gütern. Das Merkmal des Schadens als Anknüpfungspunkt für die Gefahr ist eine der Ursachen für den statisch-retrospektiven Charakter der Gefahrenabwehr.
100 Vgl. dazu z. B. Nr. 2.2 VollzB zu Art. 2 PAG, MABI. 1978,629; 1983,977; 1985,340; AllMBI. 1989,363. 101 V. Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 12. Aufl. 1995, Rdnr. 116. 102 C. Illig, Das Vorsorgeprinzip im Abfallrecht, 1992, S. 44 f. 103 Hansen-Dix, Die Gefahr im Polizeirecht, im Ordnungsrecht und im Technischen Sicherheitsrecht, 1982, S. 25 ff.; W.-R. Schenke, in: U. Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 1995,11 Rdnr. 51. 104 E. Denninger, in: LiskenIDenninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Auf!. 1996, E Rdnr. 30. 105 T. Würtenberger, in: AchterberglPüttner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. 11, 1992, Kap. 7/1 Rdnr. 150. 106 SchollerlSchloer, Grundzüge des Polizei- und Ordnungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Auf!. 1993, S. 69. 107 Abgedruckt auch in DVBI. 1985,216 ff.; DVBI. 1985,219 ff.
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bb) Wahrscheinlichkeit
Für die Beurteilung der geforderten hinreichenden Wahrscheinlichkeit ist entscheidend, welcher Gewißheitsgrad für die Auslösung von Maßnahmen zur Gefahrenabwehr gefordert wird. Der Schadenseintritt muß nicht gewiß, sondern nur hinreichend wahrscheinlich sein. Hierfür ist eine Gefahrenprognose, die sich ihrerseits aus einem tatsächlichen Sachverhalt und einer Prognose über dessen Fortentwicklung zusammensetzt, erforderlich lOS. Dabei reicht einerseits ein bloßes Für-möglieh-halten des Schadenseintritts nicht, während andererseits auch keine subjektive Gewißheit verlangt werden kann 109. Wahrscheinlichkeit ist dabei - negativ ausgedrückt - nicht schon die bloße Möglichkeit llo . Möglich ist ein Schaden nämlich schon dann, wenn es einen Umstand gibt, der Ursache eines Schadens sein kann. Die Wahrscheinlichkeit eines Schadens setzt demgegenüber und darüber hinaus aber auch eine Gewichtung der Umstände, die die Schadensmöglichkeit begründen, voraus 111. Die positive Bestimmung der Voraussetzungen, unter denen eine (hinreichende) Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, hat sich indessen als problematisch erwiesen. Die polizeirechtliche Literatur begnügt sich häufig mit bloßen Andeutungen hierzu 112. Die eher spärlichen Hinweise auf die Wahrscheinlichkeitsvoraussetzungen beschränken sich zumeist auf die Forderung, daß nach den objektiv erkennbaren Umständen unter Anwendung der Erfahrungssätze mit dem Schadenseintritt gerechnet werden kann. Die in der Definition der Gefahr vorgenommene Verbindung von Schutzgut bzw. Schaden einerseits und dessen Eintrittswahrscheinlichkeit 113 andererseits kommt gerade in der sog. Relativitätsformel besonders zum Ausdruck: Nach dieser sind an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts um so geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist 1l4 . Der traditionelle Gefahrenbegriff des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts setzt ein außerrechtliches objektives Erfahrungswissen, an dem sich das behördliche Handeln orientieren kann, voraus. Die mit Hilfe des traditionellen Gefahrbe108 C. Gusy, Polizeirecht, 2. Aufl. 1994, Rdnr. 112; H.-V. Gallwas, in: ders./Mößle, Bayerisches Polizei- und Sicherheitsrecht, 2. Aufl. 1996, Rdnrn. 58 f. 109 V. K. Preuß, in: D. Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 523 ff., 528 f. 110 Zwischen bloßer Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit differenzierend bereits Scholz, VerwArch. 27 (1919),1 (20). III T. Darnstädt, Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge, 1983, S. 38. 112 Ebenso T. Darnstädt, Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge, 1983, S. 35 f. 113 Zum Gefahrbegriff als Produkt von Eintrittswahrscheinlichkeit und Gefahrengröße vgl. z. B. C. Gusy, Polizeirecht, 2. Aufl. 1994, Rdnrn. 103 ff.; V. Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 12. Aufl. 1995, Rdnrn. 115 ff.; E-L. Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl. 1995, Rdnrn. 61 ff.; E. Denninger, in: LiskenIDenninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Aufl. 1996, ERdnrn. 29 ff. 114 BVerwGE 47,31 (40); 45, 51 (61).
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
griffs zu beurteilende Lage muß sich durch das Bestehen gesellschaftlichen Wissens, der Endlichkeit der auftretenden Phänomene und die Geltung der Kausalgesetze auszeichnen 115 •
b) Geltung der Kausalgesetze - Zurechenbarkeit Die Geltung der Kausalgesetze ist Voraussetzung für die Anwendung des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts, das Maßnahmen der Gefahrenabwehr grundsätzlich nur gegen Störer ll6 zuläßt. Damit ist das neben dem Schutzgut bzw. Schaden und der Eintrittswahrscheinlichkeit dritte Kennzeichen der Gefahrenabwehr die Zurechenbarkeit - angesprochen l17 . Obwohl die Zurechnung bereits vom traditionellen polizeilichen Gefahrenbegriff thematisiert wurde, ist nach wie vor umstritten, mittels welcher Kriterien die polizei- und ordnungsrechtlich relevante Kausalität bestimmt werden kann. Da im Sicherheitsrecht das Verschulden keine Rolle spielt, besteht weitgehend Einigkeit darüber, daß die Zurechnungstheorien aus anderen Rechtsgebieten nicht übernommen werden können ll8 . Die im Strafrecht geltende Äquivalenztheorie, derzufolge eine Handlung dann Ursache eines Erfolgs ist, wenn die Handlung nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non-Formel)1I9, liefert nur ein erforderliches, nicht aber ein hinreichendes Kriterium für die Verursachung i. S. d. Sicherheitsrechts. Da im Sicherheitsrecht - anders als im Strafrecht - das Korrektiv des Verschuldens und der Rechtswidrigkeit des HandeIns keine Rolle spielt, ist die Äquivalenztheorie für das Sicherheitsrecht zu weit. Die Adäquanztheorie des Zivilrechts erklärt ein Ereignis dann für ursächlich und zurechenbar, wenn es im allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen geeignet ist, einen Erfolg der eingetretenen Art herbeizuführen 12o. Das Sicherheitsrecht indessen hat einerseits auch auf außergewöhnliche Entwicklungen, die die Adäquanztheorie ausschließt, zu reagieren. AnI15 Vgl. K.-H. Ladeur, in: Hoffmann-RiemlSchmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandeins, 1994, S. 111 ff. I16 Zum Versuch einer Typologie für die Adressaten präventiver Maßnahmen der Vollzugspolizei siehe G. M. Köhler, ThürVBI. 1996,25 ff.; F. Schoch, JuS 1994,849 ff. sowie zu einer Rechtsscheinhaftung im Polizei- und Ordnungsrecht Schenke/Ruthig, VerwArch 87 (1996), 329 ff. 117 Zu den Rechtsproblemen der Altlasten vgl. z. B. R. Breuer, DVBI. 1994,890 ff.; ders., NVwZ 1987,751 ff. I1S v. Mutius, Jura 1983, 298 (303). I19 Dreherffröndle, StGB, 47. Auf!. 1995, vor § 13 StGB Rdnr. 16. 120 Heinrichs, in: Palandt, BGB, 54. Auf!. 1995, vor § 249 BGB Anm. 5 Ac).
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dererseits sind Ursachen adäquat, die im Rahmen des Sicherheitsrechts für unbeachtlich gehalten werden. Zu nennen ist etwa der ein Räumungsurteil vollstreckende Vermieter hinsichtlich der Obdachlosigkeit des Mieters I2l . Die h.M. in der sicherheitsrechtlichen Literatur und Rechtsprechung vertritt die Theorie der unmittelbaren Verursachung und sieht nur das Verhalten als polizeirechtlich erhebliche Ursache an, das selbst unmittelbar die konkrete Gefahr oder Störung setzt und damit die Gefahrengrenze überschreitet 122. Damit wird zugleich der Bereich der (polizei-)rechtlich relevanten Gefahr eingeschränkt. Eine Gefahr im Rechtssinne liegt nämlich nicht schon dann vor, wenn das Produkt von Schadenshöhe und Wahrscheinlichkeit einen positiven Wert annimmt, sondern erst dann, wenn die Gefahrenschwelle, d. h. "die normative Dezision dessen, was die Rechtsgemeinschaft ohne behördliche Einschreitensmöglichkeit hinzunehmen bereit ist" 123, überschritten wird. Dies zeigt, daß Gefahr keinen Kausalzusammenhang zwischen einer gegenwärtigen Lage und einem künftigen Schaden markiert, sondern ein Urteil über das Bestehen eines derartigen Zusammenhangs darstellt l24 . Alle diese Meinungen, insbesondere auch die letztere h.M. gehen von einer kontinuierlichen und linearen Entwicklung hin zu einem Schaden aus und bejahen eine Gefahrenabwehrmaßnahmen auslösende Gefahr beim Überschreiten einer Belastungsgrenze. Ihnen liegt ein "lineares Normalitätsmodell" 125 zugrunde.
c) Kurzcharakteristik der traditionellen Gefahrenabwehr Zusammenfassung Die herkömmliche Gefahrenabwehr ist bestimmt durch Schaden, Eintrittswahrscheinlichkeit und Zurechenbarkeit. Sie bietet einen nur beschränkten Schutz bzgl. sich bereits konkret abzeichnender Gefahren, einzelner eingrenzbarer Gefährdungen und des jeweils Gefährdeten. Literatur und Rechtsprechung haben die Voraussetzungen der Gefahrenabwehr detailliert und konkretisiert. Gefahrenabwehrmaßnahmen sind danach zulässig, wenn eine Beeinträchtigung nicht mehr sozialadäquat ist, aber auch noch kein Schaden vorliegt. Die Annahme eines linearen Verlaufs zwischen Ursache und Wirkung erweist sich dabei aber angesichts komplexer Systeme, in denen diskontinuierliche Schav. Mutius, Jura 1983,298 (304). DrewslWackeNogeUMartens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, S. 313 f. m.w.N. 123 M. Kloepfer, Umweltrecht, 1989, § 2 Rdnr. 17. 124 U. K. Preuß, in: D. Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 523 ff., 527; D. Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 382. 125 K.-H. Ladeur, in: G. Bechmann (Hrsg.), Risiko und Gesellschaft, S. 209 ff., 210; K.-H. Ladeur, in: BöhretIHill (Hrsg.), Ökologisierung des Rechts- und Verwaltungssystems, 1994, S. 75 f.; U. K. Preuß, in: D. Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 523. 121
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
densentwicklungsschübe zu beobachten sind, als zu sehr vereinfachte Konstruktion der Realität l26 . Offene, mit ihrer Umwelt interagierende Systeme streben nämlich nicht von einem instabilen Zustand in einen stabilen, sondern bewegen sich von einer instabilen Lage in die andere. Für sie sind deshalb nicht lineare, sondern allenfalls zirkuläre und vernetzte Kausalitätsbeziehungen charakteristisch 127. In komplexen Systemen gibt es nicht eine Entwicklung, sondern eine Pluralität von Optionen und Verläufen l28 . Darüber hinaus beschränkt sich die Ungewißheit bei der Entscheidung über Maßnahmen zur Gefahrenabwehr nicht auf die Prognose, sondern erfaßt auch die dem Entschluß zugrunde liegenden diagnostischen und hypothetischen Beurteilungen l29 .
2. Polizei rechtlich anerkannte Modifikationen des Gefahrenbegriffs Anzeichen für eine Abkehr vom traditionellen Gefahrenbegriff
Das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht beschränkt sich aber bereits seit längerem nicht mehr auf diese überkommenen engen Grenzen der Gefahrenabwehr. Es hat diese vielmehr - weithin anerkannt - in zweifacher Weise relativiert: Zum einen wird das prinzipiell erforderliche tatsächliche Bestehen einer Gefahr durch die Anerkennung auch einer nur angenommenen relativiert. Zum anderen werden die engen Grenzen der Zurechnung modifiziert.
a) Anscheinsgefahr - Putativgefahr - Gefahrenverdacht
Im Gegensatz zur bloßen Putativgefahr rechtfertigt auch die Anscheinsgefahr ebenso wie der bloße Gefahrenverdacht polizeiliche Maßnahmen der Gefahrenabwehr. Anscheinsgefahr und Gefahrenverdacht sind der konkreten Gefahr gleichgestellt und bezeichnen nur Situationen, in denen die "Gefahr einer Gefahr,,13o besteht. Die "Gefahr einer Gefahr" stellt ihrerseits eine Gefahr dar l3l . Im Fall der Anscheinsgefahr l32 liegen ex ante objektive Anhaltspunkte für eine Gefahr vor, obwohl bei Kenntnis aller Umstände die Möglichkeit eines SchadensP. Hiller, Der Zeitkonflikt in der Risikogesellschaft, 1993, S. 119. C. Böhret, in: ders. u. a. (Hrsg.), Herausforderungen an die Innovationskraft der Verwaltung, 1987, S. 29 ff., 48. 128 C. Böhret, in: ders. u. a. (Hrsg.), Herausforderungen an die Innovationskraft der Verwaltung, 1987, S. 29 ff., 37 f. spricht von schleichenden Katastrophen, die irgendwo, irgendwie, irgendwann entstehen. 129 U. K. Preuß, in: D. Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 523 ff., 529. 130 K.-H. Ladeur, in: Böhret/Hill (Hrsg.), Ökologisierung des Rechts- und Verwaltungssystems, 1994, S. 75 ff.: "Wahrscheinlichkeit zweiten Grades". 131 Ähnlich C. Gusy, Polizeirecht, 2. Aufl. 1994, Rdnr. 121 bzw. 186. 126
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eintritts auszuschließen ist. Die pflichtwidrige Annahme einer Gefahr stellt demgegenüber eine bloße Putativgefahr dar, die keine Gefahrenabwehrmaßnahmen rechtfertigt. Der Gefahrenverdacht 133 zeichnet sich durch eine bewußte Unsicherheit über den ermittelten Sachverhalt und die Prognose des Kausalverlaufs aus l34 . Damit stellt der Gefahrenverdacht zwar die am weitesten reichende anerkannte Modifikation des überkommenen Gefahrbegriffs dar und erweist sich zugleich als erste Reaktion auf die Erkenntnis, daß Gefahren sich nicht linear aus einer auszumachenden Ursache entwickeln. Mit der Auslösung der Gefahrenabwehr allein schon durch einen bloßen Gefahrenverdacht werden einerseits auch die Anforderungen an die Eintrittswahrscheinlichkeit und den Kausalverlauf relativiert. Die Wahrscheinlichkeit muß indessen schon deshalb als Anforderung aufrechterhalten werden, weil andernfalls in jeder Situation Maßnahmen als Reaktion auf einen Gefahrenverdacht ergriffen werden könnten. Maßnahmen der Gefahrenvorsorge setzen dementsprechend nach einer verbreiteten Meinung 135 im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip einen konkreten, insbesondere durch wissenschaftliche Erkenntnisse begründeten Gefahrenverdacht voraus, da andernfalls für ein rechtsstaatliches Handeln keinerlei Bindungen mehr bestünden 136. Darüber hinaus dürfen nur - bezogen auf das Risiko - verhältnismäßige Maßnahmen getroffen werden. Wenn aber die "Gefahr einer Gefahr" besteht, d. h. hinreichend konkrete Anhaltspunkte für die Möglichkeit eines Schadens, dessen Eintrittswahrscheinlichkeit und dessen Zurechenbarkeit vorliegen, nimmt die h.M. bereits eine Maßnahmen der Gefahrenabwehr rechtfertigende konkrete Gefahr an. Maßnahmen der Gefahrenvorsorge sind daher nur in den Fällen möglich, in denen einerseits der Sachverhalt, die Eintrittswahrscheinlichkeit oder der Kausalverlauf nicht hinreichend feststehen, nicht weiter aufgeklärt werden können und der drohende Schaden nicht schon trotz der Unsicherheit über Sachverhalt und Kausalverlauf wegen seiner Größe eine Gefahr begründet 137 und andererseits kein bloßes Restrisiko besteht. Die "Gefahr einer Gefahr" rechtfertigt daher nur dann Gefahrenabwehrmaßnahmen, wenn jedenfalls der drohende Schaden hinreichend konkretisiert werden kann. Für diese Konstellationen scheidet eine Anbindung der Gefahrenvorsorge an den Gefahrenverdacht aus. Dies gilt auch deshalb, weil Vorsorge gegenüber der Gefahrenabwehr ein qualitatives aliud darstellt 138 . 132 Vgl. dazu V. Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 12. Auf!. 1995, Rdnrn. 125 ff.; F.-L. Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Auf!. 1995, Rdnrn. 69 ff.; Drewsl WackeNogellMartens,.Gefahrenabwehr, 9. Auf!. 1986, S. 226. I33 Vgl. dazu z. B. jüngst K.-H. Ladeur, Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft, 1995, S. 69 ff. 134 R. Fleury, Das Vorsorgeprinzip im Umweltrecht, 1994, S. 48 f. 135 BVerwGE 69, 37. 136 F. Ossenbühl, NVwZ 1986,161 ff. 137 DrewslWackeNogellMartens, Gefahrenabwehr, 9. Auf!. 1986, S. 226 f.
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
Mit der Ausprägung und überwiegenden dogmatischen Anerkennung des Gefahrenverdachts geht eine Erweiterung der Gefahrenabwehrmaßnahmen über den Bereich der Gefahrenabwehr hinaus und hinein in den Bereich der Gefahrenvorsorge einher. Der Gefahrenverdacht weist überdies auf einen erforderlichen Paradigmenwechsel hin: Das an der Differenz von Gefahr und Risiko orientierte Konzept der Gefahrenabwehr muß durch das an die Unterscheidung von Risiko und Restrisiko anknüpfende der Gefahrenvorsorge ersetzt werden l39 .
b) Zweckveranlasser -latente Gefahr Während die Anscheinsgefahr und der Gefahrenverdacht anerkannte Modifikationen des Schadens und dessen Eintrittswahrscheinlichkeit darstellen, relativieren der Zweckveranlasser und die latente Gefahr die Anforderungen an die Zurechnung. Die Theorie der unmittelbaren Verursachung wird so quasi zu einer Theorie der nur mittelbaren Verursachung. Zweckveranlasser ist dabei eine Person, die durch ihr - auf den ersten Blick rechtmäßiges Verhalten - veranlaßt, daß andere stören. Als latente Störung wird ein Verhalten bezeichnet, das die Gefahrenschwelle zunächst nicht, sondern erst nach Hinzutreten weiterer Umstände überschreitet.
3. Umfassende Risikosteuerung Paradigmenwechsel des Polizei- und Ordnungsrechts
Aus heutiger Sicht aktualisieren sich staatliche Schutzpflichten nicht erst beim Vorliegen einer Gefahr, die zur Gefahrenabwehr berechtigt. Die Gefahr als Schwelle zum "alles oder nichts" ist abgelöst durch eine umfassende Risikosteuerung. Mit dieser Entwicklung geht eine weitere Auffacherung der Elemente der Gefahrenabwehr - Schaden, Eintrittswahrscheinlichkeit und Zurechnung - einher.
a) Schaden Die Gefahren- bzw. Informationsvorsorge ist im Gegensatz zur traditionellen Gefahrenabwehr nicht auf die Verhinderung von Schäden beschränkt. Als umfassende Risikosteuerung berücksichtigt sie vielmehr auch unterhalb der Schadensschwelle liegende Ereignisse.
138 R. Fleury, Das Vorsorgeprinzip im Umweltrecht, 1994, S. 5 f.; P. Hiller, Der Zeitkonflikt in der Risikogesellschaft, 1993, S. 121 f. 139 C. Illig, Das Vorsorgeprinzip im Abfallrecht, 1992, S. 48 ff.
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Innerhalb des vordem zu bejahenden oder zu verneinenden drohenden Schadens wird nunmehr zwischen verschiedenen Intensitäten der Beeinträchtigung unterschieden. Diese werden als Schaden, Belästigung und Nachteil bezeichnet. Die Feststellung eines drohenden Schadens ist damit nicht mehr die Entscheidung über das Ja oder Nein von Gefahrenabwehrmaßnahmen, sondern ein Risikobegründungstatbestand. Darüber hinaus sind Schäden in der Risikogesellschaft - anders als früher - teilweise unkorrigierbar. Die Vorsorgepflicht knüpft im Gegensatz zur Gefahrenabwehr in zweifacher Weise an den Schadensbegriff an: Sie nimmt zum einen den Schaden ebenso wie die Schutzpflicht in Bezug. Zum anderen wird der Schaden als negative Zielbestimmung der Vorsorge, als Risikoausschlußtatbestand begriffen. Dieses Verständnis des Schadens ist aber noch nicht umfassend genug: Richtigerweise und vor allem ist er nämlich als Risikoerkenntnistatbestand zu qualifizieren 140. Die bereits gefundene Qualität der Vorsorge als umfassender Risikosteuerung durch Erwartungen und Erwartungserwartungen l41 macht eine Erstreckung der Vorsorge auf den Bereich auch unterhalb eines Schadens erforderlich. Ausreichend sind eine nur dispositionellel 42, potentielle und generelle Schadensneigung.
b) Eintrittswahrscheinlichkeit Die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts kann angesichts eines zu geringen gesellschaftlichen Erfahrungswissens kaum mehr sachgerecht beurteilt werden. Gefahrenvorsorgemaßnahmen auslösende Risiken führen objektiv nicht mehr oder weniger wahrscheinlich zu Schäden. Der Unterschied zwischen Gefahren und Risiken ist nicht objektiv, sondern subjektiv determiniert 143. Damit entscheidet sich zugleich der für die Gefahrenabwehr noch bestehende Streit zwischen einem objektiven 144 und subjektiven 145 Gefahrbegriff für die Gefahrenvorsorge jedenfalls zugunsten des letzteren. Darüber hinaus ist in der gegenwärtigen Situation nicht nur die Ausdifferenzierung und Unterscheidung verschiedener hypothetischer Möglichkeiten, sondern F. Petersen, Schutz und Vorsorge, 1993, S. 221 f. Dazu bereits ausführlich oben im Text sub § 5. B. IV. 3. 142 T. Darnstädt, Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge, 1983, S. 130 ff. 143 U. K. Preuß, in: D. Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 523 ff., 529. 144 V. Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 12. Auf!. 1995, Rdnr. 127; Schwabe, Gedächtnisschrift für W. Martens, S. 419 ff. 145 BVerwGE 49, 36 (43); SchollerlSchloer, Grundzüge des Polizei- und Ordnungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Auf!. 1993, S. 69 f.; Drews/WackeNogellMartens, Gefahrenabwehr, 9. Auf!. 1986, S. 223; Hoffmann-Riem, FS Wacke, 1972, S. 227 ff., 238 f.; Schneider, DVBI. 1980,406; E. Mußmann, Allgemeines Polizeirecht in Baden-Württemberg, 4. Auf!. 1994, Rdnr. 165. 140 141
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
auch die Beurteilung von deren Wahrscheinlichkeit und die am Anfang stehende Diagnose erschwert.
c) Zurechnung Die Zurechnung ist gekennzeichnet durch den Übergang von der Orientierung an allgemeinen, auf der Beobachtung von Ereignissen beruhenden Kausalgesetzen zur methodischen Relationierung von quantifizierbaren abstrakten Variablen. Anders ausgedrückt wird die Zukunft - wie bereits ausführlich dargelegt wurde l46 durch Erwartungen und deren Kontrolle gesteuert. Zurechnungskriterien sind nunmehr die zeitliche und räumliche Nähe oder Feme sowie allgemein der Zusammenhang mit schadensbegründenden Aspekten.
d) Ablösung der traditionellen Gefahrenabwehr durch eine umfassende Gefahrenvorsorge - Zusammenfassung Die heutigen Anforderungen an das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht lassen eine Beschränkung auf die Gefahrenabwehr im überkommenen Sinn nicht mehr genügen. Statt der konkreten Gefahr als "Schwelle zum alles oder nichts" ist eine umfassende Risikosteuerung notwendig. Dabei muß einerseits die Eingriffsschwelle vorverlagert, andererseits der Eingriff relativiert und in seiner Intensität der jeweiligen Gefährdung angepaßt werden. An den Einsatz besonderer Beobachtungsmethoden - technische Überwachungseinrichtungen, verdeckte ErmittIer etc. - sind ebenso besondere Anforderungen zu stellen wie an besonders intensive Datenverarbeitungsfonnen - Rasterfahndung, Erstellung von Persönlichkeitsbildern etc. Neben der herkömmlichen Gefahrenabwehr sind im Rahmen der Gefahrenvorsorge auch sog. Vorfeldmaßnahmen, d. h. alle diejenigen Maßnahmen der Polizei, die im Vorfeld einer von den Polizeigesetzen vorausgesetzten konkreten Gefahr und eines hinreichenden Tatverdachts im Sinne der StPO getroffen werden, erforderlich.
4. Gefahrenabwehr als allein punktuelle retrospektive Risikosteuerung Gefahrenvorsorge als umfassende und auch prospektive Risikosteuerung
Die traditionelle Gefahrenabwehr einerseits und die umfassende Gefahrenvorsorge andererseits stellen ein qualitatives aliud dar, knüpfen an unterschiedliche Beurteilungsgrundlagen an und haben verschiedene Funktionen. 146
Vgl. dazu bereits oben im Text sub § 5. B. IV. 3.
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a) Gefahrenvorsorge - ein qualitatives aliud bzgl. der Gefahrenabwehr Die Gefahrenvorsorge stellt im Verhältnis zur Gefahrenabwehr nicht nur ein quantitatives "Mehr", sondern ein qualitatives aliud dar 147 • Dies ergibt sich grundsätzlich schon aus der Definition der Gefahrenschwelle, die das Ergebnis einer Wertung darstellt. Wären Gefahrenvorsorge einerseits und Gefahrenabwehr andererseits qualitativ vergleichbar, müßte eine der Gefahrenschwelle entsprechende Vorsorgeschwelle gefunden werden können. Dies erscheint problematisch, da schon die Gefahrenschwelle wertend festlegt, welches Gefahrdungspotential die Rechtsgemeinschaft zum Erhalt des damit einhergehenden Vorteils hinnimmt 148 • Dieser erste Eindruck wird durch folgende Überlegungen bestätigt: Während die Gefahrenabwehr durch Schaden und Eintrittswahrscheinlichkeit bestimmt wird, orientiert sich die Gefahrenvorsorge an der Schädlichkeit eines nur singulären Faktors und erfaßt auch einen bloßen Verdacht der Schädlichkeit. Der Schadenseintritt muß bei der Gefahrenvorsorge im Gegensatz zur Gefahrenabwehr nach der Lebenserfahrung zwar einerseits noch nicht hinreichend wahrscheinlich sein. Dies darf aber andererseits nicht dahin mißverstanden werden, daß die Gefahrenvorsorge von jeglichem Gefährdungspotential unabhängig ist. Eine "gefahrenunabhängige Vorsorge" kann es nur in dem Sinne geben, daß staatliche Maßnahmen bereits im Vorfeld einer konkreten Gefahr, nicht aber unabhängig von jeglicher Besorgnis getroffen werden 149• Maßnahmen der Gefahrenvorsorge können daher im Gegensatz zu solchen der Gefahrenabwehr auch dann eingreifen, wenn einer der eine Gefahr begründenden Faktoren - Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe - unbekannt ist 150 . Maßnahmen der Gefahrenvorsorge sind sonach auch nur im Bereich zwischen Gefahr und Restrisiko möglich 151. Die Gefahrenabwehr knüpft demgegenüber erst an sich bereits konkret abzeichnende Gefährdungen an. Während die Gefahrenabwehr somit gegen einzelne eingrenzbare Gefährdungen schützt, will die Gefahrenvorsorge die Gesamtentwicklung beeinflussen. Für Maßnahmen zur Gefahrenvorsorge ist dementsprechend die Vorsorgefähigkeit einer auch noch eher vagen Gefährdung ausreichend. Die Gefahrenabwehr schützt nur Siehe auch K.-H. Ladeur, Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft, 1995, S. 72 ff. R. Fleury, Das Vorsorgeprinzip im Umweltrecht, 1994, S. 44 ff. 149 Vgl. z. B. F. Ossenbühl, NVwZ 1986, 161 (164). 150 F. Petersen, Schutz und Vorsorge, 1993, S. 217 f.; A. Reich, Gefahr - Risiko - Restrisiko, 1989, S. 35. 151 F. Petersen, Schutz und Vorsorge, 1993, S. 215. - Teilweise (z. B. G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 240) werden Maßnahmen der Gefahrenvorsorge auch gegen solche Gefährdungen befürwortet, die dem Bereich des Restrisikos zuzurechnen sind. Hierbei ist aber jedenfalls eine Abwägung zulässig, bei der unverhältnismäßige Maßnahmen ausgeschlossen werden können. 147 148
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
den jeweils Gefährdeten, die Gefahrenvorsorge hingegen die Allgemeinheit. Erstere zeichnet sich durch gesetzlich vorgegebene und durch Literatur und Rechtsprechung konkretisierte Voraussetzungen aus; letztere erfordert demgegenüber wegen ihres umfassenden Anwendungsbereichs eine abstrakte Typenbildung. Einzigste und äußerste Grenze für Maßnahmen der Gefahrenvorsorge ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Die Gefahrenvorsorge erfaßt auch zeitlich und räumlich entfernte Gefahren (Langzeitprinzip ), Fälle geringer Eintrittswahrscheinlichkeit (Vorsichtsprinzip ) und Belastungen, die für sich genommen ungefährlich, aber schädlich und vermeidbar sind (Minimierungsprinzip)152. Innerhalb der Gefahrenvorsorge können mit der primären, sekundären und tertiären verschiedene Stufen unterschieden werden: Während primäre Gefahrenvorsorge Schadenspotentiale absolut verhindern soll, zielt die sekundäre auf Minimierung. Die tertiäre Gefahrenvorsorge ist bereits auf Schadensbegrenzung gerichtet. Darüber hinaus können drei Kriterien der Gefahrenvorsorge unterschieden werden: Gefahrenvorsorge ist auf die Erhaltung oder Verbesserung des status quo gerichtet, von Gefahren unabhängig und hat - wie sich auch noch näher zeigen wird l53 - eine planerische Komponente l54 . Das Spezifikum der Gefahrenvorsorge besteht im Gegensatz zur Gefahrenabwehr darin, daß kein ausreichendes Erfahrungswissen vorliegt und wegen des drohenden gravierenden Schadens nicht abgewartet werden kann, bis ein solches gebildet wird. Maßnahmen der Gefahrenabwehr werden daher durch vorhandenes Erfahrungswissen ausgelöst. Gefahrenvorsorgemaßnahmen sind demgegenüber und umgekehrt Reaktionen auf fehlendes Erfahrungswissen 155.
b) Die Beurteilungsgrundlagen für Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge zeichnen sich durch stark divergierende Beurteilungsgrundlagen aus. Die Gefahrenabwehr fußt auf einer auf einen bestimmten Zeitpunkt bezogenen Gesamtbeurteilung, die auf allen für das Vorliegen einer Gefahr relevanten Umständen beruht, und ist vergangenheitsbezogen. Die Fehlermöglichkeiten sind hierbei insofern eingeschränkt, als Irrtümer prinzipiell nur entweder durch die unvollständige Berücksichtigung der für die Gesamtsituation relevanten Faktoren oder durch eine Fehlprognose entstehen können. Maßnahmen der Gefahrenvorsorge gehen demgegenüber von einem bestimmten, bekannten einzelnen Faktor, nicht aber von einer Gesamtbeurteilung einer bestimmten Situation aus. Der Faktor, an den Maßnahmen der Gefahrenvorsorge anknüpfen, darf definitionsgemäß noch keine Gefahr begründen; sonst ist die Gefah152 153 154 155
F. Kohout, Vorsorge als Prinzip der Umweltpolitik, 1995, S. 109 ff. Vgl. dazu unten im Text sub § 13. Dazu z. B. C. Illig, Das Vorsorgeprinzip im Abfallrecht, 1992, S. 7 f., 66 ff. Siehe dazu R. Fleury, Das Vorsorgeprinzip im Umweltrecht, 1994, S. 55 f.
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renschwelle überschritten und es liegt eine Maßnahme der überkommenen Gefahrenabwehr vor 156 . Dementsprechend kann Gefahrenvorsorge grundsätzlich nicht zum Verbot, sondern nur zu Vermeidungsmaßnahmen führen. Eine Ausnahme hiervon besteht jedoch dann, wenn Gefährdungen weder beherrschbar noch hinnehmbar sind. Da sich die Gesamtsituation "so, aber auch anders" entwickeln kann, ist der Faktor, an den bei der Gefahrenvorsorge angeknüpft werden soll, mit einer Vielzahl hypothetisch denkbarer Fortentwicklungsmöglichkeiten zu kombinieren, bevor gefahrenvorsorgende Maßnahmen getroffen werden. Die Gefahrenvorsorge ist daher im Gegensatz zur retrospektiven Gefahrenabwehr zukunftsbezogen. Dies führt im Vergleich mit der Gefahrenabwehr zu einer Multiplikation möglicher Fehlerquellen bei der Gefahrenvorsorge. Ebenso wie bei der Gefahrenabwehr kann die Ausgangssituation falsch beurteilt werden, weil ein relevanter Faktor irrtümlich für irrelevant oder umgekehrt ein irrelevanter fälschlich für relevant gehalten oder eine Fehlprognose getroffen wird. Bei der Gefahrenvorsorge vervielfachen sich diese Fehlermöglichkeiten aber zusätzlich, weil hypothetische Lagen übersehen werden können und für jede Lage eine Fehlprognose möglich ist. Gefahrenvorsorge und Gefahrenabwehr unterscheiden sich mithin auch hier insofern diametral, als letztere auf der Grundlage einer Gesarntbeurteilung eine singuläre Entwicklung beeinflussen möchte, während erstere auf der Basis eines singulären Faktors die Gesamtentwicklung steuern will. Entsprechend der Diskrepanz von Gesamtbeurteilung und Teilsteuerung einerseits und Teilbeurteilung und Gesamtsteuerung andererseits sind die Fehlermöglichkeiten im Rahmen der Gefahrenvorsorge ungleich und exponentiell größer als bei der Gefahrenabwehr.
c) Funktionen der Gefahrenvorsorge Im Gegensatz zur Gefahrenabwehr ist die Gefahrenvorsorge multifunktional. Sie hat sowohl Gefahrvermeidungs- als auch Gefahrbekämpfungsfunktion. Nach ersterer soll die Gefahrenvorsorge einen Faktor als Ursache für die Entstehung einer späteren Gefahr ausscheiden, nach letzterer soll die Gefahrenvorsorgemaßnahme die Gefahrbekämpfung erleichtern, wenn die Gefahrentstehung nicht vermieden werden kann. Die Gefahrenvorsorge ist überdies geeignet, das in der Gefahrenabwehr zum Ausdruck kommende, durch eine lineare Kausalität geprägte Erkenntnismodell so zu ergänzen und zu verändern, daß auch nicht-kausale und deshalb überraschende Ereignisse in Rechnung gestellt werden können 157 .
156 157
Vgl. z. B. BVerwGE 69, 37 (42 ff.).
u. K. Preuß, in: D. Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben,
1994, S. 523 ff., 534.
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
Im Gegensatz zur Gefahrenabwehr, die auf permanente Erhaltung und Wiederherstellung des status quo gerichtet ist, trägt Gefahrenvorsorge der irreversiblen Kontinuität der Entwicklung Rechnung. Sie zielt daher auf eine gefahrenunabhängige umfassende Risikosteuerung1 58 .
d) Umfassende Risikosteuerung durch Gefahrenvorsorge Gefahrenvorsorge stellt sich sonach als der umfassende, die staatliche Gefahrenabwehr miteinschließende Begriff polizeilicher Risikosteuerung dar 159. Während die Gefahrenabwehr sich prinzipiell auf eine konkret-individuelle Gegensteuerung beschränkt, zeichnet sich die Gefahrenvorsorge durch abstrakt-generelle Gegenmaßnahmen aus. Hierbei erweist sich Vorsorge als ein übergreifendes Rechtsprinzip, das Maßstäbe für eine rechtliche Steuerung der gesellschaftlichen Wissensanwendung enthäl.t 160. Das Recht der Gefahrenvorsorge ist daher "Meta-Recht" bzw. "Recht zweiter Ordnung" insofern, als es nicht selbst rechtliche Lösungen enthält, sondern nur regelt, wie eine rechtliche Regelung zu finden ist. Diese Qualität des Rechts der Gefahrenvorsorge ist folgenreich: Gefahrenvorsorge erfordert reflexives Recht, das vorrangig durch die Offenhaltung der Lernfähigkeit des Rechts charakterisiert ist. Der Begriff der Gefahrenvorsorge ist dabei weniger informations- als vornehmlich entscheidungsorientiert. Der Wandel von der Gefahrenabwehr zur Gefahrenvorsorge geht mit der Umstellung von der Rationalität des Entscheidens zu Risikoentscheidungen einher. Gefahrenvorsorge kann angesichts der in der Risikogesellschaft herrschenden Ungleichgewichtsbedingungen nicht auf Bestandserhaltung in der Zukunft zielen, sondern will und kann vielmehr nur den Umgang mit Unsicherheit regeln. Dabei wird Risiko zum Reflexionspotential. Entscheidend für die Auslösung einer Schutzpflicht und ihrer Intensität sind daher nicht mehr allein und erst Art und Rang des zu schützenden Rechtsguts, Art, Nähe und Ausmaß möglicher Gefahren und deren Zurechenbarkeit. Handeln unter Ungewißheitsbedingungen setzt vielmehr offene gesetzliche Ziel vorgaben sowie flexible und situationsadäquate Rechtsfolgen voraus. Gefahrenvorsorge muß deshalb schon mit der Rechtsetzung beginnen und darf mit dem Normvollzug nicht enden. Die in einer Entscheidung ausgeschlossenen Alternativen müssen als Kontrollkriterien weiterhin Berücksichtigung finden, um so Risikowissen zu gewinnen. Im Gegensatz zur Gefahrenabwehr ist die Gefahrenvorsorge nicht auf Bestandser-
R. Pitschas, DÖV 1989,785 (796). Zum Risiko als auch die Gefahr umfassenden Oberbegriff vgl. K.-H. Ladeur, Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft, 1995, S. 76 ff. 160 U. K. Preuß, in: D. Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 523 ff., 542. 158 159
§ 11 Der Ausgleich - Grundlagen einer neuen Informationsordnung
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haltung, sondern auf das Offenhalten von Handlungsalternativen gerichtet. Die so verstandene Gefahrenvorsorge konfligiert notwendigerweise mit dem Datenschutz.
5. Stadien der Risikovorsorge im Hinblick auf staatliche Informationstätigkeit
Eine umfassende staatliche Informationstätigkeit ist nur beim Vorliegen einer konkreten Gefahr und bei Einhaltung der Voraussetzungen für Maßnahmen der Gefahrenabwehr zulässig. Weitere Abstufungen markieren der Gefahrenverdacht und die Gefahrenvorsorge.
a) Gefahrerforschungseingriff bei Gefahrenverdacht Der bloße Gefahrenverdacht rechtfertigt schon nach den Grundsätzen des überkommenen Sicherheitsrechts jedenfalls einen sog. Gefahrerforschungseingriffl61 , d. h. Maßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts. Der damit angesprochene Grundsatz der Amtsermittlung erweist sich aber im hiesigen Zusammenhang allenfalls als bedingt geeignet, das von der Verwaltung heute geforderte Handeln unter Ungewißheitsbedingungen zu ermöglichen und zu regeln. Derartiges, riskantes Verwaltungshandeln ist gesetzlich bislang noch kaum rezipiert. § 24 VwVfG geht von einer umfassenden Aufklärung des Sachverhalts aus; § 26 I 1 VwVfG stellt die durch die Behörde heranzuziehenden Beweismittel in deren pflichtgemäßes Ermessen. Für die Bewältigung von Ungewißheit sind aber beide wenig hilfreich l62 . Nach h.M. setzen Maßnahmen der Verwaltung eine volle Überzeugung, d. h. einen so hohen Grad von Wahrscheinlichkeit voraus, daß er nach der Lebenserfahrung der Gewißheit gleichkommt. aa) Sachverhaltsermittlung und Veifahrenseinleitung
Tatsächlich erweist sich der Vorgang administrativer Entscheidungsfindung als ein in seiner Komplexität vielfach unterschätztes Konkretisierungsproblem. Dieses umfaßt die Problem- und Situationsdefinition, die Sachverhaltsfeststellung sowie die Prüfung und den Vergleich der in Betracht kommenden Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten 163. Die Aufgabe der Verwaltung beschränkt sich mithin keineswegs auf die Subsumtion eines vorgefundenen Sachverhalts unter das die Verwaltung anleitende Normmaterial. Der zu subsumierende Sachverhalt muß vielmehr im Einklang mit den auf ihn anzuwendenden Normen erst konstituiert 161 Siehe hierzu aus jüngerer Zeit R. Dill, Amtsermittlung und Gefahrerforschungseingriffe, 1997, S. 43 ff.; T. B. Petri, DÖV 1996,443 ff. 162 R. Pitschas, in: Hoffmann-RiemlSchmidt-AßmannlSchuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 219 ff., 289. 163 R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 687.
31 Aulehner
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
werden l64 . Da - wie bereits nachgewiesen wurde 165 - die Wirklichkeit und damit auch der von der Verwaltung zu bewältigende Sachverhalt kommunikativ konstituiert werden, müssen auch die Entscheidung und die daran eventuell anknüpfende Handlung der Verwaltung kommunikativ gefunden werden. Entscheidend ist dabei schon die am Beginn der Konkretisierung stehende Situations- und Problemdefinition, die die Informationsverarbeitung und die Überzeugungsbildung vorzeichnet l66 . Dies gilt sowohl in materieller als auch in formeller Hinsicht: Die Beteiligten müssen sich nicht nur über den Inhalt der zu bewältigenden Situation und des zu lösenden Problems verständigen, sondern auch über die Art und Weise des Umgangs mit ihm I6 ? Diese kommunikative Orientierung der administrativen Entscheidungsfindung, die sich bereits an der Situations- und Problemanalyse gezeigt hat, wirkt sich auch auf die Modalitäten der Verfahrenseinleitung aus. Auch diese erfolgt kommunikativ in dem Sinne, daß Verwaltung und Bürger hierbei kooperieren müssen. Die Bürger unterliegen einerseits Mitwirkungspflichten; andererseits ist die Verwaltung zur Verfahrenseinleitung aufgefordert, wenn sie anhand der ihr zugänglichen Informationen erkennt, daß administratives Handeln oder Entscheiden gefordert ist l68 . Herkömmlicherweise konzentrierte sich das Recht auf zwei Modalitäten der Verfahrenseinleitung: das Legalitäts- und das Antragsprinzip l69. Daneben besteht aber eine dritte Möglichkeit, in der die Verfahrenseinleitung in das Ermessen der Verwaltung gestellt ist. Um der mit diesem Verfahrensermessen der Verwaltung zugleich auferlegten Verfahrens verantwortung gerecht werden zu können, muß die Administrative den ihr jeweils zugewiesenen sachlichen Bereich schon im Vorfeld konkreter Verfahren kontinuierlich überwachen. Für das polizeiliche Tätigkeitsspektrum bedeutet dies, daß die Polizei nicht erst beim Vorliegen konkreter Gefahren, sondern schon bei einem bloßen Gefahrenverdacht tätig werden darf17o. Die Verwaltung kann sich dabei nicht auf eine "einfache" Ermessensentscheidung bzgl. der Einleitung eines Verfahrens beschränken. Erforderlich ist vielmehr die - wie R. Pitschas formuliert - "Einschätzung sektoraler zukünftiger Entwicklung"I?I. Anders ausgedrückt muß die Administrative Erwartungen ausdifferenzieren. Die der Verwaltung dabei gerade bei Entscheidungen unter Ungewißheitsbe164 R. Pitschas, in: Hoffmann-RiemlSchmidt-AßmannlSchuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 219 ff., 286 f. 165 Vgl. dazu oben im Text sub § 4. C. und E. 166 R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 687. 167 R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 689. 168 R. Pitschas, in: Hoffmann-RiemlSchmidt-AßmannlSchuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 219 ff., 287 f. 169 R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 690 f. 170 R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 693 ff. l7l R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 694.
§ 11 Der Ausgleich - Grundlagen einer neuen Informationsordnung
483
dingungen zukommenden breiten Entscheidungsmöglichkeiten und die damit einhergehende Verfahrensverantwortung übertragen der Administrative einen Spielraum, den sie nur unter Einbeziehung materieller Regelungen sachgerecht ausfüllen kann. Die mithin "qualifizierte" Ermessensentscheidung über die Einleitung eines Verfahrens kann sich soweit "verdichten", daß eine Ermessensreduzierung auf Null eintritt und der Bürger einen Anspruch auf Verfahrenseinleitung hat. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn - wie vornehmlich im Bereich der Gefahrenabwehr - grundrechtliehe Schutzgüter unmittelbar gefährdet sind 172. Die polizeiliche Informationsvorsorge kann sonach zum einen im Zusammenhang mit Maßnahmen der Gefahrenabwehr erfolgen; zum anderen kann sie aber auch im Vorfeld der Einleitung eines konkreten Verfahrens als kontinuierliche (Vorfeld-) Beobachtung des der Polizei zugewiesenen Sektors stattfinden 173. bb) Umfang der Sachverhaltsermittlung
Für den Umfang der Sachverhaltsermittlung gibt es ebensowenig einen objektiv-rechtlichen Maßstab wie für die Verfahrenseinleitung. Der Umfang der Sachverhaltsaufklärung wird vornehmlich durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bestimmt l74 . Dieser setzt einen für die Einschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung erforderlichen Zweckbezug und die Erforderlichkeit der (weiteren) Sachverhaltsaufklärung voraus 175. In prozeduraler Hinsicht wird von der Verwaltung die Bereitschaft zur Kommunikation gefordert. Die allgemeinoder jedenfalls für die Beteiligten verbindliche Konstitution des Sachverhalts verlangt von der Verwaltung Dialogbereitschaft und informationelle Kooperation l76 . ce) Die Bewältigung von Ungewißheit
Das Recht reagiert auf Ungewißheit grundsätzlich durch Beweislastentscheidungen. Zwar wird auch im öffentlichen Recht versucht, Beweislastregeln aus dem "Normbegünstigungs-" oder dem "Regel-Ausnahme-Prinzip" sowie aus der "in dubio pro libertate" - bzw. "in dubio pro auctoritate" -Vermutung zu gewinnen. Das mit der Anwendung von Beweislastregeln verbundene "alles-oder-nichts"-Prinzip wird aber der kommunikativen Konstitution der Wirklichkeit und dem kommuniR. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 695. Vgl. zu dieser Differenzierung M. Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen und deren Aufbewahrung durch die Polizei, 1992, S. 218 ff., 225 ff. 174 R. Pitschas, in: Hoffmann-RiemlSchmidt-Aßmann/Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 219 ff., 288 f. 175 Siehe hierzu bereits oben im Text sub § Il. B. 111. 2. 176 R. Pitschas, in: Hoffmann-RiemlSchmidt-Aßmann/Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 219 ff., 288 f.; R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungs verfahren, 1990, S. 700 f. I72
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
kativen, kooperativen und konsensualen Staat l77 sowie der hieraus resultierenden Verwaltung nicht gerecht 178 . Stattdessen ist auf unterschiedliche Stufen von Wahrscheinlichkeit abzustellen. Die mit Beweislastregeln verbundene absolute Risikozuweisung kann dabei den Erfordernissen eines kommunikativen, kooperativen und konsensualen Verwaltungshandelns entsprechend relativiert werden, indem unterschiedliche Wahrscheinlichkeitsgrade ausdifferenziert werden 179. Die Ausbildung unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsstufen erfolgt durch Abwägung der beteiligten Rechtsgüter, bei der auch die Wahrscheinlichkeit selbst und die an das Konkretisierungsergebnis zu knüpfenden Folgen miteinbezogen werden l80 . b) Aufklärungseingriff zur Gefahrenvorsorge Jenseits eines Gefahrenverdachts kommen Aufklärungseingriffe im Wege der Gefahrenvorsorge in Betracht, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für einen nicht hinnehmbaren drohenden Schaden bestehen und kein Restrisiko vorliegt. aa) Tatsächliche Anhaltspunkte
Auch im Rahmen der Gefahrenvorsorge können Aufklärungseingriffe nicht auf der Grundlage bloßer Möglichkeiten, Hypothesen oder Spekulationen erfolgen. Erforderlich ist vielmehr, daß aus der Sicht eines verständigen Beobachters die begründete Befürchtung eines Schadenseintritts besteht. bb) Maßstab praktischer Vernunft
Jenseits praktischer Vernunft und damit im Bereich des Restrisikos liegt ein Aufklärungseingriff namentlich dann, wenn tatsächliche Anhaltspunkte fehlen, die Eintrittswahrscheinlichkeit vernachlässigbar gering ist oder Erkenntnisdefizite die Entscheidung nicht zulassen, ob eine Gefahr vorliegt, und der drohende Schaden so begrenzt ist, daß er angesichts der Vorteile eines Nichteinschreitens für die Allgemeinheit hingenommen werden kann 181. Schäden können damit zwar nicht theoretisch ausgeschlossen werden, Schutzvorkehrungen sind aber im Hinblick auf die prinzipielle Knappheit der Ressourcen nicht angebracht. Das hinzunehmende Restrisiko ist daher auch nicht durch wissenschaftliche Analyse, sondern im Wege einer normativen Entscheidung über die Akzeptabilität von Erkenntnisirrtümern charakterisiert 182. 177 178 179
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Vgl. dazu oben im Text sub § 4. C und E. sowie § 8. B. III. R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 701 ff. R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 705 ff. R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 707 ff. R. Fleury, Das Vorsorgeprinzip im Umweltrecht, 1994, S. 63 f.
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cc) Hinnehmbarkeit von Schäden Die Hinnehmbarkeit von Schäden läßt sich nicht abstrakt und allgemein beurteilen. Über sie muß durch Abwägung in jedem Einzelfall entschieden werden l83 .
11. Inhaltliche Grundstrukturen einer Informationskultur und Informationsordnung Die vorausgehenden Ausführungen zu den Relativierungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung 184 ermöglichen die Festlegung erster, wenn auch nur grober Strukturen der Informationskultur und -ordnung. Deren nähere Ausgestaltung darf nicht bei rein formellen Anforderungen an den Informationsfluß und die Informationsverteilung stehenbleiben, sondern muß inhaltliche Festlegungen treffen l85 . Verfahrensmäßige Anforderungen können ein grundrechtsgemäßes Ergebnis nämlich nur wahrscheinlicher machen, es aber nicht garantieren 186.
1. Rückgriff auf die Informationskultur Eine nähere Konturierung der rechtlichen Informationsordnung und dem hierbei erforderlichen Ausgleich zwischen dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung und dem "Grundrecht auf Sicherheit" ist nur durch einen Rückgriff auf die Informationskultur möglich. Ebenso wie das Recht allgemein sowohl kulturabhängig als auch kulturprägend ist 187, stehen auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung einerseits und die Informationskultur andererseits in einer Wechselbeziehung. Als gesellschaftliche Informationskultur kann dabei das soziale Bewußtsein, das Aussagen über das typische Informationsverhalten - die Erhebung, Verarbeitung und Verwendung von Informationen - in der Gesellschaft macht, definiert werden. Die so verstandene Informationskultur manifestiert sich in den Erfahrungen des einzelnen über den gesellschaftlichen Umgang mit Information, gemeinsamen Werten und Zielen sowie gesellschaftlichen Verhaltensrichtlinien. Sowohl der gesellschaftliche als auch der individuelle Umgang mit Informationen wird durch die Informationskultur als kollektiv perzipiertes und akzeptiertes Verhaltensmuster geU. K. Preuß, in: D. Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 523 ff., 529 f. R. Fleury, Das Vorsorgeprinzip im Umweltrecht, 1994, S. 58 ff. 184 Vgl. dazu oben im Text sub § 9. B. 185 Materiale, nicht nur formale Regelungen fordert bereits R. Pitschas, VVDStRL 51 (1992),149 (151) - Diskussionsbeitrag. 186 H. H. Klein, DVBl. 1994,489 (490); R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 445 f. 187 Vgl. dazu bereits oben sub § 7. insb. E. 182 183
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
steuert. In der Infortnationskultur spiegeln sich somit in der Vergangenheit gemachte Erfahrungen im Umgang mit Infortnationen wider. Die Infortnationskultur steht mit ihren Manifestationen und den Werten der Gesellschaft ebenso in Wechselbeziehung wie mit den infortnationskulturellen Grundannahmen. Die Kommunikationsinteressen sowohl der Allgemeinheit als auch des einzelnen sind insbesondere dort gleichgerichtet, wo ohne konkrete Anhaltspunkte vollständige Persönlichkeitsbilder erstellt werden sollen. An einer lückenlosen Überwachung einzelner ohne Zusammenhang mit einem besonderen Verdacht oder Risiko haben weder die Allgemeinheit noch der einzelne ein Interesse. Umgekehrt haben sowohl der einzelne als auch die Gemeinschaft ein existentielles Interesse daran, daß jedenfalls die Infortnationen kommuniziert werden, die eine Individualisierung der jeweiligen Personen ermöglichen. Welche Infortnation dies jeweils ist, kann nicht allgemein festgelegt werden. Der Familienname wird es häufig, aber nicht immer sein. Im privaten Bereich kann es ein Vor-, Spitz- oder Hausname sein; denkbar ist auch ein Künstlername. Im Umgang mit Behörden sind häufig weitere Individualisierungsmerkrna1e - Geburtsdatum, Anschrift etc. erforderlich. Die für eine Individualisierung notwendigen Daten werden auch in Situationen kommuniziert, in denen es dem einzelnen und/oder der Allgemeinheit gerade darauf ankommt, daß ihr Name etc. nicht preisgegeben wird: Bei sozial diskriminierten Handlungen wird der Name jedenfalls in der Regel nicht genannt werden sollen und wollen. Die Individualisierung erfolgt hier aber über andere Merkmale, z. B. über die Zahlungsfähigkeit und -willigkeit.
2. Mögliche Inhalte eines "InJormationsgesetzbuchs"
Eine rechtliche Infortnationsordnung setzt voraus, daß die kulturellen Infortnationsbeziehungen nortnativ fixiert werden. Ein gefordertes 188 "Infortnationsgesetzbuch" kann nur entwickelt werden, wenn die sich in der Infortnationskultur niederschlagenden gesellschaftlichen Informationsbeziehungen hinreichend konkret festgelegt sind. Während das StGB zwischen erlaubten und unerlaubten Handlungen unterscheidet und das BGB etwa Sachen Menschen zuordnet, wird ein "Infortnationsgesetzbuch" die Zugänglichkeit von Infortnationen, deren Einbeziehung in Entscheidungsprozesse, den Technikeinsatz und die Zuordnung von Infortnationen zu Personen regeln müssen.
188 Siehe hierzu sowie zum folgenden H. F. Spinner, Die Wissensordnung, 1994, S. 142 ff. unter Hinweis auf Hj. Garstka.
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3. Informationsordnung - einzelne Grundstrukturen
Ebenso wie die zum "Grundrecht auf Sicherheit" zusammengefaßten staatlichen Schutzpflichten können auch innerhalb der Bandbreite des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung als verfassungsrechtlichem Schlüssel be griff verschiedene Intensitätsgrade unterschieden werden.
a) Informationsfreiheit als Grundsatz - Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausnahme Die allgemeinwissenschaftliche Untersuchung 189 hat ergeben, daß die Wirklichkeit kommunikativ konstituiert wird und Information eine von mehreren zur Kommunikation zusammengefaßten Selektionen darstellt. Im Gegensatz zur herrschenden Meinung sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Rechtsprechung und dem rechts wissenschaftlichen Schrifttum muß daher die Informationsfreiheit, nicht aber das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Regelfall gesehen werden. Wenn die Wirklichkeit kommunikativ konstituiert wird, verfälscht jede Unterdrückung von Information die menschliche Wirklichkeitsauffassung 19o. Nicht die Informationsfreiheit, sondern vielmehr die Informationsbeschränkung bedarf wegen der mit ihr einhergehenden Manipulation der Wirklichkeit der Rechtfertigung\91.
b) Freiwillige Datenangabe bzw. allgemein zugängliche Informationen Der Gegensatz zwischen dem "Grundrecht auf Sicherheit" einerseits und der informationellen Selbstbestimmung andererseits relativiert sich, wenn der Bürger seine Daten freiwillig dem Staat zur Verfügung stellt. Eben dies kommt auch im "Volkszählungs"-Urteil des BVerfG zum Ausdruck, das den Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung noch auf die zwangsweise staatliche Informationserhebung beschränkt. Dies gilt in ähnlichem Maße für allgemein zugängliche Informationen. Siehe hierzu oben im Text sub 2. Teil. § 4. und § 5. Konsequenterweise ist daher nicht nur das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, sondern auch und umso mehr die umgekehrte Konstellation, das Recht des Bürgers auf Information gegen den Staat zu diskutieren. Zu letzterem aus jüngerer Zeit z. B. S. W. H. Lodde, Informationsrechte des Bürgers gegen den Staat, 1996, S. 1 ff., 7 ff., 139 ff., 193 ff., 209 ff. 191 Diese und die folgenden Relativierungen kommen als Abstufungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung nur in Betracht, wenn man diese Konstellationen - teilweise entgegen der hiesigen Ansicht (vgl. dazu im einzelnen schon oben im Text sub § 11. B.) überhaupt noch vom Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung umfaßt ansieht. 189
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
c) Wahre versus falsche Infonnationen Für falsche Infonnationen ist das Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung eindeutig vorrangig. Das gegenläufige "Grundrecht auf Sicherheit" erfordert und rechtfertigt die Vorhaltung wahrer, nicht aber die falscher Infonnationen. Die Bedeutung der Wahrheit gegenüber dem Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung hat insbesondere J. Brossette in überzeugender Fonn herausgearbeitet l92 . Als problematisch hat sich dabei aber die Definition von Wahrheit erwiesen 193.
d) Sensible Daten Kommunikation und Information konstituieren die Wirklichkeit, Personen und Organisationen. Der einzelne hat daher kein absolutes Recht an seinen Daten, sondern ist gemeinschaftsbezogen. Geschützt sind mithin nur sensible Daten.
e) Zweckbindung und Erforderlichkeit Vorrang genießt die Datenerhebung und -verarbeitung jedenfalls auch dann und insoweit als der Zweck der Daten hierbei nicht verändert wird und die staatliche Infonnationstätigkeit für die Erfüllung der der Behörde obliegenden sachlichen Aufgaben erforderlich ist.
f) Unterschiede zwischen den Infonnationsschritten Infonnationserhebung, -verarbeitung, -nutzung versus Infonnationsverwertung
Innerhalb der Infonnationstätigkeit ist zwischen den einzelnen Schritten zu differenzieren. Aus hiesiger Sicht sind die ersten Stufen der Infonnationstätigkeit Infonnationserhebung, -sammlung und -verarbeitung - umso mehr gerechtfertigt, als über die Verwertung vorgehaltener Infonnation nochmals gesondert entschieden werden kann. aa) Informationsverwertung als entscheidendes Ausgleichsinstrument
Die Erhebung von Infonnationen als erstem Schritt stellt das Beschaffen von Infonnationen über den Betroffenen (§ 3 IV BDSG I94 ) unmittelbar beim Betroffenen 192 1. Brossette, Der Wert der Wahrheit im Schatten des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, 1991, S. 24 ff., 70 ff. und passim. 193 Dazu oben im Text sub § 4. D. - Zur Bedeutung wahrer bzw. unwahrer Tatsachenbehauptungen im Hinblick auf die Meinungsfreiheit vgl. D. Grimm, NJW 1995, 1697 (1702 f., 1705).
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oder bei Dritten dar. Verarbeiten von Infonnationen ist demgegenüber das Speichern, Verändern, ÜbennitteIn, Sperren und Löschen von Infonnationen (§ 3 V I BDSG). Als Auffangtatbestand erfaßt das Nutzen von Infonnationen jede Verwendung personenbezogener Daten, soweit es sich nicht um Verarbeitung handelt (§ 3 VIBDSG). Ein Verbot der Infonnationserhebung, -sammlung und -verarbeitung ist dabei umso mehr und in umso gesteigerter Fonn rechtfertigungsbedürftig, als es gegenüber dieser InfonnationsunterdfÜckung und der damit verbundenen Verfälschung der Wirklichkeitsauffassung jeweils ein milderes Mittel gibt: Milder erscheint in diesem Zusammenhang jeweils die Infonnationserhebung, -verarbeitung und -nutzung, ohne das Ergebnis dann zu verwerten. Der hiergegen erhobene Einwand, vorhandene Daten könnten mißbraucht werden, vennag nicht zu überzeugen. Zwar erscheint es bedenkenswert, daß aus einer Aneinanderreihung einzelner Daten der "gläserne Mensch" entstehen kann. Eben dies gilt auch für die Gefahr, daß plötzlich durch die Kombination anonymer Vorgänge des Alltags der einzelne quasi nicht mehr eines Verbrechens überführt werden, sondern umgekehrt nachweisen muß, daß er, obwohl er zur Tatzeit in der Nähe des Tatortes tankte, aus der Gegend ein Telefongespräch führte und bei der benachbarten Bankfiliale Geld abhob, nicht der Täter ist 19S . Dieses Schreckensszenario spricht aber nicht gegen die Infonnationserhebung und -verarbeitung, sondern nur gegen diese Fonn der Verwertung und gegen die damit verbundene soziale Einschätzung dieser Daten l96 . Wenn Infonnationen zur Verhinderung eines gravierenden Schadens erforderlich sind, wird man den Mißbrauch unterbinden, nicht aber die Daten vernichten müssen. Dieser Befund wird durch eine weitere Überlegung bestätigt: Wenn sich die polizeiliche Infonnationsvorsorge im Gegensatz zur polizeilichen Gefahrenabwehr durch die Erwartungsbildung anhand eines Faktors auszeichnet, bedeutet dies notwendigerweise, daß die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer Infonnationstätigkeit in diesem Zusammenhang eben davon abhängt, wie sich der betrachtete Faktor in der Zukunft auswirkt. Dies führt im Fall des polizeilichen Vorsorgehandelns zu schwer lösbaren Problemen. Vorsorge bedeutet definitions gemäß, daß ein 194 Zwar wird die Verfassung und insbesondere das Recht auf inforrnationelle Selbstbestimmung nicht nach dem BDSG ausgelegt, sondern umgekehrt. Die Definitionen des BDSG können aber gleichwohl herangezogen werden, wenn sie die Verfassung korrekt interpretieren. 195 Vgl. dazu das von S. Simitis (in: Däubler-GmelinlKinkel u. a. [Hrsg.], Gegenrede. Festschrift für E. G. Mahrenholz, 1994, S. 573 ff.) geschilderte Beispiel, wonach die französische Staatsanwaltschaft den Generaldirektor von Olympique Marseille für überführt hält, den Sieg im Endspiel um die französische Meisterschaft "gekauft" zu haben, weil der Generaldirektor zur fraglichen Zeit die Autobahn benutzt, getankt und aus einern Hotelzimmer telefoniert hatte. 196 Man könnte das Verhalten des Generaldirektors von Olympique Marseille z. B. auch so verstehen, daß dieser unschuldig ist.
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
Faktor gedanklich mit einer Vielzahl hypothetisch denkbarer Fortentwicklungsmöglichkeiten kombiniert wird. Diese sich ergebenden Fortentwicklungsmöglichkeiten divergieren naturgemäß stark: Ein wegen Mordes Verurteilter kann nach Verbüßung seiner Strafe nie mehr strafrechtlich in Erscheinung treten, er kann aber sofort weitere Morde begehen. Das Prognoseproblem stellt sich hierbei unabhängig von der Schwere der jeweiligen Straftat: Auch ein wegen Ladendiebstahls Verurteilter kann nur in diesem einen Fall wegen einer besonderen psychologischen Ausnahmesituation straffällig geworden sein. Er kann aber umgekehrt auch auf der untersten Stufe einer dem organisierten Verbrechen zuzuordnenden Organisation stehen und erstmals überführt worden sein. Im Fall des Massenmörders wird man ebenso wie im Fall des dem organisierten Verbrechen angehörenden Ladendiebes eine eher weitreichende polizeiliche Informationstätigkeit für gerechtfertigt halten. In den Fällen einer einmaligen strafrechtlichen Verfehlung ist jede Informationstätigkeit nach Verbüßung der Strafe überflüssig. Diese grundsätzlich relativ klaren Einschätzungen, über die ein weitreichender gesellschaftlicher Konsens gefunden werden könnte, sind aber erst ex post möglich. Die polizeiliche Informationsvorsorge muß demgegenüber ex ante entscheiden, ob Informationen erhoben, verarbeitet und genutzt werden. Werden Informationen indes nicht erhoben, verarbeitet und genutzt bzw. vorhandene Informationen vernichtet, so sind diese unwiederbringlich verloren. Der Mord ist dann ebensowenig geschehen wie der Ladendiebstahl. Da beide Straftaten aber geschehen sind, wird durch die Vernichtung dieser Information die Wirklichkeit manipuliert. Gleichzeitig wird über die Zurechnung der Straftaten entschieden. bb) Beweisverwertungsverbote zur Absicherung des Rechts auf infonnationelle Selbstbestimmung
Eine bei der Beurteilung der polizeilichen Informationsvorsorge bislang weithin unterschätzte Rolle kommt den Beweisverwertungsverboten ZU 197 . Gerade die Verwertungsverbote sind nämlich geeignet, die Ambivalenz von Information als Zugang zur Wirklichkeit einerseits und als Grenze der individuellen Selbstbestimmung andererseits juristisch zu bewältigen 198 . Dabei ist zwischen den unterschiedlichen Konstellationen von Verwertungsverboten zu differenzieren: Beweisverwertungsverbote, die schon aus einer rechtswidrigen Informationserhebung durch den Staat selbst resultieren 199 , begründen eine Pflicht zur Vernichtung der hierdurch erlangten Daten. Verwertungs verbote, die gerade aus dem staatlichen Verwertungs197 Vgl. dazu für den polizeilichen Bereich nur die Beiträge in LanglHelmers, Beweismittelrecht, 1995 und aus der Praxis allgemein z. B. BGH, StV 1994, 521 ff.; BayObLG, NStZ 1994, 503 f.; OLG Karlsruhe, NStZ 1994, 504 f. sowie aus der Literatur F. Dencker, StV 1994,667 ff. 198 J. Aulehner, DÖV 1994, 853 (856). 199 J. Aulehner, DÖV 1994,853 (856 f.).
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akt selbst resultieren und in Einzelfällen durch das einfache Recht, insgesamt aber verfassungsrechtlich fundiert sind, gewährleisten, daß Daten nicht "zweckentfremdet" werden und nur "im überwiegenden Allgemeininteresse" verwertet werden 2OO • Für den Ausgleich zwischen dem "Grundrecht auf Sicherheit" einerseits und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung andererseits erlangen die Verwertungsverbote daher eine kaum überschätzbare Bedeutung: Sie ermöglichen es nämlich, Informationen in großem Umfang zu erheben und zu verarbeiten, gewährleisten so eine effektive polizeiliche Informationsvorsorge und tragen damit dem "Grundrecht auf Sicherheit" Rechnung. Gleichzeitig reduzieren sie die Beeinträchtigung der individuellen Selbstbestimmung auf ein Minimum.
E. Die Informationsordnung als positive Steuerung des Informationsflusses - Schlußfolgerungen Sowohl das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als auch das "Grundrecht auf Sicherheit" stellen mithin weniger klassische Abwehrrechte dar, sondern begründen vielmehr staatliche Handlungspflichten. Die Grundrechte schützen zwar nach wie vor die Freiheitssphäre des Bürgers; ihre Wirkung beschränkt sich aber nicht auf die Abwehr von staatlichen Eingriffen in diesen Bereich. Die Grundrechte beinhalten darüber hinaus einen Auftrag an den Staat, die Bedingungen zu schaffen, in denen sich bürgerliche Freiheit entfalten kann. Wenn jedoch die Grundrechte einerseits als klassische Abwehrrechte figurieren, andererseits aber auch Schutzpflichten darstellen, so erfordert dies eine Neuorientierung des einfachen Rechts. Dieses darf sich nun nicht mehr damit begnügen, staatliches Handeln zu verbieten bzw. zu beschränken, zumal es andernfalls Gefahr liefe, gegen Schutzpflichten zu verstoßen. Begründet das einfache Recht demgegenüber nur Schutzpflichten, würde es umgekehrt der klassischen Dimension der Grundrechte als Abwehrrechte zuwiderlaufen. Konsequenterweise kann sich das einfache Recht zukünftighin nicht mehr darauf beschränken, gewisse staatliche Handlungen zu verbieten oder den Staat zu anderen zu verpflichten. Es muß vielmehr als Informationsrecht 201 ausgestaltet werden und der Verwaltung dabei einen Weg zum Ausgleich dieser von der Verfassung auferlegten divergierenden Pflichten weisen. Dies macht - wie sich noch näher zeigen wird 202 - Konzepte als neue Handlungsformen der Verwaltung erforderlich. Der Ausgleich zwischen dem "Grundrecht auf Sicherheit" einerseits und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung andererseits wird durch die Ausdiffe200
201 202
Zu diesen Vorgaben vgl. bereits J. Aulehner, DÖV 1994,853 (858 ff.). Vgl. zu dessen Entstehung U. Sieber, NJW 1989,2569 (2571 ff.). Siehe hierzu unten im Text sub § 13. insb. C.
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3. Teil: Verfassungsrechtliche Rezeption
renzierung unterschiedlicher Stufen sowohl des einen wie des anderen ermöglicht. Danach ergibt sich - die Stufen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und des "Grundrechts auf Sicherheit" zusammenfassend - folgendes: 1. Die offene staatliche und namentlich polizeiliche Informationserhebung ohne Überwindung von Wahrnehmungsschranken und die Speicherung der so gewonnenen Informationen ist unabhängig von einer besonderen Verdachtsqualität allgemein zur Risikovorsorge zulässig. 2. Eine weitere, darüber hinausgehende polizeiliche Informationstätigkeit - die verdeckte Informationserhebung oder die Informationserhebung unter Überwindung von Wahrnehmungsschranken sowie die über eine bloße Speicherung hinaus reichende Informationsverarbeitung - setzt einen Gefahrenverdacht voraus. 3. Die Informationsverwertung ist schließlich nur zulässig, wenn die Voraussetzungen für Gefahrenabwehrmaßnahmen gegeben sind.
Vierter Teil
Strukturvorgaben für ein "neues" Polizeiinformationsrecht Die dargelegten allgemeinwissenschaftlichen und verfassungsrechtlichen Modifikationen verlangen ein Umdenken im Bereich des einfachen Polizeirechts. Um dem Recht seine Funktion der Techniksteuerung beim Umgang mit personenbezogenen Daten zurückzugewinnen 1, ist ein "neues" Polizeiinformationsrecht erforderlich, zumal "Polizeirecht heute und zukünftig auch und vor allem als Informationsrecht zu verstehen,,2 ist. Die Strukturen eines solchen neuen Polizeiinformationsrechts sollen im folgenden skizziert werden. Dabei wird sich zeigen, daß die Novellen der Polizeigesetze nach dem "Volkszählungs"-Urteil zwar einerseits den eigentlich angezielten Zweck einer umfassenden bereichsspezifischen gesetzlichen Regelung verfehlen, sie aber andererseits die Polizeigesetze für ein "neues" Polizeiinformationsrecht öffnen. Dieses "neue" Polizeiinformationsrecht zeichnet sich durch modifizierte inhaltliche Grundstrukturen und durch neue Handlungsformen aus 3 .
§ 12 Die nach dem "Volkszählungs"-Urteil novellierten Polizeigesetze Die Regelungen des novellierten polizeilichen Informationsrechts sind zwar insgesamt sehr ausführlich, haben bei näherer Betrachtung aber eine vergleichsweise geringe Aussagekraft und erweisen sich daher insgesamt als wenig geglückt4 . DarI So z. B. ausdrücklich jüngst U. Marenbach, Die infonnationellen Beziehungen zwischen Meldebehörde und Polizei in Berlin, 1995, S. 142. 2 R. Pitschas, ZRP 1993,174. 3 Vgl. dazu auch J. Aulehner, in: Haratsch/KugelmannIRepkewitz (Hrsg.), Herausforderungen an das Recht der Infonnationsgesellschaft, 1996, S. 195 ff. 4 Daß das Infonnationsrecht der Sicherheitsbehörden jedenfalls bislang noch keinen Rechtsfrieden herstellen konnte, ergibt sich aus der kaum mehr überschaubaren Judikatur für diesen Bereich. Vgl. z. B. SächsVerfGH, LKV 1996, 273 ff. = SächsVBI. 1996, 160 ff. m. Anm. H. W. Alberts, eR 1997, 102 ff.; H. Bäumler, NVwZ 1996,765 ff.; V. Götz, JZ 1996, 969 ff.; K. Habennehl, SächsVBI. 1996,201 ff.; KnemeyerlKeller, SächsVBI. 1996, 197 ff.;
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4. Teil: Vorgaben für ein "neues" Polizeiinformationsrecht
über hinaus ist es nicht immer gelungen, die neuen Regelungen in das traditionelle Polizeirecht einzuordnen s. Innerhalb des Polizeiinformationsrechts kommt den gesetzlichen Regelungen, die Errichtungsanordnungen für Dateien vorschreiben 6 , zentrale und durch Rechtsprechung und Literatur bislang noch nicht in ihrem vollen Umfang erkannte Bedeutung zu. Die in die Polizeigesetze aufgenommenen Datenschutznormen können in Regelungen, die die Datenerhebung betreffen, und solche, die sich auf die Datenverarbeitung beziehen, eingeteilt werden 7 . Erstere enthalten zumeist eine Zusammenfassung der im "Volkszählungs"-Urteil aufgestellten Grundsätze für die Datenverarbeitung, eine allgemeine Befugnisnorm zur Datenerhebung und Regelungen für besondere Mittel der Datenerhebung. Letztere normieren insbesondere die Datenspeicherung, -veränderung, -nutzung, -übermittlung, Berichtigung und Löschung von Daten sowie einen Auskunftsanspruch.
A. Die Datenerhebungsregelungen in den novellierten Polizeigesetzen I. Einleitungsvorschriften über die Grundsätze der Datenerhebung
Am Beginn der in die Polizeigesetze aufgenommenen Vorschriften über die Datenerhebung und -verarbeitung steht häufig eine Vorschrifts, die den Inhalt des "Volkszählungs"-Urteils wiedergibt.
H.-U. Paeffgen, NJ 1996, 454 ff.; BayVerfGH, BayVBI. 1995, 143 ff.; BGH, NStZ 1995, 601 ff. (Verwertbarkeit von Erkenntnissen aus präventiv-polizeilichem Lausch-Eingriff für Zwecke der Strafverfolgung) m. Anm. J. Welp; BVerwG, NJW 1994,2499 ff. - "Eintragung einer Fahrerlaubnisentziehung in Führerscheinkartei"; OVG Münster, NJW 1992, 1979 ff. "Datenübermittlung durch Verfassungsschutz"; OVG Lüneburg, NJW 1992, 192 ff. - "Veröffentlichung personenbezogener Daten im Verfassungsschutzbericht"; BVerwG, NJW 1990, 2768 ff. - "Zentrale Auskunftsdatei der Polizeidienststellen - ZAD"; BVerwG, NJW 1990, 2765 ff. - "Kriminalaktenführung durch die Polizei" 5 Vgl. dazu auch D. Peitsch, ZRP 1992,127 ff. 6 § lOh VEMEPolG, § 47 BWPolG, Art. 47 BayPAG, § 49 ASOG Bin, § 36 BremPG, § 48 BrbgPolG, § 26 HambDVPoIG, § 46 NGefAG, § 28 HSOG, § 33 LSASOG, § 47 SOGMV, § 50 SächsPolG, § 33 NWPolG, § 25g RhPfPOG, § 39 SPolG, § 197 SHLVwG, § 46 ThürPAG. 7 Vgl. z. B. F.-L. Knemeyer, in: Berg/KnemeyerlPapier/Steiner, Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, 6. Aufl 1996, D Rdnm. 51 ff. 8 § 19 BWPolG, Art. 30 BayPAG, § 33 BrbgPolG, § 2 HambDVPolG, §§ 25 f. SOGMV, § 25 SPolG, § 31 ThürPAG, § 178 SHLVwG, § 30 NGefAG
§ 12 Die novellierten Polizeigesetze
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1. Erstreckung der Grundsätze des" Volkszählungs "-Urteils auf das Polizeirecht
Die Aufnahme dieser Grundnormen erweist sich bei näherer Betrachtung als weitgehend überflüssig. Dem "Volkszählungs"-Urteil des BVerfG9 kommt gemäß § 31 BVerfGG eine umfassende Bindungswirkung und Gesetzeskraft zu. Zwar betreffen die im "Volkszählungs"-Urteil ausdifferenzierten Grundsätze der Datenerhebung ansich nur das damals streitgegenständliche Volkszählungsgesetz. Die Einleitungsvorschriften in den Polizei ge setzen könnten daher die Datenverarbeitungsregeln des "Volkszählungs"-Urteil jedenfalls auf das Polizeirecht erstrecken. Literatur JO und Rechtsprechung haben aber die im "Volkszählungs"-Urteil festgelegten Grundsätze bereits zuvor und unabhängig von einer diesbezüglichen gesetzlichen Regelung auch auf den polizeirechtlichen Bereich angewendet. Die Richtigkeit der Einschätzung, daß diesen Vorschriften nur deklaratorische Bedeutung zukommt, wird zudem durch die Polizeigesetze bestätigt, die - wie auch der Musterentwurf eines einheitlichen Polizei gesetzes des Bundes und der Länder in der Fassung des Vorentwurfs zur Änderung des ME PolG ll - ohne eine derartige Wiederholung des "Vo1kszählungs"-Urteils auskommen. Die den Inhalt des "Volkszählungs"-Urteils wiederholenden Vorschriften tragen dabei nicht nur nicht zur Klärung der polizeilichen Datenerhebungsbefugnisse bei; an ihnen entzündet sich vielmehr häufig neuer Streit.
2. Die Einleitungsvorschriften - keine Befugnisnonnen
Insbesondere ist teilweise streitig, ob es sich bei diesen Vorschriften um Befugnisnormen 12 oder um die bloße Festlegung allgemeiner Grundsätze ohne Einräumung einer Befugnis handelt 13 • Dabei kann dieser Streit noch vergleichsweise schnell und klar zu Gunsten der letzteren Alternative entschieden werden. Dies ergibt sich zum einen schon aus den Überschriften dieser Normen: "Allgemeine Regeln der Datenverarbeitung,,14 oder "Grundsätze der Datenerhebung,,15 begründen schon nach einer am Wortlaut BVerfGE 65, I ff. H. Bäumler, in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Aufl. 1996, J Rdnrn. 21 ff., 27 ff.; F. Rachor, Vorbeugende Straftatenbekämpfung und Kriminalakten, 1989, S. 224 ff. 11 Abgedruckt z. B. bei F.-L. Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl. 1995, Rdnr. 409. 12 So z. B. Samper/Honnacker, PAG, 15. Aufl. 1992, Art. 30 Rdnr. I. 13 Vgl. dazu z. B. Bemer/Köhler, PAG, 14. Aufl. 1995, Art. 30 Rdnr. I; mit Einschränkungen Wolf/Stephan, PolG BW, 4. Aufl. 1995, § 19 Rdnr. 3. 14 So z. B. die Überschrift zu § 19 BWPoIG. 15 So die Überschrift zu Art. 30 BayPAG, § 30 II NGefAG, § 37 II SächsPolG. 9
10
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4. Teil: Vorgaben für ein "neues" Polizeiinfonnationsrecht
orientierten Auslegung keine Befugnisse. Der Rege1ungskontext dieser Vorschriften bestätigt diesen Eindruck zusätzlich, zumal einige der Absätze sich auf bloße Definitionen beschränken und die übrigen nur die in den Polizeigesetzen bereits seit jeher geregelten allgemeinen Handlungsgrundsätze wiederholen. Dies kann in mehrfacher Hinsicht belegt werden: Daß personenbezogene Daten primär beim Betroffenen zu erheben sind l6 , ergibt sich bereits aus der allgemeinen Festlegung der Adressaten polizeilicher Maßnahmen. Auf eben diese verweisen dann sogar explizit jedenfalls primär auch die allgemeinen Befugnisnormen für die polizeiliche Datenerhebung 17. Auch der Grundsatz des "offenen Visiers" 18, der ebenfalls in diesen einleitenden Vorschriften der Polizeigesetze geregelt ist l9 , gilt schon unabhängig hiervon bereits "unstreitig,,20 aufgrund verfassungsrechtlicher Vorgaben. Namentlich das Rechtsstaatsprinzip schreibt nämlich vor, daß die Polizei grundsätzlich offen handelt und läßt verdecktes Handeln nur ausnahmsweise ZU 21 . Schließlich kodifizieren diese Einleitungsvorschriften der Polizeigesetze - wie bereits erwähnt - nur die im "Volkszählungs"-Urteil festgelegten Grundsätze, die jedenfalls keine Befugnisse zur Datenerhebung begründeten.
11. Die Generalklauseln für die Datenerhebung
Ein ähnlicher Befund ergibt sich hinsichtlich der GeneralklauseIn für die polizeiliche Datenerhebung22 , die in Polizeigesetzen, die keine Einleitungsvorschriften besitzen, am Beginn der Regeln zur Datenverarbeitung stehen oder sich den Einleitungsvorschriften unmittelbar anschließen.
16 17
Vgl. z. B. § 19 I BWPoIG, Art. 3011 BayPAG. Siehe z. B. § 20 11 BWPoIG, Art. 31 I BayPAG.
18 Scholler/Schloer, Grundzüge des Polizei- und Ordnungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Auf!. 1993, S. 166. 19 § 1911 BWPoIG; Art. 30 III I BayPAG, § 37 V I SächsPolG, 30 III I NGefAG. 20 R. Riegel, Datenschutz bei den Sicherheitsbehörden, 2. Auf!. 1992, S. 83. 21 M. Deutsch, Die heimliche Erhebung von Infonnationen und deren Aufbewahrung durch die Polizei, 1992, S. 35 f.; ScholzIPitschas, Infonnationelle Selbstbestimmung und staatliche Infonnationsverantwortung, 1984, S. 175 f. 22 § 20 BWPoIG, § 31 BayPAG, § 18 ASOG Bin, § 28 BremPG, § 33a BrbgPolG, § 6 Nr. I HambDVPoIG, § 13 I HSOG, § 15 I LSASOG, § 27 I SOGMV, § 26 I SPoIG, § 25a RhPfPOG, § 179 I SHLVwG, § 32 I ThürPAG, § 37 SächsPolG, § 31 NGefAG
§ 12 Die novellierten Polizei gesetze
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1. Tatbestandsmerkmale der Generalklauseln für die polizeiliche Datenerhebung
Die Generalklausein für die polizeiliche Datenerhebung schreiben im wesentlichen vor, daß personenbezogene Daten zur Erfüllung einer polizeilichen Aufgabe von denjenigen erhoben werden können, die Adressaten einer Polizeimaßnahme sein können, soweit dies erforderlich ist. Diese bereichs spezifischen GeneralklauseIn enthalten damit - wie sich sogleich im einzelnen zeigen wird - im Vergleich mit den allgemeinen polizeirechtlichen Vorschriften einen allenfalls unwesentlich gesteigerten Regelungsinhalt.
a) Datenerhebung zur Erfüllung einer polizeilichen Aufgabe Die erste Voraussetzung der bereichsspezifischen Generalklausein für die polizeiliche Datenerhebung - das Vorliegen einer polizeilichen Aufgabe - stellt keine Besonderheit dar, zumal jede polizeirechtliche Befugnisnorm den Nachweis einer polizeilichen Aufgabe verlangt23 . Dies gilt auch im Hinblick auf eine Datenerhebung im Vorfeld einer konkreten Gefahr zur Informationsvorsorge, da die meisten Polizeigesetze ebenso wie § 1 I 2 VE ME PolG schon den allgemeinen polizeilichen Aufgabenbereich auch auf die sog. vorbeugende Verbrechensbekämpfung und die Vorbereitung auf die Gefahrenabwehr erstrecken 24 • Die Bindung der Informationserhebung an die AufgabensteIlung der jeweiligen Behörde mag dabei grundsätzlich richtig und sachgerecht sein. Ob sie im Fall der Polizei zu der hiervon erhofften Einschränkung der polizeilichen Datenerhebung führt, muß indessen bezweifelt werden. Anders als andere Behörden hat die Polizei nämlich keinen sachlich, sondern einen nur zeitlich begrenzten Aufgabenkreis. Gemäß § la ME PolG und den entsprechenden landesrechtlichen Vorschriften 25 kann die Polizei nämlich im Zuständigkeits bereich anderer Behörden insoweit subsidiär gefahrenabwehrend tätig werden, als eine Gefahrenabwehr durch die an sich zuständige Behörde nicht oder nicht rechtzeitig möglich erscheint. Bei diesen Vorschriften handelt es sich um keine bloßen Ordnungsvorschriften, sondern um eine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für die polizeiliche Maßnahme 26 . Für die Beurteilung der Voraussetzungen des § la ME PolG und der ihm entsprechenden landesgesetzlichen Vorschriften ist dabei die polizeiliche Perspektive entscheidend. Maßgebend ist nicht der tatsächliche Sachverhalt, sondern die Sachlage, wie sie sich 23
H.-G. König, Polizei und Datenschutz in Bayern, 1993, S. 62.
Vgl. z. B. § 1 III ASOG Bin, § 1 12 BebgPolG, § 1 IV HSOG, § 7 I Ne. 4 SOG MV, § 1 12 NWPoIG, § 1 13 RhPfPOG, § 2 I SachsAnhSOG, § 2 I 2 ThÜrPAG. 25 § 2 BWPoIG, Art. 3 BayPAG, § 4 I ASOG Bin, § 2 BrbgPolG § 64 BremPG, § 3 11 1 lit. a) HambSOG, § 2 HSOG, § 1 13 NWPoIG, § 2 SächsPolG. 26 H.-V. Gallwas, in: ders./Mößle, Bayerisches Polizei- und Sicherheitsrecht, 2. Auf!. 1996, Rdnr. 136. 24
32 Aulehner
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4. Teil: Vorgaben für ein "neues" Polizeiinformationsrecht
der Polizei bei vernünftiger Einschätzung darstellt 27 . Damit kommt dem mit einem Vorgang befaßten Polizeibeamten zwar kein Ermessen darüber zu, ob die Polizei oder die zuständige Verwaltungsbehörde handeln soll. Die Unaufschiebbarkeit ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Die Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen für das sog. Recht des ersten Zugriffs 28 der Polizei bleibt aber der sachkundigen Beurteilung des jeweiligen Polizeibeamten überlassen 29 .
b) Konkrete Gefahr als Voraussetzung für die polizeiliche Datenerhebung Die Polizei gesetze der Länder verlangen für die polizeiliche Datenerhebung teilweise eine konkrete Gefahr3o , teilweise lassen sie bereits eine nur abstrakte 3 ) genügen. Die Zäsur wird hierbei durch das Trennungs- und Einheitsprinzip markiert: Bundesländer, deren Polizeigesetze dem Trennungsprinzip folgen, lassen eine nur abstrakte Gefahr genügen. Bundesländer, deren Polizeigesetze am Einheitsprinzip orientiert sind, verlangen demgegenüber eine konkrete Gefahr für die polizeiliche Datenerhebung 32 . Zur Abwehr auch nur abstrakter Gefahren haben diese Bundesländer die polizeiliche Befragung explizit für zulässig erklärt33 • Die Zulassung der Datenerhebung an sich, auch wenn nur eine abstrakte Gefahr vorliegt, erscheint dabei jedenfalls schon deshalb gerechtfertigt, weil nicht jede Datenerhebung einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung darstellt. Die Entgegennahme freiwillig gegebener Informationen und die Kenntnisnahme aktuell stattfindender sozialer Interaktionen, ohne daß Wahrnehmbarkeitsschranken durchbrochen werden, ist auch schon im Vorfeld einer konkreten Gefahr jedenfalls dann zulässig, wenn sich die polizeiliche Maßnahme auf die Bereitstellung des für ein Einschreiten erforderlichen Informationsmaterials beschränkt34 .
H.-G. König, Bayerisches Polizeirecht, 2. Auf). 1985, S. 43. K. H. Friauf, in: E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 10. Auf). 1995, II Rdnr. 154. 29 Vgl. dazu insgesamt P. M. Huber, BayVBI. 1989,5 (6 f.). 30 § 20 II BWPoIG, § 18 I ASOG BIn, § 28 I Nr. 1 BremPG, § 6 Nr. 1 HambDVPoIG, § 13 I Nr. 3 HSOG, § 15 I Nr. 3 LSASOG, § 27 I SOG MV, § 26 I SPoIG, § 179 I SHLVwG. 31 Art. 31 I BayPAG, § 33a I BrbgPolG, § 321 ThÜrPAG. - Ablehnend hierzu H. Bäumler, in: LiskenIDenninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Auf). 1996, J .Rdnr. 504; I. Staff, ZRP 1992, 384 (358 f.). 27
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32 ScholIerlSchloer, Grundzüge des Polizei- und Ordnungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Auf). 1993, S. 168 ff.; K. Würz, Polizeiaufgaben und Datenschutz in BadenWürttemberg, 1993, Rdnr. 100. 33 K. Würz, Polizei aufgaben und Datenschutz in Baden-Württemberg, 1993, Rdnr. 100. 34 M. Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen und deren Aufbewahrung durch die Polizei, 1992, S. 227; Pitschas/Aulehner, NJW 1989,2353 (2355).
§ 12 Die novellierten Polizeigesetze
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c) Adressaten der polizeilichen Datenerhebung Die durch die Zäsur zwischen Einheits- und Trennungsprinzip markierte Differenzierung der Polizeigesetze zwischen einer konkreten und einer nur abstrakten Gefahr als Voraussetzung für die polizeiliche Datenerhebung setzt sich bei den möglichen Adressaten der polizeilichen Datenerhebung fort: Während es nach den Polizeigesetzen der Bundesländer, die dem Trennungsprinzip folgen und für die polizeiliche Datenerhebung eine abstrakte Gefahr genügen lassen, auf die Störerbegriffe nicht ankommt 35 , beschränken die Polizeigesetze der übrigen Bundesländer, die sich am Einheitsprinzip orientieren und eine konkrete Gefahr für die polizeiliche Datenerhebung verlangen, den Adressatenkreis auf Störer; Nichtstörer sind nur unter besonderen Voraussetzungen zulässige Adressaten einer polizeilichen Datenerhebung 36 . Unabhängig hiervon wird man aber annehmen dürfen, daß die allgemeinen Regeln über die Auswahl der Adressaten einer polizeilichen Maßnahme auch hier gelten und daher auch Daten vorrangig beim (potentiellen) Störer zu erheben sind37 .
d) Erforderlichkeit der Datenerhebung Die bereichsspezifischen Generalklausein für die polizeiliche Datenerhebung lassen die polizeiliche Datenerhebung nur insoweit zu als sie "erforderlich" ist. Eine nähere Definition dessen, was erforderlich ist bzw. wonach die Erforderlichkeit zu beurteilen ist, geben weder die neuen Vorschriften über die polizeiliche Datenverarbeitung noch das allgemeine Datenschutzrecht. Teilweise wird eine Datenerhebung nur dann für erforderlich gehalten, wenn sie für die Aufgabenerfüllung geeignet und zweckmäßig ist. Andere interpretieren Erforderlichkeit im Sinne einer conditio sine qua non; eine Datenerhebung ist danach nur erforderlich, wenn die Aufgabe andernfalls nicht, nicht vollständig oder nicht in rechtmäßiger Weise erfüllt werden kann 38 . Dem in die Generalklausein für die polizeiliche Datenerhebung aufgenommenen Erforderlichkeitskriterium können daher keine weitergehenden und präziseren Anforderungen entnommen werden als der im polizeilichen Übermaßverbot enthalte35 V. Götz, NVwZ 1990,725 (726 f.). - Zweifelnd H. W. Alberts, ZRP 1990, 147 f.; R. Riegel,DVBI. 1987,325 (328 ff.). - Ablehnend I. Staff, ZRP 1992,384 (385), die eine "flächendeckende Datenerhebungsbefugnis" moniert. 36 Vgl. Scholler/Schloer, Grundzüge des Polizei- und Ordnungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 1993, S. 169 f. 37 H. Bäumler, in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Aufl. 1996, J Rdnrn. 500 ff. 38 So z. B. K. Würz, Polizeiaufgaben und Datenschutz in Baden-Württemberg, 1993, Rdnr. 101. - Zusammenfassender Überblick m.w.N. bei H.-U. Gallwas, in: HaftIHassemerlNeumann u. a. (Hrsg.), Strafgerechtigkeit. Festschrift für A. Kaufmann zum 70. Geburtstag, 1993, S. 819 ff., 821.
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4. Teil: Vorgaben für ein "neues" Polizeiinforrnationsrecht
nen allgemeinen Festlegung, daß jegliches polizeiliches Handeln erforderlich sein muß 39 . 2. Regelungsdejizite der Generalklauseln für die polizeiliche Datenerhebung
Trotz der Länge und Kompliziertheit der Regelungen über die polizeiliche Datenerhebung werfen diese vielfältige Zweifel auf und sind mannigfacher Kritik ausgesetzt. a) Verhältnis zwischen bereichs spezifischer und allgemeiner Generalklause1 Erste Zweifel sind schon im Hinblick auf das Verhältnis zwischen den neuen bereichsspezifischen GeneralklauseIn für die polizeiliche Datenerhebung einerseits und den vordem als Rechtsgrundlage verwendeten allgemeinen GeneralklauseIn anzumelden. Es muß nämlich gefragt werden, ob die Dateneihebungsregeln und namentlich die bereichsspezifischen GeneralklauseIn die Anwendung der allgemeinen polizeilichen GeneralklauseI verdrängen. Dabei ist für letztere nach wie vor streitig, ob sie als Befugnisnorm für die polizeiliche Informationserhebung und -verarbeitung auch nach dem "Volkszählungs"-Urteil überhaupt noch herangezogen werden kann4o . b) Datenerhebung und Art der Informationsbeschaffung Die nach dem "Volkszählungs"-Urteil in die Polizeigesetze aufgenommenen Datenerhebungsvorschriften - sowohl die bereichsspezifischen GeneralklauseIn als auch die Standardermächtigungen - regeln vielfach nur die Art der Informationsbeschaffung, nicht aber die Datenerhebung als solche41 • Die Datenerhebung einerseits und die Informationsbeschaffung andererseits sind zwar voneinander abhängig, gesetzestechnisch muß aber zunächst zwischen ihnen differenziert und sodann ihr Verhältnis zueinander geregelt werden. Datenerhebung ist nämlich das zielgerichtete Beschaffen von Informationen und damit von der Art der Informationsbeschaffung, den ErmiUlungsmaßnahmen, zu unterscheiden, zumal die Datenerhebungs- und ErmiUlungsmaßnahmen auch die Grundrechte in unterschiedlicher Weise beeinträchtigen können. Während die Polizeigesetze die Art der Informationsbeschaffung detailliert regeln und vorgeben, welche Ermiulungsmaßnahmen 39 H.-U. Gallwas, in: ders./Mößle, Bayerisches Polizei- und Sicherheitsrecht, 2. Auf!. 1996, Rdnrn. 418, 426 ff. 40 Vgl. dazu z. B. PitschasiAulehner, NJW 1989, 2353 (2356 f. m.w.N. zum Meinungsstand .in Fußn. 48); H. Bäumler, in: LiskenIDenninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Auf!. 1996, J Rdnrn. 493 ff. 41 Hierzu sowie zum folgenden vgl. D. Peitsch, ZRP 1992,127 f.
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die Polizei ergreifen darf, bleibt die Frage, welche Informationen sie erheben darf, trotz der Kompliziertheit der neuen Datenerhebungsregeln insgesamt nahezu vollständig ungeregelt. Die bereichsspezifischen Generalklausein schreiben hierzu nur vor, daß die Informationen für die Erfüllung der polizeilichen Aufgaben erforderlich sein müssen. Die nähere Bestimmung, für welche Informationen dies zutrifft, enthalten nach wie vor nicht die Polizeigesetze, sondern Verwaltungsvorschriften. Die Bedeutung der Novellen der Polizeigesetze im Anschluß an das "Volkszählungs"-Urteil beschränkt sich für die Datenerhebung vornehmlich auf zwei Regelungen: Zum einen wird durch die bereichsspezifischen Generalklausein eine gesetzliche Grundlage für die Datenerhebung geschaffen42 ; zum anderen ermächtigen die in die Polizei gesetze neu aufgenommenen Errichtungsanordnungen die Verwaltung zum Erlaß von Verwaltungsvorschriften, aus denen sich die näheren Modalitäten der polizeilichen Datenerhebung ergeben. Erst aus diesen Verwaltungsvorschriften ergibt sich schließlich, welche Informationen die Polizei erheben und verarbeiten darf. Die vorstehenden Ausführungen sind dabei als Feststellung, keineswegs als Kritik zu verstehen. Die detaillierte gesetzliche Regelung von Ermittlungsmaßnahmen einerseits ist nämlich jedenfalls dort angebracht, wo die Art der Informationserhebung spezielle Grundrechte berührt, von besonderer Intensität ist oder zur dauernden Fixierung eines länger andauernden personenbezogenen Sachverhalts führt43 . Andererseits ist die Festlegung, welche Daten erhoben bzw. verarbeitet oder verwertet werden sollen, dem Gesetzgeber nach wie vor nicht möglich. Die diesbezüglichen Anforderungen sind so detailliert und einem so raschen Wandel unterworfen, daß allein die Exekutive hinreichend schnell und detailgenau festlegen kann, welche Daten wie lange und wozu verarbeitet werden dürfen.
IH. Die Spezialermächtigungen zur Datenerhebung
Neben den Grundnormen und den bereichsspezifischen Generalklausein enthalten die Polizeigesetze der Bundesländer Spezialermächtigungen für die Datenerhebung. 1. Inhalt der Spezialermächtigungen
Spezialermächtigungen für die polizeiliche Datenerhebung wurden in die Polizeigesetze zwar auch und vornehmlich im Zuge der Novellierung des Polizeirechts nach dem "Volkszählungs"-Urteil aufgenommen. Den Umgang mit Informationen 42 I. Staff, ZRP 1992, 384 (388) vennutet denn auch, der Gesetzgeber habe ,,rein fonna1 dem Gesetzesvorbehalt" Genüge tun wollen. 43 M. Deutsch, Die heimliche Erhebung von Infonnationen und deren Aufbewahrung durch die Polizei, 1992, S. 218 ff.
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4. Teil: Vorgaben für ein "neues" Polizeiinforrnationsrecht
regeln die Polizei gesetze jedoch nicht erst seit ihrer Novellierung nach dem "Volkszählungs"-Urteil. Vielmehr sahen die meisten Polizeigesetze auch schon davor eine Auskunftspflicht44 , die Identitätsfeststellung und Prüfung von Berechtigungsscheinen45 sowie erkennungsdienstliche Maßnahmen46 vor. Dies verwundert nicht, zumal polizeiliches Handeln "zentral Informationsverarbeitung,,47 ist: "Denn zum Kern aller polizeilichen Tatigkeit rechnet das Sammeln, Auswerten und Umsetzen von Informationen, wie sie Polizei seit jeher, wenn auch in schwerfälligen und zeitraubenden Verfahren, verarbeitet hat. ,,48. Nach der Novellierung der Polizeigesetze neu hinzugekommen sind Vorschriften über die besonderen Mittel der Datenerhebung, namentlich die Datenerhebung bei Ansammlungen und öffentlichen Veranstaltungen, die Observation, den verdeckten Einsatz technischer Mittel, den verdeckten ErmittIer, V-Personen, der Datenerhebung in Wohnungen und der polizeilichen Beobachtung49 . Die Spezialermächtigungen folgen dabei dem Regelungsmuster der bereichsspezifischen Generalklauseln.
2. Regelungsdejizite der Spezialermächtigungen für die polizeiliche Datenerhebung
a) Unzureichende Harmonisierung der neuen Regelungen mit den bestehenden Vorschriften In einigen 50 Polizeigesetzen ist das Verhältnis zwischen den schon bestehenden und den neu eingefügten Datenerhebungsvorschriften nicht hinreichend geklärt. Zweifelhaft ist dabei insbesondere, ob die schon vor den Gesetzesnovellen bestehenden Spezialbefugnisse zur Datenerhebung ebenfalls die neuen bereichs spezi44 § 20 I BWPoIG, Art. 12 I BayPAG, § 18 III ASOG BIn, § 14 I BrbgPolG, § 3 I HambDVPoIG, § 12 I HSOG, § 14 I LSASOG, § 28 I SOGMV, § 18 III SächsPolG, § 9 I NWPoIG, § 11 I SPoIG, § 180 I SHLVwG, § 13 I ThürPAG 45 § 9 MEPoIG, § 17 BGSG, § 26 BWPoIG, Art. 13 BayPAG, § 21 ASOG Bin, § 15 BrbgPolG, § 11 BremPG, § 4 HambDVPoIG, § 18 HSOG, § 20 LSASOG, § 29 SOGMV, § 13 NGefAG, §§ 12, 13 NWPoIG, § 10 RhPfPOG, § 9 SPoIG, § 19 SächsPolG, §§ 181, 182 SHLVwG, §§ 14, 15 ThürPAG. 46 § 10 MEPoIG, § 19 BGSG, § 36 BWPoIG, Art. 14 BayPAG, § 23 ASOG Bin, § 16 I BrbgPolG, § 31 I BremPG, § 7 HambDVPoIG, § 19 HSOG, § 21 LSASOG, § 31 SOGMV, § 15 NGefAG, § 14 NWPoIG, § 11 RhPfPOG, § 10 SPoIG, § 20 SächsPolG, § 183 SHLVwG, § 16 ThÜrPAG. 47 C. Gusy, Polizeirecht, 2. Aufl. 1994, Rdnr. 180. 48 R. Pitschas, PFA 4/91, S. 7 ff., 9. 49 Zur Verbrechensbekämpfung mit elektronischen Mitteln vgl. z. B. K. Scheiter, ZRP 1994,52 ff. 50 Die Polizeigesetze weisen hierbei nicht unerhebliche Unterschiede auf. Vgl. dazu D. Peitsch, ZRP 1992, 127 (128 f.).
§ 12 Die novellierten Polizeigesetze
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fischen GeneralklauseIn verdrängen oder ob dies nur für die neuen Spezialbefugnisse zur Datenerhebung gilt. Darüber hinaus ist unklar, ob die neuen Spezialbefugnisse für die Datenerhebung durch die schon vor dem "Volkszählungs"-Urteil bestehenden verdrängt werden. Insgesamt erweisen sich die Regelungsstandorte der Datenerhebungsbefugnisse als unsystematisch 51 •
b) Behördenleiter- und Richtervorbehalte Die in den Polizeigesetzen enthaltenen Behördenleiter- und Richtervorbehalte erfüllen zwar das grundgesetzliche Gebot einer Grundrechtssicherung durch Verfahrensregelungen. Offen bleibt in ihnen jedoch, unter welchen Voraussetzungen der Behördenleiter bzw. Richter die jeweilige besondere Datenerhebungsmaßnahme anordnen soll. Die besonderen Mittel der Datenerhebung sind zwar nur zulässig, wenn qualifizierte Gefahren bzw. sonstige besondere Umstände vorliegen. Die Behördenleiter- und Richtervorbehalte haben darüber hinaus aber allenfalls noch einen harmonisierenden Effekt.
B. Die Regelungen für die polizeiliche Datenverarbeitung Die Regelungen für die polizeiliche Datenverarbeitung entsprechen in ihrer Systematik und inhaltlich im wesentlichen den Vorschriften für die Datenerhebung. Die dortigen Befunde gelten deshalb ganz überwiegend auch hier.
I. Grundnormen für die Datenverarbeitung
Ebenso wie die Datenerhebungsregeln beginnen auch die Datenverarbeitungsvorschriften mit einer Grundnorm, die die im "Volkszählungs"-Urteil ausdifferenzierten Datenverarbeitungsgrundsätze wiederholt und kodifiziert 52 . Dementsprechend legen diese Einleitungsvorschriften die Gebote der Normenklarheit und der Zweckbindung sowie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz fest und schreiben Verfahrensregelungen vor. Ihre Bedeutung beschränkt sich jedoch vornehmlich auf die ausdrückliche Erstreckung der allgemeinen Datenverarbeitungsgrundsätze auch auf die polizeiliche Datenverarbeitung. Ein weitergehender Gehalt kommt ihnen kaum zu; insbesondere enthalten sie keine Befugnisnormen. D. Peitsch, ZRP 1992, 127 (128). § 37 BWPoIG, Art. 37 BayPAG, § 42 ASOG Bin, § 14 HambDVPoIG, § 22 LSASOG, § 38 NGefAG, § 36 SOGMV, §§ 22 f. NWPoIG, § 43 SächsPolG, § 25 SPoIG, § 188 SHLVwG, §§ 38 f. ThÜrPAG. 51
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4. Teil: Vorgaben für ein "neues" Polizeiinforrnationsrecht
Von den durch die Rechtsprechung namentlich im "Volkszählungs"-Urteil entwickelten Datenverarbeitungsgrundsätzen wiederholen die Grundnormen für die polizeiliche Datenverarbeitung insbesondere den Gesetzesvorbehalt und das Zweckbindungsgebot, aber auch das Gebot der Normenklarheit, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und grundrechts schützende Verfahrensregelungen.
1. Gesetzesvorbehalt Die Grundnormen der polizeilichen Datenverarbeitung legen fest, daß diese nur insoweit zulässig ist, als sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruht.
2. Zweckbindungsgebot Das Zweckbindungsgebot kodifizieren die Grundnormen der polizeilichen Datenverarbeitung, indem sie die Speicherung, Nutzung und Veränderung von Daten nur zu dem Zweck zulassen, zu dem das jeweilige Datum erhoben wurde. Die Zweckbindung bejahen die Polizeigesetze dabei auch dann, wenn bereits erhobene polizeiliche Daten zu anderen Zwecken verwendet werden, zu denen diese Daten ebenfalls hätten erhoben werden dürfen53 . Dieser Festlegung ist einerseits aus verfassungsrechtlichem Blickwinkel ohne weiteres zuzustimmen, da die Verarbeitung auch bereits vorhandener Daten nach dem "Volkszählungs"-Urteil unzulässig ist, soweit sie nicht "im überwiegenden Allgemeininteresse,,54 erfolgt. Ob schon vorhandene Daten zu einem anderen Zweck verarbeitet werden dürfen, erfordert daher eine Abwägung zwischen dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung einerseits und dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit, das eine vollständige Sachverhaltsermittlung und einen möglichst umfassenden Zugang zur Wirklichkeit verlangt, andererseits. Die danach geforderte Abwägung dieser beiden durch das Grundgesetz geschützten Positionen ist mit Hilfe der Informationskultur55 zu entscheiden. Die Informationskultur spiegelt sich ihrerseits in rechtlichen Regeln wider. Die Entscheidung, ob schon vorhandene Daten zu einem neuen Zweck verwendet werden dürfen, mit Hilfe der hypothetischen Frage, ob die Daten zu eben diesem Zweck erhoben werden dürften, ist insofern nicht zu beanstanden56 . 53 § 37 11 BWPoIG, Art. 37 11 BayPAG, § 42 11 ASOG Bin, § 41 11 BrbgPolG, § 14 I, 11 HambDVPoIG, § 20 III HSOG, § 22 11 LSASOG, § 36 I SOGMV, § 23 I NWPoIG, § 30 I SPoIG, § 188 I SHLVwG, § 39 ThürPAG, § 43 SächsPolG, § 39 NGefAG. - Vgl. dazu auch BVerwG, NJW 1990,2768 f.; VGH Mannheim, NVwZ 1987,3022. 54 BVerfGE 65, 1 (44). 55 Vgl. zu dieser bereits ausführlich oben im Text sub § 7. 56 V gl. in diesem Zusammenhang bereits in anderem Kontext bezüglich der Verwertung von Stasi-Unterlagen durch parlamentarische Untersuchungsausschüsse den gleichnamigen Aufsatz von J. Aulehner, DÖV 1994, 853 (858 ff.)
§ 12 Die novellierten Polizeigesetze
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Gleichwohl sind gegen die diesbezüglichen Regelungen der Polizeigesetze jedoch aus anderer Perspektive Bedenken anzumelden. Die Grundnormen für die polizeiliche Datenverarbeitung verweisen damit nämlich für die Beurteilung der Zweckbindung auf die polizeilichen Datenerhebungsregeln. Diese wurden hier jedoch bereits als inhaltsarm kritisiert. 3. Speicherungsdauer und Prüfungstermine
Mit der Regelung von Speicherungsdauer und Prüfungsterminen 57 errichten die Polizeigesetze die durch das "Volkszählungs"-Urteil geforderten grundrechtsschützenden Verfahrensregeln.
11. Die Generalklausein für die Datenverarbeitung
Die bereichsspezifischen Generalklausein für die polizeiliche Datenverarbeitung lassen die Speicherung, Veränderung und Nutzung von Daten zu, soweit dies zur Erfüllung der polizeilichen Aufgaben erforderlich ist58 . Die Beschränkung der polizeilichen Datenverarbeitung auf den zur Erfüllung der polizeilichen Aufgaben erforderlichen Bereich ist ebensowenig aussagekräftig wie die Anbindung der Datenerhebung hieran. Die soeben für die Datenerhebung getroffene Einschätzung ist insoweit übertragbar. Dieser Befund gilt auch für die besondere Befugnis zur Speicherung personenbezogener Daten von Personen, die verdächtig sind, eine Straftat begangen zu haben oder gegen die ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren läuft59 . Die diesbzügliche Befugnis der Polizei ist jedenfalls in den Bundesländern, die wie § 11 2 VE ME PolG den polizeilichen Aufgabenbereich ausdrücklich auf die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten und die Vorbereitung auf die Gefahrenabwehr erstreckt haben, auch ohne besondere Erwähnung von vorneherein ohne weiteres gegeben. Das Vorliegen der für Eingriffe grundsätzlich erforderlichen konkreten Gefahr ist nach wie vor trotz gegenteiliger Stellungnahmen in Rechtsprechung und Litera57 § 38 11 BWPolG, Art. 37-·UI BayPAG, § 48 IV ASOG BIn, § 41 IV BrbgPolG, § 15 HambDVPolG, § 20 V HSOG, § 32 IV LSASOG, § 46 SOGMV, § 22 NWPolG, § 196 111 SHLVwG, § 38 ThürPAG, § 43 111, IV SächsPolG, §§ 38 IV, 47 NGefGA. 58 § 38 I BWPolG, Art. 38 I BayPAG, § 42 I ASOG Bin, § 27 I BrernPG, § 16 I HambDVPolG, § 20 I HSOG, § 22 I LSASOG, §§ 36 I, 37 I SOGMY, § 38 I NGefAG, § 24 I NWPolG, § 25a I RhPfPOG, § 30 I SPolG, § 43 I SächsPo1G, § 188 I SHLVwG, § 40 I ThürPAG. 59 § 38 I BWPolG, Art. 38 11 BayPAG, § 42 111 ASOG Bin, § 41 111 BrbgPo1G, § 20 IV HSOG, § 22 IV LSASOG, § 30 II SPoIG, § 189 SHLVwG. § 16 II HambDVPolG, § 43 11 SächsPolG, § 39 111 NGefAG, § 37 I SOGMV, § 24 II NWPolG und § 40 II ThürPAG lassen die Speicherung dabei nur dann zu, wenn ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde und eine weitere Straffälligkeit zu befürchten ist.
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4. Teil: Vorgaben für ein "neues" Polizeiinformationsrecht
tur auch für den Bereich der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung anzunehmen. Der für eine konkrete Gefahr erforderliche personelle und situative Bezug ist im Bereich der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung ohne weiteres zu bejahen, "da zum einen die Person und die Art der möglichen Straftaten feststehen und zum anderen der Gefahrenbegriff auch bisher schon die Gefahrenerforschung bis hin zur Gefahrenvorsorge umfaßt,,6o. Der Zweck der Datenverarbeitung - die Erfüllung des polizeilichen Sicherungsauftrags - ergibt sich dabei schon aus der Befugnisnorm.
C. Bewertung des derzeitigen Polizeirechts Das derzeitige Polizeirecht, so wie es die herrschende Meinung versteht, erfüllt die Anforderungen an ein modemes Polizeiinformationsrecht nur unzureichend. Die gesetzlichen Regelungen ermöglichen aber ein neues Verständnis und die Kreation eines neuen Polizeiinformationsrechts.
I. Polizeilicher Aufgabenbereich und polizeiliche Datenverarbeitung Die Polizeigesetze - so können die vorstehenden Ausführungen zusammengefaßt werden - machen die polizeiliche Datenverarbeitung von formellen und materiellen Voraussetzungen abhängig. Die materiellen Anforderungen stehen dabei insofern im Vordergrund, als nur sie die Frage beantworten, welche Daten die Polizei erheben und verarbeiten darf. Die formellen Anforderungen gewährleisten nur einen Grundrechtsschutz durch Verfahren, entscheiden aber nicht, welche Informationen der Polizei zustehen sollen. Die Polizeigesetze binden die Datenerhebung und -verarbeitung im wesentlichen an die Erfüllung polizeilicher Aufgaben. Die Verknüpfung von AufgabensteIlung und Datenverarbeitung erscheint dabei zwar ohne weiteres korrekt und angemessen; sie führt aber andererseits nicht zu der vielfach erhofften klaren Bestimmung des Umfangs der polizeilichen Datenverarbeitung. Einerseits ist nämlich wie bereits festgestellt wurde61 - der polizeiliche Aufgabenbereich weniger sachlich als vielmehr nur zeitlich eingegrenzt. Andererseits und zudem stehen der polizeiliche Aufgabenumfang und die Menge der vorgehaltenen Informationen in einem ambivalenten Wechselverhältnis: Zum einen wirkt Unwissenheit der Polizei kompetenzerweiternd, weil ein wegen mangelnder Informationen nicht näher konkretisierbares Gefahrenpotential als groß eingestuft werden kann und eine - auch 60 Pitschas/Au\ehner, NJW 1989, 2353 (2357). Die teilweise vehemente Kritik hiergegen (vgl. z. B. H. Mayer-Metzner, Auskunft aus Dateien der Sicherheits- und Strafverfolgungsorgane, 1994, S. 211 ff. m. Fußn. 334 u. 335) mag allenfalls allgemein, nicht aber in den hiesigen besonderen Fällen bedenkenswert sein. 61 V gl. dazu oben im Text sub § 12. A. 11. 1. a.
§ 12 Die novellierten Polizei gesetze
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nur vermeintlich - drohende große Gefahr Gefahrenabwehrmaßnahmen rechtfertigt. Zum anderen und umgekehrt sind polizeilicher Aufgabenumfang und vorgehaltene Informationen insofern zueinander proportional, als für die Polizei umso mehr Gefahren erkennbar sind, je mehr Informationen sie besitzt. Dies darf jedoch nicht dahin mißverstanden werden, daß die Polizei möglichst alle Informationen erheben und verarbeiten soll und daß, falls ihr dies gelänge, ein optimaler Zustand erreicht wäre. Absolute Voraussehbarkeit der Zukunft geht nicht mit absoluter Freiheit, sondern Unfreiheit einher. Denn wenn die weitere Entwicklung in vollem Umfang vorherbestimmt ist, ergeben sich keine Handlungsalternativen mehr. Streng genommen gibt es dann auch keine Entwicklung mehr, sondern Stillstand und den Verlust der Zeitlichkeit: Es gibt weder Zukunft noch Vergangenheit oder Gegenwart. Sobald aber andererseits Handlungsalternativen bestehen, muß ein gewisses Maß an Unsicherheit über die weitere Entwicklung herrschen. Diese Einschätzung wird durch eine weitere Betrachtung bestätigt: Würde die Polizei umfassend Informationen erheben, ginge deren Vorteil verloren. Informationen tragen zur Modellbildung von der Wirklichkeit bei. Die Erstellung eines vergröbernden, die Weltkomplexität reduzierenden Modells ermöglicht Steuerung. Wären Modell und Wirklichkeit identisch, würde dies zum Verlust der Steuerungsfähigkeit führen. Das Modell wäre ebenso komplex wie die Wirklichkeit und damit ebenso wenig oder ebenso sehr wie diese steuerbar. Erforderlich ist daher eine sachgerechte Einschränkung der polizeilichen Informationserhebung und -verarbeitung. Eine absolut umfassende polizeiliche Datenerhebung und -verarbeitung wäre ebenso verfehlt wie deren völlige Einstellung. Stattdessen benötigt die Polizei optimale Modelle der Wirklichkeit - sowohl der Individuen als auch der Vorgänge. Erforderlich ist daher ein Ausgleich zwischen dem Interesse an umfassenden Informationen einerseits und dem Offenhalten von Handlungsalternativen andererseits. Dieser Ausgleich obliegt der Polizei selbst. Indem man ihr die Aufgabe der Gefahrenabwehr übertragen hat, wurde ihr insoweit auch die Verantwortung auferlegt. Die Polizei hat deshalb auch für eine sachgemäße Definition des von ihr zu bewältigenden Sachverhalts Sorge zu tragen. Der Ausgleich zwischen dem Bedürfnis nach Sicherheit einerseits und der Eröffnung und Offenhaltung von Handlungsalternativen andererseits und die Vernichtung von Zeit einerseits und ihrer Bereitstellung andererseits kann optimiert werden, wenn Informationen zunächst erhoben und gespeichert werden und Restriktionen erst an ihre Verwertung anknüpfen. Darüber hinaus ist die Zugänglichkeit von Informationen entscheidend: Offen zugängliche Informationen dürfen ohne weiteres erhoben und gespeichert werden; Informationen, zu deren Erlangung Wahrnehmungsschranken durchbrochen werden müssen, dürfen nur bei Vorliegen qualifizierter Voraussetzungen erhoben und gespeichert werden.
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4. Teil: Vorgaben für ein "neues" Polizeiinforrnationsrecht
11. Errichtungsanordnungen für Dateien die zentralen Regeln für die polizeiliche Datenverarbeitung
Die eigentlichen materiell-rechtlichen Regelungen, welche Daten erhoben und verarbeitet werden, finden sich in den von der polizeirechtlichen Literatur und Rechtsprechung bislang vernachlässigten Errichtungsanordnungen. Erst diese, von den Polizeigesetzen 62 ausdrücklich vorgesehenen, durch die Innenminister bzw. Innensenatoren zu erlassenden Detailregelungen geben an, welche personenbezogenen Daten über welche Personen zu welchem Zweck gespeichert, unter welchen Umständen sie weitergegeben werden und welche Prüfungsfristen zu beachten sind. Diesen Errichtungsanordnungen kommt sowohl für die Datenverarbeitung als auch für die Datenerhebung zentrale Bedeutung zu. Die Errichtungsanordnungen bestimmen unmittelbar zwar nur den Umgang mit bereits vorhandenen Daten. Die Regelung der Datenverarbeitung wirkt aber auf die Datenerhebung insofern zurück, als prinzipiell nur die Daten erhoben werden, die auch verarbeitet werden dürfen. Die polizeirechtliche Literatur und Rechtsprechung beschränkt sich im Hinblick auf diese Vorschriften über den Erlaß von Errichtungsanordnungen zumeist auf die Feststellung, daß es sich hierbei um Verwaltungsvorschriften handelt, die nur verwaltungsintern wirken 63 . Die entscheidende weitere Frage, anhand welcher Maßstäbe die Errichtungsanordnungen erlassen werden, wird zumeist weder aufgeworfen noch beantwortet. Die Datenerhebungs- und -verarbeitungsregeln in den Polizeigesetzen können hier keine überzeugende Antwort liefern, da sie sich vornehmlich auf nur formelle Vorgaben beschränken und ihre wenigen inhaltlichen Bestimmungen keine hinreichende Einschränkung der polizeilichen Datenerhebung bzw. -verarbeitung ermöglichen. Die Verwaltung muß daher vor dem Erlaß von Errichtungsanordnungen zunächst den Maßstab für die Beurteilung der polizeilichen Datenerhebung und -verarbeitung konkretisieren. Sie hat hierbei tatsächliche, allgemeinwissenschaftliche, verfassungs- und einfachrechtliche Vorgaben sowie Zweckmäßigkeitserwägungen in Rechnung zu stellen. Diese ebenso umfangreichen wie vielgestaltigen Vorgaben eröffnen eine "Bandbreite" zulässiger Handlungsalternativen für die polizeiliche Datenerhebung und -verarbeitung. Dieser "Korridor", der den zulässigen Inhalt der Errichtungsanord-
62 § 47 BWPoIG, Art. 47 BayPAG, § 49 ASOG Bin, § 36 BrernPG, § 48 BrbgPolG, § 26 HarnbDVPoIG, § 28 HSOG, § 33 LSASOG, § 47 SOGMV, § 46 NGefAG, § 33 NWPoIG, § 25g RhPfPOG, § 39 SPoIG, § 50 SächsPolG, § 197 SHLVwG, § 46 ThÜrPAG. 63 Vgl. z. B. Scholler/Schloer, Grundzüge des Polizei- und Ordnungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Auf). 1993, S. 210; H. Bäumler, in: LiskenIDenninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Auf). 1996, J Rdnm. 588 ff.
§ 13 Der Wandel der Verwaltung zur Infrastrukturverwaltung
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nungen beschreibt, bedarf der Fixierung durch das Konzept als neuer Handlungsform. Eben diese neue Handlungsform des Konzeptes kann auch die Anforderungen des reflexiven Rechts erfüllen. Wenn nämlich weder konkrete Handlungsvorgaben im Sinn einer konditionalen Programmierung noch Zwecke für eine finale Programmierung vorgegeben werden können, bedarf das Handeln der Verwaltung jedenfalls der Begründung. Diese kann das Konzept liefern.
§ 13 Der Wandel der Verwaltung von der Eingriffs- zur Infrastrukturverwaltung Die soeben 1 angeführten Schwächen der Polizeigesetze in ihrer heute geltenden Form und die hieraus abgeleitete Forderung nach einem Konzept als neuer exekutiver Handlungsform sind Ausdrucl\ einer nur ungenügenden Rezeption des Wandels der Verwaltung allgemein 2 : Diese hat sich von der Eingriffs- über die Leistungs- hin zu einer "Infrastrukturverwaltung" (H. Fabe?) entwickelt4 .
A. Verwaltung im "flexiblen Staat" Während dem liberalen Rechtsstaat die Eingriffsverwaltung korrespondiert, spiegelt sich der Sozialstaat in der Leistungsverwaltung wider. Für den modemen "flexiblen Staat"S ist demgegenüber die Infrastrukturverwaltung als neuer Verwaltungstyp paradigmatisch. Die Entwicklung der Gesellschaft ist damit nicht nur für das jeweilige Staatsbild entscheidend6, sondern prägt auch die Verwaltung 7 .
V gl. dazu oben im Text sub § 12. Zur Notwendigkeit einer Reform des allgemeinen Verwaltungsrechts vgl. W. Thieme, DÖV 1996, 757 ff. sowie speziell im Hinblick auf Selbstregulierung H.-H. Trute, DVBI. 1996, 950 ff.; KloepferlElsner, DVBI. 1996, 964 ff. und jüngst ausf. U. Di Fabio, VVDStRL 56 (1997), 235 ff.; M. Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 ff. - Zu den Kompetenzen der EG zur Regelung des allgemeinen Verwaltungsrechts siehe W. Kahl, NVwZ 1996, 865 ff. 3 H. Faber, Verwaltungsrecht, 4. Auf!. 1995, S. 34 f., 347 ff. und passim. 4 Vgl. hierzu sowie zum folgenden J. Aulehner, in: Haratsch/KugelmannlRepkewitz (Hrsg.), Herausforderungen an das Recht der Informationsgesellschaft, 1996, S. 195 ff. 5 Siehe hierzu bereits oben im Text sub § 8. B. III. 6 V gl. dazu bereits oben im Text sub § 8. insbesondere A. und B. I. 7 R. Mayntz, Soziologie der öffentlichen Verwaltung, 3. Auf!. 1985, S. 12. 1
2
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4. Teil: Vorgaben für ein "neues" Polizeiinformationsrecht
I. Rechtsstaatliche EingritTsverwaltung
Für den bürgerlichen Rechtsstaat ist die Eingriffsverwaltung charakteristisch. Die Verwaltung handelt in dieser Epoche vornehmlich durch Eingriffe in die Rechtssphäre des Bürgers; sie schränkt dessen Freiheit und Eigentum ein8 . Aufgabe des Verwaltungsrechts ist es, die Eingriffe der Verwaltung in die Rechtssphäre der Bürger zu beschränken. Verwaltungsrecht in dieser rechtsstaatlichen Form ist durch den Dualismus von Staat und Gesellschaft, Individualismus und Hierarchie geprägt9 . Diese Merkmale kennzeichnen die Verwaltung schon seit dem Absolutismus, dem Zeitalter, in dem die Verwaltung als Herrschaftsinstrument des sich als Zentralmacht etablierenden Königtums entstand lO • Die in dieser Zeit herausgebildete und durch das sog. Maschinenmodell ll charakterisierte Funktionsweise der Verwaltung wurde in der Folgezeit zwar modifiziert, ihre wesentlichen Grundzüge sind aber auch später noch lange Zeit erkennbar: Die hierarchische Struktur ist ebenso wie die Fremdbestimmung nach wie vor paradigmatisch für die Verwaltung 12 • Hierarchie prägt dabei nicht nur den Binnenbereich der Exekutive, auf den sich das Maschinenmodell der Verwaltung beschränkt, sondern auch das Verhältnis der Exekutive zu den Bürgern. Die öffentliche Verwaltung wird zwar zunehmend öffentlich-rechtlichen Bindungen unterworfen, ihre hierarchische Grundkonstruktion bleibt aber erhalten 13 . Die Fremdbestimmung ist im nach wie vor erkennbaren Instrumentcharakter der Verwaltung erhalten 14. Der später eingeebnete Dualismus von Staat und Gesellschaft soll im liberalen "Nachtwächterstaat" den Staat darauf beschränken, Sicherheit und Ordnung als Voraussetzungen eines freien Wettbewerbs zu garantieren. Dementsprechend ist grundsätzlich jeder in seinen Handlungen frei: der Bürger kann nach seinem Belieben handeln, solange er nicht Rechte oder Interessen anderer gefährdet oder verletzt. Charakteristisch für die Eingriffsverwaltung sind deshalb auch die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Gesetzesvorbehalt. Die Steuerung der Verwaltung erfolgt durch Konditionalprogramme l5 . Die Gewährleistung eines freien Wettbewerbs durch die Exekutive erfordert, daß die Verwaltung als Einheit auftritt. Aus der Einheit der Verwaltung werden Vgl. z. B. H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Auf!. 1994, § I Rdnr. 20. H. Faber, Verwaltungsrecht, 4. Auf!. 1995, S. 29 ff. 10 R. Mayntz, Soziologie der öffentlichen Verwaltung, 3. Auf!. 1985, S. 18 f.
8 9
M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe, 5. Auf!. 1976, S. 551 ff., 561 f. Ähnlich H. Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, 1991, S. 36 ff. 13 H. Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, 1991, S. 90 ff. 14 R. Mayntz, Soziologie der öffentlichen Verwaltung, 3. Auf!. 1985, S. 60 ff. 15 R. Wahl, in: Hoffmann-RiernJSchmidt-AßmannlSchuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 177 ff., 192 f. 11
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§ 13 Der Wandel der Verwaltung zur Infrastrukturverwaltung
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dann wiederum weitreichende verwaltungsrechtliche Konsequenzen gezogen: Im Hinblick auf die Impermeabilität sind namentlich Rechtsstreitigkeiten innerhalb des Staates ebenso ausgeschlossen wie Rechtsbeziehungen im Binnenbereich der Exekutive. Darüber hinaus rechtfertigt die Undurchdringlichkeit des Staates auch das besondere Gewaltverhältnis 16. Individualismus prägt die Eingriffsverwaltung insofern, als sie nur zweipolige Rechtsverhältnisse thematisiert: Verwaltungsrecht ist die Summe aller Rechtsverhältnisse 17 . Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß die Eingriffsverwaltung der Gewährleistung der Sicherheit dient, hierarchisch, individualistisch und durch den Dualismus von Staat und Gesellschaft geprägt sowie überdies konditional programmiert und durch Gesetzesvorbehalt und den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit fremdbestimmt ist l8 . Der Bürger hat einen materiell-rechtlichen Anspruch auf Aufhebung rechtswidriger belastender Verwaltungs akte, dem prozeßrechtlich die Anfechtungsklage und die aufschiebende Wirkung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren korrespondieren.
11. Sozialstaatliche Leistungsverwaltung
Mit der Ausdifferenzierung der Leistungsverwaltung wird auf einen verfassungsrechtlichen Wandel und ein geändertes Staatsverständnis reagiert: Der Bürger ist mehr denn je vom Staat abhängig geworden l9 . Der Staat ist dementsprechend nicht mehr bloßer "Nachtwächterstaat"; aus den Grundrechten werden neben der klassischen Abwehrdimension weitere Dimensionen, insbesondere Leistungsansprüche und Teilhaberechte abgeleitet 2o . Im Gegensatz zur Eingriffsverwaltung gewährt die Leistungsverwaltung dem Bürger Leistungen oder sonstige Vergünstigungen. Leistungsverwaltung kann dabei in zweifachem Sinn verstanden werden: Die Leistung kann zum einen den Verwaltungszweck oder zum anderen das Verwaltungsmittel bezeichnen. Im Zusammenhang mit der Eingriffsverwaltung ist auf die letztere Deutung abzustellen 21 . Die für die Eingriffsverwaltung charakteristischen Merkmale sind zwar auch in der Leistungsverwaltung noch erkennbar; sie sind allerdings teilweise stark relatiH. Faber, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 1995, S. 29 f. H. Faber, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 1995, S. 30 f. 18 Ebenso R. Wahl, in: Hoffmann-RiemlSchmidt-AßmannlSchuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 177 ff., 192 ff., 196. 19 Dazu z. B. R. Pitschas, in: Hoffmann-RiemlSchmidt-AßmannlSchuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 219 ff., 223. 20 Vgl. dazu bereits oben im Text sub § 9. B. 11. I. b. 21 H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Aufl. 1994, § I Rdnrn. 20 f. 16 17
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viert. Der Dualismus von Staat und Gesellschaft besteht zwar fort, ist aber in vielen Bereichen nivelliert. Die Impermeabilitätstheorie und das besondere Gewaltverhältnis werden als Ausdruck der Einheit der Verwaltung verabschiedet 22 . Das Verwaltungsrecht fußt zwar nach wie vor auf bipolaren Rechtsverhältnissen: Leistung ist nämlich jede Maßnahme der Verwaltung gegenüber einem einzelnen, die diesem etwas gewährt23 . Interessen der Allgemeinheit artikulieren sich aber zunehmend auch rechtlich, namentlich durch Verbandsklagen 24, Beauftragte und Verfahrensvertreter. Damit erfährt mithin auch die individualistische Ausrichtung der Eingriffsverwaltung eine Einschränkung 25 . Auch die hierarchische Struktur der Verwaltung befindet sich angesichts einer rapide zunehmenden Komplexität der von der Exekutive zu bewältigenden Aufgaben auf dem Rückzug. Einseitige Anordnungen durch Befehl und Zwang können diese Vielgestaltigkeit und den damit verbundenen Aufgabenschub nicht hinreichend aufnehmen. Die Verwaltung ist auf weitere nur durch Kooperation zu erlangende Informationen angewiesen 26 . Die Leistungsverwaltung zeichnet sich damit zusammengefaßt materiell-rechtlich durch den Vorrang des Gesetzes, die Pflicht zur Leistung oder zur fehlerfreien Ausübung des Leistungsermessens, prozeßrechtlich durch die Verpflichtungs- und allgemeine Leistungsklage sowie im vorläufigen Rechtsschutz durch die einstweilige Anordnung aus 27 .
III. Infrastrukturverwaltung im "flexiblen Staat"
Obwohl die Leistungsverwaltung damit bereits deutlich weiter in die von der Verwaltung faktisch ausgefüllten Tätigkeiten ausgreift, markiert sie nur einen neben der Eingriffsverwaltung weiteren Verwaltungstyp. Eingriffs- und Leistungsverwaltung stehen ohne gemeinsamen Oberbegriff nebeneinander28 und können auch in ihrer Summe nicht beanspruchen, die Verwaltungstätigkeiten vollständig zu beschreiben.
H. Faber, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 1995, S. 31 f. H. Faber, in: SteinIFaber (Hrsg.), Auf einem Dritten Weg. Festschrift für H. Ridder zum 70. Geburtstag, 1989, S. 291 ff., 294. 24 Zusf. zu dieser z. B. E. Paintner, JA 1988,579 ff. 25 H. Faber, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 1995, S. 32. 26 H. Faber, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 1995, S. 32. 27 H. Faber, in: SteinIFaber (Hrsg.), Auf einem Dritten Weg. Festschrift für H. Ridder zum 70. Geburtstag, 1989, S. 291 ff., 294. 28 H. Faber, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 1995, S. 34. 22
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1. Daseinsvorsorge zwischen Leistungs- und 1nfrastrukturverwaltung
Das Fehlen einer umfassenden Beschreibung der Verwaltungstätigkeit auch nach der Ergänzung der Eingriffsverwaltung durch die Leistungsverwaltung war schon bei deren Einführung bekannt: Der Begriff der "Daseinsvorsorge" wurde nämlich zu dem der Leistungsverwaltung verengt.
E. Forsthoff beschreibt "Daseinsvorsorge" zunächst als Kompensation für die Verringerung des beherrschten Lebensraumes, aus der soziale Bedürftigkeit des einzelnen resultiert. Er versteht unter "Daseinsvorsorge" damit zunächst und umfassend die Sicherstellung der Lebensvoraussetzungen in einem gesamtgesellschaftlichen Sinn29 . Erst später verengt er den Begriff der "Daseinsvorsorge", indem er ihn auf den einzelnen beschränkt und die soziale Fürsorge ausgrenzt 30 . Der Begriff der "Daseinsvorsorge" wurde so zu einem Teil der Leistungsverwaltung 31 ; er bezeichnet nur das Verhältnis zwischen dem einzelnen und der Verwaltung, eignet sich aber nicht zur Steuerung ganzer Lebensbereiche oder auch nur komplexer Organisationen oder Bürgergruppen 32 .
2. 1nfrastrukturverwaltung als multilaterale und mehrpolige Daseinsvorsorge
Die Infrastrukturverwaltung nimmt den durch E. Forsthoffbei der Konkretisierung der "Daseins vorsorge" zur Leistungsverwaltung ausgeschiedenen Verwaltungsbereich wieder auf. Sie zeichnet sich gerade durch ihre Multilateralität und Mehrpoligkeit aus 33 . a) Begriff der Infrastrukturverwaltung Gegenstand der Infrastrukturverwaltung sind nicht nur die bilateralen und bipolaren Beziehungen zwischen Staat und einzelnen Bürgern, sondern die multilateralen und mehrpoligen zwischen dem Staat einerseits und Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt andererseits 34 . E. Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, 1938, S. 4 ff. E. Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, 1938, S. 40 ff.; E. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. I, Allgemeiner Teil, 1973, S. 372. 31 E. Forsthoffbezeichnet "Daseinsvorsorge" als "Leitbegriff, unter dem die Funktionen der leistenden Verwaltung zusammenzufassen sind" (E. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 1973, S. 370). 32 H. Faber, in: SteinlFaber (Hrsg.), Auf einem Dritten Weg. Festschrift für H. Ridder zum 70. Geburtstag, 1989, S. 291 ff., 294 f. 33 H. Faber, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 1995, S. 348. - Zum Unterschied zwischen Multilateralität und Mehrpoligkeit vgl. H. Faber, in: SteinlFaber (Hrsg.), Auf einem Dritten Weg. Festschrift für H. Ridder zum 70. Geburtstag, 1989, S. 291 ff., 299. 29
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4. Teil: Vorgaben für ein "neues" Polizeiinformationsrecht
Daß das Verwaltungsrecht längst seine klas~ische, bipolare, am Verhältnis zwischen Staat und einzelnem Bürger ausgerichtete Orientierung überschritten hat, kann dabei kaum bestritten werden. Hierfür muß noch nicht einmal auf die Multilateralität der modemen Verwaltung verwiesen werden. Die früher angenommene Bilateralität der Verwaltungsbeziehungen wurde vielmehr schon durch die zahlreichen Dreiecksverhältnisse gesprengt, wenngleich das Verwaltungsrecht diese trigonalen Beziehungen bislang durch eine - teilweise gezwungen wirkende - Rückführung in zweipolige Verwaltungsverhältnisse zu bewältigen sucht35 . Die Mehrpoligkeit und Multilateralität des modemen Verwaltungsrechts wurde dabei insbesondere bei der Tagung der Staatsrechtslehrer im Jahre 1975 deutlich. Bei dieser Tagung forderte R. Scholz "die Öffnung des subjektiven öffentlichen Rechts zur legitimen Repräsentation auch öffentlicher Interessen,,36 und E. Schmidt-Aßmann thematisierte "polygonale Verwaltungsverhältnisse, in denen subjektive Rechte auch untereinander in Frontstellung stehen,,37. Ein derartiges weites und funktionales Verständnis der Infrastrukturverwaltung, wie es H. Faber, dem hier gefolgt wird, prägt, ist gleichwohl teilweise auf Kritik gestoßen. H. P. Bull sieht hierin eine "stark politikwissenschaftlich orientierte Begriffsbildung,,38 und kritisiert, daß sich die Infrastrukturverwaltung kaum von der Eingriffs- und Leistungsverwaltung unterscheidee 9 . Auch R. Stober40 wendet sich gegen den von H. Faber geprägten Begriff der Infrastrukturverwaltung. R. Stober versteht den Begriff Infrastrukturverwaltung institutionell. Infrastrukturverwaltung ist danach die Gesamtheit der Einrichtungen, die politisch bestimmte Leistungen für alle oder einige Gesellschaftsmitglieder anbieten. Ursächlich für diese schon begrifflichen Deviationen ist die uneinheitliche, jeweils durch die Zweckmäßigkeit bestimmte Definition und Verwendung des Infrastrukturbegriffs sowohl in der juristischen Literatur als auch im allgemeinen Sprachgebrauch. Infrastruktur meint in der Regel die Gesamtheit der staatlichen und privaten, materiellen, institutionellen und personellen Einrichtungen und Gegebenheiten, die für eine ausreichende Daseinsvorsorge und für die wirtschaftliche 34 Daß Verwaltungsrechtsverhältnisse nicht nur zwei-, sondern mehrseitig sein können, wird zunehmend erkannt und bejaht. Eine einheitliche Terminologie hat sich gleichwohl noch nicht herausgebildet: Neben "multilateral" finden sich auch die Bezeichnungen "polygonal", "mehrpolig", "mehrseitig" oder Kombinationen hiervon. Statt von "bilateral" wird entsprechend von "bipolar", "zweipolig", "zweiseitig" oder Kombinationen hieraus gesprochen. Vgl. dazu M. Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 1992, S. I m. Fußn. I bzw. S. 2 m. Fußn. 5 jeweils m.w.N. 35 Vgl. dazu M. Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 1992, S. 4 ff. 36 R. Scholz, VVDStRL 34 (1976),145 ff., 208. 37 E. Schmidt-Aßmann, VVDStRL 34 (1976), 221 ff., 236 f. 38 H. P. Bull, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Auf!. 1993, § I Rdnr. 30. 39 H. P. Bull, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Auf!. 1993, § 2 Rdnr. 80. 40 WolfflBachof/Stober, Verwaltungsrecht I, 10. Auf!. 1994, S. 44 f.
§ 13 Der Wandel der Verwaltung zur Infrastrukturverwaltung
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Entwicklung eines Raumes unabdingbar sind und dem regionalen sowie sektoralen Ausgleich der Faktorpreise sowie der Erhöhung des gesamtwirtschaftlichen Wachstums dienen sollen. Hierzu zählen insbesondere Verkehrseinrichtungen, Einrichtungen der Energieversorgung, des Fernmelde- und Nachrichtenverkehrs sowie der Entsorgung als technische Infrastruktur und Schulen, Krankenhäuser, Sportanlagen sowie Kultureinrichtungen als soziale Infrastruktur41 • Dienstleistungen der öffentlichen Hand sind den Einrichtungen der staatlichen Verwaltung, des Erziehungs- und Forschungs- sowie des Gesundheits- und Fürsorgewesens als materieller Infrastruktur zuzurechnen42 . Infrastrukturverwaltung i.S. v. H. Faber, dem hier gefolgt wird, beschreibt aber keinen Typus von Verwaltungseinrichtungen, sondern zeichnet sich durch eine besondere - von der Eingriffs- und Leistungsverwaltung abweichende - Aufteilung des Handlungsvorgangs zwischen Exekutive und Legislative aus, die eine Steuerung durch reflexives Verwaltungsrecht erforderlich macht43 •
b) Infrastrukturverwaltung versus Eingriffs- und Leistungsverwaltung Reflexivität contra Konditional- und Finalprogrammierung Im Gegensatz zu Eingriffs- und Leistungsverwaltung zeichnet sich die Infrastrukturverwaltung mithin nicht allein dadurch aus, daß sie auf Prävention ausgerichtet ist. Mit der verstärkten Ausprägung der Infrastrukturverwaltung geht vielmehr die zunehmende Abkehr des Verwaltungsrechts von materiellen Richtigkeitsfestlegungen und seine Hinwendung zur bloßen Koordinierung und Abwägung zwischen konfligierenden Belangen einher. Besonderes Charakteristikum der Infrastrukturverwaltung ist dabei ihre Reflexivität, d. h. der in ihr angelegte Lernprozeß. Während die Eingriffsverwaltung durch Konditional- und die Leistungsverwaltung durch Finalprograrnrne einer detaillierten gesetzlichen Steuerung unterliegt, stellt die Infrastrukturverwaltung darüber hinaus auch Verfahren zur fortlaufenden Rechts- und Zweckkonkretisierung bereit. Die Infrastrukturverwaltung ist somit zusätzlich durch eine Prozeduralisierung gekennzeichnet44 • Die Infrastrukturverwaltung markiert damit eine neue Verteilung des Handlungsvorgangs zwischen Exekutive und Legislative. Unterscheidet man mit B. Becker45 mit der Festlegung der Zwecke und Ziele 46 und ggf. der PrioritätensetVgl. z. B. P. Eichhorn (Hrsg.), Verwaltungs lexikon, 1985, S. 447 f. Wie hier bereits ScholziAulehner, Archiv PT 1993,221 (224 f.). 43 Dazu R. Pitschas, DÖV 1989,785 (794 ff.). - Allgemein zum reflexiven Recht vgl. bereits oben im Text sub § 8. C. insb. IV. 3. 44 R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 152 ff. m. Fußn.80. 45 B. Becker, Öffentliche Verwaltung, 1989, S. 421 ff., 449 ff. 41
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zung, der Situationsdefinition47 , der Suche, Bewertung und Auswahl der besten Maßnahmenalternative, der Ausführung, der Feststellung der Wirkungen, der Erfolgskontrolle und Anpassung acht Phasen eines Handlungsvorgangs 48 , so bezeichnet die Infrastrukturverwaltung einen Bedeutungszuwachs der Exekutive. Während gesetzliche Konditionalprogramme der Exekutive nur die Ausführung und allenfalls die Suche, Bewertung und Auswahl der besten Maßnahmenalternative überlassen und legislative Finalprogramme darüber hinaus auch die Situationsdefinition der Verwaltung zuweisen, beteiligt die Infrastrukturverwaltung die Verwaltung an allen Phasen des Handlungsvorgangs. Die Infrastrukturverwaltung überantwortet der Exekutive schon die Mitwirkung an der Zweck- und Zielfestlegung sowie der Setzung von Prioritäten dabei. Den überkommenen Verwaltungstypen der Eingriffs- und Leistungsverwaltung in der exekutiven Vollzugsfunktion ist Zwecksetzung fremd. Nur im Rahmen der Politikvorbereitungsfunktion kennt auch die klassische Verwaltung schon eine - verwaltungsinterne - Zwecksetzung 49 • Darüber hinaus ist die Exekutive bei diesem Verwaltungstyp - anders als im Fall der Eingriffs- und Leistungsverwaltung - auch aufgerufen, die Wirkungen und den Erfolg der Handlung zu kontrollieren und die Handlung jeweils anzupassen.
c) Infrastrukturverwaltung und die Charakteristika der Eingriffs- und Leistungsverwaltung Die Zäsur zwischen Eingriffs- und Leistungsverwaltung einerseits und der Infrastrukturverwaltung andererseits offenbart sich auch bei einem Blick auf die für erstere herangezogenen Maßstäbe: Dualismus von Staat und Gesellschaft, Individualismus und Hierarchie. Der Dualismus von Staat und Gesellschaft wird spätestens im "flexiblen Staat" verfassungsrechtlich aufgehoben: Gemäß Art. 20 11 1 GG geht die Staatsgewalt vom Volke aus 50 . Der Individualismus wird durch Multilateralität und Mehrpoligkeit abgelöst. Die Infrastrukturverwaltung trifft keine konkreten Maßnahmen oder verbindlichen Entscheidungen gegenüber bestimmten Personen, sondern schafft nur die Prämissen hierfür51 • Schließlich wird auch die Hierarchie als drittes Cha46 Vgl. dazu ausführlich N. Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, 1973, insb. S. 166 ff. 47 Siehe zum Zugang des Menschen zur Wirklichkeit bereits oben im Text sub § 4. sowie N. Luhmann, Soziale Systeme, 2. Auf!. 1988, S. 242 ff. 48 Ausführlich zu den idealtypischen Ebenen des Verwaltungshandelns W. HoffmannRiem in: ders./Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandeins, 1994, S. 9 ff., 29 ff. 49 B. Becker, Öffentliche Verwaltung, 1989, S. 424. 50 H. Faber, Verwaltungsrecht, 4. Auf!. 1995, S. 29.
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rakteristikum der Verwaltung durch die Infrastrukturverwaltung relativiert: Die Fremdsteuerung der Verwaltung wird durch deren Selbststeuerung abgelöst. Die zentrale Rolle, die der Gesetzesvorbehalt für die Eingriffsverwaltung und der Vorrang des Gesetzes für die Leistungsverwaltung einnimmt, kommt dementsprechend im Fall der Infrastrukturverwaltung dem Abwägungsgrundsatz ZU 52 •
B. Handlungsformen und Verwaltungstypen Den Verwaltungstypen - Eingriffs-, Leistungs- und Infrastrukturverwaltung entsprechen jeweils gesonderte Handlungsformen der Verwaltung, obwohl heute Einvernehmen darüber besteht, daß primär Verwaltungsfunktionen, nicht aber die Handlungsformen der Verwaltung strukturbildend wirken 53. Dies wird schon durch einen Blick auf die Handlungsformen bestätigt: Die nach wie vor leitbildhafte Handlungsform der Verwaltung - der Verwaltungsakt - kann weder der Eingriffsnoch der Leistungsverwaltung zugeordnet werden. Eine Differenzierung zwischen Leistungs- und Eingriffsverwaltung setzt hier vielmehr die weitere Spezifizierung und Unterscheidung von belastendem und begünstigendem Verwaltungsakt voraus. Ersterer ist die charakteristische Handlungsform für die Eingriffsverwaltung, letzterer kennzeichnet die Leistungsverwaltung 54 . Mulitlateralität und Mehrpoligkeit der Infrastrukturverwaltung wirken dabei auf den Inhalt der im Bereich der Infrastrukturverwaltung getroffenen Maßnahmen zurück: Die Infrastrukturverwaltung trifft keine verbindlichen Entscheidungen im Einzelfall gegenüber konkreten Personen, sondern schafft nur die Prämissen hierfü~5.
Die Spezifika der Infrastrukturverwaltung - insbesondere der gegenüber der Eingriffs- und Leistungsverwaltung erweiterte Anteil der Exekutive an den unterschiedlichen Phasen des Handlungsvorgangs - erfordern die Ausdifferenzierung einer neuen Handlungsform. Die für die Infrastrukturverwaltung typische Beteiligung der Exekutive schon an der Festlegung der Ziele und Zwecke sowie ggf. der Prioritäten und an der Feststellung der Wirkungen einer Verwaltungsmaßnahme, an der Erfolgskontrolle und an der Anpassung der Programmierung macht - im Vergleich mit der Eingriffs- und Leistungsverwaltung - zusätzliche exekutive KonH. Faber, Verwaltungsrecht, 4. Auf). 1995, S. 348. H. Faber, in: Stein/Faber (Hrsg.), Auf einern Dritten Weg. Festschrift für H. Ridder zum 70. Geburtstag, 1989, S. 291 ff., 296. Ausführlich zum Abwägungsgrundsatz K.-H. Ladeur, "Abwägung" - ein neues Paradigma des Verwaltungsrechts, 1984, S. 11 ff. 53 H. Faber, in: Stein/Faber (Hrsg.), Auf einern Dritten Weg. Festschrift für H. Ridder zum 70. Geburtstag, 1989, S. 291 ff., 292. 54 H. Faber, in: Stein/Faber (Hrsg.), Auf einern Dritten Weg. Festschrift für H. Ridder zum 70. Geburtstag, 1989, S. 291 ff., 292 f. 55 H. Faber, VerwaItungsrecht, 4. Auf). 1995, S. 348. 51
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4. Teil: Vorgaben für ein "neues" Polizeiinformationsrecht
kretisierungsprogramme erforderlich, die namentlich die legislativ nur vage formulierten Ziele und Zwecke einer Handlung spezifizieren. Wahrend die Eingriffs- und Leistungsverwaltung ihre Aktivitäten auf die Ausführung, die Auswahl, Bewertung und Suche der Maßnahmenaltemativen sowie die Situationsdefinition beschränkt, setzt die Infrastrukturverwaltung mit der Konkretisierung der Ziele und Zwecke bereits in einer früheren Handlungsphase ein und dauert überdies länger an. Die Infrastrukturverwaltung erfaßt nämlich auch die Feststellung der Ausführung der Maßnahme, die Erfolgskontrolle und die Anpassung. Diese die Infrastrukturverwaltung kennzeichnende Erweiterung des Spektrums der exekutiven Teilhabe am Handlungsvorgang erfordert eine neue Handlungsform der Exekutive. Dies überrascht nicht, zumal- wie sich sogleich zeigen wird - für Handlungsformen u. a. gerade Komplexitätsreduktion und Komprimierung des exekutiven HandeIns charakteristisch sind.
I. Charakteristika der Handlungsformen
Der Begriff der Handlungsform ist unklar56 . Zweifel bestehen dabei schon im Hinblick auf die Terminologie, da teilweise zwischen Rechts- und Handlungsform differenziert wird57 , während andere die beiden Bezeichnungen für bedeutungsgleich halten. P. Krause definiert Handlungsformen als "Strukturen, durch die sich Handlungen unabhängig von ihrem konkreten Inhalt in Verfahrens weise, Funktion und Rechtsfolge entsprechen,,58. R. Pitschas beschreibt demgegenüber komplizierter, aber auch präziser die Handlungsformen als "ein vertyptes Aktionsmuster der Verwaltung, das die Rechtsprinzipien der material-prozeduralen Gerechtigkeitskonzeption des sozialen Rechtsstaats in ihren Wirkungsbezügen auf die zweckund gesetzesgerechte Erfüllung der Verwaltungsaufgaben nur 'ausformt' , nicht aber selbst begründet,,59. Mit R. Loeser60 können sechs Funktionen der Handlungs- bzw. Rechtsformen unterschieden werden: Rechts- bzw. Handlungsformen dienen der Speicherung und Komplexitätsreduktion; sie haben Garantie-, Schutz-, Steuerungs- und Transportfunktion. 56 Zu Klassifikationsansätzen für das staatliche Handeln ausführlich KönigIDose, in: dies. (Hrsg.), Instrumente und Formen staatlichen Handeins, 1993, S. 3 ff. 57 So z. B. E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee und System, 1982, S. 27 Fn. 41. - W. Pauly, in: Becker-Schwarze/Köck u. a. (Hrsg.), Wandel der Handlungsformen im Öffentlichen Recht, 1991, S. 25 ff., 34 hält Handlungsform für den Oberbegriff, der die Rechtsformen des Verwaltungshandelns und das restliche Verwaltungshandeln, namentlich Realakt und schlichtes Verwaltungshandeln, umgreift. 58 P. Krause, Rechtsformen des Verwaltungshandeins, 1974, S. 14. 59 R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 633. 60 R. Loeser, System des Verwaltungsrechts, Bd. I, 1994, § 9 Rdnrn. 5 ff.
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Die Speicherfunktion der Handlungs- bzw. Rechtsfonn "vertypt Ausschnitte des Verhaltens der staatlichen Organwalter, indem sie zunächst in bestimmter Weise qualifiziertes Organwalterverhalten, teils unter Chiffre einer gesetzlich benannten Rechtsfonn, z. B. der des Verwaltungsaktes, aufgreift und dann diesem Verhalten bzw. der Chiffre ein "konfektioniertes" Rechtsregime zuordnet,,61. Rechtspraktisch sind die Rechtsfonnen "Speicher", die konkrete Lösungen erleichtern 62 . Komplexität reduzieren die Handlungs- und Rechtsfonnen in zweifacher Hinsicht: Zum einen müssen durch die Ausdifferenzierung von Rechts- und Handlungsfonnen die juristischen Sach- und Wertungsfragen nicht in jedem Einzelfall neu aufgeworfen und geklärt werden. Vielmehr ist die Zuordnung des zu beurteilenden Falles zu einer bereits ausdifferenzierten Handlungs- bzw. Rechtsfonn ausreichend63 . Zum anderen ermöglichen die exekutiven Handlungs- bzw. Rechtsformen einen guten Überblick über die rechtsdogmatische Erfassung der Verwaltungstätigkeit. Die Handlungs- bzw. Rechtsfonnen sorgen damit zugleich für Transparenz sowohl für den Bürger als auch für die Verwaltung selbst. Im Hinblick auf den Bürger entfalten die Handlungs- bzw. Rechtsfonnen eine Schutzfunktion64 , indem sie das unstrukturierte Verwaltungshandeln in Fonn bringen, um damit namentlich die Beeinträchtigung schutzwürdiger Interessen zu verhindern65 . Für die Verwaltung wirken Handlungs- bzw. Rechtsfonnen steuernd und ennöglichen es ihr, ihre legitimen Aufgaben wahrzunehmen 66 . Handlungs- bzw. Rechtsfonnen fungieren dabei insofern wie Bausteine, als die Auslösung einer Handlungs- bzw. Rechtsfonn weitere Handlungs- bzw. Rechtsfonnen nach sich zieht67 . Ebenfalls in direktem Zusammenhang mit der durch Rechts- und Handlungsformen bewirkten Komplexitätsreduktion steht auch deren Garantiefunktion, zumal Komplexität nur durch fixierte und zugleich flexible Strukturen reduziert werden kann. Es überrascht daher nicht, daß Rechts- und Handlungsfonnen ihre Regelungswirkung an strikte Begriffs- und Eingriffsvoraussetzungen binden68 . Als Transportfunktion bezeichnet R. Loeser69 die Synthese von materiellem und fonnellem Recht in den Handlungsformen. Aus der Perspektive des fonnellen 61 W. Pauly, in: Becker-Schwarze/Köck u. a. (Hrsg.), Wandel der Handlungsfonnen im Öffentlichen Recht, 1991, S. 25 ff., 35. 62 E. Schmidt-Aßmann, DVBI. 1989,533. 63 F. Ossenbühl, JuS 1979,681 (681 f.) bezeichnet dies als "rationalisierende Funktion" der Handlungs- bzw. Rechtsfonnen. 64 E. Schmidt-Aßmann, DVBI. 1989,533 (535). 65 P. Krause, Rechtsfonnen des VerwaltungshandeIns, 1974, S. 115 ff. 66 E. Schrnidt-Aßmann, DVBI. 1989,533 (535). 67 R. Loeser, System des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 1994, § 9 Rdnr. 10. 68 W. Pauly, in: Becker-Schwarze/Köck u. a. (Hrsg.), Wandel der Handlungsfonnen im Öffentlichen Recht, 1991, S. 25 ff., 41. 69 R. Loeser, System des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 1994, § 9 Rdnr. 11.
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Rechts werden Handlungsformen durch Verfahrensvorschriften dirigiert und schließen Verfahren ab. Zugleich sind Handlungsformen aber materiell auf die Gestaltung oder Feststellung von Rechten, Pflichten und Rechtsfolgen ausgerichteeo.
11. Klassische Handlungsformen der Verwaltung und deren Fortentwicklung
Diese soeben angeführten Charakteristika zeichnen sowohl den Verwaltungsakt und öffentlich-rechtlichen Vertrag 71 als klassische Handlungsformen der Verwaltung als auch die dynamischen Verwaltungsakte und das informale Verwaltungshandeln als deren Fortentwicklungen aus.
1. Verwaltungsakt und öffentlich-rechtlicher Vertrag als überkommene Handlungsformen des Verwaltungsrechts
Das traditionelle Verwaltungsrecht ist durch einen Formendualismus geprägt. Als konkret-individuelle Handlungsformen lassen die VwVfGe des Bundes und der Länder nur den Verwaltungsakt und den öffentlich-rechtlichen Vertrag zu. § 9 VwVfG definiert das Verwaltungs verfahren nämlich als die "nach außen wirkende Tatigkeit der Behörden, die auf die Prüfung der Voraussetzungen, die Vorbereitung und den Erlaß eines Verwaltungsaktes oder auf den Abschluß eines öffentlichrechtlichen Vertrages gerichtet ist; es schließt den Erlaß des Verwaltungsaktes oder den Abschluß des öffentlich-rechtlichen Vertrages ein". Rechtsverordnungen und Satzungen stellen demgegenüber ebenso wie Verwaltungsvorschriften abstrakt-generelle Rechtsnormen dar. Vornehmlich der Verwaltungsakt (§§ 35 ff. VwVfG), aber auch der öffentlichrechtliche Vertrag (§§ 54 ff. VwVfG) orientieren sich dabei an der Eingriffs- und Leistungsverwaltung72 . Dieser für den Verwaltungsakt evidente Befund gilt auch für den öffentlich-rechtlichen Vertrag, zumalletzterer verwaltungsverfahrensrechtlich an den ersteren angebunden ist. Diese klassischen Handlungsformen sind aber für die moderne Infrastrukturverwaltung unzureichend. Verwaltungsakte und öffentlich-rechtliche Verträge können zwar Verwaltungs verfahren steuern, bei denen es auf die Situationsdefinition, die Suche, Festlegung und Bewertung von Maßnahmenalternativen sowie die Ausführung ankommt. Wenn aber - wie im Fall der Infrastrukturverwaltung - die ExekuR. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 630 f. Siehe dazu ausführlich W. Spannowsky, Grenzen des Verwaltungshandelns durch Verträge und Absprachen, 1994. 72 R. Pitschas, in: BlümellPitschas (Hrsg.), Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, 1994, S. 229 ff., 230. 70
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tive auch an der Zweck- und Zielsetzung sowie an der Feststellung der Wirkungen der ausgeführten Maßnahme, der Erfolgskontrolle und der Anpassung des Handlungsprogramms mitwirken soll, sind diese klassischen exekutiven Handlungsformen deutlich überfordert. Das Verwaltungsrecht kennt dementsprechend eine Vielzahl von Fortentwicklungen dieser klassischen Formen, die den Übergang zu einer neuen Handlungsform der Verwaltung markieren.
2. "Dynamische" Verwaltungsakte und informales Verwaltungshandeln Fortentwicklungen der Handlungsformen des traditionellen Verwaltungsrechts
Trotz der verbreiteten und bereits frühzeitig angemeldeten Kritik an dem überkommenen Formendualismus erlebt der Verwaltungsakt dabei ebenso wie der öffentlich-rechtliche Vertrag 73 eine jedenfalls begrenzte Renaissance. Der Verwaltungsakt hat sich zum einen als geeignetes Mittel zur Ordnung mehrpoliger und hierdurch unübersichtlicher Verwaltungsrechtsverhältnisse erwiesen74. Zum anderen wird er zunehmend zu einem sach- und zeitvariablen Instrument fortentwickelt. Der vordem rein statisch-punktuelle Charakter des Verwaltungsakts wird durch eine dynamische Komponente ergänzt75 . Der Verwaltungsakt hat sich vom einseitig-autoritativen Befehl zu einer Rechtsform gewandelt, die die Verantwortungsübernahme durch die Exekutive symbolisiert und deren Bestandskraft die Rechtsverhältnisse stabilisiert76. Insbesondere wird der Verwaltungsakt in modifzierter Form als sog. vorläufiger Verwaltungsakt77 zur Bewältigung der ständig zunehmenden Wahrscheinlichkeitsund Risikoentscheidungen eingesetzt78 . Er nimmt dabei die Unsicherheiten einer noch offenen Sachverhaltsentwicklung ebenso auf wie die einer noch unvollständigen Sachverhaltsermittlung 79. Weitere Beispiele für eine schleichende Dynamisierung des Verwaltungsakts liefern neben den schon in die Verwaltungsrechtsdogmatik integrierten Zusagen, Zusicherungen, Auskünften, Vorbescheiden und Teilgenehmigungen auch und ebenso die vorsorglichen Verwaltungsakte 80 . 73 Zu diesem H. Bauer, in: Hoffmann-RiemlSchmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des VerwaltungshandeIns, 1994, S. 245 ff. 74 R. Pitschas, in: BlümellPitschas (Hrsg.), Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, 1994, S. 229 ff., 230. 75 Zu diesem aus heutiger Sicht F. Schoch, in: Hoffmann-RiemlSchmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des VerwaltungshandeIns, 1994, S. 199 ff. 76 E. Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-RiemlSchmidt-AßmannlSchuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 11 ff., 60. 77 Zum sog. vorläufigen Verwaltungsakt z. B. H.-C. Schimmelpfennig, Vorläufige Verwaltungsakte, 1989; U. Di Fabio, DÖV 1991,629 ff.; S. Langer, JA 1990,27 ff. 78 R. Pitschas, in: BlümellPitschas (Hrsg.), Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, 1994, S. 229 ff., 230. 79 E. Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-RiemlSchmidt-AßmannlSchuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 11 ff., 61.
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Der öffentlich-rechtliche Vertrag seinerseits wird trotz seiner Anbindung an den Verwaltungsakt als Prototyp einer flexiblen Handlungsform für die Verwaltung verstanden. Jenseits hiervon hat sich das informale Verwaltungshandeln etabliert. Diesem unterfallen "alle nicht geregelten Tathandlungen, die der Staat anstelle rechtlich geformter Handlungstypen oder Rechtsfolgeentscheidungen wählt, die jedoch den beabsichtigten Erfolg an sich auch in den von der Rechtsordnung bereitgestellten öffentlichrechtlichen oder privatrechtlichen Handlungsformen hätten herbeiführen können"Sl. Diese Fortentwicklungen der traditionellen administrativen Handlungsformen einerseits und die Ausdifferenzierung des informalen Verwaltungshandelns andererseits belegen den Bedarf zur Ausprägung neuer Handlungsformen der Verwaltung. Als solches wird sich im folgenden das "Konzept" erweisen. III. Das Verwaltungsrechtsverhältnis als Grundlage für neue exekutive Handlungsformen
Die vorausgehend geschilderten Kennzeichen der modemen Verwaltung - Multilateralität und MehrpoligkeitS2 - verbieten es dem Recht, weiterhin nur einzelne Aspekte des komplexen Verhältnisses zwischen Bürger und Verwaltung in den Blick zu nehmen. Es genügt künftighin für das Verwaltungsrecht nicht mehr, bipolare und bilaterale Beziehungen zwischen Staat und Bürgern zu thematisieren sowie Entscheidungen der Exekutive und deren Herstellung rechtlich zu erfassen. Das allgemeine Verwaltungsrecht hat seine vordem bestehende duale Ordnung gesprengt. Informelles, kooperatives und konsensuales Verwaltungshandeln nivellieren die ehemaligen Gegensätze von öffentlichem und privatem, Innen- und Außenrecht sowie der Gesetzgebung und des Gesetzesvollzugs s3 . Das Recht muß daher und vielmehr der Mehrpoligkeit und Multilateralität Rechnung tragen, zeitlich bereits früher einsetzen, die Festlegung der Ziele und Zwecke bestimmen, die Folgen einer Verwaltungsmaßnahme kontrollieren und insbesondere die materiellen, nicht nur die formellen Kriterien bestimmen, mit deren Hilfe ein Ausgleich der divergierenden (verfassungs-)rechtlichen Vorgaben gefunden werden kann. Vgl. dazu nur H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Auf!. 1994, § 9 Rdnr. 58. R. Pitschas, in: BlümellPitschas (Hrsg.), Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, 1994, S. 229 ff., 233. 82 Zu Flexibilität und Innovationsoffenheit als Entwicklungsperspektiven des Verwaltungsrechts siehe E. Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-RiemlSchmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandeins, 1994, S. 407 ff. 83 E. Schmidt-Aßmann, Die Verwaltung 27 (1994), 137 (insb. 153 ff.); W. HoffmannRiem, in: ders.lSchmidt-AßmannlSchuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 115 ff., 145 ff. 80 81
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Jenseits der teilweise äußerst kontroversen Einschätzung der Bedeutung des "Rechts verhältnisses" für die Verwaltungsrechtsdogmatik - P. Häberle sieht hierin den "neuen archimedischen Bezugspunkt des Verwaltungsrechtes,,84, nach 0. Bachof verdient es das Verwaltungsrechtsverhältnis, eine "beherrschende" oder "zentrale Stellung im Verwaltungsrecht,,85 einzunehmen; H. Meyer hingegen bezeichnet es als "das inhaltsloseste Instrument, das jemals angeboten worden ist,,86, W. Löwer kritisiert die "Impulslosigkeit des Begriffs,,87 - beschreibt dieses doch die rechtliche Qualität des Verhältnisses von Bürgern und Verwaltung. Diesem hohen Abstraktionsniveau entsprechen verhältnismäßig weite Definitionen. N. Achterberg beschreibt das Rechtsverhältnis als die "rechtsnormgestaltete Beziehung zwischen zwei oder mehreren Subjekten,,88. Die insbesondere im Hinblick auf die Konturlosigkeit des Verwaltungsrechtsverhältnisses vorgetragene Kritik vermag aus hiesiger Sicht nicht zu überzeugen. Das Verwaltungsrechtsverhältnis ist notwendigerweise wenig konkret. Hierdurch wird seine Handhabbarkeit in der Praxis vielleicht erschwert, aber jedenfalls nicht ausgeschlossen. Dies zeigt schon § 43 I VwGO, der die Zulässigkeit einer allgemeinen Feststellungsklage an das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses knüpft. H. Bauer weist zurecht darauf hin, daß das Verwaltungsrechtsverhältnis im Gegensatz zum Verwaltungsakt als konkret-individueller Einzelfallentscheidung nur "eine abstrakt-theoretische Grundrelation, die bewußt macht, daß sich die Grundbefindlichkeit des Menschen im Gemeinwesen notwendig aus Rechten und Pflichten zusammensetzt"89, bezeichnet. Das Verwaltungsrechtsverhältnis ist dabei nicht allein bilateral und bipolar9o , es hat sich vielmehr zu einem multilateralen und mehrpoligen Rechtsverhältnis ausgeweitet91 . Auch wenn der Verwaltungsakt ebenso wie der öffentlich-rechtliche Vertrag ein "unverrückbarer, archimedischer Punkt des Rechtsschutzsystems,,92 bleibt, fußt auch das durch den Verwaltungsakt gebildete besondere Verwaltungsrechtsverhältnis auf einem allgemeinen Rechtsverhältnis.
P. Häberle, in: ders., Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 248 ff., 250. O. Bachof, VVDStRL 30 (1972),193 (231). 86 H. Meyer, VVDStRL 45 (1987), 272 - Diskussionsbeitrag. 87 W. Löwer, NVwZ 1986,793 (794). 88 N. Achterberg, Die Rechtsordnung als Rechtsverhältnisordnung, 1982, S. 31. 89 H. Bauer, Geschichtliche Grundlagen der Lehre vorn subjektiven öffentlichen Recht, 1986, S. 169. 90 So aber H. Faber, Verwaltungsrecht, 4. Auf!. 1995, S. 45 f. 91 R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und VerwaItungsverfahren, 1990, S. 49. - Die Terminologie ist auch hier uneinheitlich. N. Achterberg, in: JustIWollenschlägerlEggers/ Halblitzel (Hrsg.), Recht und Rechtsbesinnung. Gedächtnisschrift für Günther Küchenhoff, 1987, S. 13 ff., 17 differenziert zwischen symmetrischen, asymmetrischen, disymmetrischen und polysymmetrischen Rechtsverhältnissen. 92 T. Öhlinger, VVDStRL 45 (1987), 182 (190). 84
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Das allgemeine Rechtsverhältnis erweist sich als Bindeglied zwischen dem durch das Grundgesetz determinierten Verfassungsrechtsverhältnis und dessen Konkretisierung im Einzelfall durch Verwaltungsakt oder öffentlich-rechtlichen Vertrag. Das allgemeine Verwaltungsrechtsverhältnis ist dabei überdies geeignet, die hier bereits ausgebreiteten Vorstellungen über das sich wandelnde Staatsbild und die - sich darüber wölbende - kommunikative Konstitution der Wirklichkeit rechtlich aufzunehmen. Die kommunikative Konstitution der Wirklichkeit allgemein und des Individuums im besonderen, die sich im "flexiblen Staat" niederschlägt und im Grundgesetz Ausdruck findet, wird (einfach-)rechtlich durch das allgemeine Verwaltungsrechtsverhältnis umgesetzt. W. Schnur bringt dies aus der Perspektive der - allgemein als zentrale verwaltungsrechtliche Handlungsformen anerkannten - Verwaltungsakte und öffentlich-rechtlichen Verträge pointiert zum Ausdruck, wenn er feststellt, daß "eine an konkreten Rechtsverhältnissen ausgerichtete Dogmatik des öffentlichen Rechts doch wohl den Gedanken eines allgemeinen Rechtsverhältnisses voraussetzt.'.93 Fälschlicherweise wurden Verwaltungsakte und öffentlich-rechtliche Verträge einerseits und die Verwaltungsrechtsverhältnisse andererseits in eine Frontstellung gebracht. Dabei wurde verkannt, daß Verwaltungsrechtsverhältnisse und die überkommenen verwaltungsrechtlichen Handlungsformen keine sich wechselseitig ausschließenden Alternativen sind, sondern sich gegenseitig ergänzen. Letzteres ist mittlerweile weitgehend anerkannt 94 . Mit P. Häberle wird man von "zwei archimedischen Punkten"95 sprechen dürfen. Das Verwaltungsrechtsverhältnis einerseits und die überkommenen Handlungsformen der Verwaltung andererseits markieren nämlich unterschiedliche Konkretisierungsstufen exekutiver Tätigkeit. Erst die formellen "drei Stufen der Setzung, Feststellung und Durchsetzung" eines materiellen Anspruchs machen das Verwaltungsrechtsverhältnis nämlich zu einem Rechr96 . Das Verwaltungsrechtsverhältnis stellt sich so besehen einerseits als "dogmatische Grundfigur,,97 des Verwaltungsrechts dar, die die klassischen exekutiven Handlungsformen, aber auch neuere Entwicklungen, namentlich das sog. informelle Verwaltungshandeln 98 aufnehmen kann. Darüber hinaus kann es mit Hilfe 93 W. Schnur, Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis im öffentlichen Recht entwickelt aus dem Zivilrecht, 1993, S. 188. 94 Vgl. dazu die Diskussionsbeiträge von B. Raschauer, VVDStRL 45 (1987), 269 ff.; H. F. Zacher, VVDStRL 45 (1987), 265; R. Breuer, VVDStRL 45 (1987), 272 (274); M. Oldiges, VVDStRL 45 (1987), 275 f.; W. Frotscher, VVDStRL 45 (1987), 277 (278) und H. Maurer, VVDStRL 45 (1987),280 (281). Ebenso D. Ehlers, Rechtsverhältnisse in der Leistungsverwaltung, DVBI. 1986,912 (915). 95 P. Häberle, VVDStRL 45 (1987),251 ff. - Diskussionsbeitrag. 96 W. Henke, DÖV 1980,621 (626). 97 R. Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht. Allgemeiner Teil, 1990, S. 453 ff., 456. 98 H. Bauer, VerwArch 78 (1987), 241 (258 f., 266 f.).
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der (Verwaltungs-)Rechtsverhältnislehre gelingen, die Gemeinsamkeiten unterschiedlichster Rechtsverhältnisse dogmatisch zu erfassen99 . Andererseits muß der Kritik an der (Verwaltungs-)Rechtsverhältnislehre jedenfalls ansatzweise Recht gegeben werden. Das Verwaltungsrechtsverhältnis ist dogmatisch bislang noch nicht soweit fortentwickelt, daß ihm konkrete Problemlösungen entnommen werden könnten. Der Diagnose von P. M. Huber, der den Beitrag des Rechtsverhältnisses als dogmatischer Kategorie zur Lösung konkreter Probleme als eher gering einstuft 100, kann daher nicht widersprochen werden. Dieser zunächst geringe praktische Ertrag der (Verwaltungs-)Rechtsverhältnislehre sollte indessen nicht zu dessen pauschaler und voreiliger Ablehnung verleiten. Erforderlich ist vielmehr eine weitere Ausdifferenzierung der Rechtsverhältnislehre, die den alle exekutiven Erscheinungsformen umfassenden Charakter der (Verwaltungs-)Rechtsverhältnislehre zu nutzen vermag. Dabei muß insbesondere eine den abstrakt-generellen Charakter des (Verwaltungs-)Rechtsverhältnisses widerspiegelnde Handlungsform gefunden werden. Ebenso wie die Infrastrukturverwaltung die Eingriffs- und Leistungsverwaltung übergreift, muß diese Handlungsform auch als Grundlage für die diese charakterisierenden klassischen exekutiven Handlungsformen - den begünstigenden und den belastenden Verwaltungsakt dienen. Die gesuchte Handlungsform muß mithin einerseits Schäden für Dritte oder die Allgemeinheit abwehren und andererseits die Voraussetzungen zur Verwirklichung der Freiheit bereitstellen können.
C. Das "Konzept" als Handlungsfonn der Infrastrukturverwaltung Die für die praktische Anwendung des Verwaltungsrechtsverhältnisses als dogmatischer Grundfigur erforderliche Handlungsform stellt - wie sich sogleich zeigen wird - das Konzept dar. Ebenso wie der belastende Verwaltungsakt für Eingriffs- und der begünstigende für die Leistungsverwaltung charakteristisch ist, ist das Konzept die für die Infrastrukturverwaltung typische Handlungsform. I. Das "Konzept" im Spektrum der herkömmlichen Handlungsformen der Verwaltung
Zur Anwendung in der Praxis müssen die aus dem allgemeinen Verwaltungsrechtsverhältnis ableitbaren Rechte und Pflichten schrittweise konkretisiert werden. 99 Vgl. zur Vielgestaltigkeit der (Verwaltungs-)Rechtsverhältnisse z. B. P. Krause, VVDStRL 45 (1987), 212 ff., 214 ff. !OO P. M. Huber, Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, 1991, S. 166 ff., 169.
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1. Das "Konzept" in der Dogmatik des deutschen Verwaltungsrechts
Für den Prozeß der schrittweisen Konkretisierung hat die deutsche Verwaltungsrechtsdogmatik bereits eine Vielzahl von Handlungsformen ausdifferenziert. Dabei können sowohl im Außen- als auch im Innenverhältnis abstrakt-generelle und konkret-individuelle Handlungsformen unterschieden werden. Im Innenverhältnis handelt die Verwaltung durch Verwaltungsvorschriften abstrakt-generell und mit Hilfe von Einzelweisungen konkret-individuell. Abstrakt-generelle Handlungsformen im Außenverhältnis sind die Rechtsverordnungen und Satzungen, konkret-individuelle der Verwaltungsakt und der öffentlich-rechtliche Vertrag lO1 • Dieses facettenreiche Spektrum von Handlungsformen scheint nur vordergründig keinen Raum für das "Konzept" als neuer Handlungsform der Verwaltung zu lassen. Das "Konzept" ist zum einen geeignet, die heterogenen - formellen und informellen, gewissen und ungewissen - Elemente, die zu einer Entscheidungsfindung beitragen, zusammen zu fassen und einem kommunikativen Interessenausgleich zuzuführen 102. "Konzepte" stellen im Verhältnis zu den herkömmlichen Handlungsformen der Verwaltung einerseits insofern eine Vorstufe dar, als sie erst noch der Umsetzung durch eben diese traditionellen Handlungsformen bedürfen. Sie sind langfristig und offen ausgestaltet lO3 • ,Andererseits beschränken sich "Konzepte" nicht auf die Vorgabe bloß unverbindlicher Leitlinien. Entsprechend der ihnen eigenen Planungsfunktion enthalten sie konkrete Vorgaben mit einem unmittelbaren und detaillierten Handlungsbezug 104. Dies gilt auch schon deshalb, weil bei den "Konzepten" zwischen dem "Konzept" selbst und dessen Vollzug nicht trennscharf differenziert werden kann. "Konzepte" zeichnen sich vielmehr durch Rückkoppelung aus, d. h. die beim Vollzug des "Konzeptes" gemachten Erfahrungen führen zur Anpassung des "Konzeptes" 105 . Mit der Ausprägung des "Konzeptes" als Handlungsform kann das Verwaltungsrecht auf die zunehmende Einebnung der überkommenen Gewaltenteilung jedenfalls zwischen Exekutive und Legislative reagieren. Der die Infrastrukturverwaltung kennzeichnende Rückzug des Gesetzgebers und der damit einhergehende Wandel weg von Konditionalprogrammen, die die Administration nur zu vollzie101 Vgl. dazu z. B. die Übersicht bei H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Auf!. 1994, vor § 9. 102 Ähnlich R. Pitschas, in: BlümellPitschas (Hrsg.), Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, 1994, S. 229 ff., 255. 103 Zur damit angesprochenen "Prozeß- und Entwicklungsfunktion" von "Konzepten" vgl. A. Müller, Konzeptbezogenes Verwaltungshandeln, 1992, S. 186 f. 104 A. Müller, Konzeptbezogenes Verwaltungshandeln, 1992, S. 186 f. 105 Zu dieser "Regelkreis- und Kybernetikfunktion" der "Konzepte" vgl. A. Müller, Konzeptbezogenes Verwaltungshandeln, 1992, S. 188 ff.
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hen hatte, über Finalprogramme, bei denen der Exekutive jedenfalls noch die zu erreichenden Ziele vorgeschrieben waren, hin zum reflexiven Recht der Infrastrukturverwaltung, das sich auf eine Anleitung der Verwaltung zur Selbststeuerung beschränkt, hebt die klassische Trennung zwischen Programmierung und Vollzug auf. Der parlamentarische Gesetzgeber verliert, obwohl er sie formal noch besitzt, zunehmend seine Letztentscheidungsbefugnis, zumal der Pluralisierung von Interessen eine Pluralisierung der Entscheidungsmöglichkeiten unter Ungewißheitsbedingungen entspricht 106 . Die Programmierung verlagert sich von der Legislative hin zur Exekutive. Der dadurch drohende Verlust der klassischen Gewaltenteilung zwischen Verwaltung und Gesetzgeber bedarf der Kompensation durch eine funktionale Binnendifferenzierung der Verwaltung. Programmierendes und vollziehendes Verwaltungshandeln sind zu differenzieren \07. Dabei muß allerdings beachtet werden, daß die Übertragung der Programmierung auf die Verwaltung zum Verlust der Autonomie des Rechts führen kann, denn je mehr das Recht seine Resonanzfähigkeit für Umweltprobleme steigert, desto weniger kann es seine autonome Reproduktion aufrechterhalten. Das "Konzept" entspricht damit genau den typischen Merkmalen der Infrastrukturverwaltung. In dem scheinbar abschließenden Spektrum von herkömmlichen Handlungsformen der Verwaltung findet das "Konzept" als eigenständige und neue Handlungsform zudem auch insofern Raum, als es einen Wechsel des Bezugsrahmens ausdrückt: Während die überkommenen Handlungsformen aus der klassischen Eingriffsverwaltung hervorgingen, durch die Leistungsverwaltung modifiziert wurden und nach wie vor an Eingriffs- und Leistungsverwaltung orientiert sind, ist das "Konzept" als Handlungsform auf eine positive Steuerung der Verwaltung hin ausgelegt. Die überkommenen administrativen Handlungsformen sind darauf ausgerichtet, der Verwaltung Schranken zu setzen: Sie geben vor, was die Verwaltung nicht darf. Positive Steuerungselemente - Vorgaben für den von der Verwaltung zu findenden Interessenausgleich - gibt es bislang nicht. "Konzepte" sind vornehmlich zur verwaltungsrechtlichen Bewältigung komplexer Sachverhalte, die gesetzlich wenig detailliert, insbesondere nur durch Generalklauseln, programmiert sind, die durch eine Pluralisierung öffentlicher Interessen, durch eine Vielzahl privater Belange und durch im Hinblick auf Zeit, Umfang und Intensität heterogene Auswirkungen der Entscheidungen gekennzeichnet sind, erforderlich \08. Insgesamt wirkt die neue administrative Handlungsform des "Konzeptes" als Prototyp eines reflexiven Rechts \09.
106 K.-H. Ladeur, in: D. Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben - sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 187 ff., 211. 107 Vgl. dazu allgemein P. Hiller, Der Zeitkonflikt in der Risikogesellschaft, 1993, S. 58 f. 108 A. Müller, Konzeptbezogenes Verwaltungshandeln, 1992, S. 176 f. 109 Vgl. dazu bereits oben im Text sub § 8. C.
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2. Die Handlungsfonn des "Konzepts" und die EG-Richtlinie
Während dem deutschen Verwaltungsrecht eine Handlungsform, die die Merkmale des Konzepts auf sich vereinigt, bislang fehlt, ist die EG-Richtlinie auf europäischer Ebene dem Konzept mindestens ähnlich 110. Weder das Konzept noch die EG-Richtlinie haben unmittelbare Außenwirkung. Gemäß Art. 189 II EGV gelten nur EG-Verordnungen, nicht aber die übrigen in diesem Artikel angeführten Rechtsakte, namentlich die EG-Richtlinien, unmittelbar in den EG-Mitgliedstaaten. Sowohl das Konzept als auch die EG-Richtlinie sind Teil eines jeweils zweistufigen Rechtsetzungsverfahrens: Die EG-Richtlinie bindet zunächst - auf der ersten Stufe - nur die Mitgliedstaaten als Adressaten der EG-Richtlinie. Sie muß dann auf einer zweiten Stufe - durch das jeweilige nationale Recht umgesetzt werden. Grundsätzlich wirkt nur die nationale Umsetzungsregelung in den Mitgliedstaaten unmittelbar 11 1 • Eben dies gilt grundsätzlich auch für das Konzept. Das Konzept bindet zunächst nur die Verwaltung; es entfaltet keine unmittelbare Außenwirkung, sondern bedarf der Umsetzung. Auf dem Konzept fußen abstrakt-generelle und konkret-individuelle klassische Handlungsformen der Exekutive l12 . Auch im Hinblick auf ihren Regelungsinhalt korrespondieren die EG-Richtlinie einerseits und das Konzept andererseits. Wie in Art. 189 III EGVausdrücklich festgelegt, schreibt die EG-Richtlinie nur das zu erreichende Ziel, nicht aber die für ihre Realisierung erforderliche Form und das hierfür zu wählende Mittel verbindlich vor. Der damit durch die EG-Richtlinie den Mitgliedstaaten eingeräumte Spielraum kennzeichnet im Prinzip auch das Konzept. Die in ihren näheren Umrissen noch undeutliche Handlungsform "Konzept" muß sich ebenfalls durch flexibilität und Offenheit auszeichnen 113. Auch die Gründe für die Einräumung eines derartigen Spielraums an den Adressaten der EG-Richtlinie bzw. des Konzepts entsprechen sich teilweise: Das die EG-Richtlinie kennzeichnende zwei stufige Verfahren wurde u. a. deshalb gewählt, "weil man davon ausging, daß bei der Kompliziertheit vieler durch den EWGV zu regelnder Materien und der Unterschiedlichkeit des Rechtszustandes in den verschiedenen Mitgliedstaaten auf diese Weise am leichtesten, reibungslosesten und 110 Zu europarechtlichen Impulsen für innovative Ansätze im deutschen Verwaltungsrecht allgemein vgl. D. H. Scheuing, in: Hoffmann-RiernlSchrnidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des VerwaltungshandeIns, 1994, S. 289 ff. 111 Zur Zweistufigkeit der EG-Richtlinie vgl. z. B. T. Oppermann, Europarecht, 1991, § 6 Rdnr. 465; A. B1eckrnann, Europarecht, 5. Aufl. 1990, Rdnrn. 138 f.; J. Pipkorn, in: Beutler/ BieberlPipkornlStreil, Die Europäische Union, 4. Aufl. 1993, S. 195. 112 R. Pitschas, in: BlümellPitschas (Hrsg.), Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, 1994, S. 229 ff., 255. 113 H. Hili, in: EllweinIHesse (Hrsg.), Staatswissenschaften: Vergessene Disziplin oder Herausforderung?, 1990, S. 55 ff., 60 ff., 63 ff.
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wirksamsten eine Ausrichtung auf die Ziele der Gemeinschaft erreicht werden könne" I 14. Dem entspricht die Zielsetzung der Handlungsform "Konzept" insofern, als auch sie darauf gerichtet ist, Komplexität zu bewältigen 115.
11. Das "Konzept" als Handlungsform der Planung in der Infrastrukturverwaltung
Das "Konzept" ist die der Planung, dem "Kernstück der infrastrukturellen Verwaltungstätigkeit" zugeordnete exekutive Handlungsform 1l6. Die nähere Untersuchung des Begriffs und der Rechtsnatur des "Konzepts" wird zeigen, daß es sich dabei um die Handlungsform der Infrastrukturverwaltung handelt, die die äußerst heterogenen Pläne umgreift.
1. Begriff und Rechtsnaturdes " Konzepts " Die Handlungsform des "Konzepts" ist - so kann die vorstehende Betrachtung des "Konzepts" im Spektrum der herkömmlichen Handlungsformen der Verwaltung zusammengefaßt werden - Ausdruck der exekutiven Selbststeuerung. "Konzepte" sind verwaltungsintern verbindlich; Außenwirkung erlangen sie indessen erst nach Umsetzung durch eine traditionelle Handlungsform. Für die Selbstprogrammierung der Verwaltung sind "Konzepte" unerläßlich, weil sie einerseits nur vage gesetzliche Zweck- und Zielvorgaben konkretisieren, zugleich die Wirkung hieraus abgeleiteter Handlungen der Verwaltung kontrollieren und das "Konzept" dem Ergebnis dieser Erfolgskontrolle entsprechend anpassen. Auf dem "Konzept" als Ausgangspunkt fußt ein ganzes Spektrum unterschiedlichster exekutiver Aktivitäten. Dem "Konzept" als erster Könkretisierungsebene folgen exekutive Handlungsformen, die die im "Konzept" festgelegten Ziele und Zwecke umsetzen. Zu nennen sind hier insbesondere Verwaltungsvorschriften, die die Realisierung der Zwecke und Ziele abstrakt-generell steuern und Pläne, die konkret-generell Lösungen für einen Einzelfall, dessen Eintritt ungewiß ist, enthalten. Das "Konzept" als Handlungsform beinhaltet zum einen die Rechtsauffassungen der Verwaltung; es beschränkt sich aber nicht hierauf, sondern umfaßt die gesamten administrativen Ermittlungs- und Bewertungsmethoden. Das "Konzept" wird mithin jedenfalls aus der Summe der administrativen Rechtsauffassungen und der Oldekop, JöR 1972,55 (62). H. Hili, in: EllweinJHesse (Hrsg.), Staatswissenschaften: Vergessene Disziplin oder Herausforderung?, 1990, S. 55 ff., 64 f. 116 H. Faber, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 1995, S. 352 ff.; ebenso R. Pitschas, in: Blürnell Pitschas (Hrsg.), Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, 1994, S. 229 ff., 246. 114 115
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naturwissenschaftlichen und technischen Ennittlungs- und Bewertungsmethoden der Behörde gebildet. Dementsprechend ändert sowohl ein Wandel der rechtlichen Einschätzungen als auch ein solcher des Standes von Wissenschaft und Technik das "Konzept".
2. Das "Konzept" als der Planung zugeordnete Handlungsfonn Die für die Infrastrukturverwaltung charakteristischen Aktivitäten der Verwaltung können unter der Bezeichnung Planung zusammengefaßt werden. Mit dem Planen beginnt die staatliche Tätigkeit 117; ihm folgen die Entscheidung, deren Ausführung und Kontrolle 1l8 . WolfflRachof definieren Planung dementsprechend als "vorausschauendes Setzen von Zielen und gedankliches Vorwegnehmen der zu ihrer Verwirklichung erforderlichen Verhaltensweisen" I 19. Daß Planung sowohl im legislativen als auch im exekutiven Bereich auftritt, überrascht nicht, zumal auch die Infrastrukturverwaltung in diesem Grenzbereich verortet ist. B. Recker charakterisiert unter Hinweis auf N. Luhmann, F. W Scharpf, R. Mayntz und W Thieme Planung als Entscheiden über künftige Entscheidungen und sieht in der administrativen Planung eine Programmierung der Exekutive 120. Obwohl die Planung als Vorgang schon immer eine zentrale Kategorie jeglichen menschlichen Handeins bildete 121, ist insbesondere die rechtliche Qualität des Plans als Ergebnis der Planung bislang noch ungeklärt. Zwar wird zumeist zwischen der Planung einerseits und dem Plan andererseits differenziert l22 , wenngleich der Plan als Ergebnis der Planung der Änderung unterworfen ist und insofern eine "Einheit von Planung und Plandurchführung,,123 besteht l24 . Eine einheitliche rechtliche Qualifizierung des Plans ist trotzdem bislang nicht gelungen. Pläne können als Gesetze, Verordnungen oder Satzungen Normen, Verwaltungsakte, Realakte oder verwaltungsinterne Maßnahmen darstellen l25 . 117
Zur Planung bei der Gesetzgebungsarbeit V. Busse, Verw Arch 87 (1996), 445 ff.
118 P. Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, § 59 Rdnm. 103 ff., 114 ff., 138 ff., 188 ff. 119 Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Auf). 1974, S. 397. 120 B. Becker, Öffentliche Verwaltung, 1989, S. 479 ff. 121 W. Hoppe, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, § 71 Rdnr. I. 122 BVerwGE 45,309 (312 f.); H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Auf). 1994, § 16 Rdnr. 14; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht 1,1994, § 56 Rdnr. 4. 123 J. H. Kaiser, in: ders. (Hrsg.), Planung 11, 1966, S. 11 ff., 25. 124 W. Hoppe, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, § 71 Rdnr. 3; R. Wahl, Rechtsfragen der Landesplanung und Landesentwicklung, Bd. I, 1978, S. 21 ff., 101 ff.; M. Schröder, Planung auf staatlicher Ebene, 1974, S. 8: 125 H. Faber, Verwaltungsrecht, 4. Auf). 1995, S. 353; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, 1994, § 56 Rdnm. 14 ff.
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Das "Konzept" stellt nun eine neue, den Planungsvorgang und die unterschiedlichen Pläne übergreifende Handlungsform dar. Ein früherer Versuch von J. H. Kaiser, den Plan als ein umfassendes Phänomen zu begreifen, das auch Struktur und Ablauf der Planung nicht ignorieren darf l26, konnte sich zwar nicht durchsetzen. Der Plan wird heute überwiegend nicht als eigenständige Rechtsform angesehen l27 . Gleichwohl fordern gerade neuere und neueste Entwicklungen wie die partielle Zulassung von Plangenehmigungen an Stelle von Planfeststellungsbeschlüssen (z. B. § 17 Ia FStrG) dazu auf, erneut über den Plan als Handlungsform der Infrastrukturverwaltung nachzudenken 128. Darüber hinaus war eine nähere Strukturierung der Planung und des Plans nicht erforderlich, solange Planung und Plan sich vornehmlich auf die räumliche und Haushaltsplanung beschränkten. Diese klassischen Pläne und Planungen waren durch ein traditionell ausgeprägtes Planungsverständnis geprägt und beherrschbar l29 . Der in der Infrastrukturverwaltung rapide Zuwachs von Planungen und Plänen macht demgegenüber die Ausdifferenzierung einer gesonderten Handlungsform unabdingbar. R. Stober hält dementsprechend die Ansicht von WolfflBachof, es könne nicht gelingen, den Plan als eine weitere Rechtsform staatlichen HandeIns neben Rechtssatz und Verwaltungsakt zu stellen 130, namentlich unter Hinweis auf die heute bestehende Planungsvielfalt ausdrücklich für überholt l3l . Das "Konzept" ist jedenfalls dem Abschnitt des Verwaltungshandelns zuzuordnen, den auch die Planung thematisiert. Planung als "Herstellung von Handlungsprogrammen für künftige Entscheider und Entscheidungen"l32 ist die Grundlage für die Konkretisierung von Zielen und Zwecken der Administrative. Pläne, die wie namentlich die Plan feststellungs beschlüsse programmierte Entscheidungen mit Allgemeinbezug, nicht aber Programmierungen darstellen, werden von der neuen Handlungsform des "Konzepts" nicht erfaßt. Das "Konzept" zeichnet sich durch einen Verbund konditionaler und finaler Programmierungen aus 133. Damit sind insgesamt hinreichende Gründe dafür dargetan, daß die Ausdifferenzierung des "Konzepts" als neuer Handlungsform sinnvoll ist. Darüber hinaus muß aber im folgenden noch versucht werden, diese neue Handlungsform näher zu strukturieren. F. Ossenbühl ist nämlich zuzustimmen, wenn er in der Diskussion 126 J. H. Kaiser, in: ders. (Hrsg.), Planung II, 1966, S. 11 ff., 21 f. - Ebenso E. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. I, Allgemeiner Teil, 1973, S. 309 ff. 127 F. Ossenbühl, JuS 1979,681 (684 f); A. v. Mutius, Jura 1979, 55 ff. 128 R. Pitschas, in: BlümelfPitschas (Hrsg.), Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, 1994, S. 229 ff., 246 f. 129 M. Schröder, Planung auf staatlicher Ebene, 1974, S. 5. 130 Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Auf!. 1974, S. 397. 131 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht 1,1994, § 56 Rdnr. 2. 132 B. Becker, Öffentliche Verwaltung, 1989, S. 483. 133 R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 649 m. Fußn. 1.
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um den Plan als eigener Handlungsform fordert: "Wer deshalb eine neue Handlungsform, ein aliud, entwickeln möchte, ist nicht mit der Bemerkung entlassen, eine solche Erweiterung der Handlungskategorien sei nützlich oder geboten. Vielmehr ist er auch gehalten, dem aliud das notwendige rechtliche Profil zu verleihen, anders gesagt: das spezielle Rechtsregime (z. B. Kompetenz, Verfahren, Rechtsschutz, Verbindlichkeit, Haftung), nach welchem das aliud beurteilt werden soll, auszuformen. ,,134
IH. "Konzepte" als exekutive Rechtsetzung Das "Konzept" als für die Infrastrukturverwaltung typische Handlungsform umfaßt - wie dargelegt - auch die Festlegung der Ziele und Zwecke eines Handlungsvorgangs sowie die Feststellung der Wirkungen einer Maßnahme, die Erfolgskontrolle und die Anpassung des Handlungsvorgangs. "Konzepte" sind daher die Handlungsformen, mit deren Hilfe die Exekutive ihren Anteil am Handlungsvorgang zu Lasten der Legislative erweitert: Durch "Konzepte" setzt die Exekutive Recht 135 . Rechtsetzung durch die Verwaltung ist dabei kein Novum; die Exekutive setzt nämlich auch mit Hilfe überkommener Handlungsformen - insbesondere durch Rechtsverordnungen, Satzungen und Verwaltungsvorschriften - Recht. Diese überkommenen Handlungsformen markieren ebenso wie das "Konzept" den Schnittpunkt zwischen Exekutive und Legislative. Sie beinhalten sowohl Gesetzgebung als auch Gesetzesvollziehung l36 . Rechtsverordnungen und Satzungen zeichnen sich dabei durch die Besonderheit aus, daß für ihren Erlaß eine formal-gesetzliche Ermächtigung erforderlich ist. Für Rechtsverordnungen ergibt sich dies zum einen aus Art. 80 I 1 GG und zum anderen aus der Rechtsnatur der Verordnung als abgeleiteter Rechtsquelle 137 • Eben wegen der geforderten gesetzlichen Ermächtigung berühren Rechtsverordnungen das Gewaltenteilungsprinzip zwar, durchbrechen es aber nicht l38 . Im Hinblick auf den Gesetzesvorbehalt ist auch für Satzungen eine gesetzliche Grundlage erforderlich. Mit der Verleihung der Satzungskompetenz wird zwar eine eigenständige Rechtsetzungskompetenz übertragen, der Gesetzesvorbehalt fordert aber gleichwohl, daß der formelle Gesetzgeber die wesentlichen, namentlich die in Grundrechte eingreifenden Regelungen selbst trifft 139 . F. Ossenbühl, JuS 1979,681 (685). Zur Rechtsetzung der Verwaltung vgl. auch P. Hiller, Der Zeitkonflikt in der Risikogesellschaft, 1993, S. 63. 136 Ähnlich H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Aufl. 1994, § 13 Rdnrn. I ff. 137 Vgl. z. B. F. Ossenbühl, in: H.-U. Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 1995, § 6 Rdnr. 16. 138 Dazu z. B. H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Aufl. 1994, § 4 Rdnr. 11. 139 Vgl. dazu wiederum z. B. H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Aufl. 1994, § 4 Rdnr. 16 ff. 134 135
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Deutliche Parallelen weist die Handlungsform "Konzept" nicht nur - wie soeben dargelegt - zur Planung und zum Plan, sondern auch zur Verwaltungsvorschrift als überkommener Rechtsform auf. Dabei überrascht, daß die schon traditionellen Verwaltungsvorschriften ähnlich umstritten und unklar sind wie die neue, noch zu entwickelnde Handlungsform des "Konzepts". Die noch immer unzureichende dogmatische Bestimmtheit der Verwaltungs vorschriften beginnt schon bei der Terminologie. Die Bezeichnung "Verwaltungsvorschrift" wird in der Literatur zwar überwiegend, aber keinesfalls von allen Autoren verwendet. Teilweise wird von Verwaltungs verordnungen 140 gesprochen; andere bezeichnen Verwaltungsvorschriften als Erlasse, Dienstanweisungen, Richtlinien, Anordnungen etc. 141. Sowohl die Planung bzw. der Plan als auch die - namentlich norrnkonkretisierenden - Verwaltungsvorschriften unterscheiden sich dabei gleichwohl klar vom "Konzept": Pläne und Verwaltungsvorschriften stellen im Verhältnis zu den "Konzepten" eine bereits konkretere Handlungsform dar. Das "Konzept" enthält quasi die Begründung für die aus ihm hervorgehenden Pläne und Verwaltungsvorschriften.
I. "Konzepte" als Innenrechtssätze der Verwaltung
Für die Handlungsform des "Konzeptes" ist ebenso wie für die klassischen Verwaltungsvorschriften und die Pläne bzw. Planung streitig, ob sie als Rechtssätze 142 und Rechtsnormen 143 qualifiziert werden können. Früher wurden nur Gesetze und Rechtsverordnungen als Rechtsnormen, die Verwaltungsvorschriften hingegen als "Nicht-Recht" eingestuft. Die Differenzierung zwischen Gesetzen und Rechtsverordnungen einerseits und den Verwaltungsvorschriften andererseits war dabei deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie die Grenze zwischen der Machtsphäre des Parlaments einerseits und derjenigen des Monarchen andererseits markiert. Für Gesetze und Rechtsverordnungen war die
140 R. Loeser, System des Verwaltungsrechts, Bd. I, 1994, § 6 Rdnm. 26 ff.; T. Maunz, in: MaunzlDürig, Kommentar zum GG, Stand: 30. Lieferung 1993, Art. 80 Rdnr. 16. 141 Siehe die Aufzählungen bei F. Ossenbühl, in: H.-V. Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 1995, § 6 Rdnr. 31; F. Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, § 65 Rdnr. 4; R. Loeser, System des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 1994, § 6 Rdnr. 26. 142 Für Verwaltungsvorschriften verneinend namentlich P. Badura, Staatsrecht, 1986, S. 369, bejahend hingegen H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Aufl. 1994, § 24 Rdnr.3. 143 Bei Verwaltungsvorschriften dagegen BVerwGE 75, 109 (117); 58, 45 (49); 55, 250 (255); P. Lerche, in: MaunzIDürig, Kommentar zum GG, Stand: 30. Lieferung 1993, Art. 84 Rdnm. 93 ff., dafür aber F. Ossenbühl, in: H.-V. Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 1995, § 6 Rdnr. 41; Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, 1971, S. 119; W. Schmidt, JuS 1971, 184 (187 f.); Böckenförde/Grawert, AöR 95 (1970),1,18 f.
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Zustimmung des Parlaments erforderlich; für eine Verwaltungsvorschrift war demgegenüber keine formalgesetzliche Ermächtigung nötig. Nach der Abkehr vom historisch-konventionellen Rechtssatzbegriff ist die Rechtssatzqualität der "Konzepte" ebenso zu bejahen wie diejenige der Verwaltungsvorschriften. Rechtssatzcharakter kommt nämlich nicht nur allgemeinverbindlichen Vorschriften, sondern allen hoheitlichen generell-abstrakten Regelungen ZUI44. Voraussetzung für die Rechtssatzqualität ist nur, daß die "Konzepte" überhaupt eine Regelung beinhalten, d. h. jedenfalls mittelbar auf die Setzung einer Rechtsfolge gerichtet sind. Im folgenden ist daher zunächst zu klären, daß "Konzepte" verbindlich sind und ihr Rege1ungscharakter daher zu bejahen ist. Danach ist zu untersuchen, ob die "Konzepte" dem Außenrecht zuzuordnen oder als Innenrechtssätze zu qualifizieren sind. a) Verbindlichkeitsstufen der "Konzepte" Die Bindungswirkung der "Konzepte" ist ebenso wie diejenige der Planungen und Pläne ungeklärt. Es können informierende, influenzierende und imperative "Konzepte" unterschieden werden. Die Bindungswirkung der "Konzepte" kann derjenigen eines Vorbescheids oder eines vorläufigen positiven Gesamturteils entsprechen. aa) Informierende, injluenzierende und imperative "Konzepte"
Innerhalb der "Konzepte" können ebenso wie bei den Plänen 145 verschiedene Verbindlichkeitsstufen unterschieden werden: Neben indikativen, informierenden "Konzepten" gibt es influenzierende und imperative 146. Indikative, informierende "Konzepte" auf der niedrigsten Verbindlichkeitsstufe bieten Daten, Voraussagen, Einschätzungen und Bewertungen als Grundlage für weitere Planungen und Entscheidungen an 147 . Das andere Ende der Verbindlichkeitsskala markieren die imperativen "Konzepte", die für die Adressaten in vollem Umfang verbindlich sind l48 . Influenzierende "Konzepte" nehmen gleichsam eine Miuelposition insofern ein, als sie versuchen, individuelles Verhalten an staatlichen Programmen zu orientieren, deren Ziele aber durch Anreize, nicht autoritär durchsetzen 149. Ein Konzept kann dabei Regelungen auf unterschiedlichen Verbindlichkeitsstufen enthalten. So z. B. H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Auf!. 1994, § 4 Rdnr. 3. Auf die Pläne beziehen sich auch die folgenden Nachweise in den Fußnoten. 146 Für die Pläne P. Kirchhof, in: IsenseelKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, § 59 Rdnrn. 105 ff. 147 KönigIDose, in: dies. (Hrsg.), Instrumente und Fonnen staatlichen Handeins, 1993, S. 3 ff., 28 f. 148 H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Auf!. 1994, § 16 Rdnr. 16. 144 145
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Dabei wäre es verfehlt, indikative Pläne und Konzepte für rechtlich irrelevant zu halten. Auch ohne (unmittelbare) Rechtsverbindlichkeit finden die Inhalte dieser zunächst unverbindlichen Konzepte und Pläne Eingang in administrative Folgeentscheidungen. bb) " Konzepte " zwischen Vorbescheid und vorläufigem positivem Gesamturteil
Das "Konzept" ist der Dogmatik des Verwaltungsrechts bislang nur aus dem technischen Sicherheitsrecht geläufig. (1) Der Konzeptvorbescheid im Immissionsschutz- und Atomrecht
Im Immissionsschutz- 150 und Atornrecht l51 stellt der Konzeptvorbescheid bzw. die Konzeptgenehmigung 152 einen durch formelle und materielle Kriterien spezifizierten Verwaltungsakt dar. In materieller Hinsicht enthält ein Konzeptvorbescheid eine endgültige Billigung der als konzeptrelevant angesehenen Anlagenteile und -systeme 153 . Darüber hinaus läßt der Konzeptvorbescheid erkennen, worin das Konzept besteht l54 • In formeller Hinsicht muß die Qualität eines Konzeptvorbescheids im verfügenden Teil des Bescheids zum Ausdruck kommen I55 • Diese Forderung ist nicht nur im Hinblick auf gesetzliche Vorschriften 156, sondern auch zur Ermöglichung eines effektiven Rechtsschutzes Dritter geboten. Dritte müssen den Regelungsumfang des Bescheids sofort erfassen können. (2) Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten Der Konzeptvorbescheid ist vornehmlich vom Standortvorbescheid, der Teilgenehmigung l57 und dem vorläufigen positiven Gesamturteil zu unterscheiden. Entscheidend ist hierbei die jeweils unterschiedliche Bindungswirkung bzw. Bestandskraft dieser Verwaltungsakte. Systematisch betrachtet handelt es sich bei der Bindungs wirkung eines Verwaltungsakts nämlich um eine Frage der Bestandskraft. 149 W. Hoppe, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, § 71 Rdnr.16. 150 Vgl. dazu § 9 BImSehG. 151 Zur Zulässigkeit eines Konzeptvorbescheids im Atomrecht vgl. § 7a I I AtG ("insbesondere"); § 19 II AtVfV; BT-Drs. 5/4701, S. 6. - Bedenken werden - im Hinblick auf die Abhängigkeit von Konzept und Standort - nur gegen standortunabhängige Konzeptvorbescheide erhoben (Ronellenfitsch, Das atomrechtliche Genehmigungsverfahren, 1983, S. 404 f.). 152 BVerwGE 80, 207 (212); 70, 365 (372). 153 BVerwGE 70,365 (372) = NJW 1985, 138; NVwZ 1986,208 (209). 154 BVerwG, NVwZ 1989, 52 (53 f.). 155 BVerwG, NVwZ 1986, 208 (209). 156 § 19III Nr. 2 AtVfV. 157 § 7 b AtG LV.m. § 18 AtVfV; § 8 BlmSchG.
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4. Teil: Vorgaben für ein "neues" Polizeiinfonnationsrecht
Mit dem Oberbegriff Bestandskraft werden die sowohl terminologisch als auch inhaltlich heftig umstrittenen 158 Probleme der formellen und materiellen Bestandskraft und der Tatbestands- und Feststellungswirkung von Verwaltungsakten bezeichnet l59 . Formelle Bestandskraft bedeutet hierbei Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts. Die materielle Bestandskraft betrifft das Verhältnis zwischen der den Verwaltungsakt erlassenden Behörde und dem Adressaten. Sie bezeichnet die in diesem Verhältnis durch die beschränkte Aufhebbarkeit des Verwaltungsakts bestehende Bindungswirkung. Tatbestands- und Feststellungswirkung beziehen sich demgegenüber auf die Bindungswirkung des Verwaltungsakts außerhalb dieses Verhältnisses. Nach der jedem Verwaltungsakt zukommenden Tatbestandswirkung haben alle Staatsorgane den ergangenen Verwaltungsakt als gegebenen Tatbestand ihren Entscheidungen zugrunde zu legen und sind an die in ihm getroffene Regelung gebunden. Bei der nur ausnahmsweise bestehenden Feststellungswirkung bezieht sich die Bindung darüber hinaus auch auf die tragenden rechtlichen und tatsächlichen Feststellungen. Für die Abgrenzung des Konzeptvorbescheids vom Standortvorbescheid, von der Teilgenehmigung und dem vorläufigen positiven Gesamturteil ist insbesondere der Umfang der materiellen Bestandskraft entscheidend. Dieser wiederum hängt vom Inhalt des erteilten Bescheids ab, der durch Auslegung zu ermitteln ist. Als verwaltungsrechtliche Willenserklärung unterliegt der Verwaltungsakt der Auslegung. Entscheidend ist hierbei - wie im Zivilrecht (vgl. §§ 133, 157,242 BGB) der erklärte Wille, für dessen Ermittlung auch auf die Umstände der Willenserklärung abzustellen ist l60 . Der Umfang der Bestandskraft eines Verwaltungsakts läßt sich daher nicht einheitlich für alle Rechtsgebiete und Arten von Verwaltungsakten beurteilen 161. (3) Konzeptvorbescheid versus Standortvorbescheid, vorläufiges positives Gesamturteil, Teil- und Vollgenehmigung Konzeptvorbescheid und Standortvorbescheid sind grundsätzlich wesensverschieden; ihr Regelungsgegenstand divergiert. Der Standortvorbescheid beinhaltet eine endgültige, nur durch ausdrückliche Vorbehalte eingeschränkte Billigung des Standorts 162 und ein vorläufiges positives Gesamturtei1 163 für das Gesamtprojekt. Auch wenn es sein mag, daß ein Standortvorbescheid regelmäßig auf ein bestimmtes Anlagenkonzept abgestellt ist l64 , enthält nicht jeder Standortvorbescheid auch 158 159
Vgl. Vle/Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht, 3. Aufl. 1986, S. 423 ff. Vgl. H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Aufl. 1994, § 111.
160 P. Badura, in: H.-V. Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 1995, § 38 Rdnr. 17; Meyer, in: ders./Borgs-Maciejewski, 2. Aufl. 1982, § 35 VwVfG Rdnr. 42. 161
BVerwGE 48,271 (279) m.w.N.
162
BVerwGE 78, 177 (178).
163
V gl. dazu sogleich im Text.
164
Hierzu F. Ossenbühl, NJW 1980, 1353 (1357); R. Wahl, DVB11982, 51 (62).
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zugleich einen Konzeptvorbescheid. Die Abhängigkeit des Standortvorbescheids vom Anlagenkonzept hat nämlich nur zur Folge, daß die Konzeption aus standortspezifischen Gründen nicht mehr abgelehnt werden kann l65 • Darüber hinaus läßt § 7a I 1 AtG die Erteilung eines Standortvorbescheids allein ausdrücklich zu. Der Konzeptvorbescheid und die Voll- bzw. Teilgenehmigung unterscheiden sich im Regelungsumfang. Letztere bestehen aus einem verfügenden oder gestattenden und einem feststellenden Teil; der Konzeptvorbescheid beschränkt sich demgegenüber auf eine feststellende Wirkung bzgl. einer singulären Frage und regelt daher nur einen Ausschnitt einer Genehmigung 166. Das vorläufige positive Gesamturteil beinhaltet im Gegensatz zum Vorbescheid keine verbindliche Entscheidung über eine einzelne Genehmigungsvoraussetzung l67 • Das vorläufige positive Gesamturteil ist zwar auch im Atomrecht eine materiell-rechtliche, nicht nur verfahrensrechtliche Genehmigungsvoraussetzung, obwohl es nicht dem AtG, sondern der AtVfV zu entnehmen ist l68 . Anders als ein Konzeptvorbescheid muß das Vorliegen des vorläufigen positiven Gesamturteils nicht tenoriert werden. Aus § 19 V i.Y.m. § 1811 AtVfV ergibt sich nämlich, daß es eine Erteilungsvoraussetzung für jeden Vorbescheid ist l69 . Die Bindung an das vorläufige positive Gesamturteil ist jedoch wegen der nur vorläufigen Prüfung eingeschränkt. Die Bindung entfällt, wenn die spätere Detailprüfung eines noch zu genehmigenden Anlagenteils ergibt, daß dieser so wie ursprünglich geplant, nicht ausgeführt werden kann. Gleiches gilt, wenn infolge einer Änderung der Sachoder Rechtslage an noch nicht genehmigte Anlageteile nunmehr neue Anforderungen gestellt werden müssen 17o. Liegt keiner dieser Ausnahmefälle vor, können die weiteren Genehmigungen nur noch Konkretisierungen und Modifizierungen, die das vorläufige positive Gesamturteil nicht mehr in Frage stellen, aufnehmen. Die Anerkennung eines umfassenden sog. Situationsvorbehalts, dem das Bundesverwaltungsgericht früher zuneigte l7l , ist heftig umstritten l72 . Gegen diesen ist anzuführen, daß ggf. die lange Verfahrensdauer dann noch stärker zu Lasten des Antragstellers ginge. Auch würde ggf. § 17 11 - V AtG leerlaufen. Darüber hinaus lehnen selbst prinzipielle Befürworter des Situationsvorbehalts 173 seine Erstrekkung auch auf die Änderung der Sicherheitsphilosophie ab. Von einer solchen BVerwG, NVwZ 1986,208 (209). BVerwGE 70, 365 (372 f.). 167 BVerwGE 55, 250 (270); 70, 365 (372 f.). 168 BVerwG, NVwZ 1986,208 (209 f.). 169 H. Haedrich, AtG, 1986, § 7 Rdnr. 5 m.w.N. 170 BVerwG, NVwZ 1986,208 (210). 17l BVerwG, DVBI. 1972,678 (679) - "Würgassen"; vgl. auch v.Mutius/Schoch, DVBI. 1983,149 (154). 172 Ablehnend F. Ossenbühl, NJW 1980, 1353 (1358); H.-W. Rengeling, NVwZ 1982, 220 ff. 173 v.Mutius/Schoch, DVBI1983, 149 (154). 165
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4. Teil: Vorgaben für ein "neues" Polizeiinforrnationsrecht
spricht man, wenn die Genehmigungsbehörde bei unverändertem naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand ihre Auffassung über den Umfang des hinzunehmenden Restrisikos ändert'74. Die erörterten Konzept- und Standortvorbescheide, die Teilgenehmigungen sowie das vorläufige positive Gesamturteil stellen Verfahrensstufungen mit rechtlich verbindlicher Außenwirkung auf der jeweiligen Stufe dar l75 . Mit ihrer Ausdifferenzierung reagieren das Atom- und Immissionsschutzrecht auf die gestiegene Umweltkomplexität gerade in diesen Bereichen. Diese Instrumente sind geeignet, die Stellung aller durch sie Betroffenen zu verbessern. Der Verwaltung eröffnen sie eine größere Flexibilität, während sie für die Antragsteller eine - wenn auch nur inhaltlich beschränkte - Planungssicherheit gewährleisten. Zu Gunsten betroffener Dritter wirken diese Verfahrensstufungen insofern, als durch sie der weitere Fortschritt von Wissenschaft und Technik während der Errichtung einer Anlage Berücksichtigung finden kann und damit eine optimale Risikosteuerung ermöglicht wird'76. b) "Konzepte" als Verwaltungsinterna "Konzepte" stellen ebenso wie Verwaltungsvorschriften zunächst Regelungen im Binnenbereich der Verwaltung dar. Bei der weiteren Qualifizierung ist zwar schon die Einstufung als Innenrecht zweifelhaft'77, diese wurde hier für die "Konzepte" aber bereits nachgewiesen.
c) Mittelbare Außenwirkung von "Konzepten" Insbesondere die indikativen, informativen Konzepte entfalten zwar in erster Linie und unmittelbar nur faktische verwaltungsinterne Wirkungen. Dieser zunächst auf den Innenbereich der Verwaltung sowie auf faktische Aussagen beschränkte Effekt des "Konzepts" kann aber ebenso wie bei den Verwaltungsvorschriften in eine verwaltungsexterne Bedeutung transformiert werden. Dabei ist nicht nur die genaue Definition der Außenwirkung, sondern auch die Differenzierung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Außenwirkung unklar. Außenwirkung bedeutet zwar zunächst und jedenfalls Wirkung einer Vorschrift gegenüber dem Bürger. Offen ist dabei indessen, ob diese Wirkung gegenüber dem 174 Hierzu Lukes, BB 1978,317; Fischerhof, Deutsches Atomgesetz und Strahlenschutzrecht, 2. Auf!. 1978, § 17 Rdnr. 9; Bender, DÖV 1988, 813 (816). 175 Wahl, DÖV 1975,373 ff.; P. Badura, BayVBI. 1976,515 (518). 176 BVerwGE 80, 207 (215); M. Ronellenfitsch, in: W. Blümel (Hrsg.), Die Vereinheitlichung des Verwaltungsverfahrensrechts, 1984, S. 125 ff., 136. m Vgl. für Verwaltungsvorschriften überblicksweise H. H. Rupp, JuS 1975,609 ff.; Bökkenförde/Grawert, AöR 95 (1970), 1, 6 ff.
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Bürger rechtlich und unmittelbar sein muß oder ob eine nur faktische und mittelbare Wirkung ausreicht 178• Die konkrete Form des Transfers l79 vom Verwaltungsinternum zum Verwaltungsexternum ist für das "Konzept" genauso zweifelhaft wie im Fall der Verwaltungsvorschriften. aa) "Konzepte" als vorweggenommene Sachverständigengutachten
Die namentlich in (nur) informativen Konzepten enthaltenen Daten, Voraussagen, Einschätzungen und Bewertungen ähneln jedenfalls dann Sachverständigengutachten, wenn sie naturwissenschaftlich fundierte fachliche Aussagen enthalten. Als solche antizipierten Sachverständigengutachten 180 können auch indikative Konzepte mittelbar Rechtswirkungen auslösen. Wird nämlich das zunächst rechtlich unverbindliche Konzept durch eine darauf fußende Planung oder eine darauf aufbauende Verwaltungsvorschrift näher konkretisiert, fließen die informativen Konzepte in die dann erforderliche Abwägung mit ein. Als Abwägungsmaterial haben indikative Konzepte zwar auf den Inhalt von Folgeentscheidungen insofern keinen absolut bindenden Einfluß, als sie durch gegenläufige Belange übergangen werden können. Die Bedeutung der informativen Konzepte beim Zustandekommen konkreterer Entscheidungen darf gleichwohl nicht unterschätzt werden. In prozeduraler Hinsicht verlangt das Abwägungsgebot nämlich, daß auch nur indikative Konzepte in eine konkretere Planung eingestellt werden. Darüber hinaus bedarf eine Entscheidung, die derartige informative Konzepte übergeht, der Begründung l81 . bb) "Konzepte" als antizipierte Verwaltungspraxis
Soweit die "Konzepte" nicht nur faktischen, sondern rechtlichen Inhalt haben, können sie ebenso wie Verwaltungsvorschriften als antizipierte Verwaltungspraxis (mittelbare) Außenwirkung erlangen. "Konzepte" führen durch ihre ständige Anwendung ebenso wie Verwaltungs vorschriften zu einer Verwaltungsübung, durch die sich die Verwaltung selbst bindet. Dieses Verständnis des "Konzeptes" bzw. der Verwaltungsvorschriften als antizipierte Verwaltungspraxis wirft indessen in vielfacher Hinsicht Probleme auf: Schwierigkeiten entstehen durch diese Argumentation insbesondere im Fall der erstmaligen Anwendung eines "Konzeptes", weil eine Verwaltungspraxis dann 178 Siehe dazu z. B. W. Erbguth, DVBI. 1989,473 (476); H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Aufl. 1994, § 24 Rdrn. 3, 20 ff., 40. 179 H. H. Rupp, JuS 1975,609 (615). 180 R. Breuer, AöR 101 (1976),41 ff., 80 ff. 181 Allgemein zum Abwägungsgebot vgl. BVerwGE 67, 74 ff.; 56, 110 ff.; 45, 309 ff.; 34, 301 ff.
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4. Teil: Vorgaben für ein "neues" Polizeiinformationsrecht
noch nicht vorliegen kann. Dieser Mangel wird insbesondere von solchen Autoren betont, die die mittelbare Außenwirkung von Verwaltungsvorschriften bzw. "Konzepten" insgesamt ablehnen und nur eine unmittelbare Außenwirkung für möglich halten 182. Dies erscheint indessen als Überbewertung eines singulären Falles, dem im Verwaltungsalltag keine allzu große Bedeutung zukommt und der im übrigen auch lösbar ist. Wird nämlich das "Konzept" bzw. die Verwaltungsvorschrift nach dem ersten Fall weiterhin angewendet, besteht die Verwaltungsübung als Geltungsgrund. Bleibt der erste Fall hingegen ein Einzelfall, stellt das "Konzept" bzw. die Verwaltungsvorschrift eine bloße Einzelweisung dar 183 . Darüber hinaus ist auch die dogmatische Qualifizierung des "Konzeptes" bzw. der Verwaltungsvorschriften als Selbstbindung der Verwaltung mindestens zweifelhaft. Selbstbindung der Verwaltung ist nämlich im Gegensatz zur Fremdbindung autonome, nicht heteronome Bindung. Durch "Konzepte" und Verwaltungsvorschriften bindet sich die Exekutive aber nicht selbst. Vielmehr wird die Verwaltung durch den Gleichheitssatz (Art. 3 I GG)184 an ihre Verwaltungspraxis und damit an die Verwaltungsvorschrift bzw. das "Konzept" gebunden 185 . Schließlich stellt das geschilderte Verständnis des "Konzeptes" als antizipierte Verwaltungsübung eine Fortentwicklung der administrativen Selbstbindung dar und richtet sich vorrangig auf die Gleichbehandlung bei gesetzesfreier, begünstigender Verwaltung. Die Ableitung einer Befugnis für belastendes Verwaltungshandeln gegenüber dem Bürger ist damit jedenfalls nicht ohne weiteres möglich. ce) Außenwirkung durch Vertrauensschutz
Eine dritte Begründungslinie verweist auf den Vertrauensschutz des Bürgers 186 . Der Bürger habe, so wird argumentiert, einen Anspruch darauf, daß die Verwaltung die von ihr erlassenen "Konzepte" bzw. Verwaltungs vorschriften beachtet. Auch gegen diese Argumentation werden Bedenken erhoben 187. "Konzepte" bzw. Verwaltungsvorschriften ohne (unmittelbare) Außenwirkung können kein Vertrauen begründen. Als Grundlage für eine mittelbare Außenwirkung von Verwaltungsvorschriften bzw. "Konzepten" kommt daher auch insoweit nur die Verwaltungspraxis in Betracht. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes vermag deshalb nur den Gleichheitssatz als "Umschaltnorm" zu ergänzen: "Der Vertrauensschutz 182 Siehe hierzu insb. F. Ossenbühl, in: H.-V. Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 1995, § 6 Rdnm. 48 ff. 183 H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Aufl. 1994, § 24 Rdnr. 22. 184 Zu Art. 3 I GG als "Vmschaltnorrn" H. F. Zacher, VVDStRL 24 (1966), 237. 185 Y.-H. Ko, Verwaltungsvorschriften als Außenrecht, 1991, S. 96 f. 186 Vgl. Z. B. BVerwGE 35, 159; F. Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968, S. 542. 187 Siehe zum folgenden H. Maurer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, § 60 Rdnm. 93 ff.
§ 13 Der Wandel der Verwaltung zur Infrastrukturverwaltung
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stellt auf die Zeitdimension, der Gleichheitssatz auf die Breitendimension ab,,188. Auch die Problematik der ersten Anwendung einer Verwaltungsvorschrift bzw. eines "Konzeptes" kann der Grundsatz des Vertrauensschutzes weder lösen noch entschärfen. Zusammenfassend kann damit festgestellt werden, daß "Konzepte" ebenso wie Verwaltungs vorschriften nur ausnahmsweise Außenwirkung entfalten.
2. Legitimität administrativer Rechtsetzung
Die Entwicklung von "Konzepten" durch die Exekutive wirft ebenso wie die Rechtsetzung durch Verwaltungsvorschriften die Frage nach einer diesbezüglichen Legitimation der Verwaltung auf.
a) Originäre Rechtsetzungskompetenz der Exekutive - Verwaltungsvorbehalt Namentlich F. Ossenbühl qualifiziert die Verwaltungsvorschriften als "originäres Exekutivrecht,d89 und weist ihnen dementsprechend eine unmittelbare rechtliche Außenwirkung zu. W. Krebs l90 hat eine originäre Rechtsetzungskompetenz der Verwaltung mit einem Umkehrschluß zur Wesentlichkeitstheorie begründet. Das BVerfG l91 und die h.L. 192 postulieren unter der Bezeichnung "Wesentlichkeitstheorie", daß der Gesetzgeber wesentliche Entscheidungen in - vor allem für die Grundrechtsverwirklichung - wichtigen Lebensbereichen und unabhängig von der Frage eines Eingriffs in Rechte der Bürger selbst zu treffen habe. Zur Begründung werden dabei weniger die einzelnen Grundrechte als vielmehr das Rechtsstaatsund Demokratieprinzip herangezogen. W. Krebs schließt aus dieser "Wesentlichkeitstheorie", daß unwesentliche Fragen durch die Verwaltung auch ohne gesetzliche Grundlage mit Außen wirkung - sei es durch Verwaltungsvorschriften oder durch "Konzepte" - geregelt werden können l93 . ISS H. Maurer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 111, 1988, § 60 Rdnr.94. IS9 F. Ossenbühl, in: H.-V. Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 1995, § 6 Rdnr. 45 und F. Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968, S. 166 ff. - Ähnlich Kind, DÖV 1988, 679 (683); w. Erbguth, DVBI. 1989, 473 (475 ff.); Beckmann, DVBI. 1987,616 ff. 190 W. Krebs, VerwArch 70 (1979), 259 ff. 191 Vgl. BVerfGE 58,257 (268); 49,89 (126 ff.); 47, 46 (79 ff.); 45, 400 (417 ff.); 41, 251 (259 f.); 34,165 (192 f.); 33,125 (158 f.); 33,1 (10 ff.). 192 Vgl. z. B. Vmbach, in: Festschrift für Joachim Faller, S. 111 ff.; Pietzcker, JuS 1979, 710 ff.; G. Kisker, NJW 1977, 1313 ff. 193 W. Krebs, VerwArch 70 (1979), 259 (270 f.); vgl. auch F. Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, § 62 Rdnr. 60 und § 65 Rdnr. 12.
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4. Teil: Vorgaben für ein "neues" Polizeiinfonnationsrecht
Dieser Argumentation ist insoweit zuzustimmen, als sie der Exekutive einen eigenen Gestaltungsbereich für verwaltungsinterne Regelungen zubilligt. Diese sind durch die Organisationsgewalt der Verwaltung gedeckt. Soweit administrative Regelungen (auch) Außenwirkung entfalten und in die Rechtssphäre des Bürgers eingreifen, gilt dies nicht. Die Organisations- und Dienstgewalt der Verwaltung stellt nur für Regelungen im exekutiven Zuständigkeitsbereich eine Rechtsgrundlage dar, nicht aber für außenwirksame Regelungen l94 . Auch läßt das BVerfG nur an einem Gesetz orientierte exekutive Vorschriften von untergeordneter Bedeutung zu 195. Die Annahme einer umfassenderen originären Rechtsetzungskompetenz der Verwaltung würde zudem mit Art. 80 GG und dem rechtsstaatlichen Gesetzesvorbehalt kollidieren 196. Die aus Art. 83 ff. GG abzuleitende Befugnis der Verwaltung zur Einzelfallentscheidung, die teilweise als Begründung für eine originäre Rechtsetzungskompetenz der Verwaltung herangezogen wird l97 , vermag diesen Befund nicht zu ändern. Zum einen ist nämlich nicht erkennbar, warum aus der Befugnis zur Entscheidung im Einzelfall ein Recht auf verwaltungsexterne Rechtsetzung resultieren soll. Zum anderen beschränkt sich ein exekutives Rechtsetzungsrecht jedenfalls auf den Funktionsbereich der Administrative. Ein vom Gesetz unabhängiger "Kernbereich der Exekutive" ist aus diesen Gründen im Ergebnis ebenso zu verneinen wie ein "Verwaltungsvorbehalt".
b) Zusammenfassung Zusammenfassend relativieren sich die Zweifel an der Rechts- und Rechtssatzqualität des "Konzeptes" in ähnlicher Weise wie im Fall der Verwaltungsvorschriften. Die "Konzepte" sind ebenso wie die Verwaltungs vorschriften tatbestandsorientiert, d. h. sie knüpfen an einen bestimmten Tatbestand Rechte und Pflichten, und stellen daher insofern jedenfalls Rechtssätze dar. Dieser Befund gilt umso mehr, als "Konzepten" ebenso wie Verwaltungsvorschriften die Funktion einer gesetzlichen Regelung zukommt. Dem historisch-konventionellen Rechtssatzbegriff unterfallen die "Konzepte" andererseits ebensowenig wie die Verwaltungsvorschriften 198.
194 W. Brohm, in: ders. (Hrsg.), Drittes deutsch-polnisches Verwaltungssymposion, 1983, S. 11 ff., 24 f. 195 BVerfGE 40,237 (250). 196
R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 593 ff.,
606f. 197 In diese Richtung argumentieren Erbguth, DVBl. 1989,473 (479 f.) und Kind, DÖV 1988,679 (683). 198 U. Di Fabio, DVBl. 1992, 1338 (1342); F. üssenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968, S. 154 ff.
§ 13 Der Wandel der Verwaltung zur Infrastrukturverwaltung
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3. Bedeutung des "Konzeptes" in der Verwaltungspraxis
In der Verwaltungspraxis übernimmt das Konzept in weiten Bereichen die ehemals den Gesetzen zugeschriebenen Aufgaben. Insbesondere stellt das Konzept den Maßstab für das Verwaltungshandeln dar. Damit wird die Bedeutung des Parlamentsgesetzes keineswegs entwertet, zumal das Konzept seinerseits an diesem zu messen ist und dieses umzusetzen hat. Künftighin ist daher nicht nur die Gesetzmäßigkeit einer Verwaltungsmaßnahme, sondern darüber hinaus und primär deren Konzeptmäßigkeit zu prüfen. Das Konzept seinerseits ist dabei inzident im Hinblick auf seine Recht- und Gesetzmäßigkeit zu untersuchen. Das Konzept konkretisiert dabei nicht nur die rechtlichen Vorgaben, sondern ergänzt und verbindet diese zugleich mit Zweckmäßigkeitsanforderungen.
D. Kultur - verfassungsrechtIicher SchlüsselbegritT - "Konzept" Die allmähliche Ausdifferenzierung der vorstehend nur in groben Umrissen skizzierten Handlungsform des "Konzeptes" kann dabei ebenso wenig überraschen wie die Entwicklung der Infrastrukturverwaltung als neuem Verwaltungstyp. Entgegen den Befürchtungen von M. Schulte und R. Hendler ist die Leistungsfähigkeit der Begriffe "Infrastrukturverwaltung" und "Konzept" als neben Plan, Vorhabengenehmigung und Richtlinie weiterer exekutiver Handlungsform l99 ohne weiteres zu bejahen. Das "Konzept" nimmt nämlich innerhalb des Verwaltungsrechts die Rolle ein, die im Bereich des Verfassungsrechts den verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffen 200 und in multidiziplinärer Perspektive der Kultur201 zugewiesen wurde. R. Stober bezeichnet Planung und Plan, denen das "Konzept" als Handlungsform zugeordnet ist, sogar ausdrücklich als "verwaltungsrechtliche Schlüsselbegriffe,,202. Das "Konzept" destilliert aus einem vagen gesetzlichen Rahmen ebenso konkretere Ziele und Zwecke wie die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe den einzelnen Vorschriften des Grundgesetzes einen übergreifenden Inhalt entnehmen. Aus multidisziplinärer Sicht nimmt Kultur eine vergleichbare Rolle ein. Der Kultur kommt ebenso wie den verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffen und dem Konzept eine Speicher-, Garantie-, Schutz-, Steuerungs- und Transportfunktion zu. 199 Vgl. zu den von Schulte und Hendler geäußerten Zweifel an den neuen Begriffen der Infrastrukturverwaltung und des Konzeptes den Diskussionsbericht von C. Koch, in: BlümelJ Pitschas (Hrsg.), Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, 1994, S. 257 ff., 261. 200 Dazu ausführlich bereits oben im Text sub § 9. C. III. 201 Siehe zu dieser oben im Text sub § 7. 202 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, 1994, § 56 Rdnr. 1.
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4. Teil: Vorgaben für ein "neues" Polizeiinfonnationsrecht
Alle drei Begriffe - Kultur, verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff und Konzept dienen der Komplexitätsreduzierung. Sie fixieren gesellschaftliche, verfassungsund verwaltungsrechtliche Ziele und Zwecke, verdichten diese zu Programmen und kontrollieren deren Erfolg. Im Hinblick auf ggf. erforderliche Anpassungen erweisen sich Kultur, verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff und Konzept als starr und zugleich entwicklungs- und zukunftsoffen.
Fünfter Teil
Die polizeiliche Informationsvorsorge im Recht der Risikogesellschaft - Fazit Zur Bewältigung der gestiegenen Anforderungen an die Polizei in der Risikogesellschaft ist - dies wurde soeben festgestellt - das Konzept als neue Handlungsform erforderlich. Dieses Konzept muß die allgemein-wissenschaftlichen, verfassungs- und einfachrechtlichen Vorgaben für die polizeiliche Informationsvorsorge aufzeigen und zu Vorstufen von Handlungsanweisungen konkretisieren. Eben dies wurde in der vorliegenden Arbeit versucht. Das Fazit der Arbeit bildet deshalb zugleich einen Vorschlag für das gesuchte und geforderte Konzept der polizeilichen Gefahren- und Informationsvorsorge.
§ 14 Ein Konzept für die polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge - Vorschlag und Zusammenfassung A. Die automatische Datenverarbeitung führt zu quantitativen und qualitativen
Veränderungen der polizeilichen Verbrechensbekämpfung, hat organisatorische Auswirkungen und macht eine Neubestimmung der Rolle der Polizei erforderlich. I.
Die hier interessierenden Begriffe "Vorsorge", "Gefahrenvorsorge" und "Informationsvorsorge" sind schwer konturierbar. 1. Die polizeiliche Informationsvorsorge ist Teil der polizeilichen Gefahrenvorsorge; diese wiederum ist Teil eines allgemeinen Vorsorgeprinzips. Definitionsversuche der Gefahren- bzw. Informationsvorsorge gehen vornehmlich von einer Abgrenzung zur Gefahrenabwehr aus. Vorsorge ist zudem ein gesetzlicher Grundsatz sowie ein rechtliches und politisches Prinzip. 2. Unter Informationsvorsorge wird zunächst das Erheben, Vorhalten oder Verarbeiten von Informationen im Vorfeld einer von den Polizeigesetzen vorausgesetzten konkreten Gefahr und eines hinreichenden Tatverdachts im Sinne der Strafprozeßordnung verstanden.
35 Aulehner
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5. Teil: Fazit
11. Die tatsächliche Situation der polizeilichen Verbrechensbekämpfung erfordert eine effektive Gefahren- bzw. Informationsvorsorge. 1. Der gravierende Anstieg der Gesamtkriminalität bei einer vergleichsweise nur geringfügig erhöhten Zahl von Polizeieinsatzbeamten, die Entwicklung neuer Verbrechensformen, der Abbau der europäischen Binnengrenzen und die politischen Veränderungen im Osten Europas machen eine polizeiliche Gefahren- bzw. Informationsvorsorge erforderlich. Zusätzliche Probleme ergeben sich aus der besonderen Situation der Polizei in den fünf neuen Ländern. 2. Im Rahmen dieser Bedrohungsanalyse ist der zunehmende Übergang von der Mikro- zur Makrokriminalität hervorzuheben. Die Gefährlichkeit der organisierten Kriminalität - einer der Haupterscheinungsformen der Makrokriminalität - beruht auf der Ausbildung eigener, unabhängiger sozialer Systeme. 3. Die zunehmende Gefahr einer nur selektiven Strafverfolgung und die Verlagerung polizeilicher Aufgaben auf Private und Kommunen sind äußere Anzeichen für die angespannte Situation der Polizei. III. Die deshalb erforderliche effektive Gefahren- und Informationsvorsorge wird durch den technischen Fortschritt der polizeilichen Informationssysteme erst ermöglicht. Die automatische Datenverarbeitung führt zu quantitativen und qualitativen Veränderungen der polizeilichen Verbrechensbekämpfung. Darüber hinaus hat sie organisatorische Auswirkungen bzw. Voraussetzungen und macht eine Neubestimmung der Rolle der Polizei erforderlich. IV. Neuere polizeiliche Präventionsstrategien und Vollzugsstrukturen der polizeilichen Gefahren- und Informationsvorsorge tragen dem ansatzweise Rechnung. 1. Die neueren polizeilichen Präventionsstrategien reagieren auf die qualitativen Veränderungen der Polizeiarbeit durch den Fortschritt der elektronischen Datenverarbeitung. Es wird insbesondere versucht, Strategien gegen neue Verbrechensformen bereitzustellen. Dabei wird auf unterschiedlichen Präventionsebenen angesetzt. 2. Bei der Entwicklung neuer polizeilicher Präventionsstrategien darf jedoch nicht von den der Polizei technisch eröffneten Möglichkeiten und den ihr obliegenden Aufgaben auf die Rolle der Polizei in Staat und Gesellschaft geschlossen werden. Vielmehr muß zunächst die Stellung der Polizei in Staat und Gesellschaft bestimmt werden. Erst hieraus können dann Folgerungen für die polizeilichen Aufgaben und die hierzu einzusetzenden Instrumente gezogen werden.
§ 14 Vorschlag und Zusammenfassung
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3. Diese polizeilichen Präventions strategien spiegeln sich in den Vollzugsstrukturen der polizeilichen Gefahren- und Informationsvorsorge wider. a) Innerhalb der polizeilichen Informationsvorsorge können überblicksweise der Einsatz spezieller Personen, besonderer technischer Hilfsmittel sowie besondere Arten des Einsatzes unterschieden werden. b) Die polizeiliche Informationsvorsorge erfolgt namentlich durch das INPOL-System. aa) Dabei spiegelt sich der föderative Aufbau der Bundesrepublik zwar grundsätzlich in der Existenz des INPOL-Bund-Systems einerseits und der INPOL-Land-Systeme andererseits wider. Gleichwohl kann das INPOL-Bund-System als Vorstufe für eine gemeinsame Polizei des Bundes und der Länder verstanden werden. Eben diese Qualität kommt auch dem Bundeskriminalamt zu, das, ähnlich wie der Bundesrat, namentlich durch die deutsche Beteiligung an EUROPOL zunehmend von einer reinen Bundesbehörde zu einer Gemeinschaftseinrichtung aller Länder und des Bundes mutiert. Die Tendenz einer "Hochzonung" der polizeilichen Aufgaben von den Ländern zum Bund ist dabei im Bundesstaat von vornherein durch die unausweichliche Minimalkoordination der Länder angelegt. bb) Innerhalb des INPOL-Systems ist zwischen Verbund-, Zentralund Amtsdateien zu unterscheiden. Die INPOL-Systeme enthalten Dateien zur Personen- und Sachfahndung, Kriminalaktennachweise, Haftdateien sowie Erkennungsdienst-, PIOS- und SPUDOK-Dateien. 4. Diese polizeilichen Vollzugs strukturen sind Ausdruck eines polizeirechtlichen Paradigmenwechsels von der Gefahrenabwehr zur Gefahren- und Informationsvorsorge. B. Das Polizeirecht wird diesen Anforderungen auch nach den vom "Volkszäh-
lungs"-Urteil initiierten Novellen nur unzureichend gerecht. Der Versuch, hieraus und aus dem Atom-, Immissionsschutz-, Sozial- und Wirtschaftsrecht als Referenzgebieten das allgemeine Vorsorgeprinzip zu konkretisieren, erweist sich als wenig ertragreich. Das Vorsorgeprinzip ist in den meisten Rechtsgebieten zwar bekannt, aber noch nicht hinreichend stringent ausgeprägt. I.
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Die Rechtsgrundlagen der polizeilichen Informationsvorsorge sind durch ein bloßes Reagieren des Gesetzgebers auf die tatsächlichen Entwicklungen gekennzeichnet. Die gegenwärtigen, an die vermeintlichen Erfordernisse des "Volkszählungs"-Urteils angepaßten Rechtsgrundlagen für eine polizeiliche Informationsvorsorge sehen sich nachhaltiger und weitgehend berechtigter Kritik ausgesetzt. Ursächlich hierfür ist, daß das "Volkszählungs"Urteil und die ihm folgenden Gesetzesnovellen den Paradigmen wechsel
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5. Teil: Fazit
von der Gefahrenabwehr zur Gefahren- bzw. Infonnationsvorsorge zwar thematisieren, hierfür aber keine Lösung bieten. H. Eine nähere Konturierung der polizeilichen Gefahren- und Infonnationsvorsorge wird sich daher erst unter Zuhilfenahme multidisziplinärer und verfassungsrechtlicher Vorgaben ergeben. 1. Bereits hier und vorab kann konstatiert werden, daß der Paradigmenwechsel von der Gefahrenabwehr zur umfassenden Risikosteuerung ein kontinuierlicher, nicht auf das besondere Polizei- und Sicherheitsrecht beschränkter Vorgang ist. 2. Innerhalb dieser kontinuierlichen Entwicklung sind mit der traditionellen Gefahrenabwehr, deren polizeirechtlich anerkannten Modifikationen und der heutigen umfassenden Risikosteuerung drei Zäsuren erkennbar. a) Schon die traditionelle polizeiliche Gefahrenabwehr selbst enthält mit der sog. "Relativitätsfonnel" und der Berücksichtigung des Gutes, das durch ein behördliches Einschreiten beeinträchtigt wird, mehrere Korrekturen des polizeilichen Gefahrbegriffs vor. b) Anscheins- und Putativgefahr sind ebenso wie Gefahrenverdacht, Zweckveranlasser und latente Gefahr in der Polizeirechtsdogmatik anerkannte Modifikationen des Gefahrenbegriffs. c) Die heutige umfassende Risikosteuerung zeichnet sich durch eine Flexibilisierung und weitere Ausdifferenzierung der Elemente der herkömmlichen Gefahrenabwehr aus. Neben Schäden werden Belästigungen und Nachteile als Anknüpfungspunkte für polizeiliche Maßnahmen gewählt. Der Gefahrbegriff als Schwelle zum "alles oder nichts" wird durch Gefahr, Risiko und Restrisiko abgelöst. 3. Die Gefahrenvorsorge ist - verglichen mit der Gefahrenabwehr - ein qualitatives aliud. Gefahrenvorsorge und Gefahrenabwehr haben unterschiedliche Funktionen und unterschiedliche Beurteilungsgrundlagen.
C. Die vorstehend skizzierten Defizite des nationalen Polizeirechts werden durch die fortschreitende Internationalisierung und Europäisierung zusätzlich verschärft. I.
INTERPOL als historisch erste Fonn eines internationalen Datenaustausches zwischen Polizei behörden verschiedener Länder beschränkt sich auf einen bloßen Vereinfachungseffekt. Da die datenschutzrechtlichen Restriktionen des jeweiligen INTERPOL-Mitglieds beachtet werden müssen, bleiben alle Daten den jeweiligen Mitgliedstaaten zugeordnet. Es wird mithin allenfalls technisch, nicht aber rechtlich ein einheitlicher gemeinsamer Infonnationsbestand geschaffen. Schon dies ist aber aus deutscher Sicht nach den Maßstäben des "Volkszählungs"-Urteils, das bereits eine Datenspeicherung als Grundrechtseingriff bewertet, verfassungsrechtlich bedenklich.
§ 14 Vorschlag und Zusammenfassung
549
11. Das Schengener Infonnationssystem erweist sich auf dem Weg zu einer Europäisierung der Polizei, wie sie in EUROPOL zum Ausdruck kommt, als Zwischenschritt. Das Schengener Infonnationssystem schafft ebensowenig wie INTERPOL einen rechtlich gemeinsamen Infonnationsbestand. Das "Schengen-II-Übereinkommen" enthält aber, wenngleich durch praxisfremde Kompromisse charakterisierte, Versuche einer Hannonisierung des Polizeirechts. III. Eben diese Befunde werden auch durch die Entwicklung von EUROPOL bestätigt. Insgesamt läßt die Internationalisierung und Europäisierung des Polizeirechts eine hinreichende Systematik vennissen. Vielfach scheinen übernationale - bi- oder multilaterale - Vereinbarungen weniger auf Zusammenarbeit als jedenfalls auch auf die Umgehung innerstaatlicher Kontroversen durch eine "Höherzonung" angelegt. Insbesondere existieren nach wie vor keine rechtlich gemeinsamen Infonnationsbestände. Die Tendenz in Deutschland, im Spannungs verhältnis zwischen dem "Grundrecht auf Sicherheit" und dem Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung einseitig letzteres zu verabsolutieren, kollidiert mit den Rahmenbedingungen eines Programms für die Innere Sicherheit in Europa. D. Das von der polizeilichen Infonnationsvorsorge erzeugte Spannungsfe1d zwi-
schen individueller Selbstbestimmung einerseits und umfassender staatlicher Bedrohungsabwehr und Bedrohungsvorsorge andererseits kann nur unter Rückgriff auf die multidisziplinären Vorgaben näher strukturiert werden. Für die hierbei näher zu erörternden Schlüsselbegriffe der polizeilichen Infonnationsvorsorge - insb. Kommunikation, Infonnation, Sicherheit, Individuum und (lnfonnations-)Kultur - ergeben sich dabei gleichartige Fragen, die in der Art und Weise des menschlichen Zugangs zur Wirklichkeit fußen. Dabei ergibt sich, daß der Mensch zur Wirklichkeit als der ihm vorausgesetzten Welt nur durch Kommunikation Zugang hat. I.
Die Annahme eines nur kommunikativen Zugangs des Menschen zur Wirklichkeit ist mit den das Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrnehmung betreffenden Hauptströmungen - Realismus, Idealismus und Konstruktivismus - vereinbar. Wegen der Komplexität der Wirklichkeit einerseits und der beschränkten menschlichen Infonnationsverarbeitungskapazität andererseits sind die menschlichen Vorstellungen von der Wirklichkeit notwendigerweise unzureichend. Einschränkungen des Infonnationsflusses führen zur weiteren Fehlerhaftigkeit der menschlichen Wirklichkeits vorstellung. Daher ist grundsätzlich ein freier Infonnationsfluß zu gewährleisten; gegenteilige Interpretationen des "Volkszählungs"-Urteils sind abzulehnen.
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5. Teil: Fazit
11. Den heterogenen Ansichten über die Konstitution der Realität korrespondieren konträre Kommunikationsmodelle. Hier erweist sich allein das Verständnis von Kommunikation als System i. S. d. Theorie autopoietischer Systeme als hinreichend komplex für die Beschreibung von Kommunikation. 1. Das Verständnis von Kommunikation als Zeichenübertragung stellt nur ein insbesondere für die Nachrichtentechnik entwickeltes Minimalmodell dar. Der symbolische Interaktionismus trägt zwar im Gegensatz zum Verständnis von Kommunikation als Zeichenübertragung nicht nur der Syntaktik - den Regeln zur Verknüpfung von Zeichen untereinander -, sondern auch der Semantik - dem Bedeutungsgehalt von Zeichen - Rechnung. Unberücksichtigt bleibt indessen auch hier die Pragmatik - die Beziehung zwischen den Zeichen und den Kommunikatoren. Die Theorie kommunikativen Handeins erfaßt allein die sprachliche Kommunikation und gilt nur für einen voraussetzungsvollen Sonderfall. Kommunikation muß überdies - entgegen der Annahme der Theorie kommunikativen Handeins - nicht notwendigerweise konsensorientiert sein. 2. Nach der Theorie autopoietischer Systeme stellt Kommunikation eine Synthese dreier Selektionen - Information, Mitteilung und Verstehen dar. Kommunikation gelingt, wenn die Differenz von Mitteilung und Information verstanden wird. Die Theorie autopoietischer Systeme überwindet damit das handlungstheoretische Verständnis von Kommunikation als Übertragung. Kommunikation bietet nur Selektionsofferten an. Diese werden nicht übermittelt, sondern durch Redundanz gespeichert. Redundanz gewährleistet, Konsens hingegen vernichtet Anschlußfähigkeit. 3. Für das Recht ergibt sich hieraus, daß Informationen nicht wie die absoluten Rechte des Zivilrechts behandelt werden dürfen. Informationen gewähren insbesondere keinen Ausschließlichkeitsanspruch und können nicht zurückgegeben werden. Das Ziel der Anschlußfähigkeit erfordert überdies ebenfalls einen freien Informationsfluß. III. Dieses Verständnis von Kommunikation und die Annahme eines allein kommunikativen Zugangs zur Wirklichkeit ist mit den fein ausdifferenzierten Wahrheitstheorien, die Wahrheit als Identität von Wirklichkeit und Wahrnehmung problematisieren, kompatibel. E. Die kommunikative Konstitution des menschlichen Weltbildes und das hiesige
Verständnis von Kommunikation bestimmen den Informationsbegriff und damit auch das Verhältnis von Information, Kommunikation, Wissen und Technik.
§ 14 Vorschlag und Zusammenfassung
1.
551
Die Ableitung des Kommunikationsbegriffs spiegelt sich bei der Betrachtung der einzelnen Infonnationsbegriffe wider. 1. Der statistisch-syntaktische Infonnationsbegriff setzt - wie das Verständnis von Kommunikation als Zeichenübertragung - Infonnation und Nachricht gleich. 2. Die semiotischen Infonnationsbegriffe stellen demgegenüber neben der Syntaktik - der Beziehung zwischen den Zeichen - auch die Semantik die Beziehung zwischen Zeichen und Bedeutung -, die Pragmatik - die Beziehung zwischen Zeichen und Zeichenverwender - und die Sigmatik - die Beziehung zwischen Zeichen und Realität - in Rechnung. Die damit ausdifferenzierten Dimensionen von Infonnation i.w.S. beleuchten die Grundproblematik der polizeilichen Infonnationsvorsorge näher: Mit der polizeilichen Infonnationsvorsorge geht die Gefahr einher, daß die vorgehaltenen (nur syntaktischen) Daten ihres ursprünglichen pragmatischen, semantischen und sigmatischen Bezugs entkleidet und in einen neuen Zusammenhang gestellt werden. 3. Das Verständnis von Infonnation als subjektbezogenem Prozeß erfaßt zwar die Infonnation als Ergebnis der Beeinflussung der Kommunikationsteilnehmer. Offen bleibt aber auch hier das Verhältnis zwischen Menschen und Zeichen. 4. Infonnation verstanden als dritte Grundgröße neben Materie und Energie und i. S. d. Kybernetik macht die Strukturqualität von Infonnation erkennbar. 5. Nach der Theorie autopoietischer Systeme ist Infonnation die Auswahl einer Möglichkeit aus einem Horizont von Möglichkeiten. Die Theorie autopoietischer Systeme zeigt u. a. eine Wechselbeziehung zwischen Infonnationen und Strukturen, insb. Erwartungen auf. a) Infonnationen sind hiernach kein Input in ein System, sondern Umweltirritationen, die das System in seine kognitiven Strukturen umsetzen muß. Codierte Ereignisse erscheinen dabei als Infonnation, uncodierte hingegen als Störung. b) Infonnationen führen zum Aufbau, zur Bestätigung oder zur Modifikation von Strukturen, insb. Erwartungen. c) Erwartungen als soziale Strukturen limitieren zukünftige Ereignisse. Sie bewerten Anschlußmöglichkeiten, indem sie die Reproduktion durch beliebige Elemente verhindern, durch bestimmte aber fördern.
11. Erwartungen und Erwartungserwartungen, d. h. das Erwarten von Erwartungen, ennöglichen Sicherheit und Vorsorge.
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5. Teil: Fazit
1. Das wechselseitige Erwarten von Erwartungen macht eine präventive Selbststeuerung und -kontrolle durch die Kommunikationsteilnehmer möglich. Tatsächliche Entwicklungen müssen nicht abgewartet werden, sondern können anhand der Veränderungen von Erwartungen und Erwartungserwartungen beeinflußt werden. Vorsorge ist hierbei die Bekräftigung von Erwartungen und Erwartungserwartungen, ohne daß diese in Frage gestellt worden wären. Die Korrigierbarkeit von Erwartungen und Erwartungserwartungen ermöglicht im Gegensatz zum irreversiblen tatsächlichen Verhalten ein präventives Konfliktmanagement. 2. Information ist einmalig; sie kann sich auf Systemzustand und Struktur auswirken, beinhaltet aber keinen eigenen Perpetuierungseffekt. Die Differenz zwischen Zeit einerseits und Sicherheit andererseits ermöglicht die gesellschaftliche Selbststeuerung der Risikogesellschaft. 3. Auch der juristische Vorsorgebegriff darf daher nicht allein an den Gefahreintritt anknüpfen, sondern muß die Gesellschaftssteuerung anhand von Erwartungen rezipieren. III. Die Wechselbezüglichkeit von Information einerseits und Entscheidung sowie Organisation andererseits erfordert ein Informationsmanagement. Informationsmanagement und gesellschaftliches Wissen sind sowohl Vorbedingungen als auch Elemente der "Informationskultur". 1. Information und Entscheidung sind wechselseitig - sowohl qualitativ als auch quantitativ - voneinander abhängig. Darüber hinaus sind Parallelen zwischen Information und Entscheidung erkennbar. Schließlich steht Entscheidung mit Verantwortung und Organisation in Verbindung. 2. Der allgemein wissenschaftliche wechselseitige Zusammenhang zwischen Information und Organisation wird juristisch insbesondere durch die Rechtsprechung zu behördlichen Warnungen anerkannt. 3. Informationsmanagement stellt sicher, daß die richtige Information zur richtigen Zeit am richtigen Ort zur Verfügung steht. 4. Der Information und dem Informationsmanagement einerseits korrespondieren Wissen und Wissensordnung andererseits, zumal Wissen aggregierte Information darstellt. 5. Ursächlich für die erforderliche Neubewertung von Information und Wissen ist der technische Fortschritt. F. Ebenso wie die Wirklichkeit allgemein werden auch Person und Sicherheit kommunikativ konstituiert. I.
Individualität gewinnt der Mensch nur indem er sich als Interaktionspartner darstellt.
§ 14 Vorschlag und Zusammenfassung
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1. Die Sphären- und Schichtenmodelle der Persönlichkeit berücksichtigen die gesellschaftliche Bedingtheit des Menschen nicht. 2. Die Person kann nicht in eine personale und soziale Identität aufgespalten werden. Innerhalb des Bewußtseins gibt es zwar interne Selbstbeschreibungen zur Reflexionsvereinfachung, aber kein "zweites Ich", "Selbst" oder "me". Die Selbstkonzeption des Individuums hängt vielmehr entscheidend von seinen sozialen Kontakten ab. Die Identität wird umfassend in gesellschaftlichen Prozessen geformt, bewahrt, verändert und neu geformt. Es erfolgt keine Ausblendung einer personalen aus der im übrigen jedenfalls sozialen Identität, zumal der einzelne bei seiner Selbstdarstellung auf Fremdwahrnehmung angewiesen ist. 3. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung darf daher auch nicht als Anspruch auf eine manipulierte Selbstdarstellung (miß-)verstanden werden, sondern umfaßt nur ein Recht auf manipulationsfreie Fremddarstellung. 11. Sicherheit und Unsicherheit sind ebenso wie Gefahr und Risiko keine objektiven Kategorien, sondern Ergebnis eines Kommunikationsprozesses. 1. Sicherheit und Unsicherheit sind komplexe Vorstellungen. Innere Sicherheit im Sinne von Freiheit von Angst und Furcht stimmt nicht mit äußerer Sicherheit im Sinne von Schutz vor Schaden überein. Die Zukunft als solche kann weder Sicherheit noch Unsicherheit vermitteln; sie erweist sich vielmehr als ebenso unbeständig wie die Rolle des Menschen in ihr. Sicherheit, Unsicherheit, Gefahr und Risiko unterliegen deshalb einer Subjekt-, Objekt- und Zeitbindung. Sie stellen Erwartungen dar, wie sich die Zukunft gestalten wird. 2. Der Grad der Sicherheit als die Wahrscheinlichkeit des Eintritts von Erwartetem und die Detailliertheit von Erwartungen sind umgekehrt proportional. 3. Sicherheit vergegenwärtigt Zukunft und wird in einem sozial selektiven Prozeß konstituiert. Dabei erweist sich das Wissen der Gesellschaft als entscheidender Selektionsfaktor. 4. Der Inhalt der Begriffe Gefahr und Risiko beschränkt sich zunächst auf die Feststellung, daß aus einer Ursache ein Schaden entstehen kann und stellt eine auf eine bestimmte Entscheidung bezogene Relation von Chancen und Verlusten dar. Gefahr und Risiko ermöglichen dadurch nur eine geringe Konturierung der Zukunft und können Unsicherheit nur in relative Sicherheit überführen. Andererseits kann gerade deshalb eine weiträumige und wahrscheinliche Bindung der Zukunft erreicht werden. 5. Gefahr und Risiko unterscheiden sich insofern, als in ersterem Fall der Eintritt des Schadens der Umwelt zugerechnet, in letzterem hingegen als Folge des eigenen HandeIns oder Unterlassens verstanden wird.
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5. Teil: Fazit
G. Infonnationsmanagement und gesellschaftliches Wissen sind sowohl Vorbedingungen als auch Elemente der "Infonnationskultur". Die Infonnationskultur ihrerseits ist Grundlage einer rechtlichen Infonnationsordnung. Infonnationskultur ist dabei das implizite Bewußtsein einer Gesellschaft, das Aussagen über ihr typisches Infonnationsverhalten macht. Sie fungiert hierbei als Bindeglied zwischen den durch die Gesellschaft kommunikativ gefundenen sozialen Gepflogenheiten - insbesondere dem Verständnis dessen, was eine Person und was Sicherheit ist - und der rechtlichen Infonnationsordnung.
H. Die Infonnationskultur einerseits, Gesellschaft, Staat und Recht andererseits stehen in einem Wechselverhältnis. Erstere spiegeln sich in letzteren wider und umgekehrt. I.
Im Wandel von der Agrar- über die Industrie- zur Infonnations- und Risikogesellschaft kommt die Ablösung der vordem starr-hierachischen durch eine dynamisch-heteratchische Gesellschaft zum Ausdruck.
H. Diesen gesellschaftlichen Änderungen korrespondiert ein Wandel des Staatsbildes. 1. Dabei bleibt die Gewährleistung von Sicherheit als klassischer Staatszweck erhalten. Änderungen treten nur bei den für die Umsetzung dieses Staatszwecks eingesetzten Mitteln ein. 2. Der Staat wandelt sich nunmehr von einem allein autoritären zu einem zwar nach wie vor autoritären, aber auch konsensualen, kooperativen, präzeptoralen - kurz: - kommunikativen und flexiblen Staat. 3. Dieses modeme Staatsverständnis ist mit den klassischen Staatsauffassungen vereinbar. III. Diesem gesellschaftlichen und staatlichen Wandel korrespondiert eine Umgestaltung des Rechts. Während sich die repressive Steuerung über die zentrale Steuerung zur Kontext-Steuerung entwickelt, mutiert das fonnale über das materiale zum reflexiven Recht. I. Diese vielfältigen multidisziplinären Vorgaben bedürfen der (verfassungs-)
rechtlichen Rezeption. Dabei muß zwischen den konfligierenden Belangen des einzelnen nach Freiheit und Privatheit und denjenigen der Allgemeinheit nach Sicherheit und Vorsorge - bzw. rechtlich: zwischen dem Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung einerseits und dem "Grundrecht auf Sicherheit" andererseits - ein Ausgleich geschaffen werden. Die konfligierenden Standpunkte dürfen dabei nicht als jeweilige Extrempositionen (miß-)verstanden werden: Sowohl das Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung als auch das "Grundrecht auf Sicherheit" sind Ausgleichsinstrumente, d. h. das Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung thematisiert zwar
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vorrangig, aber nicht nur, das Interesse an Freiheit und Privatheit des einzelnen, sondern auch das der Allgemeinheit an Sicherheit und Vorsorge. Umgekehrt beleuchtet das "Grundrecht auf Sicherheit" zwar vorrangig die Interessen der Allgemeinheit an Sicherheit und Vorsorge, nimmt aber auch die auf Freiheit und Privatheit des einzelnen gerichteten Belange in den Blick. Beide - das Recht auf informationelle Selbstbestimmung einerseits und das "Grundrecht auf Sicherheit" andererseits - sind schon je für sich Ausgleichsinstrumente. Sie thematisieren das gleiche Konfliktfeld, allerdings mit jeweils unterschiedlicher Akzentuierung. I.
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wurde durch Rechtsprechung und Literatur aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG abgeleitet. 1. Die Rechtsprechung entwickelte das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Dabei sind drei Zäsuren erkennbar: a) Die bundesverfassungsgerichtliche Judikatur sah anfänglich ebenso wie die des BGH das Selbstbestimmungsrecht in einem Verhältnis strenger Akzessorietät zum Schutz der Privatsphäre. b) Im "Volkszählungs"-Urteil bestätigt das BVerfG die Befugnis des einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden. Umgekehrt betont das BVerfG auch, daß dieses Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht schrankenlos gewährleistet ist und der einzelne Einschränkungen im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen muß. c) Die Rechtsprechung des BVerfG nach dem "Volkszählungs"-Urteil beschränkt sich auf eine Wiederholung der dortigen Ausführungen und versucht, diese für den jeweils zu entscheidenden Sachbereich zu konkretisieren. Dabei sind insbesondere zwei Entwicklungslinien zu erkennen: Zum einen werden der Anwendungsbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung fortlaufend erweitert und die im "Volkszählungs"Urteil noch angeführten Einschränkungen negiert. Zum anderen differenziert die Rechtsprechung immer mehr Belange des Gemeinwohls aus, die eine Beschneidung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung rechtfertigen. Als solche Belange sind in der Rechtsprechung nach dem "Volkszählungs"-Urteil vornehmlich Sicherheit, die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege, Effektivität und Funktionsfähigkeit amtlicher Statistiken, finanzielle Sicherheit des Staates und Gleichmäßigkeit der Besteuerung, der Schutz des Rechtsverkehrs, insbesondere die Verringerung volkswirtschaftlicher Fehlentwicklungen und die Abwehr der Wirtschaftskriminalität zu erkennen.
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5. Teil: Fazit
2. Dabei ist schon die Anerkennung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch den BGH und dessen Bestätigung durch das BVerfG paradigmatisch für die Gesamtkonzeption des erst später ausdifferenzierten Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. a) Die allgemeine Handlungsfreiheit und das Allgemeine Persönlichkeitsrecht stellen zwei Dimensionen eines einheitlichen Grundrechts dar: Erstere markiert die Gewährleistung des Art. 2 I GG als Abwehrrecht; mit letzterem wird Art. 2 I GG als Teilhaberecht bzw. in seiner sozialen und objektiv-rechtlichen Dimension verstanden. Diese beiden Aspekte des Art. 2 I GG nehmen unterschiedliche Freiheitsbegriffe und Dimensionen des gleichen Grundrechts in Bezug. Die allgemeine Handlungsfreiheit legt einen formalen Freiheitsbegriff zugrunde und entnimmt Art. 2 I GG ein Abwehrrecht. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet die Freiheit materiell-inhaltlich und thematisiert die soziale, objektiv-rechtliche und Teilhabedimension des Art. 2 I GG. Die allgemeine Handlungsfreiheit betrifft vorrangig die "vertikale" StaatJBürger-Beziehung; das Allgemeine Persönlichkeitsrecht entfaltet sich andererseits primär im "horizontalen" BürgerlBürger-Verhältnis. Der durch Art. 2 I GG vermittelte Persönlichkeitsschutz einerseits und die allgemeine Handlungsfreiheit andererseits sind dabei untrennbar und wechselseitig voneinander abhängig. b) Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vereinigt notwendigerweise beide Aspekte - die allgemeine Handlungsfreiheit und das Allgemeine Persönlichkeitsrecht, das formale und das materiell-inhaltliche Freiheitsverständnis, die Abwehr- und die objektiv-rechtliche sowie soziale und Teilhabedimension. Denn sowohl die menschliche Sozial- als auch die Individualperson wird kommunikativ und damit gesellschaftlich konstituiert. 3. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist ebensowenig wie das Allgemeine Persönlichkeitsrecht allein der klassischen Abwehrdimension der Grundrechte zuzuordnen, sondern unterfällt den Grundrechten jedenfalls auch in ihrer Eigenschaft als Teilhaberechte bzw. in ihrer sozialen und objektiv-rechtlichen Dimension. a) Die klassische Abwehrdimension der Grundrechte thematisiert das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nur insoweit, als es Beschränkungen für ein staatliches Auskunftsverlangen enthält. Insoweit ist die allgemeine Handlungsfreiheit, verstanden als Eingriffsfreiheit, betroffen. Aus diesem Blickwinkel werden die Forderungen des BVerfG nach einer gesetzlichen Grundlage, aus der sich Voraussetzungen und Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger
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erkennbar ergeben, ebenso verständlich wie der Hinweis auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. b) Wenn das BVerfG hingegen organisatorische und verfahrensrechtliche Vorkehrungen verlangt, um der Gefahr einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts entgegenzuwirken, ist damit die soziale, objektivrechtliche und Teilhabedimension des Grundrechts angesprochen. 4. In der Rechtsprechung zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach dem "Volkszählungs"-Urteil ist eine Fehlentwicklung zu konstatieren. Die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung versteht das "Volkszählungs"-Urteil rückblickend nämlich zunehmend als inhaltlich abschließende Ausprägung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Das Gericht rekurriert damit reflexionslos auf seine Reflexionsentscheidung. II. Zur Korrektur dieser Fehlentwicklung ist eine Fortschreibung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung erforderlich. I. Diese hat sich an dem allgemeinwissenschaftlich vorgegebenen, kommunikativen Selbstkonzept und dem Anspruch auf eine korrekte, manipulationsfreie Fremddarstellung zu orientieren. 2. Dabei wird der einzelne als Schutzgut des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung abgelöst durch die manipulationsfreie Kommunikation.
3. Das vordem vorrangig als eindimensionales Abwehrrecht verstandene Recht auf informationelle Selbstbestimmung mutiert so zu einem Element eines die unterschiedlichen Interessen der Kommunikatoren aufnehmenden, mehrdimensionalen Ausgleichsinstruments. Es thematisiert dabei sowohl das für ein Grundrecht klassische StaatJBürger-Verhältnis, als auch die BürgerlBürger-Beziehungen. Rechtlich ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff zu qualifizieren. 4. Als Ausgleichsinstrument hat das Recht auf informationelle Selbstbestimmung im wesentlichen vier Fallgruppen zu bewältigen: Die ersten beiden Fallgruppen stellen Konstellationen mit gleichlaufenden Interessen des einzelnen und der Allgemeinheit dar: Sowohl der einzelne als auch die Allgemeinheit will diese Informationen zur Kenntnis nehmen bzw. nicht zur Kenntnis nehmen. Die beiden weiteren Fallgruppen zeichnen sich durch gegenlaufende Interessen aus: Der einzelne will, daß die Allgemeinheit Informationen nicht zur Kenntnis nimmt, die Allgemeinheit will sie aber zur Kenntnis
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5. Teil: Fazit
nehmen oder umgekehrt. In diesen letzteren Fällen plädiert das Schutzgut der manipulationsfreien Kommunikation und damit das Recht auf informationelle Selbstbestimmung für die Möglichkeit der Kenntnisnahme als Regelfall. 5. Die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe nehmen die multidisziplinären Deduktionen in die juristische Dogmatik auf und ermöglichen den Ausgleich zwischen Faktizität und Geltung. a) Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe zeichnen sich dabei zwar durch eine nur mittelbare Wirkungsweise aus, die aber die Ausdifferenzierung bestimmter Falltypen zuläßt und die Basis für eine Verbindung von Mikro- und der Makroebene staatlicher und verfassungsrechtlicher Steuerung schafft. Sie tragen zur Entwicklung des Grundgesetzes bei, indem sie zwischen (Verfassungs-)Recht und Realität vermitteln. b) Mit der Ausdifferenzierung verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriffe reagiert das Recht auf den Wandel im Verhältnis von Staat und Bürgern und dem damit einhergehenden erweiterten Verständnis der Grundrechte. c) Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe sind "informative" Prinzipien und bedürfen als solche der Umsetzung; sie sind durch Verfassungsinterpretation gefundene Verfassungsgrundsätze. d) Dabei korrespondieren die verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffe insbesondere mit der funktionalen Auslegung, zumal diese wie jene auf der Wechselwirkung von Verfassungswirklichkeit und Verfassungsziel beruhen. J. Das "Grundrecht auf Sicherheit" ist das Korrelat des Rechts auf informationelle
Selbstbestimmung und legitimiert das staatliche Vorsorgehandeln. I.
Weil das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und das "Grundrecht auf Sicherheit" die gleiche Konfliktlage nur aus jeweils anderer Blickrichtung betreffen, sind das "Grundrecht auf Sicherheit" und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung strukturgleich. 1. Das "Grundrecht auf Sicherheit" ist ebensowenig bzw. ebensoviel ein Grundrecht wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Es stellt vielmehr ebenso wie dieses einen verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriff dar. 2. Als verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff bedarf das "Grundrecht auf Sicherheit" der Konkretisierung durch die es betreffenden verfassungsrechtlichen Aspekte, namentlich durch die staatlichen Schutzpflichten, das Rechts- und Sozialstaatsprinzip sowie durch Sicherheit als Staatsaufgabe.
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3. Die Schutzpflichten ihrerseits knüpfen an das staatliche Gewaltmonopol und die Grundrechte an. a) Dabei ist die Existenz grundrechtlicher Schutzpflichten zwar allgemein anerkannt, deren nähere Modalitäten sind aber vehement umstritten. Insbesondere werden die Schutzpflichten unterschiedlichen Grundrechtsdimensionen zugeordnet: Sie werden teilweise als Aspekte der in den Grundrechten zum Ausdruck kommenden objektiven Wertordnung, teilweise als Teil der abwehr- und leistungsrechtlichen Dimensionen der Grundrechte verstanden. b) Unabhängig hiervon legitimieren die Schutzpflichten jedenfalls das staatliche Vorsorgehandeln, zumal Schutzpflichten schon durch die kumulative Einwirkung verschiedener Faktoren ausgelöst werden, ohne daß die einzelne Beeinträchtigung allein einen Eingriff darstellen muß. Damit wird der Begriff des Eingriffs von der einzelnen Verletzungshan